Weißbuch Prävention 2007/2008
Beweglich? Muskel-Skelett-Erkrankungen – Ursachen, Risikofaktoren und präventive Ansätze...
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Weißbuch Prävention 2007/2008
Beweglich? Muskel-Skelett-Erkrankungen – Ursachen, Risikofaktoren und präventive Ansätze
Weißbuch Prävention 2007/2008
Beweglich? Muskel-Skelett-Erkrankungen – Ursachen, Risikofaktoren und präventive Ansätze
123
Herausgeber:
KKH Kaufmännische Krankenkasse Hauptverwaltung Karl-Wiechert-Allee 61 30625 Hannover Telefon 0511 2802-0 Telefax 0511 2802-3299 In Zusammenarbeit mit: MHH Medizinische Hochschule Hannover Stiftungslehrstuhl Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Projektleitung: Prof. Dr. Ulla Walter (wiss. Bearbeitung) Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Telefon 0511 532-0 www.mh-hannover.de
ISBN 978-3-540-77273-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch nicht zwischen männlicher und weiblicher Schreibweise unterschieden, sondern generell die männliche Form gebraucht. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Design: deblik Berlin Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Grafiken: Hilger VerlagsService, Heidelberg Anatomische Zeichnungen: Dr. Michael und Christiane von Solodkoff, Neckargemünd Druck: Stürtz AG, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
SPIN 12065554
5135 – 5 4 3 2 1 0
V
Inhaltsverzeichnis 1
2
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.4 2.5
Beweglich? Muskel-SkelettErkrankungen – Ursachen, Risikofaktoren und präventive Ansätze . . . . . . . . . 1
4.2.1
Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und Ansätze ihrer Prävention . . . . . . . . . . . . . . . 3
4.2.3
Quantitative und ökonomische Relevanz von Muskel-Skelett-Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .3 Aufbau des Bewegungsapparates . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4 Passiver Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4 Aktiver Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 Beeinträchtigungen und Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . .8 Einflussfaktoren auf die Gesundheit des MuskelSkelett-Systems und Ansätze der Prävention . . . . . . . . .9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3
Die Bedeutung von Muskel-SkelettErkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland . . . . . . . . . . 15
3.1 3.1.1
Muskel-Skelett-Erkrankungen weltweit . . . . . . . . . . . . Krankheitslast auf Basis behinderungsadjustierter Lebensjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die internationale »Bone and Joint Decade 2000–2010« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muskel-Skelett-Erkrankungen in Europa . . . . . . . . . . . Arbeitsbedingte Rücken- und Muskelschmerzen . . . Krankenhausentlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Woche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland . . . . . . Akut-stationäre Hauptdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung mittels gesundheitswesenbezogener Kennzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsunfähigkeitstage und volkswirtschaftliche Ausfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsbedingte Frühberentung . . . . . . . . . . . . . Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . West-Ost-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schichtzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.6
4.2.2
4.3
4.3.1
4.3.2
4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5
Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene von Diagnosekapiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene von Diagnosegruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene von Einzeldiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Relevanz von Krankheiten des MuskelSkelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems nach Alter, Geschlecht, Regionen und Berufsgruppen auf der Ebene von Diagnosekapiteln. . . . . . . . . . . . . . . 44 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems nach Alter, Geschlecht, Regionen und Berufsgruppen auf der Ebene von Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Einzeldiagnose Rückenschmerzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Rückenschmerzen nach Alter und Geschlecht . . . . . . . 52 Rückenschmerzen nach Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Rückenschmerzen nach Berufsgruppen . . . . . . . . . . . . 56 Fazit und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
15
5
Rücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
15
5.1
17 18 18 19 20 21 21
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6
Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomie und Physiologie des Rumpfes . . . . . . . . . . . Rückenbeschwerden und -erkrankungen . . . . . . . . . . Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückenschmerzen als Symptom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventive Aspekte zur Vermeidung von Beeinträchtigungen und degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen – Auf welcher Evidenz basieren Empfehlungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückenschmerzen: Häufigkeit und Verläufe . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an die »Evidenz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Präventionsziel: Entmedikalisierung . . . . . . . . . Zweites Präventionsziel: Verhinderung von Rezidiven und Chronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückenschmerzprävention in der Umsetzung . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Faktoren der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . Psychologische Grundlagen der Schmerzchronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behaviorale und kognitiv-behaviorale Ansätze . . . . .
22 23 25 26 27 28 29 29 30 31 31 32
4
Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
4.1 4.2
Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Stellenwert von Krankheiten des Muskel-SkelettSystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
5.1.7 5.2
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.2.8 5.3 5.3.1 5.3.2
61 61 69 71 72 73
74 75
77 77 77 79 79 79 80 82 83 84 85 85
VI
Inhaltsverzeichnis
5.3.3
5.7.4
Bedeutung psychosozialer Faktoren bei Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Das Fear-Avoidance- und das AvoidanceEndurance-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Fazit für die Praxis – Prävention und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen zu Risikofaktoren und zur Prävention von Rückenbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Studien zur Identifikation von Risiken und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Studien zu präventiven Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . 97 Neue Ansätze zur Prävention von Rückenschmerzen: von der Theorie in die Praxis . . . . . . . . . 105 Arbeitsweltbezogene Gesundheitsprävention: »Das Kraftwerk-Mobil« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Setting: Das Mercedes-Benz-Werk Bremen der Daimler AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Krankenstand, Arbeitsunfähigkeitsfälle und -tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Erkrankungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Organisation und Strategie des Betrieblichen Gesundheitsmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Umsetzung des »Kraftwerk-Mobil«Konzeptes . . . . 112 Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Die medizinische Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Rückenleiden im Spiegel der Rehabilitationsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Rehabilitationsmedizinische Therapieprogramme für Patienten mit Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Zur Wirksamkeit der medizinischen Rehabilitation bei Rückenschmerzen. . . . . . . . . . . . . 121 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6
Obere und untere Extremitäten . . . . . . 125
6.1
Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Obere Extremitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Untere Extremitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Rehabilitation bei Arthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Anforderungen an eine Rehabilitation . . . . . . . . . . . 132 Hüftgelenksarthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Kniegelenksarthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Arthrosen im oberen Sprunggelenk. . . . . . . . . . . . . . 136 Rehabilitation nach Hüftgelenkstotalendoprothese (Hüft-TEP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Rehabilitation nach Kniegelenkstotalendoprothesen (Knie-TEP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Rehabilitation nach Sprunggelenksprothetik . . . . . 140
5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.4
5.4.1 5.4.2 5.5 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.6.6 5.7 5.7.1 5.7.2
5.7.3
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7
7
Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
7.1 7.2
Sportverletzungen und Sportschäden . . . . . . . . . . . 143 Vorkommen von Sportverletzungen und Sportschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Kosten und Folgekosten durch Sportverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Ursachen von Sportverletzungen und Sportschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Präventive Aspekte für das Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Präventive Aspekte im Erwachsenenalter . . . . . . . . 147 Präventive Aspekte für das Seniorenalter . . . . . . . . . 148 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
7.3 7.4 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.6
8
Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
8.1
Epidemiologie, Diagnostik und Ansätze zur Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Prävalenz und Inzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Folgen und Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Pathogenese und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Empfehlung zur Basisdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Medikamentöse Prävention und Therapie . . . . . . . . 157 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Studienlage zu Risikofaktoren und zur Prävention von Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Studien zur Identifikation von Risiken und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Studien zu präventiven Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . 162 Osteoporose Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.1.7 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3
9
Stürze im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3
Sturzsyndrom älterer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Entstehung des Sturzsyndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Vorbeugung und Behandlung des Sturzsyndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Screening zur Erkennung von Risikofaktoren und Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Assessment zur multidimensionalen Abklärung und Behandlungsplanung . . . . . . . . . . . . 170 Praxismodelle zur Prävention von Sturzgefahr und Stürzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Interventionsstudien und systematische Literaturrecherchen zur Prävention von Stürzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Studien zu präventiven Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . 178
9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.1.7 9.2
9.2.1
10
Ernährung und Bewegung . . . . . . . . . . . 183
10.1
Planung und Umsetzung präventiver Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
VII Inhaltsverzeichnis
10.1.1 Bedeutung des Lebensstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 10.1.2 Orientierende Daten zum Ernährungs- und Bewegungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 10.1.3 Zielgruppenspezifische Präventionsstrategien . . . 185 10.1.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 10.2 Bedeutung der Ernährung für das MuskelSkelett-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 10.2.1 Mineralstoffe und Spurenelemente . . . . . . . . . . . . . . 187 10.2.2 Vitamine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 10.2.3 Sekundäre Pflanzenstoffe (Phytoöstrogene) . . . . . . 192 10.2.4 Proteine (Aminosäuren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 10.2.5 Ernährungsabhängiger Säure-Basen-Haushalt und Knochengesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 10.2.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 10.3 Körperliche Aktivität und Sport zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen . . . . 194 10.3.1 Körperliche Aktivität und Arthrose . . . . . . . . . . . . . . . 195 10.3.2 Körperliche Aktivität und Osteoporose . . . . . . . . . . . 195 10.3.3 Körperliche Aktivität und Rückenschmerzen . . . . . 196 10.3.4 Ansätze zur Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen durch körperliche Aktivität und Sport: Implikationen für die Praxis . . . . . . . . . . . 197 10.3.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 10.4 Motivierung zu körperlich-sportlicher Aktivität . . . 202 10.4.1 Evidenzlage sportbezogener Interventionen zur Förderung des Aktivitätsverhaltens . . . . . . . . . . 202 10.4.2 Interventionstheoretische Konzeptionen zur Förderung körperlich-sportlicher Aktivität . . . . . . . 203 10.4.3 Das Transtheoretische Modell und seine Konsequenzen für Interventionen zur körperlich-sportlichen Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . 203 10.4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 10.5 Tägliche Bewegung in der Schule: Das Praxisprojekt »fit für pisa« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 10.5.1 Relevanz des täglichen Schulsports . . . . . . . . . . . . . . 210 10.5.2 Die Intervention »fit für pisa« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 10.5.3 Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10.5.4 Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10.5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 10.6 Bewegung im Kindergarten: Das Projekt »Fitness für Kids« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 10.6.1 Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 10.6.2 Multiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 10.6.3 Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 10.6.4 Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
11
Ergonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
11.1
Theoretische Grundlagen und Bedeutung der präventiven Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Gesundheit am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Arbeitsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Arbeitsbedingungen und Muskel-SkelettErkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Arbeitsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5
11.1.6 11.1.7 11.1.8 11.2
Wirksamkeit ergonomischer Interventionen . . . . . 223 Alltagsbezogene ergonomische Prävention . . . . . 224 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . 226 11.2.1 Bewegung – ein Schlüssel für ein gesundes Aufwachsen und erfolgreiches Lernen . . . . . . . . . . . . 226 11.2.2 Entstehung von Rückenschmerzen in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 11.2.3 Arbeitsplatz Schule – Mobiliar häufig mangelhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 11.2.4 Schultasche – übergewichtig und ungeeignet. . . 228 11.2.5 Konsequenzen für die Schulpraxis . . . . . . . . . . . . . . 229 11.2.6 Richtiges Sitzen ist »Einstellungssache« . . . . . . . . . 229 11.2.7 Schulstunden rhythmisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 11.2.8 Unterricht abwechslungsreich gestalten . . . . . . . . 232 11.2.9 Bewegungsanreize schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 11.2.10 Ganzheitlicher Ansatz zur Förderung eines gesunden Lebensstils – die Ergebnisse einer Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 11.2.11 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 11.3 Praxisbeispiel »Bewegte Schule« – ein Interview. 236
12
Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-SkelettSystems – Ein Experteninterview . . . . 243 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
IX
Autorenverzeichnis Koautoren
Prof. Dr. Thomas Kohlmann
Dr. Astrid Zech
Dr. Jennifer Anders
Universität Greifswald, Institut für Community Medicine, Greifswald
Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie, Hamburg
Dr. Dagmar Lühmann
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Sportwissenschaften und Sport, Erlangen
Prof. Dr. Dr. Winfried Banzer
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Institut für Sozialmedizin, Lübeck
Johann-Wolfgang Goethe Universität, Institut für Sportwissenschaften, Abteilung Sportmedizin, Frankfurt/ Main
Dipl.-Psych. Katharina Borger Hochschule Magdeburg-Stendal (FH), Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften, Rehabilitationspsychologie, Stendal
Dr. Dieter Breithecker Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs-Bewegungsförderung e. V., Wiesbaden
Interview Prof. Dr. Matthias Morfeld, MPH Hochschule Magdeburg-Stendal (FH), Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften, Rehabilitationspsychologie, Stendal
Prof. Dr. Klaus Pfeifer Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Sportwissenschaften und Sport, Erlangen
Prof. Dr. Bernd Greitemann Klinik Münsterland, Bad Rothenfelde
Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Balneologie und Medizinische Klimatologie, Hannover
Prof. Dr. Jan Hildebrandt Universitätsklinikum Göttingen
Ulrich Kuhnt Dr. Markus Röbl
Rückenschule Hannover
Universitätskinderklinik Göttingen, Pädiatrie II
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz
Dr. Ulrike Dapp Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie, Hamburg
Prof. Dr. Christoph Gutenbrunner
Dr. Jutta Semler Immanuel-Krankenhaus GmbH, Rheumaklinik und Zentrum für Naturheilkunde der Immanuel Diakonie Group, Abt. Stoffwechselerkrankungen/ Osteologie, Berlin-Wannsee
Dr. Vicky Henze Allgemeiner Sport-Club Göttingen von 1846 (ASC 46), Göttingen
Hermann Städtler
Dr. Heiko Himmelreich
Dr. Armin Straub
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe Universität, Klinik für Unfall-, Handund Wiederherstellungschirurgie, Frankfurt/Main
Daimler AG, Mercedes-Benz Werk Bremen
Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Hannover
Dr. Sabine Wedekind Deutscher Olympischer Sportbund, Frankfurt/Main
Fridtjof-Nansen-Schule, Hannover
Statements
Jana Hofmann Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Sportwissenschaften und Sport, Erlangen
Priv.-Doz. Dr. Lutz Vogt Johann-Wolfgang Goethe Universität, Institut für Sportwissenschaften, Abteilung Sportmedizin, Frankfurt/Main
Fritz Bindzius Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), Sankt Augustin
Prof. Dr. Walter Brehm Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Sportwissenschaften, Bayreuth
Eckhard Volbracht Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh
Dr. Gustav Caffier
Dr. Kerstin Ketelhut
Prof. Dr. Petra Wagner
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, Berlin
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Sportwissenschaft, Sportpsychologie/ Gesundheitswissenschaften, Berlin
Technische Universität Kaiserslautern Fachgebiet Sportwissenschaft, Sozialwissenschaft des Sports, Kaiserslautern
Detlef Detjen Aktion Gesunder Rücken e. V., Selsingen
X
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Ingo Froböse Zentrum für Gesundheit der Deutschen Sporthochschule Köln
Dr. Klaus Giersiepen Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), Bremen
Prof. Dr. Joachim Grifka Universität Regensburg, Orthopädische Klinik, Regensburg
Dr. Wilfried Kunstmann Bundesärztekammer, Berlin
Ulrich Kuhnt Rückenschule Hannover
Redaktionsgruppe MHH/ISEG Medizinische Hochschule Hannover (MHH), Stiftungslehrstuhl Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) e. V. Witten/Hannover
Prof. Dr. Ulla Walter (Projektleiterin und wissenschaftliche Bearbeitung) Dipl.-oec.-troph. Martina Plaumann, MPH (Projektassistenz und Koordination) Dipl.-Patholinguistin Nicole Teichler (Co-Koordination)
Dr. Christiane Korsukéwitz Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin
Reinhard Mann Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln
Dr. Doris Pfeiffer Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Berlin
Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe Universitätsklinikum SchleswigHolstein, Institut für Sozialmedizin, Lübeck
Prof. Dr. Alfred Rütten Friedrich-Alexander-Universität, Institut für Sportwissenschaften und Sport, Erlangen
Thomas Siebert Landessportbund Berlin
Prof. Dr. Erich Schmitt Forum Gesunder Rücken – besser Leben e. V., Wiesbaden
Dr. Sabine Wedekind Deutscher Olympischer Sportbund, Frankfurt/Main
Dipl.-Soz.-Wiss. Mareike Behmann Dipl.-Soz.-Wiss. Hans Dörning Priv.-Doz. Dr. Christian Krauth Dipl.-Kfm. Sebastian Liersch Christoph Lorenz Dr. Richard Lux, MPH
1 Beweglich? Muskel-Skelett-Erkrankungen – Ursachen, Risikofaktoren und präventive Ansätze
Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sind weiterhin die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Wie eine Befragung der Erwerbstätigen in der EU zeigt, verursacht dieses Krankheitsbild mit die wichtigsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Ihre Bedeutung wird nicht zuletzt durch internationale Initiativen zur Prävention deutlich. So hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zur »Bone and Joint Decade« ausgerufen. Sie möchte damit auf die weltweit hohe Relevanz von Erkrankungen des Halteund Bewegungsapparates sowie auf die damit einhergehenden – auch aufgrund der demografischen Entwicklung – zunehmenden Anforderungen an die jeweiligen Gesundheitssysteme der einzelnen Länder hinweisen. Beeinträchtigungen und Erkrankungen des MuskelSkelett-Systems umfassen die passiven Komponenten – Skelett und Gelenke – sowie die aktiven Anteile – Muskeln und Sehnen. Störungen des muskulären und skelettalen Komplexes können sich u. a. in Schmerzsyndromen, schmerzbedingten und mechanischen Funktionseinbußen äußern. Hiervon können alle passiven und aktiven Anteile des Halte- und Bewegungsapparates betroffen sein. Darüber hinaus sind Veränderungen in der Knochendichte und Knochenstruktur von Bedeutung. Allerdings haben nicht alle Beeinträchtigungen Krankheitswert. So stellen die weit verbreiteten und im weiteren Verlauf volksgesundheitlich bedeutsamen unspezifischen Rückenbeschwerden in der Regel zunächst kein schwerwiegendes medizinisches Problem dar. Neuere Präventionsstrategien zielen entsprechend auf eine Entmedikalisierung. Im Vordergrund stehen ausreichende Bewegung und eine rasche Mobilisation nach Auftreten von Symptomen. Da den Beschwerden vielfach ein multifaktorielles Geschehen zugrunde liegt, ist eine Kombination physiologischer und psychologischer Interventionen erforderlich. Die KKH greift nach den zwei bisher erschienenen Weißbüchern Prävention »Stress?« und »HERZgesund?« mit dem vorliegenden Band wiederum ein hoch relevantes Gesundheitsthema auf. Betrachtet werden die weit verbreiteten nichtentzündlichen Beeinträchtigungen des Muskel-
Skelett-Systems und Möglichkeiten ihrer Prävention. Das Weißbuch geht insbesondere folgenden Fragen nach: ▬ Welche Relevanz kommt welchen Beeinträchtigungen und Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems zu? Welche Gruppen von Versicherten weisen besonders hohe Leistungsinanspruchnahmen und Ausgaben bzgl. Muskel-Skelett-Erkrankungen auf? ▬ Welche physiologischen und psychischen Faktoren tragen zum häufigen Auftreten von unspezifischen Rückenbeschwerden und ihrer Chronifizierung bei? Wie kann Rückenbeschwerden wirksam begegnet werden? Wie wirksam sind Rückenschulen? Wie hilfreich ist eine Rehabilitation? ▬ Wie lässt sich bei älteren Menschen ein Sturzrisiko erkennen? Wann sind welche Maßnahmen zur Sturzprophylaxe sinnvoll? ▬ Inwieweit können allgemein körperliche Aktivität und begleitende psychophysische Entspannungsmaßnahmen Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen? Gibt es spezifische Maßnahmen zur Prävention von Rückenschmerzen, Osteoporose oder Arthrose? ▬ Wie können Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene zu mehr gesundheitsförderlicher Bewegung motiviert werden? Welche Bedeutung kommt bevölkerungsweiten Kampagnen, welche eher individuumsund organisationsbezogenen Ansätzen zu? ▬ Mit welchem Gefährdungspotenzial gehen sportliche Betätigungen einher? Worauf müssen aktive Personen achten, um Sportverletzungen und Sportschäden zu vermeiden? ▬ Welche Rolle spielen ergonomische Aspekte bei der Verhinderung von Beeinträchtigungen des MuskelSkelett-Systems? Was ist diesbezüglich am Arbeitsplatz und in der häuslichen Umgebung zu beachten? Ausgehend von einer Darstellung der Häufigkeit von Muskel-Skelett-Erkrankungen im In- und Ausland erfolgt eine detaillierte Analyse der leistungsbezogenen Daten der KKH. Diese so genannten Routinedaten bieten die größte Dichte an gesundheitsrelevanten Informationen
2
1
Kapitel 1 · Beweglich? Muskel-Skelett-Erkrankungen – Ursachen, Risikofaktoren und präventive Ansätze
über einen wesentlichen Teil der Bevölkerung in Deutschland und vermitteln einen differenzierten Einblick in die Häufigkeit von Erkrankungen und Kosten ihrer Behandlung sowie zu ihrer Verteilung nach Alter, Geschlecht, Berufsgruppen und Regionen. Die bereits durchgeführte Analyse der Routinedaten der KKH der Jahre 2000 bis 2002 bzw. bis 2003 in den Weißbüchern »HERZgesund?« bzw. »Stress?« wird im vorliegenden Band bei spezifischer Betrachtung muskuloskelettaler Erkrankungen um die Jahre 2004 und 2005 fortgeschrieben. Die Auswertungen der Routinedaten der KKH belegen die hohe Relevanz der Muskel-Skelett-Erkrankungen. Sie stehen unter ökonomischer Betrachtung an vierter Stelle. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Einzeldiagnosen Rückenschmerzen, sonstige Bandscheibenschäden sowie Hüft- und Kniegelenksarthrosen. Das vorliegende Weißbuch wendet sich deshalb besonders diesen Beeinträchtigungen zu. Mit der Osteoporose und den daraus folgenden häufigen Frakturen werden weitere wesentliche gesundheitliche Störungen aufgegriffen, die vor allem ältere Personen betreffen. Ausgehend vom Aufbau und der Funktionsweise des Rückens sowie der oberen und unteren Extremitäten werden jeweils relevante Beeinträchtigungen dargestellt und Ansätze ihrer Prävention aufgezeigt. Die Gliederung folgt dem menschlichen Körper von Kopf bis Fuß. Ein Schwerpunkt des vorliegenden Weißbuches liegt daher auf dem Thema Rücken. Dabei werden insbesondere primär-, sekundär- und tertiärpräventive Ansätze von Rückenbeschwerden sowie ihre Evidenz umfassend betrachtet.
Einen weiteren Fokus stellen die oberen und unteren Extremitäten dar. Hier erfolgt eine vertiefende Betrachtung von Arthrosen über Osteoporose und Sturzprophylaxe bis hin zur Fußgesundheit. Mit den beiden Bereichen Bewegung und Motivation sowie Ergonomie werden verhaltens- und verhältnisbezogene Strategien der Prävention für verschiedene Zielgruppen analysiert und ihre Umsetzung in unterschiedlichen Lebensbereichen aufgezeigt. Praxisbeispiele geben einen Einblick, wie präventive Maßnahmen in der Schule, im Betrieb und in Pflegeheimen verankert werden können und welche Barrieren und Umsetzungsschwierigkeiten dabei zu überwinden sind. Ein Interview mit Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen zu Herausforderungen und Lösungsansätzen rundet die Darstellung zur Prävention von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems ab. Mit dem vorliegenden Weißbuch »Beweglich?« greift die Kaufmännische Krankenkasse erneut ein gesellschaftlich aktuelles und bedeutendes Thema auf. Die Aufbereitung nationaler Daten sowie die Analyse kasseneigener Leistungsinanspruchnahmen verdeutlichen die Relevanz von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des MuskelSkelett-Systems innerhalb der Bevölkerung – gleichzeitig weisen sie aber auch auf das bestehende Präventionspotenzial hin. Hierfür gilt es, geeignete zielgruppenorientierte Maßnahmen aus der Darstellung internationaler Studien und aus der Vorstellung ausgewählter Praxisprojekte abzuleiten. Somit trägt der vorliegende Band zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von bedarfgerechten Präventionsansätzen in Deutschland bei.
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz, Medizinische Hochschule Hannover
Ingo Kailuweit, KKH-Vorstandsvorsitzender
2 Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und Ansätze ihrer Prävention Ulla Walter, Martina Plaumann (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Der Bewegungsapparat ist grundlegend für die Existenz des Menschen und seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt. Er gestattet dem Menschen, Ortsveränderungen vorzunehmen und über die Hände als wichtigstem eigenem »Werkzeug« mechanisch auf seine Umgebung einzuwirken. Gestik und Mimik sowie Körperhaltungen transportieren Stimmungslagen. Sie ermöglichen, zusammen mit der ebenfalls über Muskelbewegungen vermittelten mündlichen und schriftlichen Sprache, die Verständigung mit anderen Individuen. Nicht zuletzt dienen Muskeltätigkeiten als Mittel der künstlerischen Gestaltung und des musikalischen Ausdrucks (Faller 1980). Dies alles wäre nicht möglich ohne das komplexe Zusammenspiel von Knochen und Knorpel als passivem Gerüstwerk des Körpers und seine aktive Bewegung durch die Muskulatur und Sehnen. Ihre Tätigkeit wird durch das Nervensystem aufeinander abgestimmt.
2.1
Quantitative und ökonomische Relevanz von Muskel-Skelett-Erkrankungen
Gerät das oben erwähnte Zusammenspiel durch innere oder äußere Einflüsse aus der Balance, sind Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems die Folge. Diese umfassen Störungen wie Rückenbeschwerden, degenerative (Arthrose) und entzündliche (Arthritis)1 Gelenkveränderungen, Osteoporose bis hin zu sturzbedingten Frakturen und (Sport-)Verletzungen. Muskuloskelettale Schmerzen sind in der Bevölkerung weit verbreitet und Ursache etwa jeder fünften primärärztlichen Konsultation (Kohlmann 2003). Nach
1
Entzündliche Erkrankungen wie Gelenk-(Arthritis) und Muskelentzündungen (Myositis) sowie Autoimmunerkrankungen werden aufgrund ihrer eigenständigen Pathogenese in dem vorliegenden Weißbuch nicht näher betrachtet.
dem Bundesgesundheitssurvey (1998) gab jeder dritte Erwerbstätige (34%) an, innerhalb der letzten Woche von Rückenschmerzen betroffen gewesen zu sein. Bezogen auf die 1-Jahres-Prävalenz sind dies sogar 60% (Schmidt u. Kohlmann 2005). Den mit dem MuskelSkelett-System verbundenen chronischen Beschwerden kommt aufgrund der subjektiven Belastung und der hohen Leistungsinanspruchnahme – insbesondere der Arbeitsunfähigkeitstage – eine führende Rolle im gesamten Krankheitsspektrum zu ( Kap. 3). So stellen Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens (ICD-10: M40–54) die zweithäufigste Diagnosegruppe bei den Versicherten der KKH dar. Von allen Einzeldiagnosen nehmen Rückenschmerzen den zweiten Rang ein ( Kap. 4). Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens sind zudem mit einem Anteil von 30% bei Männern und Frauen (2002) die häufigste Ursache für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung zur medizinischen Rehabilitation (Schmidt u. Kohlmann 2005). Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sind mit hohen Kosten verbunden: Fast 11% (2005) der krankheitsbezogenen Ausgaben bei der KKH entfallen auf das Diagnosekapitel XIII (Krankheiten des Muskel-SkelettSystems und des Bindegewebes) der ICD-10. Jukka Takala, Direktor der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, bezifferte die Kosten der Muskel-Skelett-Erkrankungen für Unternehmen und Sozialsysteme auf insgesamt 1,6% des Bruttoinlandsproduktes. Auf die EU bezogen wären dies 200 Milliarden Euro oder, anders ausgedrückt, die gesamte Wirtschaftsleistung eines Landes wie Dänemark oder Polen (dpa 2007). des Muskel-Skelett-Systems sind eine » Erkrankungen der wesentlichen Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und bedingen dadurch beträchtliche sozioökonomische Kosten sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Dr. Gustav Caffier, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, Berlin
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4
2
Kapitel 2 · Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Nach Hochrechnungen auf Basis der Krankenhausentlassungen von 1994 bis 1999 sowie der Bevölkerungsvorausberechnungen von 1994 bis 2010 steigen in Deutschland bis zum Jahr 2010 die Fallzahlen in den Bereichen Arthropathien (Gelenkerkrankungen), Dorsopathien (Rückenbeschwerden) und Osteopathien (Skeletterkrankungen) bis um das Vierfache. Dabei werden insbesondere Frauen und Männer ab 65 Jahren zunehmend von Muskel-Skelett-Erkrankungen betroffen sein. Obwohl beide Geschlechter im höheren Alter grundsätzlich eine zunehmende Fallneigung aufweisen, werden Frauen aufgrund vermehrten Auftretens von Osteoporose eine deutlichere Zunahme an Frakturen verzeichnen als Männer (Scheuringer et al. 2005). Generell ließen sich zahlreiche Beeinträchtigungen des Muskel-Skelett-Systems sowie eine Chronifizierung von Beschwerden durch präventive Maßnahmen vermeiden bzw. vermindern. Prävention kann damit ebenso wie die Rehabilitation zu einem längeren Erhalt der Selbständigkeit im Alter beitragen. Das vorliegende Kapitel gibt zunächst einen Einblick in den Aufbau des Bewegungsapparates. Im Anschluss werden Faktoren, die zu krankheitsrelevanten Störungen beitragen, ebenso aufgezeigt wie Faktoren zur Gesunderhaltung des Muskel-Skelett-Systems. Die hieraus abzuleitenden Strategien und Schwerpunkte präventiver Maßnahmen werden zunächst übersichtsartig dargelegt, bevor sie in den anschließenden Kapiteln vertieft werden.
2.2
Aufbau des Bewegungsapparates
Das Stützgerüst des Körpers, das Skelett (griech.: skeletos = ausgetrockneter Körper, Mumie), besteht aus knöchernen und knorpeligen Skelettelementen, die durch Bindegewebsstrukturen verbunden sind. Die Teile des Skeletts werden durch die Skelettmuskulatur bewegt bzw. in einer bestimmten Lage gehalten. Skelett und Muskelsystem werden unter dem Oberbegriff Bewegungsapparat zusammengefasst, der sich in den passiven und den aktiven Bewegungsapparat gliedert. Unter dem passiven Bewegungsapparat werden das Skelett und die Skelett-
verbindungen (Gelenke) verstanden, der aktive Bewegungsapparat besteht aus der quergestreiften Skelettmuskulatur (s. u.) und den Sehnen (Faller et al. 2004). Auf den anatomischen Aufbau des Rumpfes sowie der oberen und unteren Extremitäten wird in den Kap. 5.1 und 6.1 differenzierter eingegangen.
2.2.1 Passiver Bewegungsapparat
Das Skelett wird in unterschiedliche Knochengruppen eingeteilt (⊡ Abb. 2.1): Schädel, Wirbelsäule, Brustkorb, Schulter- und Beckengürtel sowie obere und untere Extremitäten (Huch u. Bauer 2003b). Skelettelemente, die durch Gelenke miteinander verbunden sind, haben neben der Stütz- auch eine Hebelfunktion für die Skelettmuskulatur bei der Fortbewegung (wie z. B. Verbindung des Oberschenkelknochens über das Kniegelenk mit dem Schienbein und somit auch mit dem Wadenbein). Skelettelemente wie z. B. Schädelknochen, Wirbelkanal und Brustkorb weisen zudem eine Schutzfunktion für andere Organsysteme, u. a. für Herz und Lunge, auf. Das Skelett dient außerdem als wichtiger Mineralspeicher vor allem für Kalzium und Phosphat, die für viele Abläufe im Körper notwendig sind (s. u. und Kap. 10.2). So besteht beispielsweise ein ständiger Austausch von Kalzium zwischen Blut und Knochengewebe. Mit dem blutbildenden Knochenmark im Inneren vieler Knochen dient das Skelettsystem zudem als Produktionsstätte für die meisten Blutzellen (u. a. Huch u. Bauer 2003a; Faller et al. 2004). Im Unterschied zum weiblichen weist das männliche Skelett längere und schwerere Knochen auf (⊡ Tabelle 2.1). Diese zeichnen sich durch eine größere Rauigkeit und Knochenvorsprünge aus, an denen somit auch größere Muskeln ansetzen. Ein weiterer geschlechtsspezifischer Unterschied besteht in der Formung und Weite des Beckens, der sich aus den Erfordernissen des Geburtsvorgangs erklärt. So ist z. B. der weibliche Beckeneingang größer und rundlich-oval, während der männliche eher herzförmig gestaltet ist (Huch u. Bauer 2003a,b).
⊡ Tabelle 2.1. Geschlechtsspezifische Unterschiede des passiven und aktiven Bewegungsapparates (nach Huch u. Bauer 2003a, b) Frauen
Männer
Knochen
Kürzer und leichter
Länger und schwerer, zum Ansatz größerer Muskeln
Becken
Beckeneingang: größer, rundlich-oval Beckenausgang: weiter
Beckeneingang: eher herzförmig Beckenausgang: enger
Skelettmuskulatur
Durchschnittlich ca. 24 kg
Durchschnittlich ca. 30 kg
Kraftentwicklung
Niedrigere Kraftentwicklung (65% der Kraftentwicklung, die Männer leisten können)
Höhere Kraftentwicklung
5 2.2 · Aufbau des Bewegungsapparates
Knochen
Das knöcherne Skelett eines Erwachsenen setzt sich aus etwa 200 Einzelknochen zusammen, die insgesamt durchschnittlich nur sieben Kilogramm wiegen und über echte und unechte Gelenke (s. u.) miteinander verbunden sind. Die einzelnen Knochen des menschlichen Skeletts weisen unterschiedliche Formen und Gestaltungen auf: u. a. lange Knochen bzw. Röhrenknochen (z. B. Knochen der freien Extremität, wie der Oberarmknochen), kurze Knochen (z. B. Hand- und Fußwurzelknochen) sowie flache Knochen (z. B. Rippen, Brustbein, Schulterblatt) (Huch u. Bauer 2003a; Faller et al. 2004). Am Auf-, Um- und Abbau des Knochens sind drei verschiedene Arten von Knochenzellen beteiligt. Die Osteoblasten, verantwortlich für den Auf- und Umbau der Knochengrundsubstanz (Knochenmatrix), scheiden Kalziumphosphate und Kalziumkarbonate aus, die entlang
den Kollagenfasern der Knochengrundsubstanz auskristallisieren und die Osteoblasten einmauern. Hierdurch verlieren die Osteoblasten ihre Fähigkeit zur Zellteilung und werden Osteozyten genannt. Dieses Gewebe verhärtet mit der Zeit und bildet die extrem belastbare Knochenstruktur. Je nach Knochen kann ein solcher Verknöcherungsprozess mehrere Monate bis viele Jahre dauern. Gegenspieler der Osteoblasten bzw. Osteozyten sind die Osteoklasten, die den Knochen abbauen können. Dies ist für Umbauphasen des Skeletts, z. B. in Wachstumsphasen und in der Heilungsphase nach Knochenbrüchen, notwendig. Die Neu- und Umbildung von Knochengewebe durch Osteoblasten und der Abbau von Knochengewebe durch Osteoklasten erfolgt nicht nur während der Wachstumsphase eines Menschen, vielmehr existiert ein dynamisches Gleichgewicht, durch das laufend Knochenminerale in die Blutbahn abgegeben und von dort
⊡ Abb. 2.1. Knochen und Muskeln der Menschen in der Übersicht (modifiziert nach Tillmann 2005 und Spornitz 2004)
2
6
2
Kapitel 2 · Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
wieder aufgenommen werden. Diese Dynamik versetzt die Knochen in die Lage, sich z. B. durch Neubildung von Knochenbälkchen erhöhten bzw. veränderten Anforderungen anzupassen oder während einer Schwangerschaft Knochenminerale unterstützend zur Verfügung zu stellen. Um diesen Auf-, Um- und Abbau der Knochen zu gewährleisten, müssen diese mit Blut und somit mit Nährstoffen versorgt werden (Huch u. Bauer 2003a; Faller et al. 2004). Die Gestalt der Knochen ist genetisch festgelegt, während ihre Struktur durch äußere Umstände beeinflussbar ist. So sind für die Aufrechterhaltung der inneren Struktur des Knochens eine dauernde ausgewogene Belastung und eine gesunde Ernährung, vor allem eine ausreichende Versorgung mit Kalzium und Vitamin D ( Kap. 10.2), erforderlich. Ändern sich diese Umstände, erfolgt ein Umbau des Knochens, um sich den neuen Bedingungen anzupassen. Ein Abbau des Knochens erfolgt z. B. wenn konstanter Druck auf ihn ausgeübt wird, ein Aufbau dagegen resultiert durch Zug auf den Knochen. Damit der auf das Skelett einwirkende Druck, z. B. durch Gehen oder Stehen, nicht allzu groß ist und einen Knochenabbau hervorruft, sind Knochenbälkchen (Spongiosa) in den Knochen so angeordnet, dass sie den Druck in Zug umwandeln können (u. a. Huch u. Bauer 2003a; Faller et al. 2004; Spornitz 2004).
a
Gelenke
Gelenke verbinden knorpelige und/oder knöcherne Skelettelemente. Sie ermöglichen Bewegungen der einzelnen Abschnitte des Rumpfs und der Extremitäten und dienen der Kräfteübertragung (Faller et al. 2004). Gelenke können nach Gestalt und Form der Gelenkflächen in unterschiedliche Gelenkformen (z. B. Kugelgelenke wie das Schulter- und Hüftgelenk oder Scharniergelenke wie das Ellenbogengelenk) unterteilt werden (⊡ Abb. 2.2a,b). Die unterschiedlichen Gelenkformen bedingen jeweils spezifische Richtungen der Gelenkbewegungen, die jedoch zusätzlich von der Anordnung der Muskeln und Bandstrukturen abhängen. Je nach Art der Verbindung werden unechte und echte Gelenke unterschieden (u. a. Faller et al. 2004). Ein unechtes Gelenk bezeichnet die Verbindung von Skelettanteilen über Füllmaterial aus Knorpel- oder Bindegewebe, wodurch nur geringe Bewegung ermöglicht wird (z. B. Schambeinfuge). Bei echten Gelenken sind die Knochen durch einen Gelenkspalt voneinander getrennt (⊡ Abb. 2.3). Zudem sind die Gelenkflächen mit hyalinem (durchscheinendem, glasartigem) Knorpel bedeckt. Sie liegen in einer mit Gelenkflüssigkeit (Synovia) gefüllten Gelenkhöhle, die von einer Gelenkkapsel umgeben ist (Faller et al. 2004). Die mechanischen Eigenschaften und die Stoßdämpferfunktion des hyalinen Gelenkknorpels hängen im Wesentlichen von seiner Extrazellulärmatrix, u. a. bestehend aus Kollagenfasern, Makromolekülen und Wasser, ab.
b ⊡ Abb. 2.2. a Kugelgelenk (aus Spornitz 2004), b Scharniergelenk (aus Spornitz 2004)
Die Dicke des Gelenkknorpels beträgt im Durchschnitt 2–3 mm, kann aber auch bis zu 8 mm betragen. Aufgrund fehlender Blutgefäße wird der Gelenkknorpel von der Gelenkflüssigkeit durch Diffusion ernährt. Eine regelmäßige Bewegung (Be- und Entlastung) des Knorpels presst die Gelenkflüssigkeit in den Knorpel und sichert so seine optimale Versorgung mit Nährstoffen. Degenerative Veränderungen (Arthrosen) des hyalinen Gelenkknorpels können insbesondere bei älteren Menschen durch Bewegungsmangel und durch unphysiologisch hohe Belastungen hervorgerufen werden. Das Regenerationsvermögen des Gelenkknorpels ist aufgrund der fehlenden Knorpelhaut gering (Faller et al. 2004). Möglichkeiten der Prävention und therapeutische Behandlungen im Rahmen der Rehabilitation von Arthrose werden u. a. in Kap. 6.2 näher ausgeführt.
7 2.2 · Aufbau des Bewegungsapparates
⊡ Abb. 2.3. Echtes Gelenk (modifiziert nach Spornitz 2004)
2.2.2 Aktiver Bewegungsapparat
Der Körper des Menschen verzeichnet über 400 Muskeln (⊡ Abb. 2.1), die in die drei Grundtypen quergestreifte Muskulatur (Skelettmuskulatur), Herzmuskelgewebe und glatte Muskulatur eingeteilt werden. Sie unterscheiden sich anatomisch und funktionell. Die quergestreifte Muskulatur erhielt ihren Namen durch den charakteristischen Aufbau ihres Gewebes: Die Muskelfasern erscheinen im mikroskopischen Bild als helle und dunkle Streifen. Sie benötigen einen willkürlich ausgelösten Nervenreiz für eine Kontraktion (Zusammenziehen). Die Kontraktion der glatten Muskulatur in den Wänden der meisten Hohlorgane (z. B. Magen-Darm-Trakt, Harnblase) und der Blutgefäße funktioniert dagegen unwillkürlich. Das Herzmuskelgewebe ist ebenfalls quergestreift, weist jedoch histologische Unterschiede zur Skelettmuskulatur auf und arbeitet unwillkürlich, kontinuierlich und rhythmisch ungefähr 75-mal pro Minute (Huch u. Bauer 2003a). Die aktiven Bewegungen des Körpers werden durch den Wechsel zwischen Kontraktion und Relaxation (Entspannung) der quergestreiften Muskulatur ermöglicht. Die Skelettmuskulatur, die ca. 45% der Körpermasse
ausmacht, besteht aus hoch spezialisierten Zellen. Diese zeichnen sich durch vier Eigenschaften aus: Sie sind 1. erregbar (können auf Nervenreize reagieren), 2. kontraktil (können sich verkürzen), 3. dehnbar (lassen sich auseinanderziehen) und 4. elastisch (kehren nach Dehnung oder Kontraktion in ihre ursprüngliche Lage zurück). Bereits in Ruhe entfallen ca. 20–25% des Energieumsatzes auf die Skelettmuskulatur. Jedoch werden von dieser zur Muskelarbeit eingesetzten Energie nur 45% für die Kontraktion verwendet. Der Rest entfällt auf die Produktion der Körperwärme. Bei einer Unterkühlung oder ansteigendem Fieber wird die Muskulatur ausschließlich zur Wärmeproduktion kontrahiert (Kältezittern) und erzeugt so bis zu 85% der Körperwärme. Die Skelettmuskulatur bedingt zudem durch ihre Fähigkeit der Kontraktion zum einen die aktiven Bewegungen des Körpers, wie z. B. Laufen, Händeschütteln und das Ergreifen eines Stiftes, zum anderen die aufrechte Körperhaltung (sitzend und auch stehend), die für uns unbewusst abläuft, stimuliert von Muskelzellen durch das zentrale Nervensystem (Huch u. Bauer 2003a; Faller et al. 2004).
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8
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Kapitel 2 · Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Im Vergleich zu Frauen mit durchschnittlich ca. 24 kg weisen Männer mit durchschnittlich 30 kg mehr (Skelett-)Muskulatur auf (⊡ Tabelle 2.1). Grund hierfür ist hauptsächlich das muskelaufbauend wirkende Sexualhormon Testosteron. Ein weiterer Unterschied zwischen Frauen und Männern findet sich hinsichtlich der maximalen muskulären Kraftentwicklung. Frauen können durchschnittlich nur 65% der Kraft leisten, die Männer in der Regel entwickeln können (Huch u. Bauer 2003a,b). Skelettmuskel
Ein Skelettmuskel besteht aus einem Muskelbauch und den meist deutlich dünneren Sehnen, die sich am Skelett oder an Bindegewebsstrukturen des Bewegungsapparates anheften und den Zug des Muskels direkt oder indirekt auf die Skelettteile übertragen (⊡ Abb. 2.4). Als Ursprung wird die rumpfnahe (proximale) Anheftungsstelle an den Extremitäten, als Ansatz die rumpffernere (distale) Anheftungsstelle an den Extremitäten bezeichnet (Faller et al. 2004). Durch das Zusammenspiel gegensätzlich agierender Muskeln wird die Ausführung einer flüssigen Bewegung in den meisten Fällen ermöglicht. Dabei ist ein Agonist (Spieler) für eine bestimmte Bewegung verantwortlich,
ursprung
⊡ Abb. 2.4. Funktionsweise der Skelettmuskulatur anhand des Ellenbogengelenks (modifiziert nach Faller et al. 2004)
während sein Antagonist (Gegenspieler) die entgegengesetzte Bewegung ausführt (⊡ Tabelle 2.2). Ein Muskel kann dabei je nach Ausrichtung der Bewegung als Agonist oder als Antagonist fungieren (Huch u. Bauer 2003a). Muskeln, die bei einem Bewegungsablauf zusammenarbeiten, werden als Synergisten (zusammenarbeitend) bezeichnet. So sind beispielsweise bei der Beugung des Ellenbogengelenks der Musculus brachialis (Armbeuger), der Musculus biceps brachii (»Bizeps«, zweiköpfiger Armmuskel) und der Musculus brachioradialis (Oberarmspeichenmuskel) beteiligt (u. a. Faller et al. 2004; Huch u. Bauer 2003a). Muskelsehnen
Muskeln werden durch Sehnen an den Knochen befestigt (⊡ Abb. 2.4). Sie bestehen aus zugfesten kollagenen Faserbündeln und übertragen bei der Muskelkontraktion die Kraft vom Muskel auf das Skelett (Faller et al. 2004). Hilfseinrichtungen der Muskeln und Sehnen
Damit bei der Tätigkeit der Muskeln und Sehnen die Reibung und damit der Kraftaufwand möglichst gering gehalten wird, sind mehrere Komponenten notwendig. Muskelfaszien ermöglichen ein Aneinandergleiten einzelner Muskeln. Sehnenscheiden führen Sehnen, die direkt auf einem Knochen verlaufen. Schleimbeutel schützen Muskeln, die unmittelbar über einen Knochen ziehen. Sesambeine sind in Sehnen eingelassene Knochen, die den Hebelarm eines Muskels verlängern und so zu einer Kraftersparnis führen (z. B. Kniescheibe; Faller et al. 2004).
2.3
Beeinträchtigungen und Erkrankungen
Das Muskel-Skelett-System kann vielfältige Störungen und Krankheitsbilder aufweisen. Diese reichen von kurzzeitigen Verspannungen der Muskulatur aufgrund von Über- und Fehlbelastungen bis hin zu chronischen Rückenbeschwerden, machen sich als Schmerzen z. B. im Nacken-, Kopf-, Arm- und Handbereich bemerkbar und können sich beispielsweise als Karpaltunnelsyndrom manifestieren. Das Skelettsystem betreffen Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens wie Skoliose, Deformitäten der Füße, Bandscheibenschäden sowie Degenerationen der Gelenke (Arthropathien) insbesondere an den Extre-
⊡ Tabelle 2.2. Zusammenwirkung von Agonist und Antagonist anhand des Ellenbogengelenks (nach Huch u. Bauer 2003a) Muskeln
Beugung des Unterarms
Streckung des Unterarms
Musculus biceps
Zusammenziehen > Agonist
Entspannen > Antagonist
Musculus triceps
Entspannen > Antagonist
Zusammenziehen > Agonist
9 2.4 · Einflussfaktoren auf die Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems und Ansätze der Prävention
mitätengelenken. Hinzu kommen Verstauchungen (Distorsionen), Verrenkungen oder Verdrehungen (Luxationen), Zerreißen von Bändern und Sehnen (Rupturen, z. B. Kreuzbandriss im Kniegelenk) und Knochenbrüche (Frakturen). Letztere können zwar prinzipiell sämtliche Gelenke und Knochen betreffen, erfolgen jedoch besonders häufig an den oberen und unteren Extremitäten. Darüber hinaus können Veränderungen der Knochendichte und -struktur auftreten wie bei Osteoporose ( Kap. 8.1) und Osteomalazie. Die meisten Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sind im ICD-10, der 10. international einheitlichen hierarchischen Systematik zur Erfassung der Klassifizierung von Krankheiten (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO, im Diagnosekapitel XIII »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes« eingeordnet. Eine Ausnahme bilden Frakturen, die sich im Diagnosekapitel XIX »Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen« befinden. Von der Fülle der Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems werden die in der Bevölkerung bzw. in einzelnen Teilgruppen besonders verbreiteten Störungen in dem vorliegenden Weißbuch hinsichtlich ihres Vorkommens, ihrer Risiko- und Schutzfaktoren sowie der Möglichkeiten ihrer Prävention vertieft betrachtet. Hierzu zählen u. a. Rückenbeschwerden, Arthrose und Osteoporose. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Stürzen sowie Verletzungen und Schäden durch Sport. Rückenschmerzen, darunter die unspezifischen Rückenschmerzen, stellen die häufigste Diagnose unter den Muskel-Skelett-Erkrankungen dar ( Kap. 4). Daher sind die Verhinderung bzw. Verringerung dieser Beeinträchtigungen und ihrer Folgen von besonderer Bedeutung. Aufgrund ihrer Ursachen muss zwischen spezifischen und unspezifischen Rückenschmerzen unterschieden werden. Während spezifische Rückenschmerzen eine somatische Ursache als Auslöser wie traumatische, entzündliche und tumoröse Veränderungen an den Strukturen der Wirbelsäule und des Spinalkanals aufweisen, können bei unspezifischen Rückenschmerzen keine eindeutigen pathologisch-anatomischen Veränderungen als Auslöser für die Beschwerden nachgewiesen werden. Hier wird eine multikausale Genese vermutet, die mit der Persönlichkeitsstruktur und der Umwelt, insbesondere mit der Arbeitswelt, in Zusammenhang steht (Lühmann et al. 1998). Eine spezifische Ursache für Rückenschmerzen kann nur in 15% der Fälle diagnostiziert werden, somit gelten ca. 85% aller Rückenschmerzen als unspezifisch. Unspezifische akute Rückenschmerzen verschwinden gewöhnlich spontan innerhalb eines Monats. Bei Personen, die bereits eine Episode von Rückenschmerzen erlitten haben, kann in 70% der Fälle mit drei oder mehr Rückfällen gerechnet werden. 10% aller Rückenschmerzpatienten zeigen deutliche Tendenzen zur Chronifizierung (Schmidt u. Kohl-
mann 2005). Neben physischen Belastungen spielen für die Entstehung von Rückenbeschwerden insbesondere psychosoziale Einflussfaktoren eine Rolle (Schmidt u. Kohlmann 2005). Ihre Prävention und Rehabilitation erfordert deshalb mehrdimensionale Strategien und Maßnahmen ( Kap. 5). Arthrosen zählen zu den chronisch degenerativen Erkrankungen und stellen die häufigsten Gelenkerkrankungen im Erwachsenenalter dar. Sie können aus einseitigen dauerhaften Gelenkbelastungen resultieren. Zwei Drittel der über 60-Jährigen leiden an einer Arthrose. Besonders betroffen sind das Hüft- und Kniegelenk sowie das Sprunggelenk. Während aufgrund mangelnder Studien evidenzbasierte Hinweise zur Primärprävention fehlen, ist bei bereits vorliegenden funktionellen Störungen und Schmerzen körperliche Aktivität wirksam. Entsprechende Trainingsprogramme sind neben verschiedenen therapeutischen Verfahren Bestandteil der Rehabilitation von Arthrosen ( Kap. 6.2 und 10.3). Die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung Osteoporose (osteo = Knochen, poro = Loch) bezeichnet eine Knochenerkrankung, die durch eine Verminderung der Knochensubstanz und -struktur charakterisiert wird. Das Risiko für Osteoporose steigt mit unzureichenden oder vorzeitig aufgebrauchten Kalziumreserven im Skelettsystem, was eine Erhöhung des Risikos von Frakturen nach sich zieht. An Osteoporose leiden in Deutschland schätzungsweise 7,8 Millionen Menschen, die WHO zählt diese Knochenerkrankung zu den zehn häufigsten Krankheiten. Besonders Frauen nach der Menopause sind wegen der fehlenden Östrogenstimulation der Osteoblasten (knochenaufbauende Zellen) häufiger von Osteoporose betroffen. Aber auch bei über 70-jährigen Männern verringert sich mit höherem Lebensalter die Knochensubstanz. Allerdings müssen die natürlichen Abbauprozesse mit zunehmendem Alter nicht zwingend zu einer krankhaften Veränderung führen. So kann ausreichende Bewegung, eine mineralienreiche Ernährung und eine entsprechende Vitamin-D-Zufuhr das Auftreten von Osteoporose vermeiden bzw. verringern. Die Prävention von Osteoporose sollte sich über den gesamten Lebenslauf erstrecken und bereits im Kindesalter beginnen, um eine optimale Knochenentwicklung zu gewährleisten (u. a. Spornitz 2004; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2007; Kap. 8.1).
2.4
Einflussfaktoren auf die Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems und Ansätze der Prävention
Zahlreiche lebensweisen- und umweltbedingte Faktoren beeinflussen das Auftreten von Schädigungen des Muskel-Skelett-Systems. Nicht alle sind jedoch Risikofaktoren im eigentlichen Sinn. Unter Risikofaktoren werden Determinanten verstanden, die die Wahrscheinlichkeit
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10
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Kapitel 2 · Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses erhöhen. Faktoren, deren Häufigkeit bzw. Schweregrad sowie nachfolgende Beeinträchtigungen bzw. Erkrankungen durch Interventionen reduziert werden können, werden als vermeidbare bzw. modifizierbare Risikofaktoren bezeichnet. Risikofaktoren stehen Schutzfaktoren gegenüber, die dazu beitragen, dass ein geringes Erkrankungsrisiko besteht oder/und weniger schwere Erkrankungsfolgen auftreten. Während Risikofaktoren ursächlich zu der Entstehung einer Krankheit beitragen, sind Risikoindikatoren lediglich gehäuft in Assoziation mit dem Krankheitsbild zu beobachten (Lühmann et al. 2003; Last 1995). Wissenschaftlich gut untersucht sind Risikofaktoren und Risikoindikatoren z. B. für den unspezifischen Rückenschmerz, wobei nach aktuellen Erkenntnissen davon ausgegangen wird, dass nicht einzelne Risikofaktoren, sondern ein komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren Rückenschmerzen verursachen ( Kap. 5.2). Nicht immer sind jedoch die Stärke eines Risikofaktors und seine Rolle im multifaktoriellen Geschehen bekannt. So haben sich z. B. zahlreiche, inzwischen etablierte und genormte, ergonomische Arbeitsbedingungen als alleinige Maßnahme nicht wirksam zur Vermeidung von Rückenbeschwerden erwiesen. Unbekannt bleibt jedoch ihr Einfluss im Kontext weiterer Faktoren auf die Erhaltung der Gesundheit. Da weder bei allen Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems Risikofaktoren und -indikatoren identisch sind, noch in der Literatur immer klar getrennt werden, wird in der folgenden Übersicht von beeinflussenden Faktoren gesprochen. Beschwerden auftreten, ist es häufig schon zu » Wenn spät, das heißt, die Arbeitsmediziner müssen proaktiv vorgehen und ihre Beratung anbieten. « Dr. Klaus Giersiepen, Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) ⊡ Abbildung 2.5 gibt einen Überblick über die Vielfalt der gesellschaftlichen, arbeitsbezogenen und individuellen Einflussfaktoren, die die Entwicklung von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskelsystems sowie ihre Chronifizierung und Aufrechterhaltung mit begünstigen können. Neben sozioökonomischen Faktoren spielen eine geringe Gesundheitskompetenz und verhaltensbezogene Aspekte wie Bewegungsmangel sowie Mangel- bzw. Fehlernährung eine Rolle. Tabakkonsum ist nicht nur ein Risikofaktor für die Entstehung von Osteoporose (Woschnagg 2003), sondern erhöht auch das Risiko für Hüftnekrose (Meizer et al. 2007) und die schlechte Heilung z. B. von Knochen nach Frakturen (Hoogendorn et al. 2002). Nicht zuletzt kann eine dauerhaft unpassende Ausstattung wie z. B. zu enge Schuhe zu Knochendeformationen beitragen; eine inadäquate (Sport-)Ausrüstung sowie Stolperfallen können Unfälle begünstigen und Schädigungen des Muskel-Skelett-Systems nach sich ziehen. Körperliche Einschränkungen und Vorschädigungen begünstigen auf-
grund bestehender Verletzungen, erhöhter physiologischer und mechanischer Belastungen bzw. Beeinträchtigungen z. B. Gelenkdegenerationen und Frakturen. Letztere können ebenso ein geringeres Bewegungsverhalten aufrechterhalten wie psychologische Faktoren. Zu diesen zählen u. a. depressive Beeinträchtigungen sowie Furchtund Vermeidungsdenken. Auch Stress in der Familie oder am Arbeitsplatz führt nach anfänglichen Verspannungen der Muskulatur bei anhaltender Belastung zu einer Chronifizierung von Schmerzen. Derartigen psychosozialen Belastungen wird neben körperlichen Über- und Fehlbelastungen eine zunehmend größere Rolle bei der Entstehung von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zugeschrieben. Nicht zuletzt können iatrogene, d. h. durch ärztliche Einwirkung entstandene Faktoren Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems begünstigen. Hierzu zählen z. B. eine Fehl- bzw. Multimedikation, die Stürze mitbedingen kann, sowie Fehlbehandlungen. Nach dem Berichtssystem MERS (Medical Error Reporting System) werden seit 2006 von Patienten angezeigte ärztliche Behandlungsfehler in Deutschland (bis auf Bayern) erfasst. Während sich in der ambulanten Versorgung fünf mit dem Bewegungsapparat verbundene Diagnosen unter den häufigsten zehn fehlbehandelten Krankheiten befinden (Karpaltunnelsyndrom, verschiedene Frakturen und Rückenschmerzen), sind in der akutstationären Versorgung sechs Diagnosen vertreten (Hüftgelenks- und Kniearthrose sowie verschiedene Frakturen). Das Übergewicht chirurgischer Fehler kann darin begründet sein, dass in diesem Fachbereich Fehler schneller auffallen als in anderen klinischen Disziplinen (Merten 2007). Entsprechend der Vielfalt dieser Einflussfaktoren, die Schädigungen des Muskel-Skelett-Systems fördern können, muss seine Gesunderhaltung an vielen Ebenen ansetzen (⊡ Abb. 2.6). Die unterschiedlichen beeinflussenden Faktoren und Ansätze der Gesunderhaltung des Muskel-Skelett-Systems erfordern ebenso vielschichtige inhaltliche Schwerpunkte und Strategien der Prävention. Diese umfassen sowohl Maßnahmen zur Erhöhung der Gesundheitskompetenz als auch verhaltensbezogene Interventionen sowie organisations- bzw. lebensweltbezogene Ansätze im Sinne der Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung (⊡ Abb. 2.7). Die Strategien reichen von bevölkerungsweiten Aufklärungskampagnen über (risiko-)gruppenbezogene Trainingsangebote bis hin zu Patientenschulungen und Einzelberatungen. Die inhaltlichen Schwerpunkte umfassen neben klassischen – und hier spezifisch zu adressierenden – Maßnahmen zur Förderung der Ausdauer, Kraft und Koordination, zur gesunden Ernährung, zur Gewichtsreduktion, zum Stressmanagement und zur Sturzprophylaxe auch die Entmedikalisierung sowie eine veränderte Beschwerdenwahrnehmung und den Umgang
11 2.4 · Einflussfaktoren auf die Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems und Ansätze der Prävention
Sozioökonomische Faktoren
Gesundheitskompetenz
• soziale Schicht • Alter • Bildung • Erwerbsstatus • Arbeitslosigkeit
• geringes Gesundheitsbewusstsein • non-verbales Ausdrucksverhalten
Arbeitsbezogene Faktoren • Wirtschaftszweig • körperliche Über- und Fehlbelastungen • psychosoziale Belastungen • fehlende Gratifikation • Arbeitsunzufriedenheit • fehlende soziale Unterstützung
Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Verhaltensbezogene Faktoren • körperliche Inaktivität • Über- und Fehlbelastungen (z. B. dauerhaftes Sitzen oder Stehen) • schweres Heben oder Tragen • Schonhaltungen/-bewegungen • Mangel- und Fehlernährung • Tabakkonsum • inadäquates Schuhwerk • keine adäquate Sportausrüstung
Verhältnisbezogene Faktoren • Stolperfallen
Psychologische Faktoren
Körperliche Einschränkungen und Vorschädigungen
• depressive Verstimmungen, Depression • Katastrophisieren • Furcht- und Vermeidungsdenken • Ängste • Bagatellisieren von Schmerzen • Stress, familiäre Belastungen • sexueller und körperlicher Missbrauch
Iatrogene Faktoren • Fehl-/Multimedikation • Östrogentherapie • Fehlbehandlungen
• Beeinträchtigung der Sinnesleistungen • Übergewicht/Adipositas • Gangunsicherheit • Sportverletzungen und -schäden • Unfälle
⊡ Abb. 2.5. Einflussfaktoren für Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Arbeitsplatzgestaltung
Umgang mit psychosozialen Belastungen
• lebensphasenorientiertes Management • positives Betriebsklima • Ausgleich bei einseitigen Belastungen • ergonomische Arbeitsplatzgestaltung
• Stressmanagement • Entspannungstraining • Stärkung der psychischen Ausgeglichenheit
Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems
⊡ Abb. 2.6. Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems
• rhythmisch abwechselnde Beund Entlastung der Wirbelsäule • Heben und Tragen • häufiger Positionswechsel (Sitzen – Stehen – Laufen)
Ausgewogene Ernährung
Beweglichkeit • sportliche Aktivität • Bewegung im Alltag • Kräftigung der Muskulatur, aktive Gelenkstabilisation • Schulung der Koordination
Vermeidung einseitiger Belastungen
• Nährstoffe • Mineralstoffe • Vitamine Vermeidung von Übergewicht und Tabakkonsum
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Kapitel 2 · Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Schwerpunkte von Interventionen
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Förderung der Gesundheitskompetenz
• Hinführung zur körperlichen Aktivität, • bevölkerungs- und risikogruppenVermittlung von Bewegungserfahrung bezogene mediale Information • Beratung • Förderung von Alltagsaktivitäten • Erhöhung der Handlungs• regelmäßiges Kraft-/Ausdauer-/ kompetenzen Balancetraining • spezifische Trainingsmaßnahmen • Förderung des technomotorischen • Patientenschulungen Könnens • Entmedikalisierung • veränderte Beschwerdenwahrnehmung und -bewertung besonders von Rückenschmerzen Prävention von Muskel• Umgang mit Schmerz Skelett-Erkrankungen • Förderung der Rückkehr an den Arbeitsplatz • Massagen und thermische Anwendungen • Tragen von Hüftprotektoren • Sturzprophylaxe • gesunde Ernährung • Gewichtsreduktion • Tabakentwöhnung Arbeitsplatzbezogene Maßnahmen • Stressmanagement • Entspannungsübungen • Reduktion körperlicher und psychischer Belastungen • ergonomische Arbeitsplatz- und Lebenswelt Schule/Kindergarten Arbeitsmittelgestaltung • Verbesserung der Kommunikation • bewegungsfreundliche Gestaltung und Arbeitsorganisation • Erweiterung des Sportunterrichts • Schaffung von Handlungsspielräumen • ergonomisches Mobiliar • Gratifikation • rückengerechte Schulranzen • Förderung eines positiven Betriebsklimas
Professionalisierung und Qualifizierung • Verankerung und Vermittlung präventiver Ansätze in der Ausbildung der im Gesundheitswesen Tätigen • Fortbildung von Professionellen im Gesundheitswesen • interdisziplinäre Zusammenarbeit
Gestaltung des Umfeldes (Kommune) • Freizeitanlagen • spezifische Angebote • Fahrradwege • Zugang zu bewegungsanregenden Lebenräumen
⊡ Abb. 2.7. Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen
mit Schmerz. In den Lebenswelten gilt es vor allem, Rahmenbedingungen zu schaffen, die zu einer vermehrten Bewegung auffordern und ihre Durchführung erleichtern. Wesentlich am Arbeitsplatz ist ein Management, das den unterschiedlichen psychischen und zeitlichen Belastungen gerecht wird sowie die körperlichen und psychischen Ressourcen der Mitarbeiter in den jeweiligen Lebensphasen adäquat nutzt und unterstützt (Ilmarinen 2005). Dieses Management beinhaltet zudem die Schaffung leistungsadäquater Handlungsspielräume und eine angemessene Gratifikation der Arbeit. Betrachtet werden muss auch die gesellschaftliche Definition von Krankheiten und Gesundheitsstörungen. Zur Entlastung des Gesundheitssystems, Stärkung der Eigenverantwortung und zu besserem Selbstmanagement wird neuerdings eine Entmedikalisierung von Rückenschmerzen angestrebt. Rückenschmerzen sollen nicht mehr als Krankheit, sondern vielmehr als Alltagsbeeinträchtigung wahrgenommen werden. Erforderlich dafür ist eine veränderte Sichtweise und Handlungsorientierung nicht nur auf Seiten der Betroffenen, sondern auch auf Seiten der Professionellen. Damit wird zugleich die Relevanz der Qualifizierung der Professionellen im Gesundheitssystem deutlich.
eine Prävention ist es aus politischer Sicht sinn» Für voll, gemeinsam Präventionsziele zu formulieren und dafür Sorge zu tragen, dass diese Ziele von den zuständigen Institutionen umgesetzt werden. Fritz Bindzius, Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), Sankt Augustin
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Selbstverständlich sollten die präventiven Maßnahmen den bereits im Gutachten des Sachverständigenrats für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002) dargelegten Qualitätsanforderungen genügen. Diese Kriterien umfassen neben der Definition und Identifikation besonders belasteter Zielgruppen eine zielgruppengerechte Adressierung der Maßnahmen. Hier sind ggf. bislang immer noch wenig etablierte aktive Zugangswege erforderlich. Zur Erhöhung der Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft besonders vulnerabler Zielgruppen müssen Informationen verständlich aufbereitet sein, die die Lebenslage und Motivationen der Zielgruppe treffen und deshalb bei Bedarf z. B. hinsichtlich Alter und Geschlecht weiter differenziert werden (Walter et al. 2003). Eine vertiefende Analyse der Effektivität von Zugangswegen und zielgruppengerechter Ansprache wurden in der Forschung
13 2.5 · Fazit
bislang eher vernachlässigt. In Deutschland erfahren sie in der seit 2004 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Präventionsforschung eine zunehmende Beachtung. Wesentlich für Interventionen ist deren Wirksamkeit hinsichtlich Art, Umfang und Intensität. Darüber hinaus ist auch die Form ihrer Vermittlung für ihre Effektivität entscheidend. Auch hier sollte sich die Qualität der Maßnahmen nach dem »state of the art« richten. Nicht in allen Bereichen besteht jedoch hinreichend Evidenz. Für viele Aspekte der Kommunikation und der Umsetzung präventiver Ansätze liegen nur vereinzelte oder noch gar keine Studien vor. Dies ist nicht zuletzt auf die jahrzehntelang auch international vernachlässigte Priorität präventiver Forschung zurückzuführen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) schlägt deshalb in Anlehnung an Empfehlungen des Institute of Medicine in seinem aktuellen Gutachten vor, dass neben wirksamen Interventionsformen (»proven interventions«) auch plausible Interventionen eingesetzt werden sollten, wenn ihnen ein theoretisch schlüssiges Wirkungsmodell zugrunde liegt, für das zumindest partiell empirische Evidenz vorliegt (»promising interventions«).
2.5
Fazit
Der Bewegungsapparat mit seinem aktiven Muskel- und passiven Skelettsystem ist zentral für die Existenz des Menschen. Er befähigt nicht nur zur Bewegung, sondern ermöglicht auch sämtliche feinmotorische Arbeiten und vermittelt über die Muskulatur die Verständigung mit anderen Lebewesen. Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems können den gesamten Körper von Kopf bis Fuß betreffen. Sie reichen von vorübergehenden Verspannungen der Muskulatur über Knochendeformationen bis hin zu chronischen Erkrankungen. Weit verbreitet sind vor allem unspezifische Rückenbeschwerden sowie Arthrose. Daneben sind u. a. Osteoporose sowie Frakturen relevant. Wesentliche Beeinträchtigungen und Krankheitsbilder werden in den nachfolgenden Kapiteln detailliert vorgestellt. Den vielfältigen gesellschaftlichen, arbeitsplatzbezogenen und individuellen Einflussfaktoren kann nur durch eine Prävention auf mehreren Ebenen begegnet werden. Diese muss sowohl an der Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung bzw. der Risikogruppen ansetzen als auch die Gestaltung der lebensweltbezogenen Rahmenbedingungen umfassen. Entsprechend der primär-, sekundär- und tertiärpräventiven Ausrichtung der Maßnahmen ist die Erhaltung der Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems zudem Aufgabe der kurativen, rehabilitativen und pflegerischen Versorgung. Hier sind präventive Elemente weiter zu verankern und zu verzah-
nen (u. a. Walter et al. 2007). Ansätze hierzu zeigen die nachfolgenden Kapitel auf. und Ziel einer umfassenden Prävention » Aufgabe muss es sein, den großen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Herausforderungen – dem demografischen Wandel und der Zunahme chronischer Erkrankungen in der Bevölkerung – entgegenzusetzen. Hierzu bedarf es einer umfassenden Präventionskultur in Deutschland. Der Bund, die Länder bis hinunter zu den Kommunen müssen Verantwortung für die Prävention übernehmen, ohne dabei jedoch die Selbstverantwortung jedes einzelnen Bürgers auszugrenzen. Prof. Dr. Ingo Froböse, Zentrum für Gesundheit der Deutschen Sporthochschule Köln
«
Selbstverständlich sollten präventive Interventionen die grundlegenden Qualitätsanforderungen, auf die z. B. der Sacherverständigenrat (2007) in seinem aktuellen Gutachten hinweist, erfüllen und den aktuellen Forschungsstand berücksichtigen. Auch wenn bislang nicht in allen Bereichen der Prävention von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems hinreichend Evidenz vorliegt, so können doch aufgrund vorhandener Wirkungsmodelle und Praxiserfahrungen sinnvolle präventive Maßnahmen, z. B. hinsichtlich Rückenschmerzen ( Kap. 5.2) und Stürzen ( Kap. 9.1), empfohlen werden. Ihre Wirksamkeit und zielgruppengerechte Adressierung sollten zukünftig wissenschaftlich weiter fundiert werden. Literatur Bundesgesundheitssurvey (1998) Public Use File BGS98, Robert-KochInstitut, Berlin Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (2007) URL: http://www.dge. de/modules.php?name=News&file=article&sid=674 [12.06.07] dpa (2007) Rückenleiden kosten jedes Jahr Milliarden – EU erwägt Gesetz. 04.06.2007 Faller A, Schünke M, Schünke G (2004) Der Körper des Menschen. Einführung in Bau und Funktion. Kapitel 4: Bewegungsapparat. Thieme, Stuttgart Faller A (1980) Der Körper des Menschen. Einführung in Bau und Funktion. Thieme, Stuttgart Hoogendorn JM, Simmermacher RKJ, Schellekens PPA, van der Werken C (2002) Rauchen ist nachteilig für die Heilung von Knochen und Weichteilen. Unfallchirurg 105: 76–81 Huch R, Bauer C (Hrsg) (2003a) Mensch Körper Krankheit. Anatomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas für die Berufe im Gesundheitswesen. Kapitel 7: Muskeln, Knochen, Gelenke. Urban & Fischer, München Wien Baltimore Huch R, Bauer C (Hrsg) (2003b) Mensch Körper Krankheit. Anatomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas für die Berufe im Gesundheitswesen. Kapitel 8: Der Bewegungsapparat. Urban & Fischer, München Jena Ilmarinen J (2005) Towards a longer worklife! Ageing and the quality of worklife in the European Union. Finnish Institute of Occupational Health, Ministry of Social Affairs and Health, Helsinki Kohlmann T (2003) Muskoloskelettale Schmerzen in der Bevölkerung. Der Schmerz 17: 405–411 Last JM (1995) A dictionary of epidemiology. Oxford University Press, New York
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Kapitel 2 · Grundlagen zum Bewegungsapparat, Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
Lühmann D, Müller V, Raspe H (2003) Prävention von Rückenschmerzen. Expertise im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung und der Akademie für Manuelle Medizin, Universität Münster. Abschlussbericht (Auszüge Version Juni 2004). http://www.bertelsmannstiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-0A000F0A-86A1BDB2/bst/Expertise_Praevention_Rueckenschmerzen_Auszuege_Juni_2004.pdf, Abruf am 15.02.2007 Lühmann D, Kohlmann T, Raspe H (1998) Die Evaluation von Rückenschulprogrammen als medizinische Technologie. Nomos, BadenBaden Meizer R, Meizer E, Landsiedl F, Aigner N (2007) Die Osteonekrose des Hüftgelenkes. J Mineralstoffwechsel 14: 12–17 Merten M (2007) Den Ursachen auf der Spur. Dtsch Ärztebl 104: A1140–A1142 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielgerichteten Gesundheitsversorgung. Gutachten 2007. Berlin Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002) Gutachten 2000/2001. Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation. Nomos, Baden-Baden Scheuringer M, Wildner M, Götte S, Dreinhöfer KE (2005) Stationäre Inanspruchnahme bei muskuloskelettalen Erkrankungen und Verletzungen: Vorausberechnungen für Deutschland bis zum Jahr 2010. Z Orthop Unfallchir 143: 509–519 Schmidt CO, Kohlmann T (2005) Was wissen wir über das Symptom Rückenschmerz? Epidemiologische Ergebnisse zu Prävalenz, Inzidenz, Verlauf und Risikofaktoren. Z Orthop Unfallchir 143: 292–298 Spornitz UM (2004) Anatomie und Physiologie. Lehrbuch und Atlas für Pflege- und Gesundheitsberufe. Springer, Berlin Heidelberg New York Tillmann B (2005) Atlas der Anatomie. Springer, Berlin Heidelberg New York Walter U, Buschmann-Steinhage R, Faller H, Kliche T, Müller H, Pfeifer K, Koch U (2007) Prävention und Rehabilitation: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Konzepten, Rahmenbedingungen und Umsetzung in der gesundheitlichen Versorgung. Springer, Berlin Heidelberg New York Walter U, Schwartz FW, unter Mitarbeit von Robra BP und Schmidt T (2003) Prävention. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Fischer, München Wien Baltimore, S 189–214 Woschnagg H (2003) Arzneimitteltherapie: Relevante Interaktionen und (negative) Effekte auf den Knochen. J Mineralstoffwechsel 10: 16–19
3 Die Bedeutung von Muskel-SkelettErkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland Martina Plaumann, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
der Ermittlung dieser Lebensjahre wird die vorzeitige Mortalität (»years of life lost« = YLL: altersbezogene Anzahl der Todesfälle × altersspezifische Lebenserwartung) ebenso berücksichtigt, wie die mit Behinderungen oder gesundheitsbezogenen Beschwerden verbrachten Lebensjahre (»years of healthy life lost as a result of disability« = YLD: Anzahl der Neuerkrankungen im Verhältnis zu Krankheitsdauer und -schwere). DALYs ergeben sich somit aus der Summe von YLLs und YLDs. Ein DALY entspricht folglich einem verlorenen Lebensjahr, das gesund hätte verbracht werden können.
Beeinträchtigungen und Erkrankungen des MuskelSkelett-Systems besitzen weltweit eine hohe Relevanz. Das vorliegende Kapitel liefert einen Überblick über das welt-, europa- und deutschlandweite Vorkommen dieses Krankheitsbildes. Zudem werden für Deutschland volkswirtschaftliche Folgen aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes dargestellt und das Vorliegen der zwei wichtigen Krankheitsbilder Rückenschmerzen und Arthrose näher beleuchtet.
Muskel-Skelett-Erkrankungen weltweit
3.1
3.1.1 Krankheitslast auf Basis behinderungs-
adjustierter Lebensjahre Die weltweite Krankheitslast zeigen Lopez et al. (2006) anhand von 21 Diagnosekapiteln und ausgewählten Untergruppen auf. Sie unterscheiden zwischen Ländern mit hohem Einkommen (USA, Kanada, Australien, Europa außer Osteuropa) und Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen (Regionen: Ostasien/Pazifik, Osteuropa/Zentralasien, Latein- und Südamerika, Mittlerer Osten/Nordafrika, Südasien, mittleres und südliches Afrika). Exkurs
I
I
Die Weltbank entwickelte Anfang der 1990er Jahre ein neues Konzept zur Erfassung der Beeinträchtigungen durch Krankheiten, um ihre Relevanz für die Gesellschaft länderübergreifend ermitteln und vergleichen zu können. Danach werden die gesundheitlichen Auswirkungen von Krankheiten bzw. Beschwerden in behinderungsadjustierten Lebensjahren (»disability-adjusted life years« = DALYs) angegeben (Lopez et al. 2006). Bei ▼
Einen Vergleich zur Bedeutung der unterschiedlichen Diagnosekapitel in den beiden Länderkategorien liefern die prozentualen Anteile der DALYs an den DALYs aller Diagnosekapitel (⊡ Abb. 3.1.)2. Danach sind die drei Krankheitsgruppen neuropsychiatrische Störungen (20,9%), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (20,0%) und bösartige Krebserkrankungen (17,4%) zusammen zu knapp 60% für die Krankheitslast in Ländern mit hohem Einkommen verantwortlich. 4,3% gehen zu Lasten der Muskel-SkelettErkrankungen (Platz 7). In Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen sind knapp 46% den Krankheitsgruppen infektiöse und parasitäre Erkrankungen (23,1%), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (12,9) und neuropsychiatrische Störungen (9,9%) zuzuschreiben. Auf Platz 12 liegen Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 1,9%. Unterschiede der Krankheitslast aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen bezogen auf die gesamte Krankheitslast aller Diagnosekapitel zwischen den Geschlechtern und in verschiedenen Altersgruppen zeigt ⊡ Abb. 3.2. Ein Anstieg der Krankheitslast im mittlerem Lebensalter ab 2
Insgesamt berücksichtigen Lopez et al. (2006) 21 Diagnosekapitel. Hier nicht aufgezeigt werden: andere Krebserkrankungen, Hauterkrankungen, angeborene Anomalien, orale Erkrankungen, unbeabsichtigte Verletzungen, vorsätzlich herbeigeführte Verletzungen.
etwa 30 Jahren sowie eine Absenkung in höheren Altersgruppen ist bei beiden Geschlechtern und beiden Länderkategorien zu verzeichnen. Frauen in Ländern mit hohem Einkommen erreichen in den Altersgruppen 45–59 Jahre und 60–69 Jahre mit 8,4% bzw. 8,3% die höchsten Werte, d. h. über 8% aller verlorenen gesunden Lebensjahre zwischen 45 und 69 Jahren sind bei Frauen in Ländern mit hohem Einkommen den Muskel-Skelett-Erkrankungen
zuzuschreiben. Ab 69 Jahren ist bei dieser Personengruppe ein kontinuierlicher Rückgang der anteiligen Krankheitslast zu verzeichnen, die bei den 80-Jährigen und Älteren 3,1% erreicht. Die geringsten verlorenen gesunden Lebensjahre aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen weisen Männer in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen auf. Männer in Ländern mit hohem Einkommen verzeichnen etwas höhere Werte. Bei ihnen zeigen
25
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0
⊡ Abb. 3.1. DALYs ausgewählter Diagnosekapitel an DALYs aller Diagnosekapitel in Prozent für 2001 (eigene Berechnung und Darstellung nach Lopez et al. 2006)
He
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Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
Länder mir hohem Einkommen
Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen
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Prozent
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⊡ Abb. 3.2. Prozentualer Anteil der DALYs aufgrund Muskel-SkelettErkrankungen an den DALYs aller Diagnosekapitel nach Alter und Geschlecht für 2001 (eigene Berechnung und Darstellung nach Lopez et al. 2006)
0 0–4
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> 80
Altersgruppen Länder hohes Einkommen/Männer
Länder niedriges, mittleres Einkommen/Männer
Länder hohes Einkommen/Frauen
Länder niedriges, mittleres Einkommen/Frauen
17 3.1 · Muskel-Skelett-Erkrankungen weltweit
sich ähnliche Verläufe der Krankheitslast wie bei Frauen in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. DALYs zu Muskel-Skelett-Erkrankungen werden außer für das gesamte Diagnosekapitel auch für fünf Untergruppen ausgewiesen: 1. Arthrose, 2. Rückenschmerzen, 3. andere Muskel-Skelett-Erkrankungen, 4. chronische Polyarthritis und 5. Gicht. Die zwei zuletzt genannten Krankheitsbereiche finden aufgrund ihrer entzündlichen Krankheitsbilder im Weißbuch keine weitere Beachtung. ⊡ Tabelle 3.1 zeigt Krankheitsbilder der drei berücksichtigten Untergruppen und führt Beispiele für die dazugehörige durchschnittliche gewichtete Krankheitsschwere (0 = Gesundheit, 1 = Tod), die in die Berechnung der DALYs einfließen, auf.
⊡ Tabelle 3.1. Ausgewählte Muskel-Skelett-Erkrankungen und ihre durchschnittliche Krankheitsschwere (nach Lopez et al. 2006) Muskel-Skelett-Erkrankungen
Durchschnittliche Krankheitsschwere
Kniearthrose
0,129
Hüftarthrose
0,126
Chronischer Bandscheibenvorfall
0,121
Akuter Bandscheibenvorfall/Episode eines limitierenden Rückenschmerzes
0,061
60
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0 Arthrose
Rückenschmerzen
andere Muskel-SkelettErkrankungen
Länder mit hohem Einkommen Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen ⊡ Abb. 3.3. Prozentualer Anteil der DALYs bei drei Untergruppen von Muskel-Skelett-Erkrankungen an den DALYs der Muskel-Skelett-Erkrankungen insgesamt für 2001 (eigene Berechnung und Darstellung nach Lopez et al. 2006) Anmerkung: Abweichungen von 100% ergeben sich durch den Ausschluss der zwei Untergruppen chronische Polyarthritis und Gicht
Welche der drei berücksichtigten Untergruppen von Muskel-Skelett-Erkrankungen anteilig die höchste Krankheitslast darstellen, verdeutlicht ⊡ Abb. 3.3. Danach ergibt sich für Länder mit hohem sowie für Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen eine ähnliche Verteilung hinsichtlich der prozentualen Häufigkeit. Die größte Krankheitslast mit 58,8% bzw. 53,2% stellt das Krankheitsbild Arthrose dar, auf Platz zwei stehen die anderen MuskelSkelett-Erkrankungen (Länder mit hohem Einkommen: 13,6%; Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: 15,2%). Die niedrigsten Werte sind für Rückenschmerzen mit 3,8% (Länder mit hohem Einkommen) bzw. 6,6% (Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen) zu finden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei der Berechnung der DALYs u. a. die durchschnittliche Krankheitsschwere einfließt und der Arthrose ein mehr als doppelt so hoher Wert bezüglich der Krankheitsschwere zugeteilt wird wie für Rückenschmerzen.
3.1.2 Die internationale »Bone and Joint
Decade 2000–2010« Die weltweit hohe Relevanz von Erkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane sowie die damit einhergehenden Anforderungen an die jeweiligen Gesundheitssysteme der Länder nahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Anlass, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends mit der »Bone and Joint Decade« (http:// www.boneandjointdecade.org) einen Schwerpunkt hierauf zu legen. Die damalige Generaldirektorin der WHO, Gro Harlem Brundtland, wies in ihrer Eröffnungsrede im Januar 2000 darauf hin, dass Knochen- und Gelenkerkrankungen weltweit die Hauptursache für lang anhaltende Schmerzen und körperliche Beeinträchtigungen sind (Dreinhöfer 2000). Aufgrund der demografischen Entwicklung werden Krankheiten des Haltungs- und Bewegungsapparates in Zukunft noch stärker ansteigen, in deren Folge mit einer Zunahme der Kosten im Gesundheitswesen in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern zu rechnen sei. Ziel der interdisziplinären »Bone and Joint Decade 2000–2010« ist es, weltweit die Bedeutung der Beeinträchtigungen und Erkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane für den Einzelnen sowie für die Gesundheits- und Sozialsysteme zu verdeutlichen. Dabei soll auch auf eine wirksamere Nutzung der Ressourcen zur Prävention dieser Beschwerden hingewiesen werden. In einer konzertierten Aktion wird die Initiative weltweit von mehr als 750 wissenschaftlichen Gesellschaften, Patientenorganisationen und Institutionen unterstützt. In über 80 Ländern sind nationale Koordinatoren benannt worden, in vielen Ländern haben sich interdisziplinäre Arbeitsgruppen gebildet. Das Deutsche Netzwerk der »Bone and Joint Decade« ist für Deutschland die nati-
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18
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Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
onale Dachorganisation mit derzeit 22 Organisationen, die sich mit Erkrankungen und Verletzungen der Haltungs- und Bewegungsorgane befassen. Dazu gehören: wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbände, Patientenorganisationen, Kostenträger sowie Vertreter der Gesundheitspolitik und gemeinnütziger Gesundheitsorganisationen. Die internationalen Ziele und Strategien sind für Deutschland angepasst worden. Hierzu zählen u. a. (Dreinhöfer 2000): ▬ die Analyse der mit dem Muskel- und Skelettsystem verbundenen Krankheiten und Beeinträchtigungen, ▬ die Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie ▬ die Einführung evidenzbasierter Präventions-, Diagnose-, Therapie- und Rehabilitationsstrategien. Infobox
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I
Zwischenfazit Für den weltweiten Vergleich werden Daten der Weltbank berücksichtigt, die anhand von behinderungsadjustierten Lebensjahren (DALYs) die Krankheitslast u. a. von Muskel-Skelett-Erkrankungen darstellen. Eigene Berechnungen auf Basis dieser Daten verdeutlichen, dass aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen Länder mit hohem Einkommen prozentual mehr verlorene gesunde Lebensjahre aufweisen als Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Beide Länderkategorien zeigen jedoch für Frauen und Männer einen Anstieg der Krankheitslast im mittleren Lebensalter auf, der in der Altersgruppe 45–59 Jahre sein Maximum findet. Frauen in dieser Altersgruppe aus Ländern mit hohem Einkommen weisen dabei (bezogen auf alle angegebenen Erkrankungen) die höchsten Werte auf. Bei Betrachtung einzelner Muskel-Skelett-Erkrankungen zeigen sich zwischen den Länderkategorien ebenfalls Gemeinsamkeiten: Die höchste Krankheitslast in Ländern mit hohem sowie in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen macht das Krankheitsbild der Arthrose aus, gefolgt von anderen Muskel-Skelett-Erkrankungen und Rückenschmerzen.
3.2
tät der Arbeitsbedingungen in Europa durch. Ziele sind u. a., die Priorisierung wichtiger Themenbereiche sowie das Aufzeigen von Trends und Veränderungen über die Jahre hinweg. Aufgrund der Erweiterung der Europäischen Union (EU) wurden im Zeitablauf entsprechend mehr Länder in den Surveys berücksichtigt. Während die erste Befragung noch zwölf EU-Länder umfasste, berücksichtigt die hier vorgestellte vierte, 2005 durchgeführte, Erhebung, mittlerweile 31 Länder. Dazu zählen: die 25 Mitgliedsstaaten der EU, die zwei im Jahr 2007 der EU beigetretenen Länder Bulgarien und Rumänien, die zwei EU-Beitrittskandidaten Kroatien und Türkei sowie Norwegen und die Schweiz, die ihre Teilnahme an dem Survey selbst finanzieren. Der Survey geht u. a. der Frage nach, welchen Einfluss die Arbeit auf die Gesundheit hat. Die subjektiv am häufigsten berichteten Symptome der arbeitenden Bevölkerung der mittlerweile 27 EU-Länder für 2005 sind Muskel-Skelett-Beschwerden, eingeteilt in Rückenschmerzen (24,7%) und Muskelschmerzen (22,8%), gefolgt von Müdigkeit (22,6%), Stress (22,3%) und Kopfschmerzen (15,5%). Eine durchgeführte Faktoranalyse zeigt für die 27 EU-Länder, dass körperlich anstrengende Arbeit stark mit Rücken- und Muskelschmerzen korreliert (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2007). Dabei weisen die 15 Länder, die vor 2004 der EU angehörten3, durchschnittlich niedrigere Werte auf (Rückenschmerzen: 21,1%; Muskelschmerzen: 19,4%) als die 2004 bzw. 2007 der EU beigetretenen zwölf Länder4 (Rückenschmerzen: 39,1%; Muskelschmerzen: 36,6%). Mitte der 1990er Jahre gab die arbeitende Bevölkerung der oben aufgezeigten 15 EU-Länder an, mehr unter Rückenschmerzen (30%) aber weniger unter Muskelschmerzen (17%) zu leiden als 2005 (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 1996). Damals (wie auch in der 2005 durchgeführten Befragung) wurden für Griechenland die höchsten Werte für Rücken- und Muskelschmerzen verzeichnet (1996: 44% bzw. 37%; 2005: 47,0% bzw. 45,7%), während die Iren 1996 am wenigsten von diesen Beschwerden betroffen waren (13% bzw. 6%), ihre Werte in der Befragung von 2005 allerdings anstiegen (14,5% bzw. 13,8%). Deutschland befand sich 1996 mit 33,5% subjektiv wahrgenommenen arbeitsbedingten Rücken- und 14,0% Muskelschmerzen im Mittelfeld.
Muskel-Skelett-Erkrankungen in Europa
3.2.1 Arbeitsbedingte Rücken- und Muskel-
3
schmerzen Die European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (2007) führt seit Anfang der 1990er Jahre alle fünf Jahre einen Survey zur Quali-
4
Sechs Gründerländer 1957: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande; Beitritt 1973: Dänemark, Großbritannien, Irland; Beitritt 1981: Griechenland; Beitritt 1986: Portugal, Spanien; Beitritt 1995: Finnland, Österreich, Schweden. Beitritt 2004: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern; Beitritt 2007: Bulgarien, Rumänien.
19 3.2 · Muskel-Skelett-Erkrankungen in Europa
Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen am » Die Arbeitsplatz kann nur im EU-Kontext oder gar global gelöst werden: Häufig werden einschlägige Arbeitsplätze aus Deutschland heraus verlagert. Wenn Arbeitgeber mehr an den Krankheitskosten beteiligt würden, würden Probleme mit der Zeit geringer. Solange überwiegend der Einzelne das Risiko trägt, da Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland kaum als Berufskrankheit anerkannt werden, ist hier wenig Initiative seitens der Arbeitgeber zu erwarten. Dr. Klaus Giersiepen, Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS)
«
Bei Betrachtung der einzelnen Länder5 wird deutlich, dass insbesondere die osteuropäischen und nachfolgend die südeuropäischen Länder arbeitsbezogene Rücken- und Muskelbeschwerden angeben (⊡ Abb. 3.4). So stehen nach Griechenland vier osteuropäische Länder an der Spitze – Polen, Lettland, Rumänien, Estland – gefolgt von der nicht der EU zugehörigen Türkei. An zehnter Stelle hinsichtlich subjektiv wahrgenommener Rückenschmerzen steht, hinter Portugal und Spanien, als erstes nicht ost- oder südeuropäisches Land Schweden mit 27,8%. Deutschland liegt nach Frankreich und Belgien an viertletzter Position (Rü-
ckenschmerzen: 18,8%; Muskelschmerzen: 14,8%), gefolgt von der Schweiz und den Niederlanden. Das Schlusslicht bildet Großbritannien, in dem die Erwerbstätigen mit 10,8% Rückenschmerzen und 9,4% Muskelschmerzen angeben. Interessant ist zudem, dass in Schweden und in den anderen skandinavischen Ländern – Finnland, Dänemark, Norwegen – deutlich mehr subjektiv wahrgenommene Muskel- als Rückenschmerzen vorliegen. Nach dem europäischen Survey für das Jahr 2005 geben Männer in den einbezogenen 31 Ländern durchschnittlich häufiger arbeitsbezogene Rücken- und Muskelschmerzen (26,6% bzw. 24,3%) an als Frauen (22,3% bzw. 20,8%). Hinsichtlich des Alters bestätigt sich die in Abschnitt 3.1 weltweit aufgezeigte Entwicklung, dass im mittleren Lebensalter ein Anstieg von Muskel-Skelett-Beschwerden zu verzeichnen ist. Am häufigsten kommen Rücken- und Muskelschmerzen zwischen 40 und 54 Jahren mit 27,3% bzw. 25,4% vor. Auch der Erwerbsstatus scheint einen Einfluss auf die wahrgenommenen arbeitsbezogenen Rücken- und Muskelbeschwerden zu haben: Selbstständige zeigen deutlich höhere Werte (Rückenschmerzen: 31,3%; Muskelschmerzen: 29,9%) als Angestellte (Rückenschmerzen: 23,3%; Muskelschmerzen: 21,4%).
3.2.2 Krankenhausentlassungen 5
Aus Gründen der Übersichtlichkeit können an dieser Stelle nicht alle Länder detailliert berücksichtigt werden. Ausgeschlossen wurden in Abb. 3.4: Bulgarien, Irland, Kroatien, Litauen, Malta, Slowenien, Slowakei und Zypern.
Das WHO-Regionalbüro für Europa erhebt in seiner »Europäischen Datenbank Gesundheit für Alle (GFA)« Daten zu etwa 600 Gesundheitsindikatoren der Mit-
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Prozent
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0
Rückenschmerzen
Muskelschmerzen
⊡ Abb. 3.4. Wahrgenommene arbeitsbezogene Rücken- und Muskelschmerzen in ausgewählten europäischen Ländern in Prozent für 2005 (nach European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2007)
3
gliedsstaaten der Europäischen Region, u. a. auch zu Krankenhausentlassungen aufgrund von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes. Da an dieser Stelle nicht alle von der WHO berücksichtigten 53 Länder einbezogen werden können, zeigt ⊡ Abb. 3.5 die Daten derjenigen Länder für 2003–2005 auf, die im Survey der European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (2007) eingeschlossen und im Weißbuch näher berücksichtigt werden.6 Konnte auf Basis dieses Surveys eine höhere Tendenz der ost- und südeuropäischen Länder hinsichtlich wahrgenommener arbeitsbezogener Rücken- und Muskelschmerzen gegenüber den westeuropäischen Ländern festgestellt werden, ist bei der akut-stationären Versorgung kein regionenspezifisches Muster sichtbar. Hinsichtlich der Anzahl von Krankenhausentlassungen aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen steht Österreich 2003 und 2004 an erster Stelle, gefolgt von Ungarn. Ungarn ist auch das einzige Land, das eine größere Abnahme an Krankenhausentlassungen von 2003 auf 2004 aufweist. Sonst sind in dem betrachteten Zeitraum von drei Jahren keine großen Anstiege oder Rückgänge von Krankenhausentlassungen aufgrund von Erkrankungen
6
Da für Griechenland keine Daten in dem betrachteten Zeitraum angegeben waren, wird dieses Land in Abb. 3.5 nicht abgebildet. Zudem sind nicht für alle Länder Daten für 2004 und 2005 verzeichnet.
des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes festzustellen. Deutschland liegt 2003 und 2004 am Ende des ersten Drittels an siebter Stelle, im Mittelfeld liegen beispielsweise Estland, Belgien, Norwegen und Lettland. Die niedrigsten Werte weisen die Türkei und Portugal auf.
3.2.3 Europäische Woche
Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2007), die seit Mitte der 1990er Jahre jährlich eine Informationskampagne zu ausgewählten gesundheitlichen arbeitsbezogenen Themenbereichen organisiert, trägt der großen Bedeutung von MuskelSkelett-Erkrankungen im Jahr 2007 Rechnung. So trägt die Kampagne das Motto »Pack’s leichter an!«, in deren Mittelpunkt die Europäische Woche (22. bis 26. Oktober 2007) stand. Ziel ist es, durch Öffentlichkeitsarbeit, Konferenzen und Workshops auf das Thema aufmerksam zu machen, gute und praktische Lösungen aufzuzeigen und diese zu verbreiten. Dabei stehen Informationen zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen, aber auch zur Weiterbeschäftigung, Rehabilitation und Wiedereingliederung von bereits betroffenen Arbeitnehmern im Mittelpunkt. Zielgruppen sind zum einen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Sicherheitsfachkräfte, zum anderen Mitarbeiter in der gesundheitsbezogenen Versorgungspraxis, Akteure in der Prävention, Politiker und weitere relevante Interessensgruppen.
4000 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500
2003
2004
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Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
pro 100.000
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2005
⊡ Abb. 3.5. Krankenhausentlassungen aufgrund von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes pro 100.000 in ausgewählten europäischen Ländern 2003–2005 (nach WHO-Regionalbüro für Europa 2007)
21 3.3 · Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland
Parallel zur Europäischen Woche ruft die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz den Europäischen Wettbewerb um gute praktische Lösungen (European Good Practice Award) zur Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit aus. Teilnehmen können Unternehmen und Organisationen aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS 2007) hat im Rahmen des Modellprogramms »Bekämpfung arbeitsbedingter Erkrankungen« seinen Förderschwerpunkt 2007 ebenfalls auf die Muskel-Skelett-Erkrankungen ausgerichtet und die Ausschreibung »Belastungen des Muskel-Skelett-Systems bei der Arbeit – integrative Präventionsansätze praktisch umsetzen« ausgerufen. Die Projektlaufzeit beträgt in der Regel drei Jahre. Die wissenschaftliche Begleitung der Fördervorhaben und die Projektadministration erfolgt im Auftrag des BMAS durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Erwerbstätigen zeigen die höchsten Werte für arbeitsbezogene Rücken- und Muskelschmerzen auf, gefolgt von vier osteuropäischen Ländern. Deutschland rangiert auf dem viertletzten Platz, Großbritannien bildet das Schlusslicht. Nach dieser europäischen Erhebung sind zudem mehr Männer als Frauen von arbeitsbezogenen Rücken- und Muskelschmerzen betroffen; Selbstständige weisen wiederum höhere Werte auf als Angestellte. Die schon weltweit aufgezeigte Altersabhängigkeit in Bezug auf Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes bestätigt sich auch auf europäischer Ebene hinsichtlich Rücken- und Muskelschmerzen.
Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland
3.3
3.3.1 Akut-stationäre Hauptdiagnosen Infobox
I
I
Eine Betrachtung von akut-stationären Hauptdiagnosen ausgewählter Diagnosekapitel für die Jahre 1994 bis 2005 zeigt, dass Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems über den gesamten Zeitraum unangefochten an erster Stelle stehen (⊡ Abb. 3.6). Die Krankheiten des Muskel-SkelettSystems stehen an fünfter Stelle und durchlaufen von 1994 bis 2005 eine erkennbare Steigerung. Die Anzahl der Hauptdiagnosen für das Diagnosekapitel Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und Bindegewebes bei vollstationären Patienten (Fallzahlenstatistik) im Zeitverlauf zeigt detailliert ⊡ Abb. 3.7. Da-
Zwischenfazit Die arbeitende Bevölkerung in Europa gibt an, häufiger an berufsbedingten Rücken- und Muskelschmerzen als an anderen arbeitsweltbezogenen Erkrankungen zu leiden. Dabei weisen die vor 2004 der EU angehörigen 15 Länder durchschnittlich niedrigere Werte auf, als die 2004 bzw. 2007 der EU beigetretenen zwölf Länder, die größtenteils zu Osteuropa zählen. Die griechischen ▼
3.000.000
Krankheiten d. Kreislaufsystems (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) Neubildungen (Krebserkrankungen)
Anzahl Diagnosen
2.500.000
* 2.000.000
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1.000.000
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Krankheiten d. Atmungssystems (z. B. Asthma bronchiale, Lungenentzündung) Krankheiten d. Muskel-SkelettSystems und d. Bindegewebes Psychische Verhaltensstörungen (z. B. Depressionen)
05 20
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Krankheiten d. Verdauungssystems
*
500.000
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Verletzungen, Vergiftungen, äußere Umstände
Jahr ⊡ Abb. 3.6. Hauptdiagnosen für ausgewählte Diagnosekapitel vollstationärer Patienten, 1994–2005 (nach Statistischem Bundesamt 2007)
3
22
Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
1.500.000
3 ⊡ Abb. 3.7. Hauptdiagnosen für das Diagnosekapitel Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und Bindegewebes bei vollstationären Patienten, 1994–2005 (nach Statistischem Bundesamt 2007)
Anzahl Diagnosen
1.400.000 1.300.000 1.200.000 1.100.000 1.000.000 900.000 800.000
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2001
2002
2003
2004
2005
Jahr
600.000
⊡ Abb. 3.8. Häufigkeit der Hauptdiagnosen für das Diagnosekapitel Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und Bindegewebes bei vollstationären Patienten nach Altersgruppen für 2005 (eigene Berechnung und Darstellung nach Statistisches Bundesamt 2007)
Anzahl Diagnosen
500.000 400.000 300.000 200.000 100.000 0 bis unter 15 Jahre
nach steigt die Anzahl der Diagnosen von 1994 bis 2005 kontinuierlich um insgesamt 37,1% an. Wurden 1994 1.021.265 Diagnosen den Muskel-Skelett-Erkrankungen zugeschrieben (6,7% aller Diagnosen), waren es 2005 1.400.064 (8,6% aller Diagnosen in dem Jahr). Davon entfallen 43% der Diagnosen auf Männer und 57% der Diagnosen auf Frauen (eigene Berechnungen nach Statistischem Bundesamt 2007). Der in Abschnitt 3.1 verdeutlichte Peak an MuskelSkelett-Erkrankungen im mittleren und höheren Lebensalter zeigt sich auch für Deutschland bei vollstationären Patienten im Jahr 2005 (⊡ Abb. 3.8). Ab der Altersgruppe 15 bis unter 30 Jahre ist ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen, der in der Altergruppe 60 bis unter 75 Jahre die höchsten Werte erreicht.
3.3.2 Einordnung mittels gesundheitswesen-
bezogener Kennzahlen Die Auswertung gesundheitsbezogener Kennzahlen wie Mortalitäts-, Morbiditätskriterien und wirtschaftlicher Indikatoren liefert die Erstellung einer Rangfolge von Krankheiten. Diese kann bei der Priorisierung präven-
15 bis unter 30 bis unter 45 bis unter 60 bis unter 75 bis unter 30 Jahre 45 Jahre 60 Jahre 75 Jahre 90 Jahre
90 Jahre und älter
Altersgruppen
tiver Interventionen hilfreich sein (Bödeker et al. 2006). Dieses »Rangordnungsverfahren« orientiert sich an der Entwicklung arbeitsweltbezogener Präventionsziele der Initiative Gesundheit & Arbeit (IGA). Das Diagnosekapitel XIII Krankheiten des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes weist nach diesem Verfahren den höchsten Rangplatz auf. Zu diesem Kapitel zählen neben den degenerativen und entzündlichen Gelenkerkrankungen die Systemkrankheiten des Bindegewebes, Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens, Krankheiten der Weichteilgewebe (u. a. Muskeln, Sehnen) sowie Erkrankungen des Knochens. An zweiter bzw. dritter Stelle stehen die Diagnosekapitel V Psychische und Verhaltensstörungen bzw. IX Krankheiten des Kreislaufsystems, gefolgt von Diagnosekapitel XIX Verletzungen und Vergiftungen, X Erkrankungen der Atmungsorgane und II Neubildungen (⊡ Tabelle 3.2). Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes weisen fast die identische Rangsumme wie psychische Krankheiten auf. Beide Krankheitsgruppen erreichen in der Rangsumme über 9 von maximal 11 und liegen in der Rangordnung damit deutlich vor den nachfolgenden Rangplätzen. Die Rangsummen setzen sich jedoch unterschiedlich zusammen. Während Krankhei-
3
23
0,47 0,84 0,84 1,00 0,26 0,79 0,89 0,5 0,25 0,84 1,00 6 Neubildungen II
7,69
0,37 0,74 0,58 0,63 0,89 0,68 0,67 0,94 1,00 0,74 0,72 5 Atmungsorgane X
7,96
0,79 0,79 0,53 0,84 0,42 0,53 0,61 0,88 0,81 1,00 0,89 4 Verletzungen, Vergiftungen XIX
8,08
0,63 0,89 0,63 0,89 0,74 0,89 0,83 0,69 0,56 0,79 8,5 Kreislaufsystem IX
3
0,94
1,00 0,95 1,00 0,74 0,53 0,84 1,00 0,81 0,63 0,89 0,67 9,05 Psyche, Verhaltenstörungen V
2
0,26 1,00 0,89 0,79 1,00 0,95 0,94 1,00 0,94 0,95 0,33 1,00 Muskel- und Skelettsystem, Bindegewebe XIII
9,06
Entlassungen Reha Verweildauer Krankenhaus Entlassungen Krankenhaus Diagnosen Ärzte Direkte Kosten EU/BURente AUTage AUFälle Verlor. Erwerbsjahre Sterbefälle Rangsumme
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA 2007) schätzt in regelmäßigen Abständen die volkswirtschaftlichen Produktionsausfallkosten durch Arbeitsunfähigkeit anhand der Lohnkosten und des Verlusts der Arbeitsproduktivität. Die Arbeitsunfähigkeitstage sind von einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von 13,7 Tagen je Arbeitnehmer im Jahr 2003 auf 12,2 Tage je Arbeitnehmer im Jahr 2005 zurückgegangen. Ausgehend von diesem Arbeitsunfähigkeitsvolumen schätzt die BAuA die volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle (anhand der Lohnkosten) 2005 auf insgesamt 37,8 Milliarden Euro bzw. den Ausfall an Bruttowertschöpfung (Schätzung des Verlusts an Arbeitsproduktivität) auf 66,5 Milliarden Euro (⊡ Tabelle 3.3). Auf das Diagnosekapitel Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes entfallen absolut (97,8 Millionen) und prozentual (23,3%) die meisten Arbeitsunfähigkeitstage. Damit weisen sie ebenfalls an den Produktionsausfallkosten und dem Ausfall an Bruttowertschöpfung jeweils die höchsten Anteile auf. So machen die geschätzten Produktionsausfallkosten insgesamt einen Anteil von 1,7% am Bruttonationaleinkommen aus, von denen 0,4 Prozentpunkte allein auf die Arbeitsunfähigkeit bedingt durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes zurückzuführen sind. Der geschätzte Aus-
Rangplatz
volkswirtschaftliche Ausfälle
Krankheitsgruppen ICD10
3.3.3 Arbeitsunfähigkeitstage und
⊡ Tabelle 3.2. Ergebnisse des Rangordnungsverfahrens zur Ableitung von Arbeitswelt bezogenen Präventionszielen – Rangplatz, Rangsumme sowie fraktionale Ränge pro Indikator (Auszug nach Bödeker et al. 2006)
ten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes bei der Dauer der Arbeitsunfähigkeit, der Häufigkeit der Diagnose in der ärztlichen Versorgung und bei den Entlassungen aus Rehabilitationseinrichtungen jeweils den ersten Rang einnehmen, liegen psychische Erkrankungen bei den Erwerbsminderungsrenten sowie bei der Verweildauer in Krankenhäusern und in Rehabilitationseinrichtungen an erster Stelle (bei beiden Diagnosekapiteln jeweils in der Tabelle gekennzeichnet durch den fraktionalen Rang 1). Dies könnte der Vermutung Ausdruck verleihen, dass Muskel-Skelett-Erkrankungen meist mit akuten Ereignissen und psychische Erkrankungen mit langwierigeren Verläufen assoziiert sind. Nach der vorliegenden Berechnung erreichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen hinsichtlich der einbezogenen Gruppe der Erwerbstätigen »nur« den dritten Rangplatz, obwohl sie in der Allgemeinbevölkerung aufgrund der Sterbefälle von besonderer Bedeutung sind. Dies wird auch durch den zweithöchsten fraktionalen Rang hinsichtlich Sterbefälle deutlich. Anzumerken ist allerdings, dass Herz-KreislaufErkrankungen den dritten Rangplatz erreichen, obwohl keiner der elf Indikatoren den höchsten Wert 1 anzeigt. Dies zeigt, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen über alle elf Mortalitäts- und Morbiditätsindikatoren hinweg hohe Werte aufweisen und somit von großer Bedeutung sind.
Verweildauer Reha
3.3 · Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland
24
3
Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
fall an Bruttowertschöpfung verzeichnet insgesamt einen Anteil von 3,0% am Bruttonationaleinkommen, 0,7 Prozentpunkte entfallen davon auf das Diagnosekapitel XIII. Die vorhergehenden Jahre 2003 und 2004 weisen ähnliche Anteile bezüglich Krankheiten des Muskel-SkelettSystems und des Bindegewebes auf. Die volkswirtschaftlichen Ausfälle durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes variieren
zwischen den Wirtschaftszweigen (⊡ Tabelle 3.4). Die meisten Arbeitsunfähigkeitstage sind im Baugewerbe (29,2%) zu finden, gefolgt vom produzierenden Gewerbe (25,7%) sowie Land-, Forstwirtschaft und Fischerei (24,0%). sind Bemühungen zur Prävention von » Vorrangig Muskel-Skelett-Erkrankungen am Arbeitsplatz in Tätigkeiten und Berufen, in denen physische und
⊡ Tabelle 3.3. Arbeitsunfähigkeitstage, Produktionsausfälle und Ausfall an Bruttowertschöpfung nach Diagnosegruppen für 2005 (BAuA 2007) ICD-10
Diagnosegruppe
Arbeitsunfähigkeitstage
Produktionsausfall
Ausfall an Bruttowertschöpfung
Mio.
%
Mrd. €
vom Bruttonationaleinkommen in %
Mrd. €
vom Bruttonationaleinkommen in %
V
Psychische und Verhaltensstörungen
44,1
10,5
4,0
0,2
7,0
0,3
IX
Krankheiten des Kreislaufsystems
26,6
6,3
2,4
0,1
4,2
0,2
X
Krankheiten des Atmungssystems
60,9
14,5
5,5
0,2
9,6
0,4
XI
Krankheiten des Verdauungssystems
26,0
6,2
2,3
0,1
4,1
0,2
XIII
Krankheiten des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes
97,8
23,3
8,8
0,4
15,5
0,7
XIX
Verletzungen, Vergiftungen
53,5
12,7
4,8
0,2
8,5
0,4
Alle anderen
Übrige Krankheiten
111,6
26,5
10,0
0,4
17,6
0,8
I–XXI
Alle Diagnosegruppen
420,5
100,0
37,8
1,7
66,5
3,0
⊡ Tabelle 3.4. Volkswirtschaftliche Ausfälle durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes nach Wirtschaftszweigen für 2005 (BAuA 2007) Wirtschaftszweig
Arbeitsunfähigkeitstage [%]
Produktionsausfall [Mrd. €]
Ausfall an Bruttowertschöpfung [Mrd. €]
Land-, Forstwirtschaft und Fischerei
24,0
0,05
0,07
Produzierendes Gewerbe ohne Baugewerbe
25,7
3,17
4,69
Baugewerbe
29,2
0,55
1,19
Handel, Gastgewerbe und Verkehr
23,6
1,65
2,35
Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleister
21,8
1,05
2,84
Öffentliche und private Dienstleistungen
22,3
2,67
3,36
25 3.3 · Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland
physikalische Einwirkungen vorkommen. Dies ist eine Reihe von handwerklichen und industriellen Tätigkeiten. Die Beschäftigten haben in der Regel ein mehrfach höheres Risiko, unter Muskel-SkelettErkrankungen zu leiden als der Bevölkerungsdurchschnitt. Entsprechende Tätigkeiten finden sich z. B. in der Baubranche, in der Land- und Forstwirtschaft, in der Metallindustrie, im Bergbau, in Dienstleistungsbereichen sowie im Gesundheitswesen. Dr. Gustav Caffier, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, Berlin
«
Da die Höhe des durchschnittlichen Arbeitnehmerentgeltes über die einzelnen Wirtschaftszweige hinweg jedoch stark schwankt, müssen diejenigen Wirtschaftszweige mit dem höchsten Aufkommen an Arbeitsunfähigkeit nicht auch unbedingt die Wirtschaftszweige mit den höchsten Produktionsausfallkosten sein. So steht z. B. das produzierende Gewerbe (ohne Baugewerbe) mit seinem deutlich höheren durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelt hinsichtlich des Produktionsausfalls mit 3,17 Milliarden Euro und des Ausfalls an Bruttowertschöpfung mit 4,69 Milliarden Euro an erster Stelle. Das Baugewerbe hingegen steht bezüglich beider volkswirtschaftlichen Ausfälle, trotz höchster Arbeitsunfähigkeitsrate, an vorletzter Stelle.
3.3.4 Berufskrankheiten
Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 SGB VII definiert als Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates in die Berufskrankheitenliste (BK) aufgenommen hat. Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einer definierten schädigenden arbeitsbedingten Einwirkung sowie zwischen dieser Einwirkung und der Erkrankung (Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2007). Nach der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) in der Fassung vom 5. September 2002 wer-
den derzeit 68 Krankheiten als Berufskrankheiten anerkannt (Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften 2007). Im Jahr 1992 verzeichneten die Unfallversicherungsträger ca. 86.000 Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit. Im Jahr darauf folgte ein deutlicher Anstieg auf rund 110.000 Anzeigen, die in den darauffolgenden Jahren, trotz Einführung neun weiterer Berufskrankheiten, kontinuierlich absanken und 2003 den Wert 65.000 erreichten. Die Aufnahme bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lenden- und Halswirbelsäule im Jahr 1993 war mitverantwortlich für den hohen Anstieg der Anzeigen. So waren in diesem Jahr über 30.000 Verdachtsanzeigen dieser Kategorie zuzuordnen, von denen jedoch ein Großteil die Begutachtung nicht passierte. 2003 entfielen noch ca. 9200 Verdachtsanzeigen auf diese Berufskrankheiten (Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2007). Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule wurden 2003 mit 12% nach Hauterkrankungen (26%) und Lärmschwerhörigkeit (17%) am meisten als Berufskrankheit angezeigt (⊡ Tabelle 3.5). Als Berufskrankheiten anerkannt wurden am häufigsten Lärmschwerhörigkeit (40%), gefolgt von durch Asbest verursachte Berufskrankheiten (21%) und Hauterkrankungen (85%). Die häufig eingereichten bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule weisen dagegen nur 1% auf. Dieser große Unterschied ist zum Teil auf zusätzlich geforderte versicherungsrechtliche Voraussetzungen zurückzuführen. So können z. B. Lendenwirbelsäulenerkrankungen oftmals nicht ursächlich allein auf Arbeitsbelastungen zurückgeführt werden, sondern sind durch andere außerberufliche Faktoren mitbedingt. Von den als Berufskrankheit anerkannten Erkrankungsfällen der Lendenwirbelsäule entfallen 25% auf Frauen. Von diesen arbeiten ca. 85% im Gesundheitsdienst. Bei den Männern sind etwa 33% dieser Berufskrankheiten dem Baugewerbe zuzuordnen, 16% dem Handel/Verwaltung und 18% dem Metallgewerbe. Der Gesundheitsdienst steht mit 8% an vierter Stelle (Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2007).
⊡ Tabelle 3.5. Verdachtsanzeigen und Anerkennung ausgewählter Berufskrankheiten in Prozent für 2003 (nach Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2007) Verdachtsanzeigen einer Berufskrankheit
Anerkennung als Berufskrankheit
Hauterkrankungen
26
8
Lärmschwerhörigkeit
17
40
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
12
1
Durch Asbest verursachte Berufskrankheiten
12
21
Obstruktive Atemwegserkrankungen
7
5
3
26
Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
3.3.5 Gesundheitsbedingte Frühberentung
»
Die Veränderung von Lebensstilen und die Verringerung und Beseitigung auch umweltbedingter gesundheitlicher Risiken kann nicht alleine von den Krankenkassen geschultert werden. Die Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Neben den Krankenkassen, die bereits einen entscheidenden Beitrag leisten, müssen auch andere Sozialversicherungsträger, die öffentliche Hand sowie Betriebe etc. in die Verantwortung genommen werden. Dr. Doris Pfeiffer, Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Berlin
«
40
Prozent
30
20
10
⊡ Abb. 3.9. Vorzeitige Rentenzugänge nach ausgewählten Diagnosekapiteln bei Frauen in Prozent für 1982 bis 2005 (nach Deutsche Rentenversicherung Bund 2006) Anmerkung: bis 1992 – alte Bundesländer, ab 1993 – Deutschland gesamt
0 1982
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
Jahre Skelett, Muskeln, Bindegewebe
Kreislauf
Neubildungen
Psyche
40
30 Prozent
3
Chronische Krankheiten, die nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind, aber die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen, zählen in der gesetzlichen Rentenversicherung seit Jahren zu den häufigsten Gründen für eine Frühberentung. Von großer Bedeutung sind die Diagnosekapitel (1) Psychische und Verhaltensstörungen, (2) Krankheiten des MuskelSkelett- und Bindegewebes, (3) Neubildungen und (4) Krankheiten des Kreislaufsystems, die 2005 zusammen bei den Frauen 78% und bei den Männern 74% aller Frühberentungen verursachten (Deutsche Rentenversicherung Bund 2006). Die ⊡ Abb. 3.9 und 3.10 verdeutlichen für Frauen sowie für Männer ähnliche Entwicklungen der durch die vier wichtigsten Diagnosekapitel verursachten Frühberentungen in den letzten zwei Jahrzehnten (Deutsche Rentenversicherung Bund 2006). Bei beiden Geschlechtern ist nach einem Anstieg der Frühberentungen durch Krankheiten des Kreislaufsystems (Frauen: 37,8%, Männer: 37,1% im Jahr 1983) ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen (Frauen: 6,3%, Männer: 14,7% im Jahr 2005), der bei den Frauen stärker ausgeprägt ist. Gleich-
zeitig stiegen die Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen stark an und stellen bei den Frauen seit 1997 und bei den Männern seit 2003 die jeweils häufigste vorzeitige Berentungsursache dar. Dies kann ein Hinweis für die zunehmenden arbeitsweltbezogenen und gesellschaftlichen psychosozialen Belastungen sein. So waren 1982 7,0% der weiblichen Frühberentungen durch diese Diagnosegruppe bedingt, im Jahr 2005 dagegen 38,4%. Bei den Männern stieg die Anzahl von 6,6% im Jahr 1982 auf 27,6% im Jahr 2005.
20
10
⊡ Abb. 3.10. Vorzeitige Rentenzugänge nach ausgewählten Diagnosekapiteln bei Männern in Prozent für 1982 bis 2005 (nach Deutsche Rentenversicherung Bund 2006) Anmerkung: bis 1992 – alte Bundesländer, ab 1993 – Deutschland gesamt
0 1982
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
Jahre Skelett, Muskeln, Bindegewebe
Kreislauf
Neubildungen
Psyche
27
3.3 · Muskel-Skelett-Erkrankungen in Deutschland
3.3.6 Kosten
Die Entwicklung des Anteils der Frühberentungen, verursacht durch Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes, verläuft in dem betrachteten Zeitraum für Frauen und Männer ebenfalls ähnlich. Nach einem Anstieg Mitte/Ende der 1980er Jahre erreicht diese Berentungsursache 1992 ihren Höhepunkt (Frauen: 33,8%, Männer: 31,4%) und sinkt danach wieder ab. Hier ist u. a. zu berücksichtigen, dass ab 1993 die Daten der neuen Bundesländer in die Berechnung einfließen. Diese lagen insbesondere für die Männer in Ostdeutschland deutlich unter denen für die alten Bundesländer und glichen sich erst ab 2003 aneinander an (⊡ Abb. 3.11). Trotz des Rückgangs waren Erkrankungen des Skelett-, Muskelund Bindegewebes bei den Frauen bis 1996 und bei den Männern bis 2002 die häufigste und seitdem die zweithäufigste Ursache für Frühberentungen (Frauen: 17,8%, Männer: 18,4% im Jahr 2005). Bei der Interpretation des Datenverlaufes der letzten 23 Jahre muss jedoch berücksichtigt werden, dass Trends von Frühberentungen nicht nur das wandelnde Krankheitsspektrum widerspiegeln, sondern auch durch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Veränderungen bedingt sein können.
Die Krankheitskosten7 betrugen 2004 insgesamt durchschnittlich 2730 Euro pro Einwohner (Statistisches Bundesamt 2006a). Dabei verzeichnen die Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems mit insgesamt 430 Euro je Einwohner die höchsten Kosten, gefolgt von den Krankheiten des Verdauungssystem (400 Euro) und den Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems (300 Euro), die den dritten Platz belegen. 41,5% der gesamten Kosten entfallen somit auf diese drei Diagnosekapitel, wobei 11,0% aller Krankheitskosten durch Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes bedingt sind (⊡ Abb. 3.12). Auf durch Rückenschmerzen entstehende Kosten wird in Kap. 3.4 eingegangen.
7
Unter Krankheitskosten werden die unmittelbar mit einer medizinischen Heilbehandlung, Präventions-, Rehabilitations- oder Pflegemaßnahme verbundenen Ausgaben verstanden. Hierzu zählen auch sämtliche Verwaltungskosten. Nichtmedizinische Aufwendungen, beispielsweise für private Arztfahrten, oder die unentgeltliche Pflege von Angehörigen, bleiben dagegen unberücksichtigt.
40
Prozent
30
20
10
0 1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Jahre
Alte Bundesländer/Männer
Neue Bundesländer/Männer
Alte Bundesländer/Frauen
Neue Bundesländer/Frauen
⊡ Abb. 3.11. Vorzeitige Rentenzugänge aufgrund von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes in den alten und neuen Bundesländern in Prozent für 1993 bis 2005 (nach Deutsche Rentenversicherung Bund 2006)
7,7 15,8
IX. Krankheiten des Kreislaufsystems XI. Krankheiten des Verdauungssystems
10,3
2730 Euro je Einwohner
11,0
XIII. Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
14,7
V.
Psychische und Verhaltensstörungen
II.
Neubildungen
⊡ Abb. 3.12. Kosten der fünf teuersten Diagnosekapitel je Einwohner für 2004 in Prozent (nach Statistischem Bundesamt 2006a) Anmerkung: Prozentzahlen ergeben nicht 100%, da Abbildung nicht alle Diagnosekapitel berücksichtigt
3
28
Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
Eine geschlechtsspezifische Betrachtung der Kosten von Muskel-Skelett-Erkrankungen zeigt zudem, dass die Kosten bei Frauen mit durchschnittlich 370 Euro je Einwohner höher liegen als bei den Männern mit 220 Euro (Statistisches Bundesamt 2006b).
3.4
Rückenschmerzen
Im Jahr 2005 wurde insgesamt 109.615-mal die Hauptdiagnose Rückenschmerz bei vollstationären Patienten gestellt (Statistisches Bundesamt 2007). Dies entspricht 7,8% der insgesamt gestellten Diagnosen zu Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes. Bei Betrachtung der Altersverteilung ist wie bei den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes insgesamt ein Anstieg im mittleren Lebensalter zu verzeichnen, der in der Altergruppe der 60- bis unter 75-Jährigen mit 31.322 gestellten Diagnosen (28,6% der insgesamt gestellten Diagnosen zu Rückenschmerz) sein Maximum verzeichnet (⊡ Abb. 3.13). Da Beschwerden im Rücken meistens jedoch nicht zu einem stationären Aufenthalt führen, ist es sinnvoll, Untersuchungen durchzuführen, die das Vorkommen von Rückenschmerzen außerhalb der Krankenhausdiagnosen erheben. So sind nach dem Bundesgesundheitssurvey von 1998 Rückenschmerzen bei Frauen und Männern aller Altersgruppen die häufigste Schmerzart und rangieren vor Kopf-, Nacken- und Schulterschmerzen. Frauen gaben mit 39% und Männer mit 31% an, in den letzten sieben Tagen von Rückenschmerzen betroffen gewesen zu sein. Für etwa die Hälfte dieser Frauen und 80% dieser Männer sind Rückenschmerzen in der Woche vor der Befragung die stärksten Schmerzen (zitiert nach Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2006). Aktuellere Daten zur Prävalenz von Rückenschmerzen liefert die im Zeitraum September 2003 bis März 2004 durchgeführte zweite Welle des telefonischen Ge-
35.000 30.000
⊡ Abb. 3.13. Hauptdiagnosehäufigkeit der Einzeldiagnose Rückenschmerzen bei vollstationären Patienten nach Altersgruppen für 2005 (eigene Berechnung und Darstellung nach Statistischem Bundesamt 2007)
Anzahl Diagnosen
3
sundheitssurveys vom Robert Koch-Institut (2006). Befragt wurde eine Stichprobe der erwachsenen deutschsprachigen Wohnbevölkerung in den privaten Haushalten der Bundesrepublik Deutschland, die über einen Festnetzanschluss verfügen. Nach Bereinigung des Datensatzes konnten 7342 plausible und konsistente Vollinterviews für die Auswertung berücksichtigt werden. Ziel der Analyse ist es, aktuelle Daten zu Gesundheit, (chronischen) Krankheiten, Risiken und gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen zu erheben und für Politik und Wissenschaft bereitzustellen. So wurden u. a. das Gesundheitsverhalten, die subjektive Gesundheit, Krankheiten und Symptome, Unfälle und Verletzungen, Behinderungen und Krankheitsfolgen sowie die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung erhoben. Bezüglich Muskel-Skelett-Erkrankungen zeigt der telefonische Gesundheitssurvey Daten für Rückenschmerzen, Arthrose und Arthritis auf. Im Folgenden werden die Angaben zu den zwei zuerst genannten Krankheitsbildern aufgezeigt. Arthritis, als entzündliche Krankheit der Gelenke, wird aufgrund ihrer eigenständigen Pathogenese in dem vorliegenden Weißbuch nicht berücksichtigt. Entsprechend der Bevölkerungsstruktur war der Anteil der Frauen an der Befragung mit 51,7% etwas höher als der der Männer. Frauen waren durchschnittlich 49,3, Männer 46,2 Jahre alt. Frauen weisen eine durchschnittlich höhere Jahresprävalenz von allgemeinen Rückenschmerzen (unabhängig von Dauer und Stärke) auf (65,6%) als Männer (57,5%). Die jeweiligen hohen Anteile sind in nahezu jeder Altergruppe der beiden Geschlechter zu verzeichnen, ein deutlicher Alterstrend ist nicht zu erkennen (⊡ Tabellen 3.6 und 3.7). Als chronische Rückenschmerzen sind hier die Rückenschmerzen bezeichnet, die drei Monate oder länger andauern und fast täglich auftreten. Frauen geben mit durchschnittlich 31,5% häufiger an, dass bei ihnen bisher mindestens einmal chronische Rückenschmerzen diagnostiziert wurden (Lebenszeitprävalenz) als Männer
25.000 20.000 15.000 10.000 5000 0 bis unter 15 Jahre
15 bis unter 30 Jahre
30 bis unter 45 Jahre
45 bis unter 60 bis unter 60 Jahre 75 Jahre
Altersgruppen
75 bis unter 90 Jahre
90 Jahre und älter
29 3.4 · Rückenschmerzen
mit 23,0%. Bei der Betrachtung des Vorkommens von chronischen Rückenschmerzen innerhalb der letzten zwölf Monate vor der Befragung (Jahresprävalenz) trifft dies mit 21,6% für die weibliche und mit 14,8% für die männliche Bevölkerung ebenfalls zu. Bei den Frauen ist, mit Ausnahme einer geringen 0,7%igen Absenkung ab 69 Jahren bezüglich der Lebenszeitprävalenz, eine kontinuierliche Steigerung von chronischen Rückenschmerzen mit zunehmendem Alter zu finden. Die Männer weisen ebenfalls einen altersabhängigen Anstieg auf, der jedoch hinsichtlich der Lebens- als auch der Jahresprävalenz ab 69 Jahren um 7% bzw. 7,3% zurückgeht. Frauen verzeichnen somit in allen Altersgruppen eine höhere Rückenschmerzprävalenz. Dieser Geschlechterunterschied zeigt sich auch bei anderen Schmerzarten. Zudem ist bei Frauen die Schmerzintensität im Durchschnitt höher und ihre Dauer länger. Gründe für diese Geschlechterdifferenz könnten zum einen häufigere Schmerzrisikofaktoren bei Frauen sein, zum anderen unterscheiden sich Frauen und Männer möglicherweise durch ihre Wahrnehmung, Verarbeitung und Erinnerung von Schmerzen (zitiert nach Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2006). Die erste Welle des telefonischen Surveys kam hinsichtlich der Prävalenzen von allgemeinen und chronischen Rückenschmerzen u. a. zu ähnlichen Ergebnisse (Neuhauser et al. 2005).
3.4.1 West-Ost-Vergleich
Männer aus den alten Bundesländern gaben an, öfter unter allgemeinen Rückenschmerzen gelitten zu haben (58,0%) als Männer aus den neuen Bundesländern (54,7%). Bei den Frauen ist ein diesbezüglicher Unterscheid nicht zu verzeichnen (⊡ Tabellen 3.6 und 3.7). Frauen aus den neuen Bundesländern waren dagegen mit 24,6% häufiger von chronischen Rückenschmerzen in den letzten zwölf Monaten betroffen als Frauen aus den alten Bundesländern (20,9%). Hinsichtlich der Lebenszeitprävalenz lässt sich kein Unterschied ausmachen, dies gilt ebenfalls für die Männer generell bezüglich chronischer Rückenschmerzen.
3.4.2 Schichtzugehörigkeit
Frauen und Männer aus der Unterschicht weisen hinsichtlich Rückenschmerzen generell höhere Jahresprävalenzen auf als diejenigen aus der Oberschicht. Bei den Frauen ist der Unterschied deutlicher ausgeprägt (⊡ Tabellen 3.6 und 3.7). Für chronische Rückenschmerzen ist ebenfalls ein sozialer Schichtgradient zu verzeichnen: Beide Geschlechter weisen in der Unterschicht eine höhere Lebenszeit- und Jahresprävalenz auf, wobei der Gradient bei den Frauen höher ist.
⊡ Tabelle 3.6. Von Rückenschmerzen betroffene Frauen nach Alter, Region und sozialer Schicht in Prozent (Robert Koch-Institut 2006) Chronische Rückenschmerzen – Lebenszeitprävalenz
Chronische Rückenschmerzen – Jahresprävalenz
Rückenschmerzen – Jahresprävalenz
Altersgruppen
(n = 3793)
(n = 3790)
(n = 3790)
18–29 Jahre
18,4
12,8
63,5
30–39 Jahre
24,4
16,5
65,9
40–49 Jahre
28,1
16,7
62,7
50–59 Jahre
38,8
26,6
64,3
60–69 Jahre
41,0
28,6
69,5
70 und mehr Jahre
40,3
29,6
67,6
Gesamt
31,5
21,6
65,6
Neue Bundesländer
31,8
24,6
65,0
Alte Bundesländer
31,4
20,9
65,7
Schicht
(n = 3703)
(n = 3700)
(n = 3701)
Unterschicht
35,4
25,4
66,5
Mittelschicht
32,5
22,7
67,2
Oberschicht
26,0
15,4
60,7
Bundesländer
3
30
Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
⊡ Tabelle 3.7. Von Rückenschmerzen betroffene Männer nach Alter, Region und sozialer Schicht in Prozent (Robert Koch-Institut 2006)
3
Chronische Rückenschmerzen Lebenszeitprävalenz
Chronische Rückenschmerzen Jahresprävalenz
Rückenschmerzen Jahresprävalenz
Altersgruppen
(n = 3539)
(n = 3537)
(n = 3538)
18–29 Jahre
10,5
6,5
53,3
30–39 Jahre
15,9
9,2
57,1
40–49 Jahre
24,6
15,6
60,5
50–59 Jahre
30,4
20,6
59,6
60–69 Jahre
35,1
24,5
61,3
70 und mehr Jahre
28,1
17,2
51,2
Gesamt
23,0
14,8
57,5
Neue Bundesländer
21,3
15,4
54,7
Alte Bundesländer
23,4
14,7
58,0
Schicht
(n = 3457)
(n = 3455)
(n = 3455)
Unterschicht
23,7
17,6
58,7
Mittelschicht
23,9
15,7
59,6
Oberschicht
21,1
12,3
54,0
Bundesländer
3.4.3 Kinder und Jugendliche
In einer explorativen epidemiologischen Studie wurde eine Dreimonatsprävalenz von 32,9% für Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen festgestellt (RothIsigkeit et al. 2003). Roth-Isigkeit et al. (2005) zeigen in ihrer Übersichtsarbeit zu Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen auf, dass diese mit zunehmendem Alter unter Rückenschmerzen leiden. Der höchste Anstieg wird im Alter von 12–15 Jahren verzeichnet, in dem auch die Phase des stärksten Längenwachstums in der Pubertät stattfindet. Viele Studien beobachten zudem höhere Prävalenzraten für Rückenschmerzen bei Mädchen im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen. Eine endgültige Erklärung dafür steht allerdings noch aus. Einige Studie geben als mögliche Ursachen für die höhere Schmerzprävalenz beim weiblichen Geschlecht eine gesteigerte Schmerzwahrnehmung und eine schlechtere Schmerzverarbeitung an. Zudem könnten ein vermindertes Selbstwertgefühl und eher depressive Stimmungslagen bei Mädchen im Vergleich zu Jungen zu vermehrten funktionellen Beschwerden beitragen (zusammengefasst in Spahn et al. 2004). Die Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen » sollte frühzeitig im Kindes- und Jugendalter unter Einbeziehung der Eltern bzw. des familiären Umfeldes sowie der kindlichen respektive jugendlichen
Lebenswelten, insbesondere Kindergärten, Schulen, Wohnumfeld und Freizeitbereich wie z. B. Sportvereine, ansetzen. Die Ansprache sollte über die behandelnden Ärzte bzw. mit der Vorsorge befassten Ärzten erfolgen. Die Maßnahmen sollten sich verstärkt auf besondere Risikogruppen beziehen, wie sie sich aus den Ergebnissen der KiGGS-Studie ableiten lassen. Dr. W. Kunstmann, Bundesärztekammer, Berlin
«
Kinder und Jugendliche wurden in dem Jugendgesundheitssurvey von 2003, »Health Behaviour in School-Aged Children« (HBSC), u. a. nach Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen befragt (Hurrelmann et al. 2003), die in der vorliegenden Untersuchung als Ursache von Verspannungen oder auch als Folge von Stress und Fehlhaltungen angesehen werden (Ravens-Sieberer et al. 2003). 4,2% der Kinder und Jugendlichen geben an, fast täglich bzw. mehrmals in der Woche unter Rückenschmerzen zu leiden (⊡ Tabelle 3.8). Dabei sind Mädchen stärker betroffen als Jungen. Die Häufigkeit der Rückenschmerzen nimmt mit dem Alter zu. Nacken- und Schulterschmerzen ähneln sich hinsichtlich ihrer Häufigkeit und Verteilung denen der Rückenschmerzen. Nacken- und Schulterschmerzen bei Mädchen und älteren Jugendlichen korrelieren mit dem von ihnen wahrgenommenen Druck durch schulische Anforderungen, gesellschaftliche Rollenerwartungen und Zukunftsängsten.
3
31 3.5 · Arthrose
⊡ Tabelle 3.8. Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen bei Kindern und Jugendlichen in Prozent (Auswahl) (Ravens-Sieberer et al. 2003) Fast täglich
Mehrmals pro Woche
Fast jede Woche
Etwa einmal im Monat
Selten oder nie
Rückenschmerzen
4,2
4,2
9,0
20,9
61,8
Nacken- oder Schulterschmerzen
3,7
4,6
7,9
20,7
63,2
Anzahl Diagnosen
200.000
150.000
100.000
50.000
0 bis unter 15 Jahre
15 bis unter 30 Jahre
30 bis unter 45 bis unter 45 Jahre 60 Jahre
60 bis unter 75 Jahre
75 bis unter 90 Jahre
90 Jahre und älter
Altersgruppen Arthrose
Arthrose des Hüftgelenks
Erste Ergebnisse des deutschen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) liegen u. a. zu Schmerzen vor (Ellert at al. 2007). Die 11- bis 17-jährigen befragten Kinder und Jugendlichen geben mit 78% an, am meisten unter Kopfschmerzen zu leiden, gefolgt von Bauch- (60%), Rücken- (49%), Hals- (45%) und Beinschmerzen (36%). Ein signifikanter Anstieg der Dreimonatsprävalenz von Rückenschmerzen ist mit zunehmendem Alter bei Mädchen und Jungen zu verzeichnen. Kinder zwischen drei und zehn Jahren weisen dagegen kaum Rückenschmerzen auf, bei ihnen rangieren die Bauchschmerzen mit 69% an erster Stelle.
3.4.4 Kosten
Ein Großteil der durch Rückenschmerzen verursachten Kosten ist auf einen kleinen Prozentsatz von chronisch Kranken zurückzuführen. Im Gegensatz zu anderen Beschwerden haben Rückenschmerzen in ihrer Folge eher Einfluss auf die indirekten Kosten als auf die direkten Therapiekosten. Nach internationalen Schätzungen werden ca. 85% der Gesamtkosten durch den Arbeitsund Erwerbsunfähigkeit bedingten Produktivitätsausfall verursacht und nur rund 15% durch die medizinische Behandlung (zitiert nach Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt 2006). Für Deutschland berechneten
Arthrose des Kniegelenks
⊡ Abb. 3.14. Hauptdiagnosehäufigkeit der Diagnosegruppe Arthrose und den Einzeldiagnosen Arthrose des Hüft- und des Kniegelenkes bei vollstationäre Patienten nach Altersgruppen für 2005 (eigene Berechnung und Darstellung nach Statistischem Bundesamt 2007)
Bolten et al. (1998) jährliche volkswirtschaftliche Gesamtkosten aufgrund von Rückenschmerzen in Höhe von 17 Mrd. Euro. Davon waren 70% durch indirekte Kosten und 30% durch direkte Kosten bedingt.
3.5
Arthrose
Die Hauptdiagnose für Arthrose bei vollstationären Patienten wurde für 2005 367.593-mal gestellt (Statistisches Bundesamt 2007). Dies entspricht 26,3% der insgesamt diagnostizierten Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes im Krankenhaus. Die zwei am häufigsten gelenkverschleißenden Erkrankungen sind die Arthrose des Hüftgelenkes (40,2%) und des Kniegelenkes (50,0%), die somit insgesamt 90,2% der Arthrosefälle ausmachen. Wie bei der Hauptdiagnosehäufigkeit der Einzeldiagnose Rückenschmerzen bei vollstationären Patienten (⊡ Abb. 3.13), sind die 60- bis unter 75-jährigen Patienten am meisten von Hüft- und Kniegelenksarthrose und somit auch von der Diagnosegruppe Arthrose insgesamt betroffen (⊡ Abb. 3.14). Etwa jede zweite Arthrosediagnose im stationären Bereich fällt in diese Altersgruppe. Nach dem telefonischen Gesundheitssurvey (Robert Koch-Institut 2006) geben Frauen mit 23,3% durchschnittlich häufiger als Männer mit 15,5% an, dass ein
32
3
Kapitel 3 · Die Bedeutung von Muskel-Skelett-Erkrankungen im internationalen Vergleich und in Deutschland
Arzt jemals eine Arthrose bei ihnen diagnostiziert hat (⊡ Tabelle 3.9). Bei beiden Geschlechtern wird mit zunehmendem Alter, insbesondere ab dem sechsten Lebensjahrzehnt, ein Anstieg der Arthrosediagnosehäufigkeit festgestellt. Von den 70-Jährigen und Älteren ist fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann von einer Arthrose betroffen. Bei Männern aus den alten Bundesländern wurde mit 15,5% etwas häufiger als bei Männern aus den neuen Bundesländern (13,1%) Arthrose diagnostiziert. Bei den Frauen ist ein Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland nicht zu verzeichnen. Sie weisen dafür, im Gegensatz zu den Männern, einen Schichtgradienten auf: Frauen der Unterschicht zeigen eine um 10,4% höhere Arthroseprävalenz auf als Frauen der Oberschicht. Infobox
I
⊡ Tabelle 3.9. Von Arthrose betroffene Frauen und Männer nach Alter, Region und sozialer Schicht in Prozent (Robert Koch-Institut 2006)
I
Männer
Altersgruppen
(n = 3740)
(n = 3513)
18–29 Jahre
4,2
3,2
30–39 Jahre
7,1
5,6
40–49 Jahre
13,2
10,5
50–59 Jahre
27,0
24,1
60–69 Jahre
41,6
26,6
70 und mehr Jahre
49,7
33,5
Gesamt
23,3
15,1
Neue Bundesländer
22,7
13,1
Alte Bundesländer
23,4
15,5
Schicht
(n = 3653)
(n = 3431)
Unterschicht
28,1
15,3
Mittelschicht
24,1
14,2
Oberschicht
17,7
15,6
Bundesländer
Zwischenfazit In Deutschland stehen die Erkrankungen des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes anhand der akut-stationären Hauptdiagnosen auf Platz fünf und sind in den letzten 15 Jahren um 37,1% angestiegen. Die hohe Bedeutung dieses Diagnosekapitels bestätigt sich auch durch ein durchgeführtes »Rangordnungsverfahren« zur Priorisierung präventiver Interventionen, nach dem Krankheiten des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes den höchsten Rang aufweisen. Die volkswirtschaftlichen Folgen dieser Beeinträchtigungen und Erkrankungen zeigen sich z. B. bezüglich der Arbeitsunfähigkeitstage: Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes weisen die höchsten Arbeitsausfälle auf. Dies führt u. a. wiederum zu den höchsten Anteilen an den Produktionsausfallkosten sowie zu den höchsten anteiligen Ausfällen an Bruttowertschöpfung. Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes waren zudem bei den Frauen bis 1996 und bei den Männern bis 2002 die häufigste und seitdem die zweithäufigste Ursache für Frühberentungen und haben somit nicht nur finanzielle Auswirkungen für die Krankenversicherung, sondern auch für die Rentenversicherung zur Folge. Aktuelle Daten zum Vorkommen von Rückenschmerzen und Arthrose in der deutschen Bevölkerung zeigt der vom Robert Koch-Institut durchgeführte telefonische Gesundheitssurvey auf. Danach weisen Frauen durchschnittlich höhere Jahresprävalenzen von allgemeinen Rückenschmerzen sowie höhere Jahres- und Lebenszeitprävalenzen von chronischen Rückenschmerzen auf. Dieser Geschlechterunterschied zeigt sich auch bei der Lebenszeitprävalenz hinsichtlich der Arthrose. Bei Rückenschmerzen sowie bei Arthrose ist weiterhin u. a. ein Schichtgradient zu finden.
Frauen
3.6
Fazit
Das vorliegende Kapitel gibt einen Einblick über das welt-, europa- und deutschlandweite Vorliegen von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-SkelettSystems. Für Deutschland werden außerdem volkswirtschaftliche Folgen, bedingt durch diese Krankheitsbilder, aufgezeigt und das Vorkommen von Rückenschmerzen und Arthrose, zwei der relevantesten Krankheitssymptome, detaillierter dargestellt. Eigene Berechnungen auf Basis von Daten der Weltbank verdeutlichen, dass Länder mit hohem Einkommen im Gegensatz zu Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen in Folge von Muskel-Skelett-Erkrankungen prozentual einen höheren Verlust potenziell gesunder Lebensjahre aufweisen. Weltweit ist ein Anstieg der Krankheitslast für beide Geschlechter im mittleren Lebensalter zu verzeichnen, wobei Frauen aus Ländern mit hohem Einkommen am meisten von Muskel-Skelett-Erkrankungen betroffen sind. Eine eingehende Analyse der Daten zeigt weltweit die höchsten Werte für das Krankheitsbild der Arthrose, gefolgt von anderen Muskel-Skelett-Erkrankungen und Rückenschmerzen, auf. Nach subjektiven Angaben der europäischen arbeitenden Bevölkerung sind berufsbedingte Rücken- und Muskelschmerzen am häufigsten verbreitet. Dabei weisen
33 3.6 · Fazit
die westeuropäischen Länder im Durchschnitt niedrigere Werte auf als die osteuropäischen Länder. Die arbeitende griechische Bevölkerung ist am meisten von berufsbedingten Rücken- und Muskelschmerzen betroffen, die britische Bevölkerung am wenigsten. Zudem scheinen Männer häufiger als Frauen unter entsprechenden Krankheitsbildern zu leiden, dasselbe gilt für Selbständige im Vergleich zu Angestellten. Die hohe Relevanz der Erkrankungen des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes zeigt sich in Deutschland u. a. durch einen starken Anstieg (37% in den letzten 15 Jahren) der akut-stationären Behandlungsfälle, die derzeit auf dem fünften Platz liegen. Die volkswirtschaftlichen Folgen zeigen sich u. a. in einer Höchstzahl an Arbeitsunfähigkeitstagen, die wiederum anteilig zu den höchsten Produktionsausfallkosten sowie größten Ausfällen an Bruttowertschöpfung führen. Zudem sind Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems die zweithäufigste Ursache für Frühberentungen, so dass neben den gesetzlichen Krankenkassen auch andere Sozialversicherungsträger von den finanziellen Auswirkungen betroffen sind. Hinsichtlich der zwei Krankheitsbilder Rückenschmerzen und Arthrose zeigt sich, dass Frauen durchschnittlich meist eine höhere Prävalenz aufweisen und teilweise ein Schichtgradient zu Ungunsten der Unterschicht vorliegt. Die dargestellten Ausführungen zeigen die Wichtigkeit präventiver Maßnahmen zur Verhinderung von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems auf. Diese Maßnahmen sollten zielgruppenspezifisch das Geschlecht, das Alter und die Schichtzugehörigkeit berücksichtigen. Literatur Bödeker W, Kramer I, Wolters J, Zelen K (2006) Entwicklung von arbeitweltbezogenen Präventionszielen für die GKV. Unveröffentlichtes Dokument Bolten W, Kempel-Waibel A, Pforringer W (1998) Analyse der Krankheitskosten bei Rückenschmerzen. Medizinische Klinik 93:388– 393 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA (2007) http://www.baua.de/nn_5846/de/Informationen-fuer-die-Praxis/Statistiken/Arbeitsunfaehigkeit/Kosten__content.html__ nnn=true [Zugriff am 11.05.2007] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2007) http://www.bmas. bund.de/BMAS/Navigation/Arbeitsschutz/modellprogramm.html und http://www.baua.de/de/Ueber-die-BAuA/Modellprogramm/ Modellprogramm.html__nnn=true [Zugriffe am 01.06.2007] Deutsche Rentenversicherung Bund (2006) Rentenversicherung in Zeitreihen. Ausgabe 2006. http://www.deutsche-rentenversicherung.de/nn_23924/SharedDocs/de/Inhalt/04__Formulare__Publikationen/03__publikationen/Statistiken/Broschueren/ rv__in__zeitreihen__pdf,property=publicationFile.pdf/rv_in_zeitreihen_pdf [Zugriff am 08.05.2007] Dreinhöfer KE (2000) Bone and Joint Decade 2000–2010. Prävention und Management effizienter gestalten. Dtsch Ärztebl 97:A3478– A3481 Ellert U, Neuhauser A, Roth-Isigkeit (2007) Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Prävalenz und Inanspruchnahme
medizinischer Leistungen. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 50:711–717 Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2007) http://www.osha.de/topics/europ_woche_europ_wettbewerb/index_html [Zugriff am 01.06.2007] European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (2007) Fourth European Working Conditions Survey. Office for Official Publications of the European Communities. Luxemburg European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (1996) Second European Survey on Working Conditions. Dublin Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (2007) Berufskrankheiten-Liste. http://www.hvbg.de/d/pages/versich/ risk_bk/bklist.html [Zugriff am 01.06.2007] Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W, Ravens-Sieberer U (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim München Lopez AD, Mathers CD, Ezzati M, Jamison DT, Murray CJL (2006) Global burden of diseases and risk factors. A copublication of The World Bank and Oxford University Press. Washington New York Neuhauser H, Ellert U, Ziese T (2005) Chronische Rückenschmerzen in der Allgemeinbevölkerung in Deutschland 2002/2003: Prävalenz und besonders betroffene Bevölkerungsgruppen. Das Gesundheitswesen 67:685–693 Ravens-Sieberer U, Thomas C, Erhart M (2003) Körperliche, psychische und soziale Gesundheit von Jugendlichen. In: Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W, Ravens-Sieberer U (Hrsg) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim München, S 19–98 Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Berlin Robert Koch-Institut (Hrsg) (2006) Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Telefonischer Gesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (2. Welle). Deskriptiver Endbericht. Berlin Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2006) Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheit in Deutschland. Berlin Roth-Isigkeit A, Schwarzenberger J, Baumeier W, Meier T, Lindig M, Schmucker P (2005) Risikofaktoren für Rückenbeschwerden bei Kindern und Jugendlichen in Industrienationen. Schmerz 19:535– 543 Roth-Isigkeit A, Raspe HH, Stöven H, Thyen U, Schmucker P (2003) Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse einer explorativen epidemiologischen Studie. Schmerz 17:171–178 Spahn G, Schiele R, Langlotz A, Jung R (2004) Prävalenz funktioneller Beschwerden des Rückens und der Hüft- und Kniegelenke bei Adoleszenten. Ergebnisse einer Querschnittuntersuchung. Dtsch Med Wochenschr 129:2285–2290 Statistisches Bundesamt (2007) Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern 2005. Wiesbaden. http://www-ec. destatis.de/csp/shop/sfg/n0000.csp?treeid=23000 [Zugriff am 02.05.2007] Statistisches Bundesamt (2006a) http://www.destatis.de/basis/d/gesu/ gesutab23.php [Zugriff am 08.05.2007] Statistisches Bundesamt (2006b) http://www.destatis.de/basis/d/ gesu/gesutab24.php, 08.05.2007 [Zugriff am 08.05.2007] WHO Regionalbüro für Europa (2007) http://data.euro.who.int/hfadb/ [Zugriff am 18.05.2007]
3
4 Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen Hans Dörning, Christoph Lorenz, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Die routinemäßig bei Krankenkassen gespeicherten leistungsbezogenen Daten bieten die größte Dichte an zentralen gesundheitsrelevanten Informationen über die deutsche Bevölkerung. Sie werden daher seit einigen Jahren verstärkt genutzt, um einen differenzierten Einblick in die gesundheitliche Versorgung in Deutschland zu erhalten. Allein bei der KKH liegen solche leistungsbezogenen Daten von ca. zwei Millionen Versicherten – Mitglieder und mitversicherte Angehörige – jährlich vor. Sie können einen fundierten Eindruck darüber vermitteln, welchen Stellenwert bestimmte Krankheiten im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern bei Versicherten der KKH zukommt. Außerdem können sie Auskunft darüber geben, welche Erkrankungen besonders häufig vorkommen – auch in bestimmten Versichertengruppen – und zu besonders hohen kassenseitigen Ausgaben führen. Analysen der personenbezogenen anonymisierten Routinedaten der KKH liefern damit wichtige krankheitsbezogene Hinweise für eine zielgruppenspezifische Ausrichtung und Ausgestaltung präventiver Maßnahmen und Programme, um das Effektivitäts- und Effizienzpotenzial evidenzbasierter präventiver Aktivitäten wirkungsvoll auszuschöpfen. Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse von Routinedatenanalysen zu Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems basieren auf den Daten der Kaufmännischen Krankenkasse zu den drei besonders relevanten Leistungsgruppen »stationäre Leistungen«, »Arbeitsunfähigkeitsgeschehen bzw. Krankengeldzahlungen« und »Arzneimittel«. Um empirisch fundierte Hinweise über die Relevanz von Krankheiten und Krankheitsgruppen auch im zeitlichen Verlauf zu erhalten, wurden die Daten aus den Kalenderjahren 2000 bis 2005 ausgewertet und Jahresvergleiche durchgeführt. Grundlage der Analysen waren dabei vorrangig die nach der ICD-10 (s. unten) verschlüsselten Daten der KKH. Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse beruhen sowohl auf versichertenbezogenen Analysen auf der Ebene von Diagnosekapiteln (Diagnosekapitel 1 bis 21), der obers-
ten Gliederungsstufe der ICD-10, als auch auf Analysen auf der differenzierteren Ebene von Diagnosegruppen. Darüber hinaus werden auch Ergebnisse zu der besonders relevanten Einzeldiagnose »Rückenschmerz« berichtet.
Infobox
I
I
Definition ICD-10 Bei der ICD-10 handelt es sich um die 10. Revision einer international einheitlichen hierarchischen Systematik zur Erfassung und Klassifizierung von Krankheiten. Das Klassifikationssystem ist in 21 Kapitel unterteilt (z. B. Diagnosekapitel 13 »Krankheiten des MuskelSkelett-Systems«). Jedes Kapitel untergliedert sich wiederum in mehrere gleichartige Diagnosegruppen (z. B. Diagnosegruppe »Arthrose« als eine der Gruppen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-SkelettSystems«). Jede Diagnosegruppe umfasst dabei, auf der nächst tieferen Gliederungsebene, mehrere Einzeldiagnosen (z. B. die Diagnose »Koxarthrose« als eine von mehreren Einzeldiagnosen der Diagnosegruppe »Arthrose«). Neben den genannten drei Gliederungsebenen enthält der ICD-10 noch weitere Abstufungen (z. B. »Primäre Koxarthrose« als eine von mehreren Subkategorien der Einzeldiagnose »Koxarthrose«).
4.1
Methodik
Um Analysen zur anteiligen Bedeutung von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und damit verbundenen kassenseitigen Ausgaben auf unterschiedlichen Aggregationsebenen durchführen zu können, wurde in einem mehrstufigen Verfahren jedem Versicherten mit dokumentierten Leistungsausgaben für jedes in die Analysen einbezogene Kalenderjahr jeweils genau ein Diagnosekapitel, eine Diagnosegruppe sowie eine Diagnose zur Charakterisierung der vorrangigen Erkrankung zugewiesen.
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
1. War für das jeweilige Analysejahr mindestens ein stationärer Aufenthalt in den Daten erfasst, so wurde die Diagnose mit dem längsten stationären Aufenthalt innerhalb des jeweiligen Jahres als versichertenbezogene Diagnose berücksichtigt. 2. War für das jeweilige Analysejahr kein stationärer Aufenthalt erfasst, so wurde die für das jeweilige Kalenderjahr dokumentierte Diagnose mit der längsten Krankengeldbezugsdauer verwendet. 3. Waren für das jeweilige Analysejahr weder stationäre Aufenthalte noch Krankengeldtage erfasst, so wurde die für das jeweilige Kalenderjahr dokumentierte Diagnose des längsten Arbeitsunfähigkeitsfalles ohne Krankengeldbezug ausgewählt. 4. Waren für das jeweilige Analysejahr keine stationären Leistungstage, Krankengeldbezugstage oder Arbeitsunfähigkeitstage erfasst, so wurde – ausschließlich für Analysen auf der Ebene der Diagnosekapitel – zusätzlich anhand einer Zuordnungstabelle für das jeweilige Kalenderjahr ermittelt, auf welche Diagnoseklasse die meisten verordneten Medikamente entfallen. 5. Konnte auf der Grundlage dieses Verfahrens für einzelne Versicherte und Analysejahre keine Diagnose zugeordnet werden, so wurde versucht, die Zuordnung durch eventuelle Diagnoseangaben in einem an das Analysejahr direkt angrenzenden Halbjahr zu ergänzen.
4.2
Stellenwert von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
Im Folgenden wird zunächst dargestellt, welche quantitative und ökonomische Bedeutung Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems insgesamt im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern bei Versicherten der KKH
zukommt. Danach wird berichtet, welche spezifischen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen aus dem Gesamtspektrum der 234 Diagnosegruppen und mehr als 1600 dreistelligen Einzeldiagnosen am häufigsten in den Routinedaten der KKH erfasst sind sowie zu den höchsten kassenseitigen Ausgaben führen. Darüber hinaus werden – auf der Grundlage von Datenauswertungen über insgesamt sechs Kalenderjahre – Analyseergebnisse zur Entwicklung des Stellenwertes von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems im zeitlichen Verlauf dargestellt.
4.2.1 Diagnosen und Ausgaben auf
der Ebene von Diagnosekapiteln Die nachfolgende Grafik (⊡ Abb. 4.1) gibt einen ersten Überblick zur anteiligen Verteilung der versichertenbezogen zugeordneten Diagnosen nach Diagnosekapiteln. In den Beobachtungsjahren 2000 bis 2005 dominieren insbesondere Krankheiten des Atmungssystems, zu denen z. B. Erkältungskrankheiten, Grippe und Mandelentzündungen zählen (Diagnosekapitel 10, zwischen 14,4% und 20,4% der Diagnosen). Auf den Rangplätzen zwei bis vier folgen Krankheiten des Kreislaufsystems, d. h. HerzKreislauf-Krankheiten (Diagnosekapitel 9, zwischen 9,4% und 11,2%), infektiöse und parasitäre Krankheiten (Diagnosekapitel 1, zwischen 7,6% und 9,4%) sowie Krankheiten des Verdauungssystems (Diagnosekapitel 11, zwischen 7,1% und 8,1%). Obwohl nicht sämtliche Krankheiten des MuskelSkelett-Systems auch stringent unter das gleichnamige Diagnosekapitel 13 »Krankheiten des Muskel-SkelettSystems« subsumiert, sondern vereinzelt auch anderen Diagnosekapiteln zugeordnet sind, rangieren allein die unter das Diagnosekapitel 13 gefassten Krankheiten mit
25
20
Prozent
36
15
10
5
0
⊡ Abb. 4.1. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen nach Diagnosekapiteln in den Jahren 2000 bis 2005 je 100 Versicherungsjahre in Prozent
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
Diagnosekapitel 2000
2001
2002
2003
2004
2005
21
4
37 4.2 · Stellenwert von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
Werten zwischen 5,2% und 6,6% auf Rang sechs unter allen Diagnosekapiteln (⊡ Tabelle 4.1). Nachweisbar ist zudem, dass der quantitative Stellenwert des Diagnosekapitels »Krankheiten des MuskelSkelett-Systems« in den letzten drei Analysejahren kontinuierlich gesunken ist. Entfielen in den Jahren 2000 bis 2002 noch insgesamt zwischen 6,5% und 6,6% der versichertenbezogen zuordenbaren Diagnosen auf Krankheiten dieses Diagnosekapitels, so sinkt der Anteil in den Folgejahren 2003 bis 2005 dagegen von über 6,1% und 5,7% auf 5,2% ab. Neben der Analyse der anteiligen quantitativen Bedeutung von versichertenbezogenen Diagnosen wurde in einem weiteren Analyseschritt die Verteilung von Ausgaben auf die einzelnen Diagnosekapitel eruiert. Die in ⊡ Abb. 4.2 dargestellten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Verteilung der Ausgaben zum Teil merklich von der diagnosebezogenen quantitativen Verteilung abweicht, da eine Reihe von Diagnosen trotz der hohen Anzahl betroffener Versicherter nur relativ geringe Ausgaben verursacht. So sind vor allem Krankheiten des Kreislaufsystems (Diagnosekapitel 9, zwischen 16,1% und 17,3% der versichertenbezogen zuschreibbaren Ausga-
ben) sowie darüber hinaus Neubildungen, d. h. Krebskrankheiten (Diagnosekapitel 2, zwischen 11,2% und 12,8%), und psychische Störungen (Diagnosekapitel 5, zwischen 10,8% und 12,0%) mit hohen Ausgaben in der KKH assoziiert. An vierter Stelle unter den ökonomisch bedeutsamsten Krankheiten rangieren dann bereits die unter das Diagnosekapitel 13 zusammengefassten Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems (zwischen 10,5% und 11,2%). Insbesondere infektiöse und parasitäre Krankheiten, zu denen u. a. Diphtherie, Keuchhusten, MagenDarm-Grippe und Durchfall zählen, sowie in abgeschwächter Form auch Krankheiten des Atmungssystems, haben dagegen eine deutlich geringere ökonomische als quantitative Bedeutung (⊡ Tabelle 4.2). Feststellbar ist darüber hinaus, dass die Relevanz der ökonomisch wichtigsten Diagnosekapitel im zeitlichen Verlauf stabil ist, d. h. dass sie in allen analysierten Kalenderjahren von 2000 bis 2005 die dominanten bzw. besonders ausgabenträchtigen Diagnosekapitel darstellen. Erwähnenswert erscheint zudem, dass abweichend von den Ergebnissen zur quantitativen Bedeutung des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« – kontinuierlicher Rückgang ihres quantitativen
⊡ Tabelle 4.1. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen nach Diagnosekapitel in Prozent (je 100 Versicherungsjahre) Diagnosekapitel
2000
2001
2002
2003
2004
2005
01
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
8,0
7,8
7,6
7,9
8,9
9,4
02
Neubildungen (»Krebskrankheiten«)
1,4
1,4
1,4
1,5
1,4
1,4
03
Blut und Immunsystem
0,1
0,1
0,1
0,1
0,1
0,1
04
Endokrinologie, Ernährung und Stoffwechsel
5,2
5,5
5,7
6,1
5,9
5,7
05
Psychische und Verhaltensstörungen
3,9
4,1
4,0
4,0
4,0
4,0
06
Nervensystem
1,1
1,2
1,2
1,3
1,4
1,3
07
Auge und Augenanhangsgebilde
2,1
2,2
2,3
2,3
2,3
2,3
08
Ohr und Warzenfortsatz
0,7
0,7
0,6
0,6
0,5
0,4
09
Krankheiten des Kreislaufsystems
9,4
10,0
10,5
11,2
11,0
10,8
10
Atmungssystem
20,4
20,1
19,6
18,8
14,4
15,4
11
Verdauungssystem
7,6
7,7
8,1
8,0
7,3
7,1
12
Haut
6,2
6,2
6,1
6,0
4,7
4,3
13
Muskel-Skelett-System
6,5
6,6
6,6
6,1
5,7
5,2
14
Urogenitalsystem
7,1
7,1
7,2
6,9
5,9
5,4
15
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
1,7
1,5
1,4
1,3
1,2
1,1
16
Zustand mit Ursprung in der Perinatalperiode
0,2
0,2
0,2
0,1
0,1
0,1
17
Angeborene Fehlbildungen
0,2
0,2
0,1
0,1
0,1
0,1
18
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde
1,4
1,4
1,4
1,4
1,4
1,4
19
Verletzungen, Vergiftungen
3,7
3,6
3,5
3,3
3,1
2,9
21
Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen
0,3
0,3
0,3
0,4
0,3
0,3
38
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
20 18 16 14 Prozent
12
4
10 8 6 4 2 0 01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
21
Diagnosekapitel
⊡ Abb. 4.2. Verteilung von Ausgaben auf Diagnosekapitel in Prozent
2000
2001
2002
2003
2004
2005
⊡ Tabelle 4.2. Verteilung von Ausgaben auf Diagnosekapitel in Prozent Diagnosekapitel
2000
2001
2002
2003
2004
2005
01
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
2,4
2,5
2,3
2,3
2,3
2,5
02
Neubildungen (»Krebskrankheiten«)
11,2
11,8
11,6
11,6
12,5
12,8
03
Blut und Immunsystem
0,4
0,5
0,5
0,4
0,5
0,6
04
Endokrinologie, Ernährung und Stoffwechsel
4,6
5,3
5,6
5,9
5,6
5,9
05
Psychische und Verhaltensstörungen
11,4
11,1
11,1
11,1
12,0
10,8
06
Nervensystem
3,6
3,8
3,9
3,8
4,0
4,1
07
Auge und Augenanhangsgebilde
1,0
1,1
1,0
1,1
1,1
1,2
08
Ohr und Warzenfortsatz
0,7
0,7
0,6
0,5
0,5
0,5
09
Krankheiten des Kreislaufsystems
16,1
16,7
17,3
17,3
16,7
16,8
10
Atmungssystem
6,8
6,1
5,8
5,5
5,5
6,0
11
Verdauungssystem
7,2
7,1
7,0
7,3
7,2
7,5
12
Haut
1,7
1,7
1,6
1,5
1,5
1,6
13
Muskel-Skelett-System
11,2
10,9
11,1
11,1
11,1
10,5
14
Urogenitalsystem
4,5
4,5
4,4
4,5
4,0
3,9
15
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
4,6
4,2
3,8
3,6
2,8
2,5
16
Zustand mit Ursprung in der Perinatalperiode
1,4
1,2
1,1
1,0
0,9
0,9
17
Angeborene Fehlbildungen
0,9
0,7
0,7
0,7
0,7
0,7
18
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde
2,8
2,3
2,4
2,5
2,6
2,7
19
Verletzungen, Vergiftungen
6,9
6,7
6,6
6,8
7,0
6,9
21
Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen
0,7
1,4
1,5
1,5
1,6
1,5
4
39 4.2 · Stellenwert von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
Stellenwertes in den letzten drei Analysejahren – lediglich im letzten Analysejahr 2005 eine Reduktion der ökonomischen Relevanz feststellbar ist. Da Krankenhausaufenthalte die Leistungsgruppe mit den höchsten finanziellen Aufwendungen für Krankenkassen bilden, erscheint nachvollziehbar, dass die ausgabenrelevantesten Diagnosekapitel auch durchgängig durch hohe bis sehr hohe Ausgaben für stationäre Leistungen gekennzeichnet sind. In Bezug auf das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« lassen sich stark ausgeprägte Ausgaben für stationäre Leistungen nachweisen (zwischen 9,4% und 11,2%). Lediglich Krankheiten des Kreislaufsystems, Neubildungen und psychische Störungen haben dabei eine höhere ökonomische Bedeutung als Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems. Die separierten Analysen für die drei wesentlichen Leistungsbereiche »stationäre Leistungen«, »Krankengeldzahlungen« und »Arzneimittel« machen zudem deutlich, dass die ökonomische Relevanz des Kapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« zusätzlich auch noch auf besonders häufige und längerfristige Krankengeldzahlungen zurückzuführen ist. So führen Krankheiten
des Muskel-Skelett-Systems in allen analysierten Kalenderjahren durchgängig zu den höchsten Krankengeldzahlungen überhaupt (zwischen 29,4% und 31,9%).
4.2.2 Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene
von Diagnosegruppen Um differenziertere Aussagen über die Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems im Versichertengut der KKH machen zu können, wurden zusätzliche Datenanalysen auf der Aggregationsebene von Diagnosegruppen durchgeführt. Analog zu den Auswertungen auf der Ebene von Diagnosekapiteln wurde auch hier wiederum geprüft, welche Diagnosen im Versichertengut der KKH besonders häufig vorkommen und welche Diagnosegruppen mit den höchsten kassenseitigen Ausgaben assoziiert sind. Quantitative Bedeutung
Die Diagnosegruppen mit der anteilig stärksten quantitativen Bedeutung in den Jahren 2000 bis 2005 sind in ⊡ Tabelle 4.3 in absteigender Reihenfolge zusammengefasst.
⊡ Tabelle 4.3. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen nach Diagnosegruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahren) ICD
Diagnosegruppe
2000
2001
2002
2003
2004
2005
J00-J06
Akute Infektionen obere Atemwege
4,0
3,8
3,6
3,5
2,8
3,0
M50-M54
Sonstige Krankheiten Wirbelsäule/Rücken
2,8
2,8
2,7
2,4
2,2
2,0
J20-J22
Sonstige akute Infektionen untere Atemwege
1,6
1,5
1,4
1,3
1,0
1,1
J40-J47
Chronische Krankheiten untere Atemwege
1,3
1,2
1,2
1,1
0,9
1,0
J30-J39
Sonstige Krankheiten obere Atemwege
1,0
1,0
1,0
0,9
0,8
0,8
K00-K14
Krankheiten Mundhöhle, Speicheldrüse, Kiefer
0,9
0,9
0,9
0,9
0,8
0,7
K50-K52
Nichtinfektiöse Enteritis und Kolitis
0,8
0,8
0,9
0,8
0,7
0,6
F40-F48
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
0,8
0,8
0,8
0,7
0,7
0,7
J10-J18
Grippe und Pneumonie
1,1
0,8
0,7
0,8
0,5
0,6
A00-A09
Infektiöse Darmkrankheiten
0,7
0,8
0,9
0,8
0,6
0,5
I20-I25
Ischämische Herzkrankheit
0,6
0,6
0,7
0,7
0,7
0,7
M70-M79
Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes
0,6
0,6
0,7
0,6
0,6
0,6
M20-M25
Sonstige Gelenkkrankheiten
0,6
0,6
0,6
0,6
0,6
0,6
F30-F39
Affektive Störungen
0,5
0,6
0,6
0,6
0,6
0,6
N80-N98
Nichtentzündliche Krankheiten des weiblichen Genitaltraktes
0,6
0,6
0,6
0,6
0,5
0,4
K20-K31
Krankheiten Ösophagus, Magen, Duodenums
0,7
0,6
0,6
0,5
0,5
0,4
R50-R69
Allgemeinsymptome
0,6
0,6
0,6
0,6
0,5
0,5
I80-I89
Krankheiten Venen, Lymphgefäße/-knoten
0,5
0,6
0,6
0,6
0,5
0,5
O80–84
Entbindung
1,0
0,8
0,6
0,4
0,5
0,5
I30-I52
Sonstige Formen der Herzkrankheit
0,4
0,5
0,5
0,5
0,5
0,5
40
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Bereits bei den Analysen auf der Ebene der Diagnosekapitel wurde evident, dass die in der Regel durch relativ kurze Erkrankungsverläufe gekennzeichneten Krankheiten des Atmungssystems (Diagnosekapitel 10), die mit Abstand am häufigsten diagnostizierten Krankheiten bei KKH-Versicherten darstellen. Insofern erscheint es nachvollziehbar, dass fünf der zehn Diagnosegruppen mit der anteilig stärksten quantitativen Bedeutung auch diesem Diagnosekapitel zugehörig sind (»J«-Diagnosen). Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass nach der Diagnosegruppe »Akute Infektionen der oberen Atemwege« die unter das Diagnosekapitel »Krankheiten des MuskelSkelett-Systems« (Diagnosekapitel 13) subsumierte Diagnosegruppe »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« die Krankheitsgruppe mit dem zweiten Rangplatz bildet. ungenutzt bleibt, das verkümmert – nur was » Was genutzt wird, bleibt funktionstüchtig. Daher ist die wichtigste präventive Aufgabe zur Vermeidung von Muskel-Skelett-Erkrankungen, die Herausforderung, also eine Beanspruchung. Die meisten Erkrankungen in diesem Bereich werden durch bewegungsmangelbedingte Ursachen hervorgerufen. Bewegungsmangel unterfordert das Muskel-Skelett-System und führt zwangsläufig in die Degeneration. Prof. Dr. Ingo Froböse, Sporthochschule Köln
«
Neben zwei weiteren dem Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« zugehörigen Diagnosegruppen (»Sonstige Gelenkkrankheiten« und »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes«) sind unter den anteilig bedeutsamsten zwanzig Krankheitsgruppen auch drei Diagnosegruppen aus dem ebenfalls ökonomisch wichtigen Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« (»Ischämische Herzkrankheit« und »Krankheiten der Venen, der Lymphgefäße und der Lymphknoten« sowie »Sonstige Formen der Herzkrankheit) vertreten. Psychische Störungen finden sich mit den beiden Diagnosegruppen »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« sowie »Affektive Störungen« unter den zentralen zwanzig Krankheitsgruppen. Das gleichermaßen ökonomisch relevante Diagnosekapitel »Neubildungen« ist dagegen durch keine Diagnosegruppe repräsentiert. zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkran» Konzepte kungen müssen einen ganzheitlichen Ansatz und damit auch Faktoren wie Stress, Angst, Arbeitsunzufriedenheit und Depression berücksichtigen. Dr. Doris Pfeiffer, Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Berlin
«
Ökonomische Bedeutung
Bei einer Betrachtung der Verteilung von Ausgaben auf der Ebene von Diagnosegruppen werden – wie bereits auf der Analyseebene »Diagnosekapitel« – zumindest partiell
deutliche Unterschiede im Vergleich zur Häufigkeit diagnostizierter Krankheiten erkennbar. So nimmt bei Berücksichtigung des kassenseitigen monetären Aufwandes beispielsweise die Bedeutung von Krankheiten des Atmungssystems erheblich ab. Unter den zwanzig Diagnosegruppen mit dem höchsten Ausgabenanteil ist nicht eine Diagnosegruppe des Diagnosekapitels »Krankheiten des Atmungssystems« vertreten. Demgegenüber nimmt die Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems, von psychischen Störungen, von Krankheiten des Kreislaufsystems sowie von Neubildungen deutlich zu. Unter den zehn ausgabenintensivsten Diagnosegruppen sind ausschließlich diese vier Diagnosekapitel repräsentiert (⊡ Tabelle 4.4). Aus dem Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« sind die beiden Diagnosegruppen »Arthrose« und »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« auf den ersten zehn Rangplätzen vorzufinden. Ökonomisch relevant sind zudem auch noch die auf Rang 19 rangierende Diagnosegruppe »Sonstige Gelenkkrankheiten« sowie die dem Diagnosekapitel 19 »Verletzungen und Vergiftungen« zugeordnete Krankheitsgruppe »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« auf Rang 17. Die Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« und »Psychische Störungen« sind durch jeweils drei Diagnosegruppen unter den zehn ausgabenrelevantesten Krankheitsgruppen vertreten. Komplettiert werden die ersten zehn Rangplätze durch die dem Diagnosekapitel »Neubildungen« zugehörigen beiden Diagnosegruppen »Bösartige Neubildungen der Verdauungsorgane« und »Bösartige Neubildung der Brustdrüse«.
4.2.3 Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene
von Einzeldiagnosen Auch auf der Ebene von Einzeldiagnosen wurden vergleichende Datenanalysen durchgeführt. Dabei wurden jeweils die zwanzig Einzeldiagnosen selektiert, die in den Kalenderjahren 2000 bis 2005 den höchsten quantitativen Anteil bzw. den höchsten Ausgabenanteil aufweisen. Wie bereits bei den Ergebnissen auf den Ebenen »Diagnosekapitel« und »Diagnosegruppen« zeigt sich auch auf der Einzeldiagnoseebene die Dominanz von Krankheiten des Atmungssystems: Insgesamt sieben der zwanzig Diagnosen mit der stärksten quantitativen Bedeutung gehören diesem Diagnosekapitel an. Die anteilig bedeutsamste Krankheit über alle sechs Beobachtungsjahre ist dabei die akute Infektion der oberen Atemwege (J06) (⊡ Abb. 4.3 und ⊡ Tabelle 4.5). Nach Krankheiten des Atmungssystems kommen Krankheiten des Verdauungssystems (Diagnosekapitel 11) mit insgesamt drei Diagnosen unter den zwanzig anteilig bedeutsamsten Krankheiten am häufigsten vor. Krank-
4
41 4.2 · Stellenwert von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
⊡ Tabelle 4.4. Verteilung von Ausgaben auf Diagnosegruppen in Prozent ICD
Diagnosegruppe
2000
2001
2002
2003
2004
2005
I20-I25
Ischämische Herzkrankheit
4,4
4,2
4,5
4,5
4,2
4,2
M15-M19
Arthrose
2,8
3,0
3,3
3,6
3,7
3,8
M50-M54
Sonstige Krankheiten Wirbelsäule/Rücken
4,1
3,8
3,5
3,2
3,0
2,4
F30-F39
Affektive Störungen
2,7
3,1
3,1
3,1
3,4
2,9
I30-I52
Sonstige Formen der Herzkrankheit
2,6
2,8
2,8
2,7
2,9
3,0
I60-I69
Zerebrovaskuläre Krankheiten
2,6
2,5
2,6
2,5
2,5
2,4
C15-C26
Bösartige Neubildung der Verdauungsorgane
1,9
2,0
1,9
1,9
2,0
2,2
F40-F48
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
2,6
2,0
1,9
1,9
1,9
1,5
F20-F29
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
1,8
1,8
1,7
1,8
1,8
1,6
C50
Bösartige Neubildung der Brustdrüse
1,5
1,7
1,6
1,6
1,7
1,8
C81-C96
Bösartige Neubildung des lymphatischen, blutbildenden und verwandten Gewebes
1,7
1,7
1,5
1,6
1,5
1,8
F10-F19
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
1,5
1,4
1,5
1,6
1,8
1,6
E10-E14
Diabetes mellitus
1,2
1,3
1,3
1,3
1,4
1,5
K80-K87
Krankheiten der Gallenblase, der Gallenwege und des Pankreas
1,3
1,4
1,3
1,3
1,3
1,2
O80-O84
Entbindung
2,5
1,8
1,4
1,0
0,5
0,3
I70-I79
Krankheiten der Arterien, Arteriolen, Kapillaren
1,2
1,2
1,2
1,3
1,2
1,3
S80-S89
Verletzungen des Knies/Unterschenkels
1,3
1,2
1,2
1,2
1,2
1,1
K55-K63
Sonstige Krankheiten des Darmes
1,1
1,1
1,1
1,2
1,2
1,3
M20-M25
Sonstige Gelenkkrankheiten
1,3
1,1
1,1
1,2
1,2
1,0
G40-G47
Episodische und paroxysmale Krankheiten des Nervensystems
1,1
1,1
1,2
1,1
1,2
1,2
2,5
Prozent
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0 J06 M54 J20 K52 J40 K08 A09 J03 J11 O80 J01 F32 I10 B34 J35 K29 I25 R10 F43 M51
ICD-10-Diagnose 2000
2001
2002
2003
2004
2005
⊡ Abb. 4.3. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
42
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
⊡ Tabelle 4.5. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
ICD
Diagnose
2000
2001
2002
2003
2004
2005
J06
Akute Infektionen der oberen Atemwege
2,1
1,9
1,9
1,9
1,5
1,8
M54
Rückenschmerzen
2,0
2,0
2,0
1,7
1,6
1,4
J20
Akute Bronchitis
1,5
1,4
1,3
1,2
0,9
1,0
K52
Sonstige nichtinfektiöse Gastroenteritis/Kolitis
0,7
0,7
0,8
0,7
0,6
0,5
J40
Bronchitis (nicht akut oder chronisch bezeichnet)
0,8
0,7
0,7
0,7
0,5
0,6
K08
Sonstige Krankheiten der Zähne und des Zahnhalteapparates
0,6
0,6
0,7
0,6
0,6
0,5
A09
Diarrhö/Gastroenteritis (vermutlich infektiösem Ursprung)
0,6
0,6
0,7
0,6
0,5
0,4
J03
Akute Tonsillitis
0,7
0,7
0,6
0,5
0,5
0,4
J11
Grippe (Viren nicht nachgewiesen)
0,8
0,5
0,4
0,5
0.3
0,3
O80
Spontangeburt eines Einlings
0,9
0,7
0,5
0,3
0,2
0,1
J01
Akute Sinusitis
0,6
0,5
0,5
0,5
0,3
0,3
F32
Depressive Episode
0,4
0,4
0,4
0,4
0,4
0,4
I10
Essentielle (primäre) Hypertonie
0,3
0,4
0,4
0,4
0,4
0,4
B34
Viruskrankheit nicht näher bezeichnete Lokalisation
0,4
0,4
0,4
0,4
0,3
0,4
J35
Chronische Krankheiten der Gaumen-/ Rachenmandeln
0,4
0,4
0,4
0,4
0,3
0,3
K29
Gastritis und Duodenitis
0,5
0,4
0,4
0,3
0,3
0,3
I25
Chronische ischämische Herzkrankheit
0,3
0,3
0,4
0,4
0,3
0,3
R10
Bauch- und Beckenschmerzen
0,3
0,3
0,4
0,3
0,4
0,3
F43
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
0,3
0,3
0,3
0,3
0,3
0,3
M51
Sonstige Bandscheibenschäden
0,3
0,3
0,3
0,3
0,3
0,3
heiten des Kreislaufsystems sind ebenso wie psychische Störungen und das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« mit jeweils zwei Einzeldiagnosen unter den zwanzig Krankheiten mit der stärksten quantitativen Bedeutung repräsentiert (Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems: »Rückenschmerzen« [M54] und »Sonstige Bandscheibenschäden« [M51]). Alle anderen Diagnosekapitel sind dagegen mit maximal einer Krankheit vertreten. Die Analyseergebnisse zu den zwanzig Einzeldiagnosen mit dem höchsten Ausgabenanteil weichen, wie schon auf den Aggregationsebenen »Diagnosekapitel« und »Diagnosegruppen«, zum Teil deutlich von den Ergebnissen zur Häufigkeit diagnostizierter Krankheiten ab (⊡ Abb. 4.4 und ⊡ Tabelle 4.6). Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems sind mit insgesamt sechs Einzeldiagnosen am häufigsten unter den
ausgabenintensivsten Krankheiten. Die vier Einzeldiagnosen »Koxarthrose« – d. h. Arthrose des Hüftgelenkes – (M16), »Rückenschmerzen« (M54), »Gonarthrose« – d. h. Arthose des Kniegelenkes – (M17) und »Sonstige Bandscheibenschäden« (M51) sind dabei unter das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« subsumiert, während die beiden Diagnosen »Fraktur des Femurs« – d. h. des Oberschenkels und des Oberschenkelhalses – (S72) sowie »Fraktur des Unterschenkels« (S82) dem Diagnosekapitel »Verletzungen und Vergiftungen« angehören. Aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« zählen fünf Einzeldiagnosen zu den ausgabenträchtigsten Krankheiten (»Depressive Episode« [F32], »Schizophrenie« [F20], »Störungen durch Alkohol« [F10], »Rezidivierende depressive Störung« [F33], »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« [F43]).
4
43 4.2 · Stellenwert von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
⊡ Tabelle 4.6. Verteilung von Ausgaben auf Einzeldiagnosen in Prozent ICD
Diagnose
2000
2001
2002
2003
2004
2005
I25
Chronische ischämische Herzkrankheit
2,7
2,7
3,0
3,0
2,7
2,5
F32
Depressive Episoden
1,6
1,8
1,7
1,8
1,9
1,5
C50
Bösartige Neubildung der Brustdrüse
1,5
1,7
1,6
1,6
1,7
1,8
M16
Koxarthrose (Arthrose des Hüftgelenks)
1,2
1,4
1,6
1,7
1,8
1,8
M54
Rückenschmerzen
2,2
1,8
1,6
1,4
1,3
1,0
M17
Gonarthrose (Arthrose des Kniegelenks)
1,4
1,3
1,6
1,7
1,7
1,7
M51
Sonstige Bandscheibenschäden
1,2
1,4
1,3
1,2
1,2
1,0
F20
Schizophrenie
1,3
1,2
1,3
1,2
1,2
1,1
F10
Störungen durch Alkohol
1,1
1,0
1,1
1,1
1,3
1,2
S72
Fraktur des Femurs
1,0
0,9
1,0
1,1
1,0
1,1
O80
Spontangeburt eines Einlings
2,2
1,5
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0,3
0,2
I63
Hirninfarkt
0,8
1,0
1,0
1,0
1,1
1,1
I10
Essentielle (primäre) Hypertonie
0,7
0,9
1,1
1,0
1,0
1,0
F33
Rezidivierende depressive Störung
0,8
0,9
0,9
0,9
1,1
1,0
I50
Herzinsuffizienz
0,8
0,9
0,9
0,8
0,8
1,0
E11
Nicht insulinabhängiger Diabetes mellitus
0,6
0,6
0,7
0,9
1,0
1,1
I21
Akuter Myokardinfarkt
0,9
0,7
0,7
0,8
0,8
0,8
S82
Fraktur des Unterschenkels
0,8
0,8
0,8
0,8
0,8
0,7
F43
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
0,8
0,9
0,8
0,8
0,8
0,6
K80
Cholelithiasis
0,7
0,8
0,8
0,8
0,8
0,8
3,5
3,0
Prozent
2,5
2,0 1,5 1,0
0,5 0,0 I25 F32 C50 M16 M54 M17 M51 F20 F10 S72 O80 I63
I10 F33 I50 E11 I21 S82 F43 K80
ICD-10-Diagnose 2000
2001
2002
2003
2004
2005
⊡ Abb. 4.4. Verteilung von Ausgaben auf Einzeldiagnosen in Prozent
44
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Ebenfalls mit fünf Diagnosen ist das Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« unter den durch besonders hohe Ausgaben gekennzeichneten Krankheiten vertreten. Zusätzlich zu der auf dem ersten Rangplatz befindlichen Diagnose »Chronische ischämische Herzkrankheit« (I25) sind das die Diagnosen »Hirninfarkt« (I63), »Essentielle (primäre) Hypertonie« (I10), »Herzinsuffizienz« (I50) sowie »Akuter Myokardinfarkt« (I21). Alle anderen Diagnoseklassen sind lediglich jeweils höchstens einmal unter den ökonomisch relevantesten Krankheiten platziert. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die dem Diagnosekapitel »Neubildungen« zugehörige Diagnose »Bösartige Neubildung der Brustdrüse« (C50) auf Platz drei der ausgabenintensivsten Krankheiten rangiert. Infobox
I
I
Zwischenfazit Bereits auf der Ebene der Diagnosekapitel, der obersten Gliederungsstufe der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (ICD-10), wird die ökonomische Bedeutung von Krankheiten des Muskel-SkelettSystems deutlich. Obwohl nicht alle relevanten Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems auch unter das gleichnamige Diagnosekapitel subsumiert sind, bilden schon allein die unter dieses Diagnosekapitel gefassten Krankheiten über die Beobachtungsjahre 2000 bis 2005 die im Vergleich zu allen anderen Diagnosekapiteln viertwichtigste Krankheitsart unter den Versicherten der KKH. Lediglich die Kapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems«, »Neubildungen« und »Psychische Störungen« sind mit höheren kassenseitigen Ausgabenanteilen verbunden. Auf der Aggregationsebene der Diagnosegruppen lässt sich feststellen, dass vor allem die vier Krankheitsgruppen »Arthrose«, »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens«, »Sonstige Gelenkkrankheiten« sowie »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« maßgeblich für die ökonomische Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems verantwortlich sind. Alle vier Diagnosegruppen zählen zu den zwanzig ausgabenintensivsten Krankheitsgruppen. Die Krankheitsgruppe »Arthrose« beispielsweise belegt unter allen 234 Diagnosegruppen den zweiten Rangplatz. Analysen auf der Ebene von Einzeldiagnosen machen evident, dass die ökonomisch viertwichtigste Diagnose unter den über 1600 dreistelligen Diagnosen die Einzeldiagnose »Koxarthrose« (Arthrose des Hüftgelenks) ist. Die ebenfalls zur Krankheitsgruppe »Arthrose« gehörende Diagnose »Gonarthrose« ▼
(Arthrose des Kniegelenks), die der Krankheitsgruppe »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« zugehörigen Diagnosen »Rückenschmerzen« und »Sonstige Bandscheibenschäden« sowie die Diagnosen »Fraktur des Femurs« (Diagnosegruppe »Verletzungen der Hüfte und des Oberschenkels«) und »Fraktur des Unterschenkels« (Diagnosegruppe »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels«) zählen ebenfalls noch zu den zwanzig ausgabenintensivsten Krankheiten.
4.3
Relevanz von Krankheiten des MuskelSkelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen
Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse geben Aufschluss darüber, welche Versichertengruppen der KKH in besonders ausgeprägtem Maße von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems betroffen sind. Außerdem veranschaulichen sie, welche spezifischen Muskel-Skelett-Erkrankungen bei welchen Versichertengruppen besonders häufig vorkommen. Diese Analyseergebnisse können damit wichtige Hinweise für eine krankheitsbezogene und zielgruppenspezifische Ausrichtung und Ausgestaltung von präventiven Maßnahmen und Programmen geben.
4.3.1 Krankheiten des Muskel-Skelett-
Systems nach Alter, Geschlecht, Regionen und Berufsgruppen auf der Ebene von Diagnosekapiteln Subgruppenanalysen zeigen zunächst, dass sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen KKH-Versicherten der quantitative Stellenwert von Krankheiten des MuskelSkelett-Systems ab dem Jahr 2003 in allen Altersgruppen zwischen dem 11. und dem 60. Lebensjahr kontinuierlich gesunken ist. Insgesamt gesehen weisen Frauen und Männer über den Gesamtbeobachtungszeitraum von 2000 bis 2005 in etwa gleichem Maße eine Krankheit des Muskel-Skelett-Systems auf. Dabei ist die anteilige Bedeutung von Muskel-Skelett-System-Erkrankungen in den Jahren 2000 bis 2003 bei Männern etwas stärker ausgeprägt als bei Frauen, während in den Jahren 2004 und 2005 Frauen häufiger betroffen sind (⊡ Abb. 4.5 und 4.6). Zudem sind Männer bis zum 50. Lebensjahr über den Gesamtbeobachtungszeitraum von sechs Jahren durchgehend in allen entsprechenden Altersgruppen durch höhere anteilige Werte als Frauen gekennzeichnet. Frauen sind demgegenüber mit Ausnahme der Altersgruppe »60 bis unter 65 Jahre« in allen anderen Altersgruppen nach
45 4.3 · Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen
dem 50. Lebensjahr häufiger als Männer an Muskel-Skelett-System-Erkrankungen erkrankt. Darüber hinaus lässt sich bei den weiblichen und männlichen KKH-Versicherten eine weitgehend vergleichbare Altersabhängigkeit der Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems feststellen: Bis zur Altersgruppe »50 bis unter 55 Jahre« ist sowohl bei Frauen als auch bei Männern ein kontinuierlicher Anstieg der quantitativen Bedeutung von Muskel-Skelett-System-Erkrankungen und danach bis zum ca. 60. Lebensjahr eine relative Konstanz beobachtbar. Im weiteren Altersverlauf – ab der Gruppe »60 bis unter 65« Jahre« – ist dann ein deutlicher Abfall der quantitativen Bedeutung von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems erkennbar.
Die auffällige Reduktion des Stellenwertes von Muskel-Skelett-System-Erkrankungen ab der Altersgruppe »60 bis unter 65 Jahre« erscheint dabei erklärungsbedürftig. So weisen Männer in den beiden Altersgruppen »50 bis unter 55 Jahre« und »55 bis unter 60 Jahre« über alle sechs Beobachtungsjahre durchschnittliche Anteile von 10,5% bzw. 10,4% auf (Frauen: 11,0% bzw. 10,9%) In den beiden folgenden Altersgruppen sinken die Werte dagegen auf 6,4% bzw. 3,5% bei den Männern und auf 5,8% bzw. 4,9% bei den Frauen. Zumindest ein Anteil dieser überaus deutlichen Reduktion ist dabei sicherlich auf das gewählte Verfahren zur versichertenbezogenen Charakterisierung einer vorrangigen Erkrankung zurückzuführen. Aus diesem
14 12
Prozent
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⊡ Abb. 4.5. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« bei Männern getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
14 12
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Prozent
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Jahre 2000
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⊡ Abb. 4.6. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« bei Frauen getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
Grund sei noch einmal auf die Basis der Analysen zur anteiligen quantitativen und ökonomischen Bedeutung von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems verwiesen: Um derartige Analysen durchführen zu können, wurde – unter Berücksichtigung der angefallenen stationären Leistungen, Krankengeldzahlungen, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Medikamentenverordnungen – jedem Versicherten mit dokumentierten Leistungen ausschließlich ein Diagnosekapitel zur Charakterisierung der vorrangigen Erkrankung in einem Kalenderjahr zugewiesen. Die Zuweisung der vorrangigen Diagnose im Zusammenhang mit dem Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« erfolgt dabei in erster Linie auf der Grundlage von Krankengeldzahlungen oder Arbeitsunfähigkeitsfällen. So basiert bei durchschnittlich 55,6% der KKH-Versicherten die Zuordnung zu diesem Diagnosekapitel auf Krankengeldzahlungen oder dokumentierten Arbeitsunfähigkeiten. Da aber eine Arbeitsunfähigkeit ebenso wie ein Krankengeldanspruch nur auf Erwerbspersonen beschränkt ist und das Renteneintrittsalter zur Zeit bei ca. 63 Jahren liegt, kann Personen ab der Altersgruppe »60 bis unter 65 Jahre« zumindest über die Merkmale »Krankengeldzahlung« und »Arbeitsunfähigkeit« zumeist kein vorrangiges Diagnosekapitel mehr zugewiesen werden. Das kann letztlich dazu führen, dass diesen Versicherten in den Fällen überhaupt kein Diagnosekapitel mehr zugeordnet werden kann, wenn auch kein stationärer Krankenhausaufenthalt oder ein zu Lasten der KKH verordnetes Arzneimittel in den Daten erfasst ist. Über die bislang vorgestellten geschlechts- und altersgruppenspezifischen Auswertungen hinaus wurden zusätzlich Analysen auf Bundeslandebene durchgeführt.
Diese alters- und geschlechtsstandardisierten8 Auswertungen machen ersichtlich, dass Krankheiten des MuskelSkelett-Systems vor allem in den neuen Bundesländern und zusätzlich auch in Berlin in besonders ausgeprägtem Maße auftreten. Die höchste quantitative Bedeutung haben Muskel-Skelett-Erkrankungen in den Bundesländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen (⊡ Abb. 4.7). Die bisherigen Subgruppenanalysen ergänzend, wurden in einem weiteren Analyseschritt berufsgruppenspezifische Auswertungen durchgeführt. Diese altersstandardisierten Auswertungen beziehen sich dabei auf die 20 Berufsgruppen, die in der KKH am häufigsten vertreten sind. Aus Platzgründen werden nur die elf Berufsgruppen dargestellt, die insgesamt gesehen über alle sechs Beobachtungsjahre die höchste quantitative und ökonomische Bedeutung haben. Bei Arbeitsplatzbereichen wie Büro- und Bildschirmtä» tigkeiten überwiegen psychosoziale, individuelle oder außerberufliche Einflussfaktoren. Durch die sehr starke und auch zunehmende Verbreitung derartiger Tätigkeiten sind präventive Bemühungen am Arbeitsplatz zur Vermeidung von Muskel-Skelett-Erkrankungen wichtig und sinnvoll. Neben ergonomischen Grundsätzen steht dabei die Beratung der Beschäftigten zu gesundheitsgerechtem Verhalten im Vordergrund. Dr. Gustav Caffier, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Berlin
«
8
Als Referenz für die Standardisierung wurde die Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung in Deutschland (Stand Ende 1993) gewählt. Die Standardisierung erfolgte nach der Methode der direkten Standardisierung.
8 7 6 Prozent
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⊡ Abb. 4.7. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« getrennt nach Bundesländern in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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46
2000
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2005
47 4.3 · Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen
Die in ⊡ Abb. 4.8 und ⊡ Abb. 4.9 dargestellten Auswertungsergebnisse verdeutlichen, dass sowohl bei Frauen als auch Männern Arbeitslose sowie die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« die Personengruppen darstellen, die über den Gesamtbeobachtungszeitraum von 2000 bis 2005 anteilig am häufigsten von einer Krankheit des Muskel-Skelett-Systems betroffen sind. Während bei Männern Arbeitslose die höchste Betroffenheitsquote aufweisen, sind bei Frauen die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« in noch stärkerem Maße von MuskelSkelett-System-Erkrankungen betroffen als die Gruppe der Arbeitslosen.
Feststellbar ist darüber hinaus bei beiden Geschlechtern ein spürbarer Rückgang der quantitativen Bedeutung von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems bei Arbeitslosen im letzten Beobachtungsjahr 2005. Diese Reduktion ist vor allem durch die gesetzlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit der Einführung des Arbeitslosengeldes II (ALG II) im Jahr 2005 bedingt. Durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II entfiel für einen wesentlichen Teil der Arbeitslosen, nämlich die ALG-IIEmpfänger, der Anspruch auf einen Krankengeldbezug wie auch die Pflicht zur Meldung einer Arbeitsunfähigkeit. Dadurch entfiel aber auch die Möglichkeit, diesem Personenkreis für das Kalenderjahr 2005 über eine Kran-
1,6 1,4 1,2 Prozent
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⊡ Abb. 4.8. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« bei Frauen getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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⊡ Abb. 4.9. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« bei Männern getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
48
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
kengeldzahlung oder eine Arbeitsunfähigkeitsmeldung eine spezifische Diagnose zuzuweisen, um sie bei den Auswertungen berücksichtigen zu können. Dies hat – wie bereits oben ausgeführt wurde – insbesondere für das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« spürbare Auswirkungen, da die Zuweisung der gesuchten vorrangigen Diagnose bezogen auf Muskel-SkelettSystem-Erkrankungen mehrheitlich über die Merkmale »Krankengeldzahlung« und »Arbeitsunfähigkeit« erfolgt. Bei weiblichen Versicherten der KKH weisen neben den drei genannten Gruppen »Arbeitslose«, »Bürofach-/ -hilfskräfte« und »Warenkaufleute« zusätzlich auch noch die beiden Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« (z. B. Krankengymnastinnen, Krankenpflegerinnen, Arzthelferinnen und Hebammen) und »Sozialpflegerische Berufe« in ausgeprägtem Maße Muskel-Skelett-Erkrankungen auf. Bei den Männern sind es in Abweichung dazu die beiden Berufsgruppen »Berufe des Landverkehrs« (z. B. Berufskraftfahrer und Schienenfahrzeugführer) und »Lager-/Transportverwalter und -arbeiter«, die ebenfalls noch relativ häufig von Diagnosen aus dem Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« betroffen sind.
4.3.2 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
nach Alter, Geschlecht, Regionen und Berufsgruppen auf der Ebene von Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen Von den insgesamt 15 Diagnosegruppen der ICD-10, die das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-SkelettSystems« beinhaltet, sind vor allem die vier Krankheitsgruppen »Arthrose« (M15-M19), »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20-M25), »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-M54) und »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes« (M70-M79) sowie zusätzlich die dem Diagnosekapitel »Verletzungen und Vergiftungen« zugeordnete Diagnosegruppe »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) von Interesse für differenziertere Analysen. Diese Diagnosegruppen sind anteilig quantitativ und/oder ökonomisch am bedeutsamsten. Zusätzlich werden auch die zentralen Einzeldiagnosen »Koxarthrose« – d. h. Arthrose des Hüftgelenkes – (M16), »Gonarthrose« – d. h. Arthrose des Kniegelenkes – (M17), »Sonstige Bandscheibenschäden« (M51) sowie »Fraktur des Femurs« – d. h. des Oberschenkels und des Oberschenkelhalses – (S72) in diese Analysen mit einbezogen. Ergebnisse zu der ebenfalls relevanten Diagnose »Rückenschmerzen« (M54) werden in einem separaten Abschnitt berichtet. Auswertung nach Alter und Geschlecht
Geschlechts- und altersgruppenspezifische Analysen auf der Ebene der Diagnosegruppen und zu den relevanten Einzeldiagnosen zeigen zunächst, dass die unter die Diag-
nosegruppen »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-M54), »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes« (M70-M79) und »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) subsumierten Krankheiten bei Männern häufiger diagnostiziert werden als bei Frauen. Das trifft auch auf die Einzeldiagnose »Sonstige Bandscheibenschäden« (M51) zu. Dagegen sind bei Frauen die Diagnosegruppen »Arthrose« (M15-M19) und »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20-M25) sowie die Einzeldiagnosen »Koxarthrose« (M16), »Gonarthrose« (M17), »Fraktur des Femurs« (S72) sowie »Frakturen des Unterschenkels« (S82) quantitativ von größerer Bedeutung als bei Männern. Darüber hinaus wird deutlich, dass in den vier Krankheitsgruppen »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20-M25), »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-M54), »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes« (M70-M79) sowie »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) sowohl die weiblichen als auch die männlichen KKH-Versicherten in den mittleren Altersgruppen (von 35 bis unter 60 Jahre) fast ausnahmslos deutlich häufiger betroffen sind als die übrigen Altersgruppen. Lediglich die Diagnosegruppe »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) ist zumindest bei den männlichen Versicherten bereits ab Vollendung des 15. Lebensjahres quantitativ besonders bedeutsam (⊡ Abb. 4.10). Entsprechendes gilt für Unterschenkelfrakturen. Deutliche Unterschiede zu den vier genannten Diagnosegruppen zeigen sich demgegenüber in der Krankheitsgruppe »Arthrose« (M15-M19). Hier sind es vor allem die älteren weiblichen und männlichen Versicherten (Altersgruppen: »70 bis unter 75 Jahre« und »75 bis unter 80 Jahre«), die durch eine Diagnose aus dieser Diagnosegruppe gekennzeichnet sind. Analysen auf der Ebene der relevanten Einzeldiagnosen bestätigen im Wesentlichen die Resultate zur Gliederungsebene »Diagnosegruppen«. So sind beispielsweise die Diagnosen »Koxarthrose« (M16) und »Gonarthrose« (M17) – ebenso wie die Gesamtheit der der übergeordneten Diagnosegruppe »Arthrose« (M15-M19) zugehörigen Einzeldiagnosen – insbesondere in den höheren Altersgruppen quantitativ bedeutsam. Dagegen treten »Sonstige Bandscheibenschäden« (M51) bei Frauen und Männern verstärkt in den mittleren Altersgruppen (von 35 bis unter 60 Jahre) auf. Es werden jedoch erhebliche Unterschiede in der Altersabhängigkeit von Frakturen des Unterschenkels (S82) offensichtlich. So steigt – im Durchschnitt über die Jahre 2000 bis 2005 – die anteilige Bedeutung von Frakturen des Unterschenkels bei Frauen mit zunehmendem Alter bis zum 60. Lebensjahr zunächst nahezu kontinuierlich an, um im weiteren Altersverlauf nur leicht abzufallen. Bei Männern ist dagegen ein starker Anstieg der Relevanz dieser Frakturen schon in jungen Jahren und mit hohen
49 4.3 · Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen
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⊡ Abb. 4.10. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen der Diagnosegruppe »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« bei Männern getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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Werten bereits in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« beobachtbar. Nach einer relativen Stabilität der Werte bis zum 60. Lebensjahr ist danach eine nahezu stetige Abnahme der Bedeutung von Frakturen des Unterschenkels in den höheren Altersgruppen feststellbar (⊡ Abb. 4.11). Diese Unterschiede in der Altersabhängigkeit von Frakturen des Unterschenkels lassen sich beispielhaft an zwei Altersgruppen verdeutlichen. So ist in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« die quantitative Bedeutung von Frakturen bei Männern mehr als dreimal so hoch ausgeprägt wie bei Frauen (um den Faktor 3,5). In der Altersgruppe »70 bis unter 75 Jahre« sind Frauen dagegen mehr als doppelt so häufig von Frakturen des Unterschenkels betroffen (um den Faktor 2,4).
⊡ Abb. 4.11. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Frakturen des Unterschenkels« bei Männern und Frauen getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2005) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
Auswertung nach Bundesländern
Auf der obersten Gliederungsebene der Klassifikation der Krankheiten (ICD-10), der Ebene der Diagnosekapitel, wurde bei den durchgeführten Auswertungen nach Regionen deutlich, dass vor allem die neuen Bundesländer und dabei in erster Linie das Bundesland Brandenburg durch besonders hohe Anteile an Versicherten mit Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems gekennzeichnet sind. Dieses Ergebnis zeigt sich teilweise auch bezogen auf die relevantesten Diagnosegruppen des Kapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems«. So weist Brandenburg über den Gesamtzeitraum von sechs Beobachtungsjahren in Zusammenhang mit den Diagnosegruppen »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-
4
50
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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⊡ Abb. 4.13. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen der Diagnosegruppe »Sonstige Gelenkkrankheiten« bei Männern getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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M54) und »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes« (M70-M79) die höchsten quantitativen Anteile unter allen Bundesländern auf (⊡ Abb. 4.12). Darüber hinaus belegt Brandenburg auch bei den beiden Diagnosegruppen »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20-M25) und »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) in Bezug auf die quantitative Bedeutung jeweils einen der vordersten Rangplätze. Von quantitativer Bedeutung sind jeweils mehrere der benannten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen auch in Sachsen und Schleswig-Holstein. In Sachsen sind insbesondere die Diagnosegruppen »Arthrose« (M15M19) und »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) sowie die Einzeldiagnosen »Gonarthrose«
2001
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2005
(M17) und »Koxarthrose« (M16) quantitativ besonders bedeutsam. Dagegen sind in Schleswig-Holstein in erster Linie Krankheiten der Diagnosegruppen »Arthrose« (M15-M19) und »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20M25) sowie die Einzeldiagnose »Koxarthrose« (M16) quantitativ am relevantesten. Auswertung nach Berufsgruppen
Die Ergebnisse altersstandardisierter berufsgruppenspezifischer Auswertungen auf der Ebene der Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen entsprechen grundsätzlich den Resultaten auf der Gliederungsebene »Diagnosekapitel« und lassen zudem ein durchgängiges Grundmuster erkennen (⊡ Abb. 4.13):
51 4.3 · Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen
▬ Sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen KKHVersicherten stellen Arbeitslose sowie Angehörige der Berufsgruppen »Bürofach-/-hifskräfte« und »Warenkaufleute« durchgängig – bezogen auf alle fünf relevanten Diagnosegruppen und alle vier Einzeldiagnosen – die Personengruppen dar, die am häufigsten von einer Krankheit des Muskel-Skelett-Systems betroffen sind. ▬ Bei weiblichen Versicherten der KKH sind zusätzlich noch die beiden Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« bei sämtlichen zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen quantitativ besonders relevant. ▬ Bei Männern sind dagegen durchgängig bei allen fünf zentralen Diagnosegruppen und vier relevanten Einzeldiagnosen insbesondere noch die Berufsgruppen »Berufe des Landverkehrs« und »Lager-/Transportverwalter und -arbeiter« besonders auffällig. Dabei stellen bei den männlichen Versicherten der KKH Arbeitslose die Personengruppe dar, die durchgängig – also in Bezug auf sämtliche zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen – am häufigsten von einer MuskelSkelett-Erkrankung betroffen ist. Bei den weiblichen KKH-Versicherten hat zumeist die Berufsgruppe »Bürofach-/-hilfskräfte« die höchste quantitative Relevanz, so im Zusammenhang mit den Diagnosegruppen »Arthrose« (M15-M19), »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20-M25), »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-M54) und »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) sowie den Einzeldiagnosen »Koxarthrose« (M16), »Sonstige Bandscheibenschäden« (M51) und »Fraktur des Femurs« (S72). Bezogen auf die Krankheitsgruppe »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes« (M70-M79) hat die Berufsgruppe »Warenkaufleute« aber einen noch etwas zentraleren Stellenwert als die Gruppe der »Bürofach-/-hilfskräfte«. Die Arbeitslosen belegen hingegen bei den weiblichen KKH-Versicherten – in Abweichung zu den Ergebnissen bei den Männern – bei den meisten der kontrollierten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen nach den Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« nur den dritten Rangplatz. Lediglich in Bezug auf die Einzeldiagnose »Gonarthrose« (M17) weisen sie das höchste Betroffenheitsniveau auf. Anzumerken ist, dass Arbeitslose und Angehörige der Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« sowie die bei weiblichen Versicherten der KKH zusätzlich bedeutsamen Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« nicht nur im Zusammenhang mit Krankheiten des Muskel-SkelettSystems die zentralen Personengruppen darstellen. Sie sind, wie bereits in den bisher erschienenen Weißbüchern Prävention dargestellt, auch die Gruppen, die am häufigsten von Herzkrankheiten sowie von psychischen Störungen betroffen sind.
Infobox
I
I
Zwischenfazit Die Auswertungsergebnisse auf der Ebene des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« belegen, dass Frauen und Männer in den Jahren 2000 bis 2005 insgesamt gesehen anteilig in etwa gleich starkem Maße von Muskel-Skelett-System-Erkrankungen betroffen sind. Differenziertere Analysen, die sich auf die fünf besonders zentralen Diagnosegruppen und die relevantesten Einzeldiagnosen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« sowie auf das ebenfalls vereinzelt Muskel-Skelett-System-Erkrankungen enthaltene Kapitel »Verletzungen und Vergiftungen« beziehen, weisen aber darauf hin, dass bei Frauen und Männern jeweils bestimmte Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen dominieren. So werden z. B. die unter die Diagnosegruppen »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-M54), »Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes« (M70-M79) sowie »Verletzungen des Knies und des Unterschenkels« (S80-S89) subsumierten Krankheiten bei Männern häufiger diagnostiziert als bei Frauen. Demgegenüber sind Frauen in stärkerem Maße von Krankheiten in Zusammenhang mit den Diagnosegruppen »Arthrose« (M15-M19) und »Sonstige Gelenkkrankheiten« (M20-M25) betroffen. Nach den Ergebnissen auf der Ebene des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« erweisen sich insbesondere die Altersgruppen »50 bis unter 55 Jahre« und »55 bis unter 60 Jahre« als quantitativ am bedeutsamsten. Auch bei den zentralen Diagnosegruppen zählen diese beiden Altersgruppen nahezu durchgängig zu den besonders häufig von den jeweiligen spezifischen Muskel-Skelett-System-Erkrankungen Betroffenen. Besonders auffällige Unterschiede sind nur in Bezug auf die Krankheitsgruppe »Arthrose« (M15-M19) feststellbar. Hier sind es vor allem die älteren Versicherten (Altersgruppen: »70 bis unter 75 Jahre« und »75 bis unter 80 Jahre«), die Diagnosen aus dieser Diagnosegruppe aufweisen. Sowohl auf der Analyseebene »Diagnosekapitel« als auch auf der Ebene »Diagnosegruppen« ist das Bundesland Brandenburg durch den höchsten Anteil an Versicherten mit Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems gekennzeichnet. Relativ hohe Betroffenheitsquoten bei mehreren der zentralen Diagnosegruppen und auch Einzeldiagnosen sind zudem in den beiden Bundesländern Sachsen und Schleswig-Holstein feststellbar. Berufsgruppenspezifische Auswertungen zeigen, dass Arbeitslose bei den Männern und die Berufsgruppe »Bürofach-/-hilfskräfte« bei den Frauen insgesamt gesehen am häufigsten von Krankheiten des Muskel-SkelettSystems betroffen sind. Neben diesen beiden Gruppen zählt auch die Berufsgruppe der Warenkaufleute sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen KKHVersicherten durchgängig bei allen zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen zu den drei relevantesten Personengruppen.
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
4.4
4.4.1 Rückenschmerzen nach Alter und Geschlecht
Die unter die Diagnosegruppe »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« (M50-M54) gefasste Einzeldiagnose »Rückenschmerzen« (M54) bezieht ihren hohen Stellenwert sowohl aus der starken quantitativen Bedeutung als auch aus dem hohen Anteil an Ausgaben, der auf dieses Krankheitsbild entfällt. So belegt die ICD10-Diagnose M54 »Rückenschmerzen« bei Versicherten der KKH, bezogen auf den Gesamtbeobachtungszeitraum von sechs Jahren, Rang 2 unter den quantitativ relevantesten und Rang 5 unter den ökonomisch bedeutsamsten Krankheiten.
Die Ergebnisse zu geschlechts- und altersgruppenspezifischen Auswertungen verdeutlichen zunächst, dass Männer in fast allen Altersgruppen in stärkerem Maße von Rückenschmerzen (M54) betroffen sind als Frauen. Bezogen auf den Gesamtbeobachtungszeitraum von sechs Jahren sind dabei die Unterschiede in der quantitativen Bedeutung von Rückenschmerzen zwischen Männern und Frauen in den beiden Altersgruppen »30 bis unter 35 Jahre« und »35 bis unter 40 Jahre« am stärksten ausgeprägt. Die Diagnose »Rückenschmerzen« wird in diesen beiden Altersgruppen bei Männern durchschnittlich um ca. 45% häufiger gestellt als bei Frauen (⊡ Abb. 4.14 und 4.15).
5,0 4,5 4,0
Prozent
3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 80 ab
15 –< 20 20 –< 25 25 –< 30 30 –< 35 35 –< 40 40 –< 45 45 –< 50 50 –< 55 55 –< 60 60 –< 65 65 –< 70 70 –< 75 75 –< 80 15
10
⊡ Abb. 4.14. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Rückenschmerzen« bei Männern getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
–<
<1 0
0,0
Jahre 2000
2001
2002
2003
2004
2005
5,0 4,5 4,0 3,5 Prozent
3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 <2 0 20 –< 25 25 –< 30 30 –< 35 35 –< 40 40 –< 45 45 –< 50 50 –< 55 55 –< 60 60 –< 65 65 –< 70 70 –< 75 75 –< 80 ab 80
15 –
⊡ Abb. 4.15. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Rückenschmerzen« bei Frauen getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versichertenjahre)
<1 5
0,0 <1 0
4
Einzeldiagnose Rückenschmerzen
10 –
52
Jahre 2000
2001
2002
2003
2004
2005
53 4.4 · Einzeldiagnose Rückenschmerzen
Aus den beiden Abbildungen wird zudem bei beiden Geschlechtern eine vergleichbare Altersabhängigkeit von Rückenproblemen deutlich. So steigt die anteilige Bedeutung bei Frauen und Männern mit zunehmendem Alter zunächst kontinuierlich an: bei Männern bis zur Altersgruppe »45 bis unter 50 Jahre« und bei Frauen bis zur Altersgruppe »50 bis unter 55 Jahre«. Danach sinkt die Relevanz von Rückenschmerzen bei beiden Geschlechtern zunächst leicht – bis zum 60. Lebensjahr – und im weiteren Altersverlauf stark ab. Auffällig erscheint die beständige Reduktion der Bedeutung von Rückenschmerzen in den letzten drei Analysejahren (seit dem Jahr 2003), die sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen KKH-Versicherten zu beobachten ist. Beginnend mit der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« bis hin zur Altersgruppe »55 bis unter 60 Jahre« ist dieser Rückgang der Relevanz von Rückenproblemen durchgängig bei beiden Geschlechtern feststellbar. Dieses Ergebnis wird auch aus Auswertungen deutlich, die auf den Stellenwert von Rückenschmerzen im Vergleich zu anderen Diagnosen ausgerichtet sind. Wird lediglich die anteilige quantitative Bedeutung aller der gut 1600 dreistelligen Diagnosen in den Jahren 2000 bis 2002 zugrunde gelegt, so belegt die Diagnose »Rückenschmerzen« über die drei Beobachtungsjahre insgesamt noch Rang eins unter allen Diagnosen. Bei Betrachtung aller sechs Beobachtungsjahre ist ein Absinken auf Rangplatz zwei konstatierbar. Noch deutlicher wird der relative Bedeutungsrückgang bei Zugrundelegung der ökonomischen Relevanz. Auf der Basis der Daten aus dem Beobachtungszeitraum 2000 bis 2002 rangieren Rückenprobleme auf Rang zwei unter den ausgabenintensivsten Einzeldiagnosen. Werden dagegen die Daten über den Gesamtbeobachtungszeitraum von sechs Jahren berücksichtigt, resultiert daraus ein Absinken auf Platz fünf der ökonomisch relevantesten Einzeldiagnosen.
Die Ergebnisse separierter Analysen nach den Leistungsbereichen »stationäre Leistungen«, »Arzneimittel«, »Krankengeld« und »Arbeitsunfähigkeiten« zeigen, dass die quantitative Relevanz von Rückenschmerzen sowohl aus häufigen und längerfristigen Krankengeldzahlungen und Arbeitsunfähigkeiten als auch aus relativ ausgeprägten Krankenhausaufenthalten und häufigen Medikamentenverordnungen resultiert. Aus diesem Grund wurden zur weiteren Differenzierung der Rückenproblematik beispielhaft für einzelne dieser Leistungsbereiche zusätzliche Analysen durchgeführt. In den nachfolgenden Abbildungen (⊡ Abb. 4.16 und 4.17) ist der gemittelte Anteil der Versicherten der KKH dargestellt, der innerhalb eines Kalenderjahres mindestens einmalig aufgrund der Diagnose »Rückenschmerzen« Krankengeld bezogen hat. Diese allein auf Krankengeldbezugsraten bezogenen Auswertungsergebnisse bestätigen zunächst die etwas höhere Relevanz dieser Diagnose bei Männern sowie den gleichgerichteten Verlauf der Altersabhängigkeit von Rückenschmerzen bei beiden Geschlechtern. Dieser Verlauf entspricht zudem in etwa dem Altersverlauf zur gesamtanteiligen Bedeutung von Rückenproblemen: Im Durchschnitt über die Jahre 2000 bis 2005 ist eine kontinuierliche Zunahme der Bezugsraten von Krankengeld bei weiblichen und männlichen Versicherten bis zur Altersgruppe »55 bis unter 60 Jahre« beobachtbar. Danach sinken die Bezugsraten deutlich ab. Weitere Analysen zeigen darüber hinaus, dass sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen KKH-Versicherten nicht nur die Bezugsraten von Krankengeld eine starke Altersabhängigkeit aufweisen. Auch der Anteil an Arbeitsunfähigkeiten, der zu einem Krankengeldbezug führt, steigt mit zunehmendem Alter stetig an. So geht aus ⊡ Abb. 4.17 hervor, dass beispielsweise bei Männern in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« lediglich durch-
2,0 1,8 1,6 1,45
1,2
1,11
1,0
0,90
0,8
0,73
0,6
0,55 0,38 0,41
0,4
0,28
0,2 0,0
1,13
0,19
0,13 0,00 0,00
0,00 0,00 0,00
<1 0 10 –< 15 15 –< 20 20 –< 25 25 –< 30 30 –< 35 35 –< 40 40 –< 45 45 –< 50 50 –< 55 55 –< 60 60 –< 65 65 –< 70 70 –< 75 75 –< 80 ab 80
Prozent
1,4
Jahre
⊡ Abb. 4.16. Anteil an weiblichen Versicherten mit mindestens einem Krankengeldbezugsfall im Kalenderjahr aufgrund von »Rückenschmerzen« getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2005) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
schnittlich 1,6% der Arbeitsunfähigkeitsfälle mit einem Krankengeldbezug verbunden sind. In den Altersgruppen »35 bis unter 40 Jahre« und »55 bis unter 60 Jahre« sind es dagegen bereits 10,2% bzw. 20,2%. Diese Ergebnisse verweisen damit vor allem darauf, dass Versicherte mit der Diagnose »Rückenschmerzen« mit zunehmendem Alter verstärkt über einen längeren Zeitraum unter dieser Diagnose »krankgeschrieben« sind, da die Berechtigung zum Bezug von Krankengeld in der Regel eine durchgängige Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen voraussetzt. Auswertungen nach einzelnen Kalenderjahren lassen bei Frauen und bei Männern sowohl insgesamt gesehen als auch bezogen auf die meisten relevanten Altersgruppen eine Reduktion der Arbeitsunfähigkeits- und der Krankengeldbezugsraten in den letzten drei Beobachtungsjahren
2003 bis 2005 erkennen. In der zentralen Altersgruppe »55 bis unter 60 Jahre« sinkt beispielsweise bei den Frauen die Bezugsrate von Krankengeld von 1,56% im Jahr 2002, über 1,41% im Jahr 2003 und 1,33% im Jahr 2004, auf 0,87% im Jahr 2005 (⊡ Abb. 4.18). Dies entspricht über den Zeitraum von 2002 bis 2005 fast einer Halbierung der Krankengeldbezugsrate. Die größte Reduktion ist dabei zwischen den Jahren 2004 und 2005 zu verzeichnen, was in erheblichem Maße durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II ab dem 01.01.2005 und dem damit verbundenen Wegfall des Anspruches auf Krankengeldbezug bei den ALG-IIEmpfängern verursacht sein dürfte. Die Ergebnisse separierter Analysen zum Leistungsbereich »stationäre Leistungen« – Berechnung des gemittelten Anteils an Versicherten mit mindestens einmaliger Krankenhausbehandlung unter der Diagnose »Rücken-
30
28,0 25,8
25 20,2
20 Prozent
15,7
15
13,1 11,6
10
10,2
9,1 7,6 4,5
5
⊡ Abb. 4.17. Anteil an männlichen Versicherten mit einem Krankengeldbezug bei bestehender Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Rückenschmerzen getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2005) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
1,6 0,00 0,00
0,00 0,00 0,00
<1 0 10 –< 15 15 –< 20 20 –< 25 25 –< 30 30 –< 35 35 –< 40 40 –< 45 45 –< 50 50 –< 55 55 –< 60 60 –< 65 65 –< 70 70 –< 75 75 –< 80 ab 80
0
Jahre
1,8 1,6
1,4 1,2 1,0
0,8 0,6
0,4 0,2 80 ab
–< 80
–< 75
75
<7 0
70
65 –
–< 65
–< 60
60
–< 55
55
–< 50
50
–< 45
45
–< 40
40
–< 35
35
–< 30
30
–< 25
25
20
15
–<
15 –< 20
0,0 <1 0
⊡ Abb. 4.18. Anteil an weiblichen Versicherten mit mindestens einem Krankengeldbezugsfall im Kalenderjahr aufgrund von Rückenschmerzen getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
10
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Prozent
54
Jahre
2000
2001
2002
2003
2004
2005
55 4.4 · Einzeldiagnose Rückenschmerzen
schmerzen« innerhalb eines Kalenderjahres – weichen nicht unerheblich von den bislang vorgestellten Resultaten auf der Globalauswertungsebene und zum Krankengeldbezug ab. Zwar lässt sich sowohl bei Frauen als auch bei Männern zunächst – im Durchschnitt über die Jahre 2002 bis 2005 – ebenfalls ein stetiger Anstieg der Krankenhausbehandlungsraten mit einem Gipfel bei der Altersgruppe »55 bis unter 60 Jahre« feststellen. In Abweichung zu den bisherigen Ergebnissen wird jedoch im weiteren Altersverlauf ein zweiter Gipfel bei der ältesten kontrollierten Personengruppe »ab 80 Jahre« evident. Dieser zweite Gipfel zu stationären Behandlungsraten ist dabei bei beiden Geschlechtern nur geringfügig schwächer ausgeprägt als der Gipfel bei der Altersgruppe »55 bis unter 60 Jahre«.
Gleichfalls abweichend von den bisherigen Ergebnissen sind Frauen durch höhere Krankenhausbehandlungsraten gekennzeichnet als Männer. Diese erhöhten Behandlungsraten bei weiblichen KKH-Versicherten sind dabei mit Ausnahme der Gruppe »60 bis unter 65 Jahre« durchgängig in allen anderen kontrollierten Altersgruppen nachweisbar (⊡ Abb. 4.19). Die Ergebnisse der ergänzend durchgeführten Auswertungen nach Kalenderjahren zeigen bei beiden Geschlechtern nur in den Altersgruppen nach Vollendung des 70. Lebensjahres einen eindeutigen zeitlichen Trend: Die stationären Behandlungsraten in den letzten drei kontrollierten Jahren 2003 bis 2005 liegen in den drei Altersgruppen »70 bis unter 75 Jahre«, »75 bis unter 80 Jahre« und »ab 80 Jahre« durchweg über den Behandlungsraten in den Jahren 2000 bis 2002 (⊡ Abb. 4.20).
2,0 1,8 1,6
Prozent
1,4
1,2 1,0
0,8 0,6
0,4
0,2 80 ab
15 –< 20 20 –< 25 25 –< 30 30 –< 35 35 –< 40 40 –< 45 45 –< 50 50 –< 55 55 –< 60 60 –< 65 65 –< 70 70 –< 75 75 –< 80
–<
15
10
<1 0
0,0
Jahre Männer
Frauen
⊡ Abb. 4.19. Anteil an weiblichen und männlichen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Rückenschmerzen« getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2005) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
1,8
1,6
1,4
1,0
0,8 0,6
0,4 0,2 80 ab
–< 20 20 –< 25 25 –< 30 30 –< 35 35 –< 40 40 –< 45 45 –< 50 50 –< 55 55 –< 60 60 –< 65 65 –< 70 70 –< 75 75 –< 80
15 –<
15
<1 0
0,0 10
Prozent
1,2
Jahre 2000
2001
2002
2003
2004
2005
⊡ Abb. 4.20. Anteil an männlichen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Rückenschmerzen« getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
4.4.2 Rückenschmerzen nach Regionen
4.4.3 Rückenschmerzen nach Berufsgruppen
Bei den alters- und geschlechtsstandardisierten regionenspezifischen Auswertungen zeigen sich einige Auffälligkeiten: So sind Versicherte aus den neuen Bundesländern deutlich häufiger von Rückenproblemen betroffen als KKH-Versicherte aus den alten Bundesländern und Berlin. Den quantitativ höchsten Stellenwert haben Rückenschmerzen vor allem in den Bundesländern SachsenAnhalt und Brandenburg sowie in etwas abgeschwächter Form in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Am seltensten treten Rückenprobleme demgegenüber in Baden-Württemberg und Hamburg auf (⊡ Abb. 4.21). In den Ergebnissen der regionenspezifischen Analysen spiegelt sich der bereits thematisierte relative Rückgang des quantitativen Stellenwertes von Rückenschmerzen in den letzten Jahren wider. Durchgängig in allen 16 Bundesländern liegt der Anteil an KKH-Versicherten mit Rückenschmerzen in den letzten drei Analysejahren deutlich unter der Betroffenheitsquote in den Jahren 2000 bis 2002. Mit Ausnahme des Bundeslandes Bremen lässt sich dabei in den anderen Bundesländern ein stetiger rückläufiger Trend in den Jahren 2003 bis 2005 konstatieren. Separierte Analyseergebnisse zu den drei Leistungsbereichen »stationäre Leistungen«, »Arzneimittel« und »Krankengeld« verweisen darauf, dass die Relevanz der Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern in Zusammenhang mit der quantitativen Bedeutung von Rückenschmerzen auf besonders häufige Medikamentenverordnungen und Krankengeldzahlungen zurückzuführen ist. In Sachsen-Anhalt fallen vor allem sehr häufige Medikamentenverordnungen sowie Krankenhausaufenthalte auf, während Thüringen durch gehobene Werte in allen drei Leistungsbereichen gekennzeichnet ist.
Die altersstandardisierten berufsgruppenbezogenen Auswertungen bestätigen die bisherigen Ergebnisse zum Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« sowie zu den zentralen Diagnosegruppen dieses Kapitels. Sowohl bei den weiblichen als auch den männlichen KKH-Versicherten sind die Arbeitslosen sowie die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« am stärksten von Rückenproblemen betroffen. Ausbau der Dienstleistungsgesellschaft in » Der Deutschland – das geistige Kapital unseres Landes – wird nach Prognosen innerhalb der nächsten zehn Jahre dazu führen, dass 70% der Arbeitsplätze einen wesentlichen Dienstleistungsanteil mit entsprechender Sitzbelastung beinhalten. Für die Gesunderhaltung der im Dienstleistungsbereich Tätigen müssen daher bekannte Konzepte der Büroorganisation als Verhältnisprävention, ebenso aber auch die Verhaltensprävention für Berufstätige effizient ausgebaut werden. Prof. Dr. Joachim Grifka, Universität Regensburg
«
Bei den weiblichen Versicherten sind darüber hinaus auch noch die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« und bei den männlichen KKH-Versicherten die Berufsgruppen »Berufe des Landverkehrs« und »Lager-/Transportverwalter und -arbeiter« aufgrund ihrer hohen Betroffenheitsquote von besonderem Interesse (⊡ Abb. 4.22). Die Gruppe der Arbeitslosen ist bei Männern die Personengruppe, bei der – gemittelt über alle sechs Analysejahre – am häufigsten Rückenprobleme ersichtlich werden. Bei den Frauen ist dagegen die Berufsgruppe
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⊡ Abb. 4.21. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Rückenschmerzen« getrennt nach Bundesländern in Prozent (je 100 Versichertenjahre)
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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2005
57 4.4 · Einzeldiagnose Rückenschmerzen
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2003
»Bürofach-/-hilfskräfte« am stärksten von Rückenschmerzen betroffen. Auch bei den Analysen zur Einzeldiagnose »Rückenschmerzen« wird wiederum bei beiden Geschlechtern ein überaus deutlicher Rückgang der Bedeutung von Rückenschmerzen im letzten Beobachtungsjahr 2005 offensichtlich. Dies ist – wie bereits mehrfach erwähnt – vor allem durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II im Jahr 2005 bedingt (vgl. dazu auch den Abschnitt 4.3 »Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems in unterschiedlichen Versichertengruppen«).
Die Ergebnisse der Analysen zu den einzelnen Leistungsbereichen »stationäre Leistungen«, »Arzneimittel« und »Krankengeld« zeigen, dass die ausgeprägte quantitative Bedeutung von Rückenschmerzen in den besonders auffälligen Berufsgruppen durchgängig auf einer besonders häufigen Leistungsinanspruchnahme in Bezug auf alle drei kontrollierten Leistungsarten beruht. Zur weiteren Differenzierung der ausgeprägten Rückenproblematik in einzelnen Berufsgruppen wurden exemplarisch zu stationären Leistungen, der Leistungsgruppe mit den höchsten finanziellen Aufwendungen für Krankenkassen, ergänzende Analysen zu Krankenhausbehandlungsraten durchgeführt. Dazu wurden zunächst wiederum die altersstandardisierten gemittelten Anteile der KKH-Versicherten für die Kalenderjahre 2000 bis 2005 insgesamt berechnet, die innerhalb eines Jahres mindestens einmal mit der Diagnose »Rückenschmerzen« in einem Krankenhaus behandelt wurden. Die Ergebnisse dieser Auswertungsvariante bestätigen die Bedeutsamkeit von Rückenproblemen bei Arbeitslosen sowie in den Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute«. Bei den weiblichen Versicherten
2004
2005
⊡ Abb. 4.22. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Rückenschmerzen« bei Frauen getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
der KKH sind zusätzlich wiederum noch die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« von relativ hohen Behandlungsraten betroffen. Bemerkenswert erscheint dabei, dass in den meisten Berufsgruppen Frauen in deutlich stärkerem Maße von einer Krankenhausbehandlung aufgrund von Rückenschmerzen betroffen sind als Männer (⊡ Abb. 4.23). Zusätzlich durchgeführte jahresbezogene Auswertungen lassen zudem sowohl bei männlichen als auch weiblichen KKH-Versicherten einen hohen Grad an Stabilität im zeitlichen Verlauf erkennen. Das heißt, die genannten Berufsgruppen stellen in allen sechs Analysejahren die Gruppen dar, die durchgängig am häufigsten Krankenhausaufenthalte mit der Diagnose »Rückenschmerzen« aufweisen. Infobox
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Zwischenfazit Die zur Diagnosegruppe »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« zählende Einzeldiagnose »Rückenschmerzen« (M54) belegt bei Versicherten der KKH Rang zwei unter den quantitativ relevantesten und Rang fünf unter den ökonomisch bedeutsamsten Krankheiten. Geschlechts- und altersgruppenspezifische Auswertungen zeigen, dass Männer insgesamt gesehen in stärkerem Maße als Frauen von Rückenschmerzen betroffen sind. Darüber hinaus lässt sich bei beiden Geschlechtern ein vergleichbarer Verlauf der Altersabhängigkeit von Rückenproblemen mit einem Gipfel in ▼
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Fazit und Empfehlungen
4.5
Die routinemäßig erfassten Daten der Krankenkassen zur Leistungsinanspruchnahme ihrer Versicherten ermöglichen einen differenzierten Einblick in die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung in Deutschland. Allein bei der KKH liegen jährlich gesundheitsbezogene Informationen von rund zwei Millionen Versicherten vor. Die Auswertungen dieser so genannten Routinedaten, die für das vorliegende Weißbuch auf Krankheiten des MuskelSkelett-Systems ausgerichtet sind, geben einen Einblick in die Verbreitung und Verteilung wichtiger Krankheiten und Gesundheitsprobleme innerhalb der Versichertengemeinschaft der KKH sowie in ihre ökonomische Relevanz. Damit liefern sie empirisch fundierte Hinweise für zielgruppenorientierte präventive Interventionen. Die dargestellten Ergebnisse der Routinedatenanalysen belegen insbesondere die ökonomische Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems bei Versicherten der KKH und somit auch den zentralen Stellenwert gezielter präventiver Maßnahmen. Die unter das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« gefassten einschlägigen Krankheiten nehmen den vierten Rangplatz unter allen 21 Diagnosekapiteln ein. Lediglich die Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems«, »Neubildungen« und »Psychische Störungen« sind mit höheren Ausgabenanteilen verbunden. Die Auswertungen zeigen auf, dass allein vier Einzeldiagnosen aus zwei Krankheitsgruppen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« einen besonders hohen ökonomischen Stellenwert haben – Rückenschmerzen, Koxarthrose, Gonarthrose sowie sonstige Bandscheibenschäden. Diese vier Einzeldiagnosen zählen zu den zehn ausgabenrelevantesten Krankheiten unter
0,14 0,12
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⊡ Abb. 4.23. Anteil an Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Rückenschmerzen« nach Berufsgruppen (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2005) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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der Altersgruppe »45 bis unter 50 Jahre« bei Männern bzw. »50 bis unter 55 Jahre« bei Frauen feststellen. Diese Aussagen werden durch die Krankengeldbezugsraten bestätigt. Bemerkenswert erscheint die kontinuierliche Reduktion der Bedeutung von Rückenschmerzen in den Jahren 2003 bis 2005, die sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen KKH-Versicherten und bei praktisch allen relevanten Altersgruppen beobachtbar sind. Diese Reduktion der quantitativen Bedeutung von Rückenschmerzen in den letzten drei Beobachtungsjahren wird auch in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeitsraten deutlich. Die Auswertungsergebnisse zu Krankenhausbehandlungsraten weichen dagegen erheblich von den Resultaten zum Krankengeldbezug ab: Frauen werden häufiger als Männer im Krankenhaus behandelt. Bei beiden Geschlechtern ist ein zweigipfliger Verlauf der Altersabhängigkeit von Rückenschmerzen feststellbar. Ein eindeutiger zeitlicher Trend wird in Bezug auf Krankenhausbehandlungsraten nur in den Altersgruppen nach Vollendung des 70. Lebensjahres evident. Die Behandlungsraten liegen dabei in den letzten drei Analysejahren durchweg über den Raten in den Jahren 2000 bis 2002. Regionenspezifische Auswertungen lassen erkennen, dass Versicherte aus den Bundesländern SachsenAnhalt und Brandenburg im stärksten Umfang Rückenprobleme aufweisen. Berufsgruppenbezogene Auswertungen zeigen, dass bei weiblichen und männlichen KKH-Versicherten die Arbeitslosen sowie die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« am häufigsten von Rückenschmerzen betroffen sind.
M an Da ag er te nv er ar be itu ng
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59 4.5 · Fazit und Empfehlungen
den insgesamt mehr als 1600 dreistelligen Diagnosen. Darüber hinaus belegen die Analysen, dass zusätzlich noch zwei einschlägige Diagnosen aus dem Diagnosekapitel »Verletzungen und Vergiftungen« – Fraktur des Femurs und Fraktur des Unterschenkels – von zentraler Bedeutung sind. Beide Diagnosen finden sich unter den zwanzig ausgabenträchtigsten Rangplätzen. Die Analysen der Routinedaten aus insgesamt sechs Kalenderjahren 2000 bis 2005 liefern außerdem wichtige Hinweise für eine zielgruppenspezifische Ausrichtung von Interventionen. So zeigen die Auswertungsergebnisse zwar, dass weibliche und männliche KKH-Versicherte insgesamt gesehen anteilig in etwa gleich hohem Maße von Muskel-Skelett-System-Erkrankungen betroffen sind. Differenziertere Analysen verweisen aber darauf, dass Frauen und Männer jeweils bei bestimmten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen dominieren. Rückenschmerzen und sonstige Bandscheibenschäden werden beispielsweise bei Männern anteilig häufiger diagnostiziert als bei Frauen. Demgegenüber haben die Diagnosen »Koxarthrose«, »Gonarthrose«, »Fraktur des Femurs« sowie »Fraktur des Unterschenkels« bei Frauen eine höhere anteilige quantitative Bedeutung als bei Männern. Aufgrund der Datenbasis der vorliegenden Analyse – stationäre Aufenthalte, Arbeitsunfähigkeitstage, Medikamente – ist die zu verzeichnende Geschlechterverteilung zu Rückenbeschwerden invers zu der des telefonischen Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts ( Kap. 3). Letzterer erfasst auch von den Befragten genannte ambulante Diagnosen. Auch eine Altersabhängigkeit der Relevanz von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems ist feststellbar: Insgesamt gesehen sind Versicherte in den Altersgruppen »50 bis unter 55 Jahre« und »55 bis unter 60 Jahre« in stärkerem Maße von einschlägigen Krankheiten betroffen als jüngere und ältere Versicherte. Auch bei den zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen zählen Angehörige dieser beiden Altersgruppen nahezu durchgängig zu den besonders häufig Betroffenen. Auffällige Unterschiede dazu waren vor allem in Bezug auf die Diagnosegruppe »Arthrose« und dort insbesondere bei den unter diese Krankheitsgruppe gefassten Einzeldiagnosen »Koxarthrose« und »Gonarthrose« beobachtbar. Hier sind es in erster Linie die älteren Versicherten (Altersgruppen: »70 bis unter 75 Jahre« und »75 bis unter 80 Jahre«), die das höchste Betroffenheitsniveau aufweisen. Ein Sonderfall stellt zudem die Diagnose »Fraktur des Unterschenkels« dar: Bei Frauen zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg der Häufigkeit von Frakturen des Unterschenkels bis zum 60. Lebensjahr. Bei Männern ist dagegen ein starker Anstieg der Frakturrelevanz schon in jungen Jahren und mit hohen Werten bereits in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« nachweisbar. Bei regionen- und berufsgruppenbezogenen Auswertungen konnten weitere spezifische Risikogruppen und
-regionen identifiziert werden. Insbesondere das Bundesland Brandenburg zeichnet sich durch besonders hohe Anteile an Versicherten mit Krankheiten des MuskelSkelett-Systems aus. Außerdem ließ sich nachweisen, dass bei den Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« sowie »Warenkaufleute« sowie bei der Gruppe der Arbeitslosen sowohl insgesamt als auch in Bezug auf alle relevanten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen die anteilig häufigsten Muskel-Skelett-System-Erkrankungen zu verzeichnen sind. Als weiterer wesentlicher Befund der Routinedatenanalysen ist der feststellbare Rückgang der anteiligen Bedeutung von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems im zeitlichen Verlauf zu werten. So ist in den drei Analysejahren 2003 bis 2005 der quantitative Stellenwert von Muskel-Skelett-System-Erkrankungen kontinuierlich gesunken. Eine Reduktion der ökonomischen Relevanz ist ebenfalls, wenn auch nur für das Jahr 2005, nachweisbar. Dieser relative Bedeutungsrückgang ist dabei insbesondere auf eine beständige Reduktion des Stellenwertes der Einzeldiagnose »Rückenschmerzen« zurück zu führen: Nach Analysen, die lediglich die Daten aus den Beobachtungsjahren 2000 bis 2002 berücksichtigen, belegt die Diagnose »Rückenschmerzen« insgesamt quantitativ betrachtet Rang eins bzw. ökonomisch betrachtet Rang zwei unter allen Diagnosen. Werden dagegen die Daten aller sechs Beobachtungsjahre zugrunde gelegt, dann zeigt sich ein Absinken hinsichtlich der Häufigkeit auf Rangplatz zwei und unter Kostengesichtspunkten auf Rangplatz fünf. Dieser nachweisbare Rückgang der relativen Bedeutung von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems allgemein und speziell von Rückenproblemen darf aber nicht über den auch weiterhin zentralen Stellenwert, sowohl der Krankheitsart insgesamt als auch der Einzeldiagnose »Rückenschmerzen«, hinwegtäuschen. Die Ergebnisse der dargestellten Datenanalysen machen zum einen deutlich, dass präventive Maßnahmen im Bereich Muskel-Skelett-System-Erkrankungen schon per se von hoher Relevanz sind. Die Differenziertheit der Analyseergebnisse verweist darüber hinaus aber auch auf die Notwendigkeit zielgruppenspezifischer präventiver Aktivitäten, da die Analysen sowohl die besondere Bedeutung einzelner Erkrankungen aus dem Gesamtspektrum der Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems als auch die hohe Betroffenheit und das deutlich erhöhte Risiko bestimmter Versichertengruppen aufzeigen. So sind beispielsweise Ernährungs- und Bewegungsprogramme zur Reduktion des Arthroserisikos (insbesondere bezogen auf Kox- und Gonarthrose) gezielt auf die entsprechenden Altersgruppen abzustimmen. Diese können sowohl primärpräventiv ansetzen, als auch tertiärpräventiv in der Rehabilitation ( Kap. 6). Die Prävention von Oberschenkel- und Oberschenkelhalsbrüchen sollte insbesondere auch das höhere Lebensalter der Risi-
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
kogruppen berücksichtigen und primär auf multimodale Programme zur Sturzprophylaxe abgestimmt sein. Neben Maßnahmen zur Reduktion der Sturzgefahr im häuslichen Umfeld sollten z. B. augenärztliche Untersuchungen sowie Bewegungsprogramme zur Förderung der Koordination und des Gleichgewichts integraler Bestandteil derartiger Interventionen sein. Das Kap. 9 zeigt hierzu für verschiedene Risikogruppen beispielhafte Maßnahmen auf. Solche multimodalen Maßnahmen zur Sturzprophylaxe erscheinen auch für weibliche Versicherte im höheren Lebensalter zur Reduktion des Risikos für eine Fraktur des Unterschenkels angemessen. Dagegen sollten Interventionsmaßnahmen zur Vorbeugung vor Unterschenkelfrakturen für männliche Versicherte vor allem auf Jugendliche und Versicherte im frühen Erwachsenenalter ausgerichtet sein und dabei u. a. die Gefahr von Sportverletzungen ( Kap. 7) sowie Arbeitssicherheitsaspekte thematisieren. Präventionsbezogene Rückenprogramme sollten vor allem Anreize für Versicherte im Erwachsenenalter bieten. Neben Informationen zu rückengerechtem Verhalten sollten diese Programme altersgerechte Bewegungs- und Trainingsprogramme beinhalten sowie psychische Belastungen berücksichtigen ( Kap. 5.2 und 5.3). Besonders wichtig erscheint im Zusammenhang mit Interventionen zur Rückenproblematik auch die Einbeziehung des betrieblichen Umfelds und arbeitsplatzbezogener Aspekte in die präventiven Aktivitäten ( Kap. 5.6). Bereits diese exemplarisch angeführten Möglichkeiten für zielgruppenspezifische Interventionen verdeutlichen, dass allein verhaltensbezogene präventive Maßnahmen oftmals nicht hinreichend zielführend sein können. Es kommt in der Regel vielmehr darauf an, verhaltensbezogene präventive Komponenten eng mit verhältnisbezogenen Aspekten zu verzahnen, um eine angemessene Effektivität der Interventionen zu gewährleisten. Dies beinhaltet beispielsweise am Arbeitsplatz eine Reduktion psychischer Belastungen und körperlicher Belastungen durch ein angemessenes Management sowie eine ergonomisch gerechte Arbeitsplatzgestaltung.
5 Rücken Mareike Behmann, Katharina Borger, Thomas Kohlmann, Dagmar Lühmann, Matthias Morfeld, Armin Straub, Nicole Teichler, Ulla Walter
Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit Beschwerden und Erkrankungen des Rückens. Nach einer Einführung in die anatomischen Grundlagen und der Darstellung wesentlicher Krankheitsbilder kommt den präventiven und rehabilitativen Ansätzen eine besondere Bedeutung zu. Hierbei zeigt sich ein Paradigmenwechsel in den vergangenen Jahren – weg von dem Rat, sich zu schonen, hin zur Empfehlung, sich nach den individuellen Möglichkeiten zu bewegen und weiterhin den Alltagsaktivitäten nachzukommen. Das Kapitel versucht, u. a. Antworten auf folgende Fragen zu finden: ▬ Welche Risikofaktoren tragen zu Chronifizierung von Rückenschmerzen bei und wie kann ihnen präventiv begegnet werden? ( Kap. 5.2) ▬ Welchen Einfluss hat die Psyche auf Rückenschmerzen? Wie kann ein anderer Umgang mit dem Schmerz erlernt werden? ( Kap. 5.3) ▬ Welche Strategien eignen sich, um der Entstehung von Rückenbeschwerden entgegenzuwirken. Was muss bei der Umsetzung von präventiven Strategien in die Praxis berücksichtigt werden? ( Kap. 5.1, 5.4, 5.6) Welche Ansätze und Herausforderungen stellen sich für Wissenschaft und Praxis hinsichtlich der Prävention und Rehabilitation? ( Kap. 5.4, 5.5, 5.7)
5.1
Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
Nicole Teichler, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Das Kapitel gibt einen Überblick zu anatomisch-physiologischen Grundlagen der Elemente der Wirbelsäule, der Bandscheiben sowie der relevanten Muskulatur und ihrer
Funktionsweise. Mit Hilfe des biopsychosozialen Modells (Waddell 1998) werden mögliche Zusammenhänge von Einflussfaktoren auf Rückenschmerzen näher dargestellt, um die Dimensionen von Rückenschmerzen zu verdeutlichen. Für folgende Bereiche werden präventive Maßnahmen vorgestellt: ▬ Bewegung und sportliche Aktivität ▬ Entlastung der Wirbelsäule und Regeneration der Bandscheiben ▬ Training und Dehnung der Muskulatur (Rücken- und Bauchmuskeln, Beckenboden) ▬ Regenerative Maßnahmen für verspannte und verkürzte Muskulatur Eine Übersicht der häufigsten Krankheitsbilder, die Darstellung von Diagnostikmöglichkeiten im Bereich des Rückens sowie die Beschreibung präventiver Aspekte zur Vermeidung von Rückenschmerzen beschließen das Kapitel.
5.1.1 Anatomie und Physiologie des Rumpfes
Die Wirbelsäule als komplexes Gelenkorgan stellt das tragende Element, die zentrale bauliche Stütze des Körpers in der Längsachse, dar. Sie ist Grundlage für den aufrechten Gang. Zusammen mit den Rippen bildet sie eine Schutzhülle für Rückenmark, Nervenwurzeln, Blutgefäße und lebenswichtige Organe. Neben der mechanischen Stützfunktion erfordert die Fortbewegung jedoch auch die Biegsamkeit der Wirbelsäule, die durch die einzelnen Wirbelkörper sowie die Muskulatur ermöglicht werden. Das »Korsett« des Rückens bildet die Bauch- und Rückenmuskulatur. Durch die spezifische Anordnung der Muskulatur ergibt sich die Stabilität der Wirbelsäule – vergleichbar mit der Takelage eines Schiffes (Wottke 2004) – wobei Muskeln und Bänder der Verspannung durch Seile entsprechen, Bootsrumpf und Mast symbolisieren das Becken und die Wirbelsäule.
62
Kapitel 5 · Rücken
Wirbelsäule (Columna vertebralis)
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Die Wirbelsäule setzt sich aus 24 Bewegungssegmenten zusammen, die über Gelenke miteinander verbunden sind. Ein Bewegungssegment besteht als funktionelle Einheit aus zwei benachbarten Wirbeln, der sie verbindenden Bandscheibe, den Wirbelgelenken sowie Bändern und Muskeln des jeweiligen Bereichs. Die Bewegungsrichtungen der einzelnen Wirbelsäulensegmente werden durch den Stand und die Art der Verbindung der Wirbelkörper zueinander ermöglicht: Die Rotation in der Halswirbelsäule, die Lateralflexion (= Seitwärtsneigung) in der Brustwirbelsäule sowie die Flexion (= Beugung) in der Lendenwirbelsäule. Das Ausmaß der Beweglichkeit ist individuell unterschiedlich. Es ist abhängig vom Körperbau sowie von der Dehnbarkeit der Muskeln und der Bänder (Faller u. Schünke 2004). Bei der Wirbelsäule werden bewegliche Segmente (Halswirbel-, Brustwirbel- und Lendenwirbelsäule) und
unbewegliche Segmente (Kreuz- und Steißbein) unterschieden (⊡ Abb. 5.1 und 5.2). Die Halswirbelsäule (HWS) besteht aus sieben freien Wirbeln. Der oberste Wirbel wird als Atlas bezeichnet, der zweite, darunter liegende Wirbel als Axis. Die Halswirbelsäule beschreibt in ihrer Krümmung eine Lordose (Wirbelsäulenkrümmung nach vorne). In der Brustwirbelsäule (BWS) befinden sich zwölf freie Wirbel, die mit den Rippen verbunden sind. Die Krümmung in diesem Wirbelsäulenabschnitt entspricht einer Kyphose (Wirbelsäulenkrümmung nach hinten). Die Lendenwirbelsäule (LWS) ist gekennzeichnet durch fünf freie Wirbel. Dieser Wirbelsäulenabschnitt beschreibt in seiner Krümmung eine Lordose. Die Wirbel des Kreuzbeins sind fünf miteinander »verschmolzene« Wirbel. Das hieran anschließende Steißbein ist meist nur rudimentär vorhanden und verknöchert im Laufe der phylogenetischen Entwicklung.
⊡ Abb. 5.1. Die Knochen und Muskeln des Menschen in der Übersicht (aus Tillmann 2005)
63 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
„Pferdeschweif”
⊡ Abb. 5.2. Längsschnitt der Wirbelsäule (aus Wottke 2004)
Dieser Wirbelsäulenabschnitt der beiden unbeweglichen Elemente entspricht einer Kyphose. Durch die Biegungen der Wirbelsäule in den einzelnen Segmenten entsteht eine Doppel-S-Form, die eine Schwerpunktverlagerung über den Rumpf zulässt. Die Wirbelsäule wird somit elastisch und ist in der Lage, Erschütterungen abzufedern. Ihr kommt damit eine Schutzfunktion zu, die besonders für den Bereich des Kopfes und des Gehirns wichtig ist. Die Aufrichtung der Wirbelsäule ist unmittelbar vom Becken abhängig, da Kreuz- und Steißbein eng mit dem Becken verbunden sind, und das Becken ein wichtiges Fundament bzw. die Basis für die Wirbelsäule darstellt. Eine Schwäche oder Fehlstellung im Beckenbereich wirkt sich somit direkt auf die Wirbelsäule aus. Schwächungen oder Stabilitätsverluste von einzelnen Bewegungssegmenten der Wirbelsäule (Wirbelkörper und Bandscheibe), z. B. aufgrund von Degeneration, werden häufig über eine veränderte muskuläre Beanspruchung kompensiert. Diese Fehlbelastungen können Schmerzen verursachen, die z. T. schwer lokalisierbar sind, da einzelne Wirbelsäulensegmente ihre nozizeptive, afferente (schmerzempfindliche, zum Nervensystem hinführende) Versorgung aus drei bis fünf Spinalnerven beziehen (Bogduk 1983).
Infobox
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Prävention Konzepte zur Steigerung der Beweglichkeit und zur Kräftigung werden sowohl in der Prävention als auch in der Rehabilitation von Rückenschmerzen gezielt eingesetzt. Hierzu zählen u. a. Rückenmuskeltraining und Wirbelsäulengymnastik unter Einsatz verschiedener Techniken und Hilfsmittel. Ziele: ▬ Generelle Übungen zum Muskelaufbau vs. spezifisches Rückentraining, ▬ Stabilisierung der Rückenmuskulatur ohne bzw. mit Gerät (z. B. Pezzi-Ball, Therapieband), ▬ Dehnung und Stretching der Muskulatur (z. B. postisometrische Verfahren). Wirkungen auf das Muskel-Skelett-System (nach Linton u. van Tulder 2001): ▬ Kräftigung der Rücken- und Bauchmuskulatur, die für die Aufrichtung erforderlich sind, ▬ Verbesserung der Durchblutung der Muskulatur, gesteigertes Bewegungsausmaß der Gelenke, effektivere Versorgung der Bandscheiben, ▼
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Kapitel 5 · Rücken
▬ positivere Stimmung mit veränderter Schmerzwahrnehmung auf psychischer Ebene.
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Alltagsbewegungen sollten unter Berücksichtigung funktioneller Aspekte mit rückenfreundlicher Körperhaltung durchgeführt werden, z. B. bei Tätigkeiten im Haushalt wie Staubsaugen, Putzen oder Hebebewegungen. Das Ziel, bei Alltagsbewegungen auf rückengerechte Bewegungen zu achten, ist das Erlernen und Trainieren von Fähigkeiten, um Rückenschmerzen zu verhindern bzw. eine Chronifizierung zu vermeiden. Hierzu können Koordinationsschulungen und die Stärkung der Rückenmuskulatur je nach individueller Belastbarkeit durchgeführt werden (Seeger 2001).
Wirbelkörper
Wirbel stellen die Grundbausteine der Wirbelsäule dar. Den Anforderungen an ihre Tragfähigkeit entsprechend, nimmt ihre Größe von der Hals- über die Brust- zur Lendenwirbelsäule zu, zum Steißbein hin verringert sie sich wieder (⊡ Abb. 5.3). Der Wirbelkörper besteht aus einer äußeren dichten Knochenschicht (Boden- und Deckplatten) sowie einer inneren, spongiösen (schwammartigen) Knochenschicht. Die Belastbarkeit des Wirbelkörpers ist vom Mineralsalzgehalt des Knochengewebes abhängig. Daher kann es im Alter bei zunehmendem Mangel an Mineralsalzen und Vitamin D zu einer Auflockerung besonders der spongiösen Knochenstruktur kommen, die eine erhöhte Frakturgefahr (Knochenbruchgefahr) darstellt. Im hinteren Bereich geht der Wirbelkörper über in den Wirbelbogen. Dieser besteht aus zwei miteinander verwachsenen Hälften und bildet dadurch das Wirbelloch. Die Wirbellöcher sämtlicher übereinander liegender Wirbel bilden den Wirbelkanal, in dem das Rückenmark verläuft. Seitlich und im hinteren Bereich des Wirbelbogens finden sich knöcherne Fortsätze, die paarig angelegten Querfortsätze nach lateral (seitlich) und der nach dorsal (zum Rücken gelegen) ausgerichtete Dornfortsatz. Diese dienen Muskeln und Bändern als Ansatzpunkt. Ausnahmen bei den Wirbelkörpern bilden die beiden ersten Halswirbel: der erste Halswirbel, der Atlas, trägt als schädelnächster Teil den Kopf. Er bildet zusammen mit dem zweiten Halswirbel, dem Axis, eine funktionelle Einheit. Der Atlas hat entwicklungsgeschichtlich seinen Wirbelkörper verloren und besitzt lediglich einen vorderen und hinteren Wirbelbogen. Diese bilden zusammen einen Ring, in dessen hinterem Teil das Rückenmark verläuft. Die Beweglichkeit des Kopfes ergibt sich aus der gelenkigen Verbindung dieser ersten beiden Halswirbel. Als Besonderheit ragt an der vorderen Kante des Axis ein Knochenvorsprung nach oben, der »Zahn« (lat. »dens«), der sich an die
⊡ Abb. 5.3. Wirbelkörper und Bandscheibe. (Aus Wottke 2004)
Innenseite des knöchernen Bogens des Atlas anpasst, um so die Drehbewegungen des Kopfes zu ermöglichen. Wirbelkanal und Wirbelgelenke
Den vorderen Bereich des Wirbelkanals bilden die Rückseiten der Wirbelkörper sowie die Bandscheiben. Im hinteren Bereich wird der Wirbelkanal von der knöchernen Bogenplatte und dem Ligamentum flavum (dem »gelben Band«) begrenzt. Die Innenseite des Wirbelkanals ist mit einer Gleitschicht ausgekleidet. Dadurch werden Vernarbungen und Verklebungen der innen liegenden Strukturen verhindert und das freie Gleiten der empfindlichen Nervenstrukturen im Rückenmarkkanal ermöglicht. Im Wirbelkanal selbst befindet sich das Rückenmark, das zum Schutz von drei Häuten überzogen ist. Der Raum zwischen Rückenmark und Wirbelkörpern wird als Epiduralraum bezeichnet. Hier verlaufen die abgehenden Nerven des Rückenmarks sowie die Spinalganglien (an den Zwischenwirbellöchern liegende Nervenenden). Der Endbereich des Rückenmarks liegt im Bereich der unteren Brust- bzw. oberen Lendenwirbelsäule. Von dort aus ziehen Nervenfasern für Beine und Becken weiter durch den Wirbelkanal der Lendenwirbelsäule. Auf verschiedener Höhe verlassen die Nerven über die jeweiligen Nervenaustrittslöcher den Wirbelkanal, wodurch der Eindruck eines »Pferdeschweifs« (lat. »Cauda equina«) entsteht, den diese gebündelt verlaufenden Nervenfasern vermitteln (⊡ Abb. 5.2). An den Wirbelbögen befinden sich jeweils vier Gelenkfortsätze, sog. Wirbelgelenke oder Zwischenwirbelgelenke, die mit den jeweiligen darüber bzw. darunter liegenden Gelenkfortsätzen korrespondieren. Sie steuern, zusam-
65 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
men mit den Bandscheiben, die Bewegungsrichtung und den Bewegungsablauf einzelner Wirbelsäulenabschnitte, indem sie entsprechend der Stellung der Gelenkflächen bestimmte Bewegungsrichtungen freigeben und andere einschränken. Im Bereich der Halswirbelsäule sind die Gelenkfortsätze nahezu horizontal ausgerichtet, wodurch Rotations- und Nickbewegungen ermöglicht werden. Im Bereich der Brustwirbelsäule sind die Gelenkflächen schräg geneigt, dies begünstigt die Lateralflexion (Seitneigung). Im Bereich der Lendenwirbelsäule sind die Gelenkfortsätze von vorn nach hinten ausgerichtet – dies erlaubt Flexion (Beugung) und Extension (Streckung), beschränkt aber die Möglichkeiten zur Rotation und Lateralflexion. Durch Degeneration der Bandscheiben, die mit einem Höhenverlust einhergehen, nähern sich die Wirbelkörper einander an, und die Gelenkfortsätze können sich »verkeilen«, was zu einem Verlust an Beweglichkeit führt. Bandapparat
Der Bandapparat der Wirbelsäule sichert die einzelnen Wirbelsäulensegmente bei Bewegung. Die Bänder führen zu einer stabilen Verbindung der einzelnen Wirbel untereinander und ermöglichen hierdurch z. T. hohe mechanische Belastungen. Bei einer Bewegung der Wirbelsäule »bremsen« die kontralateralen, d. h. auf der gegenüberliegenden Körperseite befindlichen, Bänder diese ab. Bandscheiben
Die Verbindung zwischen zwei Wirbelkörpern wird durch die Bandscheiben hergestellt (⊡ Abb. 5.3). Mit Ausnahme der oberen Halswirbelgelenke befindet sich zwischen zwei freien Wirbelkörpern jeweils eine Bandscheibe. Somit besitzt die menschliche Wirbelsäule insgesamt 23 Bandscheiben – in der HWS 6, der BWS 12 und der LWS 5. Zusammen machen die Bandscheiben ca. 25% der Wirbelsäulenlänge aus. Die Bandscheibe ist gefäßlos, verformbar und druckelastisch. Ihre Funktion als »Stoßdämpfer« besteht im Auffangen von Druck-, Zug-, Scher- und Dehnungskräften (Wottke 2004). Die Bandscheiben bestehen jeweils aus zwei Elementen: dem Gallertkern und dem knorpeligen Faserring. Die schleimige Masse des Gallertkerns setzt sich aus elastischen Kollagenfasern zusammen. Hier liegt der Flüssigkeitsgehalt bei ca. 70–80%. Durch die Flüssigkeit wird die Bandscheibe elastisch, erhält Spannkraft und Druck wird gleichmäßig nach allen Seiten aufgebaut. Gleichzeitig wird der Abstand zwischen den einzelnen Wirbelkörpern aufrechterhalten. Der am Wirbelkörper angewachsene, aus konzentrisch angeordneten, bindegewebigen Kollagenfaserlamellen zusammengesetzte Faserring begrenzt diesen Druck nach außen und verhindert, dass der Gallertkern seine Position verändert. Dadurch wird eine hohe Festigkeit erzielt. Die Ernährung des Bandscheibengewebes wird über Diffusion und Bewegung gewährleistet. Zur Unterstützung dieses Effekts scheint zumindest nach tierexperi-
mentellen Studien die Einnahme von Gelatine als Nahrungsergänzung förderlich; das Eiweißprodukt gelangt über die Blutbahn zum Binde- und Stützgewebe zur Anlagerung am Knorpel und zur Anregung des Knorpelwachstums (Oesser u. Seifert 2003). Die Kieler Physiologen Oesser und Seifert haben durch Experimente mit Knorpelzellen und angereicherten Zellkulturen (Kollagenhydrolysat) gezeigt, dass es zu einer Stimulation der Synthese von Kollagen in den Knorpelzellen kam, die den Aufbau von neuem Knorpelgewebe anregt. Infobox
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Die Geweberegeneration bzw. -reparatur der Bandscheibe soll zunehmend mit biologischen Prozessen unterstützt werden. Experimentelle Verfahren auf diesem Gebiet, dem »Tissue Engineering«, konnten in den letzten Jahren aufgrund eines verbesserten Verständnisses der Wirkungsmechanismen auf zellulärer Ebene verfeinert werden (u. a. Mizuno 2006; An u. Masuda 2006; An et al. 2003; Walsh et al. 2004). Kritisch anzumerken ist, dass Knorpelregeneration bisher nur auf tierexperimenteller Basis nachgewiesen werden konnte.
Im Laufe des Tages nimmt die Flüssigkeitsmenge der Bandscheibe durch die mechanische Druckbelastung der Wirbelsäule ab, sodass der Mensch am Abend bis zu 2 cm kleiner ist als am Morgen. Im Liegen bzw. in der Nacht verringert sich der Druck auf die Bandscheibe und es folgt eine Auffüllung des Gallertkerns mit Flüssigkeit sowie Nährstoffen. Bandscheiben erhalten ihre Funktion sozusagen von der Bewegung – starres Sitzen, dauerhaftes Stehen oder Fehlbelastungen der Wirbelsäule führen zum Rückgang ihrer Versorgung. Sportarten wie Nordic Walking, Wandern, Rückenschwimmen oder Reiten massieren durch rhythmisch abwechselnde Be- und Entlastung die Wirbelsäule und dienen dadurch der Versorgung der Bandscheiben. Einseitige oder auf schnelle Bewegungsabläufe ausgerichtete Sportarten, wie Tennis, Fußball, Golf oder Mountainbiking, belasten die Bandscheiben ungünstig (u. a. Vad et al. 2003; Gerbino u. d’Hemecourt 2002). Mit zunehmendem Alter kann es bei einem Elastizitätsverlust der Bandscheiben zu irreversiblen Schädigungen am Knorpelgewebe kommen. Durch gezielte regenerative Maßnahmen kann ein solcher Elastizitätsverlust jedoch verlangsamt werden. So kann beispielsweise eine 15-minütige Stufenlagerung den gleichen Effekt hinsichtlich der Flüssigkeitsaufnahme der Bandscheibe erzielen wie 75-minütiges Liegen (Barthels 2003; Zimmermann 2000). Zudem deutet ein aktiver Lebensstil auf eine geringe Prävalenz von Rückenschmerzen im Alter hin (Hartvigsen u. Christensen 2007). Die Druckverhältnisse im Inneren der Bandscheibe verändern sich je nach Körperhaltung (⊡ Abb. 5.4). Bei
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Kapitel 5 · Rücken
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⊡ Abb. 5.4. Druckverhältnisse der Wirbelsäule bei Alltagsbelastungen (aus Wottke 2004)
einer symmetrisch-axialen Belastung werden die Kräfte gleichmäßig verteilt und weitergeleitet, lediglich die Bandscheibe flacht aufgrund der Kompression etwas ab. Bei einer asymmetrischen Belastung, wie dem Heben mit einseitig gebeugtem Oberkörper, versucht der Gallertkern zum weniger belasteten Bandscheibenabschnitt auszuweichen. Ist die asymmetrische Belastung nur kurzzeitig, so verlagert sich der Gallertkern wieder in sein ursprüngliches Zentrum zurück. Bei häufiger und länger andauernder asymmetrischer Belastung, z. B. Sitzen mit unphysiologisch gekrümmter Wirbelsäule, kann es langfristig durch den erhöhten ungleichmäßigen Druck des Gallertkerns zu Schädigungen im Bereich des Knorpelrings kommen. Treten Schmerzen im Bereich der Bandscheiben auf, wird zwischen zwei Schmerzarten unterschieden, die sich in ihrer Symptomatik, nicht jedoch in ihrem Ursprung ähnlich sind: Radikuläre Schmerzen bezeichnen Schmerzen, die nach einem Bandscheibenvorfall aufgrund mechanischer Nervenwurzelirritation meist in distale (weit entfernte) Körperbereiche in ihre zugeordneten Dermatome (zugeordnetes Hautsegment) ausstrahlen und Funktionsausfälle sowie Sensibilitätsstörungen verursachen können (⊡ Tabelle 5.1). Diese Art der Schmerzen tritt in ca. 5% der Fälle auf. Erleichternd wirken oftmals Lagerungen, z. B. die sog. »Stufenlagerung«, die die untere Lendenwirbelsäule entlastet. Als eher ungünstig erweist sich Sitzen, ebenso wie Bewegung (Hildebrandt u. Schöps 2001).
Exkurs
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Bandscheibenvorfall Ein Bandscheibenvorfall ist das plötzliche Austreten bzw. die Verlagerung von Gewebe des Gallertkerns der Bandscheibe in Richtung des Spinalkanals bzw. der Nervenwurzeln. Häufige Ursache sind Risse im bindegewebigen Faserring. Durch Kompression der Nervenwurzeln kann es u. U. neben Schmerzen zu Sensibilitätsstörungen oder Lähmungserscheinungen kommen (Pschyrembel 2002). Aufgrund der höheren Belastung der Lendenwirbelsäule treten in diesem Bereich Bandscheibenvorfälle häufiger als im Bereich der Halswirbelsäule auf.
Die so genannten Kennmuskeln sind bestimmten Wirbelsäulensegmenten zugeordnet. Durch Testung der Muskelreaktionen ist es möglich, das Segment zu bestimmen, in dem ein Bandscheibenvorfall vorliegt. Der betroffene Kennmuskel reagiert darauf mit einem Reflexausfall bzw. einer Reflexabschwächung. Pseudoradikuläre Schmerzen gehen im Unterschied zu den radikulären Schmerzen ursächlich vom Bewegungsapparat – Knochen, Bändern oder Muskulatur – aus (Mader u. Weißgerber 2005). Ein typisches Krankheitsbild ist der »Hexenschuss«, ein sehr starker, plötzlich »einschießender« Schmerz im Bereich der Lendenwirbelsäule.
67 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
⊡ Tabelle 5.1. Beispiele für die Zuordnung von Dermatomen, Kennmuskeln (u. a. aus Wottke 2004) Segment
Dermatom
Kennmuskeln
L3
Streckseite zur Innenseite des Oberschenkels bis hin zum Knie
Vierköpfiger Oberschenkelmuskel (Musculus quadriceps femoris)
L4
Außenseite Oberschenkel bis zum inneren Unterschenkel und inneren Fußrand
Vierköpfiger Oberschenkelmuskel (Musculus quadriceps femoris) und vorderer Schienbeinmuskel (Musculus tibialis anteriror)
L5
Äußerer Unterschenkel bis Großzehe
Langer Zehenstrecker (Musculus extensor hallucis longus)
S1
Rückseite Ober- und Unterschenkel bis Kleinzehe
Wadenbeinmuskulatur (Musculi peronaei und Musculi triceps surae)
Infobox
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Prävention
▬ Zur Entlastung der Wirbelsäule eignet sich eine Stufenlagerung. Hierbei ist es am einfachsten, sich flach auf den Rücken zu legen und die Unterschenkel im rechten Winkel auf einem Sessel o. Ä. abzulegen. Der Druck auf die Bandscheiben verringert sich und muskuläre Verspannungen werden gelockert. Durch leichte Anspannung der Bauchmuskeln wird der untere Rücken auf den Boden gedrückt und die Wirbelsäule zusätzlich entlastet. Es kommt zu einer vermehrten Flüssigkeitsaufnahme und dadurch zu einer Regeneration der Bandscheibe. ▬ Isometrische Spannungsübungen der Rückenmuskulatur dienen zur Erhaltung und Stärkung des Muskelstatus, besonders bei Muskelgruppen, die zum Abbau neigen (Bauchmuskeln, lange Rückenmuskeln). Darüber hinaus findet eine Stabilisierung und Funktionsverbesserung der Wirbelsäule statt (Barr et al. 2007). Diese Art der Übungen gestaltet sich ohne Bewegung und Belastung der Gelenke. ▬ Dehnungsübungen beugen der Verkürzung der Schulter-, Brust-, Rücken- und Beinmuskulatur vor – darüber hinaus verhindert das Dehnen, dass die jeweiligen Antagonisten (s. unten) gehemmt werden (Janda 2000). ▬ Erlernen und Fördern von Rückengesundheit sowie rückengerechtem Verhalten (nach Pfeifer 2006): a) Vermittlung von Information und Wissen zu Entstehungsmechanismen und Umgang mit Rückenschmerz, b) Vermittlung von Bewegungserfahrungen und Hinführung zu körperlicher Aktivität.
Muskulatur
Zur Ausführung einer aktiven Bewegung wird die Muskulatur benötigt. Zum einen ist die Muskelkraft der Ago-
nisten (diejenigen Muskeln, die eine Bewegung aktiv, also mittels Kontraktion, ausführen) für eine intendierte Bewegung erforderlich, zum anderen sind die Antagonisten (dem Agonisten entgegenwirkende Muskeln) für den Spannungsausgleich der Gegenseite notwendig. Die richtige Feinabstimmung, die Koordination, erfordert das Zusammenspiel der Agonisten und Antagonisten. Muskelkraft ist demzufolge allein nicht ausreichend: Einseitig trainierte, kräftige Rückenmuskeln genügen nicht, um z. B. Beschwerden vorzubeugen. zweithäufigste Ursache für Arztbesuche sind Rü» Die ckenschmerzen, basierend auf einer geschwächten Muskulatur. Als Folge kommt es zu einer Überlastung des beteiligten Bandapparates. Dr. Sabine Wedekind, Deutscher Olympischer Sportbund, Frankfurt/M.
«
Für die Ausführung einer Bewegung sind überwiegend mehrere Muskeln beteiligt, die in die gleiche Richtung arbeiten. Diese Muskeln werden als Synergisten, »Zusammenarbeitende«, bezeichnet. Sie bilden Muskelgruppen, wie die Gruppe der Bauch- oder der Rückenmuskeln. Die menschliche Skelettmuskulatur besteht mit den roten und weißen Fasern aus zwei Muskelfasersystemen mit unterschiedlichen Funktionen. 1. Rote Fasern, auch als posturale oder tonische Muskelfasern bzw. Haltemuskulatur bezeichnet, sind charakterisiert durch rasche Aktivierung, geringe Kraft und langsame Ermüdbarkeit. Diese Muskelfasern sind gut durchblutet. Die rote Farbe wird u. a. durch den hohen Gehalt an Myoglobin, dem Sauerstoffspeicher, verursacht. Die Energiebereitstellung geschieht durch aeroben Stoffwechsel bzw. Oxidation. Diese Muskelfasern neigen zu Verspannung und Verkürzung. Verspannungen der Muskulatur sind Überlastungserscheinungen – sie entstehen durch dauerhafte Kontraktion der Muskelfasern, woraus letztlich eine Inaktivierung der Muskulatur resultiert. Verkürzungen der Muskulatur, die durch unphysiologische Körperhaltungen entstehen, stellen eine verminderte Verlängerbarkeit der Muskeln dar.
5
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Kapitel 5 · Rücken
Infobox
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Prävention
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Verspannungen kann mit Dehnen oder auflockerndem Stretching entgegengewirkt werden. Durch das Dehnen wird der Muskel nicht strukturell länger, jedoch kann die Beweglichkeit erhalten bzw. gesteigert werden, daher sollten Dehnungen – in Kombination mit dem Kräftigen der Muskulatur – in der Prävention und im Gesundheitssport regelmäßig durchgeführt werden (Freiwald 2004). Alleiniges Dehnen reicht bei Verkürzungen jedoch nicht aus – hier ist eine Kräftigung der Antagonisten erforderlich, weil richtig durchgeführtes Krafttraining positive Auswirkungen auf die Beweglichkeit zeigt.
2. Weiße Fasern, auch als phasische Muskelfasern bzw. Bewegungsmuskulatur bezeichnet, reagieren auf Stimuli mit schneller Kontraktion und zeichnen sich durch rasche Ermüdbarkeit aus. Die weißen Muskelfasern neigen zu Atrophien, d. h. Muskelabbau. Diese Muskelfasern erscheinen hell aufgrund der geringen Durchblutung und sind fibrillenreich. Je mehr Fibrillen im Muskel vorhanden sind, desto kräftiger ist der Muskel. Die Energiebereitstellung erfolgt ohne Sauerstoffverbrauch (anaerob) – dabei wird Glukose aus dem endogenen Glykogenspeicher unvollständig verbrannt, wobei Laktat (»Milchsäure«) entsteht. Diese häuft sich in der Muskulatur an und kann ggf. zu Übersäuerung führen, was sich leistungsmindernd auswirkt. Exkurs
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Muskelkater Muskelkater bezeichnet Schmerzen der Muskulatur, die nach sportlicher Anstrengung – besonders bei untrainierten Muskeln – auftreten. Als Ursache wurde früher eine Übersäuerung der Muskulatur durch Milchsäure angenommen. Heute ist jedoch belegt, dass die Überlastung der Muskulatur durch mikrofeine Risse im Muskelgewebe verursacht wird (Thaller u. Mathelitsch 2006). Es entstehen Entzündungen, die die Muskelfasern anschwellen lassen und Schmerz auslösen. Ergebnisse einer Studie zeigen, dass Stretching vor oder nach Trainingseinheiten nicht vor Muskelkater schützen (Herbert u. Gabriel 2002). Jedoch zeigen altbewährte Heilmittel unterstützende Wirkung bei Muskelkater: Entspannungsbäder, Sauna, Massagen zur Lockerung der Muskulatur sowie durchblutungsfördernde Maßnahmen, um den Abtransport der Schlackstoffe im Gewebe anzuregen.
Physiologisch ist beim Menschen eine ausgewogene Muskelverteilung der beiden Fasertypen, also ca. 50% rote Muskelfasern und 50% weiße Muskelfasern (Wottke 2004).
Rückenmuskeln
Die Rückenmuskulatur ermöglicht dem Menschen die Aufrichtung und Beweglichkeit des Oberkörpers. Sie besteht aus einem Muskelgeflecht, das die Wirbelsäule stabilisiert. Die Rückenmuskeln lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die durch eine Faszie (die Muskulatur umhüllendes Bindegewebe) voneinander getrennt sind: 1. Die oberflächliche Rückenmuskulatur besteht im Wesentlichen aus vier Muskeln auf jeder Körperhälfte. Da diese Muskeln funktionell auch auf den Schultergürtel oder Arm wirken, werden sie auch als dorsale Schultergürtelmuskulatur bezeichnet. 2. Die tiefe oder autochtone Rückenmuskulatur umfasst den lateralen sowie den medialen Muskelstrang und besteht aus einer Vielzahl von kurzen und langen Muskelzügen (Wottke 2004). Ihre Funktion ist die Stabilisation, Aufrichtung und Feineinstellung der Wirbelsäule. Infobox
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Prävention Rückenmuskeln ermöglichen einen aufrechten Stand, Bauchmuskeln als Antagonisten beugen den Körper nach vorne. Das Zusammenspiel dieser beiden Muskelgruppen ermöglicht Seitwärtsneigungen und Drehbewegungen, wobei die Bauchmuskeln die Rückenmuskeln unterstützen. Die Wichtigkeit des Zusammenwirkens der beiden Muskelgruppen sollte auf jeden Fall auch beim Muskeltraining beachtet werden – wer seine Rückenmuskeln trainiert, sollte dies in gleichem Maß für seine Bauchmuskulatur tun, damit kein Ungleichgewicht entsteht, denn das muskuläre System des Menschen kann nur bei intakter Funktionsfähigkeit optimal genutzt werden. Eine detaillierte Übersicht zum Muskeltraining sowie Muskeleigendehnungen findet sich bei Wottke (2004).
im Rahmen der Prävention von Muskel» Wesentlich Skelett-Erkrankungen ist eine Kombination von Kräftigung und Dehnung der Muskulatur sowie Beweglichmachung und Mobilisierung der Gelenke. Thomas Siebert, Landessportbund Berlin
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Bauchmuskeln
Die Bauchmuskulatur, die gemeinsam mit den Rückenmuskeln das Muskelkorsett bildet, ist als Gegenspieler für die Bewegung der Wirbelsäule durch die Rückenmuskeln erforderlich. Ihre Funktion liegt in der Flexion, der Rotation und der Lateralflexion des Rumpfes, außerdem kann die Bauchmuskulatur als Atemhilfsmuskulatur oder zur Bauchpresse (z. B. bei Husten oder Niesen) eingesetzt werden.
69 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
Zudem ist sie am Ausbau der seitlichen, vorderen und hinteren Bauchwand beteiligt. Sie besteht im Wesentlichen aus den vorderen (geraden), den seitlichen (schrägen) und den hinteren (tiefen) Bauchmuskeln. Beckenboden
Der Beckenboden besteht aus drei übereinander liegenden Muskelschichten, die den Boden des Rumpfes bilden und das knöcherne Becken nach kaudal (zum Körperende hin gelegen) abschließen. Die Muskulatur ist höchst differenziert und eine genau aufeinander abgestimmte Konstruktion von Muskel- und Bindegewebeschichten, die sich in einem elastischen Geflecht verknüpfen. Mit dem Beckenboden ist die funktionelle Verbindung zwischen Rücken- und Bauchmuskulatur hergestellt. Darüber hinaus ist der Beckenboden mitverantwortlich für den Halt und die Lagesicherung wichtiger innerer Organe, wie Blase, Darm und Gebärmutter. Im muskulären Zusammenspiel stabilisiert und unterstützt der Beckenboden die Aufrichtung und somit die physiologische Körperhaltung (Hodges 2007). Bei falschem Hebe- und Trageverhalten, wie Heben mit gekrümmtem Rücken oder einseitiges Tragen von schweren Lasten, d. h. ohne Aktivierung des Beckenbodens, fällt dessen stabilisierende Funktion aus. Auch Schwangerschaft und Geburt können bei Frauen durch die Überdehnung der Muskeln und Bänder, die durch hormonelle Umstellung des Organismus weicher und dehnfähiger werden, zum funktionellen Abbau des Beckenbodens führen und dadurch Rückenschmerzen verursachen (Keller 2004). Die Rückenmuskulatur reagiert hierauf reflektorisch mit Verspannungen. Infobox
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Prävention Bis zu 40% der Frauen über 50 Jahren leiden an Inkontinenz, daher ist es erforderlich, den Beckenboden präventiv zu trainieren (Keller et al. 2005). Folgende Aspekte sollten bei einem Beckenbodentraining berücksichtigt werden: ▬ Training der aufrechten und aktiven Körperhaltung, ▬ Wahrnehmung des Beckenbodens, ▬ Trainieren der Beckenbeweglichkeit, ▬ Kräftigen der Beckenbodenbodenmuskulatur.
5.1.2 Rückenbeschwerden und -erkrankungen
Verspannte Muskulatur ist eine mögliche Ursache für Rückenschmerzen. Es liegt eine Überlastung zugrunde, die mikrofeine Risse in den Muskelfasern zur Folge hat. In diese kann Gewebeflüssigkeit eindringen und zu Ödemen führen – es entstehen schmerzhafte Schwellungen der
Muskelfasern (Thaller u. Mathelitsch 2006). Geschwollene Muskeln können überdies vorbeiführende Nerven reizen. In akuten Fällen ist eine Verringerung der körperlichen Aktivitäten durchaus sinnvoll, doch sollte bereits nach kurzer Zeit wieder mit ausreichender und regelmäßiger Bewegung begonnen werden, um Muskelabbau und somit eine schlechte Stabilisation des Rückens zu verhindern (van Tulder u. Koes 2003). Bewegung fördert zudem die Durchblutung, steigert den Stoffwechsel, versorgt die Gelenke ausreichend mit Nährstoffen und wirkt zugleich über die Anregung endogener chemischer Prozesse schmerzlindernd. Die körpereigene Schmerzhemmung setzt sog. Endorphine – abgekürzt von »endogenen Morphinen« – frei, die bei der Schmerzverarbeitung zum Einsatz kommen und die Schmerzwahrnehmung dämpfen, ähnlich Morphinpräparaten. Die Freisetzung dieser Stoffe kann an mehreren Orten erfolgen: Nerven, Rückenmark oder Gehirn ( Kap. 2). Infobox
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Prävention Mediale Information kann das Wissen zur Prävention von Rückenschmerzen erhöhen und schädliche Verhaltensweisen ändern. Dies zeigt eine in Australien durchgeführte Maßnahme mit dem Ziel, die Einstellung zu Rückenschmerzen positiv zu verändern, die begleitende medizinische Versorgung zu reduzieren sowie rückenschmerzbezogene Krankheitskosten zu senken. Hierzu wurden Werbespots im Fernsehen ausgestrahlt, die u. a. Informationen zur Vorbeugung von Rückenschmerzen bzw. Verhalten bei Rückenschmerzen enthielten. In den Ergebnissen der Studie zeigt sich, dass Meinungen zu Rückenschmerzen (»Mit Rückenschmerzen muss man sich schonen«) verändert werden und die Prävalenz von Rückenschmerzen gesenkt werden kann (Buchbinder u. Jolley 2001, 2007) ( Kap. 5.4). In der Schweiz startete 1997 für Ärzte die Fortbildungsveranstaltung »BACK in time«, zur Verhinderung der Chronifizierung unspezifischer Rückenschmerzen. Ziele sind die Erkennung von Warnzeichen und Risikofaktoren, das Ergreifen geeigneter therapeutischer Maßnahmen sowie die Stärkung der interdisziplinären Zusammenarbeit mit weiteren Therapeuten. Das Bundesministerium für Gesundheit startete 2005 mit einer medialen Aufklärung im Internet, mit Plakaten und Informationsmaterial Aufklärungsarbeit unter dem Titel »Deutschland wird fit – machen Sie mit«. Schwerpunkte sind u. a. die Vorstellung vorbildlicher Projekte für die gesundheitliche Prävention und die Prävention von Rückenschmerzen im Büro (www.die-praevention.de). ▼
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Kapitel 5 · Rücken
Das Sozialministerium Baden-Württemberg informierte 2004 in Kooperation mit verschiedenen Partnern (Landesärztekammer, Gesundheitsämter, Krankenkassen u. a.) die Bevölkerung über Ursachen von Rückenschmerzen und vorbeugende Maßnahmen. Hierzu konnten Broschüren über das Internet abgerufen werden, außerdem wurden Hinweise auf geeignete Rückenprogramme gegeben in Zusammenarbeit mit Sportvereinen, Krankenkassen und Fitnessstudios.
Soziale Umgebung
Krankheitsverhalten
Psychisches Leid
Haltungen und Überzeugungen
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Schmerz
Dauer und Art der Rückenschmerzen
Der Leitlinien-Clearing-Bericht des »akuten Rückenschmerzes« klassifiziert Rückenschmerzen nach ihrer Dauer bzw. Art der Schmerzen (ÄZQ 2001). ▬ Akuter Rückenschmerz – Die Schmerzdauer beträgt weniger als einen Monat mit einer vorangegangenen, mindestens sechsmonatigen schmerzfreien Zeit. ▬ Subakuter Rückenschmerz – Die Schmerzdauer beträgt ein bis drei Monate mit einer vorangegangenen mindestens sechsmonatigen schmerzfreien Zeit. ▬ Subchronischer Rückenschmerz – Die Schmerzdauer beträgt bis zu vier Wochen mit einer vorangegangenen, weniger als sechsmonatigen schmerzfreien Zeit. ▬ Chronischer Rückenschmerz – Die Schmerzdauer beträgt mehr als drei Monate. Spezifische Rückenschmerzen treten in ca. 1–5% der Fälle auf. Als Ursachen hierfür können spezifische Pathomechanismen verantwortlich sein, u. a. Tumore, Frakturen oder entzündliche Prozesse (Ekkernkamp et al. 2004; Waddell 1987). Unspezifische Rückenschmerzen besitzen mit Abstand den größten Anteil an den gesamten Rückenschmerzen: Ungefähr 80% der Rückenschmerzen werden als unspezifisch bezeichnet. Ihnen kann keine klare Schmerzursache zugeordnet werden (Kohlmann u. Schmidt 2005). Psychosoziale Komponenten
In vielen Fällen beeinflussen psychische und soziale Faktoren den Krankheitsverlauf mit, die sich auf Verhalten und Umgang mit Schmerz beziehen. Das biopsychosoziale Modell für Rückenschmerzen nach Waddell (1998) in ⊡ Abb. 5.5 verdeutlicht die Auswirkungen eines Schmerzreizes. Die emotionale Reaktion auf den wahrgenommenen Schmerz wird von den geistigen Haltungen und Überzeugungen einer Person beeinflusst. Weitere wesentliche Einflussfaktoren stellen das Krankheitsverhalten sowie die soziale Umgebung dar (Familie, Arbeitsplatz). Diese können u. U. entscheidend für die Aufrechterhaltung bzw. Chronifizierung des Schmerzes auch nach der Gewebeheilung sein.
⊡ Abb. 5.5. Biopsychosoziales Modell nach Waddell u. Main (1998)
Resultat von Präventionsmaßnahmen müsste eine » Das Konditionierung nicht nur der körperlichen, sondern auch der psychosozialen Grundeigenschaften sein. « Prof. Dr. Erich Schmitt, Forum Gesunder Rücken – besser Leben e.V., Wiesbaden
Psychosoziale Faktoren, wie Depressionen und Ängste (z. B. Angst vor Stellenverlust, verbunden mit sozialer Isolation), kommen als mögliche Krankheitsauslöser in Frage. Sie können Krankheitsverläufe negativ beeinflussen oder eine Chronifizierung begünstigen (Pfingsten 2005; Hildebrandt u. Schöps 2001). Störungen des psychischen Wohlbefindens, z. B. durch Probleme im Beruf oder Konflikte in der Familie, können sich auf körperlicher Ebene widerspiegeln und das vegetative Nervensystem beeinflussen. Als Reaktion auf erhöhte psychische Anspannung folgt u. a. eine Erhöhung des Muskeltonus, die als Konsequenz Verspannungen oder Rückenschmerzen nach sich ziehen kann. Hiermit verbundene Schmerzen beeinträchtigten die Beweglichkeit und das Bewegungsausmaß, es kommt zu Inaktivität und häufig auch Schonhaltungen. Eine eindeutige organische Ursache für die Beschwerden wird meist nicht gefunden, doch durch anhaltend verspannte Muskulatur sind langfristig körperliche Veränderungen (Muskelabbau durch Inaktivität, Gelenkfehlstellungen durch falsche Belastungen) möglich ( Kap. 5.3). Psychosoziale Belastungen können demzufolge mit biomechanisch messbaren, muskulären Defiziten in Verbindung stehen (Harter u. Schifferdecker-Hoch 2004). Zunächst hat eine Tonuserhöhung (Erhöhung der Muskelspannung) der Muskulatur, hier der Rückenmuskulatur, eine Schutzfunktion; bei längerer Dauer dieser Bewegungsblockierung kann es allerdings zu Funktionsein-
71 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
5.1.3 Krankheitsbilder Psychische Belastungen
Leistungsverlust
Verspannung/ Schmerz
Stress
⊡ Abb. 5.6. Teufelskreis Psyche – muskuläre Verspannung. Psychische Belastungen verursachen Stress – die Muskelspannung erhöht sich und kann Verspannungen auslösen – hierdurch entsteht Leistungsverlust, der sich als Folge negativ auf das psychische Gleichgewicht auswirken kann und erneut Stress auslösen kann
schränkungen mit Schmerzen kommen, die in der Folge erneut zu psychischen Belastungen führen kann (Mucha 2001) – ein »Teufelskreis« entsteht (⊡ Abb. 5.6). im Rahmen der Prävention von Muskel» Wesentlich Skelett-Erkrankungen ist die Orientierung am biopsychosozialen Gesundheitsverständnis der WHO, also an der Salutogenese und der Ressourcenorientierung. Ulrich Kuhnt, Rückenschule Hannover
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Exkurs
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Stress Der Begriff »Stress« wird meist allgemein verwendet, wobei die Auslöser für Stress individuell verschieden sind. Allgemein wird unter Stress eine Belastung, Störung oder Überforderung der psychischen und/ oder physischen Anpassungskapazitäten verstanden (Vester 1976). Physiologisch zeigen sich verschiedene Symptome (u. a. erhöhte Aktivität des sympathischen Nervensystems, das für die Steuerung der Willkürmotorik zuständig ist, Steigerung des Muskeltonus), die durch verschiedene Reize hervorgerufen werden können (u. a. Ärger, Freude, Verletzungen). Stress – besonders am Arbeitsplatz – ist von wesentlicher Bedeutung, da er zu krankheitsbedingten Ausfällen führen kann. Zunahme von Stress, dauerhafte Belastungen im beruflichen oder privaten Alltag, übersteigerte schmerzbezogene Wahrnehmung kann für die Entstehung bzw. Persistenz von Rückenschmerzen verantwortlich sein (Hasenbring et al. 2001; Pincus et al. 2002). Eine zusammenfassende Darstellung kann z. B. dem »Weißbuch Prävention: Stress?« entnommen werden.
Lumbago
Eine Lumbago (auch: Lumbalgie, »Kreuzschmerzen«) ist charakterisiert durch akute und/oder chronische Schmerzzustände ohne weitere Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule und zeigt keine radikuläre Symptomatik (Mader u. Weißgerber 2005). Von einer Lumbalgie wird gesprochen, wenn die Schmerzen sich in der Region zwischen der unteren Brustwirbelsäule und dem Becken befinden. Ursachen können u. a. Verschleißerscheinungen an Wirbelkörpern oder -gelenken sein, Osteoporose oder Wirbelgleiten; resultierende Symptome sind überlastungsbedingte Reizzustände mit Schmerzen an Band- und Muskelansätzen. Ischialgie
Die Ischialgie bezeichnet keine spezielle Erkrankung, sondern ein Beschwerdebild. Hauptsymptom ist ein starker Schmerz, der im Verlauf des Ischiasnervs lokalisiert ist. Dieser kann von der Hüftgegend in den Ober- und Unterschenkel bis in die Zehen ausstrahlen. Funktionelle Erkrankungen
Muskuläre Dysbalancen sind muskuläre Ungleichgewichte, die zu Fehlhaltungen und Fehlbelastungen führen und heftige Schmerzen mit z. T. dauerhaften Schäden am beteiligten Gewebe hervorrufen können. Blockaden und Instabilität betreffen Funktionsstörungen der Wirbelgelenke. Eine Hypomobilität vermindert die Beweglichkeit und führt ggf. zur einer Blockierung der Wirbelgelenke. Hypermobilität dagegen erhöht die Beweglichkeit, führt zu Überbeweglichkeit und somit zu einer Instabilität der Wirbelgelenke. Bei der Hypermobilität kann es zum sog. Wirbelgleiten (Spondylolisthesis) kommen: Zwei Wirbel verschieben sich gegeneinander; meist gleitet der obere von zwei Wirbeln nach vorn. Dadurch werden die betroffenen Wirbelgelenke und Bandscheiben belastet, was Beschwerden in Form von Muskelverspannungen zur Folge haben kann (Keller 2004). Die Prävalenz der Hypermobilität liegt, überwiegend bei Frauen, bei ca. 3% (Schilling 2004). Exkurs
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Muskelverspannungen Unter Muskelverspannung werden länger anhaltende, unwillkürliche Kontraktionen eines Muskels verstanden, die im EMG (s. unten) nachweisbar sind und schmerzhaft oder schmerzlos sein können (Mense 2000). Als Ursache wird eine Mangelversorgung der Muskulatur (Ischämie, Verminderung der Durchblutung) mit Freisetzung des Hormons Bradykinin vermutet. Letzteres führt durch seine blutgefäßverengende Wirkung zu einer Tonuserhöhung der Muskulatur. Dieses Hormon ist darüber hinaus an der Schmerzerzeugung beteiligt.
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Kapitel 5 · Rücken
Infobox
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Prävention
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Mögliche Maßnahmen der physikalischen Therapie zur Vorbeugung bzw. Linderung von verspannter Muskulatur und ihre Wirkungen: ▬ thermische Anwendungen, z. B. Wärmeapplikationen, wirken schmerzlindernd, ▬ Massagen ermöglichen die Eutonisierung der Muskulatur (Lehmann u. de Lateur 1982), ▬ Entspannungsübungen, z. B. Autogenes Training oder Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson zur Entspannung der Muskulatur.
Degenerative Erkrankungen
Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule mit Beteiligung der Bandscheiben scheinen zunächst die wahrscheinlichste Ursache von persistierenden Lumbalgien bzw. Ischialgien zu sein. Bandscheibenvorwölbung/-protrusion. Ist die Bandscheibe nicht mehr in der Lage zu regenerieren (durch ungenügende Entspannung und Entlastung des Bewegungssegments im Liegen), so treten Ernährungsstörungen der Bandscheibe auf und der Prozess des Bandscheibenverschleißes beginnt. Infolgedessen können unphysiologische Belastungen der Wirbelsäule wie ungünstiges Sitzverhalten zu Verspannungen führen und Stoffwechselund Funktionsstörungen verursachen. Im weiteren Verlauf besteht die Gefahr der Austrocknung und Brüchigkeit der Bandscheibe. Es entstehen irreparable Risse im Faserring, wodurch sich der Gallertkern aus dem Inneren der Bandscheibe verlagert und die Bandscheibe sich insgesamt vorwölbt, sodass sich Veränderungen in ihrer Form ergeben – hier wird von einer Protrusion gesprochen (Breitenfelder 2003). In der Regel klingt die akute Schmerzsymptomatik rasch ab, meist durch Entlastung wie Bettruhe, Physiotherapie, physikalische und medikamentöse Maßnahmen. Bandscheibenvorfall/-prolaps. Beim Bandscheibenvorfall reißt der äußere Faserring der Bandscheibe und das Bandscheibengewebe des weichen Gallertkerns kann in direkten Kontakt mit Nervenwurzeln oder/und Rückenmark treten. Durch mechanischen Druck des ausgetretenen Gewebes in Richtung des Rückenmarks können Irritationen der Nervenwurzeln mit ausstrahlenden Schmerzen im Verlauf der betroffenen Nerven entstehen. Eine Störung einer oder mehrerer Nervenwurzeln hat meist Funktionsausfälle der Muskulatur sowie Gefühlstörungen und starke Schmerzen zur Folge. Die unteren Bandscheiben der Lendenwirbelsäule sind besonders anfällig für einen Bandscheibenvorfall, da sie den überwiegenden Teil des Gewichts der Wirbelsäule tragen und somit die Druckbelastung sehr hoch ist (Breitenfelder 2003).
Das zervikale Syndrom beschreibt Symptome, die direkt oder indirekt auf degenerative Veränderungen der Bandscheiben der Halswirbelsäule zurückzuführen sind. Hierzu zählen u. a. Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule, Muskelverspannungen im Schulter-NackenBereich, Kopfschmerzen und Schwindel (Wottke 2004). Das lumbale Syndrom beschreibt Symptome, die direkt oder indirekt auf degenerative Veränderungen der Bandscheiben der Lendenwirbelsäule zurückzuführen sind. Hierzu zählen u. a. Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule und ausstrahlende Schmerzen ins Bein (Wottke 2004). Das Iliosakralsyndrom beschreibt Symptome, die direkt oder indirekt auf degenerative Veränderungen oder Reizzustände des kaum beweglichen Kreuz-Darmbein-Gelenks (Iliosakralgelenk, ISG) zurückzuführen sind. Druckbelastungen oder plötzliche Erschütterungen können dazu führen, dass sich diese Gelenkflächen gegeneinander verschieben und Schmerzen im unteren Rücken auslösen, der u. U. auch in die distalen Körperregionen ausstrahlen kann. Bleibt die Blockade dieses Gelenks bestehen, kann dies dauerhaft zu einem Beckenschiefstand führen. Arthrose. Ähnlich den Bandscheiben kann es durch
Traumata, Entzündungen und Degeneration an den Knorpelflächen der Wirbelgelenke zu Schäden kommen (Buckwalter u. Mankin 1997). Sie werden dünner und sind nicht mehr in der Lage, Belastungen so gut abzupuffern. Krankheitscharakter bekommen derartige degenerative Erscheinungen allerdings erst beim Auftreten von Beschwerden. Symptome zeigen sich in Form von schmerzhaften Verspannungen der Rückenmuskulatur aufgrund unphysiologischer Belastung und hieraus resultierender Fehlhaltungen der Wirbelsäule. Der vom Wirbelgelenk (der sog. »Facette«) ausgehende Schmerz wird als »Facettensyndrom« bezeichnet. Diese, teilweise ausstrahlenden, Wirbelgelenksbeschwerden verstärken sich bei Rückneigung des Rumpfes und Hohlkreuzbildung. Neben chronisch-degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule existieren noch andere Ursachen für Rückenschmerzen, z. B. Unfälle. Bei einem Schleudertrauma liegt die Ursache in einer Beschleunigungsverletzung im Bereich der Halswirbelsäule vor (Keller 2004). Der Kopf wird ruckartig vor und zurück geschleudert, die einwirkenden Kräfte überdehnen die Muskeln und Bänder der Halswirbelsäule. Die Folge ist reflektorisch auftretender Muskelhartspann und Steifheit im Hals- und Schulterbereich. In schweren Fällen können Übelkeit und Schwindel sowie Schluckbeschwerden hinzukommen. 5.1.4 Rückenschmerzen als Symptom
Verschiedene Krankheiten können u. a. Rückenschmerzen als Symptom zeigen. Meist sind hierbei Schmerzen
73 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
verantwortlich, die in einer anderen Region des Körpers lokalisiert sind und von dort in den Rücken ausstrahlen. Im Unterschied zu primären Rückenschmerzen, die überwiegend aus mechanischen Fehlbelastungen resultieren, sind von anderen Primärerkrankungen verursachte Rückenschmerzen meist konstant und unabhängig von körperlichen Belastungen. Folgende Erkrankungen können u. a. zu Rückenschmerzsymptomatik führen: Darmerkrankungen, Erkrankungen des urogenitalen Systems, Krebserkrankungen (Tumore bzw. Metastasen an der Wirbelsäule) und Magengeschwüre.
5.1.5 Diagnostik
Eine erfolgreiche Therapie basiert auf einer differenzierten Diagnosestellung. Jedoch ist es nicht erforderlich, bei jedem Anzeichen von Rückenschmerz alle zur Verfügung stehenden Untersuchungsverfahren in Anspruch zu nehmen. Abhängig vom Beschwerdeausmaß und den ersten
Untersuchungsergebnissen sollte das weitere Vorgehen gewählt werden (Klüppel u. Kuhnt 2006). Zu Beginn der Diagnostik steht das Anamnesegespräch, in dem nach den Beschwerden, ihrem Auftreten und dem vermutlichen Auslöser gefragt wird. Weitere Fragen berücksichtigen psychosomatische Faktoren (z. B. familiäre Belastungen, Stress am Arbeitsplatz). Im Anschluss an das Untersuchungsgespräch folgen die funktionellen Untersuchungen – hierbei stehen die körperlichen Funktionen (z. B. Muskeltests) des Patienten im Vordergrund, die ohne größeren technischen Aufwand durchführbar sind. Ist durch diese Art der Untersuchungen kein eindeutiges Ergebnis sichtbar, so werden bildgebende Verfahren hinzugezogen – hierzu zählt u. a. die Computertomographie. ⊡ Tabelle 5.2 zeigt die verschiedenen Untersuchungsmethoden in der Übersicht. Zu spezifische Diagnostik bei unspezifischen Rückenschmerzen birgt jedoch die Gefahr der Überdiagnostik, sodass Bagatellbefunde überinterpretiert werden und u. U. die Chronifizierung von Rückenschmerzen begünstigen.
⊡ Tabelle 5.2. Untersuchungsmethoden bei Rückenschmerzen in der Übersicht (eigene Darstellung unter Berücksichtigung von Klüppel u. Kuhnt 2006; Keller 2004; Wottke 2004) Funktionelle Untersuchung Ziel: Überprüfung der Funktionsweise einzelner Wirbelsäulenabschnitte
Bestimmung des Bewegungsausmaßes Ermittlung möglicher Bewegungsrichtungen Tastbefund (»Palpation«) zur Erkennung von Muskelverhärtungen bzw. -verspannungen und Schmerzen Motorische Tests zur Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Muskulatur Sensorische Tests zur Überprüfung von Berührungs-, Temperatur- und Schmerzempfinden Reflextestung im Seitenvergleich zur Lokalisation von Läsionen im zugeordneten Wirbelsäulensegment
Bildgebende Verfahren Mit bildgebenden Verfahren ist generell keine Aussage über die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Wirbelsäule möglich, da nur eine statische Abbildung von Strukturen vorliegt. Oftmals ist es jedoch eine beeinträchtigte Funktion der Wirbelsäule, die als Ursache für Rückenschmerzen in Erwägung gezogen werden muss.
Röntgen stellt das älteste bildgebende Verfahren dar, mit dem Strukturen relativ hoher Gewebedichte im Körper gut sichtbar gemacht werden können (u. a. Knochen). Diese Untersuchung eignet sich in ihrer Aussagefähigkeit gut, um die Statik bzw. Haltung der Wirbelsäule sichtbar zu machen sowie Knochenverletzungen zu erkennen. In der Computertomographie (CT) werden Röntgenschichtaufnahmen des Körpers in verschiedenen Höhen angefertigt. Die Aufnahmen unterschiedlicher Gewebestrukturen und -dichten werden mittels Computer ausgewertet und optisch dargestellt. Durch dieses Verfahren lassen sich neben knöchernen Strukturen auch Bandscheiben, Muskulatur und Weichteile erkennen und krankhafte Veränderungen an der Wirbelsäule und den zugehörigen Gewebestrukturen darstellen. Ein Bandscheibenvorfall kann mit einem CT genau lokalisiert und in seiner Ausdehnung bestimmt werden. Weiterhin sind Beurteilungen über betroffene Nerven bzw. das Rückenmark möglich. In der Kernspintomographie, auch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) genannt, wird das Körperinnere in allen Ebenen – ohne Röntgenstrahlen – dargestellt. Hierbei werden die Körperzellen durch magnetische Wellen in Schwingung versetzt, diese Schwingungen werden gemessen und bildlich dargestellt. Es kann eine genaue Aussage zu den Gewebestrukturen und deren Schädigung im Bereich der untersuchten Körperregionen getroffen werden. (Dehydrierte Bandscheiben treten im fMRT z. B. als sog. »black disc« auf, sie stellen sich aufgrund ihres mangelnden Flüssigkeitsgehalts dunkel dar).
Weitere
Durch eine Elektromyographie (EMG) besteht die Möglichkeit, motorische Störungen objektiv zu betrachten und Aussagen über die Muskelfunktion zu treffen, die ansonsten nur subjektiv durch Testung der grobmotorischen Muskelkraft beurteilbar sind.
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Kapitel 5 · Rücken
Rahmen der Prävention von Muskel-Skelett» ImErkrankungen ist eine Motivierung zu altersangemessenem Bewegungsverhalten bezüglich Ausdauer und Geschicklichkeit sowie ein leistungsgerechter Trainingsaufbau wesentlich. Reinhard Mann, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln
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5.1.6 Präventive Aspekte zur Vermeidung von
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Beeinträchtigungen und degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule Als Konsequenz eines bewegungsarmen Lebens zeigen sich frühzeitig Einschränkungen im Muskel-Skelett-System. Je gezielter der Körper in physiologische Bewegung gebracht wird, desto größer wird die Beweglichkeit. Somit wird das Risiko ernsthafter Beschwerden und Erkrankungen des Bewegungs- bzw. Muskel-Skelett-Systems verringert. Daher stellt körperliches Training eine geeignete präventive Maßnahme dar (Banzer et al. 1998) (⊡ Tabelle 5.3). Analysegestützte Trainingsprogramme ermöglichen das Trainieren verschiedener Muskelgruppen für einen gesunden Rücken nach vorausgegangener Untersuchung auf muskuläre Schwächen. Hierzu zählen u. a. die Bauchund Rückenmuskeln, die das »Korsett« des Rückens bilden, hinzu kommen Muskelgruppen des Beckens, der Beine und des Schultergürtels. Durch das Training der Muskulatur wird diese gekräftigt, die Rumpfbeweglichkeit erhöht, die Verletzungshäufigkeit wird gesenkt, und – über die verbesserte Durchblutung – die Anregung von Stoffwechsel- und Reparationsprozessen gefördert (Harter et al. 2005). zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkran» Ansätze kungen müssen alle Altersgruppen in allen Lebensbereichen erreichen. « Dr. Doris Pfeiffer, Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Berlin
Ergebnisse durchgeführter Studien bestätigen die Aufforderung, sich bei akuten Rückenschmerzen zu bewegen und lange Bettruhe zu meiden, da die Heilungsrate sich hierdurch verringern kann (van Tulder u. Koes 2003). Andere Untersuchungen zeigen die Schäden von zu langen Zeiten der Inaktivität bzw. Bettruhe auf (Hagen et al. 2004). Gute Ergebnisse in der Prävention zur Vermeidung bzw. Reduzierung von Rückenschmerzen sind durch körperliches Training zu beobachten (Burton 2005; Linton u. van Tulder 2001). Bei chronischen Rückenschmerzen zeigen sich positive Effekte von Rückenschulen am Arbeitsplatz (van Tulder et al. 2003). Eine Langzeitwirkung konnte bislang jedoch nicht nachgewiesen werden. Positive Effekte hinsichtlich einer Schmerzreduktion, einer rückläufigen Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen
(AU-Tage) sowie ein »return on investment« zeigt eine Studie zur Effektivität und Kosteneffektivität von Rückenschulen (Walter et al. 2002). Ein Rückgang der AU-Tage konnte nach Durchführung einer Rückenschulmaßnahme nachgewiesen werden, die positive Auswirkungen auf die Lebensqualität der Teilnehmer im Sinne einer Schmerzreduktion hatte ( Kap. 5.4). Untersuchungen der U.S. Preventive Services Task Force lassen keine Evidenz für die Wirksamkeit rückenmuskelstärkender Übungen im Bereich der Primärprävention erkennen. Rückenschulen zeigen allenfalls kurzzeitige Effekte, doch ergab sich ansonsten sowohl präventiv als auch kurativ kein Wirksamkeitsnachweis (USPSTF 2004). Weitere Ausführungen finden sich im Kapitel »Evidenzbasierung der Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen« ( Kap. 5.2). Infobox
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Prävention Unspezifische Rückenschmerzen stellen keine schwerwiegende Erkrankung dar (Pfeifer 2006). Mit einer gesteigerten körperlich-sportlichen Aktivität ist eine positive Veränderung der eigenen Einstellung zu Rückenbeschwerden möglich. Der Aufbau von Bewegungskompetenz durch präventive Rückengymnastik lässt sich mit Elementen aus der orthopädischen Rückenschule gestalten: ▬ regelmäßige Bewegung, ▬ häufiger Positionswechsel (Sitzen – Stehen – Laufen – Sitzen), ▬ schwere Gegenstände mit geradem Rücken heben (⊡ Abb. 5.7), ▬ Gewichtsverlagerung im Stehen, ▬ Lasten verteilen auf zwei Taschen bzw. Benutzen eines Rucksackes (⊡ Abb. 5.8) Als Sportarten eignen sich solche, die die Wirbelsäule entlasten und den Kreislauf gleichmäßig belasten: ▬ Rückenschwimmen, ▬ Nordic Walking, ▬ Wandern, ▬ Radfahren. Auf betrieblicher Ebene bestehen folgende Möglichkeiten für präventive Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Verringerung von Rückenschmerzen (Lühmann 2004): ▬ Implementation von bewegungsorientierten Programmen im Betrieb (z. B. Rückengesundheitskurse, Sportgruppen), ▬ Risiko- und Problembewertung zu Arbeitsbelastungen mit der Umsetzung erforderlicher Änderungen, um Interventionen auf individueller bzw. organisatorischer Ebene umzusetzen (z. B. ergonomische Interventionen).
75 5.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze zu Rückengesundheit
⊡ Tabelle 5.3. Einflussfaktoren körperlichen Trainings (u. a. aus Banzer et al. 1998) Genereller Einfluss körperlichen Trainings
Verbesserung im Herz-Kreislauf-System Steigerung der Stoffwechsels Verbesserung des Blutkreislaufs und der Hormonproduktion
Einfluss körperlichen Trainings auf den Bewegungsapparat
Verbesserung der Beweglichkeit Erhöhung der Muskelkraft Erhöhung der Muskelausdauer
Positive Beeinflussung der Psyche
Verbesserung der Stimmung Veränderte Schmerzwahrnehmung
5.1.7 Fazit
⊡ Abb. 5.7. Falsches versus rückengerechtes Hebeverhalten (aus Wottke 2004)
Das Kapitel zeigte die Anatomie und physiologische Funktionsweise der Wirbelsäule und ihrer Muskeln auf. Häufig auftretende Krankheitsbilder sowie präventive Maßnahmen zur Verhinderung bzw. Verminderung von Bewegungseinschränkungen wurden dargestellt. Dabei wird deutlich, dass der körperlichen Aktivität bei der Prävention und Behandlung ein besonderer Stellenwert zukommt. Wesentliche Bedeutung der inneren Einstellung der Betroffenen zu Rückenschmerzen wird von Waddell (2007) betont. Denn die Art, wie auf Rückenschmerzen reagiert wird, zeigt sich u. a. im Bewegungsverhalten im Alltag oder am Arbeitsplatz. Präventive Maßnahmen sollten sich daher mit der Notwendigkeit von regelmäßiger körperlicher Aktivität und rückenfreundlichem Verhalten befassen. Zudem sollten Risiken von zu langer Inaktivität und Schonung sowie Zusammenhänge zwischen Rückenschmerzen und psychischer Belastung, beispielsweise Stress, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder in familiären Situationen, aufgezeigt werden (Butzlaff et al. 2003). Nicht zuletzt kann ein Umdenken im Umgang mit Rückenschmerzen viel bewirken (Pfeifer 2004). Dies gilt sowohl für die Betroffenen als auch für die Professionellen im Gesundheitswesen. Literatur
⊡ Abb. 5.8. Wirbelsäulengerechtes Trageverhalten (aus Wottke 2004)
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Kapitel 5 · Rücken
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77 5.2 · Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen – Auf welcher Evidenz basieren Empfehlungen?
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5.2
Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen – Auf welcher Evidenz basieren Empfehlungen?
Dagmar Lühmann 5.2.1 Rückenschmerzen:
Häufigkeit und Verläufe »Unspezifische« Rückenschmerzen – d. h. solche, bei denen sich kein unmittelbares organisches Korrelat als Beschwerdeauslöser identifizieren lässt – gehören zu den häufigsten Beschwerden überhaupt. Bevölkerungsbezogene Untersuchungen haben festgestellt, dass bis zu 80% aller Befragten schon mindestens einmal in ihrem Leben unter Rückenschmerzen gelitten haben ( Kap. 3.4). In einer repräsentativen Umfrage der über 14-jährigen Bevölkerung gaben 69% der Befragten an, in den letzten zwölf Monaten unter Rückenschmerzen gelitten zu haben, 15% der Betroffenen berichteten sogar über tägliche Rückenschmerzen (BKK u. TNS Healthcare 2006). Betrachtet man die Krankheitslast nach Schweregraden, sind an einem beliebigen Befragungstag 10% der Bevölkerung (bzw. 16% aller Rückenschmerzpatienten) von schweren Schmerzen, die auch mit schweren funktionellen Beeinträchtigungen einhergehen, betroffen (Hüppe et al. 2006). Unter den Ursachen für Arbeitsunfähigkeiten und medizinische Rehabilitationsmaßnahmen nehmen Rückenschmerzen jeweils den ersten Rang ein, bei den Anlässen für vorzeitige Berentungen wegen Erwerbsunfähigkeit stehen sie an zweiter Stelle (Schmidt u. Kohlmann 2005). Bei der Beschreibung des Verlaufs von Rückenschmerzen werden akute Beschwerden, chronische Schmerzen und rezidivierende Verläufe unterschieden. Der Leitlinienbericht »Rückenschmerzen« der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung (ÄZQ 2001) schreibt: »Akuter Rückenschmerz definiert den Rückenschmerz, der nicht wiederkehrend oder chronisch ist und der kürzlich und plötzlich aufgetreten ist.« Patienten mit einer akuten Episode von Rückenschmerzen sind in über 90% der Fälle nach einigen Wochen wieder beschwerdefrei (Coste et al. 1994). Die Definition von »chronisch« ist weniger eindeutig. Hüppe und Raspe (2005) fanden in ihrer sys-
tematischen Literaturübersicht von 40 therapeutischen/ epidemiologischen Studien allein neun verschiedene Definitionen von »chronisch«. Darunter zogen vier Konzepte zur Beschreibung der Chronizität ausschließlich die Zeitdauer der Beschwerden heran (am häufigsten wurde eine Schmerzdauer von mehr als sechs Monaten als »chronisch« beschrieben), vier weitere betrachteten neben der Dauer auch Funktionsbeeinträchtigungen. Als »rezidivierend« werden wiederkehrende Krankheitsverläufe bezeichnet. Hierbei wechseln sich Rückenschmerzepisoden und beschwerdefreie Intervalle ab, wobei die Dauer einer Schmerzepisode drei Monate nicht überschreitet. Bis vor etwa 20 Jahren galten Rückenschmerzen vor allem als Problem der erwachsenen Bevölkerung – ausgelöst und verstärkt durch körperliche Belastungen am Arbeitsplatz und bei der Hausarbeit. Seit Mitte der 1980er Jahre zeigte jedoch eine Reihe von Untersuchungen an Schulkindern und Heranwachsenden, dass das Problem »Rückenschmerzen« bereits unter Jugendlichen häufig ist und eine erhebliche Krankheitslast verursacht. Die kumulative Inzidenz bei 20-Jährigen wird mit 74% angegeben, in einer Studie an 11- bis 14-jährigen Schulkindern in Großbritannien wurde eine Ein-Monats-Prävalenz von 25% ermittelt (Troussier et al. 1994; Watson et al. 2002).
5.2.2 Risikofaktoren
Wenn sich auch für die »unspezifischen« Rückenschmerzen keine eindeutige Ursache ermitteln lässt, so konnte doch eine Reihe von Risikofaktoren identifiziert werden, die dazu beitragen, dass bei einem Teil der Betroffenen gelegentliche Rückenschmerzepisoden häufiger rezidivieren und im Endeffekt einen chronischen und invalidisierenden Verlauf nehmen. Bis in die 1980er Jahre wurde angenommen, dass die Hauptrisikofaktoren für Rückenprobleme unter den biomechanischen Einflussgrößen, wie Fehlbelastungen durch schweres Heben und Tragen, langes Sitzen oder »krumme« Haltung, zu suchen sind (Nachemson 1975). Neuere Forschungsergebnisse dagegen legen nahe, dass die Entstehung bzw. Chronifizierung von Rückenschmerzen mit den nachfolgenden Beeinträchtigungen einem biopsychosozialen Modell folgt, in dem psychologischen und sozialen Faktoren eine eher noch größere Bedeutung zukommt als den biomechanischen Einflussgrößen (Waddell 2004). Risikofaktoren für rezidivierende Rückenschmerzen bzw. für chronifizierende Beschwerden bei Erwachsenen wurden in einer Vielzahl von Studien untersucht. Dabei sind vor allem die Ergebnisse von Längsschnittuntersuchungen aussagekräftig. Nur sie erlauben die Feststellung, dass die Exposition gegenüber einem Risikofaktor vor Beschwerdebeginn stattgefunden hat – und damit eine ursächliche Beteiligung des Risikofaktors an der Schmerzentstehung im Bereich des Möglichen liegt.
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Kapitel 5 · Rücken
Querschnittsstudien belegen lediglich die Assoziation eines Merkmals mit Rückenschmerzen. Eine Aussage zur zeitlichen Abfolge ist ihnen nicht zu entnehmen und damit auch kein Hinweis, ob das Merkmal an der Entstehung der Beschwerden beteiligt gewesen sein könnte. ⊡ Tabelle 5.4 zeigt eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer 2003 veröffentlichten systematischen Literaturübersicht, in die die Ergebnisse von weit über 100 Längs- und Querschnittsstudien eingegangen sind (Lühmann et al. 2003). Ein Merkmal wurde dann unter »Risikofaktorstatus wahrscheinlich« eingetragen, wenn die Literaturanalyse zeigen konnte, dass bei Personen mit diesem Merkmal das Rückenschmerzrisiko mindestens doppelt so hoch war (relatives Risiko > 2) als bei Personen ohne das bezeichnete Merkmal. »Risikofaktorstatus unwahrscheinlich« wurde dann eingetragen, wenn Längsschnittstudien keinen Zusammenhang mit Rückenschmerzen belegen konnten oder wenn die Studien widersprüchliche Ergebnisse lieferten.
Der eindeutig stärkste Risikofaktor ist »Rückenschmerzen in der Anamnese«. Das Risiko für Personen, die in der Vergangenheit bereits an Rückenschmerzen litten, eine erneute Rückenschmerzepisode zu erleiden, ist mindestens viermal höher als für die Personen, die zuvor keine Rückenschmerzen aufwiesen (relatives Risiko > 4). Weiterhin stellten sich psychologische Beeinträchtigungen (depressive Verstimmungen, Katastrophisieren, Furcht-Vermeidungs-Denken; Kap. 5.3) sowie körperliche und soziale Belastungen in der Arbeitsplatzumgebung als relevante Risikofaktoren heraus (relative Risiken 2–5). Bemerkenswert ist, dass der Risikofaktorstatus für Merkmale wie »Rumpfmuskelkraft« oder »Arbeit in sitzender Haltung« mit belastbaren wissenschaftlichen Daten nicht belegt werden konnte (z. B. Lis et al. 2007). Gerade sie bilden aber den Ansatzpunkt für viele klassische Präventionskonzepte. Über Risikofaktoren für die Entwicklung chronischer Rückenschmerzen gibt es separate Untersuchungen.
⊡ Tabelle 5.4. Risikofaktoren für Rückenschmerzen Risikofaktorstatus wahrscheinlich
Risikofaktorstatus unwahrscheinlich
Soziale Einflussfaktoren Schichtzugehörigkeit: Zusammenhänge zwischen Ausfallzeiten am Arbeitsplatz wegen Rückenschmerzen und Zugehörigkeit zu niedrigem sozioökonomischen Schichtniveau Ausbildungsniveau (geht in Schichtindex ein)
Spezifischer kultureller Hintergrund wie Nationalität, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit Familiärer und/oder sozialer Rückhalt (widersprüchliche Studienergebnisse) Arbeitslosigkeit und Inanspruchnahme von Lohnersatzleistungen
Psychologische Einflussfaktoren
Depression Psychische Beeinträchtigung (»Distress«) Furcht-Vermeidungsdenken, Katastrophisieren Sexueller und körperlicher Missbrauch
Intelligenz und Persönlichkeitsmerkmale (z. B. »Schmerzpersönlichkeit«)
Individuelle biologische und verhaltensabhängige Merkmale Vorangegangene Episode von Rückenschmerzen Beeinträchtigende Komorbidität Rauchen
Alter, Geschlecht, Körpergröße (widersprüchliche Studienergebnisse)
Arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren Ganzkörpervibration Bücken und Drehen Material- und Patientenbewegung: Heben, Tragen, Schieben, Ziehen Psychosoziale Arbeitsplatzbelastungen (Arbeitszufriedenheit, soziale Unterstützung am Arbeitsplatz) Physiologische Einflussgrößen: Muskelkraft, Haltung *Daten aus Querschnittsstudien
körperliche Fitness (inkonsistente Ergebnisse)* Rumpfmuskelstärke (inkonsistente Ergebnisse)* Beweglichkeit der Wirbelsäule (inkonsistente Ergebnisse)* Ausdauer der Rumpfmuskulatur (inkonsistente Ergebnisse)* Sitzende Körperhaltung während der Berufsausübung
79 5.2 · Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen – Auf welcher Evidenz basieren Empfehlungen?
Starke Evidenz für einen starken Prädiktorstatus haben: Alter, vorangegangene Rückenschmerzen, Ischialgien, geringes Gesundheitsbewusstsein, psychologischer Distress, Arbeitsunzufriedenheit, Dauer einer Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, ungünstige Einschätzung der eigenen Arbeitsprognose, finanzielle Vorteile durch Kompensationsleistungen und die Arbeitslosenrate (Lühmann u. Zimolong 2006).
higkeit wegen Rückenschmerz« ebenfalls keine Aussage zur Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen. Die im Folgenden berichteten Aussagen beruhen daher, wenn verfügbar, auf den Ergebnissen kontrollierter Studien mit relevanten Zielgrößen. Für die Übersicht wurde aufgrund der hohen Zahl publizierter Studien nach Möglichkeit auf die Ergebnisse aktueller systematischer Übersichtsarbeiten zurückgegriffen, für dort nicht behandelte Fragestellungen werden die Resultate von kontrollierten Einzelstudien berichtet.
5.2.3 Präventionsansätze
Die Häufigkeit und die schwerwiegenden Konsequenzen von Rückenschmerzen legen nahe, einen präventiven Ansatz zur Vermeidung oder Verringerung des Problems zu wählen. Angesichts der Häufigkeit, des Verlaufs und der Rolle der Risikofaktoren bei der Rückenschmerzchronifizierung wird klar, dass die klassischen Präventionskonzepte (Primär-, Sekundär-, Tertiärprävention) auf das Krankheitsbild »Rückenschmerz« kaum anwendbar sind. Als Präventionsziele werden heute definiert: ▬ Die »Entmedikalisierung« von Rückenbeschwerden – d. h. die Vermittlung von Informationen, dass es sich bei Rückenbeschwerden in der Regel nicht um eine gefährliche Krankheit, sondern um eine schmerzhafte, aber dennoch harmlose, selbstlimitierend verlaufende Befindlichkeitsstörung handelt, die keiner speziellen medizinischen Versorgung bedarf. ▬ Die Verhinderung von rezidivierenden und chronischen Verläufen – d. h. krankheitswertigen Rückenschmerzen bei Personen, die bereits unter Rückenschmerzepisoden gelitten haben oder derzeit leiden. Hierzu werden Maßnahmen eingesetzt, die auf die Beseitigung der bekannten und beeinflussbaren Risikofaktoren (psychosoziale und körperliche Belastungen, vor allem am Arbeitsplatz) und Stärkung der körpereigenen Ressourcen (Ausdauer, Beweglichkeit, psychische Ausgeglichenheit) ausgerichtet sind.
5.2.4 Anforderungen an die »Evidenz«
Um eine verlässliche Aussage zur Wirksamkeit von Rückenschmerzpräventionsmaßnahmen zu erhalten, sind die Ergebnisse von so genannten kontrollierten (randomisierten) Studien mit patientennahen Zielgrößen heranzuziehen. Unkontrollierte Studien erlauben, angesichts der hohen Variabilität der Rückenschmerzverläufe, keinen Rückschluss, ob beobachtete Erfolge tatsächlich auf eine Intervention zurückzuführen sind oder lediglich den natürlichen Verlauf in einer Gruppe abbilden. Ersatzzielgrößen wie »Muskelkraft«, »körperliche Fitness« oder »Kenntnisse zu Hebe- und Tragetechnik« erlauben wegen ihrer unsicheren Assoziation mit den interessierenden Zielgrößen »Rückenschmerzrezidiv« oder »Arbeitsunfä-
5.2.5 Erstes Präventionsziel: Entmedikalisierung
Studienergebnisse zu diesem Präventionsziel sind nur sehr begrenzt verfügbar. Erste Daten zur Wirksamkeit von Programmen, die auf Einstellungsänderung und Krankheitswahrnehmung (Entmedikalisierung) zielen, sind in unterschiedlichen Kontexten unter kontrollierten Bedingungen erhoben worden. Linton und Ryberg (2001) berichten Erfolge einer kognitiven Verhaltenstherapie (im Vergleich zur Standardversorgung) an Personen mit schweren Rückenschmerzen in der Anamnese. Die Häufigkeit von Rückenschmerzepisoden und Krankschreibungen war in der Interventionsgruppe deutlich niedriger als in der Kontrollgruppe. In der Arbeit von Symonds et al. (1995) wurde eine auf Krankheitswahrnehmung und Entmedikalisierung gerichtete Informationskampagne im betrieblichen Umfeld eingesetzt, auch hier wurden im Vergleich zu Kontrollen weniger rückenbedingte Ausfallzeiten am Arbeitsplatz und Inanspruchnahme von Leistungen registriert. Niedrige Beteiligungsraten und starke Fluktuationen der Ausfallzeiten, auch in den Kontrollgruppen, machen allerdings eine Bestätigung der Ergebnisse durch eine unabhängige Untersuchung erforderlich. Die wohl aufwändigste Studie wird von Buchbinder et al. (2001) berichtet ( Kap. 5.4). Hier bestand die Intervention in einer breit angelegten Medienkampagne, in der sowohl die Bevölkerung als auch Primärärzte eines ganzen australischen Bundesstaates mit Informationen zu Rückenschmerzen versorgt wurden, die auf eine Wahrnehmungs- und Einstellungsänderung zu Rückenschmerzen zielten. Die zentralen Botschaften der Kampagne »Back Pain – Don’t take it lying down« lauteten: 1. Rückenschmerzen sind kein schwerwiegendes medizinisches Problem; 2. Beeinträchtigung und Behinderung lassen sich durch eine positive Grundeinstellung begrenzen oder sogar verhindern; 3. die erfolgreichste »Behandlung« einer Rückenschmerzepisode besteht in der Aufrechterhaltung der gewohnten Tätigkeiten, Vermeidung von Ruhe und Schonung, Training und Weiterführung der Berufstätigkeit.
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Kapitel 5 · Rücken
Im Vorher-Nachher-Vergleich und im Vergleich zu den Daten eines anderen Bundesstaates hatte sich im Laufe eines Jahres die in Interviews erfragte Einstellung der Bevölkerung zu Rückenschmerzen deutlich geändert, die rückenbedingten Ausfallzeiten am Arbeitsplatz waren rückläufig. Die Effekte waren auch drei und vier Jahre nach Interventionsende noch nachweisbar (Buchbinder u. Jolley 2005; Buchbinder u. Jolley 2007).
5.2.6 Zweites Präventionsziel: Verhinderung
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von Rezidiven und Chronifizierung Zum zweiten Präventionsziel werden Maßnahmen der Verhältnisprävention (d. h. Anpassung der Lebensumgebung eines Individuums zur Minderung des Rückenschmerzrisikos) von Maßnahmen der Verhaltensprävention (d. h. Anpassung des Verhaltens eines Individuums zur Senkung des Rückenschmerzrisikos) unterschieden. Trotz der Vielfalt der bei Erwachsenen eingesetzten Interventionen zur Rückenschmerzprävention können die meisten von ihnen einer von vier großen Gruppen zugeordnet werden: 1. Training und Bewegung, 2. Schulung und Information, 3. Hilfsmittel und 4. ergonomische Interventionen. Multidimensionale Programme beinhalten eine Kombination aus Maßnahmen der vorgenannten Gruppen. Training und Bewegung
Dem Konzept durch Training und Bewegung Rückenschmerzen zu verhindern, liegen drei Annahmen zugrunde: 1. Bewegung und Training stärkt die Rückenmuskulatur, erhöht die Flexibilität des Rumpfes und verbessert die Ausdauer. 2. Die Blutversorgung spinaler (zur Wirbelsäule gehörender) Muskeln und Gelenke sowie die »Ernährung« der Bandscheiben wird verbessert, damit wird der Entstehung von »Defekten« vorgebeugt. 3. Bewegung verbessert die Stimmung und lässt dadurch die Schmerzwahrnehmung in den Hintergrund treten (Lahad et al. 1996). Je nachdem, welche Annahme im Vordergrund steht, können die Programme sehr unterschiedlich aussehen: von reinen Muskelkräftigungsinterventionen über mehr auf allgemeine Fitness ausgerichtete Programme bis hin zu Interventionen, die (meist in Gruppen) spielerische Elemente und Sozialkontakte in den Vordergrund stellen. Mehrere systematische Literaturübersichten fassen die Ergebnisse der derzeit verfügbaren randomisierten Studien zusammen (Burton et al. 2006; Gatty et al. 2003; Lahad
et al. 1996; Lühmann et al. 2003; Maher 2000; Tveito et al. 2004). Sie kommen zu der konsistenten Einschätzung, dass mit präventiver Intention eingesetzte Trainings- und Bewegungsprogramme geeignet sind, rückenbedingte Fehlzeiten am Arbeitsplatz sowie das Auftreten von wiederkehrenden Rückenschmerzepisoden zu verringern. Die erzielten Effektstärken werden dabei allerdings nur als schwach bis moderat eingestuft. Leider erlauben die Studien keine Rückschlüsse, welche Trainingsinterventionen, mit welcher Intensität für welche Dauer durchgeführt werden sollten, um eine präventive Wirksamkeit zu erzielen. In den Studien wurden positive Wirkungen sowohl mit Gymnastik mit oder ohne Musik, mit kombiniertem Kraft-, Ausdauer- und Koordinationstraining, mit gezieltem Aufbautraining für die Rückenmuskulatur und mit verhaltenstherapeutisch unterstützten Intensivprogrammen erzielt. Die Intensität der eingesetzten Interventionen variierte zwischen 60 Minuten pro Woche und 4 Stunden pro Tag, die Dauer der Programme zwischen 5 Wochen und 18 Monaten. Für die Praxis bedeutet dies, dass in der Rückenschmerzprävention die Art des Bewegungsprogramms eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Wichtiger für die Erzielung von Erfolgen scheint zu sein, dass die Bewegung über einen längeren Zeitraum fortgeführt wird. Hierzu kann Spaß und Freude an der präferierten Sportart oder Bewegung einen wichtigen motivierenden Faktor darstellen. Diese Schlussfolgerungen werden unterstützt durch die Ergebnisse einer sekundären Auswertung der University of California Los Angeles (UCLA) Low Back Pain Study (Hurwitz et al. 2005). In dieser randomisierten kontrollierten Studie, die ursprünglich zum Vergleich der Wirksamkeit von chiropraktischer versus medizinischer Versorgung von Rückenschmerzpatienten angelegt war, wurde eine sekundäre multivariate Regressionsanalyse zum Zusammenhang von körperlicher Freizeitaktivität bzw. spezifischen Rückenübungen hinsichtlich des Verlaufs der Beschwerden, der Entwicklung von dauernden Beeinträchtigungen und psychologischer Befindlichkeit vorgenommen. Die Ergebnisse weisen sowohl im Querschnitt als auch im Verlauf auf einen inversen Zusammenhang zwischen körperlicher Freizeitaktivität und dauerhaften Rückenproblemen, Behinderungen und psychologischem Distress hin. Im Gegensatz dazu scheint ein positiver Zusammenhang zwischen spezifischer Rückengymnastik und den genannten Zielgrößen zu bestehen. In ihren Schlussfolgerungen empfehlen die Autoren zur Verhinderung der Chronifizierung von Rückenbeschwerden auf spezifische Rückenübungen zugunsten allgemeiner körperlicher Aktivitäten zu verzichten. Rückenschulen und Informationskonzepte
Dem klassischen Rückenschulkonzept liegt die Annahme zugrunde, dass als Hauptauslöser der Rückenschmerzen ein »rückenschädigendes« Haltungs- und Bewegungsmuster mit einer durch Fehlbelastungen gesteigerten
81 5.2 · Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen – Auf welcher Evidenz basieren Empfehlungen?
Druckentwicklung auf die Wirbelsäule und assoziierte Strukturen gelten kann. Rückenschulen versuchen mit theoretisch-edukativen und physisch-übenden Unterrichtskomponenten in Gruppenumgebung »rückenschonende« Verhaltensweisen einzuüben. Studien, die die Wirksamkeit von Rückenschulen zur Prävention von (wiederkehrenden) Rückenschmerzen an beschwerdefreien Personengruppen untersuchen, gibt es nur wenige. Ihre Ergebnisse wurden von mehreren Reviewautoren (z. B. Burton et al. 2006; Lühmann et al. 2003; Waddell u. Burton 2001) übereinstimmend interpretiert: Die Wirksamkeit von klassischen Rückenschulen zur Vorbeugung von Rückenschmerzen kann nicht mit wissenschaftlichen Daten belegt werden. Vor diesem Hintergrund wurden in den letzten Jahren viele Rückenschulkonzepte grundlegend überarbeitet. Die Überarbeitungen gingen dabei in zwei Richtungen. Eine Gruppe von modernen Rückenschulprogrammen intensiviert die Trainings- und Übungskomponenten, die andere Gruppe fokussiert vor allem die Krankheitswahrnehmung, Emotionen und Einstellungen zu Rückenproblemen. Die Effekte eines »aktiven« Rückenschulprogramms wurden in einer randomisierten kontrollierten Studie an Personen, die gerade eine Rückenschmerzepisode überstanden hatten, nach einem und nach drei Jahren gemessen (Glomsrod et al. 2001). Im Vergleich zur Kontrollgruppe wurden in der Rückenschulgruppe weniger Folgeepisoden und weniger Krankschreibungen registriert als in der unbehandelten Kontrollgruppe. Studienmethodische Probleme (wie unverblindete Ergebnismessungen und Recall-Bias) erfordern jedoch eine vorsichtige Ergebnisinterpretation. Bevor Empfehlungen für den Einsatz von aktiven Rückenschulprogrammen gegeben werden können, sollten die Ergebnisse in unabhängigen Untersuchungen bestätigt werden. Linton und Ryberg (2001) untersuchten in einer randomisierten kontrollierten Studie die Wirksamkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie (im Vergleich zur Standardversorgung) an Personen mit schweren Rückenschmerzen in der Anamnese. Die Interventionsgruppe erhielt insgesamt sechs zweistündige, strukturierte Verhaltenstherapiesitzungen: eine Sitzung pro Woche bei sechswöchiger Programmdauer. Dabei war jede einzelne Sitzung einem spezifischen Thema gewidmet, wie Schmerzkontrolle, Aktivität, Stressmanagement oder soziale Kontaktpflege. Im Mittelpunkt der Gruppensitzungen stand die Entwicklung von persönlichen Problemlösungsstrategien und -techniken, die in den Zeiträumen zwischen den Sitzungen zu erproben waren. Die Kontrollgruppe erhielt keine besondere Behandlung. Nach einem Follow-up von einem Jahr wurden in der Interventionsgruppe deutlich positivere Befunde hinsichtlich der Furcht-Vermeidungsgedanken (»fear-avoidance beliefs«), Anzahl der schmerzfreien Tage sowie Häufigkeit von Rückenschmerzepisoden und Langzeitkrankschreibungen gefunden.
Hilfsmittel
Die bekanntesten zur Prävention von Rückenschmerzen eingesetzten Hilfsmittel sind Stützgürtel für die Lendenwirbelsäule in den unterschiedlichsten Ausführungen. Sie werden vor allem an Arbeitsplätzen mit schwerer körperlicher Arbeitsbelastung eingesetzt. Zwei Hauptwirkmechanismen werden postuliert: die Einschränkung der lumbalen Beweglichkeit und damit die Vermeidung von verletzungsträchtigen Körperhaltungen und die Entlastung der Rückenmuskulatur in der Extensionsbewegung. Der Wirksamkeitsbewertung von Stützgürteln liegen die konsistenten Ergebnisse von fünf randomisierten kontrollierten Studien zugrunde: Eine Wirksamkeit zur Prävention von Rückenschmerzen und ihren Konsequenzen konnte in keiner Studie nachgewiesen werden (Ammendolia et al. 2005). Schuheinlagen oder -orthosen werden unter der Vorstellung eingesetzt, durch eine bessere Druckverteilung, eine Abfederung des Körpergewichts und gegebenenfalls durch einen Beinlängenausgleich im Millimeterbereich, Fehlbelastungen der Wirbelsäule zu vermeiden. Eine gründliche Durchsicht der Literatur zur Wirksamkeit von Schuheinlagen zur Prävention von Rückenschmerzen wurde zuletzt von den Autoren der »European Guidelines for Prevention in Back Pain« vorgenommen (Burton et al. 2006). Sie fanden weder für die Allgemeinbevölkerung, noch für die Anwendung in der Arbeitsplatzumgebung belastbare wissenschaftliche Daten, dass individuell angepasste Schuheinlagen zur Prävention von Rückenbeschwerden geeignet sind. Diese Ergebnisse wurden auch durch eine neuere randomisierte kontrollierte Studie an primär beschwerdefreien Rekruten der Infanterie bestätigt (Milgrom et al. 2005). Shabat et al. (2005) dagegen fanden positive Effekte von individuell angepassten Schuheinlagen im Vergleich zu Plazeboeinlagen auf die Inzidenz von weiteren Rückenschmerzepisoden bei Personen, die beruflich viel zu Fuß unterwegs sind (Postzusteller) und die bereits Rückenprobleme aufwiesen. Die präventive Wirksamkeit weiterer, vielfach propagierter »Hilfsmittel« wie federnder Fußbodenbeläge, spezieller Sitzmöbel oder Matratzen unterschiedlicher Härtegrade konnte bisher in kontrollierten Studien nicht nachgewiesen werden. Für Rückenschmerzpatienten legen die Ergebnisse einer einzigen randomisierten kontrollierten Studien nahe, dass mittelharte Matratzen sich günstiger auf die Rückenprobleme auswirken als harte oder weiche Liegeunterlagen (Kovacs et al. 2003). Ergonomie
Ergonomische Interventionen zielen auf die Verhinderung von arbeitsbedingten Verletzungen und Erkrankungen, auf die Vermeidung von Ausfallzeiten, auf die Steigerung der Produktivität und auf die Steigerung von Leistungsfähigkeit, Sicherheit und Bequemlichkeit ( Kap. 11.1, 11.2 und 11.3). Ergonomische Interventionen
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Kapitel 5 · Rücken
zur Prävention von Rückenproblemen richten sich gegen die typischen arbeitsplatzabhängigen Risikofaktoren wie schweres Heben, statische Haltung, häufiges Bücken und Drehen, wiederholte Bewegungsabläufe und Exposition gegenüber Vibration. Dabei werden physische (Umgestaltung von Arbeitsumgebung, Hebe- und Tragegeräte, spezifische Instruktions- und Trainingsmaßnahmen) und organisatorische (Modifikation von Arbeitsabläufen, Arbeitsklima, Gratifikationen) Interventionen unterschieden (Lühmann et al. 2006). In einer systematischen Übersichtsarbeit von 2001 stellten Linton und van Tulder fest, dass die Studienlage, mit der sich die Wirksamkeit von isoliert eingesetzten ergonomischen Interventionen belegen lässt, als eher schwach bezeichnet werden muss. Eine systematische Übersicht über kontrollierte Studien und Feldstudien (Westgaard u. Winkel 1997) kommt zu der Schlussfolgerung, dass zur Prävention von Rückenschmerzen eher solche Strategien erfolgreich sind, die organisatorische Anpassungen berücksichtigen, modifizierende Momente einbringen – wie Schulungen, Übungen, Entspannung, Pausen, Anerkennung, Gratifikationen etc. – und die von den Vorgesetzten mit großem Engagement gefördert werden. Für isolierte traditionelle ergonomische Interventionen wie Arbeitsplatzumgestaltung oder Schulung in bestimmten Hebe- und Tragetechniken fanden sich in den Feldstudien kaum Wirksamkeitsbelege. Inzwischen sind zu dieser Fragestellung vereinzelt auch randomisierte kontrollierte Studien verfügbar (Hartvigsen et al. 2005; Jensen et al. 2006), die ebenfalls keine positiven Effekte von isolierten ergonomischen Interventionen (Instruktionen zu Patiententransfertechniken, Hilfsmitteleinsatz zum Patiententransfer, isoliertes Stressmanagement) fanden. Multidimensionale Programme
Multidimensionale Interventionsprogramme zur Prävention von Rückenschmerzen enthalten Trainingskomponenten, Informationsvermittlung und Verhaltensmodifikation durch so genannte kognitiv-behaviorale Ansätze zur Überwindung von pessimistischer Gesamteinstellung und Bewegungsangst sowie ergonomische Komponenten in unterschiedlicher Zusammensetzung und Gewichtung. Sie unterscheiden sich außerdem in Dauer und Intensität der Durchführung. Drei Literaturübersichten beurteilen die Studienlage zur Wirksamkeit von multidimensionalen Präventionsprogrammen (Burton et al. 2006; Gatty et al. 2003; Tveito et al. 2004). Sie stellen übereinstimmend fest, dass die meisten verfügbaren Studienergebnisse eine Wirksamkeit der multidimensionalen Programme nahe legen. Allerdings lässt sich derzeit nicht feststellen, welche Programmzusammensetzung optimal ist, wie die Umsetzung erfolgen sollte und welche Zielgrößen beeinflussbar sind. Die Ergebnisse deuten weiterhin an, dass mit multidimensionalen Programmen vor allem bei Personen, die viele
Risikofaktoren und damit ein hohes Risiko für die Chronifizierung der Beschwerden aufweisen, die deutlichsten Effekte zu erzielen sind (Linton et al. 2005).
5.2.7 Rückenschmerzprävention in der
Umsetzung Die Qualität und Aussagekraft von Studien zur Rückenschmerzprävention hat sich in den letzten Jahren deutlich gebessert. Insbesondere aus den Ergebnissen von kontrollierten Studien, die nach dem Jahr 2000 publiziert wurden, lassen sich einige klare Aussagen zur Wirksamkeit von Maßnahmen zur Prävention von Rückenschmerzen ableiten: ▬ Die Beeinflussung der Einstellung zu Rückenschmerzen im Sinne einer »Demedikalisierung« scheint ein viel versprechender Ansatz, die Krankheitslast und Inanspruchnahme von Leistungen positiv zu beeinflussen. ▬ In der Verhaltensprävention kommt körperlicher Aktivität (Bewegung im Alltag, Training und Sport) eine zentrale Bedeutung zu – Interventionsprogramme, die kein übendes oder trainierendes Element enthalten, sind zumeist wirkungslos. ▬ In bereits von Rückenproblemen betroffenen Hochrisikogruppen können Rezidive und Chronifizierungen am ehesten durch multidimensionale Programme mit kognitiv-behavioralen Elementen und Trainingskomponenten erreicht werden. ▬ Für die Wirksamkeit von Hilfsmitteln, isolierten Schulungsmaßnahmen (z. B. Hebe- und Tragetechnik; Wirbelsäulenanatomie und -physiologie) und isolierten ergonomischen Interventionen (z. B. Arbeitsplatzumgestaltung; Einsatz von »ergonomischem Mobiliar«) finden sich in der publizierten Literatur keine überzeugenden Belege. Die Hauptschwierigkeit besteht derzeit darin, die als wirkungsvoll erkannten Komponenten umzusetzen. Schneider et al. stellten 2004 fest, dass an die Allgemeinbevölkerung adressierte Angebote zur Rückenschmerzprävention insbesondere von gesundheitsbewussten Personen mit niedrigem Rückenschmerzrisiko wahrgenommen werden – die Hochrisikoklientel wird nicht erreicht. Angesichts der weiten Verbreitung des Problems »Rückenschmerz«, der typischen Verläufe und der letztendlich ungeklärten Ätiologie des Problems scheinen zur Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Prävention drei strategische Ansätze sinnvoll: 1. Lebensweltansatz
Einbringen von Maßnahmen zur Rückenschmerzprävention in die »Lebenswelten« der anzusprechenden Zielgruppen. Hierzu gehört zum Beispiel die Unterstützung einer bewegungsfreundlichen Lebensweise
83 5.2 · Prävention von unspezifischen Rückenschmerzen – Auf welcher Evidenz basieren Empfehlungen?
in allen Altersgruppen, wie z. B. Konzepte wie die »bewegte Schule« für Kinder und Jugendliche (www. anschub.de, www.bewegteschule.de) oder das Modellprojekt »Richtig fit ab 50« des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (www. richtigfit-ab50.de) für ältere Menschen. Menschen im erwerbstätigen Alter werden am ehesten über betriebliche Präventionsprogramme erreicht. Neben der Möglichkeit, eine große Zielgruppe zu erreichen, bieten diese Programme die Möglichkeit, außer verhaltenspräventiven Interventionen auch durch eine gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitsumgebung und -klima, Verhältnisprävention zu betreiben. Weitere Informationen zur Konzepten, Verfahren und Instrumenten zur betrieblichen Gesundheitsförderung und zur Primärprävention können z. B. auf der Internetseite des Sozialnetzes Hessen (http://www. sozialnetz-hessen.de) eingesehen werden. 2. Identifikation von Risikogruppen und individualisierte Prävention
Die größten Effektstärken zur Verhinderung von weiteren Rückenschmerzepisoden bzw. zur Prävention von krankheitswertigen, chronifizierenden Rückenschmerzen konnten in Studien nachgewiesen werden, in denen die Studienpopulationen bereits durch Rückenprobleme vorbelastet waren oder multiple Risikofaktoren aufwiesen. Aus diesem Grund wird beispielsweise im betrieblichen Umfeld ein zweischrittiger Präventionsansatz versucht. In einem ersten Schritt soll über eine Befragung das individuelle Rückenschmerzrisiko einer Person ermittelt werden, für die dann im zweiten Schritt speziell abgestimmte Präventionsempfehlungen abgegeben werden können. Ein Beispiel hierfür ist das auf Initiative der Bertelsmann-Stiftung entwickelte »Rückenscreening« (www.rueckentest. de). Die frei im Internet verfügbare Befragung erfasst, unter Verwendung validierter Befragungsinstrumente, Risikofaktoren für Rückenprobleme in den Dimensionen »personale Faktoren«, »Rückengesundheit«, »psychische Belastungen«, »körperliche und psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz« und »körperliche Fitness« ( Kap. 5.4). Die anschließend generierten evidenzbasierten und individuell zugeschnittenen Präventionsempfehlungen berücksichtigen sowohl die Anzahl der ermittelten Risikofaktoren – und damit die Höhe des Rückenschmerzrisikos – als auch ihre dimensionale Zusammensetzung. Die prädiktive Aussagekraft des Screeningverfahrens wird derzeit in mehreren Forschungsvorhaben untersucht, eine Überprüfung der »Wirksamkeit« des Gesamtkonzepts befindet sich in Planung. 3. Entmedikalisierung
Der dritte viel versprechende Ansatz zur effektiven Prävention von Rückenschmerzen scheint, nach den Daten von Buchbinder und Jolley (2001, 2005 und
2007), die »Entmedikalisierung« des Problems zu sein. Als wichtige Adressaten für Aufklärungs- und Informationskampagnen werden neben der allgemeinen Öffentlichkeit die Leistungserbringer – und Kostenträger – im medizinischen Versorgungssystem identifiziert. Sollte es gelingen, dass unspezifische, gelegentliche Rückenschmerzen im Versorgungssystem nicht mehr als behandlungsbedürftige »Krankheit«, sondern als alltägliche Befindlichkeitsstörung wahrgenommen werden, lassen die verfügbaren wissenschaftlichen Daten eine deutliche Reduktion der rückenbedingten »Krankheitslast« mit ihren Folgen erhoffen.
5.2.8 Fazit
Rückenschmerzen gehören nach wie vor zu den Gesundheitsproblemen mit gravierenden individuellen und sozioökonomischen Konsequenzen. Insbesondere der relativ kleine Anteil von Patienten mit chronischen Beschwerden hat einen hohen Leidensdruck und ist für den überwiegenden Teil der anfallenden Kosten verantwortlich. Moderne Präventionsansätze fokussieren daher weniger auf die Verhinderung von Rückenschmerzepisoden, sondern versuchen den Übergang von akuten Beschwerden in einen chronischen Verlauf zu unterbinden. Nach dem Konzept des biopsychosozialen Risikofaktorenmodells richten sich sowohl verhaltens- als auch verhältnispräventive Interventionen auf die Beseitigung von physischen, psychologischen und sozialen Risikofaktoren. Dabei kann insbesondere die Wirksamkeit von bewegungsbezogenen Maßnahmen und, bei bereits von Rückenschmerzen betroffenen Personen, von multidisziplinären Ansätzen mit wissenschaftlichen Studienergebnissen belegt werden. Ein weiterer bevölkerungsbezogener Ansatz besteht darin, die Wahrnehmung von unkomplizierten Rückenschmerzepisoden als »Krankheit« zu durchbrechen. Derzeit besteht die Hauptschwierigkeit für die Implementierung von wirksamen Präventionsprogrammen darin, die adäquate Zielgruppe zu erreichen. Dies wird über Ansätze in den jeweiligen »Lebenswelten« versucht, gegebenenfalls auch durch gezielte Screeninguntersuchungen. Erschwert wird die Rückenschmerzprävention auch durch ungeklärte Verantwortlichkeiten für Kostenträgerschaft und professioneller Zuständigkeit. Ein neuer Ansatz zum Umgang mit diesen Problemen ist die Anbindung der Prävention an integrierte Versorgungskonzepte. Literatur Ammendolia C, Kerr MS, Bombardier C (2005) Back belt use for prevention of occupational low back pain: a systematic review. J Manipulative Physiol Ther 28 (2):128–134 Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung (ÄZQ) (2001) Leitlinien Clearingbericht »Akuter Rückenschmerz«. Schriftenreihe der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung. Band 7
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Kapitel 5 · Rücken
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5.3
Psychische Faktoren der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
Matthias Morfeld, Katharina Borger Die Mitbeteiligung psychosozialer Einflussfaktoren an der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen kann mittlerweile als gut belegt gelten. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang als Faktoren mit Risikostatus Depression, psychische Beeinträchtigung (»Distress«) sowie Furcht-Vermeidungsdenken und Katastrophisieren. Die beiden letztgenannten Faktoren spielen darüber hinaus gerade in modernen Konzepten der Prävention und Rehabilitation eine herausragende Rolle.
85 5.3 · Psychische Faktoren der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
Im vorliegenden Beitrag wird ausgehend von einer Erläuterung der Risikofaktoren Depression und Katastrophisieren auf deren Bedeutung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Rückenschmerzen eingegangen. Bei der Depression handelt es sich um eine behandlungsbedürftige psychische Störung (ICD-10, F32, F33). Die Patienten leiden unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Weitere Kennzeichen sind verminderte Fähigkeit zu Freude, Verlust von Interesse und Konzentration. Eine ausgeprägte Müdigkeit mit Schlafstörungen und Appetitlosigkeit ist zu beobachten. Weitere Beeinträchtigungen auf Seiten des Patienten finden sich hinsichtlich Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen (vgl. ICD-10). Pfingsten (2005) weist auf Basis einer Metaanalyse (Fishbain et al. 1997) auf drei Erklärungen zum psychopathologischen Zusammenhang zwischen Schmerz und Depression hin: ▬ Antecendent: Depression geht der Schmerzerkrankung voraus. ▬ Consequence: Schmerzerkrankung löst Depression als Folgeerscheinung aus. ▬ Scar-Hypothese: Vorübergehende depressive Episoden erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das erneute Auftreten von Depression nach dem Auftreten der Schmerzerkrankung. Der Aspekt der Depressivität wird in Zusammenhang mit Rückenschmerzen oft mit Katastrophisierungstendenzen der Patienten berichtet. Über die Eingrenzung des Konstruktes »Katastrophisieren« gibt es in der Literatur unterschiedliche Zugänge. Während Pfingsten (2005) eine relativ genaue Beschreibung vornimmt, argumentiert Klasen (2006) diesbezüglich eher zurückhaltend. Demnach bezeichnet Katastrophisieren ein »kognitives Muster, in dem Ereignisse vorrangig als negativ und einen schlechten Verlauf nehmend bewertet werden« (Pfingsten 2005). Personen, die Schmerzerlebnissen derart begegnen, tendieren dazu für sie bedrohlich erscheinende Erlebnisse negativ-gefärbt zu übersteigern (Klasen 2006).
5.3.1 Psychologische Grundlagen
der Schmerzchronifizierung Es gibt eine Reihe psychologischer Ansätze, die versuchen, die Schmerzentstehung, -aufrechterhaltung und -chronifizierung zu erklären. Dazu zählen behaviorale Modelle, z. B. operantes Modell, respondentes Lernen, und nichtbehaviorale Ansätze, beispielsweise das analytische Konzept von Freud oder familientherapeutische und systemische Ansätze. Der Schwerpunkt liegt im Folgenden auf behavioralen Modellen und einer vertieften Darstellung des so genannten Avoidance-EnduranceModells von Hasenbring (1993). Hieran wird erläutert,
wie Schmerzchronifizierung aufgrund nicht angemessener Schmerzbewältigungsstrategien entsteht und welchen psychologischen Faktoren dabei eine bedeutende Rolle zukommt.
5.3.2 Behaviorale und kognitiv-behaviorale
Ansätze Behaviorismus
Die Leitidee des Behaviorismus ist eine Psychologie, die auf Verhaltensweisen basiert, die durch einen außenstehenden Beobachter wahrgenommen werden können. Der Begriff »Behaviorismus« fasst die Forschungsprogramme zusammen, die auf naturwissenschaftlicher, objektiver und experimenteller Basis arbeiten und das Verhalten über Reiz-Reaktions-Verbindungen erklären. Zu den behavioralen Ansätzen zählen 1. das operante Modell von Thorndike (1935) und Skinner (1953), 2. das Modell des respondenten Lernens von Pawlow (1941) und 3. das Lernen am Modell von Bandura (1969, 1977). Etwas abseits steht der kognitiv-behaviorale Ansatz, der die Rolle von Kognitionen einbezieht (Flor 1991) und im Einklang mit den Schmerzverarbeitungsmodellen von Hasenbring (1993, 1996) und Phillips (1987) steht. Operantes Lernen
Das Modell des operanten Lernens im Sinne der instrumentellen Konditionierung geht auf Thorndike (1935) und Skinner (1953) zurück. Dabei wird postuliert, dass die primäre Steuerung des Verhaltens durch seine Konsequenzen erfolgt (Flor 1991). Die Auftrittswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöht sich nach einer positiven Konsequenz oder Entfernung einer negativen Konsequenz und verringert sich nach dem Ausbleiben einer positiven oder dem Zufügen einer negativen Konsequenz. Im Modell von Fordyce (1976, 1988) wird zwischen subjektiver Schmerzerfahrung und beobachtbarem »Schmerzverhalten« (beobachtbarer Ausdruck von Schmerz und Leiden) unterschieden. Demnach ist das Schmerzverhalten modifizierbar. So können Schmerzen aufgrund einer positiven (z. B. Zuwendung durch den Partner), negativen (z. B. Wegfall ungeliebter Tätigkeiten) oder mangelnder Verstärkung gesunder Verhaltensweisen (z. B. keine Zuwendung oder Lob bei aktivem Verhalten) aufrecht erhalten bleiben. Auf dem operanten Schmerzmodell basierende Therapieprogramme erzielen deutliche Verbesserungen bzgl. Aktivität, Medikamenteneinnahme, Schmerzverhalten und führen zur Verringerung der Chronifizierungsrate akuter Rückenschmerzen.
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Kapitel 5 · Rücken
Respondentes Lernen
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Als Kritik an dem operanten Modell wird die mangelnde Betrachtung der Interaktion zwischen physiologischen und behavioralen Variablen angesehen (Flor 1991). Das respondente Lernen geht auf das Modell von Pawlow (1941) zurück, das mehrmalige Paarung eines neutralen Reizes mit einer reflexhaften Reaktion beschreibt: Der neutrale Reiz erwirbt die Eigenschaften des auslösenden unkonditionierten Stimulus. Nach mehreren Wiederholungen tritt auf einen neutralen Stimulus eine unkonditionierte Reaktion auf, die so zu einer konditionierten Reaktion wird. So berichten Gentry und Bernal (1977) im Rahmen des respondenten Lernens über den Circulus vitiosus von Schmerz und Spannung. Der akute Schmerz wird durch eine reflexhafte generalisierte Verspannung und sympathische Aktivierung noch mehr verstärkt. Lethem et al. (1983) und Phillips (1987) berichten über »exaggerated pain perception« – eine Schmerzerfahrung (ein Schmerzverhalten), die disproportional zum organischen Korrelat bzw. dem nozizeptiven Input steht. Auf einen Schmerz wird mit Angst vor weiteren Schmerzen und dem Meiden physischer und sozialer Aktivitäten reagiert, was zu Immobilität, Rückzug aus Alltagsaktivitäten wie dem familiären Leben, Sport und Geselligkeit sowie Depressivität führen kann. Linton (1986) beschreibt die Entwicklung chronischer Schmerzen auf der Basis akuter Schmerzen. Der Schmerz als unkonditionierter Stimulus führt zu sympathischer Aktivierung und Muskelverspannung. Im Weiteren wird der Schmerz mit neutralen Stimuli (z. B. Klinikumgebung) assoziiert. Dies führt zur Entstehung einer konditionierten Reaktion in Form von Angst, Muskelspannung und sympathischer Aktivierung, welche bei genügender Frequenz, Intensität und Dauer die Schmerzen intensivieren oder neue hervorrufen kann. Nach Fordyce (1976) bleibt der Schmerz lange nach der Heilung einer Verletzung aufgrund von Lernprozessen fortbestehen. Entsprechend seinem Modell soll im Laufe einer Behandlung eine systematische Löschung des Schmerzverhaltens und das Erlernen eines neuen, schmerzinkompatiblen Verhaltens erreicht werden. Das Modell wird in der Verhaltensmedizin und Schmerzbehandlung implementiert. Das respondente Modell wird als Grundlage für wirksame Behandlungen mittels elektromyographischen Biofeedbacks oder Entspannungstrainings eingesetzt (Flor 1991).
dass sie andere Menschen beobachten. Auf diese Weise können sie u. a. ungünstige Verhaltensweisen vermeiden und sind nicht auf ein Lernen aus eigener Erfahrung mit möglicherweise schädlichen Begleiterscheinungen angewiesen. Evolutionstheoretisch formuliert bringt die Fähigkeit zum Modelllernen einen Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil mit sich. Das mag gerade bei der Vermeidung schmerzhafter und damit potenziell schädlicher Ereignisse besonders wichtig sein. Es verwundert daher nicht, dass gerade im Bereich des Schmerzverhaltens das Modelllernen eine große Rolle spielt. Flor (1991) nimmt an, dass auch bei chronischen Schmerzsyndromen die Beobachtung bei anderen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen führen kann. Craig (1986, 1987) postuliert, dass die Beobachtungsmodelle den Schmerzausdruck, die Schmerzlokalisation und schmerzbewältigende Maßnahmen beeinflussen können. Somit sei die Schmerztoleranz und Schmerzintensität durch das Beobachten von Schmerzverhalten bei Anderen beeinflussbar. Kognitiv-behavioraler Ansatz
Der kognitiv-behaviorale Ansatz beruht auf der Annahme, dass negative Erwartungen hinsichtlich der eigenen Fähigkeit den Schmerz bändigen (Flor 1991). Ungenügende Coping-Mechanismen zu Hilflosigkeit und Passivität können als Folge zur Aufrechterhaltung von Schmerzen führen (Hasenbring 1992, 1996; Philipps 1987). Auch das Selbsteffizienzkonzept von Bandura (1977) geht von einer Erwartung bezüglich der eigenen Fähigkeit, erfolgreich mit Problemen umzugehen, aus. Solche Erwartungen prägen die Problembewältigung. Es gibt Hinweise auf den guten Erfolg bei Therapien, die auf dem kognitiv-behavioralen Ansatz beruhen (Hasenbring 2001; Turner u. Jensen 1993). Als Mängel an dem kognitiv-behavioralen Ansatz werden der geringe Bezug zu den Modellen und empirischen Ergebnissen der kognitiven Psychologie (Anderson 1986) sowie der fehlende Bezug zu Verhaltens- sowie physiologischen Reaktionen angesehen. Ein weiterer Kritikpunkt von Flor (1991) sind fehlende aussagekräftige Längsschnittuntersuchungen, die die Rolle von Kognitionen im Chronifizierungsprozess zu ermitteln vermögen.
5.3.3 Bedeutung psychosozialer Faktoren
bei Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
Lernen am Modell
Bandura (1969, 1977) hat im Rahmen des Lernens am Modell die Rolle des Beobachtungslernens und als dessen Folge eine Hemmung bzw. Enthemmung bestehender Verhaltensmuster beschrieben. Menschen sind demnach imstande, neue Verhaltensweisen dadurch zu erlernen,
Nach Hasenbring (2001) gibt es beim Chronifizierungsprozess zwei Zeitabschnitte: 1. die Phase des Übergangs vom akuten zum chronischen Schmerz und 2. die Phase der anhaltenden Chronifizierung.
87 5.3 · Psychische Faktoren der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
Im ersten Zeitabschnitt ist es wichtig, psychologische Risikofaktoren zu identifizieren, um einer Chronifizierung möglichst wirksam vorbeugen zu können. Bei dem zweiten ist es bedeutsam, die psychischen Faktoren, die das Schmerzbild unterhalten, zu kennen. Hasenbring (2001) unterscheidet zwischen situativen Auslösern und den Konsequenzen von Schmerzen z. B. Depressivität. Dabei unterstreicht sie die Wichtigkeit von Schmerzbewältigungsformen, d. h. wie Personen mit ihren Schmerzen fertig werden. Demnach können psychische Probleme sowie Art und Weise der Schmerzbewältigung zur Aufrechterhaltung der Schmerzen und der Stabilisierung der Alltagsbelastungen führen. Als situative Auslöser von Rückenschmerzen werden biosomatische Belastungen und psychosozialer Stress genannt, wobei enge Wechselwirkungen zwischen biomechanischen und psychologischen Faktoren hervorgehoben werden. Einer der wesentlichen somatischen Faktoren bei der Entstehung von Rückenschmerzen ist das Einnehmen einer konstanten und ungünstigen Körperhaltung, die zu biochemischen Veränderungen führt, wobei es keine Rolle spielt, ob die falsche Dauerhaltung eine Be- oder Entlastungshaltung ist. Hildebrandt (1990) berichtet, dass die Ursachen chronischer Rückenschmerzen in der Regel zu komplex sind, um mit monodisziplinären therapeutischen Verfahren gelöst zu werden. Er identifiziert als prognostisch wichtige Faktoren für den Behandlungserfolg psychologische Symptome wie Depressivität, Mangel an sozialer Kompetenz und psychosomatische Beschwerden, die von den Schmerzambulanzen und ähnlichen Einrichtungen »übersehen« werden. Weitere psychosoziale Faktoren wurden vor allem von Hasenbring (1996) zusammengestellt. Sie zeigte in ihrer Längsschnittuntersuchung, dass das Ausmaß an Alltagsbelastungen ein wichtiger psychosozialer Faktor für den Genesungsverlauf ist. Arbeiter, die unter hohen Alltagsbelastungen litten, berichteten häufiger über chronische Schmerzen und stellten öfter einen Antrag auf Frühberentungen. Als psychische Begleitsymptome treten Probleme auf, die alle unter dem Syndrom »Depressivität” fassbar sind (Hasenbring 2001). Die bekanntesten Probleme sind Stimmungstiefs (emotionale Komponente), Antriebsverlust (motivationale Komponente), Schlafstörungen oder Schlaflosigkeit (somatische Komponente), Konzentrationsstörungen im Alltag und Gedanken der Hilf- und Hoffnungslosigkeit (kognitive Komponente), Probleme in der Partnerschaft und im Familienleben sowie Rückzugsverhalten (verhaltensmäßige/soziale Komponente). Hasenbring (1992) konnte bereits in einer früheren Untersuchung zeigen, dass es einen engen korrelativen Zusammenhang zwischen chronischen Alltagsbelastungen und Depressivität gibt. Darüber hinaus wies sie darauf hin, dass Patienten mit einem nichtverbalen Ausdrucksverhalten gegenüber ihren Bezugspersonen, Freunden und Bekannten eher chronifizieren (Hasenbring et al. 1994). Unter nichtverbalem
Ausdrucksverhalten ist hier überwiegend eine Schmerzsignalisierung, z. B. über Mimik, Gestik sowie über paraverbale Merkmale wie Stimmlage und Betonung, zu verstehen. Die Aufrechterhaltung des nichtverbalen Verhaltens erfolgt sowohl über positive (vermehrte Zuwendung der Bezugspersonen) als auch über negative (Wegfall unangenehmer Aktivitäten) operante Verstärkungsprozesse. Hasenbring (1994) hält es für wichtig, einen kommunikationsfördernden Lernprozess bei den Patienten anzuregen. Im Rahmen dieses Lernprozesses sollen sich die Patienten offen mit ihren Bitten und Wünschen an ihre nahe soziale Umgebung (Partner/Verwandte) wenden und das nonverbale Schmerzverhalten im Laufe der Zeit verlernen.
5.3.4 Das Fear-Avoidance- und das
Avoidance-Endurance-Modell Die Persönlichkeit des Schmerzpatienten wird bei vielen Autoren als ein wichtiger Faktor beschrieben, der zur Schmerzauslösung und -aufrechterhaltung beiträgt. Dieser Faktor steht im Einklang mit dem Fear-AvoidanceModell von Phillips (1987) und dem Avoidance-Endurance-Modell von Hasenbring (1996), die verschiedene Persönlichkeitstypen in Bezug auf ihre ungünstigen (maladaptiven) Verhaltensweisen beschreiben. Das Avoidance-Endurance-Modell von Hasenbring basiert auf den Ergebnissen verschiedener prospektiver Längsschnittstudien zur Schmerzchronifizierung bei Patienten mit akuten bandscheibenbedingten Rücken- und Beinschmerzen und stellt eine Erweiterung des FearAvoidance-Modells von Phillips in Bezug auf die Schmerzverarbeitungsmuster dar. Das Fear-Avoidance-Modell (Hasenbring u. Soyka 1996) basiert auf empirischen Untersuchungen zu auffälligen Reaktionsweisen kognitiver, emotionaler und behavioraler Art auf Schmerz. Nach diesem Modell wird auf Schmerz als erstes mit Gedanken des Katastrophisierens, der Hilflosigkeit und der Angst reagiert. Dieser Prozess löst in den Patienten Schonhaltungen und -bewegungen sowie das Meiden aller potenziell schmerzauslösenden Aktivitäten aus, was zu muskulären Verspannungen und auf Dauer zu Schmerzen führen kann (Mannion et al. 2001; Vlaeyen u. Linton 2000). Im Zustand der muskulären Insuffizienz kann es zu einem Sensibilisierungsprozess kommen, der bewirkt, dass Schmerzen bereits durch gewöhnliche mechanische Alltagsbelastungen ausgelöst werden. Genauso wirkt das Vermeidungsverhalten auf der sozialen Ebene: Das Meiden von angenehmen sozialen Aktivitäten – z. B. Ausgehen oder Gäste einladen – führt zu sozialer Isolation und zu Verlustgefühl. Dies sorgt für depressive Verstimmung, die ihrerseits einen Beitrag zur Schmerzaufrechterhaltung und Intensivierung leistet. Dieser Schmerzbewältigungstyp wendet hauptsächlich »Vermeidungsstrategien« an (Hasenbring 2001). Nach
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88
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Kapitel 5 · Rücken
Hasenbring (2001) chronifizieren die Patienten umso eher, je mehr maladaptive Gedanken sie entwickeln. Hasenbring und Klasen (2005) haben in ihrem Avoidance-Endurance-Modell das Fear-Avoidance-Modell von Phillips um die »Durchhaltestrategien” erweitert. Hierunter ist eine Schmerzbewältigungsform zu verstehen, die Patienten anwenden, um der Krankheit keine Chance zur Weiterentwicklung zu geben, d. h. eigene Schmerzen nicht wahrhaben zu wollen, sie zu bagatellisieren, »die Zähne zusammenzubeißen«. Eine dauerhafte Überlastung von Muskeln, Bändern und Gelenken kann durchaus zu einer Chronifizierung des Schmerzes führen. Die beiden Bewältigungsmechanismen – Durchhaltestrategien und Vermeidungsverhalten – befinden sich stets in einem Konflikt. Das Bagatellisieren führt zur Muskulaturüberanstrengung und zur Schmerzintensivierung, wobei dann das Durchhalteverhalten durch ein komplettes Vermeidungsverhalten ersetzt wird. Dieses Phänomen stellt oft ein Behandlungsproblem für Patienten dar, die vom Durchhalteverhalten zum Vermeidungsverhalten gewechselt haben und dann zu aktivitätsfördernden Maßnahmen angeregt werden sollen. Bei beiden Formen der maladaptiven Bewältigungsstrategie handelt es sich um eine falsche Muskulaturbelastung. Deshalb ist es wichtig, einen Lernprozess mit aktivitätsfördernden bzw. entspannenden Maßnahmen und den Bezug zum Alltagsleben anzuregen, indem neue Schmerzumgangsformen angelernt und in das Alltagsleben integriert werden. Hasenbring (1996) postuliert, dass nicht jeder der prächronischen Patienten typische psychische Risikofaktoren wie Depressivität, die zu einer Chronifizierung führen können, aufweist. Dementsprechend hat sie eine Diagnostik der Schmerzverarbeitung durchgeführt und drei klinische Gruppen gebildet. Die Verhaltensmuster dieser klinischen Gruppen sind in ⊡ Tabelle 5.5 dargestellt. 1. Der erste Typ, der »depressive Vermeider«, zeigt ein Vermeidungsverhalten und zeichnet sich durch eine erhöhte Depressivität sowie ein erhöhtes ängstlich-depressives Schmerzerleben aus. Er reagiert ausgeprägt auf den Schmerz mit Gedanken des Katastrophisie-
rens, der Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Er meidet aktiv physische (Gymnastik, Spaziergänge) und soziale (Freunde treffen, Ausgehen) Aktivitäten. 2. Der zweite Typ, der »depressive Durchhalter«, zeigt ein Durchhalteverhalten und zeichnet sich durch eine leicht erhöhte Depressivität sowie ein erhöhtes ängstlich-depressives Schmerzerleben aus. Er reagiert auf den Schmerz mit erhöhter Hilfs- und Hoffnungslosigkeit bei gleichzeitig ausgeprägtem Durchhalteappell (»Stell’ Dich nicht so an!«, »Reiß Dich zusammen!«). Seine Coping-Strategien äußern sich auf der Verhaltensebene durch einen kontinuierlichen Wechsel von Durchhaltestrategien und Vermeidungsverhalten. Eine aktive Teilnahme an allen denkbaren körperlichen und sozialen Aktivitäten führt zu erneuten Schmerzeskalationen. Darauf wird mit Vermeidungsverhalten reagiert. Sobald der Schmerz etwas zurückgeht, werden erneut die Durchhaltestrategien eingesetzt. 3. Der dritte Typ, der »fröhliche Durchhalter«, zeigt ein Durchhalteverhalten und zeichnet sich durch eine ausgesprochen positive Stimmungslage, unabhängig von starken Schmerzen, aus. Er weist keine erhöhten Skalenwerte auf der kognitiven Ebene (keine ausgeprägten Gedanken der Hilflosigkeit oder des Katastrophisierens) auf, dafür aber die höchsten Werte auf der Skala »Durchhaltestrategien«, d. h. Teilnahme an allen üblichen gesellschaftlichen und körperlichen Aktivitäten.
5.3.5 Fazit für die Praxis – Prävention
und Rehabilitation Mittlerweile liegt für die Behandlung chronisch unspezifischer Rückenschmerzen eine Reihe von Programmen vor, die ihre Schwerpunktlegung in erster Linie im Bereich der Rehabilitation sehen. Die darin beschriebenen vorrangig kognitiv-behavioralen (verhaltenstherapeutischen) Therapieelemente weisen dabei jedoch eine entsprechende Passung auch für den Bereich der Prävention auf. So weisen Flor und Schneider (2003) darauf hin, dass nach Unter-
⊡ Tabelle 5.5. Verhaltensmuster in Bezug auf Schmerzverarbeitung Ausprägung …
I. Depressives Vermeidungsverhalten
II. Depressives Durchhalteverhalten
III. Fröhliches Durchhalteverhalten
… auf der emotionalen Ebene
Erhöhte Depressivität; erhöhtes ängstlich-depressives Schmerzerleben
Leicht erhöhte Depressivität; erhöhtes ängstlich-depressives Schmerzerleben
Ausgesprochen positive Stimmungslage trotz starker Schmerzen
… auf der kognitiven Ebene
Ausgeprägtes Katastrophisieren; Hilfs- und Hoffnungslosigkeit
Erhöhte Hilfs- und Hoffnungslosigkeit bei gleichzeitig ausgeprägtem Durchhalteappell
Keine erhöhten Skalenwerte
… auf der verhaltensmäßigen/sozialen Ebene
Ausgeprägtes Vermeiden körperlicher und sozialer Aktivitäten
Durchhaltestrategien und Vermeidungsverhalten im Wechsel
Die höchsten Werte auf der Skala »Durchhaltestrategien«
89 5.3 · Psychische Faktoren der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
suchungen zur primären und sekundären Prävention von Schmerzen vor allem verhaltenstherapeutische Verfahren eine deutliche Effektivität aufweisen und insbesondere den Aufbau eines Schmerzgedächtnisses und die Chronifizierung von Schmerz verhindern konnten (Fordyce 1986). Umfassende Programmentwicklungen liegen für den Bereich der Rehabilitation vor. An erster Stelle ist hier das vor allem im ambulanten Bereich zur Anwendung kommende Programm GRIP (Göttinger Rücken-IntensivProgramm) zu nennen (Pfingsten u. Hildebrand 2001). Darüber hinaus ist in der Arbeitsgruppe der Autoren das Programm »Back to Balance«9 entstanden (Morfeld et al. 2006). Das Programm besteht aus sieben Gruppentherapieeinheiten à 90 min, die innerhalb von drei Wochen stationärer Rehabilitation erprobt wurden, jedoch auch durchaus im ambulanten Versorgungsbereich und als Bestandteil von Präventionsmaßnahmen zur Anwendung kommen können. Die wichtigsten Schulungsziele sind dabei die kontinuierliche Reflexion der Therapieerfahrung zwecks Aufbaus eines individuellen Konzepts zum zukünftigen eigenaktiven Schmerzmanagement, der Aufbau internaler Kontrollüberzeugungen, Motivationshilfen für das Erlernen individuell bedeutsamer Schmerzbewältigungsstrategien sowie eine abschließende Reflexion der Therapieerfahrung (Physiotherapie, Sporttherapie etc.). Die Schulungsphilosophie des Trainingsprogramms besteht in der Vermittlung der Überzeugung, dass Prävention und Rehabilitation vor allem das Erlernen eigener Verhaltensmöglichkeiten zur Schmerzbewältigung bedeuten. Darüber hinaus soll die Verhaltensänderung über die Einstellungsänderung und Motivation erfolgen. Auch der wichtige Einfluss von Verhaltensaspekten auf die Schmerzkarriere (Chronifizierung) und Prognose sollte bewusst werden. Die Bestandteile des verhaltenstherapeutischen Trainings »Back to Balance« orientieren sich an den zentralen Risikofaktoren und sind somit auch präventiv ausgerichtet (s. Infobox).
des Schmerzes (u. a. Multidimensionalität des Schmerzes, Abhängigkeit der Schmerzkarriere vom eigenen Verhalten, Erhöhung der Selbstwirksamkeit, Unterschied zwischen akut und chronisch sowie zwischen Muskelspannung und Schmerz, Schmerzerlernen und -verlernen) ▬ Ziele: Kennenlernen von Schmerzbewältigungsstrategien wie z. B. Ablenkung, positive zufrieden stimmende Erlebnisse, Genuss, schmerzbezogene Selbstinstruktion und Distanzieren
Dritte Sitzung
▬ Sammlung der Vorstellungen der Teilnehmer zum Schonverhalten, Vorstellung des »AvoidanceEndurance-Modells« von Hasenbring sowie von Vermeidungs- und Durchhaltestrategien ▬ Ziele: Selbsterkenntnis hinsichtlich eigener Risikofaktoren und Motivationsentwicklung für den Aufbau von Schutzfaktoren
Vierte Sitzung
▬ Vermittlung von Informationen zur Wirkung der Körpersprache auf andere und die eigene Person, Durchführung von entsprechenden Übungen, Vermittlung von Techniken zu direkter Kommunikation beim Wunsch nach Unterstützung ▬ Ziele: Erkennen der eigenen Körpersprache und das Erlernen verbaler Kommunikation
Fünfte Sitzung
▬ Informationsvermittlung über Ebenen des Stres-
Erste Sitzung
▬ Einführung in das Schulungsprogramm ▬ Ziele: Reflexion der Krankheitstheorien, Formulie-
Sechste Sitzung
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»Back to Balance«
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▬ Vermittlung psychophysiologischer Grundlagen
serlebens, Aufzeigen des Unterschieds zwischen Stressoren und Stressreaktionen sowie Risiko- und Schutzfaktoren beim Stressumgang, Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Stress und Rückenschmerzen, Durchführung von Übungen zur Verbesserung des Selbstvertrauens ▬ Ziele: Kenntnis erlangen über den Zusammenhang von Stress und Rückenschmerz, Erlernen geeigneter Strategien zum Umgang mit Stress
Infobox
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Zweite Sitzung
I 10
ren von Therapiezielen
Entwicklung und Evaluation wurde im Rahmen des Förderschwerpunkts »Rehabilitationswissenschaften« von der Deutschen Rentenversicherung und BMBF gefördert. Das Manual ist beim Autor des Beitrages zu beziehen. Das Programm Back-to-Balance wurde gemeinsam mit der Rehaklinik Damp (J.U. Möller, R. Hintze) und der Rheumaklinik Bad Bramstedt (J. Höder, M. Fox) entwickelt.
▬ Vermittlung der Bedeutung der eigenen beruflichen Tätigkeit für die allgemeine Lebenszufriedenheit, Aufzeigen von Motivationshilfen für die Arbeitswiederaufnahme, Ermittlung von Informationen über Arbeitsplatzunzufriedenheit als Risikofaktor bei der Schmerzchronifizierung, Durchführung einer Selbstreflexion über die Bedeutung der Arbeit für die eigene Lebenszufriedenheit ▼
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Kapitel 5 · Rücken
▬ Ziele: Erkennen der Bedeutung der eigenen Erwerbstätigkeit als ökonomische Basis und psychosoziale Grundlage für Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden
Siebte Sitzung (Abschlusssitzung)
▬ Zusammenfassung des Seminars, in Gruppenge-
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sprächen berichten Patienten über ihre Lernerfahrungen, formulieren ihr Konzept und CopingStrategien zur Bewältigung von Rückenschmerzen und zur Verbesserung ihres Schmerzmanagements bzw. Präventionsverhaltens im Alltag ▬ Ziele: Aufzeigen von Transferstrategien und deren erfolgreiche Umsetzung in den Alltag
5.3.6 Ausblick
Psychosoziale Faktoren spielen eine große Rolle bei der Schmerzentstehung, -aufrechterhaltung und -intensivierung. Hierzu zählen: hohes Ausmaß an Alltagsbelastungen, psychosozialer Stress, ungünstige Be- und Entlastungsstrategien, Persönlichkeit des Schmerzpatienten, ungünstige Schmerzbewältigungsstrategien bzw. mangelnde Coping-Kompetenz. Weitere psychosoziale Faktoren im Sinne der Antwort auf Schmerz sind der Rückzug aus sozialen Aktivitäten, Schonverhalten, Gedanken der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit sowie Durchhalteverhalten. Diese Faktoren tragen zu Depressivität oder zu einer Intensivierung bzw. Chronifizierung des Schmerzes bei. Daraus lässt sich schließen, dass die psychosoziale Dimension unabdingbarer Teil einer Schmerzbehandlung sein sollte. Aus der präventiven Perspektive sind hier Interventionen bezüglich Stressvermeidung und -abbau sowie Aufklärungen hinsichtlich des starken Zusammenhangs zwischen Bewegung und Rückenschmerz zu subsumieren. Eine eindimensionale Behandlung, z. B. ein operativer Eingriff oder medikamentöse Unterstützung, ist oft unzureichend für eine erfolgreiche Rehabilitation (Hildebrand 1990). Es sollte zusätzlich auf der psychosozialen Ebene interveniert werden. Mittlerweile wird dieser Forderung durch eine Reihe ausformulierter Programme, die zum einen für das ambulante (akute) und zum anderen für das stationäre (rehabilitative) Setting vorgelegt wurden, Rechnung getragen. Literatur Anderson JR (1986) Language, memory and thought. Erlbaum, Hillsdale Bandura A (1969) Principles of behavior modification. Holt, Rinehart u. Winston, New York Bandura A (1977) Social learning theory. Prentice-Hall, New York Craig KG (1986) Social modeling influences: pain in context. In: Sternbach RA (ed) The psychology of pain, 2nd edn. Raven Press, New York, pp 67–95
Craig KG (1987) Consequences of caring: Pain in the human context. Canadian Psychology/Psychologie Canadienne 28:311-321 Fishbain DA, Cutler R, Rosomoff HL, Steele-Rosomoff R (1997) Chronic pain-associated depression: antecedent or consequences of chronic pain? A review. Clin J Pain 13 (2):116–137 Flor H (1991) Psychobiologie des Schmerzes. Hans Huber, Bern Flor H, Schneider C (2003) Psychobiologie des Schmerzes und kognitivverhaltenstherapeutische Behandlung. Retrieved 25.04.2007, from http://www.lpk-bw.de/archiv/lptage/lpt2003/2003flor.pdf Fordyce WE (1976) Behavioral methods in chronic pain and illness. Mosby, St. Louis Fordyce WE (1986) Acute back pain: A control-group comparison of behavioral versus traditional management methods. J Behav Med 9:127–140 Fordyce WE (1988) Pain and suffering: A reappraisal. American Psychologist 43:276–283 Gentry WD, Bernal GAA (1977) Chronic pain. In: Williams R, Gentry WD (eds) Behavioural approaches to medical treatment. Ballinger, Cambridge, pp 173–182 Hasenbring M (1992) Chronifizierung bandscheibenbedingter Schmerzen: Risikofaktoren und gesundheitsförderndes Verhalten. Schattauer, Stuttgart Hasenbring M (1993) Durchhaltestrategien – ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen? Schmerz 7 (4):304–313 Hasenbring M (1996) Kognitive Verhaltenstherapie bei chronischen und prächronischen Schmerzen. Psychotherapeut 5 (41):313–325 Hasenbring M (2001) Biopsychosoziale Aspekte bei akuten und chronischen Rückenschmerzen. In: Zielke M, von Keyserlingk H, Hackhausen W (Hrsg) Angewandte Verhaltensmedizin in der Rehabilitation. Pabst Science Publishers, Lengerich, S 518–528 Hasenbring M, Klasen B (2005) Psychologische und Psychobiologische Modelle der Schmerzchronifizierung. Psychoneuro 31 (2):92–95 Hasenbring M, Marienfeld G, Kuhlendal D, Soyka D (1994) Risk factors of chronicity in lumbar disc patients. A prospective investigation of biologic, psychologic, and social predictors of therapy outcome. Spine 19 (24):2759–2765 Hasenbring M, Soyka D (1996) Verhaltensmedizinische Behandlungsverfahren in der stationären konservativen Therapie bei Patienten mit lumbalem Bandscheibenvorfall unter Berücksichtigung psychobiologischer Prädiktoren des Genesungsverlaufes. BMFTAbschlussbericht Hildebrand J (1990) Die Therapie chronischer Schmerzen – Eine Aufgabe des Anästhesisten? Anästhesie – Intensivtherapie – Notfallmedizin 4 (25):247–249 Klasen B (2006) Untersuchung zu Chronifizierungsprozessen bei unspezifischen Rückenschmerzen. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Bochum Lethem J, Slade PD, Troup JDG, Bentley G (1983) Outline of a fearavoidance model of exaggerated pain perception. Behav Res Ther 21:401–408 Linton S (1986) Behavioral remediation of chronic pain: a status report. Pain 24:125–141 Mannion AF, Junge A, Taimela S, Muntener M, Lorenzo K, Dvorak J (2001) Active therapy of chronic low back pain, part 3. Factors influencing self-rated disability and its change following therapy. Spine 26 (8):920–929 Morfeld M, Hofreuter K, Möller J, Fox M, Höder J, Hintze R, Arlt AC, Wessinghage T, Koch U (2006) Kognitiv-verhaltenstherapeutische Intervention bei Patienten nach erster Bandscheiben-Operation und die Rückkehr zur Arbeit. Verhaltensther Verhaltensmed 27 (3):338–362 Pawlow IP (1941) Lectures of conditioned reflexes. In: Conditioned reflexes and psychiatry, vol 2. International Publishers, New York Pfingsten M (2005) Psychologische Faktoren. In: Hildebrand J, Müller G, Pfingsten M (Hrsg) Lendenwirbelsäule. Urban & Fischer, München, S 26–40
91 5.4 · Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen
Pfingsten M, Hildebrand J (2001) Die Behandlung chronischer Rückenschmerzen durch ein intensives Aktivierungskonzept (GRIP). Anästhesie –Intensivtherapie – Notfallmedizin – Schmerztherapie 36:580–589 Philipps HC (1987) Avoidance behavior and its role in sustaining chronic pain. Behav Res Ther 25:365–377 Skinner BF (1953) Science and human behavior. Macmillan, New York Thorndike EL (1935) The psychology of wants, interest and attitudes. Appelton Century Crofts, New York Turner JA, Jensen MP (1993) Efficacy of cognitive therapy for chronic low back pain. Pain 2 (52):169–177 Vlaeyen JWS, Linton SJ (2000) Fear-avoidance and its consequences of chronic musculoskeletal pain: a state of the art. Pain 85:317–332
Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen zu Risikofaktoren und zur Prävention von Rückenbeschwerden
5.4
Mareike Behmann, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Studien tragen maßgeblich zum Erkenntnisgewinn und zur Weiterentwicklung von Wissenschaft und Praxis bei. Zur Darstellung wesentlicher Forschungsergebnisse und ihrer Relevanz für die Versorgung wird in diesem Kapitel eine Auswahl an wesentlichen Kohorten-, Querschnittsund Interventionsstudien sowie systematischen Literatur-
recherchen zu Risikofaktoren und präventiven Maßnahmen von Rückenbeschwerden vorgestellt. In Kohortenstudien werden definierte Bevölkerungsgruppen (Kohorten) im Zeitverlauf beobachtet. Dabei wird eine Gruppe exponierter und eine Gruppe nichtexponierter Personen bzw. Personengruppen mit verschiedenartiger Exposition, die alle zunächst frei sind von der interessierenden Beeinträchtigung, über einen längeren Zeitraum, oft auch über mehrere Jahre bis Jahrzehnte, wiederholt bezüglich der Einflussgrößen und der Zielkrankheit untersucht. Kohortenstudien ermöglichen Aussagen über den Zusammenhang von Expositionen und Erkrankung. Sie eignen sich damit für die Ermittlung von Risiko- und Schutzfaktoren. In Querschnittsstudien werden in einer definierten Studienpopulation die Verbreitung von Beeinträchtigungen und Krankheiten, Verhaltensweisen, physiologische und funktionale Faktoren sowie die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu einem Zeitpunkt ermittelt. Querschnittsstudien geben Hinweise zum Versorgungsbedarf und ermöglichen Untersuchungen zu Assoziationen zwischen der Exposition und der Gesundheit bzw. Erkrankung. Da diese gleichzeitig erfasst werden, sind keine Aussagen zu kausalen Risikofaktoren möglich. Bei Interventionsstudien wird eine Bevölkerungsgruppe einer Intervention unterzogen (Interventionsgruppe). Hierbei handelt es sich in der Prävention um eine gezielte, auf die Stabilisierung oder die Wiederherstellung der Gesundheit gerichtete verhaltens- oder verhältnisbezogene Maßnahme. Zur Kontrolle nicht erfassbarer Einflüsse wird die Interventionsgruppe mit einer Kontrollgruppe verglichen,
⊡ Tabelle 5.6. Übersicht über ausgewählte Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen zu Rückenschmerzen (in Klammern ist jeweils der untersuchte Zeitraum oder das Jahr der Publikation angegeben) Kohortenstudien
Querschnittsstudien
Interventionsstudien
Systematische Literaturrecherchen
Rückenschmerzen bei Militärrekruten unter Berücksichtigung ihrer sozialen Herkunft und vorheriger Rückenschmerzen (Dänemark, 2000)
Rückenbeschwerden bei Beschäftigten eines Flugzeugunternehmens (USA, 1982–1987)
Effekte von Freizeitaktivitäten und Rückenübungen auf Rückenschmerzen und psychosozialen Stress (USA, 1995–1998) Wirksamkeit eines Rückenschulprogramms bei Schulkindern (Belgien, 1999)
Sozioökonomische Einflüsse auf die Entstehung von Nacken- und Rückenschmerzen (Großbritannien/ Schottland, 1980–1997)
Effektivität und Kosteneffektivität von Rückenschulen bei unspezifischen Rückenschmerzen (Deutschland, 1997–2000)
Expertise: Prävention von Rückenschmerzen (Deutschland, 1992–2002)
Ergonomietrainingsprogramm für Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen (Schweiz, 2000–2001)
Wirksamkeit der Prävention von Rückenschmerzen bei Schulkindern (Belgien, 1995–2003)
Training von arbeitstypischen Bewegungsabläufen für Patienten mit chronifizierten Rückenschmerzen (Deutschland, 2001)
TV-Informationen zu Rückenschmerzen in Australien (Victoria WorkCover Authority Public Health Campaign) (Australien, 1997–2004) Effekte einer präventiven Verhaltens- und einer Interventionstherapie auf Rückenund Nackenschmerzen (Schweden, 2005)
Präventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz für rezidivierende Rückenschmerzen (Deutschland, 1985–2005)
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Kapitel 5 · Rücken
die hinsichtlich der zentralen Auswahlkriterien identisch sein sollte. Sinnvoll ist neben einer Erhebung kurzfristiger Effekte nach Abschluss der Intervention die Ermittlung langfristiger Effekte mindestens ein Jahr später. In systematischen Literaturrecherchen (Reviews) werden anhand definierter Suchbegriffe sowie Ein- und Ausschlusskriterien, u. a. zu Zielgruppe, Studientyp und Zeitraum, in einschlägigen Datenbanken Studien zu einem möglichst genau definierten Thema identifiziert. Die gefundenen Abstracts werden hinsichtlich ihrer Passgenauigkeit durchgesehen und die verbliebenen Treffer auf Basis der Volltexte unter Berücksichtigung der Studienqualität analysiert. Dies kann qualitativ oder bei aggregierender Auswertung der Ergebnisse der Einzelstudien quantitativ als Metaanalyse erfolgen. Die vorgestellten Studien zu Rückenbeschwerden stellen lediglich eine Auswahl dar. Die Auswahl der Studien erfolgte zufällig. Für die Aufbereitung wurden Studien ausgewählt, die Risikofaktoren und präventive Interventionen beinhalten, nicht jedoch therapeutische, rehabilitative und medikamentöse. Die internationalen oder nationalen Studien sollten außerdem unabhängig, nachvollziehbar und möglichst vollständig dokumentiert sein sowie eine möglichst große qualifizierte Stichprobe untersuchen und zu Schlussfolgerungen kommen. Sie sind den einzelnen Studientypen zugeordnet und hierunter chronologisch geordnet (⊡ Tabelle 5.6).
Studiendesign: Querschnittsstudie Alle Mitarbeiter werden in die Studie eingeschlossen. Ausgeschlossen wurden Teilnehmer, mit akuten Rückenschmerzen und Personen, die in den vergangenen sechs Monaten der Arbeit wegen Rückenschmerzen fern bleiben mussten. Die Ein-Punkt-Erhebung wird durch schriftliche Befragung und Beobachtung durchgeführt.
Erhebung Jeder Studienteilnehmer nimmt an einer Befragung zu kardiovaskulären Risiken teil. Im nächsten Schritt folgt eine Untersuchung zu funktionalen Parametern wie Flexibilität, Hebestärke, aerobe Kapazität, Spinalkanalgröße, Größe und Gewicht. Soziodemographische und psychosoziale Aspekte werden erhoben und eine Anamnese erstellt. Erfasst werden Behandlungen, Dauer und Intensität der Schmerzen, Unterstützung innerhalb der Familie und am Arbeitsplatz sowie Arbeitszufriedenheit.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Von 1569 Arbeitern, die an der Studie teilnehmen, berichten 136 über Rückenschmerzen.
▬ 60–65% zu Rückenbeschwerden führende Fak▬
5.4.1 Studien zur Identifikation von Risiken
und Folgen ▬ Beobachtungsstudien Infobox
I
I
▬
toren sind nicht physische, sondern psychosoziale Ursachen. Der stärkste Prädiktor für Rückenbeschwerden sind bisherige Rückenprobleme oder bestehende Symptome. Rauchen wird bei 40% mit Rückenschmerzen assoziiert. Der stärkste physische Faktor ist Schmerz während des Anhebens des gestreckten Beins in Rückenlage. Dennoch wird dieses Symptom nur bei 6,5% der Arbeiter mit Rückenschmerzen berichtet. Psychosoziale Faktoren sind stärkste Prädiktoren für zu erwartende Rückenschmerzen. Arbeitsunzufriedenheit wie emotionaler Stress ist stark verbunden mit Rückenbeschwerden.
Rückenbeschwerden bei Beschäftigten eines Flugzeugunternehmens (USA: 1982–1987)
▬
Schwerpunkt
▬
Untersuchung von Risikofaktoren für Rückenschmerzen bei Industriearbeitern, Erhebung von physischen und psychosozialen Faktoren.
Schlussfolgerung für die Prävention
Ziele
Präventive Maßnahmen sollten Arbeitszufriedenheit und psychosoziale Faktoren berücksichtigen.
Identifizierung von Risikofaktoren für Rückenbeschwerden.
Literatur zum Thema
Stichprobe Die Stichprobe besteht aus Mitarbeitern eines Boeing Unternehmens. 75% der 3020 Mitarbeiter nehmen teil. Das Alter variiert zwischen 21 und 67 Jahren, die Teilnehmer sind zu 78% Männer. ▼
Bigos SJ, Battié MC, Spengler DM, Fisher LD, Fordyce WE, Hansson TH, Nachemson AL, Wortley MD (1991) A prospective study of work perceptions and psychological factors affecting the report of back injury. Spine 16:1–6 Bigos SJ, Battié MC, Spengler DM, Fisher LD, Fordyce WE, Hansson TH, Nachemson AL, Zeh J (1992) A longitudinal, prospective study of industrial back injury reporting. Clin Orthop Relat Res 279:21–34
93 5.4 · Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen
Infobox
I
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Rückenschmerzen bei Militärrekruten unter Berücksichtigung ihrer sozialen Herkunft und vorheriger Rückenschmerzen (Dänemark, 2000) Schwerpunkt Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Kreuzschmerzen bei gleich belasteten Menschen. Vergleich zwischen Rückenschmerzen vor und während der militärischen Ausbildung.
Ziele Erhebung des Einflusses von sozialer Herkunft und akuten Belastungen auf die Entstehung von Rückenschmerzen
Stichprobe Die Stichprobe besteht aus 2343 Wehrpflichtigen in der Ausbildung an 15 dänischen Standorten. Die Befragten im Alter von 18 bis 24 Jahren sind zu 96% männlich. Das Durchschnittsalter der Stichprobe liegt bei 21 Jahren.
bessere Bewältigungsstrategien als Personen ohne diese Charakteristika auf. Sie haben ebenfalls geringere Schmerzen vor der Militärzeit, aber ein erhöhtes Rückenschmerzrisiko während der Ausbildungszeit. ▬ Höhere Bildung der Eltern ist ein Prädiktor für Rückenschmerzen während der Ausbildungszeit, hat aber keine Aussagekraft über deren Konsequenzen. ▬ Die Dauer der Rückenschmerzen im Jahr vor der militärischen Ausbildung ist der wichtigste Prädiktor für Schmerzen während der Ausbildung.
Schlussfolgerung für die Prävention Präventionsmaßnahmen sollten Strategien zur Schmerzbewältigung einbeziehen.
Literatur zum Thema Hestbaek L, Larsen K, Weidick F, Leboeuf-Yde C (2005) Low back pain in military recruits in relation to social background and previous low back pain. A cross-sectional and prospective observational survey. BMC Musculoskel Dis 6:25
Studiendesign: Kohortenstudie Die Studie ist eine Zwei-Punkt-Erhebung. Die erste Befragung fand zu Beginn der Ausbildung statt. Erhebungsinstrumente sind ein medizinischer Test sowie ein Fragebogen für die Wehrpflichtigen. Der erste Teil des Fragebogens wird vom Militärarzt ausgefüllt, der zweite Teil vom Rekruten. Mittels Fragebogen wird die Rückenschmerzhistorie und die Schulbildung der Eltern erhoben. Die Wiederholungsbefragung erfolgt nach drei Monaten. Inhalte sind Rückenschmerzen während der militärischen Ausbildung im Vergleich zu Rückenschmerzen vor der Wehrpflicht und zu sozialer Herkunft. Die Rücklaufquote der ersten Befragung beträgt 73%, der zweiten 58%. Zum Vergleich werden die Prävalenzraten einer Kohorte von 18–22 Jahre alten Männern des dänischen Zwillingsregisters herangezogen. Die Zwillinge hatten 1994 einen Fragebogen mit denselben Fragen zu Rückenschmerzen beantwortet.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Der wichtigste Faktor für Kreuzschmerzen vor der militärischen Ausbildung ist die Art der Arbeit. Im Sitzen zu verrichtende Arbeit hat einen schützenden Effekt auf Kreuzschmerzen. Während der militärischen Ausbildung gibt es keinen Unterschied in der Entwicklung von Rückenschmerzen bei Rekruten mit bzw. ohne sitzende Tätigkeit. ▬ Rekruten mit höherer Intelligenz, besserer Bildung der Eltern und sitzender Tätigkeit weisen ▼
Infobox
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Training von arbeitstypischen Bewegungsabläufen für Patienten mit chronifizierten Rückenschmerzen (Deutschland, 2001 [Jahr der Publikation]) Schwerpunkt Rückenschmerzpatienten ohne akute Beschwerden und rückenschmerzfreie Personen führen Arbeitsbewegungen aus.
Ziele Leistungsunterschiede zwischen Personen ohne jegliche Rückenschmerzen und Personen mit chronifizierten Rückenschmerzen.
Stichprobe Die Stichprobe (n = 72) besteht aus 36 Männern und 36 Frauen mit chronischen lumbalen Schmerzen mit und ohne peripherer Ausstrahlung, die seit mindestens 12 Wochen wegen der Rückenschmerzen arbeitsunfähig sind. Die Vergleichsgruppe (n = 92) besteht aus 48 Männern und 44 Frauen, die keine oder nur gelegentlich auftretende Rückenschmerzen haben und diesbezüglich in den letzten 12 Monaten weder in ärztlicher Behandlung noch arbeitsunfähig waren. ▼
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Kapitel 5 · Rücken
Studiendesign: Kohortenstudie Die Studie besteht aus einer Personengruppe mit Rückenschmerzen und einer Vergleichsgruppe mit Personen ohne Rückenschmerzen mit einer Zwei-PunktErhebung vor und nach den Übungen.
▬ Arbeitsspezifische Übungen
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Vier Bewegungsabläufe zur Identifikation besonders belastender Tätigkeiten werden untersucht: ▬ Die Steckwand ist eine Übung an einer Holzarbeitswand, bei der Beugung und Streckung der Wirbelsäule im Vordergrund stehen. Hinzu kommen Rotation und eine zeitlich andauernde Streckung. Diese Übung ist ein typisches Beispiel für Raumpflege- und Krankenpflegetätigkeiten sowie Arbeiten im Haushalt. Auch bei Fließband- und Lagerarbeiten kommen diese Tätigkeiten vor. ▬ Das Einfädeln stellt besondere Anforderungen an die Haltekraft der Rückenstreck- und Beinmuskulatur sowie die Feinmotorik der Finger. Hinzu kommen Rotationen der Wirbelsäule in der Transversalebene. Dieser Bewegungsablauf ist typisch für Tätigkeiten am Boden wie Maurer, Fliesenleger, Heizungsbauer, Lageristen und Elektriker. ▬ Die Handkurbel besteht aus einer dynamischen Leistung der die Schulter umgebenden Muskulatur und einer statischen Halteleistung. Typische Tätigkeiten sind Fließband-, Mal- und Lackierarbeiten sowie an Maschinen und Werkzeugen, die mit einer Armvorhalteposition verbunden sind. Auch Berufe, in denen Ziehen und Schieben eine Rolle spielt, sind eingeschlossen. Weitere berufliche Beispiele sind Speditionsgewerbe, Krankenpflegeund Reinigungsdienste. ▬ Das Heben einer Gewichtsstange stellt einen Hebeund Koordinationstest dar, bei dem Beugung und Streckung der Wirbelsäule, im ständigen Wechsel, im Vordergrund stehen. Als Beispiele können hier LKW-Fahren, Verkaufs- und Bürotätigkeiten sowie alle Formen der Lagerarbeiten, bei denen Gegenstände vom Boden aufgehoben und über Kopf einsortiert werden müssen, genannt werden.
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von den Versuchsgruppenteilnehmern durch die vier Variablen Finger-Boden-Abstand, Lendenwirbelsäulenextension sowie den Ergebnissen aus den beiden arbeitsspezifischen Übungen »Einfädeln« und »Handkurbel«. Männer und Frauen haben gleich hohe Durchschnittsleistungen erbracht. Patienten mit Rückenschmerzen sind deutlich weniger leistungsfähig als altersgleiche Personen ohne Rückenschmerzen. Beweglichkeitsmessungen als Parameter körperlicher Leistungsfähigkeit bei Rückenschmerzen reichen vermutlich nicht aus, um die arbeitsspezifische Leistungsfähigkeit vorauszusagen. Beim »Einfädeln« besteht die größte Unterscheidung zwischen Patienten und Nichtpatienten. Es ist darüber hinaus die komplizierteste Bewegung. Eindimensionale Bewegungsausschnitte unter steigender Belastung können mit einer Trainingstherapie geübt werden, koordinative Übungen der Komplexbewegungen im Alltag fehlen jedoch in der Untersuchung.
Schlussfolgerung für die Prävention Die Beweglichkeit ist wichtig für die Funktionalität des Körpers und sollte bis ins hohe Alter beibehalten werden. In multimodalen Konzepten zur Behandlung von chronischen Rückenschmerzen, in denen arbeitstypische Bewegungsabläufe trainiert und optimiert werden können, sollten sowohl trainingstherapeutische als auch physio- und ergotherapeutische Behandlungsbausteine integriert sein.
Literatur zum Thema Pfingsten M, Schöps P, Seeger D, Suar P, Hahn J, Hildebrandt J (2001) Training von Arbeitsbewegungen – notwendiger Bestandteil multimodaler Behandlungskonzepte für Patienten mit chronifizierten Rückenschmerzen. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 11:16–22
Systematische Literaturrecherchen Infobox
Wesentliche Ergebnisse
▬ Personen mit Rückenschmerzen sind weniger beweglich und flexibel im Wirbelsäulenbereich.
▬ Bei Extensionsbewegungen weisen ältere Teilneh-
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Sozioökonomische Einflüsse auf die Entstehung von Nacken- und Rückenschmerzen (Großbritannien/Schottland, 1980–1997)
mer beider Gruppen ein geringeres Ausmaß auf als jüngere. ▬ Patienten verfügen über deutlich verminderte Leistungen in allen vier Übungen als die Teilnehmer der Versuchsgruppe. Sie unterscheiden sich
Schwerpunkt
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Untersuchung von sozioökonomischen Einflüssen auf Nacken- und Rückenschmerzen. Im Mittelpunkt stehen das Verhalten von Menschen im Krankheitsfall und die Erwartung an die Erkrankten.
95 5.4 · Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen
Ziele Untersuchung des sozioökonomischen Status sowie der Einflüsse von Familie und sozialer Unterstützung, Arbeitszufriedenheit, psychosoziale Aspekte der Arbeit, Managementstrategien, Arbeitslosigkeit und Vorruhestand auf Nacken- und Rückenschmerzen.
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Methode: Systematische Literaturrecherche Durchführung einer systematischen Literaturrecherche in Medline mit den Suchbegriffen »back pain«, »neck pain«, »whiplash injuries« (Schleudertraumaverletzungen), »costs«, »cost analysis«, »health insurance«, »workers’ compensation«, »claims«, »legal issues«. Einbezogen werden Publikationen im Zeitraum zwischen 1980–1996. 287 Publikationen liegen der Analyse zugrunde. Ergänzend wird eine weitere Literaturrecherche in den Datenbanken Medline, Embase und Psyclit für den Zeitraum 1985–1997 durchgeführt mit den Suchbegriffen: »back pain«, »neck pain«, »musculoskeletal disorders«, »socioeconomic factors«, »job satisfaction«, »pensions«, »retirement«, »family«, »spouse«. Aus ca. 6000 Publikationen werden 167 thematisch relevante ausgewählt. Zwei Personen sehen unabhängig voneinander die Publikationen hinsichtlich ihrer Relevanz durch. Sie haben eine Übereinstimmung von 95%.
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Wesentliche Ergebnisse
▬ Kultur: Nacken- und Rückenschmerzen sind weltweit verbreitet, werden aber in unterschiedlichen kulturellen Gruppen verschieden wahrgenommen. Kulturell bedingt sein kann die Wahrnehmung und der Umgang mit Schmerzen sowie die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Unklar bleibt der Stellenwert einzelner kultureller Eigenschaften und deren Wirkung auf die Entstehung von Rückenschmerzen sowie die Möglichkeit ihrer Modifikation. ▬ Familiäre und soziale Unterstützung: Die vorhandene Evidenz deutet einen Zusammenhang zwischen familiärer Unterstützung und Behandlungsergebnissen sowie der Entwicklung chronischer Schmerzen an. Dabei kann familiäre Unterstützung sowohl einen negativen als auch einen positiven Einfluss auf Rückenschmerzen und Behandlungsergebnisse haben. Für die meisten Patienten mit Rückenschmerzen ist eine positive familiäre Unterstützung hilfreich, fördert die Genesung und mindert die Arbeitsunfähigkeit/Invalidität. Für einige Patienten mit chronischen Schmerzen, physischem oder sexuellem Missbrauch ist die Bestärkung durch den Ehepartner mit der Entwicklung chro▼
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nischer Schmerzen und Arbeitsunfähigkeit verbunden. Unklar bleibt, welche Form familiärer Unterstützung den Schmerzverlauf beeinflussen kann. Soziale Schicht: Es gibt keine hinreichende Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Schicht und Rückenschmerzen. Es besteht allerdings ein Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen und hoher Arbeitslosigkeit in unteren sozialen Schichten. Der Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen und sozialer Schicht ist deutlich bei Männern, unklar bei Frauen. Für den Zusammenhang zwischen sozialen Aspekten und Nackenschmerzen liegen keine Daten vor. Bildung: Es gibt einen Zusammenhang zwischen geringer Schulbildung und höherer Prävalenz von Rückenschmerzen. Nur wenige Studien stimmen mit diesem Ergebnis nicht überein. Ein Zusammenhang besteht außerdem zwischen höherer Schulbildung und erfolgreicher Rehabilitation. Es gibt Zusammenhänge zwischen geringer Bildung, niedriger Sozialschicht und schwerer körperlicher Arbeit. Ein Ergebnis der Studien ist, dass Umweltund psychologische Faktoren einen größeren Einfluss auf Rückenschmerzen haben als der Zugang zu medizinischer Versorgung. Einkommen: Die meisten Studien, die das Einkommen berücksichtigen, wurden in den USA, wenige in Kanada und Australien durchgeführt. Das Einkommen steht nicht im Zusammenhang mit dem Krankheitsverhalten, es spielt keine Rolle im Zusammenhang mit Arztbesuchen. Viele Studien zeigen, dass nur ein geringer Zusammenhang zwischen Einkommen und Stress bei Rückenschmerzen besteht. Es ist wahrscheinlich, dass die Faktoren, die zu einem geringen Einkommen führen, die größere Rolle bei Rückenschmerzen spielen, als das Einkommen selbst. Arbeitszufriedenheit: Es gibt starke Evidenz dafür, dass Arbeitszufriedenheit und ähnliche psychologische Aspekte einen großen Einfluss auf Rückenund Nackenschmerzen haben. Managementstrategien: Es gibt geringe Evidenz dafür, dass die Beziehungen zwischen Mitarbeitern und Unternehmen in Zusammenhang stehen mit Rückenschmerzen, Verletzungen und Krankheitstagen. Das Interesse von Vorgesetzten an dem Wohlergehen der Mitarbeiter reduziert die Arbeitsfehlzeiten und führt zu schnellerer Genesung. Arbeitslosigkeit: Es besteht ein Zusammenhang zwischen langer Arbeitslosigkeit und langer Krankheitsdauer. Bei hoher Arbeitslosenquote gibt es weniger Arbeitsausfallzeiten durch Krankheiten.
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Kapitel 5 · Rücken
▬ Vorruhestand: Rückenschmerzen sind nur ein Grund für vorzeitigen Ruhestand. Vorruhestand ist meist beeinflusst durch Komorbiditäten, psychologische Probleme und soziale Faktoren.
Schlussfolgerung für die Prävention
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Sozioökonomische Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder ein geringes Bildungsniveau beeinflussen die Schmerzstärke, die Arbeitsunfähigkeit, die schnelle Genesung und das Schmerzverhalten. Beeinflussend wirken: individuelle, Gruppen- und gesellschaftliche Vorstellungen über Arbeit, Rückenschmerzen, Arbeitsabwesenheit durch Krankheit, Leistungen des Sozialwesens und über den Ruhestand. Die Ergebnisse müssen jedoch aufgrund der schwierigen Messbarkeit sozialer Einflüsse sowie ständiger Veränderungen mit Vorsicht betrachtet werden. Daten, die auf genderspezifische Einflüsse eingehen, liegen kaum vor. Ebenso wenig liegen Daten zu Einflüssen auf Nackenschmerzen vor.
Literatur zumThema Waddell G, Waddell H (2000) A review of social influences on neck and back pain and disability. In: Nachemson A, Jonsson E (eds) Neck and back pain. The scientific evidence of causes, diagnosis, and treatment. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia, pp 13–56
Infobox
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Expertise: Prävention von Rückenschmerzen (Deutschland, 1992–2002) Schwerpunkt Systematische Literaturrecherche, Entwicklung eines Screeningverfahrens.
Ziele Identifikation von Risikofaktoren für Rückenschmerzen sowie wirksamer Interventionen für Personen mit erhöhtem Risiko für Aktivitäts- und Teilhabestörungen durch Rückenschmerzen.
Methoden: Systematische Literaturrecherchen Die Expertise beinhaltet systematische Literaturanalysen zu Risikofaktoren für Rückenschmerzen sowie zu wirksamen präventiven Interventionen bei Rückenschmerzen. Ein Screening zur Erkennung von Risikogruppen wird entwickelt und Empfehlungen abgeleitet. 1. Systematische Literaturanalyse zu Risikofaktoren für Rückenschmerzen: Die systematische Literaturanalyse wird durchgeführt für den Zeitraum 1992 bis 2002. Einbezogen ▼
werden Metaanalysen, systematische Reviews und prospektive Kohortenstudien zu Risiko- und Schutzfaktoren für Rückenschmerzen. Die Recherche erfolgt in Medline und in der Cochrane Datenbank. Es werden folgende Faktoren analysiert: – soziale (kulturelle Faktoren, familiärer und sozialer Rückhalt, Schichtzugehörigkeit), – psychologische, – individuelle (Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, Gesundheit, Komorbidität, Rauchen), – arbeitsplatzbezogene (Ganzkörpervibration; Arbeit in unbequemen Körperhaltungen: Bücken und Drehen; Materialbewegung: Heben, Tragen, Schieben, Ziehen; psychosoziale Arbeitsplatzbelastungen) und – physiologische (Muskelkraft, Haltung). 2. Screening zur Identifikation von Risikogruppen: Das Screening besteht aus zwei Stufen. – In der ersten Stufe sollen Personen mit einem hohen Risiko für Rückenschmerzen bzw. für ein chronisches Krankheitsbild an Hand eines standardisierten Fragebogens identifiziert werden. Erhoben werden Schmerzstärke und Funktionsbeeinträchtigung, derzeitige Rückenschmerzen und solche in den vergangenen fünf Jahren sowie Alter und Geschlecht. Nach der ersten Stufe werden Personen mit einem sehr niedrigen Rückenschmerzrisiko und behandlungsbedürftige Personen mit akuten Rückenschmerzen ausgeschlossen. – In der zweiten Stufe erfolgt eine differenzierte Befragung von Personen, die in der ersten Stufe als Risikoperson eingestuft wurden. Inhalte sind personale, psychosoziale und arbeitsplatzbezogene Faktoren sowie die Durchführung eines körperlichen Fitnesstests. 3. Systematische Literaturanalyse zur Wirksamkeit präventiver Interventionen bei Rückenschmerzen: Einbezogen werden Metaanalysen, systematische Reviews, Leitlinien und randomisierte kontrollierte Studien (Zeitraum 1998–2002) sowie Publikationen zu Interventions- und Präventionsmaßnahmen.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Trainingsprogramme können klinische und sozialmedizinische Zielgrößen in derzeit beschwerdefreien Populationen positiv beeinflussen. ▬ Aufklärungskampagnen und Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung können die durch Rückenschmerzen verursachte Krankheitslast senken. ▼
97 5.4 · Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen
▬ Der stärkste Risikofaktor ist »Rückenschmerzen in
Studiendesign: Interventionsstudie
der Anamnese«. ▬ Mit Hilfe eines Screeninginstruments kann das Rückenschmerzrisiko quantitativ und qualitativ beurteilt werden. Dabei sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden: soziale Schicht, physische, psychosoziale sowie psychologische Faktoren (Depression, Stress, Schmerzverarbeitungs- und Bewältigungsstrategien, Schmerzvermeidungsverhalten), Rückenschmerzen, rückenschmerzbedingte Fehlzeiten sowie Behandlungen in den letzten fünf Jahren, Rauchen. ▬ Eventuell wäre eine dritte Screeningstufe für Personen mit auffälligen Ergebnissen in den Bereichen »Rückenschmerzanamnese« und »Körperliche Aktivität und Fitness« sinnvoll.
Randomisierte Längsschnitt- und Querschnittsstudie mit vier Versuchsgruppen. Erhebungsmethoden sind schriftliche Befragungen und physische Tests. Mittels Fragebögen erfolgt eine Fünf-Punkt-Erhebung: Baseline, nach sechs Wochen sowie nach sechs, 12 und 18 Monaten. Die Intervention wird durchgeführt von Oktober 1995 bis November 1998, die Daten werden bis Juni 2000 erhoben. Die Rücklaufquote beträgt 89,6%. Die erhobenen Daten beinhalten soziodemographische, klinische und psychosoziale Charakteristika sowie Freizeitgestaltung und die Anwendung von Rückenübungen. Die Befragungen zielen auf die Gesundheit der Teilnehmer und ihren Funktionsstatus, die Rückenschmerzintensität und damit verbundene Erwerbsunfähigkeit, physische Aktivität und Anwendung von Rückenübungen.
Schlussfolgerung für die Prävention Körperliches Training sowie Aufklärungskampagnen und Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung sind bei der Prävention von Rückenschmerzen wirksam.
Literatur zum Thema Lühmann D, Müller VE, Raspe H (2003) Prävention von Rückenschmerzen. Expertise im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung und der Akademie für Manuelle Medizin, Universität Münster
5.4.2 Studien zu präventiven Maßnahmen Interventionsstudien Infobox
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Effekte von Freizeitaktivitäten und Rückenübungen auf Rückenschmerzen und psychosozialen Stress (USA, 1995–1998) Schwerpunkt Untersuchung der Effekte von Freizeitaktivitäten und Rückenübungen auf Kreuzschmerzen.
Ziel Nachweis, dass Bewegung Schmerzen und psychologischen Stress abbauen kann.
Stichprobe 681 Kreuzschmerzpatienten. 52% der Teilnehmer sind weiblich, 50% jünger als 50 Jahre, 41% nicht weißer Hautfarbe und 67% erwerbstätig. Ungefähr 80% der Teilnehmer berichten über vorherige Schmerzen. ▼
Intervention Es gibt vier Behandlungsgruppen: 1. Chiropraktische Behandlung mit aktiver Mobilisation 2. Chiropraktische Behandlung mit passiver Mobilisation 3. Medizinische Behandlung mit Physiotherapie 4. Medizinische Behandlung ohne Physiotherapie
Wesentliche Ergebnisse Es handelt sich hierbei um eine Nebenauswertung der Interventionsstudie. Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich lediglich auf die Auswertung der Teilnehmerbefragung. ▬ Querschnittsbeobachtungen: Kreuzschmerzen und psychologischer Stress nehmen mit zunehmender körperlicher Aktivität ab. ▬ Längsschnittbeobachtungen: Rückenübungen reduzierten psychologischen Stress bei 22%. Bei den körperlich aktiven Teilnehmern, wurden die Rückenschmerzen reduziert und Erwerbsunfähigkeiten gesenkt. Der psychologische Stress war in den körperlich aktiven Gruppen 25% niedriger als in den nicht-körperlich aktiven. ▬ Schlussfolgerungen: Körperliche Aktivität ist besonders wirksam bei psychologischem Stress, Schmerzen und Erwerbsunfähigkeit. Die Teilnahme an Bewegung senkt die akuten und künftigen Kreuzschmerzen. Die Anwendung von Rückenübungen reduziert die Wahrscheinlichkeit von akuten und künftigen Kreuzschmerzen und die damit verbundene Erwerbsunfähigkeit. Die Ergebnisse sind deutlicher in der Querschnittsbeobachtung als in der Längsschnittbeobachtung zu sehen. Der Grad ▼
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Kapitel 5 · Rücken
der Schmerzen und rückenschmerzbedingten Erwerbsunfähigkeit kann beeinflusst werden durch Bewegung. Die Studienergebnisse stimmen mit anderen überein, die bei Rückenschmerzen Schwimmen, Walking und Aerobic empfehlen. Nach den Ergebnissen sind spezifische Rückenübungen kontraproduktiv, die Wiederherstellung der normalen Funktionen und Arbeitsweisen sollte betont werden. Bewegung wirkt sich reduzierend auf Schmerzen und Depressionen aus. Ärzte sollten helfen, Barrieren und Ängste bei Patienten mit Schmerzen gegenüber Bewegung abzubauen.
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Es erfolgt eine Vier-Punkt-Erhebung. Die praktischen Tests und die Fragebögen werden eine Woche vor und eine Woche, drei Monate und ein Jahr nach der Intervention eingesetzt. Über eine Kamera in der Sporthalle und im Klassenzimmer wird die praktische Umsetzung bei Schülern aus der Interventions- (n = 38) und der Kontrollgruppe (n = 31) beobachtet. Die Bilder werden von einem Tag vor der Intervention und von einem Jahr nach der Intervention verglichen.
Intervention
Wichtig bei vorhandenen Rückenschmerzen ist körperliche Aktivität. Diese hilft, Schmerzen zu reduzieren und das psychologische Befinden zu verbessern.
Das Rückenschulprogramm besteht aus sechs Sitzungen in einwöchigem Abstand. Jede Sitzung dauert 60 Minuten unter Leitung eines Physiotherapeuten und beinhaltet aktiv spielerische Methoden. Um das Erlernte in den Alltag zu integrieren, nehmen auch die Lehrer an den Sitzungen teil. Weitere informative Sitzungen für Lehrer und Eltern werden organisiert.
Literatur zum Thema
Wesentliche Ergebnisse
Hurwitz EL, Morgenstern H, Chiao C (2005) Effects of recreational physical activity and back exercise on low back pain and psychosocial distress: findings from the UCLA Low Back pain Study. Am J Public Health 10:1817–1824
▬ Es gibt einen signifikanten Effekt für rückenge-
Schlussfolgerung für die Prävention
Die randomisierte Längsschnittstudie besteht aus einer Interventions- (n = 198) und einer Kontrollgruppe (n = 165). Die Kinder der Versuchsgruppe erhalten ein Rückenschulprogramm. Die Kontrollgruppe unterzieht sich einem Test zur Erhebung von Rücken- und Nackenschmerzen. Erhebungsmethoden sind wiederholte Beobachtungen und schriftliche Befragungen zu mehreren Zeitpunkten.
rechtes Schuheausziehen und Sitzen. Für die anderen erlernten Bewegungsabläufe gibt es keine signifikanten Effekte. Festgestellt wird eine Verbesserung der Kondition. ▬ Erhebung ein Jahr nach der Intervention: In der Interventionsgruppe geht die Prävalenzrate deutlich zurück. Bei der Schmerzstärke gibt es keine signifikanten Veränderungen. 32,4–43,0% der berichteten Schmerzen werden in der Halswirbelsäule lokalisiert. 20,1–30,4% im unteren Rücken, 15,8–21,4% in der Lendenwirbelsäule und 19,2–20,3% berichten über Schmerzen in verschiedenen Bereichen. 63,9–71,8% berichten über minimale und ganz minimale Schmerzen in der vergangenen Woche. Konstanter Schmerz wird von 2,5–3,7% berichtet und einen Schmerzmoment hatten 39,2% der Schulkinder. Die Ergebnisse sind insgesamt in der Interventionsgruppe deutlicher als in der Kontrollgruppe. Ein Jahr nach der Intervention setzen die Schulkinder immer noch die erlernten Richtlinien für Heben, Niederlegen und Bewegen eines schweren Gegenstands um. Wichtig für den Erfolg der Intervention ist die Teilnahme der Lehrer und dass die Kinder regelmäßig an die Prinzipien der Rückenschule erinnert werden. Kinder, die von einem Lehrer unterrichtet werden, der nicht an der Intervention teilgenommen hat, verlernen die Regeln wieder. ▬ Nach der Studie sind Schulkinder fähig, Rückenschulprinzipien bis zu einem Jahr nach einer Intervention anzuwenden. Sie zeigt außerdem,
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Wirksamkeit eines Rückenschulprogramms bei Schulkindern (Belgien, 1999) Schwerpunkt Evaluation eines Rückenschulprogramms bei Schulkindern.
Ziele Überprüfung der Effektivität eines Rückenschulprogramms bei Schulkindern, Formulierung von Leitlinien.
Stichprobe 9- bis 11-jährige Schulkinder, davon 47,5% Jungen und 52,5% Mädchen in der Interventionsgruppe und 46,7% Jungen und 53,5% Mädchen in der Kontrollgruppe.
Studiendesign: Interventionsstudie
99 5.4 · Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen
dass Rückenschulprogramme Prävalenzraten von Rücken- und Nackenschmerzen reduzieren können.
Schlussfolgerung für die Prävention Maßnahmen zur Förderung der Rückengesundheit sind bei Schulkindern wirksam und sollten zielgerichtet eingesetzt werden. Die Lehrkräfte sollten miteinbezogen werden.
Literatur zum Thema Cardon GM, De Clercq GLR, de Bourdeaudhuij IMM (2002) Back education efficacy in elementary school children – A 1-year follow-up study. Spine 27:299–305
haltens. Dieser wird zu vier Zeitpunkten eingesetzt: vor und direkt nach der Intervention, sechs Monate sowie ein Jahr nach Interventionsende. Die Betrachtung der Arbeitsunfähigkeitsdaten erfolgt über einen Zeitraum von zwei Jahren nach der Intervention.
Intervention Der Rückenschulkurs wird über fünf Wochen zweimal über wöchentlich 90 Minuten durchgeführt. Sechs Wochen nach Kursende wird ein »Refresherkurs« angeboten.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Ein halbes Jahr nach Kursbeginn können Verbes-
Die Längsschnittstudie wird mit mehreren Kontrollund einer Interventionsgruppe durchgeführt. Potenzielle, aber von der Intervention ausgeschlossene Personen der Interventionsregionen fungieren als Kontrollgruppe (Langzeitkontrolle n = 483). Weitere Kontrollgruppen aus den Einzugsgebieten (n = 1639) und aus den Kontrollgebieten ohne Interventionsangebot (n = 1709) werden bei der Auswertung der Arbeitsunfähigkeitsdaten herangezogen. Erhebungsinstrument ist ein standardisierter Fragebogen u. a. zur Ermittlung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, der allgemeinen und rückenbezogenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie des Bewegungsver-
serungen in der Interventionsgruppe in der körperlichen und emotionalen Rollenfunktion sowie des körperlichen Schmerzes festgestellt werden. Es gibt eine signifikante Abnahme des körperlichen Schmerzes, und einen mittelfristig signifikanten Rückgang der Rückenschmerzstärke. ▬ Ein Jahr nach Kursende relativieren sich diese kursbedingten Veränderungen für die Gesamtgruppe. Teilnehmer, die sportlich inaktiv sind, profitieren mehr von der Rückenschule als bereits vor dem Programm sportlich Aktive. Eine optimistische Haltung scheint die Kursteilnahme positiv zu beeinflussen. ▬ Es liegt ein deutlicher Nutzen des Kurses durch Reduktion der Arbeitsunfähigkeit (AU) vor. In den ersten fünf Quartalen nach der Intervention ergeben sich Nettoeinsparungen von 14 krankengeldpflichtigen AU-Tagen. Die Dauer von Krankschreibungen wird positiv beeinflusst. Der größte Anteil der Einsparungen entfällt auf krankengeldpflichtige Tage mit ca. 11 AU-Tagen innerhalb von fünf Quartalen pro Kursteilnehmer. Somit entstehen Einsparungseffekte bei der Krankenkasse und beim Arbeitgeber. Die Verlaufskurve zwischen ein und zwei Jahren ergibt eine zusätzliche Minderinanspruchnahme von bis zu etwa acht krankengeldpflichtigen AU-Tagen. Innerhalb eines Zeitraums von 24 Monaten ergeben sich Einsparungen von ca. 18 Tagen. Die Reduktion dieser indikationsspezifischen Arbeitsunfähigkeit entspricht volkswirtschaftlichen Einspareffekten von gut 1600 Euro pro Kursbeginner (Produktionsausfallkosten). Einzelwirtschaftlich ergeben sich für die gesetzliche Krankenkasse Einsparungen von etwa 660 Euro. Die Programmkosten werden für die Kasse deutlich überkompensiert. Der »return on investment« beträgt einzelwirtschaftlich für die Kasse 1,3:1 und volkswirtschaftlich 3,2:1. Von den aufgewandten
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Effektivität und Kosteneffektivität von Rückenschulen bei unspezifischen Rückenschmerzen (Deutschland, 1997–2000) Schwerpunkt Evaluation sekundärpräventiver ambulanter Rückenschulen.
Ziele Effektivität und Kosteneffektivität von Rückenschulen.
Stichprobe und Rekrutierung Die Stichprobe besteht aus unter 55-jährigen Mitgliedern einer Krankenkasse in Niedersachsen mit unspezifischen Rückenschmerzen im Stadium der Chronifizierung. Im Herbst 1997 werden 2549 potenzielle Teilnehmer anhand definierter Kriterien zur Arbeitsunfähigkeit für die Studie identifiziert. 1937 (76%) Mitgliedern wird das Kursangebot schriftlich angekündigt, von denen 1245 (64%) telefonisch und vor Ort beraten werden. 198 Teilnehmer beginnen den Kurs.
Studiendesign: Interventionsstudie
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Kapitel 5 · Rücken
Kosten entfiel die Hälfte auf die Rekrutierung der Teilnehmer, die andere Hälfte auf die Intervention. ▬ Sekundärpräventive Rückenschulen haben auch außerhalb des betrieblichen Settings bei aktiver Rekrutierung der definierten Zielgruppe auf Personen im chronifizierenden Stadium kurz- bis langfristig positive Auswirkungen auf die Gesundheit und führen zu einer deutlichen Reduktion der Arbeitsunfähigkeit.
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Schlussfolgerung für die Prävention Wesentlich für die Wirksamkeit und Kosteneffektivität einer Maßnahme ist die genaue Definition der Zielgruppe, ihre Identifikation und Ansprache. Der Fokus bei der Durchführung und Finanzierung von Maßnahmen sollte verstärkt auf Zugangswegen liegen.
Literatur zum Thema Hoopmann M, Reichle C, Krauth C, Schwartz FW, Walter U (2001) Effekte eines Rückenschulkursprogrammes der AOK Niedersachsen auf die Entwicklung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie der Arbeitsunfähigkeit. Das Gesundheitswesen 63:176–182 Hoopmann M, Krauth C, Reichle C, Schwartz FW (2002) Gesundheits- und leistungsbezogene Wirksamkeit von Rückenschulen. Ergebnisse der Effektevaluation eines außerbetrieblichen Rückenschulprogramms der AOK Niedersachsen. In: Walter U, Drupp M, Schwartz FW (Hrsg) Prävention durch Krankenkassen. Zielgruppen, Zugangswege, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Juventa, Weinheim München, S 239–250 Krauth C, Hoopmann M, Schwartz FW, Walter U (2002) Wirtschaftlichkeit von Interventionen zu unspezifischen Rückenbeschwerden. Gesundheitsökonomische Evaluation eines Rückenschulprogramms der AOK Niedersachsen. In: Walter U, Drupp M, Schwartz FW (Hrsg) Prävention durch Krankenkassen. Zielgruppen, Zugangswege, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Juventa, Weinheim München, S 306–317 Walter U, Reichle C, Lorenz C, Schwartz FW (2002) Risikogruppen gezielt auswählen und erreichen. Wirksamkeit routinedatenbasierter aktiver und offener passiver Zugangswege und Auswahlstrategien. In: Walter U, Drupp M, Schwartz FW (Hrsg) Prävention durch Krankenkassen. Zielgruppen, Zugangswege, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Juventa, Weinheim München, S 97–110
Ziele Rückkehr der Patienten zur Arbeit durch eine Verbesserung der Funktion und der körperlichen Leistungsfähigkeit.
Stichprobe Die Stichprobe besteht aus 115 Patienten (92 Männer, 23 Frauen) einer Klinik für Rheumatologie und Rehabilitation des Bewegungsapparats. Das Alter der Teilnehmer beträgt 42 ± 8,5 Jahre. Die Teilnehmer haben bei Aufnahme in die Studie länger als drei Monate chronische unspezifische Rückenschmerzen sowie Teilbzw. volle Arbeitsunfähigkeit oder infrage gestellte Arbeitsfähigkeit.
Studiendesign: Interventionsstudie Eine Drei-Punkt-Erhebung wird durchgeführt. Die Befragungen nach sechs und zwölf Monaten erfolgen mit einem Fragebogen bei Patienten zu Schmerzintensität und -lokalisation und bei Hausärzten zur Arbeitstätigkeit. Erfasst werden soziodemographische Daten, Schmerzparameter, Funktionsparameter, prädiktive Faktoren für ein negatives Rehabilitationsresultat und eine unveränderte Arbeitstätigkeit, Selbstbeurteilung des Rehaaufenthaltes und die tatsächliche Arbeitsfähigkeit bei Eintritt und nach sechs und zwölf Monaten.
Intervention Die Gruppe des Ergonomietrainingsprogramms hat jeweils eine Größe von zehn Patienten. Jeder Patient absolviert täglich ein Gehtraining, ein spezifisches Ergonomietraining von 1,5 Stunden inklusive medizinischer Trainingstherapie sowie sportphysiotherapeutische Behandlungseinheiten. Ergänzt werden diese Therapien durch ein individuell zusammengestelltes Selbsttrainingsprogramm. Das Training erfolgt neben der klassischen Therapie in simulierten Arbeitssituationen. Eine ergonomische Arbeitsberatung vervollständigt die Behandlung.
Wesentliche Ergebnisse Infobox
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▬ Die Schmerzintensität und -lokalisation zeigen von
Einfluss eines stationären funktionsorientierten Ergonomietrainingsprogramms auf verschiedene Schmerzund Funktionsparameter.
Eintritt zu Austritt keine Veränderung, während sie von Austritt zu sechs und zwölf Monaten signifikant zunehmen. ▬ Es zeigt sich eine signifikante Verbesserung der Funktionsparameter »Hebeleistung«, »maximale Geschwindigkeit« und »Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit«. ▬ Die Patienten, die positive prädiktive Tests für ein negatives Reharesultat aufweisen sind über-
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Ergonomietrainingsprogramm für Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen (Schweiz, 2000–2001) Schwerpunkt
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wiegend männlich, Migranten, Personen ohne Berufsausbildung und Arbeitslose. Die Gruppe der positiv Prädiktiven verspürt zu allen Messzeitpunkten stärkere Schmerzen, zeigt sich weniger leistungsfähig und kann sich nur in wenigen Funktionsparametern verbessern. ▬ Die arbeitsbezogene Leistungsfähigkeit verbessert sich signifikant von Eintritt zu Austritt. Die Arbeitstätigkeit nimmt von 15% bei Eintritt auf 23% nach sechs Monaten und auf 28,5% nach 12 Monaten zu. ▬ Es ist keine Verschlimmerung der Schmerzintensität zu verzeichnen, eine Verbesserung der Schmerzen tritt aber auch nicht ein.
Studiendesign: Interventionsstudie Nichtrandomisierte, parallel gruppenkontrollierte Studie mit einer Interventions- (Victoria) und einer Kontrollgruppe (New South Wales). Erhebungsmethode sind telefonische Interviews. Es erfolgt eine Vier-Punkt-Erhebung bei der Bevölkerungsstichprobe und eine Drei-Punkt-Erhebung bei den Allgemeinärzten.
Intervention
Veränderung von Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber Rückenschmerzen, die Reduzierung begleitender medizinischer Versorgung und Arbeitsunfähigkeit sowie rückenschmerzbezogener Krankheitskosten.
Ab September 1997 werden zur Hauptsendezeit Werbespots im Fernsehen zum Thema Rückenschmerzen ausgestrahlt. Die Spots beinhalten folgende Informationen: Bei leichten Schmerzen soll so lange wie möglich den normalen täglichen Aktivitäten nachgegangen werden; Arbeitsunfähigkeit kann durch präventives Verhalten vermieden werden, wie z. B. keine langen Ruhephasen, Bewegung und zusammen weiterarbeiten. Ärzte werden aufgefordert, Medikamente möglichst nicht zu verschreiben und unnötige Tests und Behandlungen zu vermeiden. Um zu verhindern, dass ernsthaft schwer Erkrankte nicht zum Arzt gehen, wird auf »Red-flag-Symptome« hingewiesen, die einen Arztbesuch erforderlich machen. Die Intervention wird drei Monate intensiv durchgeführt, danach abgeschwächt bis September 1998. Eine weitere intensive Informationsphase erfolgt 1999 für weitere drei Monate, nach Dezember 1999 gibt es keine TV-Spots mehr. ▬ Die Befragung der Allgemeinärzte umfasst Fragen zur Behandlung von akuten Rückenschmerzpatienten, die Bewertung von Rückenschmerzen sowie die Beurteilung von zwei Patientenszenarien. 1667 Allgemeinärzte werden pro Staat kontaktiert, davon nehmen 500 Allgemeinärzte an der Befragung teil. An den drei Befragungsperioden nehmen insgesamt 1146 Ärzte teil. ▬ Die Befragung der Bevölkerung erfolgt 1997, 1999, 2000 und 2002. Insgesamt nehmen 6230 Personen an den vier Befragungsperioden teil. Neben dem Beschwerdeverlauf von Rückenschmerzen werden das Auftreten der Schmerzen während der Arbeitszeit sowie die Wahrnehmung der medialen Informationen erfasst.
Stichprobe
Wesentliche Ergebnisse
Schlussfolgerung für die Prävention Rehabilitanden mit geringem Rehaerfolg bedürfen spezifischer Maßnahmen zur Verbesserung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.
Literatur zum Thema Bachmann S, Oesch PR, Kool JP, Persili S, Knüsel O (2003) Behandlung von Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen in einem Ergonomietrainingsprogramm: Wie verändern sich arbeitbezogene Funktionsparameter, Schmerzparameter und die Arbeitstätigkeit nach 12 Monaten? Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 13:263–270
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TV-Informationen zu Rückenschmerzen in Australien (Victoria WorkCover Authority Public Health Campaign) (Australien, Kampagne: 1997–1999, Befragungen: 1997, 2000 und 2004) Schwerpunkt Mediale Information über Rückenschmerzen.
Ziele
Grundgesamtheit ist die 16- bis 65-jährige Bevölkerung der Bundesstaaten Victoria und New South Wales (Australien). 6230 Einwohner werden als Stichprobe ausgewählt. Eine weitere Stichprobe bilden die Allgemeinärzte der beiden ausgewählten Staaten. ▼
▬ Die Ärzte in der Interventionsgruppe verfügen im Vergleich zur Kontrollgruppe über das Wissen, dass bei Patienten mit Rückenschmerzen keine Inaktivität und Bettlägerigkeit nötig ist und dass Patienten zügig wieder ihre Arbeit aufnehmen ▼
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Kapitel 5 · Rücken
können. Die Ärzte in der Interventionsgruppe ordnen im Vergleich zur Kontrollgruppe weniger Behandlungen und diagnostische Tests an. Viereinhalb Jahre nach Ende der Kampagne sind die verhaltensbezogenen Effekte bei den Ärzten noch nachweisbar. Die Informationen gelten als neue Norm. ▬ Die Probanden der Interventionsgruppe glauben häufiger, dass Schonung oder lange Arbeitsunfähigkeit bei Rückenschmerzen nicht nötig ist. ▬ Das Wissen der Bevölkerung über Rückenschmerzen wirkt sich auf die Prävalenz aus. Eine primärpräventive Strategie, die gesellschaftliche Fehlvorstellungen gegenüber Rückenschmerzen beseitigt, kann rückenschmerzbedingte Arbeitsunfähigkeit reduzieren. Die Effekte sind langfristig zu beobachten.
Schlussfolgerung für die Prävention Mediale Informationen tragen zur Förderung der Rückengesundheit bei. Wesentlich für den Erfolg einer Maßnahme ist eine gute Kenntnis der beteiligten Professionen über Potentiale und Wirksamkeit präventiver Maßnahmen.
Stichprobe Die Stichprobe besteht aus 158 erwerbstätigen 20- bis 60-jährigen Patienten, die medizinische Versorgung wegen unspezifischer Rückenschmerzen in Anspruch nehmen, ein Risiko für Langzeiterkrankung tragen, weniger als vier Monate Ausfallzeit wegen Krankheit während des letzten Jahres und keine physische Therapie während des vorangegangenen Jahres haben.
Studiendesign: Interventionsstudie Die randomisierte kontrollierte Studie besteht aus drei Versuchsgruppen. Die Erhebungsmethode setzt sich zusammen aus Beobachtungen und postalischer Befragung, es erfolgt eine Zwei-Punkt-Erhebung vor und 12 Monate nach der Intervention.
Intervention Einteilung der Studienteilnehmer in drei Gruppen: 1. Minimale Behandlung (n = 47) 2. Minimale Behandlung und kognitive verhaltenstherapeutische Intervention (n = 69) 3. Minimale Behandlung und kognitive verhaltenstherapeutische Intervention mit zusätzlicher präventiver Bewegungstherapie (n = 69)
Wirksamkeit von Prävention auf künftige Arbeitsfehlzeiten und die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung.
1. Minimale Behandlungsgruppe: Die Patienten werden vom Arzt untersucht und erhalten Informationen über die Unschädlichkeit von Schmerzen und die Relevanz täglicher Aktivität und Bewegung. Sie erhalten außerdem ein 16-seitiges Buch zum Thema »Umgang mit akuten Nacken- und Rückenschmerzen«. Dieses weist auf die Nichtschädlichkeit der Schmerzen und aktive Bewältigungsstrategien hin. Die Teilnehmer in der ersten Gruppe können freiwillig medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. 2. Minimale Behandlung und kognitive verhaltenstherapeutische Intervention: Die Intervention beinhaltet ein in sechs Sitzungen strukturiertes Programm à zwei Stunden, einmal wöchentlich, mit Gruppen von 6–10 Personen. Hierbei werden Informationen vermittelt, Fähigkeiten zum Selbstschutz erlernt, Probleme gelöst und Hausaufgaben erteilt sowie individuelle Programme erstellt. Ziel der Schulungen ist es, die Teilnehmer zu befähigen, mit Rückenschmerzen möglichst selbstständig umzugehen und zu lernen, diese zu beeinflussen. 3. Minimale Behandlung und kognitive verhaltenstherapeutische Intervention plus präventive Bewegungstherapie: Die Teilnehmer in der dritten Gruppe erhalten das zusammengesetzte Programm aus der ersten und zweiten Gruppe. Zusätzlich erhalten sie eine individu-
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Literatur zum Thema Buchbinder R, Jolley D, Wyatt M (2001) Population-based intervention to change back pain beliefs and disability: three part evaluation. Br Med J 322:1516–1520 Buchbinder R, Jolley D (2005) Effects of a media campaign on back beliefs is sustained 3 years after its cessation. Spine 30:1323–1330 Buchbinder R, Jolley D (2007) Improvement in general practitioner beliefs and stated management of back pain persist 4.5 years after the cessation of a public health media campaign. Spine 32:E156–E162
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Effekte einer präventiven Verhaltens- und einer Interventionstherapie auf Rücken- und Nackenschmerzen (Schweden, 2005 [Jahr der Publikation]) Schwerpunkt Reduzierung von Kreuzschmerzen.
Ziele
103 5.4 · Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien sowie systematische Literaturrecherchen
Systematische Literaturrecherchen ell an die vorliegende Beeinträchtigung angepasste präventive Bewegungstherapie sowie Informationen über ihre Befindlichkeitsstörung und die Empfehlung zu körperlicher Aktivität. Zusätzlich sind Behandlungen zur Schmerzreduzierung und zur Vorbereitung auf Bewegung möglich.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Die Rücklaufquote beträgt 85%. 80% der zweiten Gruppe nehmen an fünf oder mehr der sechs Sitzungen teil. In der dritten Gruppe nehmen 69% das Funktionstraining mit dem Physiotherapeuten in Anspruch. ▬ Die besten Ergebnisse erzielt die dritte Gruppe, die zweitbesten die zweite und die wenigsten die minimal behandelte erste Gruppe. Die dritte Gruppe weist signifikant weniger Arztkontakte auf als die erste Gruppe. Die Unterschiede zwischen der zweiten und der dritten Gruppe sind nicht signifikant. ▬ Die minimal behandelte Gruppe (1) hat den größten prozentualen Anteil an rückenschmerzbedingten Fehlzeiten, die zweite Gruppe den mittleren Anteil und die dritte Gruppe den geringsten Anteil an Fehlzeiten. Es gibt kaum Unterschiede zwischen Pretest und Nachbefragung bei Langzeitkrankheit. Dennoch verzeichnet die minimal behandelte Gruppe einen Anstieg bei Langzeitfehlzeit von 4,8% auf 16,3%. ▬ Das Risiko in der minimal behandelten Gruppe längerfristig zu erkranken ist fünfmal höher als in den anderen beiden Gruppen. Das Risiko 15 oder mehr Tage arbeitsunfähig zu sein ist sechsmal so hoch.
Schlussfolgerung für die Prävention Zusätzliche spezifische Interventionen wie Bewegungstherapie, Informationsvermittlung und Behandlungen zur Schmerzreduzierung und Vorbereitung auf Bewegung vermindern das Risiko für zukünftige Erwerbsunfähigkeit, zukünftige Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung und das Risiko längerfristig krank zu sein. Mit Hilfe von zielgerichteten Interventionen auf psychosoziale und funktionale Störungen, kann der Entwicklung von rückenschmerzbedingter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt werden.
Literatur zum Thema Linton SJ, Boersma K, Jansson M, Svard L, Botvalde M (2005) The effects of cognitive-behavioral and physical therapy preventive interventions on pain-related sick-leave: a randomized controlled trial. Clin J Pain 21:109–119
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Wirksamkeit der Prävention von Rückenschmerzen bei Schulkindern (Belgien, 1995–2003) Schwerpunkt Präventive Programme für Rückenschmerzen bei Schulkindern.
Ziele Identifikation von wirksamen Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von Kreuzschmerzen bei Kindern und Jugendlichen.
Methode: Systematische Literaturrecherche Für den Zeitraum Januar 1995 bis September 2003 werden systematische Literaturrecherchen in der Datenbank PubMed zu folgenden Themen durchgeführt: Identifikation von Risikofaktoren, Interventionsstudien, Body-Mass-Index bezogene Studien, Mobilität und Flexibilität von Muskeln und Gelenken, Muskelstärke, Bewegung, Sitzen, Arbeiten, Rauchen und psychosoziale Faktoren bezogen auf Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Recherche ergibt 1124 Treffer. Nach Ausschluss von Duplikaten und irrelevanten Studien werden fünf Studien zu präventiven Interventionen und 44 zu Risikofaktoren in das Review einbezogen.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Kreuzschmerzen können nicht mit einem ausschließlich wissensvermittelnden Interventionsprogramm verhindert werden. ▬ Die Ergebnisse zeigen, dass Interventionsmaßnahmen zur Prävention von Kreuzschmerzen bei Schulkindern wirksam sind. Die Heterogenität der Studien ermöglicht jedoch keine Formulierung von Leitlinien. Schulen bergen ein großes Potenzial, Kinder aller Schichten zu erreichen und diese früh zu einer gesunden Lebensweise zu bewegen. Die Autoren fordern, dass in der Zukunft Rückenschmerzprävention in der Schule einen ähnlichen Stellenwert einnehmen soll wie Zahnhygiene. Die bisherigen Studien zeigen keine Evidenz für den Einfluss von Mobilität und Flexibilität, Muskelstärke, physische Aktivität, Fitness, Sport, mit dem Tragen von Rucksäcken verbundenen Faktoren, Sitzhaltung, sitzende Tätigkeit oder Rauchen auf Rückenschmerzen. Psychosoziale Faktoren spielen eine wesentliche Rolle bei Rückenschmerzen. ▬ Es besteht ein Forschungsbedarf hinsichtlich Langzeitergebnissen und der Medikamentenbehandlung bei Schulkindern im Zusammenhang ▼
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104
Kapitel 5 · Rücken
mit Rückenschmerzen. Untersucht werden muss ebenfalls die Bedeutung von Schmerzen, Behinderung und Krankheit für Schulkinder.
Schlussfolgerung für die Prävention
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Interventionen können bei Kindern Ängste und Ungewissheiten über Krankheiten sowie deren Verlauf und Behandlung reduzieren und Rückenschmerzen vorbeugen.
Literatur zum Thema
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Cardon G, Balague F (2004) Low back pain prevention’s effects in schoolchildren. What is the evidence? Eur Spine 13 (8):663–679
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Präventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz für rezidivierende Rückenschmerzen (Deutschland, 1985–2005)
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Schwerpunkt Bewertung von Maßnahmen zur Prävention von Rückenschmerzen am Arbeitsplatz.
Ziele Wirksamkeit von Arbeitsplatzmaßnahmen sowie deren Kosteneffektivität.
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Methode: Systematische Literaturrecherche Grundlage bildet eine systematische Literaturrecherche der Review-Datenbanken sowie der Datenbanken der Cochrane Library. Suchbegriffe umfassen das Krankheitsbild, das Umfeld und Publikationstypen. Die Recherche wird in insgesamt 35 Datenbanken durchgeführt. Eingeschlossen wird ein Zeitraum von 1985 bis 2005, für Einzelstudien zwischen 1995 und 2005. Die Ergebnisse werden von zwei Mitarbeitern unabhängig durchgesehen. Auf Basis der Abstracts wird eine Vorauswahl der relevanten Publikationen getroffen und eine zweite Auswahl aus den Volltextartikeln. Insgesamt werden 4087 Literaturstellen in den Review-Datenbanken gefunden, 567 aus der CochraneLibrary-Recherche und 44 zusätzliche in der NHS Economic Evaluation Database. 631 Publikationen werden nach der ersten Auswahl im Volltext bestellt. 171 werden als potenziell relevant befunden, davon sind 62 systematische Übersichtsarbeiten und 109 Einzelstudien. Von einer weiteren Auswahl werden 15 systematische Reviews und 16 Einzelstudien in die Bewertung einbezogen. Ökonomische Literatur liegt kaum vor.
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nissen. Nicht bestimmen lässt sich der Einfluss der Art, der Intensität und der Dauer des Trainings. Wahrscheinlich sind die positiven Effekte unabhängig von Art und Intensität der Übungen. Schulung und Information: Interventionen mit ausschließlicher Wissensvermittlung sind für die Prävention von Rückenschmerzen unwirksam. Konventionelle Rückenschulprogramme mit aktivem Training sind kurzfristig wirksam. Für deren Nachhaltigkeit liegen keine Ergebnisse vor. Multidisziplinäre Programme: Neben Training und Informationen beinhalten multidisziplinäre Programme verhaltenstherapeutische Ansätze zur Änderung der Krankheitseinstellung. Laut Studien für Hochrisikopersonen haben diese Programme positive Effekte auf künftige Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Lumbale Stützgürtel: Lumbale Stützgürtel haben in der gesunden arbeitenden Bevölkerung keine positiven Effekte auf die Inzidenz von Rückenschmerzepisoden, Fehldauer am Arbeitsplatz oder auf die Inzidenz von Arbeitstagen mit Beeinträchtigung. Positive Auswirkungen auf Hochrisikogruppen lassen sich nur vermuten, geeignete Studien liegen bisher nicht vor. »Lifting-Teams« in der Krankenpflege: Lifting-Teams bestehen aus zwei gesunden Pflegekräften, die für den Transport von Hochrisikopatienten zuständig sind. Zu Lifting-Teams gibt es keine kontrollierten Studien, lediglich Übersichtsarbeiten. Die Ergebnisse weisen auf Potenziale von Interventionen zur Senkung der rückenbedingten Krankheitslast hin. Ergonomische Interventionen: Die Literaturanalyse zu Settingansätzen lässt keine Schlussfolgerung zur Wirksamkeit oder Unwirksamkeit zu.
Schlussfolgerung für die Prävention Forschungsbedarf besteht in der Entwicklung von Präventionskonzepten, die sich am biopsychosozialen Modell der Entstehung von Rückenschmerzen und ihrer Progression orientieren und diese mit Settingansätzen verknüpfen. Erforderlich sind ferner Studien zur Identifikation beeinflussender Faktoren, die die Effektivität von Prävention limitieren, und zur Integration von ergonomischen Erkenntnissen in Präventionskonzepte. Zudem sind standardisierte Methoden zur Evaluierung der Effektivität von Settingansätzen sowie zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität von arbeitsplatzbezogenen Interventionen zu entwickeln und einzusetzen.
Literatur zum Thema Wesentliche Ergebnisse
▬ Trainings- und Übungsprogramme: Der überwiegende Teil der Studien kommt zu positiven Ergeb▼
Lühmann D, Burkhardt-Hammer T, Stoll S, Raspe H (2006) Prävention rezidivierender Rückenschmerzen – Präventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz. Schriftenreihe Health Technology Assessment (HTA) in der Bundesrepublik. DIMDI, Köln
105 5.5 · Neue Ansätze zur Prävention von Rückenschmerzen: von der Theorie in die Praxis
Neue Ansätze zur Prävention von Rückenschmerzen: von der Theorie in die Praxis
5.5
Die Bertelsmann Stiftung engagiert sich seit über 25 Jahren in der Tradition ihres Gründers Reinhard Mohn für das Gemeinwohl. Sie versteht sich als Förderin des gesellschaftlichen Wandels und unterstützt das Ziel der zukunftsfähigen Gesellschaft. Ziel ist es, frühzeitig gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme zu identifizieren sowie exemplarische Lösungsmodelle zu entwickeln und zu verwirklichen. Die Bertelsmann Stiftung will damit Motor für notwendige Reformen und Veränderungen sein. Im Bereich Gesundheit setzt sich die Bertelsmann Stiftung mit drei Schwerpunktbereichen für mehr Qualität und Transparenz in der Gesundheitsversorgung ein. Die Projekte im Schwerpunkt »Zukunftsfähiges Gesundheitssystem« entwickeln unabhängige, ordnungspolitische Anregungen und Empfehlungen für die Gesundheitspolitik. Im Schwerpunkt »Qualitätsorientierte Gesundheitsversorgung« zielen die Projekte auf eine bessere Versorgungsqualität und mehr Transparenz über die Qualität von Leistungserbringern ab. Im Bereich »Gesunde Lebenswelten« werden evidenzbasierte Konzepte der Gesundheitsförderung und Prävention in Kindertagesstätten, Schulen und Unternehmen verankert. Ein Projektleiter im Bereich Gesundheit ist Eckhard Volbracht, der seit fünf Jahren bei der Stiftung tätig ist. Der studierte Diplomsportlehrer leitete neun Jahre lang eine Abteilung für Bewegungstherapie und Gesundheitsbildung in einer Rehabilitationsklinik. Nach diversen Fortund Weiterbildungen im Bereich Qualitätsmanagement war er danach fünf Jahre für das Qualitätsmanagement von vier Kliniken verantwortlich. Das berufsbegleitende Studium der Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld schloss Volbracht 1996 mit dem Master of Public Health ab. Der Projektleiter stellt im folgenden Gespräch mit der Redaktionsgruppe MHH/ISEG die Projekte der Bertelmannstiftung zur Rückengesundheit vor und deren Relevanz für Wissenschaft und Praxis.
Interview
Die Bertelsmann Stiftung hat das Projekt »Prävention von Rückenschmerzen« ins Leben gerufen. Aus welcher Motivation heraus hat sie sich diesem Projekt zugewandt? Welche Ziele verfolgt die Stiftung dabei? Rückenschmerzen sind eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und hohe Krankheitskosten. Häufig beeinträchtigen sie Aktivitäten in Beruf, Schule, Freizeit und Familie. Im Laufe des Lebens leiden etwa 80% der Bevölkerung an Rückenschmerzen und bereits die Hälfte der 15- bis 18-Jährigen hat Rückenschmerzen erlebt. Präventive Aspekte finden ebenso wie in vielen anderen Bereichen des Gesundheitswesens zu wenig Beachtung. Des Weiteren sind viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen bisher wenig standardisiert, in vielen Details umstritten und weisen erhebliche Unterschiede zwischen Regionen, Arztgruppen und Einrichtungen auf. Angesichts dieser Defizite wollen wir mit unseren Projekten einen Beitrag zu mehr Prävention und Qualität im Versorgungsprozess von Rückenschmerzen leisten. Was ist Ihre persönliche Aufgabe in diesem Projekt? Ich leite das Projekt und erarbeite in Zusammenarbeit mit renommierten Wissenschaftlern und Experten u. a. aus den Bereichen Medizin, Epidemiologie, Psychologie, Gesundheitswissenschaft, Gesundheitsökonomie und Sportwissenschaft verschiedene sinnvolle Arbeitspakete zur Lösung wichtiger Probleme und zur Weiterentwicklung der Prävention und Versorgung von Rückenschmerzen. Wen möchte die Stiftung durch ihre Arbeit erreichen? Dies hängt sehr stark von dem jeweiligen Projekt ab. Manchmal steht die Politik im Vordergrund. Bei den Rückenprojekten »Prävention von Rückenschmerzen« und »Qualitätsmanagement im Versorgungsprozess von Rückenschmerzen« wollen wir in erster Linie die Fachöffentlichkeit ansprechen. So wenden wir uns mit unseren Ergebnissen an Vertreter von Krankenkassen, Ärzten und an weitere Akteure im Gesundheitswesen. Darüber hinaus sind unser Rückentest www.rueckentest.de und unsere Broschüre »Locker bleiben« für die allgemeine Öffentlichkeit konzipiert. Infobox
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Der Rückentest wurde im Rahmen eines Projekts der Bertelsmann Stiftung von Dr. Dagmar Lühmann und Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein entwickelt. Er beruht auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zur Prävention von Rückenschmerzen. Der Test wendet sich an alle Personen, die sich mit ihrem Rücken und dem möglichen Risiko von Rückenschmerzen beschäfti▼
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106
Kapitel 5 · Rücken
gen wollen. Der Rückentest befragt den Nutzer u. a. zur Rückengesundheit, zur körperlichen Fitness und zur Belastung am Arbeitsplatz. Die Ergebnisse der Befragung werden in einem Risikoprofil mit Tipps für einen gesunden Rücken aufbereitet. Die Angaben der Nutzer werden zum Teil vom Institut für Sozialmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins Lübeck evaluiert.
5
Inwiefern kann eine Institution wie die Bertelsmann Stiftung zur Prävention von Rückenschmerzen beitragen? Prävention hat ja zumeist keine richtige Lobby. Zumindest sind andere Lobbygruppen deutlich stärker aufgestellt. Wir wollen mit unserer Arbeit daher besonders Veränderungen im Sinne der Gesellschaft und der Versicherten unterstützen und voranbringen, für die es keine stark organisierte Interessenvertretung gibt. Mit der Entwicklung und Verbreitung innovativer Ansätze leisten wir einen Beitrag zur Stärkung der Prävention und damit auch zur Verbesserung der Versorgung von Rückenschmerzen. Wo sehen Sie die vorrangigen Ansatzpunkte der Prävention von Rückenschmerzen? Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Die Bedeutung einzelner biomechanischer oder ergonomischer Faktoren wie untrainierte Muskulatur, langes Sitzen, unpassende Stühle wird zumeist erheblich überschätzt. Für viele der vermeintlichen Ursachen gibt es bislang kaum wissenschaftliche Beweise. Heute wird davon ausgegangen, dass ein komplexes Zusammenwirken biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Rückenschmerzen verantwortlich ist. Aufgrund dieser Komplexität gibt es keine einfachen Patentrezepte zur Prävention von Rückenschmerzen. Ein wichtiger Aspekt ist die Unterscheidung von unspezifischen und spezifischen Rückenschmerzen. Der weitaus größte Anteil der Rückenschmerzen kann als unspezifisch bezeichnet werden. So kann bei 80–90% der Rückenschmerzen keine klare Schmerzursache gefunden werden. Bei diesen unspezifischen Rückenschmerzen ist zu viel Diagnostik und längere Bettruhe sogar schädlich. Man wird umso schneller wieder fit, je schneller man alle Alltagsaktivitäten wieder aufnimmt. Erfahrene Rückenschmerzforscher plädieren dafür, die gelegentliche Rückenschmerzepisode als unvermeidbares Alltagsphänomen ohne wirklichen »Krankheitswert« zu akzeptieren – wie Schnupfen oder gelegentlichen Kopfschmerz. Rückenschmerzen sind meist harmlos und gehören wie eine Erkältung oder graue Haare zum Leben dazu. Sowohl Versicherte, Patienten, aber auch Ärzte und Physiotherapeuten müssen hier sicherlich noch umdenken. Würden diese Erkenntnisse im Vorfeld angemessen vermittelt, würden weniger unsinnige Erwartungen hin-
sichtlich diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen an die Leistungserbringer gestellt und weniger Kosten und Lebensqualitätsbeeinträchtigung verursacht. Aber nun zu Ihrer Frage zurück: Was kann präventiv getan werden? Alle Maßnahmen, die einen gesunden, ausgeglichenen Lebensstil, die Selbstverantwortung hinsichtlich der eigenen Gesundheit und das Wohlbefinden unterstützen, helfen, auch Rückenschmerzen zu verringern. Dabei spielen ausgleichende körperliche Aktivität im Alltag, Stressreduktion und die eben beschriebene Einstellungsänderung auf der verhaltenspräventiven Ebene die entscheidende Rolle. Mehr Aufmerksamkeit sollten aber auch so genannte verhältnispräventive Aspekte erfahren. Hier sind Schreibtischstühle oder andere ergonomische Aspekte wohl weniger wichtig als zumeist angenommen. Dagegen ist die Bedeutung weicher Faktoren wie Betriebsklima, Motivation sowie Handlungsspielräume für die Gesundheit der Beschäftigten inzwischen unbestritten. Bei der Chronifizierung von Rückenschmerzen ist die Arbeitszufriedenheit als Resultat eines komplexen Wechselspiels zwischen psychosozialen Faktoren erheblich bedeutsamer als biomechanische Belastungsfaktoren. Beschäftigte, die ihren Bereich bzw. ihr Unternehmen als nicht mitarbeiterorientiert wahrnehmen und mit ihrer Arbeit unzufrieden sind, leiden erheblich häufiger an Rückenschmerzen. Daher haben Unternehmen und Führungskräfte hier eine hohe Verantwortung. Welche Barrieren müssen hierzu aus Ihrer Sicht überwunden werden? Dies ist eine sehr gute, aber nicht einfach zu beantwortende Frage. Wir haben einmal in der Stiftung die Vision formuliert: »Entwicklung eines Gesundheitssystems, bei dem nicht mehr die Honorierung der Behandlung von Krankheiten, sondern die Erhaltung und Förderung von Gesundheit im Vordergrund steht.« Im Gesundheitssystem fehlen jedoch oft Anreize für gesundheitsförderndes Verhalten sowohl auf Seiten der Versicherten als auch auf Seiten der Leistungserbringer, Kostenträger, Schulen und Betriebe. Leider sind gerade auch im Bereich der Rückenschmerzen die Anreize oft sogar so gestaltet, dass sie geradezu chronifizierungsfördernde Diagnostik und Therapie belohnen. Verdient wird nun einmal am Kranken und nicht am Gesunden. Hier wird sich noch viel ändern müssen. Neben anderen Anreizstrukturen müssen präventive Erkenntnisse und Fähigkeiten besonders in der Medizin erheblich mehr Bedeutung in Aus- und Weiterbildung erlangen. Psychologen, Bewegungs- und Ernährungsfachleute müssen besser in den Versorgungsprozess integriert werden. Darüber hinaus benötigen wir auch speziell für diesen Bereich ausgebildete Berufsgruppen wie die National Health Service Trainers in England oder die Primary Care Nurses in Skandinavien. Vermutlich brauchen wir auch ganz andere Strukturen, um mehr Prävention in das
107 5.5 · Neue Ansätze zur Prävention von Rückenschmerzen: von der Theorie in die Praxis
Gesundheitssystem zu integrieren. Auch hier können wir wieder einmal nach Finnland oder auch Spanien schauen und von den dortigen Primary Health Care Zentren sehr viel lernen. Wie gelangen Ihre Erkenntnisse in die Praxis? Welche Schritte müssen dafür von der Stiftung ergriffen und welche Partner müssen einbezogen werden? Es werden die klassischen Ansätze wie Publikationen, Informationsvermittlung über das Internet und Kongresse genutzt. Der Rückentest www.rueckentest.de und die Broschüre »Locker bleiben« wurden bei einer Betriebskrankenkasse eingesetzt und mit anderen präventiven Maßnahmen verknüpft. Wir haben die Nutzung dieser entwickelten Instrumente allen Krankenkassen angeboten. Aktuell setzt die KKH den Rückentest bei ihren Versicherten ein. Im Rahmen des Projekts »Prävention von Rückenschmerzen« ist Anfang 2007 auch eine Publikation zur Förderung der Rückengesundheit beim deutschen Ärzteverlag erschienen. Hier werden von Prof. Dr. Klaus Pfeifer evidenzbasierte Grundlagen für die Planung von bewegungsbezogenen Rückenkursen beschrieben. Eine solche evidenzbasierte Intervention wird gegenwärtig wissenschaftlich begleitet. In diesem Zusammenhang haben wir auch mit allen Rückenschulverbänden zusammen gearbeitet. Darüber hinaus haben wir in den letzten zwei Jahren mit einer hochkarätigen interdisziplinären Expertengruppe ein Rahmenkonzept für eine Integrierte Versorgung von Rückenschmerz entwickelt. Dieses wurde im Juni 2007 auf einem Kongress in Berlin vorgestellt. Ein Projekt der Bertelsmann Stiftung im Bereich Gesundheit ist die Entwicklung und Etablierung »guter gesunder Schule«, das derzeit in drei Modellregionen (Berlin-Mitte, Bad Kissingen, Greifswald) in der Praxis implementiert wird. Inwiefern besteht eine Verzahnung dieses und/oder anderer Projekte der Bertelsmann Stiftung mit dem Projekt »Prävention von Rückenschmerzen«? Eine Vernetzung gerade mit dem schulischen Projekt »Anschub.de« ist sehr wichtig, denn einige Grundlagen für spätere »Rückenschmerzkarrieren« werden bereits im Schulalter gelegt. Über 50% der 15- bis 18-Jährigen haben bereits Rückenschmerzen erlebt. Daher ist eine angemessene frühzeitige Berücksichtigung der Erkenntnisse für einen gesunden Rücken sehr wichtig, damit Bildungsqualität und die Entwicklung von Lebenschancen nicht unnötig beeinträchtigt werden. Gegenwärtig wird im Rahmen des Projekts »Anschub.de« eine Broschüre zu diesem Thema von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe erarbeitet. Die Erkenntnisse der Rückenschmerzprävention werden mit der ganzheitlichen Philosophie von »Anschub.de« verbunden. Damit stehen keine isolierten Maßnahmen im Vordergrund, sondern eher Organisationsveränderungen und Konzepte wie die »Bewegte Schule«.
Wie wird Prävention von Rückenschmerzen in anderen Ländern realisiert? Was können wir daraus für den Standort Deutschland lernen? Einige allgemeine Aspekte wurden schon bei der Frage nach den Barrieren angesprochen. So sind einige Länder hinsichtlich präventionsorientierter Anreizstrukturen, spezieller Berufsbilder und geeigneter Strukturen bereits deutlich weiter. Was speziell die Rückenschmerzen betrifft, waren die Australier z. B. mit einer bevölkerungsbezogenen Kampagne erfolgreich, die die vorhin erwähnte Einstellungsänderung adressierte. Eine groß angelegte Informationskampagne mit dem Schwerpunkt Veränderung der Einstellung zum Rückenschmerz und mehr Aktivität konnte die Anzahl der Krankheitstage deutlich vermindern. Wir benötigen solche Kampagnen, kombiniert mit den entsprechenden präventiven Angeboten auch in Deutschland. Dies ist eine klassische Aufgabe für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), aber leider stehen dafür kaum Mittel zur Verfügung. Welche Akteure und Entscheidungsträger muss eine Stiftung gewinnen, um Projekte zur Prävention wirksam anzustoßen und umzusetzen? Hier hat der in diesem Jahr bereits zum fünften Mal von der Stiftung gemeinsam mit der BZgA verliehene Deutsche Präventionspreis mehrfach Akzente gesetzt. Neben Evaluations- und Qualitätskriterien war auch die nachhaltige Verankerung der Projekte im System ein entscheidendes Kriterium für die Auswahl der besten Projekte. Dabei zeigte sich auch, dass die Einbindung von Akteuren und Entscheidungsträgern von den jeweiligen Projektzielsetzungen und dem spezifischen Projektkontext abhängig ist. Auch das schon erwähnte Projekt »Anschub.de« zeigt beispielhaft, wie durch eine Einbindung aller relevanten Partner bereits in der konzeptionellen Phase die Umsetzung befördert wird. Wesentlich ist in der Prävention Nachhaltigkeit. Wie unterstützen Sie diese? Mit guten und hilfreichen Projektergebnissen versuchen wir bereits, einen kleinen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten, denn nur gute Ergebnisse haben langfristig Bestand. Ich hatte schon erwähnt, dass wir die Rückenschulverbände bei der Weiterentwicklung der Inhalte eine Zeitlang begleitet haben und eine evidenzbasierte Intervention gemeinsam mit einer Krankenkasse evaluieren. Ebenso wie die Ergebnisse in den schulischen Bereich einfließen, wird in einem aktuellen Projekt eine bessere Verknüpfung von Betrieb und Kuration erarbeitet, die auch modellhaft umgesetzt werden soll. Die Bertelsmann Stiftung will ja primär Impulse setzen und kann auch die anfängliche Umsetzung begleiten. Mittelfristig bis langfristig müssen jedoch die jeweiligen Akteure und Entscheidungsträger die Ideen und Modellprojekte aufnehmen und nachhaltig in ihr Handeln integrieren.
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Kapitel 5 · Rücken
Mit ihren sechs Schwerpunkten Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Kultur möchte die Bertelsmann Stiftung gemäß ihrem Leitbild den gesellschaftlichen Wandel fördern. Für Gesundheit wird nach der WHO ein sektorübergreifendes Vorgehen als wesentlich angesehen. Inwieweit tragen Sie diesem Anspruch in Ihrem Konzept Rechnung? Seit einigen Jahren bemühen wir uns in der Stiftung um bestmögliche Vernetzung zwischen den verschiedenen Bereichen. Das themenfeldübergreifende Arbeiten und Denken in der Stiftung hat erheblich zugenommen. So arbeiten unterschiedliche Projekte zusammen, und es wurden übergreifende Projekte wie z. B. zum demographischen Wandel und das kommunale Kompetenzzentrum auf den Weg gebracht. In dieser Liga spielt das Rückenprojekt jedoch nicht, muss es aber auch nicht. Denn gerade bei der Rückenthematik gibt es zahlreiche Aspekte, die originär im Bereich der Gesundheitsversorgung bearbeitet werden müssen. Große Räder können nur mit stabilen Speichen gedreht werden. Die eine oder andere Speiche tragen wir mit unseren Rückenprojekten zur Stärkung des Rückgrats der Nation bei. Vielen Dank für das Gespräch.
Arbeitsweltbezogene Gesundheitsprävention: »Das Kraftwerk-Mobil«
5.6
Ein Praxisbeispiel aus der Automobilproduktion zur Prävention von Erkrankungen des Rückens Armin Straub Seit mehr als einem Jahrzehnt sind in Deutschland die Krankenstände rückläufig. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist dies zwar ein erfreulicher Trend, der sich allerdings bei einer branchenspezifischen Betrachtungsweise relativiert: Nach wie vor verhält es sich so, dass in Dienstleistungsbereichen, und hier insbesondere im Bankensektor, die Krankenstände deutlich niedriger liegen als im produktiven Sektor oder in Bereichen, in denen körperliche Belastungen prägende Tätigkeitsmerkmale sind. Dabei sind Rückenschmerzen im Hinblick auf die Ursachen von Arbeitsunfähigkeit durch Muskel-SkelettErkrankungen von großer Bedeutung: Knapp 60% aller Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) und deutlich mehr als 50% aller Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) entfallen auf die ICD-10-Diagnosen M40-M54 (Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens; BKK Gesundheitsreport 2004). Das Mercedes-Benz-Werk Bremen der Daimler AG hat im Jahr 2004 das »Kraftwerk-Mobil« implementiert, an dem die Mitarbeiter ein regelmäßiges Training ihrer Rücken- und
Bauchmuskulatur durchführen können. Im Folgenden wird das Setting des Betriebes sowie die Umsetzung und Anwendung des »Kraftwerk-Mobils« aufgezeigt.
5.6.1 Setting: Das Mercedes-Benz-Werk
Bremen der Daimler AG Die Daimler AG, zu der das Mercedes-Benz-Werk Bremen gehört, verfügt weltweit über Produktionsstätten in 17 Ländern. Im Jahr 2006 erzielte das Unternehmen dabei einen Umsatz von mehr als 150 Milliarden Euro. Knapp vier Millionen Personen- und 842.000 Nutzfahrzeuge wurden im vergangenen Jahr hergestellt, wobei das Unternehmen mehr als 360.000 Mitarbeiter beschäftigte. Am Standort Bremen hat die Automobilproduktion mittlerweile eine lange Tradition und reicht zurück bis ins Jahr 1908, als in der Region die ersten Automobile gefertigt wurden. Die Daimler AG übernahm 1971 das Werk und gliederte es bis 1978 schrittweise in seinen Produktionsverbund ein. In den 1980er Jahren wurde das Werk durch eine umfangreiche Erweiterung zu einem der modernsten Automobilproduktionsstandorte der Welt ausgebaut. Zurzeit werden am Standort Bremen in drei Schichten pro Tag ca. 1000 Fahrzeuge gefertigt (»C-Klasse«, CLKKlasse«, »SL-Klasse« und »SLK-Klasse«). Im Jahr 2004 waren im Mercedes-Benz-Werk Bremen knapp 13.000 Menschen tätig, wobei der Anteil der Männer mit 94,4% deutlich überwog. Gut 84% der Gesamtbelegschaft waren gewerbliche und etwa 16% angestellte Mitarbeiter. Der Altersdurchschnitt der gesamten Belegschaft lag im Jahr 2004 bei 41,7 Jahren, wobei »direkte«, d. h. taktgebundene, Mitarbeiter im Mittel 40,6 Jahre alt und »indirekte«, nicht taktgebundene Produktionsmitarbeiter, im Schnitt 43,6 Jahre alt waren. Der Altersdurchschnitt in den Angestelltenbereichen lag bei 44,9 Jahren. Den prozentual größten Teil der Belegschaft (⊡ Abb. 5.9) verzeichneten die zwei Altersgruppen der zwischen 36- und 55-Jährigen.
5.6.2 Krankenstand, Arbeitsunfähigkeitsfälle
und -tage Im Jahr 2004 lag der Gesamtkrankenstand des Werkes bei 4,9%, wobei die gewerblichen Mitarbeiter einen Wert von 5,9% und die Angestellten einen Wert von 2,0% aufwiesen. Insgesamt wurden mehr als 18.000 AU-Fälle mit einem Gesamtaufkommen von 220.000 Arbeitsunfähigkeitstagen verzeichnet. Auf einen ganzjährig beschäftigten, pflichtversicherten Mitarbeiter des Werkes entfielen 2004 durchschnittlich 1,47 AU-Fälle mit einer AU-Dauer von 18 Tagen, was einer mittleren Dauer eines AU-Falles von ungefähr 12 Tagen entspricht. Wie aus den ⊡ Abb. 5.10 und 5.11
109 5.6 · Arbeitsweltbezogene Gesundheitsprävention: »Das Kraftwerk-Mobil«
60 52
Anteil in Prozent
50 40
40
37
37
35
30 21
20
20 14
12 11
11
10 2
0
2
4 1
15–25
26–55
36–45
46–55
⊡ Abb. 5.9. Prozentuale Zusammensetzung der Belegschaft im Werk Bremen nach Alter im Jahr 2004. (Aus Werksgesundheitsbericht 2004/2005 Daimler AG, Mercedes-Benz-Werk Bremen)
56–65
Kategorisiertes Alter in Jahren direkte Arbeiter
indirekte Arbeiter
Angestellte
Bund West AU-Fälle pro 100
114
Bremen AU-Fälle pro 100
114
KFZ-Bau AU-Fälle pro 100
119
U. Vgl. (Versicherungsart = „1“) AU-Fälle pro abg. (2004
147
U. AU-Fälle pro 100 abg. (2004)
137
0
20
40
160
⊡ Abb. 5.10. AU-Fälle je 100 Versicherte in 2004 im Vergleich
800 1000 1200 1400 1600 1800 2000
⊡ Abb. 5.11. AU-Tage je 100 Versicherte in 2004 im Vergleich
60
80
100
120
140
1335
Bund West AU-Tage pro 100
Bremen AU-Tage pro 100
1367
KFZ-Bau AU-Tage pro 100
1541
U. Vgl. (Versicherungsart = „1“) AU-Tage pro abg. (2004
1804
U. AU-Tage pro 100 abg. (2004)
1660
0
200
400 600
5
110
5
Kapitel 5 · Rücken
hervorgeht, lagen die Werte der Daimler AG BKK je 100 Pflichtversicherten (Versicherungsart = 1) in Bezug auf die Anzahl der AU-Fälle deutlich über den Vergleichswerten auf Bundesebene, des Landes Bremen und der KFZ-Branche. In beiden Abbildungen gibt der untere Balken den Werkswert (U = Unternehmen) inkl. der freiwillig Versicherten, d. h. im Wesentlichen der Angestellten, an. Dementsprechend fällt dieser Wert ein wenig günstiger als der darüber liegende der Pflichtversicherten aus. Der Durchschnittswert der Pflichtversicherten in der KFZ-Branche lag im Jahr 2004 bei 1541 AU-Tagen je 100 Versicherte. Das Werk Bremen lag mit 1804 AU-Tagen deutlich über diesem Wert, wie auch über dem Bundesdurchschnitt und dem Land Bremen. Bezogen auf die Anzahl der Beschäftigten am Standort berechnet sich im Vergleich mit der KfZ-Branche eine Differenz von etwa +38.000 AU-Tagen im Jahr 2004.
5.6.3 Erkrankungsspektrum
Bei Betrachtung der Arbeitsunfähigkeitssituation vor dem Branchenhintergrund bestätigt sich der allgemeine Trend bezüglich des gesamten Krankenstandrückganges mit einer Absenkung der durchschnittlichen AU-Tage von 14,3 Tagen in 2003 auf 13,8 Tage in 2004 auch in der metallverarbeitenden Industrie (BKK Gesundheitsreport 2005). Im »KFZ-Bau« allerdings war in 2004 bei den pflichtversicherten Beschäftigten ein Wert von 14,7 Tagen zu verzeichnen, der damit über dem Durchschnitt der Metallindustrie liegt. Unter Einbeziehung der freiwillig Versicherten lag der Wert hingegen »nur« noch bei 13,1 Tagen je Versichertem. Bei einer solchen branchenbezogenen Betrachtungsweise zeigt sich für den KFZ-Bau gleichfalls die besondere Bedeutung der Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems: Mit knapp fünf Muskel-Skelett-bezogenen Krankheitstagen je beschäftigtem Pflichtmitglied liegt dieser Wirtschaftszweig in dieser Hinsicht recht deutlich über dem entsprechenden Bundesdurchschnitt von 3,5 Krankheitstagen und damit in der Spitzengruppe des verarbeitenden Gewerbes. Im Mercedes-Benz-Werk in Bremen entfielen im Jahr 2004 knapp 27% aller AU-Fälle und nahezu 38% aller AU-Tage auf Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, wobei Rückenerkrankungen davon wiederum den Hauptanteil darstellten.
5.6.4 Organisation und Strategie des Betrieb-
lichen Gesundheitsmanagements Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Arbeitnehmer werden am Standort Bremen der
Daimler AG vielfältig eingesetzt, die hier nur rudimentär dargestellt werden können. Die betriebsärztliche Versorgung wird über den eigenen Werksärztlichen Dienst sichergestellt, der unter anderem neben Akutversorgung und Durchführung von Untersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen (»G-Untersuchungen«) weitere Leistungen wie z. B. Nichtrauchersprechstunden, Impfaktionen oder Auszubildendenprogrammen die wichtigste Koordinierungsfunktion im operativen Gesundheitsmanagement darstellt. Daneben verfügt das Werk über eine eigene Sozialberatungseinheit, die die Mitarbeiter und Führungskräfte z. B. bei Suchtthematiken oder Konfliktsituationen unterstützt sowie entsprechende Qualifizierungsangebote vorhält. Seit 2006 ist auf dem Werk der »Fit Shop« angesiedelt, ein durch einen externen Partner betriebenes Gesundheitszentrum, dessen Schwerpunkt in der Prävention und Therapie von Erkrankungen des Haltungs- und Bewegungsapparates liegt. Die Grundlagen der Organisation des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) im Werk Bremen wurden in einer im Jahr 2002 freiwillig zwischen Werkleitung und Betriebsrat geschlossenen Betriebsvereinbarung festgelegt. Dort werden einerseits die »Philosophie« des BGM und andererseits die Gremienlandschaft sowie deren operatives Wirken erläutert. Der Grundansatz fußt auf einer paritätisch von der Werkleitung und der Arbeitnehmervertretung getragenen Verantwortung für die betriebliche Gesundheitssituation der Mitarbeiter. Dieses Verständnis findet sich auch in der Besetzung und Ausgestaltung der Gremienlandschaft wieder, die die Prozesse des BGM im Mercedes-Benz-Werk Bremen initiiert, steuert und umsetzt (⊡ Abb. 5.12). Die zentralen Gremien bzw. Bausteine in dieser Organisation sind: 1. Das WerksBegleit-Team – hier werden Konzepte und Vorhaben letztendlich durch den Werksleiter und das gesamte obere Management bewertet und entschieden. 2. Die Steuerungsgruppe Betriebliches Gesundheitsmanagement – die paritätisch besetzt ist und der strategischen Vorabdiskussion und Entscheidungsvorbereitung dient. 3. Das Team Gesundheitsmanagement, das für die fachliche Entwicklung und Steuerung von Projekten und Prozessen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement verantwortlich ist. Die Center- und AbteilungsBegleit-Teams sind gewerksspezifische Gremien, die sich im Wesentlichen mit der operativen Steuerung von Gesundheitsmaßnahmen bzw. Fehlzeitengesprächen in den größeren Organisationseinheiten des Werkes befassen. Im Rahmen der Strategiearbeit der Steuerungsgruppe Betriebliches Gesundheitsmanagement wurden für den
111 5.6 · Arbeitsweltbezogene Gesundheitsprävention: »Das Kraftwerk-Mobil«
Betriebsrat gremium
WerksBegleit-Team
Steuerungsgruppe BGM
CenterBegleit-Teams
Team Gesundheitsmanagement
AbteilungsBegleit-Teams
Temporäre Projektgruppen zur Realisierung v. Maßnahmen
Weiterführende Regelkommunikationen bis auf Mitarbeiterebene in Form von Dialogen und Gruppengesprächen
⊡ Abb. 5.12. Organisationsmodell des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) im MercedesBenz-Werk Bremen
Zielgruppenspezifische Öffentlichkeitsarbeit und Information Entwicklung der Führungskräfte, ihres Wissens und Handelns
Ergonomie Arbeitsorganisation
Verbesserung der Reintegration von Mitarbeitern nach Erkrankungen
Produktionsbedingungen
„State of the art“ – Gesundheitsberichterstattung
Weiterentwicklung der Prävention Förderung der Eigenverantwortung
Gesundheitsmanagement als Führungsaufgabe
Zeitraum 2004 bis 2007 die in ⊡ Abb. 5.13 dargestellten Handlungsfelder definiert. Die Grundlage für ihre Festlegung bildeten einerseits die Daten zur Gesundheitssituation im Werk Bremen in Form mehrerer Gesundheitsberichte sowie diverse, sich abzeichnende Zukunftsentwicklungen, wie z. B. die Problematik einer alternden Belegschaftsstruktur. Neben den Strategiebereichen »Führung«, »Ergonomie/Organisation/Arbeitsbedingungen« sowie »Reintegration« sind für diese Jahre insbesondere auch die Weiterentwicklung von »Prävention« und ihre Ausrichtung auf das Erkrankungsspektrum des Haltungsund Bewegungsapparates vorgesehen. Künftige Präventionsangebote im Werk Bremen sollen zudem dazu beitragen, die Handlungs- bzw. Gesundheitskompetenz der Mitarbeiter zu erweitern und möglichst die Übernahme
⊡ Abb. 5.13. Strategiehaus des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) im Mercedes-BenzWerk Bremen der Daimler AG
eigener Verantwortung für die Gesundheit seitens der Mitarbeiter zu stärken. Neben den vier bereits genannten Strategiebereichen wurde fixiert, dass wirkungsvolles Gesundheitsmanagement nur entsteht, wenn Rückhalt in der und Bedeutung für die Führungsmannschaft besteht und auf einer soliden Datenbasis aufgebaut werden kann. Darüber hinaus muss eine an den Bedürfnissen der verschiedenen Zielgruppen ausgerichtete Informationspolitik verfolgt und entsprechende Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit umgesetzt werden. Ein Ergebnis des oben genannten Strategieprozesses bestand darin, Präventionsangebote zur Verhütung bzw. Eindämmung von Erkrankungen des Haltungs- und Bewegungsapparates zu generieren. Neben einer Reihe
5
112
Kapitel 5 · Rücken
anderer Maßnahmen, wie z. B. arbeitsplatzspezifische Bewegungsschulungen oder Gesundheitswochenenden für Meister und Mitarbeiter, wurde durch das Werksbegleitteam beschlossen, das Konzept des »Kraftwerk-Mobils« am Standort Bremen zu implementieren.
5.6.5 Umsetzung des »Kraftwerk-Mobil«-
Konzeptes
5
Wie der Name »Kraftwerk-Mobil« bereits impliziert, handelt es sich um eine fahrbare Trainingsplattform, die es den Mitarbeitern ermöglicht, rasch und unkompliziert, aber dennoch effektiv, in Arbeitsplatznähe ein präventives bzw. ausgleichendes Krafttraining zu absolvieren. Auf der Basis der Erkenntnisse aus dem Werksgesundheitsbericht wurde dem Team Gesundheitsmanagement im Frühjahr 2004 der Planungs- und Umsetzungsauftrag zur Implementierung des Konzeptes erteilt. Die Umsetzung erfolgte zum November 2004. Der erste Planungsschritt bestand in der Gründung einer aus folgenden Mitgliedern/Fachbereichen bestehenden Projektgruppe: ▬ Werkskoordinator Betriebliches Gesundheitsmanagement (als Projektleiter), ▬ Werksarzt (fachliche Ausgestaltung des Trainingskonzeptes und Auswahl der Geräte), ▬ Betriebsmittelbau (Bau der mobilen Plattform), ▬ Personalbereich (Begleitung des Personalauswahlprozesses), ▬ Werkskommunikation (Bekanntmachung des Konzepts durch entsprechende Kommunikationsmaßnahmen), ▬ Betriebsrat. Zur Durchführung des Projekts wurde nach einem Auftakt-Workshop eine wöchentliche – später dann 14-tägige – Regelkommunikation mit allen Projektbeteiligten eingeführt, die einerseits zur Abklärung inhaltlicher Fragen und andererseits zur Verfolgung und Sicherstellung des zeitgerechten Projektfortschritts diente. Im Rahmen des Auftakt-Workshops wurden die zur Realisierung notwendigen Arbeitspakete identifiziert und beschrieben: ▬ Arbeitspaket 1: Mobile Trainingsplattform ▬ Arbeitspaket 2: Trainingsgeräte ▬ Arbeitspaket 3: Personalrekrutierung und -qualifizierung ▬ Arbeitspaket 4: Trainingsgestaltung und -organisation ▬ Arbeitspaket 5: Kommunikation. Alle Arbeitspakete wurden in Form eines Teilprojektauftrags beschrieben und in logisch aufeinander folgende Einzelaktivitäten »zerlegt« und terminlich durchgeplant.
Bei der Erstellung des Gesamtzeitplans des Projekts zeigte sich bereits, dass der zur Verfügung stehende Zeitrahmen von ca. sechs Monaten sehr knapp bemessen war und eine stringente Projektdurchführung erforderlich sein würde. Als erfolgskritisch und zeitaufwändig stellte sich vor allem die Trainingsorganisation (Arbeitspaket 4) dar, da das »Kraftwerk-Mobil« in einer getakteten Fließfertigung zum Einsatz kommen sollte und dort keine Störungen verursachen durfte. Bereits im frühen Stadium des Projektes zeichnete sich ab, dass ein vorgeschalteter Testbetrieb notwendig sein würde, um einen reibungslosen Start des Gesamtprojekts zu gewährleisten. Da das »Kraftwerk-Mobil«-Konzept bereits an den Standorten Wörth und Untertürkheim der Daimler AG umgesetzt worden war, konnte das Bremer Projektteam sich vor Ort informieren und von den Erfahrungen der dortigen Kolleginnen und Kollegen profitieren. Allerdings stellte sich bei diesen Informationsaustauschen auch heraus, dass das Bremer »Kraftwerk-Mobil« in einem wesentlichen Punkt von den bislang realisierten Mobilen abweichen würde: Während an den anderen Standorten ausschließlich die Bauchmuskulatur mit entsprechenden Geräten trainiert wurde, sah der Bremer Ansatz eine Bestückung des »Kraftwerk-Mobils« mit Geräten zum Training der Bauch- und Rückenmuskulatur vor. Die Grundüberlegung bestand darin, mit geeigneten Testverfahren bei den Teilnehmern am »Kraftwerk-Mobil« vorhandene muskuläre Dysbalancen zu identifizieren und auf der Basis der Testergebnisse ein zielgerichteteres Training zu ermöglichen, was wiederum bei der Planung der mobilen Trainingsplattform zu berücksichtigen war. Die Inhalte der ersten vier Arbeitspakete werden im Folgenden dargestellt. Arbeitspaket 1: Mobile Trainingsplattform
Ausgehend von den Erkenntnissen anderer Standorte wurde die 3,5×2,5 m große Trainingsplattform nach den Vorgaben der Projektgruppe im Betriebsmittelbau des Werkes Bremen gefertigt. An der schmalen Frontseite ist eine klappbare Deichsel befestigt, mit deren Hilfe das »Kraftwerk-Mobil« in geschlossenem Zustand vom zugehörigen Flurförderfahrzeug gezogen werden kann. Außer der Rückwand an der langen Seite der Plattform sind alle anderen Wände herunter klappbar und mit stabilen Bodenstützen versehen. In stationärem Zustand, d. h. im laufenden Trainingsbetrieb, sind somit drei Seiten der Plattform heruntergeklappt, wodurch eine Trainingsfläche von ca. 12 m2 entsteht (⊡ Abb. 5.14). Je nach Standortbedingungen können diese Seitenwände situativ genutzt werden, um z. B. Zugluft oder Umgebungslärm zu minimieren. Da das »Kraftwerk-Mobil« zwischen den Werkshallen transportiert werden muss, ist es notwendig, die installierten Trainingsgeräte sowie die EDV-Ausstattung vor schlechtem Wetter zu
113 5.6 · Arbeitsweltbezogene Gesundheitsprävention: »Das Kraftwerk-Mobil«
⊡ Abb. 5.14. »Kraftwerk-Mobil« im stationären Zustand (Bildrechte: Daimler AG)
⊡ Abb. 5.15. Detailansicht der installierten Trainingsgeräte (Bildrechte: David International LTD., Neu Ulm)
schützen. Zu diesem Zweck verfügt es über ein aus Aluminiumrohren gefertigtes, mit einer haltbaren Plane versehenes Dach, das mit wenigen Handgriffen zurückgeklappt werden kann, sobald das »Kraftwerk-Mobil« seine nächste Haltestelle erreicht hat. Das »Kraftwerk-Mobil« wird durch ein elektrobetriebenes Schleppfahrzeug in die unmittelbare Nähe der jeweiligen Haltestelle gefahren und kann, nachdem es abgekoppelt wurde, in aller Regel vom Trainer in seine endgültige Position geschoben werden.
Dysbalancen aufzudecken und das Trainingsziel daran auszurichten. Daneben hilft dies dem Trainingspersonal, den Teilnehmern über eine graphische Darstellung verständlich zu machen, warum sie an welchem Gerät trainieren. Über eine integrierte Vergleichsmöglichkeit können die Ergebnisse mehrerer Tests miteinander verglichen und der Trainingsfortschritt dokumentiert, ausgewertet und visualisiert werden. Grundsätzlich bietet die Software die Möglichkeit, jede einzelne Trainingseinheit zu dokumentieren. In der alltäglichen Trainingspraxis hat sich dies jedoch als hinderlich erwiesen, da die Software es lediglich gestattet, jeweils nur einen Trainierenden aufzurufen. Da das Bremer »Kraftwerk-Mobil« – bedingt durch seine Konstruktion mit zwei Trainingsgeräten – oftmals gleichzeitig von zwei Mitarbeitern benutzt wird, kostet das Aufrufen, Ergänzen und Abspeichern der jeweiligen Datensätze vergleichsweise viel Zeit und stellt eine »Auslastungsbremse« dar. Deshalb wurde später dazu übergegangen, lediglich die Eingangs-, Zwischen- und Abschlusstests zu speichern. Zwischentests finden nach 16 Wochen, der Abschlusstest nach 40 Wochen statt. Im täglichen Trainingsbetrieb werden von den Betreuern des »KraftwerkMobils« für jeden Teilnehmer handschriftliche Trainingskarten geführt, auf denen die Geräteeinstellungen, die Gewichtsbelastungen und die Wiederholungszahlen festgehalten werden.
Arbeitspaket 2: Trainingsgeräte
Auf der Trainingsplattform sind zwei Geräte fest installiert (⊡ Abb. 5.15), die eine gezielte Kräfigung der Bauch- und Rückenmuskulatur ermöglichen. Neben der herkömmlichen Gewichtsbelastung über Steckgewichte verfügen beide Geräte über eine Möglichkeit zur computergestützten Messung der isometrischen Maximalkraft (d. h. die vom Probanden willentlich maximal aufzubringende Kraft eines Muskels bzw. einer Muskelgruppe gegen einen festen Widerstand) in definierten Winkelstellungen. Die Messung erfolgt über eine Messkassette, die mit dem Laptop und der dort installierten, zugehörigen Software verbunden wird. Die im Mercedes-Benz-Werk Bremen verwendete Software lässt neben den Kerndaten des jeweiligen Probanden die Eingabe einer Vielzahl von zusätzlichen Parametern, wie Schmerzhäufigkeit und -intensität, aber auch arbeitsplatzbezogenen Angaben, zu. In der Trainingspraxis zeigte sich allerdings, dass die Erfassung dieser Daten sehr zeitaufwändig ist und sich eher auf einen therapeutischen Einsatz der Geräte konzentriert wird. Die bei einem isometrischen Maximalkrafttest erhobenen Daten werden mit denen einer Datenbank verglichen, sodass es möglich ist, evtl. vorhandene muskuläre
Arbeitspaket 3: Personalrekrutierung und -qualifizierung
Da das »Kraftwerk-Mobil« im Zwei-Schicht-Betrieb erfolgen sollte, war es notwendig, zwei Trainer für das Konzept zu rekrutieren. Zunächst wurde erwogen, die Einrichtung durch einen externen Dienstleister betreiben zu lassen. Aufgrund beschäftigungsspezifischer Gegebenheiten wurde allerdings entschieden, die Trainer-
5
114
5
Kapitel 5 · Rücken
stellen durch werkseigenes Personal zu besetzen, das über eine ausreichende Basisqualifikation verfügt. In Zusammenarbeit mit dem Personalbereich wurde ein Anforderungsprofil als Basis für den Ausschreibungsprozess erarbeitet, das neben einer Minimalqualifikation als Fitnesstrainer oder Übungsleiter unter anderem ebenfalls »Softskills« wie Eigenständigkeit, Einsatzbereitschaft, Kontaktfreudigkeit, Flexibilität sowie gute Kenntnis der Strukturen und Prozesse des Werkes umfasste. Aufsetzend auf vorhandenen Kenntnissen wurden die Mitarbeiter in Form von Schulungen beim Gerätehersteller, Hospitationen an anderen Standorten und praktischen wie theoretischen Schulungen durch einen Werksarzt auf ihre Aufgabe umfassend vorbereitet. Daneben war der Erwerb einer Fahrberechtigung für das Förderfahrzeug sowie eine Schulung in Erster Hilfe notwendig. Den Abschluss der Qualifizierung bildete ein Testbetrieb des »Kraftwerk-Mobils«, der ca. 14 Tage vor dem offiziellen Start im November 2004 in den Werkshallen begann. Hierbei ging es im Wesentlichen darum, dass sich die beiden Trainer mit dem Transport und Aufbau der Plattform vertraut machten und die Anfahrtswege in den Hallen sicher beherrschten. Im Verlauf ihrer Tätigkeit wurden beide Mitarbeiter zu Reha-Trainern weitergebildet, um die Betreuungsqualität am »Kraftwerk-Mobil« durch eine Vertiefung ihrer Kenntnisse abzusichern bzw. weiter zu steigern. Arbeitspaket 4: Trainingsgestaltung und -organisation
Hinsichtlich der Trainingsgestaltung wurde das an den anderen Standorten der Daimler AG bereits erprobte Standard-Trainingsschema übernommen, das insgesamt 42 Wochen umfasst. Um eine möglichst hohe Zahl von Mitarbeitern zu erreichen, waren Kompromisse hinsichtlich der Trainingshäufigkeit notwendig. Bei einer kalkulierten Kapazität von ca. 500 Personen konnte pro Teilnehmer ein wöchentlicher Trainingstermin zur Verfügung gestellt werden. Der höheren Kapazität wurde gegenüber einer aus sportwissenschaftlicher Sicht sinnvolleren, höheren wöchentlichen Trainingshäufigkeit der Vorzug gegeben. Da das »Kraftwerk-Mobil« als Präventionsmaßnahme für eine eher einseitig belastete und häufig tendenziell sportlich inaktive Klientel gedacht war, fiel die Entscheidung somit zugunsten einer breiteren Teilnehmergruppe. Die Haltestellen des »Kraftwerks« wurden bzw. werden in Abstimmung mit den leitenden Führungskräften der jeweiligen Center (d. h. Produktionsbereiche des Werkes, wie Rohbau, Lackierung und Montagen) festgelegt und operativ mit den jeweils zuständigen Meistern und Teamleitern umgesetzt. Wesentliche Kriterien sind dabei die Fehlzeitensituation über mehrere Jahre, das Belastungsspektrum durch die Arbeitstätigkeiten oder die Zugänglichkeit und Erreichbarkeit der Haltestellenfläche.
Das Training am »Kraftwerk-Mobil« gliedert sich in mehrere Phasen. Nach einem Eingangstest schließt sich zunächst eine mehrwöchige Orientierungs- und Anpassungsphase an. Ihr Ziel besteht darin, dem Trainierenden die korrekten Bewegungsabläufe nahe zu bringen und erste Kraftsteigerungen über Verbesserungen der intermuskulären Koordination zu erreichen. In der sich anschließenden Phase werden über mehrere Wochen sukzessive, aber immer unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, die Gewichtsbelastungen gesteigert. Der wesentliche Mechanismus der Kraftverbesserung liegt hauptsächlich in der Verbesserung der intramuskulären Koordination. Die dadurch erzielbaren Kraftsteigerungen wirken sich u. a. bei Tätigkeiten, die eine eher statische Körperhaltung erfordern, positiv aus, wodurch wiederum Fehlhaltungen vorgebeugt werden kann. Weitere Effekte hinsichtlich eines Dickenwachstums der Muskulatur sind höchstwahrscheinlich auszuschließen, da hierfür die Trainingshäufigkeit zu gering ist. Ist keine weitere Steigerung der Kraftfähigkeit zu beobachten, schließt sich ein bis zum Ende des 42-wöchigen Gesamtzyklus durchgeführtes Stabilisierungstraining an. Zwischen den drei Phasen erfolgen Re-Tests, um den aktuellen Trainingszustand zu überprüfen und ggf. die Trainingsmodalitäten anzupassen. Der vollständige Trainingszyklus wird mit einem Abschlusstest beendet. Am »Kraftwerk-Mobil« besteht die Möglichkeit, die Testergebnisse auszudrucken und den Teilnehmern zur Verfügung zu stellen, was neben der Information auch einen motivierenden Effekt ausübt. Die reibungslose Trainingsorganisation ist für den Erfolg und die Akzeptanz des Angebots aufgrund der engen Personaldecke und der damit verbundenen Ablösungsproblematik in der getakteten Produktion des Werkes einer der bedeutsamsten Faktoren. Da sich die Haltestellen des »Kraftwerk-Mobils« in mehreren Centern befinden, wurde in Absprache mit den jeweiligen Centerleitern eine Gruppe von Hallenkoordinatoren implementiert, die sich um die operative Organisation des »Kraftwerk-Mobils« in ihren Centern kümmern. In ihre Zuständigkeit fällt die Abstimmung von Teilnehmerlisten mit den Meistern der Produktionsbereiche, die Auswahl, Organisation und das Auslastungsmonitoring von Haltestellen sowie notwendige Kommunikationsmaßnahmen in ihrem Center. Für alle Haltestellen bzw. Center existiert ein abgestimmter Trainingszeitplan (⊡ Abb. 5.16), in dem die Uhrzeiten und der jeweilige Trainingsteilnehmer aufgeführt sind. So kann pro Haltestelle für jeden Trainingstag bzw. im Monatsüberblick die Auslastung der Haltestelle »controllt« und ggf. Anpassungen vorgenommen werden. Bei einem Produktionsstandort dieser Größe mit einer getakteten Produktion stellt eine solche Funktion der Hallenkoordinatoren für die Umsetzung eines derartigen Vorhabens ebenfalls einen wesentlichen Erfolgsfaktor dar. Eine zentral zuständige Einheit wäre mit der alltägli-
5
115
5.6 · Arbeitsweltbezogene Gesundheitsprävention: »Das Kraftwerk-Mobil«
Zeitplan Frühschicht gerade Woche
Trainingstag: (Tag) (Name Trainer)
ungerade Woche
(Name Trainer)
Zeiten
Mitarbeiter (A-Schicht)
Meister
Bereich
Tel. Meister Mitarbeiter (B-Schicht)
Meister
Bereich
Tel. Meister
(von – bis)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
Mittagspause (von – bis) (von – bis)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
Schichtwechsel Trainer (von – bis) (von – bis)
Halle (Nr.)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
(Anzahl) Personen
(Name Meister)
(Name Meister)
(Durchwahl)
Telefon Trainer: 91565
Standort Kraftwerk Mobil Halle (Nr.): (Standort, Pfeilernr.)
Soll: (Anzahl) Plätze
Teilnahme Ist:
a
⊡ Abb. 5.16a,b. Beispielhafter Trainingsplan zur Steuerung der Teilnahme am »Kraftwerk-Mobil«
116
Kapitel 5 · Rücken
Zeitplan Spätschicht gerade Woche
Trainingstag: (Tag) (Name Trainer)
ungerade Woche
(Name Trainer)
Zeiten
Mitarbeiter (A-Schicht)
Meister
Bereich
Tel. Meister Mitarbeiter (B-Schicht)
Meister
Bereich
Tel. Meister
(von – bis)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Name Meister)
(Bereich)
(Durchwahl)
(Anzahl) Personen
(Name Meister)
(Durchwahl)
(Name, Vorname MA); (ggf. „Platz frei“)
5
Halle (Nr.)
Telefon Trainer: 91565
Standort Kraftwerk Mobil Halle (Nr.): (Standort, Pfeilernr.)
Soll: (Anzahl) Plätze
Teilnahme Ist:
b
⊡ Abb. 5.16a,b. Fortsetzung
chen Steuerung und Organisation des Trainingsbetriebs überfordert. Zum einen fehlt ihr in der Regel der direkte Bezug zu den jeweiligen Vorgesetzten und sie kann zum anderen nicht rasch genug auf eventuelle Veränderungen in den Arbeitsabläufen oder in der Teilnehmerstruktur, z. B. bei werksinternen Versetzungen oder Verleihungen von Mitarbeitern, reagieren. Durch die Hallenkoordinatoren kann so erheblich kurzfristiger und direkter auf notwendige Anpassungen am Organisationsablauf reagiert werden.
5.6.6 Erfahrungen
Nach mittlerweile mehr als drei Jahren Einsatz hat sich das »Kraftwerk-Mobil« als eine »feste Größe« in der Präventionspalette des Gesundheitsmanagements im Mercedes-Benz-Werk Bremen etabliert und genießt sowohl bei den Führungskräften als auch bei den Mitarbeitern hohe Akzeptanz, was sich letztlich auch darin ausdrückt, dass seit 2006 eine zweite Trainingsplattform implementiert wurde.
117 5.7 · Die medizinische Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen
Das »Kraftwerk-Mobil« hat sich als Angebot im Verlauf des bisherigen Einsatzes jedoch gewandelt: Es ist nicht ein reines Trainingsangebot geblieben, sondern hat sich zu einer »Gesundheitsdrehscheibe« weiterentwickelt. Viele Teilnehmer werden durch ihre Trainingsfortschritte motiviert, sich mit einer gesünderen Lebensweise auseinander zu setzen und nutzen die Trainer, um sich Tipps und zusätzliche Anregungen, z. B. zu Sportausrüstung oder Ernährung, zu holen. Darüber hinaus wurde ein kompaktes Heimtrainingsprogramm entwickelt, das die Trainer den Teilnehmern bei Interesse vermitteln können, womit der Trainingserfolg weiter abgesichert werden kann. Die Auslastungsquote des »Kraftwerk-Mobils«, d. h. der Nutzungsgrad der maximal zur Verfügung stehenden Trainingszeit, liegt durchschnittlich bei ca. 80%. Die verbleibenden 20% werden von den Trainern für die gesundheitlichen individuellen Beratungen genutzt. Das »Kraftwerk-Mobil«-Konzept wurde bislang an verschiedenen Standorten des Konzerns in mehreren Studienarbeiten und Untersuchungen evaluiert und hat dabei seine positiven Effekte unter Beweis stellen können. Im Mercedes-Benz-Werk Bremen deuten eigene Untersuchungen darauf hin, dass sich z. B. die Häufigkeit und Intensität von Rückenschmerzen bei Teilnehmern, die vor Trainingsbeginn unter Beschwerden litten, positiv entwickelt. Im Jahr 2005 wurde eine erste qualitative Befragung von insgesamt 114 Personen, die über einen längeren Zeitraum regelmäßig am »Kraftwerk-Mobil« teilgenommen hatten, durchgeführt. Zu dieser Gruppe gehörten 80 Personen, die zuvor unter Rückenschmerzen litten. Von diesem Kreis gaben mehr als 90% an, dass die Häufigkeit und die Intensität ihrer Schmerzen abgenommen oder deutlich abgenommen hätten. Darüber hinaus werden die Teilnehmer offensichtlich durch die Trainingssituation und die begleitende Betreuung dazu animiert, vermehrt eigene Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Gesundheitssituation zu unternehmen. Knapp 75% der Teilnehmer berichteten, durch das Training angeregt worden zu sein, mehr für die eigene Gesundheit zu tun. Insgesamt waren mehr als 90% der Teilnehmer davon überzeugt, dass es sich beim »Kraftwerk-Mobil« um eine sinnvolle Maßnahme im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements handelt. Weitere Details hierzu werden demnächst im Rahmen einer Dissertation veröffentlicht. Literatur DaimlerChrysler AG Werk Bremen (2005) Werksgesundheitsbericht 2004/2005; internes Dokument; Verfasser: Betriebliches Gesundheitsmanagement Werk Bremen, Dr. Armin Straub, Daniela Metschar. Bremen BKK Bundesverband (2005) BKK-Gesundheitsreport 2005 »Krankheitsentwicklungen – Blickpunkt: Psychische Gesundheit«. BKK Bundesverband, Essen BKK Bundesverband (2004) BKK Gesundheitsreport 2004 »Gesundheit und sozialer Wandel«. BKK Bundesverband, Essen
5.7
Die medizinische Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen
Stellenwert in der Statistik der Rentenversicherung, Therapiekonzepte, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit Thomas Kohlmann 5.7.1 Rückenleiden im Spiegel der
Rehabilitationsstatistik In der Rehabilitationsstatistik der gesetzlichen Rentenversicherung nehmen die Muskel-Skelett-Erkrankungen seit langem eine führende Position ein. So wurden im Berichtsjahr 2005 rund 35% aller »stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstigen Leistungen zur Teilhabe« für Patienten mit Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (ICD-10: M00-M99) erbracht. Bei den ambulanten Maßnahmen, die allerdings weniger als 10% aller RehaLeistungen ausmachen, betrug dieser Anteil sogar 53% (DRV 2007a). Mehr als zwei Drittel der stationären Rehabilitationsmaßnahmen wegen muskuloskelettaler Erkrankungen – bei Männern 72%, bei Frauen 67% – waren den Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens (M40-M43), den Spondylopathien (degenerative Veränderungen an der knöchernen Wirbelsäule; M45-M49) und den sonstigen Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens (M50-M54) zuzuordnen. Die zwei zuerst genannten Krankheitsbereiche (Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens, Spondylopathien) werden aufgrund ihres zahlenmäßig weniger bedeutsamen Anteils nicht in die folgende Betrachtung eingeschlossen. Die ICD-Kategorien, die in diesem Beitrag die »Rückenleiden« kennzeichnen sollen, umfassen daher die zervikalen (M50) und sonstigen Bandscheibenschäden (M51), die sonstigen Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens (M53) und die Kategorie »Rückenschmerzen« (M54). Obwohl die absolute Anzahl der Rehabilitationsmaßnahmen wegen Rückenleiden in den vergangenen Jahren gesunken ist (von 200.964 im Jahre 2000 auf 144.233 im Jahre 2005), blieb die dominierende Rolle der muskuloskelettalen Erkrankungen und darunter auch die der Rückenleiden durchgängig erhalten. Zur Illustration dieses Sachverhalts zeigt ⊡ Abb. 5.17 für die Jahre 2000 bis 2005 die Anzahl der Reha-Leistungen insgesamt sowie für muskuloskelettale Erkrankungen (M00-M99) und für Rückenleiden (M50-54). Die Bedeutung der Rückenleiden in der Rehabilitationsstatistik der Rentenversicherung wird durch einen einfachen Vergleich unterstrichen: Auf die relativ kleine Diagnosegruppe der Rückenleiden entfielen 2005 mehr Reha-Maßnahmen als auf die Gesamtgruppe aller Tumorerkrankungen (C00-C96: 141.182) und mehr
5
118
Kapitel 5 · Rücken
500.000
Prozent
400.000
200.000
100.000
0
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Jahr Gesamt (Männer)
Muskuloskelettal (Männer)
Rückenleiden (Männer)
Gesamt (Frauen)
Muskuloskelettal (Frauen)
Rückenleiden (Frauen)
25
20
Prozent
5
⊡ Abb. 5.17. Stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstige Leistungen zur Teilhabe für Erwachsene in der Gesetzlichen Rentenversicherung von 2000 bis 2005. (Quelle: Statistikbände Rehabilitation des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger [VDR] bzw. der Deutschen Rentenversicherung [VDR 2001–2004, DRV 2005, 2007a])
300.000
15
10
5
0 ⊡ Abb. 5.18. Altersverteilung der Patienten, bei denen im Jahre 2005 eine stationäre Rehabilitation wegen eines Rückenleidens (M50-M54) durchgeführt wurde (DRV 2007a)
<20
20–24
als doppelt so viele Maßnahmen als auf die Gesamtgruppe aller Herz-Kreislauf-Erkrankungen (I00-I99: 64.247). Die wegen Rückenleiden 2005 in der stationären Rehabilitation der Rentenversicherung behandelten Patienten waren im Durchschnitt rund 48 Jahre alt. Die Altersverteilung der Rehabilitanden (⊡ Abb. 5.18) zeigt geringfügige Unterschiede zwischen Frauen und Männern: Bei Frauen (Durchschnittsalter 48,6 Jahre) sind die höheren Altersgruppen etwas häufiger vertreten als bei Männern (Durchschnittsalter 48,2 Jahre). Die Einteilung der stationären Reha-Maßnahmen in die ICD-Kategorien (⊡ Abb. 5.19) zeigt, dass bei Männern und Frauen nahezu die Hälfte der Fälle auf die »nichtspezifischen Rückenschmerzen« (M54, u. a. Is-
25–29
30–34
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
>60
Alter Männer
Frauen
chialgie, Lumboischialgie, Kreuzschmerz), also auf Rückenschmerzen ohne genauere Angabe einer zugrunde liegenden Schädigung entfallen. Der enorme Anteil der nichtspezifischen Rückenschmerzen erhöht sich noch weiter, wenn man berücksichtigt, dass auch in der Kategorie M53 Einzeldiagnosen enthalten sind, die auf eine eher unklare Organpathologie hindeuten. Auch bei den Bandscheibenschäden (M50-M51) dürfte es nicht wenige Fälle geben, bei denen der medizinische Befund (z. B. Bandscheibenvorfall) nur locker mit dem konkreten Beschwerdebild des Rückenschmerzes assoziiert ist. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die große Mehrzahl der stationären Rehabilitationsmaßnahmen wegen Rückenleiden bei Patienten durchgeführt wer-
119 5.7 · Die medizinische Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen
80.000 70.000
M50: Zervikale Bandscheibenschäden
60.000
M51: Sonstige Bandscheibenschäden
Anzahl
50.000 40.000
M53: Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule/des Rückens
30.000 20.000 M54: Rückenschmerzen 10.000
⊡ Abb. 5.19. Einzeldiagnosen in der Gruppe der Rückenleiden (M50-M54) in der Rehabilitationsstatistik des Jahres 2005 (DRV 2007a)
0 Männer
Frauen
den, deren Beschwerden nicht oder nicht genau auf eine spezielle organische Ursache zurückgeführt werden können.
5.7.2 Rehabilitationsmedizinische
Therapieprogramme für Patienten mit Rückenschmerzen Die Therapie von Rückenschmerzen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation richtet sich an Patienten, die aufgrund von rezidivierenden oder chronischen Rückenschmerzen in ihren Alltagsfunktionen (Aktivität und Teilhabe im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, ICF) beeinträchtigt sind oder denen eine solche Beeinträchtigung droht. Bei der medizinischen Rehabilitation im Umfeld der gesetzlichen Rentenversicherung steht dabei die Wiedererlangung bzw. der Erhalt des erwerbsbezogenen Leistungsvermögens im Vordergrund. Ausgehend von einem biopsychosozialen Modell gehört es zu den Grundsätzen der medizinischen Rehabilitation, dass sich ihre diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen auf verschiedene Problemebenen beziehen. Diese Orientierung ist bei Patienten mit Rückenschmerzen, speziell bei Patienten mit nichtspezifischen Rückenschmerzen, von besonderer Bedeutung. Die Rehabilitationsbehandlung kann hier nicht nur darauf abzielen, die körperliche Störung und ihre Folgen zu mildern oder zu beseitigen. Vielmehr muss die Gesundheit der Patienten auch im psychomentalen Bereich – Einstellungen und emotionale Lage – und auf der Verhaltensebene unter Berücksichtigung des sozialen und beruflichen Umfelds verbessert werden. Moderne Konzepte der medizinischen Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen stützen sich deshalb auf multidisziplinäre Therapieansätze, die neben der ärztlichen Behandlung auch psychologi-
⊡ Tabelle 5.7. Therapiemodule in der Prozessleitlinie der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen (DRV 2007b) Therapieart
Zeitumfanga
Bewegungstherapie
30 h
Rückenschule
4,5 h
Schmerzbewältigung
5h
Entspannungstraining
3h
Information und Motivation
30 min
Psychologische Beratung und Therapie
20 min
Arbeitsbezogene Therapie
4,5 h
Soziale und sozialrechtliche Beratung
45 min
Unterstützung der beruflichen Integration
45 min
Organisation der Nachsorge
15 min
Physikalische Therapie
Ohne Angabe
aBezogen
auf eine dreiwöchige Rehabilitationsmaßnahme
sche, physio- und ergotherapeutische sowie sporttherapeutische Elemente und die sozialrechtliche Beratung enthalten. Diese Multidisziplinarität kommt sehr anschaulich in der Leitlinie für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen zum Ausdruck, die von der Deutschen Rentenversicherung in Zusammenarbeit mit Experten entwickelt wurde (DRV 2007b). In ⊡ Tabelle 5.7 sind die in dieser Leitlinie empfohlenen Therapiemodule und der zeitliche Mindestumfang der Module innerhalb einer dreiwöchigen Maßnahme dargestellt. Zur Konkretisierung des Therapiestandards in der medizinischen Rehabilitation von Patienten mit Rü-
5
120
5
Kapitel 5 · Rücken
ckenschmerzen wurde von einer Expertengruppe ein Bericht vorgelegt, in dem auf der Grundlage von existierenden Behandlungsprogrammen und den bei ihrer wissenschaftlichen Evaluation gesammelten Erfahrungen »Best-Practice-Empfehlungen« gegeben werden (Bertelsmann AG Rehabilitation 2007). Den Kern dieser Empfehlungen für die medizinische Rehabilitation im Kontext eines umfassenden Versorgungskonzepts für Rückenschmerzen bilden sieben evidenzbasierte Behandlungsprinzipien: 1. Orientierung an lerntheoretischen Prinzipien, u. a. zur Verbesserung der Selbstwirksamkeitserwartungen und der Erhöhung der Handlungskompetenz, zur Ausrichtung von Therapie- und Trainingseinheiten an Quotenplänen mit kontinuierlicher Steigerung der Übungen und zur Erhöhung der Motivation durch gezielte Rückmeldung der erreichten Behandlungserfolge. 2. Interdisziplinäre Zusammenarbeit in einem multiprofessionellen Behandlungsteam, in dem eine regelmäßige gemeinsame Kommunikation und Absprache erfolgt und die Verantwortlichkeiten nach den spezifischen Kompetenzen der Teammitglieder gleichrangig definiert sind. 3. Multiprofessionelle Diagnostik und Therapiezuweisung mit dem Ziel eines individuellen, auf die bei den Patienten vorliegenden Problemkonstellationen abgestimmten Behandlungsplans. 4. Abgestufte Behandlungsprogramme, die je nach den Problemlagen und dem Behandlungsbedarf unterschiedliche Intensitätsgrade der Behandlung umfassen. 5. Berücksichtigung beruflicher Problemlagen, um mögliche Barrieren der Rückkehr an den Arbeitsplatz sowohl beim Patienten (u. a. Rentenbegehren) als auch im Bereich der Bedingungen am Arbeitsplatz erkennen und in therapeutische Intervention einbeziehen zu können. 6. Unterstützung von Nachsorgeprogrammen zur Verbesserung des Übergangs nach der Reha-Maßnahme in den Alltag und zur längerfristigen Aufrechterhaltung des Erfolgs der Maßnahme. 7. Vernetzung aller Akteure unter Einbeziehung u. a. von Hausärzten, Arbeitgebern, Kostenträgern und Nachsorgeanbietern. Zu diesen allgemeinen Prinzipien werden in dem genannten Bericht konkrete Behandlungsbausteine aufgeführt und näher beschrieben, die sich in bisherigen Behandlungskonzepten im Rahmen der stationären medizinischen Rehabilitation bewährt haben. Bei diesen stationären Behandlungskonzepten handelt es sich um ein multimodales interdisziplinäres Therapieprogramm (Casser et al. 1999), das Trainingsprogramm »Lebenslust statt Krankheitsfrust« (Kolip et al. 2001; Slangen et al.
2002), das Programm »Back to Balance« (Morfeld et al. 2006, Kap. 5.3) und um ein intensiviertes orthopädischpsychosomatisches Konzept (IopKo) (Greitemann et al. 2006; Dibbelt et al. 2006). Das IopKo-Programm ist das jüngste dieser Behandlungskonzepte. Da in ihm die Best-Practice-Empfehlungen der Bertelsmann-Arbeitsgruppe bereits in hohem Maße umgesetzt wurden, soll es in seinen Grundzügen an dieser Stelle beschrieben werden. Das Programm ergänzt das an der Klinik bisher durchgeführte stationäre Rehabilitationsprogramm um fünf Elemente. Diese Elemente werden in folgender Infobox dargestellt (Dibbelt et al. 2006). Infobox
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Bausteine des intensivierten orthopädischpsychosomatischen Behandlungskonzepts (IopKo) (Dibbelt et al. 2006) 1. Multiprofessionelles Assessment zu Beginn der Behandlung, an dem Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten beteiligt sind und gemeinsam über den Behandlungsplan – insbesondere über die Zuweisung der Patienten zu einem von drei definierten Behandlungsprogrammen – entscheiden. 2. An der Problemkonstellation orientiertes Behandlungsangebot mit drei Pfaden: a) das Programm »Rückentraining« für Patienten, bei denen psychosoziale Belastungen nicht oder nur in geringem Maße vorliegen, b) das Programm »Rückenfit«, das intensiver als das »Rückentraining« ist und spezielle psychologische, psychoedukative und sporttherapeutische Teile umfasst, sowie c) ein individuelles Programm für Patienten, für die ein Gruppenprogramm (»Rückentraining«, »Rückenfit«) nicht geeignet ist oder die mit speziellen orthopädischen Störungen in die Rehabilitation kommen. Die beiden Gruppenprogramme haben einen Umfang von zwei Wochen und werden in geschlossenen Gruppen mit 6–12 Teilnehmern durchgeführt. Dabei sind den Gruppen feste Therapeuten (Psychologen, Sporttherapeuten) zugeordnet. 3. Ein Set von Schulungsmodulen »berufliche Orientierung« zur Bearbeitung von Fragen des Rentenwunsches und der Rentengewährung. In diesen Modulen soll auch die Motivation zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der eigenen beruflichen Situation und zur Suche nach Alternativen gefördert werden. 4. Beratungsangebote durch den Sozialdienst. 5. Arbeitsplatztraining an simulierten Arbeitsplätzen.
121 5.7 · Die medizinische Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen
5.7.3 Zur Wirksamkeit der medizinischen
Rehabilitation bei Rückenschmerzen In der nationalen und internationalen Literatur finden sich zahlreiche Studien, in denen die Wirksamkeit von Rehabilitationsprogrammen für Rückenschmerzpatienten untersucht wurde. Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zeigen, dass insbesondere multidisziplinäre und multimodale Behandlungsprogramme therapeutische Wirksamkeit im Hinblick auf Zielgrößen wie Schmerzempfindung, Funktionseinschränkungen, Dauer der Arbeitsunfähigkeit und Rückkehr an den Arbeitsplatz haben (Guzmán et al. 2001; Karjalainen et al. 2003; Ostelo et al. 2005; van Tulder et al. 2006). Die positiven Effekte der Rehabilitation waren dabei insbesondere bei intensiven Programmen, d. h. mit mehr als 100 Stunden, und bei Programmen mit kognitiv-behavioralen Behandlungselementen zu beobachten. Die wissenschaftlichen Ergebnisse zu Fragen der Effektivität medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen im deutschen Versorgungssystem wurden von Haaf (2005) und Mau (2006) in ihren Übersichtsarbeiten sehr detailliert zusammengefasst. Für die Rehabilitation von Rückenschmerzpatienten kamen beide Autoren zum Schluss, dass zumindest eine begrenzte Evidenz für die Wirksamkeit der Rehabilitation existiert. In zwei weiteren Literaturübersichten analysierten Hüppe und Raspe (2003, 2005) speziell die Ergebnisse von Studien zur Wirksamkeit der stationären medizinischen Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen. Die Autoren konnten zeigen, dass insgesamt nur kleine bis mäßige positive Effekte der Rehabilitationsmaßnahmen auf somatische und psychische Erfolgskriterien beobachtbar waren. Im mittelfristigen Verlauf (≤ 6 Monate) zeichnete sich darüber hinaus eine eher geringe Nachhaltigkeit der gesundheitlichen Verbesserung nach der Reha-Maßnahme ab. Auch wenn in den betrachteten Studien beim Vergleich der Ergebnisparameter (u. a. Schmerz, Funktionseinschränkungen und psychische Schmerzbewältigung) zu Beginn und am Ende der Rehabilitationsmaßnahme durchaus relevante Verbesserungen dokumentiert werden konnten, so bildeten sich diese Verbesserungen häufig bereits nach wenigen Monaten zurück. Als mögliche Gründe für die fehlende Nachhaltigkeit diskutieren die Autoren u. a. Probleme bei der Auswahl der Rehabilitanden, eine unzureichende Intensität und Interdisziplinarität sowie die fehlende Individualisierung und geringe Flexibilität der Behandlung, mangelnde Nachsorge und mangelnde Orientierung an den Präferenzen und motivationellen Voraussetzungen der Patienten. Wenn sich bestätigen sollte, dass diese Gründe oder zumindest einige von ihnen zutreffen, wäre als Konsequenz eine entsprechende Änderung der Rehabilitationspraxis erforderlich. Die Rehabilitationsangebote sollten dann in Art, Umfang und Intensität viel stärker am
individuellen Rehabilitationsbedarf ausgerichtet werden. Die Therapie nach der Devise »one size fits all« sollte von abgestuften problemorientierten Behandlungsprogrammen abgelöst werden. Dabei müssten die Motivationslagen, die subjektiven Konzepte und die soziale Situation der Rehabilitanden stärker berücksichtigt werden. Wenn darüber hinaus die in der Übersicht von Guzmán et al. (2001) beschriebene Abhängigkeit des Rehabilitationserfolgs von einem Mindestumfang der Therapieangebote auch für deutsche Verhältnisse gilt, so wäre angesichts des im Rahmen einer dreiwöchigen Standardrehabilitation erreichbaren Therapieumfangs zumindest für Patientengruppen mit erhöhtem Rehabilitationsbedarf eine maßgebliche Erhöhung der Therapiedichte, Verlängerung der Behandlungszeit oder die Entwicklung von effektiven Nachsorgekonzepten zu fordern. Die Erhöhung des therapeutischen Aufwandes sollte dabei zwingend an eine Stärkung der interdisziplinären Zusammenarbeit im Rehabilitationsteam gekoppelt werden. Da aussagekräftige Assessmentinstrumente und prognostisch valide Algorithmen zur Auswahl von individualisierten Rehabilitationsprogrammen und zur Bestimmung der erforderlichen Therapieintensität noch weitgehend fehlen, besteht auf diesem Gebiet derzeit noch ein erheblicher Forschungsbedarf. Belege dafür, dass die von Hüppe und Raspe genannten Gründe eine gewisse Bedeutung haben, lassen sich aus den Ergebnissen der Evaluation des weiter oben beschriebenen IopKo-Programmes ableiten. In diesem Programm wurden einige der Defizite, die für eine geringe Nachhaltigkeit verantwortlich sein können (z. B. fehlende Individualisierung und Flexibilität), unmittelbar aufgegriffen und entsprechend erweiterte Therapieelemente im Programm fest implementiert. Wie eine kontrollierte Evaluationsstudie an 482 Rehabilitanden zeigte, konnten im IRES-Fragebogen (Indikatoren des Reha-Status, Bührlen et al. 2005) mittlere bis hohe positive Effekte im funktionalen, somatischen und psychosozialen Status nicht nur kurzfristig, sondern auch nach Ablauf von zehn Monaten nachgewiesen werden (⊡ Abb. 5.20–5.22). Eine konsequente Orientierung an den Erfordernissen der Intensität, Flexibilität und inhaltlichen (d. h. multidisziplinär/multimodalen) Ausgestaltung des Reha-Programms scheint nach diesen Befunden nicht nur einen kurzfristigen Behandlungserfolg zu induzieren, sondern dessen Stabilität im mittelfristigen Verlauf sicherzustellen. Bei einer Reihe von Reha-Indikationen wurde bereits festgestellt, dass Nachsorgeprogramme zur Festigung des Rehabilitationserfolgs wesentlich beitragen können (Deck et al. 2004). In welchem Umfang und mit welcher Art der Nachsorge dies im Rahmen der medizinischen Rehabilitation von Rückenschmerzen möglich ist, kann aufgrund fehlender empirischer Ergebnisse nicht sicher abgeschätzt werden. Die günstigen Erfahrungen bei an-
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Kapitel 5 · Rücken
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Kontrollgruppe
Interventionsgruppe
1 0 vor Reha
3 Monate
10 Monate
⊡ Abb. 5.21. Mittelwerte und Standardabweichungen der IRESDimension »Funktionsstatus« in der IopKo-Evaluationsstudie (Dibbelt et al. 2006)
Mittelwert (+/– Standardabweichung)
9 8 7 6 5 4 3 2
Kontrollgruppe
Interventionsgruppe
1 0 vor Reha
3 Monate
10 Monate
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⊡ Abb. 5.22. Mittelwerte und Standardabweichungen der IRESDimension »Psychosozialer Status« in der IopKo-Evaluationsstudie (Dibbelt et al. 2006)
Mittelwert (+/– Standardabweichung)
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⊡ Abb. 5.20. Mittelwerte und Standardabweichungen der IRES-Dimension »Somatischer Status« vor der Reha-Maßnahme sowie 3 und 10 Monate danach in der Kontrollgruppe (n = 176) und der Interventionsgruppe (n = 306) der IopKo-Evaluationsstudie (Dibbelt et al. 2006)
Mittelwert (+/– Standardabweichung)
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8 7 6 5 4 3 2
Kontrollgruppe
Interventionsgruppe
1 0 vor Reha
deren Patientengruppen lassen jedoch vermuten, dass gezielte Nachsorge, wie sie in den Empfehlungen der Bertelsmann-Arbeitsgruppe (s. oben) gefordert wird, auch bei Rückenschmerzpatienten zur Sicherung der Nachhaltigkeit führen kann. Die »Compliance« bei der Nachsorge wird dabei auch davon abhängig sein, in welchem Umfang
3 Monate
10 Monate
den Patienten während der Rehabilitationsmaßnahme die Bedeutung dieser Angebote vermittelt und ihr Interesse daran geweckt werden konnte. Die Orientierung der Rehabilitation an den Alltags-Einstellungen und Präferenzen der Patienten ist deshalb gerade auf diesem Gebiet besonders wichtig.
123 5.7 · Die medizinische Rehabilitation von Patienten mit Rückenschmerzen
5.7.4 Fazit
Wie epidemiologische und sozialmedizinische Daten belegen, handelt es sich bei Rückenschmerzen noch immer um ein enormes Gesundheitsproblem, das auch im Leistungsgeschehen des Gesundheitswesens seinen Niederschlag findet. Es ist nicht zu erwarten, dass in den kommenden Jahren die medizinische und volkswirtschaftliche Bedeutung der Rückenschmerzen wesentlich zurückgehen wird. Umso wichtiger erscheint es, die Interventionsmöglichkeiten auf der präventiven, der kurativen und der rehabilitativen Ebene optimal auszuschöpfen. Die Eckpunkte erfolgreicher Rehabilitationsmaßnahmen sind aus Evaluationsstudien in ihrem Kern bekannt und wurden bereits in evidenzbasierten Empfehlungen zusammengefasst. Weitere Studien müssen zeigen, in welchen Bereichen, z. B. in der Nachsorge oder in einer erweiterten Patientenbeteiligung, Optimierungsreserven mobilisiert werden können. Nur durch kontinuierliche Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation und eine stärkere Orientierung an einem Behandlungsmodell, das medizinische, patientenbezogene sowie arbeits- und alltagsweltliche Perspektiven in sich vereint (Waddell u. Burton 2005), besteht die Chance, die gegenwärtig noch anhaltende Rückenschmerzepidemie erfolgreich zu bekämpfen. Literatur Bertelsmann AG Rehabilitation (2007) Rehabilitation von Rückenschmerzen. Indikationsstellung – Best-Practice-Empfehlungen – Nachsorge (www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-0A000F141E87D2C4/bst/Rehabilitation_2007.pdf) [Zugriff am 22.11.2007] Bührlen B, Gerdes N, Jäckel WH (2005) Entwicklung und psychometrische Testung eines Patientenfragebogens für die medizinische Rehabilitation (IRES-3). Rehabilitation 44:63–74 Casser HR, Riedel T, Schrembs C, Ingenhorst A, Kühnau D (1999) Das multimodale interdisziplinäre Therapieprogramm beim chronifizierenden Rückenschmerz. Orthopäde 99:946–957 Deck R, Glaser-Möller N, Mittag O (Hrsg) (2004) Rehabilitation und Nachsorge – Bedarf und Umsetzung. Jacobs, Lage DRV (2005) Statistik der Deutschen Rentenversicherung. Band 154: Rehabilitation 2004. Deutsche Rentenversicherung, Berlin DRV (2007a) Statistik der Deutschen Rentenversicherung. Band 159: Rehabilitation 2005. Deutsche Rentenversicherung, Berlin DRV (2007b) Leitlinie für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen – Pilotversion, Deutsche Rentenversicherung (www. deutsche-rentenversicherung.de [Zugriff am 16.07.2007] Dibbelt S, Greitemann B, Büschel C (2006) Nachhaltigkeit orthopädischer Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen – Das Integrierte orthopädisch-psychosomatische Behandlungskonzept (IopKo). Rehabilitation 45:324–335 Greitemann B, Dibbelt S, Büschel C (2006) Integriertes OrthopädischPsychosomatisches Konzept zur medizinischen Rehabilitation von Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates – Langfristige Effekte und Nachhaltigkeit eines multimodalen Programmes zur Aktivierung und beruflichen Umorientierung. Z Orthop Ihre Grenzgebiete 144 (3):255–266 Guzmán J, Esmail R, Karjalainen K, Malmivaara A, Irvin E, Bombardier C (2001) Multidisciplinary rehabilitation for chronic low back pain: systematic review. BMJ 322:1511–1516
Haaf HG (2005) Ergebnisse zur Wirksamkeit der Rehabilitation. Rehabilitation 44:e1–e20 Hüppe A, Raspe H (2003) Die Wirksamkeit stationärer medizinischer Rehabilitation in Deutschland bei chronischen Rückenschmerzen: eine systematische Literaturübersicht 1980–2001. Rehabilitation 42:143–154 Hüppe A, Raspe H (2005) Zur Wirksamkeit von stationärer medizinischer Rehabilitation in Deutschland bei chronischen Rückenschmerzen: Aktualisierung und methodenkritische Diskussion einer Literaturübersicht. Rehabilitation 44:24–33 Karjalainen K, Malmivaara A, van Tulder MW, Roine R, Jauhiainen M, Hurri H, Koes B (2003) Multidisciplinary biopsychosocial rehabilitation for subacute low back pain among working age adults. Cochrane Database of systematic reviews (Online) (2): CD002193 Kolip P, Czujek J, Greitemann B, Rosowski E, Schmidt B, Slangen K (2001) »Lebenslust statt Krankheitsfrust« – Implementation und Evaluation eines Programms zur aktiven Patientenbeteiligung in der stationären Rehabilitation chronischer RückenschmerzpatientInnen. Rehabilitation 40:267–274 Mau W (2006) Rehabilitation medicine – Efficacy and effectiveness in the German health care system exemplified for persons with musculoskeletal diseases. J Pub Health 14:357–363 Morfeld M, Möller JUM, Hintze R, Fox M, Höder JH, Krauth C, Koch U (2006) Back to Balance. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Interventionsprogramm bei chronischen Rückenschmerzen in der stationären Rehabilitation. DRV-Schriften, Bd 64:335–337 Ostelo RW, van Tulder MW, Vlaeyen JW, Linton SJ, Morley SJ, Assendelft WJ. Behavioural treatment for chronic low-back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews 2005:CD002014 Slangen K, Kolip P, Schmidt B, Rosowski E, Czujek J, Greitemann B (2002) Aktive Patientenbeteiligung in der Rehabilitation – Evaluation eines psychologisch-somatischen Aktivierungstrainings für Rückenschmerzpatienten. Juventa, Weinheim München van Tulder MW, Koes B, Malmivaara A (2006) Outcome of non-invasive treatment modalities on back pain: an evidence-based review. Eur Spine J 15:64–81 VDR (2001) VDR Statistik Rehabilitation 2000. Band 138. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt am Main VDR (2002) VDR Statistik Rehabilitation 2001. Band 142. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt am Main VDR (2003) VDR Statistik Rehabilitation 2002. Band 146. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt am Main VDR (2004) VDR Statistik Rehabilitation 2003. Band 150. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt am Main Waddel G, Burton AK (2005) Concepts of rehabilitation for the management of low back pain. Best Practice Res Clin Rheumatol 19:655–670
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6 Obere und untere Extremitäten Bernd Greitemann, Nicole Teichler, Ulla Walter
Dieses Kapitel stellt die oberen und unteren Extremitäten des Körpers in ihrer Anatomie, Physiologie und funktionellen Arbeitsweise vor. Kapitel 6.1 zeigt außerdem relevante Krankheitsbilder der oberen Extremitäten auf. Ebenso werden präventive Aspekte, insbesondere die Fußgesundheit betreffend, beschrieben. Das Krankheitsbild der Arthrose, das bei den unteren Extremitäten hauptsächlich vertreten ist, wird in seiner Entstehung, Therapie und Rehabilitation ausführlich in Kap. 6.2 dargestellt.
6.1
Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze
Nicole Teichler, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Die oberen und unteren Extremitäten entsprechen sich in ihrer Form: Sie besitzen mit der knöchernen Anatomie eine Dreigliedrigkeit (Oberarm – Unterarm – Hand bzw. Oberschenkel – Unterschenkel – Fuß), wobei der wesentliche Abschnitt bezüglich der Feinmotorik von den jeweiligen Endteilen (Hand bzw. Fuß) dargestellt wird. Unterschiedlich ist die Funktion der oberen und unteren Extremitäten: Funktionelles Ziel des Armes ist die maximale Nutzung der Beweglichkeit, beim Bein steht der Halt und die Sicherung des aufrechten Gangs sowie die Fortbewegung im Vordergrund (Rohen u. Lütjen-Drecoll 2006).
6.1.1 Obere Extremitäten
Zu den oberen Extremitäten wird der Schultergürtel mit seinen beteiligten Knochen und Gelenken gezählt: ▬ das Schulterblatt – Scapula, ▬ der Oberarmknochen – Humerus und ▬ das Schlüsselbein – Clavicula.
Über den Arm wird die Verbindung mit dem Schultergürtel hergestellt. Dies geschieht überwiegend muskulär. Nur am Schlüsselbein besteht Kontakt zum knöchernen Brustbein. Gekennzeichnet ist das Schultergelenk durch relativ kleine Berührungsflächen der beteiligten Gelenkpartner, wodurch ein großer Bewegungsspielraum ermöglicht wird. Das Gelenk ist durch Muskeln gesichert, wobei in diesem Bereich zwischen dorsalen (rückwärtigen) und ventralen (bauchwärts gelegenen) Muskelgruppen unterschieden wird. Die dorsalen Muskeln zählen zu den oberflächlichen Rückenmuskeln, die ventrale Muskulatur bezeichnet die Brustmuskeln, die in ihrem Verlauf teilweise bis zum Oberarm reichen. Als Muskelkappe über dem proximalen (körpernahen) Ende des Oberarmes befindet sich ein stabilisierender Muskelmantel, die Rotatorenmanschette, die dafür sorgt, dass der Oberarm als Gelenkpartner zur Schulter in seiner Position gehalten wird. Weitere Muskeln bzw. Muskelgruppen helfen dabei, den Schultergürtel am Rumpf zu befestigen und sorgen andererseits auch für die große Beweglichkeit der Arme (Spornitz 2004). Die Muskulatur des Armes lässt sich in Ober- und Unterarmmuskulatur gliedern. Dabei wirken die Muskeln des Oberarms überwiegend auf das Schulter- und Ellenbogengelenk, die Muskeln des Unterarms in der Hauptsache auf das Ellenbogen- und Handgelenk sowie auf die Finger. Ellbogen und Unterarm
Die Gelenkpartner des zusammengesetzten Ellenbogengelenks sind die distalen (körperfernen) Gelenkflächen des Oberarms, die knöchern in Verbindung mit der Elle sowie der Speiche des Unterarms stehen. Die Elle bildet mit ihrem proximalen Ende zusammen mit der Gelenkfläche des Oberarms das Scharniergelenk des Ellenbogens. Die Speiche bildet mit ihrem proximalen Ende das sog. Ellen-Speichen-Gelenk. Eine Besonderheit stellt die Rotationsmöglichkeit des Unterarms dar: Durch Drehbewegungen des Unterarms
126
Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
werden Pronation (nach innen gerichtete Rotation) und Supination (nach außen gerichtete Rotation) ermöglicht. Hierdurch wird die Funktionsfähigkeit der Hand verbessert sowie ihre Beweglichkeit vergrößert, sodass vielseitige feinmotorische Aufgaben, wie Greifen auch kleinerer Gegenstände, durchgeführt werden können. Hand
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Die Hand setzt sich aus Handwurzel-, Mittelhand- und Fingerknochen zusammen. Die Handwurzelknochen sind würfelförmig und bestehen aus zwei Reihen von je vier Knochen, die mit den Mittelhandknochen verbunden sind. Diese nehmen einen Großteil des Handrückens bzw. -tellers ein. Die Fingerknochen lassen sich in Grund-, Mittel- und Endglied unterteilen, wobei dem Daumen das Mittelglied fehlt (Spornitz 2004). Die Hand ist durch die vielseitigen, differenzierten Funktionen ihrer Muskulatur der beweglichste Körperteil. Häufig verbreitete Krankheitsbilder
Einige Krankheitsbilder im Bereich der oberen Extremitäten sind charakteristisch für Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten mit einseitiger oder stereotyper Belastung. Folgen hiervon betreffen Einschränkungen im Arbeits- sowie Alltagsleben. Exemplarisch werden arbeitsplatz- oder überlastungsbedingte Beeinträchtigungen vorgestellt. Eine vertiefende Darstellung sowie geeignete therapeutische Maßnahmen dieser und weiterer Erkrankungen finden sich bei Froböse und Nellessen (1998). Schulterschmerzen entstehen meist durch krankhafte Veränderungen im Bereich der beteiligten Gelenke, wobei die Ursachen degenerativ oder rheumatisch bedingt sind bzw. die Verbindungen der Gelenke und beteiligten Weichteilstrukturen, wie Bänder, Sehnen oder Muskeln, betroffen sind. Genaue Angaben zur Prävalenz liegen nicht vor, sie schwanken in Deutschland zwischen 4 und 20% (Speed u. Hazelman 2003; Haake 2003). Nacken-, Unterarm- oder Handbeschwerden werden aufgrund repetitiver Belastungsreaktionen unter dem Sammelbegriff »repetitive strain injury« (RSI) zusammengefasst, zu dem bislang kein adäquater deutscher Begriff existiert. Eine Ursache liegt hier u. a. in wiederholenden Bewegungen über einen längeren Zeitraum in ungünstiger Haltung. Betroffen sind überwiegend Personen mit Bildschirmtätigkeit oder am Fließband ( Kap. 11). Der Tennisellenbogen (auch: Epicondylitits radialis humeri bzw. lateralis oder Insertionstendopathie) ist charakterisiert durch Schmerzen und Druckempfindlichkeit aufgrund einer Entzündung im Bereich des äußeren Ellbogens sowie damit einhergehenden Schmerzen der Streckmuskulatur des Unterarms und der Hand. Dieses Krankheitsbild wird durch häufig sich wiederholende Bewegungen der Unterarmstreckmuskulatur und damit verbundener Mikrotraumen als Überlastungsverletzung angesehen. Die Folge hiervon ist die eingeschränkte
Gebrauchsfähigkeit des Unterarms und der Hand. Die Prävalenz in der Bevölkerung wird auf 1–3% geschätzt (Assemdelft et al. 2003). Konservative Behandlungsmaßnahmen sind u. a. die Ruhigstellung des betroffenen Bereichs, Salbenverbände oder entzündungshemmende Medikamente (Antiphlogistika), deren belegte Schmerzlinderung jedoch nur von kurzer Dauer ist (u. a. Green et al. 2002). Schwerere Krankheitsverläufe können operative Maßnahmen zur Lockerung des Muskelansatzes erforderlich machen. Nachweislich ist die Wirksamkeit von Therapien in diesem Bereich jedoch als eher gering einzustufen (Smidt et al. 2002; Newcomber et al. 2001). Das Karpaltunnelsyndrom (CTS) beinhaltet eine Schwellung der Fingerbeugesehnen, die Druck auf den Medianusnerv ausüben und als Folge Kribbeln und Taubheit in der Hand sowie Schmerzen im Arm nach sich ziehen. Der Karpaltunnel befindet sich auf der Innenseite der Hand und wird von den Handwurzelknochen und einem nichtelastischen Band begrenzt. Durch diesen Tunnel verlaufen viele Sehnen sowie der Handnerv, Nervus medianus. Starke Belastung bzw. wiederkehrender Druck können zu Ausfallerscheinungen wie Lähmungen oder Sensibilitätsstörungen führen. In einer populationsbezogenen Studie konnte ein Zusammenhang von arbeitsbedingten Belastungen durch repetitive Bewegungsabläufe der Hände oder Drehbewegungen der Handgelenke zu CTS nachgewiesen werden (Giersiepen et al. 2000). Therapeutische Möglichkeiten umfassen Injektionen entzündungshemmender Medikamente (s. oben), sowie unterstützende Anwendungen aus dem Bereich der physikalischen Therapie (Kälteanwendungen, Reizstrombehandlungen oder/und Bewegungstherapie). Die Wirksamkeit verschiedener Therapieformen bei diesen Beeinträchtigungen konnte jedoch nur kurzzeitig nachgewiesen werden (van Tulder et al. 2007). im Rahmen der Rehabilitation von Muskel» Wesentlich Skelett-Erkrankungen ist die Hinwendung zum biopsychosozialen Modell und die Berücksichtigung der Wechselwirkungen von somatischen Beschwerden und psychischer Gesundheit bzw. Lebensqualität. Dr. Christiane Korsukéwitz, Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin
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Infobox
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Prävention Durch den geringen Wirksamkeitsnachweis der Therapien im Bereich des »repetitive strain injury«, des Tennisellenbogens sowie des Karpaltunnelsyndroms kommt einer Belastungsreduktion bzw. ergonomischen Optimierung des Arbeitsplatzes eine wich▼
127 6.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze
tige Bedeutung zu. Die Umsetzung und Einhaltung von vorgeschriebenen ergonomischen Richtlinien zur Organisation und Gestaltung des Arbeitsplatzes findet durch die Arbeitsstättenverordnung (2004) statt. Die Nutzung spezifischer Arbeitsmittel stellt einen wesentlichen Beitrag der primären sowie sekundären Prävention dar. Hierzu zählt u. a. eine ergonomisch geformte Tastatur, ggf. mit gepolsterten Handgelenksauflagen, eine Mausnutzung im Seitenwechsel der Hände mit Unterstützung durch bewegliche Armauflagen oder die Nutzung alternativer Eingabegeräte über Sprache oder Fußtasten.
Bewegungen im Bereich des Hüftgelenks können sowohl vom Becken als auch vom Oberschenkel ausgehen, wobei die Bewegung des Beines deutlich sicht- und wahrnehmbar ist. Der Oberschenkelknochen besitzt einen Schenkelhals, der die Verbindung zwischen dem Hüftkopf und dem nach unten verlaufenden Schaft darstellt und damit den kurzen mit dem langen Anteil des Knochens verbindet. Am distalen Ende des Knochens finden sich die verbreiterten Gelenkflächen für den Kontakt mit dem Schienbein für das Kniegelenk. Exkurs
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Belastung und Beanspruchung von Gelenken
6.1.2 Untere Extremitäten
Eine Besonderheit der unteren Extremitäten stellt die Tatsache dar, dass die stärkste Muskulatur, die Streckmuskulatur, nur wenig Einfluss auf die Beweglichkeit der Gelenke besitzt – so ist z. B. eine rückwärtige Streckung des Beins nur in geringem Ausmaß möglich. Als Erklärung kann hierfür die Streckmuskulatur angeführt werden, die weniger für die Bewegung des Beins an sich als für die Sicherung der aufrechten Haltung genutzt wird (Rohen u. Lütjen-Drecoll 2006). Die Pro- und Supinationsfähigkeit existiert bei den unteren Extremitäten nicht in der ausgeprägten Form wie beim Unterarm. Sie ist auf den Fuß beschränkt, da derartige Bewegung im Unterschenkel die statische Sicherheit gefährden würde (Rohen u. LütjenDrecoll 2006). Hüftgelenk
Die Bewegungsfreiheit im Hüftgelenk ist im Gegensatz zum Schultergelenk stark eingeschränkt. Neben der knöchernen Führung besitzt das Hüftgelenk einen kräftigen Bandapparat, der für den Zusammenhalt der Gelenkkörper sorgt (Rohen u. Lütjen-Drecoll 2006). Bei der Streckung sichern die Bänder das Gelenk und »verschrauben« das Standbein, während in einer Beugestellung diese Bänder gelockert werden und verschiedene Bewegungsrichtungen zulassen. Im Unterschied zum Schultergürtel besitzt das Hüftgelenk durch seine knöcherne Führung eine feste Verbindung zum Rumpf (Verbindung des Oberschenkels zum Becken). Beim Hüftgelenk handelt es sich um ein Kugelgelenk, wobei der Oberschenkelknochen (Femur) mit seinem proximalen Ende, dem Hüftkopf, mit der Hüftpfanne in Verbindung steht. Der knöcherne Beckengürtel besteht aus dem Kreuzbein und den paarig vorhandenen Hüftbeinen. Das Hüftbein stellt mit seiner Gelenkpfanne die Grundlage für das Hüftgelenk dar und dient als Basis für die Bewegungen des Beines (Spornitz 2004). Die
Das Hüftgelenk als größtes Gelenk des Körpers ist das am stärksten belastete und beanspruchte Gelenk des Menschen. Bei einem Körpergewicht von etwa 70 kg kommt es beim Gehen in den Belastungszonen der Hüfte zu Druckbelastungen von mehr als dem Doppelten des Körpergewichts. Diese Belastung wird von einem gesunden Hüftgelenk bei den meisten Menschen während des gesamten Lebens ausgehalten. Bei einer täglichen Gehstrecke von ca. 5 km bedeutet dies, dass – je nach physiologischer Voraussetzung und Gehgeschwindigkeit – das Hüftgelenk etwa 10.000-mal be- und entlastet wird. Zwischen Belastung und Beanspruchung sollte jedoch unterschieden werden, denn: ▬ Belastung meint die Summe aller auf ein Gelenk einwirkenden Kräfte. Eine dynamische Belastung kommt z. B. bei unterschiedlicher Geschwindigkeit des Gehens zustande: Die Belastung variiert vom dreifachen (langsamer Gang) bis zum siebenfachen (schnelles Gehen) des Körpergewichts. ▬ Beanspruchung dagegen versteht die Verteilung der Kraft auf die kraftübertragende Fläche, d. h. es wird die funktionelle Kontaktfläche mit einbezogen. Durch zu hohe Beanspruchung, z. B. aufgrund von erhöhtem Gewicht, ist eine vorzeitige Abnutzung der Gelenke möglich (Hüter-Becker u. Dölken 2005).
Muskulatur
Ähnlich der Muskulatur des Schultergürtels lassen sich am Hüftgelenk dorsale und ventrale Muskelgruppen differenzieren. Im Bereich der dorsalen Muskelschicht wird weiter zwischen einer oberflächlichen und einer tiefen Schicht unterschieden. Die Funktion der rückwärtigen Muskulatur liegt u. a. in der Streckung des Hüftgelenkes wie beim Treppesteigen oder Aufstehen sowie der Stabilisierung des Rumpfes für die Aufrechterhaltung. Die vorne gelegene Muskulatur ist
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Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
überwiegend für die Beugung des Hüftgelenkes zuständig. Bei der Muskulatur des Oberschenkels wird ebenfalls nach der Lage der Muskeln unterschieden – die Streckmuskulatur (Extensoren) liegt ventral, die Beuger (Flexoren) sind dorsal lokalisiert, die mediale Muskelgruppe (Adduktoren) liegt auf der Innenseite des Oberschenkels. Die Unterschenkelmuskulatur unterteilt sich in die dorsalen Beuger, die ventrale Streckmuskulatur sowie eine außen gelegene, seitliche (laterale) Muskelgruppe. Die Fußmuskeln gliedern sich in die Muskulatur des Fußrückens und die der Fußsohle. Zur differenzierten Übersicht muskulärer Funktionseinheiten siehe Spornitz (2004). Kniegelenk
Das Kniegelenk stellt das komplizierteste Gelenk des menschlichen Körpers dar und ermöglicht durch seine physiologischen Voraussetzungen sowohl Festigkeit als auch Bewegungsfähigkeit (Rohen u. Lütjen-Drecoll 2006). In gestreckter Stellung unterstützt es den Körper in seinem sicheren Stand, bei Beugung erweitert es den Bewegungsspielraum des Fußes. Am unteren Ende des Oberschenkels befinden sich zwei verdickte und mit Knorpel überzogene Rollen (Epikondylen), die auf der Vorderseite eine Auflagemöglichkeit für die Kniescheibe (Patella) bilden. Die beiden Gelenkrollen sind mit dem Schienbein (Tibia) in Kontakt. Das Wadenbein (Fibula) beteiligt sich nicht am Kniegelenk (Rohen u. Lütjen-Decroll 2006). In der Beugestellung des Kniegelenks ist die Berührungsfläche der Gelenkpartner relativ gering, dadurch wird eine zusätzliche Sicherung des Gelenks durch seitliche Bänder erforderlich, um die Stabilität zu gewährleisten. Im Gegensatz zum Hüftgelenk ist das Kniegelenk ein bandgeführtes Gelenk. Die so genannten Kreuzbänder sichern hierbei das gebeugte Knie. Den Gelenkpartnern dienen unterstützend im Gelenk zwei keilförmige, fasernknorpelige Gelenkscheiben (Menisken) dazu, eine möglichst breite Unterstützungsfläche zu verschaffen. Die Kniescheibe ist als Teil des Kniegelenks in die Sehne des Quadrizepsmuskels auf der Vorderseite des Oberschenkels eingelassen. Bei der Beugung des Kniegelenkes schützt sie den Knochen vor Verletzung (Spornitz 2004).
Infobox
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Prävention Ursache der degenerativen Erkrankungen ist meist ein Missverhältnis zwischen der Belastung und Belastungsfähigkeit des betroffenen Gelenks (Horst et al. 1998). Im Rahmen primärpräventiver Maßnahmen bei degenerativen Erkrankungen der Gelenke stellen daher gelenkschonende und entlastende Bewegungen sowie die Vermeidung von Adipositas wesentliche Elemente dar. Folgende Bewegungen und sportliche Aktivitäten stellen eine geringe Belastung für die Gelenke dar, kräftigen die Muskulatur und verbessern die Ausdauer sowie Koordination. Hierzu zählen z. B. Schwimmen, Radfahren, Wandern sowie Nordic Walking. Sekundär- und tertiärpräventive Maßnahmen in Verbindung mit arbeitsplatznahem Training kommen bei der Rehabilitation der Arthrose zur Anwendung ( Kap. 6.2).
Rehabilitation von Muskel-Skelett-Erkrankungen » Die sollte besser vorbereitet, intensiviert und individualisiert werden. Die Nachsorge sollte zudem langfristig erfolgen. Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Institut für Sozialmedizin, Lübeck
«
Füße
Der Fuß besteht aus Fußwurzel-, Mittelfußknochen sowie den Zehen. Die Fußwurzelknochen bilden als einen Teil der Gelenkpartner das obere und untere Sprunggelenk, den anderen Gelenkpartner stellen auf der Innenseite des Beines das Schienbein sowie auf der Außenseite das Wadenbein dar. Das Fußskelett entspricht in seiner Form einer doppelten Gewölbekonstruktion: Das Längsgewölbe spannt sich zwischen Ferse und Zehen auf, das Quergewölbe befindet sich auf Höhe der Mittelfußknochen (Spornitz 2004). Durch diese Konstruktion können die vielseitigen Aufgaben der Füße – Bewegung, Abfederung von Körpergewicht und Erschütterungen sowie Stabilisation des Gleichgewichts – funktionell gut umgesetzt werden. Die wesentliche Aufgabe des Fußes liegt jedoch in seiner Stützfunktion – im Unterschied zur Hand, deren hauptsächliche Funktion im Greifen liegt.
Krankheitsbilder
Fußgesundheit
Relevante Krankheitsbilder für den Bereich der MuskelSkelett-Erkrankungen sind im Wesentlichen die Arthrose des Hüft-, Knie-, aber auch Sprunggelenks, die zwei Drittel der über 60-Jährigen betreffen (Imhof et al. 2002). Eine ausführliche Darstellung zur Entstehung und Symptomatik der Arthrosen findet sich im nachfolgenden
Der überwiegende Teil der Bevölkerung kommt mit gesunden Füßen auf die Welt, Fußmissbildungen treten nur bei ca. 3% der Neugeboren auf (Larsen et al. 2006). Im Schulalter weisen bis zu 80% der Kinder graduell unterschiedlich ausgeprägte Schädigungen ihrer Fußhaltung und -funktion auf, die in Zusammenhang mit später auftretendem Bewegungsmangel stehen (Schwartz 2007).
Kap. 6.2.
129 6.1 · Anatomische und physiologische Grundlagen sowie präventive Ansätze
Präventive Aspekte zur Fußgesundheit bei Kindern
Um Spätschäden bei Kinderfüßen zu vermeiden, gibt es neben dem Tragen von geeignetem Schuhwerk weitere, der Fußgesundheit zuträgliche Maßnahmen: Die Vermeidung von Übergewicht, die Aufnahme sportlicher Aktivitäten wie Balancieren oder Trampolinspringen, Fußgymnastik sowie häufiges Barfußlaufen. Dabei spielt das passgenaue Schuhwerk eine wesentliche Rolle, um Kinderfüße in ihrer physiologischen Entwicklung zu unterstützen, denn sie wachsen im Kindergartenalter zwischen zwei und drei Schuhgrößen im Jahr. Zu klein gewordene Schuhe werden von Kindern oft mit Krümmungen der Zehen kompensiert – in der Folge kann hierdurch die Wadenmuskulatur verkrampfen und zu Fehlstellungen in den Sprunggelenken sowie später auch in den Knie- und Hüftgelenken führen. Der optimale (Kinder-)Schuh sollte in seiner Funktion den Fuß schützen und mit seinem Fußbett auch bei unebenem Untergrund immer eine geeignete Auftrittsfläche sicherstellen (Hien 2003). Eine Untersuchung der Technischen Universität München in Zusammenarbeit mit der Landesinnung Bayern für Orthopädietechnik 1997 an 120 Kindern im Hinblick auf Fußdeformitäten und Schuhwerk ergab, dass 54% von ihnen bis zu drei Schuhgrößen zu kleine Schuhe besaßen. Untersucht wurden Kinder im Alter von 1–14 Jahren. Lediglich bei einem Viertel war die Schuhgröße korrekt. Kinderfüße sollten daher alle drei Monate gemessen werden, um die richtige Schuhgröße zu ermitteln. Viele Hersteller von Kinderschuhen nutzen als Grundlage einer Größenstandardisierung für eine optimale Anpassung der Schuhe an den Fuß das WMS-Messsystem (Weiten-MaßSystem; Kinz 2005). Mit diesem System wird neben der Fußlänge auch die Fußbreite (weit – mittel – schmal) bestimmt. Auch in der Höhe des Schuhs sollte darauf geachtet werden, dass das Obermaterial nicht zu dicht am Fuß anliegt und die natürliche Abrollphase des Fußes nicht beeinträchtigt (Kinz 2005). Die früher gebräuchliche Methode, die Passgenauigkeit eines Schuhes bei Kindern durch Daumendruck auf den vorderen Schuh zu beurteilen, ist schwierig, da die Zehen sich bei Druck reflektorisch zurückziehen. Eine Alternative zum WMS-System stellt eine Pappfußschablone dar – die Fußumrisse des Kindes werden auf Pappe übertragen und ausgeschnitten. Beim Schuhkauf kann die Schablone in die Schuhe eingelegt werden und zur Bestimmung der richtigen Größe dienen. Weitere Informationen zur gesunden Entwicklung von Kinderfüßen finden sich z. B. in Broschüren, die über Fakten und Hintergründe zu gesunden Füßen informieren oder bei durchgeführten Aktionen unterschiedlicher Anbieter, die sich die Fußgesundheit als Thema gesetzt haben. Hierzu zählen z. B. der Tag der Fußgesundheit der Universität Hildesheim (Schipp 2003), das Pilotprojekt »Kinderfüße auf dem Prüfstand« in Hessen in Zusammenarbeit mit Kinderorthopäden, Sportmedizinern, Podologen sowie Orthopädietechnikern (2004) oder die
Kinderfußaktion der Technischen Universität München, Sportorthopädie (1997). Möglichkeiten präventiver Maßnahmen bei Kinderfüßen können u. a. sein: ▬ Regelmäßige Fußmessungen in regionalen Kindertagesstätten durch geschulte Mitarbeiter, um zu kleine bzw. zu große Schuhe an Kinderfüßen zu vermeiden mit ergänzenden Informationsveranstaltungen zur Thematik »Fußgesundheit bei Kindern« für Eltern, ▬ Ausstellen von sog. Schuhgrößenpässen, in die die aktuellen Größen der Schuhe mit Datum eingetragen werden, ▬ Entwicklung gezielter Vortragsreihen, Informationsplakate und Flyer zur Thematik »Fußgesundheit bei Kindern«, durchgeführt z. B. von niedergelassenen Kinderärzten, Orthopäden oder Orthopädiemechanikern als Informationsveranstaltung und Forum für interessierte Eltern. Infobox
I
I
Prävention Die Thematik Fußgesundheit greift u. a. die fachübergreifende Initiative des bayerischen Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz auf und es wird versucht, »Bayern auf gesunde Füße zu stellen«. Die Schaffung eines neuen Bewusstseins für die Fußgesundheit soll helfen, die Prävention zu stärken sowie spezifische Behandlung von Fußproblemen aufzuzeigen. Darüber hinaus wird Fachpersonal des Gesundheitswesens angesprochen, sich an dieser Initiative zu beteiligen. Verdeutlicht wird die Wichtigkeit von gutem Schuhwerk und der richtigen Fußpflege. Zusätzlich stellen Physiotherapeuten in einer Broschüre Übungen zur Gesunderhaltung der Füße, z. B. Fußgymnastik oder Kneipp-Güsse, vor.
Möglichkeiten für Fußgymnastik Füße sollten – auch bei sitzender Tätigkeit – in Bewegung bleiben (kreisende Fußbewegungen im Sprunggelenk, Krallen und Strecken der Zehen etc.). Die Verbindung von Bewegung und Gleichgewicht wie Trampolinspringen, Balancieren auf Baumstämmen oder »Seiltanz« auf dem Boden trainiert die Koordinationsfähigkeit und Balance der kleinen Fußmuskeln. Auch bei gut angepassten Schuhen ist für ein gutes Fußklima zu sorgen, d. h., es sollte immer wieder Luft an die Füße gelassen werden.
Gesundheitsfördernde Wirkung des Barfußlaufens
Im Lauf des Lebens tragen Füße den Menschen bis zu viermal um die Welt und stellen für ihn das wichtigste Fortbewegungsmittel dar. Nicht nur aus diesem Grund sind gesunde Füße wichtig. Sie wirken sich überdies posi-
6
130
6
Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
tiv auf den gesamten Organismus aus, denn auf der Fußsohle findet sich ein Abbild des Menschen in den Reflexzonen (Marquardt 2005). Durch eine zunehmende Rückbesinnung auf das Barfußlaufen werden die Reflexzonen der Füße besonders gut stimuliert – das Herz-KreislaufSystem wird angeregt, das Venensystem gekräftigt und Rücken sowie Gelenke werden physiologisch belastet. Erfahrungswissen zeigt, dass Barfußlaufen auf weichen Böden in der Natur, wie z. B. Sand, Gras oder Waldboden, eine Erholung für die Füße darstellt. Automatisch wird die richtige Fußstellung gewählt und das Körpergewicht wird auf die Fußaußenkanten verlagert, die Fußmuskeln trainiert, das Fußgewölbe gestärkt, die Koordination und das Gleichgewicht gefördert. Durch das freie Abrollen der Füße ohne beengende oder unpassende Schuhe wird außerdem Platt- oder/und Spreizfüßen entgegengewirkt. Barfußlaufen kann auch in Barfußparks oder auf Barfußpfaden erlebt werden. Bestimmte Pfade besitzen zusätzlich zur Aktivierung der Füße therapeutischen Nutzen und schulen z. B. die Sensomotorik. Zur wissenschaftlichen Fundierung der Fußgesundheit, der Gesunderhaltung der Füße sowie der Auswirkungen gesunder Füße auf den Körper wurde seitens des Redaktionsteams der MHH eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Als Einschlusskriterien wurden präventive Maßnahmen, Gesundheitsförderung, unterstützende Einlagen und Schuhwerk sowie Fußgymnastik berücksichtigt, ausgeschlossen wurden als Suchkriterien Krankheiten, Unfälle sowie Operationen. Untersuchte Studientypen bezogen klinische Studien, Metaanalysen, randomisierte kontrollierte Studien sowie Reviews im Zeitraum von 1997 bis 2007 ein. Die Recherche konzentrierte sich auf deutsch- und englischsprachige Publikationen im Zeitraum der letzten zehn Jahre und stützte sich überwiegend auf medizinische Datenbanken (Medline, PubMed). Wesentliche Suchbegriffe zur Prävention wa-
ren: »prevent, intervent, health, health behavior, health promotion; zu Fuß: foot, feet, toe, shoe, orthopaedic shoe, inserts, orthoses, footwear, foot joints, foot diseases«. Im Ergebnis zeigte sich kein eindeutiges Bild. Die 585 gefunden Titel bzw. Abstracts wurden von zwei unabhängigen Gutachtern durchgesehen und anschließend miteinander verglichen. Eindeutig zutreffende Publikationen beschäftigen sich mit Erhebungen zur Prävention und Gesundheit der Füße (n = 2), Orthosen (Korrektur- und Hilfsmittel für die Füße; n = 8), Einfluss von Sport auf die Gesunderhaltung und Stabilität der Füße (n = 5), den Zusammenhang mit anderen Erkrankungen (Rückenschmerzen, Gleichgewichtsstörungen bei Älteren; n = 3), Schuhwerk (n = 3) und der Benutzung von Einlagen am Arbeitsplatz (n = 2). Weitere Veröffentlichungen berücksichtigen spezifische Orthosen bei bestimmten Sportarten (Tanzen, Golf), untersuchen den Einfluss von unterschiedlichen Faktoren (z. B. Wärme an den Füßen) zum allgemeinen Befinden und beschreiben Auswirkungen von angewandten Hilfsmitteln auf das Gangbild. Der Rest der Studienlage war weitgehend heterogen. ⊡ Tabelle 6.1 fasst in der Übersicht relevante Kategorien der systematischen Literaturrecherche zusammen.
6.1.3 Fazit
Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick über anatomisch-funktionelle Aspekte der oberen und unteren Extremitäten sowie über überlastungsbedingte bzw. arbeitsplatzbezogene Krankheitsbilder der oberen Extremitäten. Hierzu zählen u. a. der Tennisellenbogen, das Karpaltunnelsyndrom und Beschwerden im Nacken-, Arm- oder Handbereich nach wiederkehrenden Belastungen, die als »repetitive strain injury« zusammengefasst werden. Therapeutische Interventionen weisen hierbei eine eher
⊡ Tabelle 6.1. Kategorisierung der systematischen Literaturrecherche Kategorie*
Anzahl
Autor
Jahr
Prävention & Fußgesundheit
Erhebung
2
u. a. Bennett et al.
2001
Schuhwerk & Hilfsmittel
Schuhwerk
3
u. a. Nurse et al.
2005
Orthosen
8
u. a. Cordova et al.
2005
Einlagen am Arbeitsplatz
2
u. a. Kersting et al.
2005
Sport & Fußgesundheit
5
u. a. Alricsson et al.
2003
Zusammenhang mit anderen Erkrankungen
3
u. a. Incel et al.
2002
Hilfsmittel zur Verbesserung des Gangsbildes
7
u. a. Kitaoka et al.
2006
Wärmeanwendung
1
u. a. Kuklane et al.
1999
Weitere Faktoren
Anmerkung: die Mehrzahl der Studien ist nicht eindeutig zuordenbar.
131 6.2 · Rehabilitation bei Arthrose
geringe Wirksamkeit auf; umso relevanter sind präventive Maßnahmen, die vor allem im Bereich des Arbeitsplatzes zur Anwendung kommen. Die Fußgesundheit wird unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet: präventive Maßnahmen, z. B. korrekt sitzendes Schuhwerk bei Kindern zur Vermeidung bzw. Minimierung von Folgeschäden, regelmäßige Fußmessungen von Kinderfüßen als Voraussetzung zur optimalen Anpassung von Schuhen sowie Beispiele für Fußgymnastik. Des Weiteren werden die positiven Auswirkungen des Barfußlaufens durch die Stimulation der Füße auf den gesamten Organismus hervorgehoben. Die Darstellung verschiedener Initiativen zur Förderung der Fußgesundheit rundet das Kapitel ab. Die Studienlage zur Fußgesundheit und ihren Auswirkungen auf den gesamten Organismus ist durch wenig Literatur mit hoher Studienqualität charakterisiert. Eindeutige Hinweise auf die Wirksamkeit, z. B. von Orthosen, waren kaum zu erkennen. Wissenschaftliche Ergebnisse zu Spätschäden bei unpassendem Schuhwerk in der Kindheit existieren derzeit kaum. Wünschenswert ist eine verstärkte wissenschaftliche Forschung, um fundierte Aussagen zur Fußgesundheit sowie deren Erhaltung zu geben sowie präventive Maßnahmen zielgerechter gestalten zu können. Literatur Alricsson M, Harms-Ringdahl K, Eriksson K, Werner S (2005) The effect of dance training on joint mobility, muscle flexibility, speed and agility in young cross-country skiers – a prospective controlled intervention study. Scand J Med Sci Sports 13 (4):237–243 Arbeitsstättenverordnung vom 12. August 2004 (BGBI. I Nr. 44) Assendelft W, Green S, Buchbinder R, Struijs P, Smidt N (2003) Tennisellenbogen. In: Ollenschläger G, Buchner HC, Donner-Banzhoff N, Forster J, Gaebel W, Kunz R, Müller OA, Neugebauer EAM, Steurer J (Hrsg) Kompendium evidenzbasierte Medizin. Huber, Bern Bennett PJ, Patterson C, Dunne MP (2001) Health-related quality of life following podiatric surgery. J Am Podiatr Med Assoc 91 (4):164–173 Cordova ML, Scott BD, Ingersoll CD, LeBlanc MJ (2005) Effects of ankle support on lower-extremity functional performance: a meta-analysis. Med Sci Sports Exerc 37 (4):635–641 Froböse I, Nellessen G (Hrsg) (1998) Training in der Therapie. Ullstein Medical, Wiesbaden Giersiepen K, Eberele A, Pohlabeln H (2000) Gender differences in carpal tunnel syndrome? Occupational and non-occupational risk factors in a population-based case-control study. Ann Epidemiol 10 (7):481 Green S, Buchbinder R, Barnsley L, Hall S, White M, Smidt N, Assendelft W (2002) Non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs) for treating lateral elbow pain in adults. In: The Cochrane Library, Issue 3, Oxford Haake M (2003) Schulterschmerzen – Kommentar. In: Ollenschläger G, Buchner HC, Donner-Banzhoff N, Forster J, Gaebel W, Kunz R, Müller OA, Neugebauer EAM, Steurer J (Hrsg) Kompendium evidenzbasierte Medizin. Huber, Bern Hien NM (2003) Einlagen- und Schuhversorgung bei Fußdeformitäten. Orthopäde 32 (2):119–132 Horst F, Adler B, Schulte-Frei B, Horst H (1998) Orthopädisch-traumatologische Grundlagen. In: Froböse I, Nellessen G (Hrsg) Training in der Therapie. Ullstein Medical, Wiesbaden Hüter-Becker A, Dölken M (2005) Biomechanik, Bewegungslehre, Leistungsphysiologie, Trainingslehre. Thieme, Stuttgart
Imhof H, Czerny C, Gahleitner A, Grampp S, Kainberger F, Krestan C, Sulzbacher I (2002) Koxarthrose. Radiologe 42 (6):416–431 Incel NA, Genc H, Yorgancioglu ZR, Erdem HR (2002) Relation between hallux valgus deformity and lumbar and lower extremity biomechanics. Kaoshing J Med Sci 18 (7):329–33 Kersting UG, Janshen L, Bohm H, Morey-Klapsing GM (2005) Modulation of mechanical and muscular load by footwear during catering. Ergonomics 48 (4):380–393 Kinz W (2005) Kinderfüße – Kinderschuhe. Eigenverlag Wieland Kinz Kitaoka HB, Crevoisier XM, Harbst K, Hansen D, Kotajarvi B, Kaufman K (2006) The effect of custom-made braces for the ankle and hindfoot on ankle and foot kinematics and ground reaction forces. Arch Phys Med Rehabil 87 (1):130–135 Kuklane K, Afanasieva R, Burmistrova O, Bessononva N, Holmer I (1999) Determination of heat loss from the feet and insulation of the footwear. Int J Occup Saf Ergon, 5 (4):465–476 Larsen C, Miescher B, Wickihalter G (2006) Gesunde Füße für ihr Kind. Trias, Stuttgart Marquardt H (2005) Praktisches Lehrbuch der Reflexzonentherapie am Fuß. Hippokrates, Stuttgart Newcomber K, Laskowski E, Idank D, McLean TJ, Egan KS (2001) Corticosteroid injection in early treatment of lateral epicondylitis. Clin J Sport Med 11:214–222 Nurse MA, Hulliger M, Wakeling JM, Nigg BM, Stefanyshyn DJ (2005) Changing the texture of footwear can alter gait patterns. Elektromyogr Kinesiol 15 (5):496–506 Rohen JW, Lütjen-Drecoll E (2006) Funktionelle Anatomie des Menschen. Schattauer, Stuttgart Schipp, U (2003) Zeigt her eure Füße. Tag der Fußgesundheit an der Universität Hildesheim. URL: http://www.uni-hildesheim.de/ de/11193.htm [16.07.2007] Schwartz FW (2007) Fußgesundheit. Initiative Bayern auf gesunde Füße stellen, Health Care Bayern e. V. und Bayrisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz, in Druck Smidt N, van der Windt D, Assendelft W et al. (2002) Corticosteroid injections, physiotherapy. Or a wait-and-see policy for lateral epicondylitis: a randomised controlled trial. Lancet 359:657–662 Speed C, Hazelman B (2003) Schulterschmerzen. In: Ollenschläger G, Buchner HC, Donner-Banzhoff N, Forster J, Gaebel W, Kunz R, Müller OA, Neugebauer EAM, Steurer J (Hrsg) Kompendium evidenzbasierte Medizin. Huber, Bern Spornitz UM (2004) Anatomie und Physiologie. Lehrbuch und Atlas für Pflege- und Gesundheitsberufe. Springer, Berlin Heidelberg New York Technische Universität München, Mitteilungen 1997/1998 van Tulder M, Malmivaara A, Koes B (2007) Repetitive strain injury. Lancet 369 (9575):1815–1822
6.2
Rehabilitation bei Arthrose
Bernd Greitemann Arthrosen sind weltweit die häufigsten Gelenkerkrankungen im Erwachsenenalter. Besonders betroffen sind die großen lasttragenden Gelenke – das Hüft- und Kniegelenk –, aber auch das Sprunggelenk (Felson et al. 1987, 1988). Zwei Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre leiden an einer Arthrose (Imhof et al. 2002). Während sich 2006 die Koxarthrose (Hüftgelenksarthrosen) nicht unter den 30 häufigsten Diagnosen in nordrheinischen Praxen von Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten befand,
6
132
6
Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
belegte die Gonarthrose (Kniearthrosen) bei Frauen mit 6,3% der Behandlungsfälle Platz 14, bei Männern mit 4,5% Platz 19. Bei der Gonarthrose/Koxarthrose betrugen 2005 die absoluten Fallzahlen im akutstationären (Krankenhaus-)Bereich gut 121.600/90.000 bei Frauen bzw. ca. 62.100/57.800 bei Männern, im rehabilitativen Bereich knapp 68.300/65.400 bei Frauen bzw. knapp 33.700/42.400 bei Männern. Bei der Inanspruchnahme von stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstigen Leistungen zur Teilhabe in der Gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund einer Gonarthrose waren im Jahre 2005 die Frauen durchschnittlich 54,5, die Männer 53,6 Jahre alt (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2007). Zur konservativen Behandlung dieser chronisch degenerativen Erkrankungen sowie zur Nachbehandlung nach Operationen spielt die Rehabilitation eine wesentliche Rolle. Wichtige Elemente sind dabei die Sekundär- und Tertiärprävention sowie das berufsspezifische arbeitsplatznahe Training. Ausgehend von allgemeinen Anforderungen an die Rehabilitation wird im Folgenden auf die spezifischen diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen bei den unterschiedlichen Arthroseformen eingegangen.
6.2.1 Anforderungen an eine Rehabilitation
Die Rehabilitation als dritte Säule im Gesundheitssystem hat eine andere Sicht auf den Patienten als die Akutmedizin. In der Rehabilitation wird weniger diagnose- als vielmehr funktionsorientiert befundet und behandelt. Ziel ist die vollständige private und berufliche Wiedereingliederung. Dabei ist speziell die berufliche (Neu-)Orientierung ein wesentliches Rehabilitationsziel der Gesetzlichen Rentenversicherung, um eine Erhaltung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und die (Re-)Integration in das Erwerbsleben zu ermöglichen (»Rehabilitation vor Rente«). Der andere gesetzlich verankerte Weg in der Rehabilitation fußt auf dem Grundsatz »Rehabilitation vor Pflege« und ist somit eher den Zuständigkeitsbereichen der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zugeordnet. Hier gilt es durch rehabilitative Maßnahmen und die resultierenden Verbesserungen der funktionellen Fähigkeiten den Pflegebedarf zu minimieren. Nicht immer lassen sich Funktionsstörungen an den unteren Extremitäten vollständig wiederherstellen, oftmals müssen verbleibende Defizite in Kauf genommen bzw. akzeptiert werden. Es gilt dann, in der Rehabilitation über Kompensationsmechanismen die Beeinträchtigungen und Folgeprobleme, gerade im Hinblick auf Teilhabestörungen, zu minimieren. Dies soll an der nachstehenden Gegenüberstellung beispielhaft deutlich gemacht werden: Zwei über 70 Jahre alte Patienten mit hochgradiger Funktionseinschränkung
⊡ Tabelle 6.2. Beispiel für unterschiedliche Kontextfaktoren bei zwei Patienten mit Hüftgelenksarthrose Patient 1
Patient 2
Ländliches Umfeld
Urbanes Umfeld
Kein Führerschein
Eigener PKW mit leichtem Einstieg
Enge Wohnung mit vielen Treppen
Ebenerdige Wohnung
Keine Angehörigen
Ehefrau und erwachsene Kinder unterstützen den Patienten
bei Hüftgelenkarthrose ohne Möglichkeit zur operativen Intervention aufgrund eines schlechten Allgemeinzustandes kommen in die Rehabilitation. Der Allgemein- und der klinische Zustand, die Limitierung der Geh- und Stehfähigkeit sowie die Schmerzsituation sind bei beiden Patienten identisch. Aus den Kontextfaktoren (⊡ Tabelle 6.2) resultiert, dass Patient 1 vor der Rehabilitation ein Pflegefall, Patient 2 dagegen voraussichtlich sozial gut integriert war. Zur optimalen Nutzung vorhandener Ressourcen und für eine zielgerichtete Maßnahmenplanung in (und nach) der Rehabilitation müssen die Kontextfaktoren berücksichtigt werden. Die Rehabilitation bei Erkrankungen der Hüft- und der Kniegelenke beginnt mit der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung. Hier wird ein umfassendes Bild über die Schmerzanamnese, die Krankheitsvorgeschichte des Patienten, die Familien- und Sozialanamnese inklusive detaillierter Informationen über die berufliche Situation, das häusliche Umfeld, also über die Kontextfaktoren erstellt. Dabei werden insbesondere die täglichen Aktivitäten sowie Probleme bei der Selbstversorgung und Haushaltsführung erfragt. Im weiteren Verlauf wird die eingehende körperliche Untersuchung durchgeführt. Daneben werden u. a. Gangbild, Verhalten beim Entkleiden, Gehen, Zehen- und Fersengang, Kontrakturen oder Versteifungen, muskuläre Schwächen oder Lähmungen, Art und Gebrauchsspuren des Schuhwerks, spezielle Schuhzurichtungen, eingesetzte Gehhilfen, Koordination und die psychische Situation untersucht. Im Anschluss werden die funktionsorientierten Rehabilitationsdiagnosen sowie ein Rehabilitationsplan mit den möglichen therapeutischen Interventionen und die Prognose des Krankheitsbildes mit dem Patienten besprochen. Zur Förderung der Motivation und Compliance werden gemeinsam mit ihm Rehabilitationsziele vereinbart. Rehabilitative Behandlungsmaßnahmen können entweder als Anschlussheilbehandlung (AHB) oder als ambulante/stationäre Heilverfahren bei Arthroseerkrankungen indiziert sein. Die AHB-Maßnahme schließt sich
133 6.2 · Rehabilitation bei Arthrose
direkt an eine stationäre Akutbehandlung an und wird auch nach operativen Eingriffen am Muskel-Skelett-System durchgeführt. Allgemeine Heilverfahren werden vor allem zur Behandlung chronischer Erkrankungen und zur Reduktion der Krankheitsfolgen verordnet. Vor Einleitung einer Rehabilitationsmaßnahme sind folgende Fragen zu beantworten: Besteht eine Rehabilitationsfähigkeit, eine ausreichende Rehabilitationsmotivation und ein Rehabilitationsbedarf? Hat der Patient eine positive Rehabilitationsprognose? Infobox
I
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Wesentliche Rehabilitationsziele bei degenerativen Veränderungen an den unteren Extremitäten
▬ Reduktion des Schmerzbildes (auch unter Belastung) ▬ Rückgang der Reizzustände, speziell im Gelenkinnenbereich
▬ Verbesserung der Gelenkfunktion ▬ Verbesserung der Kraftentfaltung der gelenkumspannenden und gelenkführenden Muskulatur
▬ Verbesserung der Mobilität ▬ Abbau von Kontrakturen und Dysbalancen ▬ Verbesserung der Belastbarkeit der betroffenen Extremität in Alltag, Beruf und Sport
▬ Verbesserung der Selbstständigkeit im täglichen Leben und Ermöglichung der weitest gehenden Teilhabe im privaten, beruflichen und sozialen Umfeld ▬ Optimierung der Hilfsmittelversorgung
6.2.2 Hüftgelenksarthrose
Koxarthrosen werden nach ihren Ursachen in primäre und sekundäre Arthrosen unterschieden. Bei der primären (»idiopathischen«) Arthrose ist die Ursache meist unbekannt. Sekundäre Arthrosen können u. a. bedingt sein durch eine anlagebedingte Hüftgelenksdysplasie (Fehlbildung), avaskuläre Hüftkopfnekrose (Gewebsuntergang durch Unterbrechung der Gefäßversorgung) in der Jugend (Morbus Perthes), einen Hüftkopfabrutsch und eine hierdurch bedingte sekundäre Fehlstellung des Hüftkopfes, eine epiphysäre (die Knochenendstücke betreffende) Dysplasie, avaskuläre Knochennekrosen im Erwachsenenalter, ein Trauma oder eine Hüftgelenksentzündung. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die weit überwiegende Anzahl der degenerativen Veränderungen im Hüftgelenk nicht berufsbedingt ist. Degenerative Hüftgelenksveränderungen sind klinisch am typischen Frühzeichen – dem Innenrotationsschmerz – zu erkennen. Im weiteren Verlauf kommt es zu belastungsabhängigen Schmerzen und Anlaufschmerzen,
im Endstadium zum Ruheschmerz. Der Innenrotationsschmerz ist durch das so genannte Kapselmuster, d. h. gelenkspezifische Bewegungseinschränkung bei passiver Funktionsuntersuchung, zu erklären. Degenerativ veränderte Hüftgelenke gehen in die Entspannungshaltung der Kapsel, d. h. in eine Beuge-, Adduktions- und Außenrotationskontraktur. Im weiteren Verlauf gesellen sich ein Schmerzhinken mit Verkürzung der Standphase sowie ein Trendelenburg-Hinken hinzu, d. h. die Hüfte sinkt zur Seite des Schwungbeins hin ab. Sie sind Hinweise für eine Insuffizienz der Abduktoren mit kompensatorischer Verlagerung des Körperschwerpunktes über das Hüftgelenk. Später tritt ein Verkürzungshinken – speziell bei fortgeschrittener Koxarthrose – hinzu. Im Röntgenbild zeigen sich die typischen Veränderungen mit Gelenkspaltverschmälerung, osteophytären Randkantenanbauten an der Gelenkpfanne des Hüftgelenks und Femur, subchondralen (unter dem Knorpel liegenden) Zystenbildungen bis hin zum Einbruch und zur Deformierung des Hüftkopfes. Meist kommt es zunächst zu einer Einschränkung der Rotation mit sich entwickelnder Außenrotationskontraktur, dann zu einer Abduktionsbehinderung mit Ausbildung einer Adduktionskontraktur und schließlich zu einer Einschränkung der Extension (Streckung). Folge ist eine Mehrbelastung der Lendenwirbelsäule durch eine Überkrümmung nach vorne (Hyperlordosierung) beim Gehen. Im Hinblick auf die berufliche Situation sind schwere oder ausschließlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten in der Regel nicht mehr zumutbar; auch ein Heben, Tragen und Bewegen von Lasten von über 10–15 kg ist zu vermeiden. Die Arbeiten sollten dabei vorzugsweise in sitzender Körperhaltung erfolgen. Problematisch sind Arbeiten, die mit überwiegenden Hock- oder Bückstellungen und in kniender Körperhaltung oder mit der Notwendigkeit zum Besteigen von Leitern und Gerüsten, häufigem Treppesteigen oder ausschließlichem Stehen oder Gehen verbunden sind. Vermieden werden sollten zudem Kälte, Nässe und Zugluft, die die Schmerzen verstärken. Die Gehstrecke ist in Abhängigkeit vom Ausmaß der degenerativen Veränderungen eingeschränkt. Therapieformen
Als konservative Therapieform ist Physiotherapie speziell mit Kräftigung der Abduktoren und manueller Extension zum Erhalt der Beweglichkeit, zur Dehnung dauerhaft verkürzter Muskeln und der Kapsel angezeigt. Zudem ist insbesondere eine Modifikation des Lebenswandels durch Vermeidung höhergradiger Belastungen, Einhaltung adäquater Ruhepausen, Gewichtsreduktion und eine begleitende balneophysikalische Therapie anzusprechen. Schockabsorbierende Sohlen, Pufferabsatzzurichtungen am Konfektionsschuh und die Benutzung eines Gehstockes sind weitere konservative Therapiemaßnahmen. Medikamentös haben sich nichtsteroidale Antirheumatika,
6
134
6
Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
bedingt orale Arthrosemedikamente (Chondroitinsulfat, Glucosamine) bewährt. Die Infiltration des Hüftgelenks mit Kortikoiden oder Hyaluronsäurepräparaten ist als problematisch anzusehen und nur in sehr frühem Stadium sinnvoll. Ergänzt wird dies insbesondere durch diätetische Maßnahmen und Normalisierung des Körpergewichts durch eine kalorisch optimierte, ballaststoffreiche, möglichst fettarme, kohlehydrat- und eiweißreiche Ernährung. Bei erheblichem Übergewicht ist eine Radikalkur in aller Regel nicht erfolgversprechend, günstiger erscheint eine nachhaltige Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. Die Wirksamkeit einer speziellen antiarthrotischen Diät und von Gelatineprodukten, wie sie teilweise in der Laienpresse propagiert werden, ist nicht belegt. In der physikalischen Therapie spielt die Thermotherapie eine wesentliche Rolle. Der Einsatz von Wärme ist speziell bei Arthrosen geeignet, um einerseits durch eine Vasodilatation (Weitstellung von Blutgefäßen) im kapillären Endstrombereich eine lokale Temperaturerhöhung und Mehrdurchblutung sowie Stoffwechselsteigerung zu erreichen, andererseits um den Tonus der Muskulatur herabzusetzen und hierdurch die Dehnbarkeit der kollagenen Gewebe zu verbessern (⊡ Tabelle 6.3). Bei akuten Reiz- oder Entzündungszuständen wie aktivierten Arthrosen, Gichtanfall oder entzündlichen Erkrankungen des Gelenks ist hingegen die Kälte- oder Kryotherapie (Eisanwendung) zu bevorzugen. Durch die initiale Vasokonstriktion (Engstellung von Blutgefäßen) kommt es zur Ödemhemmung, Verlangsamung von Stoffwechsel- und Entzündungsvorgängen, aber auch zu einer Muskeldetonisierung (Entkrampfung) sowie zu einer ausgeprägten Analgesie (Herabsetzung der Schmerzempfindung), die eine deutlich verbesserte therapeutische Zugänglichkeit für aktive Übungen ermöglicht. Als Folge der Kryotherapie tritt jedoch häufig eine erhebliche reaktive Mehrdurchblutung auf.
Eine abgewandelte Form der Kältebehandlung ist die Ganzkörperkältetherapie, die in einer speziellen Kältekammer unter Schutz von Fingern, Zehen, Nase, Kinn und verschiedenen Gesichtspartien mit Temperaturen von –80° bis –110° eingesetzt wird und zu Schmerzlinderung, Verbesserung der Gelenkfunktion, allgemeiner Leistungssteigerung sowie einer Anregung des Immunsystems führt. Nicht selten werden auch Kombinationen aus hydrotherapeutischen Anwendungen eingesetzt, um mildere kühlende und muskelentspannende Effekte zu erreichen (z. B. Quarkpackungen etc.). Im Bereich der Elektrotherapie gibt es eine größere Menge an Stromapplikationsformen, die von der galvanischen Durchströmung der betroffenen Region über das Einbringen von abschwellenden Medikamenten (Iontophoresen) bis hin zu Pulsstromtherapien, Mittelfrequenztherapien und Kurzwellenanwendungen reichen, um die Behandelbarkeit von arthrotischen Gelenken zu verbessern. Ein wesentliches Behandlungsverfahren ist die Massagetherapie. Einerseits ist über Lymphdrainagen eine Ödemausschwemmung und somit auch Unterstützung der Bewegungstherapie möglich, andererseits kann im Rahmen der Massagetherapie eine Zustandsverbesserung erreicht werden durch Detonisation schmerzhafter Verspannungen, Lockerung der Muskulatur, um Verkürzungen und Verhärtungen der gelenkumspannenden Muskulatur zu vermindern. Lokale postoperative Verwachsungen, aber auch Gelenkkontrakturen können durch Dehntherapien gelöst werden. Im Rahmen der arbeitsplatzorientierten Therapie ist insbesondere ein ergonomisches Training sinnvoll, das Vermeiden von hüftbelastenden Stellungen wie forcierten Hockpositionen, die Beratung über eine entsprechende Ausrichtung des Arbeitsplatzes wie bei längeren stehenden beruflichen Tätigkeiten mittels weicher Bodenbeläge,
⊡ Tabelle 6.3. Lokale physiologische Wirkung einer Wärme- bzw. Kältetherapie (Heisel 2005) Gewebestruktur bzw. -prozess
Wärmewirkung
Kältewirkung
Blutgefäße
Dilatation (Weiten)
Konstriktion (Zusammenziehen)
Kapillarpermeabilität
Steigerung
Herabsetzung
Zellstoffwechsel
Steigerung
Herabsetzung
Gewebeentzündung
Verstärkung
Abschwächung
Bindegewebsdehnbarkeit
Verbesserung
Verminderung
Muskeltonus
Herabsetzung
Herabsetzung
Muskelkontraktilität
Erhöhung
Herabsetzung
Nervenleitung
Verbesserung
Verminderung
Viskosität der Schleimbeutelflüssigkeit
Herabsetzung
Erhöhung
135 6.2 · Rehabilitation bei Arthrose
die Ausrüstung mit Hilfsmitteln wie Stehstuhl oder das Umtrainieren auf sitzende Tätigkeiten. Patientenschulung
Etwa drei Viertel aller berufstätigen Patienten können innerhalb eines Jahres nach orthopädischer Rehabilitation erfolgreich ins Erwerbsleben wiedereingegliedert werden (Bürger et al. 2001). Eine der Grundlagen hierfür stellt die Patientenschulung – auch Patientenedukation genannt – dar, die ein zentraler präventiver Behandlungsbaustein der medizinischen Rehabilitation ist (Worringen 2006). Ihr kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Sie beinhaltet eine intensive Information des Patienten über die Ursache der Erkrankung, zu Möglichkeiten der Schonung von betroffenen Gelenkregionen, zur Vermeidung von Schmerzzuständen sowie über therapeutische Zugangsmöglichkeiten. Ein informierter Patient kann die Behandlungsstrategien unterstützen und somit zum Erfolg der Rehabilitation beitragen. Die Erkenntnis, dass bei Koxarthrose- und Hüftendoprothesenpatienten eine deutliche Einschränkung der konditionellen maximalen und submaximalen Leistungsfähigkeit bzw. Belastbarkeit präoperativ vorliegt und diese trotz erkennbarer Verbesserung postoperativ weit von einer Normalisierung entfernt sind, verdeutlich die Notwendigkeit sporttherapeutischer Maßnahmen (Horstmann et al. 2002). Die Integration solcher Maßnahmen, z. B. im Rahmen von Hüftsportgruppen, stellt bei den betroffenen Patienten eine therapeutische Reserve dar (Horstmann et al. 2001).
6.2.3 Kniegelenksarthrose
Die Gonarthrose ist die klassische Arthrose, die auch berufsbedingt mit verursacht wird. Jeder Arthrose geht zwangsläufig ein Knorpelschaden im Sinne einer Chondropathie bzw. Arthropathie voraus (Mohr 2004). Auch bei Gonarthrosen werden so genannte primäre Arthrosen von sekundären unterschieden. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei den Präarthrosen zu. Als Präarthrosen werden Zustände bezeichnet, die regelmäßig zur Arthrose führen bzw. diese begünstigen. Hierzu zählen u. a. Gelenkverletzungen, Knochenerkrankungen (beispielsweise Knochennekrosen, Osteochondrosis dissecans, M. Ahlbäck, M. Paget), Erkrankungen der Gelenkkapsel (infektiöse Arthritiden, rheumatoide Arthritis etc.), metabolische Störungen (Chondrokalzinose, Gicht, Hämochromatose, Ochrondose), endokrine Störungen (Akromegalie), neurogene Störungen (beispielsweise neuropathische Arthropathien), hereditäre Krankheiten (Polyarthrose), durch Fehlstellungen, gelenknahe Tumore und infektionenbedingte Schädigungen. Dauerhaft stehende und häufige kniende Tätigkeit, insbesondere mit nachfolgenden degenerativen Veränderun-
gen der Meniski bzw. der Gelenkoberflächen, Tätigkeiten, die ein schweres Heben aus den Knien heraus erfordern, oder auch solche, die beispielsweise hohe Anpressdrücke unter der Kniescheibe durch Anspannung des Kniestreckapparats hervorrufen, gelten als prädisponierend für die Entwicklung von Gonarthrosen. Durch den Arbeitskreis Begutachtungsfragen der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) und die Kommission Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) werden jedoch Zweifel daran geäußert, dass Tätigkeiten im Knien oder vergleichbare Kniebelastungen Knorpelschäden am femorotibialen (Oberschenkel-Schienbein) und femoropatellaren (Oberschenkel-Kniescheibe) Gelenk verursachen können (Weber 2007). Kritisiert werden im Hinblick auf die Qualität der vorliegenden Arbeiten häufig gravierende Mängel in der methodologischen Gestaltung: »Allenfalls lässt sich unter großen Vorbehalten ableiten, dass Tätigkeiten im Knien oder vergleichbare Kniebelastungen den Verlauf der Gonarthrose zusammen mit anderen Faktoren ungünstig beeinflussen. Unter Umständen ist es auch nur so, dass die genannten Tätigkeiten nur zu einem ‚Symptomatischwerden’ der Gonarthrose führen, diese also klinisch sichtbar wird« (Weber 2007, S. 28). Ätiologie der Gonathrose
Isolierte femoropatellare Arthrosen könnten durch kniende und hockende Tätigkeiten bedingt sein. Häufige Kniebeugen erhöhen sowohl bei Männern als auch bei Frauen das Gonarthroserisiko. Mittelschwere und schwere körperliche Belastungen erhöhen in Kombination mit Kniebeugung die Gonarthrosehäufigkeit signifikant (Felson et al. 1987). Die Gonarthrose tritt bei den in dieser Weise Belasteten nicht nur häufiger auf, sondern wird zudem auch häufiger schwergradig. Coggon (2000) fand ein erhöhtes Gonarthroserisiko bei Übergewicht, bei Heben und Tragen schwerer Lasten, bei häufigem Hocken oder Knien und häufigem Leitersteigen, allerdings nur bei Männern. Besonders ungünstig war die Kombination von Übergewicht und Knien bzw. Hocken. Auch Lau et al. (2000) konnten nachweisen, dass schweres und häufiges Heben sowie häufiges Treppesteigen zu einer signifikanten Erhöhung des Gon- und Koxarthroserisikos führen. Lindberg (1987) wies darauf hin, dass Werftarbeiter gegenüber so genannten »white collar workers« und Lehrern eine signifikant höhere Gonarthroserate aufwiesen, allerdings wurden in der Kontrollgruppe ebenso wie in der Untersuchungsgruppe nur in etwa 20% der Fälle Röntgenuntersuchungen durchgeführt. Die bei Männern führende Deformität ist die Varusdeformität (O-Bein), die bedingt durch einen medialen (innenseitigen) Knorpel- und Knochenverlust eine Varusgonarthrose zur Folge haben kann. Dabei besagt die Faustregel, dass ein Knorpel- oder Knochenverlust von einem Zentimeter eine Varusdeformität von zehn Grad ver-
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Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
ursacht. Im weiteren Verlauf kommt es zur Überdehnung des außenseitigen Bandapparates und damit auch zur Seitenbandinstabilität; die Deformität wird durch Gewichtsbelastung weiter verstärkt. In der Folge treten sekundäre Muskel- und Kapselverkürzungen sowie Fehlstellungen, insbesondere Beugekontrakturen auf, die wiederum zu einem fortschreitenden Knochenverlust unterhalb der Kniescheibe durch vermehrten Anpressdruck, aber auch im hinteren Teil des Unterschenkelplateaus führen und mit entsprechenden Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, auch im beruflichen Feld, einhergehen. Gonarthrosen sind zunächst gekennzeichnet durch Belastungsbeschwerden, in fortgeschrittenen Stadien durch Ruheschmerzen. Die Kniescheibenrückflächenarthrose zeigt sich insbesondere durch Schmerzen beim (insbesondere abwärtigen) Treppesteigen, bei stärkeren Graden auch mit dem typischen »Giving-way-Phänomen«, d. h. dem »Nachgeben« des Kniegelenks. Patienten klagen über Schmerzen beim Aufstehen nach längerem Sitzen. Es kommt zu einer zunehmenden Einschränkung des Bewegungsumfangs im Seitenvergleich, insbesondere zur Beugekontraktur und zur O- bzw. X-Beinfehlstellung. Diese führt im Sinne eines Teufelskreises wiederum zu einem Fortschreiten der arthrotischen Veränderungen im Kniegelenk durch Fehlbelastung. Therapie
Die konservative Therapie der Kniegelenksarthrose ist begrenzt. Bereits angelegte rückbildende Veränderungen sind nicht mehr umkehrbar. Um eine Dekompensation der Arthrose zu vermeiden, sollten auch in der Therapie kniegelenksstrapazierende Aktivitäten (beispielsweise exzessive Nutzung eines Fahrradergometers) dosiert ausgeübt werden. Therapieansätze sind speziell in der Vermeidung von starken Belastungen, in der Gewichtsreduktion, der Vermeidung schmerzhafter Bewegungen wie Treppesteigen oder Kniebeugen zu sehen. In der Physiotherapie stehen der Erhalt des Bewegungsumfanges und die Vermeidung von Kontrakturen im Vordergrund mit Muskelaufbau und -kräftigung zur Stabilisierung des Kniegelenks und dem Ziel des Abbaus von Dysbalancen. Begleitet werden kann dies durch physikalische Therapieanwendungen wie Thermotherapie, Elektrotherapie, Massagen oder, Therapien im Bewegungsbad und Schuhzurichtungen. Elastische Orthesen haben sich bewährt zur Kniegelenkskompression bei aktivierten Arthrosen und zur Verbesserung der Propriozeption. Gonarthroseorthesen zeigen sowohl für die Varus- als auch für die Valgusgonarthrose nachgewiesene Evidenzen. Weitere konservative Möglichkeiten sind die Nutzung von Gehstöcken, medikamentöse Therapien mit oralen Arthrosemedikamenten, lokale Infiltrationen des Kniegelenks mit Lokalanästhetikum und Cortison (maximal drei bis vier Mal pro Jahr) sowie die Infiltration mit Gelenkflüssigkeitsersatz (Hyaluronsäure).
Berufsspezifisches Training
Je nach Arbeitsplatzsituation sind spezifische Trainingsmaßnahmen zur Entlastung des Kniegelenks durchzuführen. Dies betrifft insbesondere Berufe, bei denen häufiges Kniebeugen erforderlich ist, wie Fliesenleger, Maurer, Elektroinstallateur und Arbeiter im Sanitärhandwerk. Wichtig ist eine ergonomische Beratung für typische Arbeitsplatzanforderungen, beispielsweise über das Heben und den Transport von Lasten ohne übermäßige Belastung des Kniegelenks sowie über die Integration von kleineren Übungs- bzw. Trainingseinheiten zur Entlastung des Gelenks.
6.2.4 Arthrosen im oberen Sprunggelenk
Im Gegensatz zu den Arthrosen an Hüft- und Kniegelenk treten die meisten Sprunggelenksarthrosen posttraumatisch, seltener postinfektiös, auf. Berufsbedingt können rezidivierende Umknicktraumata, speziell durch häufiges Gehen auf unebenem Boden, aber auch Sprunggelenksfrakturen als wesentliche Ursachen genannt werden. Diagnostik
Diagnostisch stehen zunächst der Schmerz und nachfolgend Bewegungseinschränkungen im Vordergrund. Die normale Plantarflexion (Absenken des Fußes) ist mit etwa 25° bis 56° angegeben und somit individuell sehr unterschiedlich. Wichtiger erscheint aber die Dorsalextension (Anheben des Fußes), die bei gestrecktem Kniegelenk durch die zweigelenkige Ausrichtung der Wadenmuskeln etwa 10° bis 15°, bei gebeugtem Kniegelenk etwa 15° bis 30° beträgt. Zum Gehen auf ebener Erde ist eine Dorsalextension von 10° bis 15°, beim treppauf Steigen eine Dorsalextension von bis zu 37° notwendig. Therapie
Die konservative Therapie bei der Sprunggelenksarthrose beinhaltet neben der Medikamenteneinnahme insbesondere orthopädietechnische Maßnahmen. So ist das Anbringen eines Fersenpuffers, einer rückversetzen Mittelfußrolle zur Verminderung der Belastung des Sprunggelenks bzw. einer stabilisierenden Hinterkappenzurichtung häufig eine ausreichende Lösungsmöglichkeit, um eine berufliche Wiedereingliederung durchführen zu können. Lokale Kortikoidinfiltrationen können kürzerfristig wirksam sein, ebenso Therapien aus dem physiotherapeutischen Bereich, speziell Kräftigungen der langen Muskel-/ Sehnengruppen beispielsweise auf Weichmatten oder einem Mini-Trampolin mit koordinativem Training. Im Rahmen der beruflichen Trainingstherapie ist das Einüben der Sprunggelenksentlastung bei tiefen Hocken in den relevanten Berufen sinnvoll. Wichtig ist das Stärken der Kompensationsfähigkeit einer belastbaren kontralateralen Extremität. Im Hinblick auf die sozialmedizinische
137 6.2 · Rehabilitation bei Arthrose
Beurteilung sind je nach Aktivitäts- und Arthrosegrad Tätigkeiten mit ausschließlich gehender oder stehender Körperhaltung und in Hockpositionen, Gehen auf unebenem Gelände, Besteigen von Leitern und Gerüsten eingeschränkt bzw. nicht möglich. Die Gehstrecke kann bei ausgeprägten Veränderungen deutlich beeinträchtigt sein. Allerdings sollten leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten, vorzugsweise sitzend, noch möglich sein, gerade wenn durch eine orthopädieschuhtechnische Zurichtung oder operative Versorgung mittels Arthrodese oder Sprunggelenksprothese der Schmerz positiv beeinflusst werden kann.
6.2.5 Rehabilitation nach Hüftgelenks-
totalendoprothese (Hüft-TEP) Pro Jahr werden in Deutschland ca. 160.000 bis 180.000 Hüft-TEPs implantiert. Es handelt sich somit um einen Routineeingriff. Generell werden zementierte und zementfreie Hüftgelenkstotalendoprothesen, Hybrid-Hüftgelenkstotalendoprothesen, Kurzschaftprothesen sowie Hüftkopfkappenprothesen unterschieden. Nach einer Studie des Autors (Greitemann 2003) waren 45% der Hüft-TEPs zementfrei implantiert, Hybridversionen (zementierter Schaft, zementfreie Pfanne) machten 30% und rein zementierte Prothesen 25% der Fälle aus. Obwohl bisher eine längere Haltbarkeit von zementfreien gegenüber zementierten Implantaten nicht nachgewiesen werden konnte, werden heute zementfreie Implantate häufiger genutzt, um die durch den Zement verursachten Probleme beim Prothesenwechsel zu vermeiden. Die Hybridprothese stellt einen Kompromiss dar. Sie vereint die Vorteile beider Verfahren: die zementfreie Verankerung im Pfannenbereich, wo durch Zementierungen sonst erhebliche Defekte bei Wechseloperationen auftreten, und eine durch Zementierung feste Verankerung im Schaft unter Versteifung der Spongiosalakunen (Poren in der schwammartigen Knochensubstanz) im intertrochantären Bereich (zwischen dem außen liegenden großen und dem innen liegenden kleinen Rollhügel am oberen Ende des Oberschenkelschaftes). In der Frühphase der Rehabilitation nach Hüftendoprothesen ist die Vermeidung von Luxationen (Verschiebung zweier gelenkbildender Knochenenden aus ihrer funktionsgerechten Stellung) von großer Bedeutung. Die Häufigkeit von Luxationen liegt bei 3–5% (Berry 2004), das Langzeitrisiko dürfte noch darüber liegen. Dabei stellt der operative Zugangsweg eine wesentliche Komponente dar. Minimal-invasive Zugänge zeigen geringere Luxationshäufigkeiten. Andere Ursachen sind Pfannenlage (Verdrehung nach vorn, Neigung), Halslänge, Spannung und Kraft der Muskulatur, Spannung und Verlauf des Tractus iliotibialis (flächige Verstärkung der Muskelhülle im Oberschenkel). Patientenseitig ist
in der Rehabilitation die Förderung der Koordination und der Muskelkraft sowie das adäquate Alltagsverhalten wesentlich beeinflussbar. Zur Vermeidung von Luxationsereignissen findet die erste physiotherapeutische Behandlung initial im Patientenzimmer statt, um dem Patienten luxationsfördernde und -vermeidende Bewegungen bzw. Positionswechsel zu demonstrieren. Unter diesem Regime konnte die Luxationsrate in der eigenen Klinik von anfänglich 1% auf unter 0,3% jährlich gesenkt werden. Die Informationen über die Luxationsprophylaxe werden dem Patienten von sämtlichen Mitgliedern des therapeutischen Teams übermittelt. Zudem wird der Schwerpunkt auf eine kontrollierte und dosierte Verbesserung des Bewegungsbildes gelegt. Danach erfolgt unter Einsatz diverser physiotherapeutischer Techniken eine isometrische Kräftigung der hüftführenden Muskulatur, ein Gangtraining an Unterarmgehstützen sowie ein intensives Koordinations- und Propriozeptionstraining (Programm zur Eigenwahrnehmung des Körpers). Bereits bei der Aufnahmeuntersuchung ist ein genaues Bild über die Beinlängendifferenz erforderlich. Nach Literaturangaben schwanken diese zwischen 16% (Jasty 1996) und > 90% (Williamson 1978). Ursachen können einerseits Fehlhaltungen oder Kontrakturen, andererseits operationsbedingte Längendifferenzen sein. Zwar ist schlussendlich ein kompletter Beinlängenausgleich zur Entlastung der Wirbelsäule anzustreben, allerdings kann es durchaus sinnvoll sein, in der Frühphase den Beinlängenausgleich noch nicht vollständig durchzuführen, um ein besseres Durchschwingen insbesondere bei geschwächter Muskulatur und Stolpergefahr zu ermöglichen. Hinsichtlich der postoperativen Belastung gibt es zahlreiche unterschiedliche Empfehlungen. Eine Osteointegration, d. h. ein direktes Anwachsen von Knochen auf die Endoprothese, erfolgt lediglich mit 30–50% der Implantatoberfläche. Dies ist abhängig vom Oberflächendesign und dem Ausmaß der Belastung. Aufgrund der unterschiedlichen Elastizitätsmodule der verschiedenen Materialien (Knochenprothese etc.) kommt es zur Relativbewegung an den Grenzflächen mit Bildung eines bindegewebigen Interfaces (Verbindung). Der Umbauprozess dauert bis zu 24 Monate nach der Operation. Der primäre Knocheneinwachs benötigt in der Regel drei Monate. In diesem Zeitraum sind insbesondere Rotationsund Torsionsbewegungen schädlich. Deshalb sollten die Nachbehandlungsempfehlungen des Operateurs befolgt (dieser kennt das Implantat und die intraoperative Situation) sowie alternierendes Treppesteigen bis drei Monate postoperativ und Aufstehen aus sitzender Position ohne Abstützen vermieden werden. Initial können zementierte TEPs voll belastet werden. Auch bei zementfreien Prothesen gibt es keine Hinweise auf bessere Langzeitergebnisse durch längere
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Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
Entlastungsphasen. Bei Hüftgelenksbelastungen von mehr als dem Zwei- bis Dreifachen des Körpergewichts können jedoch gerade bei zementfreien Implantaten relative Bewegungen zwischen Implantat und Knochen von 120–160 µm auftreten. Daher sollten in der ersten postoperativen Phase derartige Belastungen vermieden werden, auch vor dem Hintergrund der gemessenen Belastung bei Alltagsbewegungen, die Bergmann (1996) durch seine Ergebnisse an Messendoprothesen nachweisen konnte (⊡ Tabelle 6.4). Je nach lokaler Schwellungssituation werden begleitend Lymphdrainagen in der frühen postoperativen Phase durchgeführt. Wärmeanwendungen und ähnliche Maßnahmen werden bis vier Wochen postoperativ im direkten Operationsbereich nicht angewendet. Bei Problemen im Wirbelsäulenbereich und den distalen Gelenken kön-
⊡ Tabelle 6.4. Gewichtsbelastung in der Hüfte nach Hüft-TEP unter Alltagsbedingungen (nach Bergmann 1996) Einbeinstand
2,1faches Körpergewicht
Gehen mit Teilbelastung
30% Reduktion
Schnelles Gehen
4,1faches Körpergewicht
Stolpern
Bis zu 7faches Körpergewicht
Alternierendes Treppesteigen
3,5faches Körpergewicht
Bein gestreckt ins Bett gehoben
1,6faches Körpergewicht
Beckenhebung
2- bis 3faches Körpergewicht
Aktiv dynamische Bewegungsübungen gegen Widerstand
2,5faches Körpergewicht
Fahrradergometer 40–50 Watt
0,5faches Körpergewicht
Aufstehen aus dem Stuhl ohne Abstützen
Mehr als das 3fache des Körpergewichts
nen konservative Maßnahmen wie Massagen, Wärmetherapien etc. hilfreich sein. Darüber hinaus haben sich Bewegungsübungen im Schwimmbad (Kräftigung der Muskulatur, Nutzung der Effekte des Wassers [Auftrieb, hydrostatischer Druck, Wärmewirkung]), Übungen auf dem Fahrradergometer (je nach Belastungssituation mit Negativkurbel, Kräftigung der Muskulatur, Verbesserung der Koordination) sowie Koordinationsübungen (sensomotorisches Training zur Haltungsstabilisierung, weiche Matte, MiniTrampolin etc.) bewährt. Dem Patienten werden von Krankengymnasten Eigenübungssprogramme nahegebracht, die er auf dem Zimmer trainieren kann. Im Rahmen der ergotherapeutischen Behandlung erfolgt eine intensive Information über Hilfsmittel sowie die Endoprothesenschule mit Antiluxationstraining, Information über die Haltbarkeit von Endoprothesen, Verhaltensempfehlungen für den Alltag beispielsweise in Bezug auf Autofahren, Fahrradfahren und Schwimmen. Zu den Hilfsmitteln gehören Strumpfanziehhilfen, Sitzkeilkissen, Arthrodesestuhl, Toilettensitzerhöhung, Haltegriffe für die Dusche, Bandagen, Orthesen, Schuhzurichtungen, Gehstützen mit anatomischem Griff oder Gehstützen mit Moosgummigriff. Darüber hinaus können aufgrund individueller Anforderungen Unterarmauflage, Gehstock, Rollator oder Rollstuhl erforderlich sein. Zur Entlastung des Implantats ist gelegentlich eine Optimierung der Schuhzurichtung erforderlich. Bewährt haben sich hier Pufferabsatzzurichtungen, die durch einen weichen Auftritt die entsprechende Extremität entlasten, mit positiven Effekten auf das Hüftgelenk. Bei Handproblemen (Loge-de-Guyon-Syndrom etc.) werden Griffpolsterungen bzw. anatomische Handgriffe an Gehstützen notwendig, Rheumatiker sind häufig auch mit Arthritiker-Gehstützen zu versorgen. Bei schlechter Beugung des Hüftgelenks sind Arthrodesesitzkissen, bei Luxationsneigung Antiluxationsorthesen hilfreich. Für den häuslichen bzw. beruflichen Bereich können wei-
⊡ Tabelle 6.5. Nachbehandlung nach Hüft-TEP 1.–3. Tag
Thromboseprophylaxe, Atemtherapie, Kreislauftraining, assistive Scharnierbewegungen, Spannungsübungen
Ab 4. Tag
Mobilisation assistiv, Weichteiltechniken (PNF – propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation), FBL (funktionelle Bewegungslehre), Dehnungen der Hüftbeuger, Übungen im Überhang, ggf. Mobilisation im Gehwagen und unter Nutzung der Sprossenwand
Spätere Rehaphasen
Aktive Physiotherapie, Bewegungsübungen, Übungen gegen Widerstand mit kurzem Hebelarm, Gangschulung, Koordinationstraining, spezielles Training der Hüftabduktoren, isometrisch auch der Rotatoren (bis 6 Monate postoperativ sind noch Kraftdefizite nachweisbar) Bewegungs-/Aktivschiene Fahrradergometer Bewegungsbad Hilfsmittelversorgung
139 6.2 · Rehabilitation bei Arthrose
tere Hilfsmittel für Bad, Toilette, Badewanne, berufliches Umfeld oder Hygiene (Strumpfanzieher etc.) erforderlich werden. Besondere Beachtung ist dem Abbau bestehender Muskelkontrakturen insbesondere Adduktorenkontrakturen des Tensor- und Psoasmuskels, sowie der Behandlung von Begleitsymptomatiken im Bereich der Gegenseite, des Knies, des Rückens und der Schulter zu schenken. Gerade unter der Gehstützennutzung kommt es zum Aufflackern von Schulterbeschwerden (⊡ Tabelle 6.5). Da es sich bei Hüftgelenks- und Kniegelenks-TEPs um Eingriffe mit einem hohen Risiko für eine Thrombose handelt (American Academy of Orthopaedic Surgeons, AAOS, Knowledge Update 1999), ist eine entsprechende Prophylaxe unumgänglich. Die Risikodauer beträgt in Abhängigkeit von Mobilität und Belastung bis zu 35 Tagen postoperativ. Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaften für Orthopädie und Unfallchirurgie ist daher eine Langzeitthromboseprophylaxe vorzugsweise mit niedermolekularem Heparin durchzuführen. Je nach Körpergewicht und Risikofaktoren muss dies evtl. gewichtsadaptiert erfolgen. Infobox
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Nachbehandlungsempfehlungen für den Patienten Folgende Regeln sind sinnvoll für einen Zeitraum von drei Monaten postoperativ: ▬ Die Luxationsgefahr wird mit zeitlichem Abstand zur Operation immer geringer, sodass die Patienten extreme Bewegungen im Hüftgelenk vermeiden sollten (Hüftbeugung von deutlich über 90 Grad, Überkreuzen der Beine [das operierte Bein darf nicht über die Körpermittellinie hinausgeführt werden], Drehbewegung des operierten Beines). ▬ Die Nutzung der Gehstützen ist für diesen Zeitraum bei längeren Gehstrecken zu empfehlen. Bei Vollbelastung sollte darauf geachtet werden, im Stand beide Beine gleichmäßig zu belasten und sich nur gering auf die Gehhilfen zu stützen. ▬ Das Treppesteigen sollte in diesem Zeitraum weiterhin im Nachstellschritt erfolgen, um eine übermäßige Belastung des Gelenkersatzes zu vermeiden: – Treppauf = das gesunde Bein geht zuerst – Treppab = das operierte Bein geht zuerst ▬ Das Aufstehen soll vorzugsweise über die operierte Seite erfolgen. Bei einseitigem Bettzugang gilt »operierte Seite gleich freie Seite«.
Der Patient sollte im Rahmen der Rehabilitation auch über Möglichkeiten der sportlichen Betätigung aufgeklärt werden (s. unten).
Die berufliche Reintegration ist eine weitere wesentliche Aufgabe. Durch die immer frühzeitigere Implantation von Hüft- oder Knieendoprothesen ist ein nicht unerheblicher Anteil der Patienten noch berufstätig. Hier ist eine eingehende Analyse der individuellen beruflichen Arbeitslage (Jobprofile) erforderlich, um auf die berufsbezogene Situation hin trainieren zu können und eine Reintegration zu ermöglichen. Als eher ungünstig für Hüftendoprothesenträger gelten Tätigkeiten auf rutschigen Böden, im Knien und in der Hocke sowie Arbeiten auf Leitern und Gerüsten mit Absturzgefahr.
6.2.6 Rehabilitation nach Kniegelenks-
totalendoprothesen (Knie-TEP) Patienten nach Knie-TEP-Implantation bedürfen einer besonders intensiven Rehabilitation. Aufgrund der geringen Weichteildeckung und der straffen Kapsel zeigen diese Patienten postoperativ häufiger ein schlechteres Bewegungsbild und geben erheblich mehr Schmerzen an als Hüft-TEP-Patienten. Der schmerztherapeutischen Einstellung kommt daher eine besondere Bedeutung zu. In der Frühphase liegt ein weiterer Fokus auf einer komplikationsarmen Wundheilung und schnellen Ödemausschwemmung. Jegliche Wunden im Bereich der KnieTEP erweisen sich als besonders gefährlich. Mit dem Ziel der Ödembeseitigung erfolgen Lymphdrainagen, apparative intermittierende Kompressionen und Kryotherapien bzw. der schonende entzündungshemmende Effekt von Quarkpackungen oder kalten Peloiden (Schlämme oder Heilerden). Der frühzeitige Einsatz einer Bewegungsschiene (»continuous passive motion«, CPM) hat sich bewährt. Unter passiver Bewegung ohne Anspannung der Muskulatur fördert dies schnell die intraartikuläre Ergussresorption und verbessert die Gleitfähigkeit der gelenkumspannenden Gewebe. In der Einzelphysiotherapie erfolgt eine intensive Kräftigung der knieführenden Muskulatur, die eine Verbesserung des Bewegungsbildes zur Folge hat. Zielvorgaben sollten eine nahezu vollständige Streckung und eine Beugung von mindestens 90 Grad sein. Nicht selten werden die Patienten mit deutlich schlechteren Beugemöglichkeiten in die Rehabilitation verlegt, was einen sehr viel intensiveren Ansatz erfordert. Zeichnet sich allerdings bei einem Patienten keine Verbesserungstendenz in der frühen Rehabilitationsphase ab, so kann nach Rücksprache mit dem Operateur eine erneute Intervention mit Narkosemobilisation oder arthroskopischem Lösen von Verwachsungen erforderlich werden. Unter dem Training der gelenkführenden Muskulatur kann es zu Reizzuständen (häufig am Pes anserinus) kommen, die mit entspannenden Maßnahmen für die Oberschenkelmuskulatur, Thermotherapien, aber auch lokalen
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Kapitel 6 · Obere und untere Extremitäten
Querfriktionen (Reibungsmassage quer zur Längsachse) behandelt werden. Ein weiterer physiotherapeutischer Schwerpunkt liegt in der Mobilisation an Unterarmgehstützen unter Teil- oder Vollbelastung (s. Hüftgelenk) mit Verbesserung des Bewegungsverhaltens und des Gangbildes. Empfohlen wird bis insgesamt drei Monate nach Operation bei längeren Gehbelastungen die Nutzung der Unterarmgehstützen auf beiden Seiten zur besseren Gangkoordination. Häufig lehnen sich Patienten bei Nutzung von einer Gehstütze oder einem Handstock auf die betroffene Seite, was das Gehen deutlich verschlechtert. Unterstützt wird die einzelphysiotherapeutische Therapie am Kniegelenk durch Bewegungsübungen im Wasser, Übungen am Fahrradergometer und am Kufenwebstuhl (Kräftigung Beuger/Strecker), an der Aktivschiene, in späteren Phasen bei Bedarf auch an der Isokinetik oder an der Medizinischen Trainingstherapie mit der Beinpresse. Besondere Bedeutung kommt der stabilisierenden Muskulatur am Kniegelenk unter dem Aspekt der Seitenbandführung zu. Nicht selten haben diese Patienten aufgrund der vorbestehenden Varus- oder Valgusdeformität eine nicht unerhebliche Seitenbandinsuffizienz, die speziell in der Frühphase durch die Muskulatur kompensiert werden muss. Der Patient wird hierüber eingehend informiert. Patientenschulung
Eine deutliche Verbesserung von Kniebeschwerden im postoperativen Verlauf und eine Steigerung der Gebrauchsfähigkeit des Kniegelenks können sowohl durch speziell für Gonarthrosepatienten entwickelte Übungsprogramme mit muskelkräftigendem Training als auch durch Anleitung zu kniefreundlichem Verhalten im Alltag erzielt werden (Broll-Zeitvogel et al. 1999). Bereits präoperativ bewirkt ein individuelles isokinetisches Krafttraining bei Patienten mit Gonarthrose eine statistisch gesicherte und deutlich verbesserte Arbeitsleistung der Kniestreckmuskulatur. Darüber hinaus kann eine stärkere Schmerzreduktion, insbesondere eine deutliche Qualitätsverbesserung des Schmerzes, bei den zusätzlich isokinetisch trainierten Patienten erreicht werden (Horstmann et al. 2000). Insgesamt stellt sich die Beweislage als gut dar, dass Schulungsprogramme und Übungsbehandlungen arthrosebedingte Knieschmerzen reduzieren und die Funktion des Kniegelenkes verbessern (Pendleton et al. 2002). Innerhalb der ergotherapeutischen Knieendoprothesenschule werden Informationen zum Umgang mit dem Kunstgelenk im Alltag und zur Hilfsmittelversorgung bzw. -beratung vermittelt. Auch im Bereich der Kniegelenke gelten die genannten Ausführungen zur diätetischen Mitbehandlung und Schulung wie bei der Hüft-TEP. Um längerfristig die Haltbarkeit der Implantate gewährleisten zu können, ist eine nachhaltige Gewichtsnormalisierung anzustreben.
Zur Entlastung des Knieimplantats können wie bei den Patienten mit Hüftimplantat Optimierungen des Schuhwerks sowie Hilfsmittel für das häusliche bzw. berufliche Umfeld notwendig werden. Auch der Knie-TEPPatient sollte über Möglichkeiten der sportlichen Betätigung aufgeklärt werden. Zu den Sportarten, die im Allgemeinen empfohlen werden können, gehören Spazierengehen bzw. Wandern, (Ergometer-)Radfahren und Schwimmarten mit Krauloder Paddelbewegungen. Wenn Sportarten wie Langlauf und Alpinskifahren, Tennis im Doppel, Wandern in den Bergen oder Golf bereits vor Prothesenimplantation betrieben wurden, können diese unter Beachtung von Vorsichtsmaßnahmen weiterhin ausgeübt werden. Dies betrifft unter Vorbehalt auch die Sportarten Eislaufen, Reiten, Kegeln, Rudern oder Tanzen. Sportarten, die mit ruckartigen Bewegungen, Stopps und Drehbewegungen, extensiver Adduktion und Belastungsspitzen verbunden sind wie Squash, Basketball, Handball, Volleyball oder Tennis im Einzel und auf Hartplätzen, können nicht empfohlen werden (Heisel 2005; Franke 2006; Niederle et al. 2007). Die Sozialberatung läuft analog zur Beratung nach Hüftendoprothesenimplantation ab. Die für die Hüft-TEP als ungünstig beschriebenen Tätigkeiten sollten auch von Knieendoprothesenträgern vermieden werden. Aufgrund der Belastung der retropatellaren (auf der Rückseite der Kniescheibe befindlichen) Gelenkfläche sind zudem häufiges Treppesteigen sowie ständige Vibrationseinflüsse ungünstig. In der späteren Rehabilitationsphase wird mit dem Endoprothesenträger die spezielle berufliche Situation an entsprechenden Einrichtungen geübt.
6.2.7 Rehabilitation nach Sprunggelenks-
prothetik Die Implantation einer Sprunggelenksprothese ist seltener als Operationen an Knie und Hüfte. Dennoch ist sie langsam im Steigen begriffen. Die Gründe liegen darin, dass die bisher meist durchgeführte Arthrodese doch eine Einschränkung der Beweglichkeit verursacht, die Patienten mit rheumatoider Arthritis nicht selten, auch durch das erforderliche Schuhwerk, deutlich behindert. Zudem scheint die Implantatentwicklung verbesserte Standzeiten der Prothesen zu gewährleisten. Meist handelt es sich bei den Betroffenen um Patienten mit rheumatoider Arthritis oder nach posttraumatischen Arthrosen. Folgende Therapiebereiche sind intensiv an der Rehabilitation mitbeteiligt: Die Physiotherapie bemüht sich um eine Verbesserung des Bewegungsbildes durch Traktionstechniken, eine Entstauung, die Vermeidung eines Spitzfußes, die Kräftigung der externen Stabilisatoren am Sprunggelenk. Zudem bietet sie Gehschule, Koordinations- und Kräftigungsprogramme sowie Bewegungsübungen im Wasser an. Die physikalische Therapie wen-
141 6.2 · Rehabilitation bei Arthrose
det abschwellende Maßnahmen über Lymphdrainagen und detonisierende Massagen im Bereich der proximalen Anteile der unteren Extremität an. Die Ergotherapie unterstützt die physiotherapeutischen Beübungen mit Tretlaubsäge, Kufenwebstuhl etc. und Endoprothesenschule. Letztere beinhaltet u. a. Informationen über das Verhalten der Prothese, Alltagsempfehlungen etc. Die Orthopädieschuhtechnik erleichtert insbesondere mittels rückversetzter Mittelfußrollen sowie Pufferabsatzzurichtungen die Bewegungsfähigkeit (nicht immer sind Sprunggelenksprothesen wesentlich an der Verbesserung der Beweglichkeit beteiligt). Die Sozial- und Diätberatung sowie berufliches Training komplettieren die Therapie. Literatur AAOS (1999) Orthopaedic Knowledge Update (ed. Beaty HJ) Rosemont, IL Bergmann G, Graichen F, Rohlmann A (1996) Die Belastung des Hüftgelenks. Med Orthop Technik 116:143–150 Berry DJ, von Knoch M, Schleck CD, Harmsen WS (2004) The cumulative long-term risk of dislocation after primary Charnley total hip arthroplasty. J Bone Joint Surg Am 86:9–14 Broll-Zeitvogel E, Tyws J, Müller AM, Grifka J (1999) Entwicklung und Evaluation der Knieschule in der postarthroskopischen Behandlung der Gonarthrose. Arthroskopie 12 (1):29–33 Bürger W, Dietsche S, Morfeld M, Koch U (2001) Multiperspektivische Einschätzungen zur Wahrscheinlichkeit der Wiedereingliederung von Patienten ins Erwerbsleben nach orthopädischer Rehabilitation – Ergebnisse und prognostische Relevanz. Rehabilitation 40 (4):217–225 Coggon D, Croft P, Kellingray S, Barrett D, McLaren M, Cooper C (2000) Occupational physical activities and osteoarthritis of the knee. Arthritis Rheum 43:1443–1449 Felson DT, Naimark A, Anderson J, Kazis L, Castelli W, Meenan RF (1987) The prevalence of knee osteoarthritis in the elderly. Arthritis Rheum 30 (8):914–918 Felson DT (1988) Epidemiology of hip and knee osteoarthritis. Epidemiol Rev 10:1–28 Franke H (2006) Bewegung und Sport mit Endoprothese. Empfehlung der Sektion Rehabilitation und Behindertensport. Dtsch Z Sportmed 57 (7/8):VII–VIII Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2007) http://www.gbebund.de Grebner M, Breme K, Rothoerl R, Hartmann A, Thomé C, Woertgen C (1999) Coping und Genesungsverlauf nach lumbaler Bandscheibenoperation. Schmerz 13:19–30 Greitemann B, Dibbelt S, Büschel C (2006) Integriertes OrthopädischPsychosomatisches Konzept zur medizinischen Rehabilitation von Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates – Langfristige Effekte und Nachhaltigkeit eines multimodalen Programmes zur Aktivierung und beruflichen Umorientierung. Z Orthop 144:255–266 Greitemann B (2003) Rehabilitationsergebnisse nach Hüft- und KnieTEP, unveröffentlicht Heisel J (2005) Rehabilitation an Hüft- u. Kniegelenk. In: Stein V, Greitemann B (Hrsg) Rehabilitation in Orthopädie u. Unfallchirurgie. Springer, Berlin Heidelberg New York Horstmann T, Heitkamp HC, Haupt G, Merk J, Mayer F, Dickhuth HH (2001) Möglichkeiten und Grenzen der Sporttherapie bei Coxarthrose- und Hüftendoprothesen-Patienten. Dtsch Z Sportmed 52 (10):274–278 Horstmann T, Mayer F, Heitkamp HC, Merk J, Axmann D, Bork H, Dickhuth HH (2000) Individuelles isokinetisches Krafttraining bei Patienten mit Gonarthrose. Z Rheumatol 59 (2):93–100
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6
7 Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden Heiko Himmelreich, Lutz Vogt, Winfried Banzer
Sportliche Aktivität besitzt in einer von Freizeit geprägten Gesellschaft eine wichtige soziokulturelle Bedeutung und erfreut sich unter anderem wegen der hinreichend bekannten mehrdimensionalen gesundheitlichen und psychophysischen Wirkungen wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz. Die präventiven und rehabilitativen Wirkungen sportlicher Aktivität erstrecken sich z. B. auf das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel und den Bewegungsapparat (Löllgen u. Löllgen 2004; Lampert et al. 2005). Neben positiven Auswirkungen von Sport können Über- oder Fehlbelastungen und Unfälle jedoch zu funktionellen Einschränkungen und manifesten Schäden des Organismus führen. Der vorliegende Beitrag skizziert Ursachen von Sportverletzungen und Sportschäden und stellt präventive Maßnahmen zu deren Vermeidung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Altersgruppen vor.
7.1
Sportverletzungen und Sportschäden
Die Sportverletzung beschreibt ein akutes traumatisches Ereignis, bei dem es während des Trainings oder Wettkampfes durch eine Krafteinwirkung zu einer im unmit-
telbaren zeitlichen Zusammenhang stehenden Verletzung kommt (Menke 1998). Das Unfallgeschehen geht in der Regel mit einem Sofortschmerz einher, der den Sportler zum Abbruch der Bewegung zwingt. Sportverletzungen betreffen zumeist den Bewegungsapparat in Form von Prellungen, Zerrungen oder Brüchen (Steinbrück 1999). Werden bei einer Sportart gehäuft identische Verletzungsmuster gefunden, wird von typischen Sportverletzungen – so etwa beim »Skidaumen« – gesprochen. Hier kommt es bei einem Sturz zum Einhaken des abgespreizten Daumens in der Schlaufe des Skistockgriffs, bei dem die Ruptur des ulnaren Kollateralbandes11 des Daumengrundgelenks resultiert. In der Traumatologie des Sports werden die Begriffe »Sportverletzung« und »Sportschaden« (⊡ Tabelle 7.1) voneinander abgegrenzt. Wenngleich beiden Ereignissen prinzipiell ein Missverhältnis zwischen individueller Belastbarkeit und körperlicher Belastung zugrunde liegt, stellt der Sportschaden im Gegensatz zur akuten Sportverletzung eine chronische Überlastungsreaktion dar und resultiert aus wiederholten Über- und Fehlbelastungen oder nicht ausgeheilten Verletzungen. Sport-
11
Abriss des kleinfingerseitigen Bandes am Daumengrundgelenk
⊡ Tabelle 7.1. Sportverletzungen und Sportschäden (mod. nach Menke 1997a) Sportverletzung
Sportschaden
Ursache
Unfall oder akute Überlastung
Chronische Überlastung Bleibender Schaden nach Verletzung
Verlauf und Beschwerden
Sofortschmerz, Abbruch der Sportaktivität
Unterschwelliger Schmerz, eingeschränkte Belastbarkeit
Symptomatik und Therapie
Akute Symptomatik, meist notfallmäßige medizinische Behandlung
Chronisch-rezidivierend, vielfach Laien- oder Selbstbehandlung
Prognose
Vollständige Wiederherstellung oder Dauerschaden
Wiederherstellung mit Einschränkungen oder Dauerschaden
144
Kapitel 7 · Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden
schäden betreffen hauptsächlich den passiven Bewegungsapparat und führen nicht selten zu eingeschränkter Sportfähigkeit. Als Beispiel sei hier die steigende Inzidenz der Kniegelenksarthrose nach der häufigen Sportverletzung »Kreuzbandriss« (Ruptur des Lig. cruciatum anterius) aufgrund einer Gelenkinstabilität zu nennen (Gäbler 2004), sodass der Kreuzbandriss als »Anfang des Endes« des Kniegelenks aufgefasst werden kann (Miller 1998). Zur praktischen Beurteilung des Schweregrades von Sportverletzungen haben sich für die Praxis die in der folgenden Infobox aufgeführten Kriterien bewährt. Infobox
I
I
Kriterien zur Einteilung des Schweregrades einer Sportverletzung (nach Banzer u. Bürklein 2007)
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
7
7.2
Art der Sportverletzung Dauer und Form der Therapie Erforderliche Sportpause Dauer der Arbeitsunfähigkeit Ausmaß bleibender Schäden Finanzielle Gesamtkosten
Vorkommen von Sportverletzungen und Sportschäden
Die Bestandserhebung 2006 des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) dokumentiert für nahezu ein Drittel der Bundesbürger eine Mitgliedschaft in organisierten Sportverbänden (DOSB, Bestandserhebung 2006). Regelmäßiger sportlicher Aktivität gehen in der Bundesrepublik Deutschland etwa 15 Millionen Freizeit- und Breitensportler nach, dazu kommen noch etwa 13 Millionen Kinder und Jugendliche im Schulsport (Ueblacker et al. 2005). Statistischen Angaben zufolge ereigneten sich in Deutschland im Jahre 2000 insgesamt 5,36 Millionen Unfallverletzungen – mit nachfolgendem Arztbesuch – im Bereich Heim und Freizeit. Dazu zählen 1,46 Millionen Sportunfälle, was einem Anteil der Sportverletzungen am Gesamtunfallaufkommen von ca. 27% entspricht (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2003). Rund 53% der Unfälle entfallen auf den organisierten Sport (Vereinssport) und 47% auf den nicht organisierten Freizeitsport (Gläser u. Henke 2002). Die Zahl therapiepflichtiger Sportverletzungen liegt schätzungsweise bei 1,25 Millionen pro Jahr (Henke et al. 2000), wobei Muskelverletzungen und Prellungen mit 35% dominieren (Menke u. Stern 1997). Allerdings sind bei den genannten Zahlen wesentliche Unterschiede bezüglich des Schweregrades der Verletzungen zu berücksichtigen. Gegenüber jährlich 10.000 tödlichen Verletzungen im Straßenverkehr und 2500 tödlichen Ar-
beitsunfällen (Menke 1997a) endeten in Deutschland im Sport-/Spielbereich nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA 2003) im Jahre 2001 nur 164 Unfälle tödlich. Eine Aufschlüsselung der Verletzungen ergibt zunächst, dass im Vereinssport etwa 70% aller Unfälle auf die Ballsportarten Fußball, Handball, Volleyball und Basketball entfallen. Beim Freizeitsport steht Fußball (Steinbrück 1992) an der Spitze mit knapp 20%, gefolgt von Alpinski sowie anderen Sportarten wie Jogging, Tennis, Squash, Reiten, Eislaufen, Schwimmen, Volleyball und Skateboardfahren. Diese Angaben beruhen allerdings auf absoluten Zahlen, d. h., die herausragende Position des Fußballs resultiert nicht aus einem hohen Risikopotenzial, sondern vielmehr daraus, dass es sich um die in Deutschland am häufigsten betriebene Sportart handelt. Um einen Vergleich sportartspezifischer Verletzungsrisiken zu gewährleisten, der mittels absoluter Zahlen nicht möglich ist, bietet sich die Angleichung der Expositionszeiten der jeweiligen Sportarten an. Bei Berechnung der Anzahl aller Verletzungen pro 1000 Spiel-/Sportstunden zeigen sich beträchtliche Unterschiede bezüglich der Verletzungsinzidenzen. Demnach kommt es beim Eishockey in der Profiliga zu mehr als 20 Verletzungen pro 1000 Spielstunden (Pelletier et al. 1993), beim Fußball zu 4,1 (Jorgensen 1984) und beim Handball zu 4,6 Verletzungen im Training und 11,4 im Wettkampf (Nielsen u. Yde 1988). Etwa 60% aller Sportverletzungen betreffen die untere Extremität. Unfallträchtig sind dabei vor allem die Ballsportarten und das Skilaufen im Freizeitsport und hier vor allem betroffen das obere Sprunggelenk mit 10–28% sowie das Kniegelenk mit 12–36% (Menke 1997b; Renström 2000; Köstler u. Kluszyk 2002). Bei Betrachtung der Altersverteilung von Sportverletzungen zeigt sich nach Untersuchungen von Steinbrück (1999) und Allenbach et al. (1997) eine deutliche Dominanz in der Gruppe der 20- bis 30-Jährigen, auf die etwa 41,2% aller behandlungsbedürftigen Sportunfälle entfallen. Bereits ab dem 30. Lebensjahr ist ein deutlicher Rückgang der Inzidenz von Sportverletzungen zu beobachten, bei den über 50-Jährigen beträgt er nur noch etwa 2–9%. Allerdings sinkt auch mit zunehmendem Alter der Anteil regelmäßig Sporttreibender in der Gesellschaft von 40% der 20- bis 29-Jährigen auf etwa 22% der 70- bis 79-Jährigen (Rütten et al. 2005).
7.3
Kosten und Folgekosten durch Sportverletzungen
Als Gradmesser für die Schwere von Unfällen wird neben dem Anteil notwendiger Krankenhausbehandlungen, der im Bereich des Sports bei etwa 10% liegt, der Aspekt einer schweren Behinderung herangezogen. Allerdings sind weniger als ein Prozent aller Behinderungen speziell auf
145 7.4 · Ursachen von Sportverletzungen und Sportschäden
einen Sportunfall zurückzuführen (Menke 1997b). Inwieweit sportliche Belastungen und daraus resultierende Dauerschäden am Bewegungsapparat für die große Anzahl chronischer Erkrankungen des Bewegungssystems ursächlich sind, kann auf der Basis derzeit vorliegender Studien zahlenmäßig nicht erfasst werden. Die Gesamtkosten für die ambulante und stationäre Behandlung von Sportverletzungen werden mit ca. 1,5 Milliarden Euro angegeben, was einem Prozent der Gesamtkosten im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland entspricht (Rütten et al. 2005). In Anbetracht der Einsparungen, die sich für das Gesundheitswesen durch regelmäßige körperliche Aktivität ergeben, fallen die durch Sportunfälle entstehenden Kosten nur vergleichsweise wenig ins Gewicht. Demgegenüber belaufen sich die Schäden durch zivilisationsbedingten Bewegungsmangel in Deutschland auf schätzungsweise 25 Milliarden Euro jährlich (Köstler u. Kluszyk 2002).
Ursachen von Sportverletzungen und Sportschäden
7.4
Schätzungsweise drei Viertel aller Sportunfälle und nahezu alle Sportschäden beruhen auf menschlichem Fehlverhalten. Im Jahre 2000 wurden etwa 42% aller Sportunfälle bei einem Zusammenstoß mit einem Gegenstand oder einer Person und ca. 23% von einer individuellen
körperlichen Überanstrengung oder Überlastung verursacht (BAuA 2003). Lediglich 3% der Unfälle waren auf mangelhafte Sportgeräte zurückzuführen. In der Literatur werden vielfältige Ursachen für die Entstehung von Sportverletzungen und Sportschäden beschrieben und zum Teil kontrovers diskutiert. Die Klassifikation in extrinsische und intrinsische Faktoren (⊡ Tabelle 7.2), d. h. Ursachen, die außerhalb bzw. innerhalb des Körpers liegen, hat sich jedoch allgemein durchsetzen können (van Mechelen et al. 1992; Meeuwisse 1994; Bahr u. Krosshaug 2005). Nach Schätzungen wären 80% der Sportverletzungen vermeidbar (Jung 2004), würde sich der Sportler angemessen auf Training und Wettkampf vorbereiten und neben körperlicher Fitness und sorgfältigem Aufwärmen auf richtige Ausrüstung und Technik achten (Ueblacker et al. 2005). Ein Großteil ernsthafter Zwischenfälle im Sport, bis hin zu Todesfällen, ist insbesondere bei jungen Menschen auf die Nichtbeachtung eines Sportverbots bei fieberhaften Infekten sowie eine unerkannte, zumeist angeborene bzw. genetisch bedingte, Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zurückzuführen (Schulz u. Dürsch 2003). Auch kognitive und emotionale Faktoren, wie die Vorfreude auf die bevorstehende körperliche Aktivität, können zu einer Verdrängung von Gefahren führen, die das Verletzungsrisiko des Athleten erhöhen (Menke 1998).
⊡ Tabelle 7.2. Intrinsische und extrinsische Ursachen von Sportverletzungen und Sportschäden Intrinsische Ursachen
Extrinsische Ursachen
Sportverletzungen
Ungenügende Vorbereitung Unzureichende Aufwärmarbeit/Stretching Unzureichender Trainingszustand Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit/Kondition Ungenügende Kenntnis der Risiken Unkritisches Handeln (»falscher Ergeiz«) Missachtung der Unfallvorschriften Regelverstöße, Disziplinlosigkeit Vorverletzungen und Erkrankungen (z. B. Infekte) Akute/chronische Mangelzustände Medikamente, Alkohol, voller Magen Mangelnde Konzentration Falsche Technik, gestörte Koordination
Behinderung/Foulspiel des Gegners Sportartspezifische Risiken, Regeln Umwelteinflüsse Klima/Witterung (Nässe, Kälte) Fehlerhaftes Sportgerät Unzureichende Sportausrüstung Ungünstige Sportstätten (Bodenbelag, Beleuchtung) Organisatorische Mängel bei Training/Wettkampf
Sportschäden
Angeborene oder erworbene Resistenzminderung des Gewebes Formabweichungen des Bewegungsapparates unphysiologische Bewegungsabläufe Fehlerhaftes Training Fehlerhafte Technik Nicht ausgeheilte Verletzungen Muskelungleichgewicht (Dysbalancen) Unzureichende Erholungsphasen Übertraining, Überlastung
Unzureichendes Sportgerät (z.B. Schuhe, Schläger) Ungünstige Bodenverhältnisse
7
146
Kapitel 7 · Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden
7.5
7
Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden
Aus der Ätiologie und Pathogenese von Sportverletzungen und Sportschäden lassen sich Erkenntnisse und Konsequenzen zur Prävention ableiten. Umfassende unfallanalytische Einzelstudien verschiedener Sportarten mit entsprechenden präventivmedizinischen Ableitungen finden sich bei Biener (1992). Da für Sportverletzungen und Sportschäden immer ein Missverhältnis zwischen individueller Belastung und Belastbarkeit angenommen werden kann, muss im Rahmen der Vorbeugung entweder die Belastbarkeit des Sportlers verbessert oder dessen Trainings- und Wettkampfbelastung verringert werden. Die individuelle Belastbarkeit des Athleten wird primär von dessen Belastungsverarbeitung, Ermüdungsgrenze, Regenerationsfähigkeit sowie der Struktur und Stabilität des aktiven und passiven Bewegungsapparates determiniert. Diese endogenen Faktoren sind zwar zum Teil genetisch bestimmt, lassen sich durch systematisches Training aber in hohem Maße modifizieren und optimieren. Entscheidend für eine wirksame Prävention im Profisport ist die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Athlet, Trainer, Arzt und Bewegungstherapeut, so dass die Trainingsgestaltung fachkundig und systematisch geplant und dem individuellen Anforderungsprofil von Sportart und Sportler angepasst wird (Klümper 1998; Peterson u. Renström 2002). Für den Freizeit- und Breitensportler wird bei Vorliegen mindestens eines Risikofaktors (z. B. Übergewicht, Bewegungsmangel, Bluthochdruck, Rauchen oder Diabetes mellitus) eine sportärztliche Vorsorgeuntersuchung ab dem 35. Lebensjahr im Sinne der Primärprävention empfohlen (Löllgen u. Löllgen 2004). Durch diese Vorsorgeuntersuchung sollen latente oder bereits vorhandene Krankheiten, die eine Gefährdung für den Aktiven darstellen, erkannt und durch die Minderung oder Vermeidung gesundheitlicher Risiken eine optimale Ausübung von Sport und körperlicher Aktivität für jeden Sporttreibenden ermöglicht werden (Löllgen u. Hansel 2007). Eine kräftige und in ihrem Aktivierungsverhalten adäquat ausgebildete Muskulatur entlastet Gelenke, Bänder und Sehnen. Insbesondere einer kräftigen Rumpfmuskulatur kommt in nahezu allen Sportarten eine zentrale Bedeutung zu. In Studien konnte gezeigt werden, dass isoliertes Lauftraining keinen adäquaten Trainingsreiz auf die Rumpfmuskulatur bewirkt (Schmid et al. 2002), sodass unter präventiver Sicht insbesondere für Freizeitläufer ein zusätzliches Training der Rumpfmuskulatur zur Kompensation einwirkender Kräfte auf die Wirbelsäule eingesetzt werden sollte. Zudem führen Verbesserungen der aktiven Gelenkstabilisation durch sensomotorisches13 Training zu einer Prävention von Sportunfällen (Cerulli et al. 2001; Eils u. Rosenbaum 2001; Herbst et al. 2004).
Einseitige Bewegungen belasten den gesamten Bewegungsapparat und fördern die Ausbildung muskulärer Dysbalancen und Überlastungsschäden. Daher sind primärpräventiv ausgleichende Trainingsinhalte sowie der adäquate Wechsel von Be- und Entlastung nahezu in jeder sportlichen Disziplin erforderlich (Banzer u. Neumann 1998). Ausgleichssport trägt aber auch zur Verbesserung der Körperwahrnehmung und Koordination sowie konsekutiv zur Vermeidung von Verletzungen bei. Eine optimale Ausrüstung, wie an die Fußform angepasstes Schuhwerk, adäquate Kleidung und Schutzausrüstung, sind in der Sportunfallprävention unzweifelhaft von hoher Bedeutung. Adäquate Körperhygiene sollte selbstverständlich sein. Insbesondere die Funktionseinheit »Schuhe – Socken – Füße« ist für die Prophylaxe von Fußpilzinfektionen entscheidend, da vor allem kleine Hautläsionen, verursacht durch Mikrotraumen, als Eintrittspforte für Infektionen dienen (Ries 2002). Der häufig verletzungsursächliche Gegnerkontakt ist insbesondere in den Mannschaftssportarten schwer zu beeinflussen. Dennoch ist das Verletzungsrisiko durch eine gewissenhafte Regelkunde und -beachtung sowie eine faire Spielweise zu reduzieren. Primärpräventiv dient die sportmedizinische (Vorsorge-)Untersuchung neben der Bestimmung der Leistungsfähigkeit des kardiopulmonalen Systems vor allem dem Erkennen von Risikofaktoren (z. B. koronare Herzkrankheit, Myokarditis, Aortenaneurysma) für einen plötzlichen Sporttod. Hier wird für den Breitensportler eine internistisch-kardiologische Mitbetreuung gefordert (Sack 2004). Daneben finden sporttraumatologisch-orthopädische Diagnoseverfahren Anwendung, die anatomische Fehlstellungen, z. B. Wirbelsäulendeformitäten, Beckenschiefstände oder Beinlängendifferenzen, aufdecken (Stefanicki 1990; Himmelreich et al. 1998; Himmelreich 2001). Diese Formabweichungen des Skelettsystems stellen bei sich wiederholenden Belastungen Risikofaktoren für die Entstehung von Sportverletzungen oder Sportschäden durch Fehlbelastungen dar (Glitsch 1993; Hennig u. Milani 1997; Leuchte et al. 2000). Im Sinne der Sekundärprävention gilt einer adäquaten Diagnostik und Behandlung mit dem Ziel einer vollständigen Ausheilung von Verletzungen besondere Beachtung (Banzer 1988). Eine Wiederverletzung auf dem Boden einer Erstverletzung ist fast immer folgenschwerer. Hier sollte eine regelmäßige sportärztliche Untersuchung, insbesondere im Kindes- und Jugendalter, Probleme im Vorfeld erkennen und Gefahren vorbeugen (Mellerowicz et al. 2000). Vogt et al. (2001a) machen deutlich, dass beispiels-
13
In der Literatur unter der Bezeichnung sensomotorisches, propriozeptives oder auch neuromuskuläres Training zusammengefasste Übungs- und Trainingsformen. Diese zielen unter Integration afferenter und efferenter Prozesse und deren zentraler Verarbeitung auf eine Schulung der situationsangepassten neuromuskulären Kontrolle von Bewegungen ab.
147 7.5 · Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden
weise eine ganganalytisch gestützte Funktionsdiagnostik des Bewegungsapparates, gerade in der Betreuung von Leistungssportlern, eine sinnvolle Erweiterung präventiv-sportmedizinischer Aufgaben darstellt. Die Anwendung der Präventivdiagnostik ist aber nicht allein auf eine frühest mögliche Identifizierung von Unfall- und Gesundheitsrisiken oder die Aufdeckung von Prädispositionen beschränkt, sondern wichtiger Bestandteil der sportmedizinischen Untersuchung im Verlauf (Banzer u. Hoffmann 1990). Zudem sei auf die Bedeutung kognitiv-edukativer Inhalte und deren Wirksamkeit als Vorsorgemaßnahmen hingewiesen. Studien haben gezeigt, dass sich durch spezielle Aufklärungskampagnen bei Skifahrern die Rate von Kniebandverletzungen im Vergleich zu Nichtinformierten deutlich reduzieren lässt (Ettlinger et al. 1995). Der wissenschaftliche Nachweis der Effizienz sportartspezifischer Präventionsmaßnahmen ist für die wirkungsvolle Unfallund Verletzungsprophylaxe im Sport von entscheidender Bedeutung (Menke 1998). Vor dem Hintergrund der demographischen Veränderungen sind heute aus sportmedizinischer und sozioökonomischer Sicht vor allem jene bewegungsbezogenen Präventionsmaßnahmen von übergeordneter Bedeutung, die auf eine nachweisbare Reduktion von Sportverletzungen und Sportschäden bei Kindern und Jugendlichen sowie Senioren abzielen. Die umfassenden Reformpläne in der Gesundheitspolitik und die Diskussionen über ein Präventionsgesetz mit einer intensiveren Integration von Bewegung und Sport als vierte Säule im Gesundheitswesen, verstärken diese Zielsetzungen (Banzer 2003).
7.5.1 Präventive Aspekte für das Kindes-
und Jugendalter Neben dem organisierten Sport spielt gerade der Schulsport in Zeiten zunehmender Bewegungsabstinenz mit assoziierten Erkrankungen eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund erscheint eine steigende Zahl an Unfällen im schulischen Umfeld besorgniserregend. Zu ihnen zählen neben den Schulsportunfällen auch die Wege- und Pausenunfälle. Nach Angaben der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand verletzten sich im Jahr 2004 über 500.000 Schüler während des Sportunterrichtes (Bundesverband der Unfallkassen 2006). Das verdeutlicht die Bedeutung der Erforschung primärer Ursachen für Unfälle und deren Prävention, z. B. durch die Optimierung der Unterrichtsbedingungen (Geräteaufbau, Aufmerksamkeit der Schüler) oder die Implementierung eines sensomotorischen Trainings zur Verbesserung der Bewegungskoordination (Knobloch et al. 2006). Durch die Integration eines Gesamtkörperkoordinations-, Beweglichkeits- und Gleichgewichtsprogramms in den regulären Schulsportunterricht mit sensomotorischen
Übungsformen, konnte in einer Fall-Kontroll-Studie ein Rückgang gemeldeter Schulsportunfälle von 29,5% verzeichnet werden (Vogt et al. 2001b). Auf der Basis dieser Erhebungen lässt sich vermuten, dass ergänzende Schulungen der motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die von Mellerowicz et al. (2000) formulierte Forderung nach Reduktionen des Wettkampfcharakters bei Spielsportarten insgesamt zu einer Verringerung von Sportverletzungen im Schulsport beitragen. Eine sportärztliche Untersuchung, bereits im Kindes- und Jugendalter etabliert, sollte als primär-präventives Instrument auf eine »Prähabilitation« im Sinne der Stabilisierung des Achsen- und Extremitätenskeletts hinarbeiten (Micheli u. Klein 1991). Mellerowicz et al. (2000) verdeutlichen, dass neben den Risiken und Gefahren eines übertriebenen sportlichen Trainings im Kindes- und Jugendalter die herausragende präventive Bedeutung von Sport nicht aus dem Auge verloren werden darf und ein generelles Sport- oder Schulsportverbot kritisch zu indizieren sei, da sich bereits bei Schulanfängern sehr häufig orthopädische Störungen und Fehlhaltungen als Folge von Bewegungsmangel darstellen. Untersuchungen an Breiten- und Leistungssportlern weisen darauf hin, dass die Integration propriozeptiver und koordinativer Übungen in die Trainingsgestaltung (Caraffa et al. 1996) das Risiko für Sportverletzungen senkt und Präventiveffekte für Kinder und Jugendliche nachweisbar sind (Flynn et al. 2002). Vor dem Hintergrund in der Praxis zunehmend beschriebener Zusammenhänge von Beweglichkeit, Koordination, Motivation und dem Risiko des Auftretens von Sportverletzungen im Schulsport (Ketelhut 2000) erscheint hier die Verbesserung koordinativer Fähig- und Fertigkeiten als wesentlicher Präventionsparameter. Studien zur Trendsportorientierung an Schulen (Vogt et al. 2001c) dokumentieren ebenfalls, dass durch eine unter sportmedizinischen und methodisch-didaktischen Aspekten geplante Integration von Freizeitsportarten wie Inline-Skating in den traditionellen Sportunterricht das Angebot attraktiver gestaltet werden kann, ohne das Verletzungsrisiko im Vergleich zu traditionellen Schulsportarten zu erhöhen. Hier zählen die Ballsportarten Fußball, Volleyball und Basketball zu den risikoreichsten Sportarten (Knobloch et al. 2004), wohingegen Leichtathletik und Schwimmen weniger gefährlich sind (Hübner u. Pfitzner 2001).
7.5.2 Präventive Aspekte im Erwachsenenalter
Auswirkungen von Interventionen auf die Inzidenz von Sportverletzungen und Sportschäden im Breiten- und Leistungssport, insbesondere für die häufige vordere Kreuzbandruptur, sind Gegenstand einer Vielzahl aktueller Untersuchungen (Ettlinger et al. 1995; Hewett et al. 1999; Garrick u. Requa 2000; Griffin 2000; Heidt et al.
7
148
7
Kapitel 7 · Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden
2000; Junge et al. 2002; Cowling et al. 2003). Evidenzbasierte, randomisiert kontrollierte Studien, die sportartspezifisch verletzungsreduzierende interventionelle Effekte nachweisen, finden sich jedoch nur vereinzelt (Caraffa et al. 1996; Verhagen et al. 2004; Olsen et al. 2005; Petersen et al. 2005; Mandelbaum et al. 2005). In einer kontrolliert randomisierten Studie untersuchten Olsen et al. (2005) insgesamt 120 norwegische Handballmannschaften mit 1837 Spielern über eine Spielsaison von acht Monaten. Sie wiesen für die Interventionsgruppe mit einem Aufwärmprogramm zur Verbesserung der Bewegungskontrolle von Knie- und Sprunggelenk in unterschiedlichen Spielsituationen eine signifikante Reduktion der Verletzungsraten nach. Sie konnten eine von der Verletzungsart unabhängige durchschnittliche Senkung der Verletzungsinzidenz von 50% zeigen. Verhagen et al. (2004) konnten in einer kontrolliert randomisierten Studie eine deutliche Reduktion sportartspezifischer Verletzungen beim Volleyball nachweisen. Als wirksam erwies sich die alternierende Implementierung sensomotorisch wirksamer Einzelübungen mit und ohne Gerät in den Trainingsprozess. Während sich in der Kontrollgruppe eine expositionszeitbezogene Verletzungsrate von 1,8/1000 Spielstunden ergab, sank dieser Wert auf 1,4/1000 bei der Interventionsgruppe. Bemerkenswert ist die Reduktion der für den Volleyballsport typischen Sprunggelenkverletzungen (Bahr u. Bahr 1997). Hier kam es fast zu einer Halbierung der Verletzungsraten (0,9 versus 0,5/1000 Spielstunden). Ebenso führte nach Petersen et al. (2005) sowie Zantop und Petersen (2003) ein sensomotorisches Training im Handballsport zu einer deutlichen Reduktion der Inzidenz von Sprunggelenkverletzungen.
7.5.3 Präventive Aspekte für das Seniorenalter
In Anbetracht der hohen Prävalenz von Sturzereignissen mit zunehmendem Alter (Werle u. Zimber 1999) kommt der Sturzprophylaxe besondere Bedeutung zu. Epidemiologischen Studien zufolge liegt die jährliche Sturzrate bei über 65-Jährigen bei 20–50% (Cummings et al. 1985; Tinetti u. Speechley 1989) – tendenziell mit dem Alter steigend. Dass körperliche Aktivität das individuelle Sturz- und Unfallrisiko im Alter deutlich reduziert, gilt mittlerweile als unstrittig und konnte in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen werden (u. a. Shumway-Cook et al. 1997). Aus gerontologischer Sicht ist das Gleichgewicht ein zentrales Element einer uneingeschränkten Alltagsbewältigung (Berg 1989). Vor allem bei älteren Menschen kann eine defizitäre Gleichgewichtsfähigkeit zu Stürzen mit teilweise schweren Spätfolgen führen und die Angst vor Stürzen weiter steigern (Tinetti u. Powell 1993; Campbell et al. 1995), wobei die Gleichgewichtsfähigkeit durch regelmäßiges und zweckbestimmtes körperliches Training nach-
haltig beeinflusst werden kann (Harada et al. 1995; Lord et al. 1995; Pfeifer et al. 2001). Granacher et al. (2006) beobachteten im Rahmen einer Längsschnittstudie mit Senioren, dass nach einem dreimonatigen Training nicht nur die Versuchspersonen, die ein klassisches Schnellkrafttraining absolviert haben, eine signifikante Verbesserung in ihrer Explosivkraft und ihres muskulären Aktivierungsverhaltens aufwiesen, sondern auch diejenigen, die ausschließlich ein Propriozeptionstraining absolvierten. Aus verletzungspräventiver Sicht ist es bedeutsam, dass ausschließlich die propriozeptive Trainingsgruppe eine Verbesserung der neuromuskulären und muskuloskelettalen Reflexantworten bei Stolper- und Ausweichbewegungen aufwies. Gollhofer et al. (2006) hinterfragen hier kritisch, ob Kräftigungsprogramme für sich genommen wirksame Präventionsmaßnahmen zur Sturzprophylaxe darstellen. Mittlerweile liegen zahlreiche Interventionsstudien und Programme zur Prävention von Stürzen vor, die v. a. auf eine Verbesserung funktioneller und motorischer Ressourcen abzielen ( Kap. 9). Insbesondere die FICSIT(Frailty and Injuries: Cooperative Studies of Intervention Techniques)Studien (Buchner et al. 1993; Fiatarone et al. 1993; Mulrow et al. 1993; Tinetti u. Powell 1993; Wolf et al. 1993; Wolfson et al. 1993; Hornbrook et al. 1994) konnten anhand der Implementierung langfristiger, gezielter Bewegungsmaßnahmen zur Verbesserung konditioneller Fähigkeiten (Muskelkraft, Ausdauer, Beweglichkeit) bei insgesamt über 2300 Personen mit einem Durchschnittsalter von 79 Jahren eine deutliche Reduktion der Risikofaktoren für Stürze und damit eine Sturzprophylaxe durch körperliches Training nachweisen (Province et al. 1995). Das Sturzrisiko und damit verbundene Verletzungen und Frakturen sind bei Senioren nach kombinierter Kraft- und Gangschulung deutlich geringer (Chang et al. 2004). Folgen von Stürzen sind weniger gravierend als bei untrainierten Senioren und die Mobilität wird insgesamt verbessert. Alterskorrelierten Leistungseinbußen bei zeitgleicher Durchführung konkurrierender Alltagsanforderungen und damit Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitsteilung kann durch Verschränkung körperlichen und kognitiven Trainings effektiv entgegengewirkt werden. Nordic Walking, eine von Älteren bevorzugte Freizeitsportart, wird mit einem expositionszeitbezogenen Risiko einer Verletzung von < 1/1000 Stunden zu den sehr sicheren Sportarten gerechnet (Knobloch u. Vogt 2006). Außerdem finden sich beim Nordic Walking im Gegensatz zum Laufen/Jogging weniger häufig Überlastungserscheinungen, wie z. B. das »Schienbeinkantensyndrom« (Schmerzen an der Innenseite des mittleren Unterschenkels durch muskuläre Überlastung) durch eine geringere Belastungsintensität, sodass diese Belastungsform für den Freizeitsportbereich empfohlen werden kann. Daneben zählt auch der Radsport zu einer von Älteren im Freizeitbereich bevorzugten Sportart (Aigner 2005), die jedoch mit einer erhöhten Unfallgefahr durch Stürze einhergeht.
149 Literatur
Weinz und Schönle (2001) stellten in einer Untersuchung von Fahrradsturzverletzungen im Alter fest, dass das Aufund Absteigen vom Fahrrad die Hauptunfallursache darstellt und in 81% der Fälle kein Fremdkontakt bestand. Neben der Initiierung und Ausarbeitung gesundheitsorientierter Sport- und Bewegungsprogramme konzentriert sich die präventive Sportmedizin auch auf die Bereiche des Funktions- und Risikoscreenings von jüngeren Älteren und Hochbetagten. In der Präventionsdiagnostik können durch bewegungs- oder ganganalytische Assessments Unsicherheiten und Sturzrisiken älterer Menschen in alltagsnahen Gehsituationen detektiert werden, um so Unfälle zu minimieren (Pfeifer et al. 2001).
7.6
Fazit
Gegenwärtig stehen die Anstrengungen, die im Leistungssport im Sinne einer Leistungssteigerung, z. B. durch die Optimierung von Ausrüstung und Material, unternommen werden, in keinem Verhältnis zu den Bemühungen um eine Vorbeugung von Sportunfällen (Eriksson 2000). Noch immer gilt die Denkweise, dass Verletzungen schlicht ein unvermeidbarer Teil sportlicher Aktivität sind. Bis heute liegen fast ausschließlich Angaben zu schwereren Verletzungen im Bereich des Leistungssports vor, während für den Breiten- und Freizeitsport sowie zu leichteren Verletzungen kaum empirisch gesicherte Daten verfügbar sind. In Zukunft gilt es, die Prävention von Verletzungen im Sport weiter auszubauen und zu einem festen Bestandteil des Sports aller Alters- und Leistungsstufen zu machen sowie diese Bestrebung multidisziplinär zu fördern (Chalmers 2002). Gleichzeitig sind Anstrengungen zu unternehmen, die das Potenzial des Sports zur Prävention von Unfällen in Alltag und Beruf weiter verbessern und konsequent nachhaltig umsetzen. Literatur Aigner A (2005) Sport und Bewegung im Alter. In: Likar R, Bernatzky B, Pipam W, Janig H, Sadjak A (Hrsg) Lebensqualität im Alter – Therapie und Prophylaxe von Altersleiden. Springer, Wien Allenbach R, Hubacher M, Mathys R (1997) Sportunfälle und Verletzungsfolgen. Orthopäde 26:916–919 Bahr R, Bahr IA (1997) Incidence of acute volleyball injuries: a prospective cohort study of injury mechanisms and risk factors. Scand J Med Sci Sports 7:166–171 Bahr R, Krosshaug T (2005) Understanding injury mechanisms: a key component of preventing injuries in sport. Br J Sports Med 39:324–329 Banzer W (1988) Akzeptanz und Realisierung des rehabilitativen Trainings nach Sportverletzungen. Prakt Sporttraumatol Sportmed 4 (2):19–26 Banzer W (2003) Editorial: Bewegung – unverzichtbarer Baustein der Präventionspolitik. Dtsch Z Sportmed 54 (10):273 Banzer W, Bürklein M (2007) Welche Verletzungen treten im Sport auf? In: Scheid V, Prohl R: Kursbuch Sportbiologie. Limpert, Wiebelsheim Banzer W, Hoffmann G (1990) Präventive Sportmedizin. Perimed, Erlangen
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7
150
7
Kapitel 7 · Prävention von Sportverletzungen und Sportschäden
Gollhofer A, Granacher U, Taube W, Melnyk M, Gruber M (2006) Bewegungskontrolle und Verletzungsprophylaxe. Dtsch Z Sportmed 57:266–270 Granacher U, Gollhofer A, Strass D (2006) Training induced adaptations in characteristics of postural reflexes in elderly men. Gait Posture 24:459–460 Griffin LY (2000) The Henning program. In: Griffin LY (ed) Prevention of noncontact ACL injuries. American Academy of Orthopaedic Surgeons. Rosemont, USA, pp 62–71 Harada N, Chiu V, Damron-Rodriguez J, Fowler E, Siu A, Reuben DB (1995) Screening for balance and mobility impairment in elderly individuals living in residential care facilities. Phys Ther 75 (6):462–469 Heidt RS, Sweeterman LM, Carlonas RL (2000) Avoidance of soccer injuries with preseason conditioning. Am J Sports Med 28:659–662 Henke T, Gläser H, Heck H (2000) Sportverletzungen in Deutschland. In: Alt W, Schaff P, Schumann H (Hrsg) Neue Wege der Unfallverhütung im Sport. Strauß, Köln Hennig E, Milani T (1997) Der Einsatz von Druckverteilungsmessungen in der Sportmedizin. In: Thorwesten L, Jerosch J, Nicol K (Hrsg) Biokinetische Messverfahren – Einsatzmöglichkeiten in Sportmedizin und Sporttraumatologie. Lit Verlag, Münster Herbst S, Heinz B, Pfeifer K (2004) Effekte eines sensomotorischen Trainings zur aktiven Gelenkstabilisation – eine Untersuchung zur Dosis-Wirkungsbeziehung. Beitrag auf der Jahrestagung der dvsGesundheit, Saarbrücken Hewett TE; Lindenfeld TN, Riccobene JV, Noyes FR (1999) The effect of neuromuscular training on the incidence of knee injury in female athletes: A prospective study. Am J Sports Med 27:699–706 Himmelreich H (2001) Evaluation eines Ultraschalltopometrischen Messverfahrens zur Dreidimensionalen Analyse von Körpersegmentlängen und Körpersegmentwinkeln. Inauguraldissertation. Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main Himmelreich H, Stefanicki E, Banzer W (1998) Die Ultraschallgesteuerte Anthropometrie (UGA) – Zur Entwicklung eines neuen Verfahrens in der Asymmetriediagnostik. Sportverl Sportschad 2:60–65 Hornbrook M, Stevens V, Wingfield D, Hollis J, Greenlick M, Ory M (1994) Preventing falls among community-dwelling older persons: Results from a randomised trial. Gerontologist 34:16–23 Hübner H, Pfitzner M (2001) Das schulsportliche Unfallgeschehen in Nordrhein – Westfalen (Trendreport Schuljahr 1998/99). Schriften zur Körperkultur Bd. 32, Münster Jorgensen U (1984) Epidemiology of injuries in typical Scandinavian team sports. Br J Sports Med 18:59–63 Jung K (2004) Trauma im Sport. Institut für sportmedizinische Prävention und Rehabilitation. Quelle: www.ispr.biz/trauma/Trauma-imSport.html [Zugriff 11.04.2007] Junge A, Rösch D, Peterson L, Graf-Baumann T, Dvorak J (2002) Prevention of soccer injuries: A prospective intervention study in youth amateur players. Am J Sports Med 30:652–659 Ketelhut K (2000) Bewegungsmangel im Kindesalter, Gesundheit und Fitness heutiger Kinder besorgniserregend? Dtsch Z Sportmed 51 (10):342–344 Klümper A (1998) Sport-Traumatologie. Handbuch der Sportarten und ihrer typischen Verletzungen. Ecomed, Landsberg Knobloch K, Jagodzinski M, Haasper C, Zeichen J, Krettek C (2006) Turnunfälle im Schulsport – Ansätze für präventive Maßnahmen. Sportverletz Sportschaden 20 (2):81–85 Knobloch K, Rossner D, Gössling T, Richter M, Kretteck C (2004) Volleyballverletzungen im Schulsport. Sportverletz Sportschaden 18:185–189 Knobloch K, Vogt PM (2006) NordicWalking-Verletzungen – Der Nordic-Walking-Daumen als neue Verletzungsentität. Sportverl Sportschad 20:137–142 Köstler W, Kluszyk A (2002) Erstmaßnahmen bei Sportverletzungen. Unfallchirurg 105 (5):450–465
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7
8 Osteoporose Mareike Behmann, Jutta Semler, Ulla Walter
Das vorliegende Kapitel betrachtet das Krankheitsbild Osteoporose. Es verdient angesichts seiner ökonomischen und quantitativen Bedeutung eine gesonderte Betrachtung. Nach den Grundlagen, Diagnostik und Therapie werden wesentliche Studien und die aktuelle Leitlinie vorgestellt. Das Kapitel versucht u. a. Antworten auf folgende Fragen zu geben: ▬ Welche Relevanz hat Osteoporose bei Männern und Frauen ( Kap. 8.1)? ▬ Welche Risikofaktoren gelten als gesichert ( Kap. 8.1)? ▬ Welche präventiven Ansätze gibt es? Welche haben sich als effektiv erwiesen ( Kap. 8.1 und 8.2)? ▬ Welche Leitlinien zur Behandlung gibt es? ▬ Wie sinnvoll ist der Einsatz von Hormonen ( Kap. 8.2)?
Epidemiologie, Diagnostik und Ansätze zur Prävention
8.1
Jutta Semler Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung. Unterschieden wird zwischen der primären und der sekundären Osteoporose. Während die primäre Osteoporose alters- und geschlechtsabhängig, also ohne krankhafte Ursachen, entsteht, wird die sekundäre Osteoporose durch bestimmte Krankheiten, wie z. B. aktuelle Schilddrüsenüberfunktion, entzündlich rheumatische Erkrankungen oder Medikamente verursacht. Osteoporose geht einher mit einem erhöhten Knochenbruchrisiko aufgrund einer verminderten Knochenmasse und einer veränderten Mikroarchitektur der Kno-
chenbälkchen. Der Knochen wird instabil gegenüber Belastungen des Alltags. Knochenbrüche bei Bagatellunfällen, Fehlstatik mit Rundrückenbildung, Einschränkung der Lebensqualität und Schmerzen sind die Folge. Frauen und Männer erkranken besonders in der zweiten Lebenshälfte an Osteoporose. Das Knochenbruchrisiko wird maßgeblich vom Lebensalter bestimmt und verdoppelt sich mit jedem Lebensjahrzehnt. Männer haben bei einem vergleichbaren Lebensalter und Ergebnis der Knochendichtemessung ein etwa 50% niedrigeres Risiko für osteoporotische Frakturen als Frauen (Cauley 2002; Kanis et al. 2003). Besonders häufig von Osteoporose betroffen sind Frauen nach den Wechseljahren, ältere Menschen sowie Patienten, die langfristig Kortikosteroide einnehmen müssen, wie z. B. bei Asthma bronchiale oder bei entzündlichen rheumatischen Erkrankungen. In den letzten Jahren wird aber auch eine zunehmende Anzahl jüngerer Frauen und Männer mit Osteoporose beobachtet. Typische osteoporotische Frakturen sind Wirbelkörperbrüche, Brüche im Bereich des Handgelenks und, zumeist im höheren Alter, Hüftfrakturen. Wirbelkörperbrüche verursachen neben Rundrückenbildung, Körpergrößenabnahme und Schmerzen eine Einschränkung der Vitalkapazität der Lunge und eine erhöhte geschätzte Einschränkung der Lebenserwartung um 4% (DVO-Leitlinien 2006).
8.1.1 Prävalenz und Inzidenz
Die Prävalenz der Osteoporose auf der Grundlage der WHO-Definition einer erniedrigten Knochendichtemessung (DXA-T-Wert < –2,5) liegt bei postmenopausalen Frauen in Deutschland bei etwa 7% im Alter von 55 Jahren und steigt auf 19% im Alter von 80 Jahren an. Für Männer liegen für den deutschen Sprachraum keine wissenschaftlich ausreichend gesicherten Angaben vor (DVO-Leitlinien 2006). Die Lebenserwartung der Frauen ist durchschnittlich um sieben Jahre höher als die der Männer. Dies ist neben hormonellen Veränderungen mit ein Grund dafür,
154
Kapitel 8 · Osteoporose
⊡ Tabelle 8.1. Häufigkeit einer Osteoporose nach Alter und Geschlecht (eigene Darstellung nach BoneEVA-Studie)
8
Alter
Mann
Frau
50–65 Jahre
7%
23%
65–75 Jahre
11%
47%
über 75 Jahre
16%
59%
dass im höheren Lebensalter absolut und relativ mehr Frauen an einer Osteoporose erkranken (⊡ Tabelle 8.1). Die jährliche Inzidenz im Röntgenbild nachweisbarer Wirbelkörperbrüche bei 50- bis 79-jährigen Frauen beträgt etwa 1%, bei Männern im gleichen Alter 0,6%. Die jährliche Inzidenz peripherer Frakturen, die häufig aus der Kombination von Osteoporose und Sturz resultieren, liegt in dieser Altersklasse bei 1,9% bei den Frauen und 0,7% bei den Männern. Die Inzidenz beider Manifestationsformen der Osteoporose nimmt mit dem Lebensalter exponentiell zu. Das kumulative Lebenszeitfrakturrisiko beträgt bei 50-jährigen Frauen 39,7% (u. a. 15,6% Wirbelkörperbruch, 17,5% Hüftfraktur), bei Männern dagegen 13,1% (u. a. 5,0% Wirbelkörperbruch, 6,0% Hüftfraktur). Kanis et al. (2001) haben im Auftrag für das »Schwedische Frakturregister« in Malmö den großen Stellenwert des Alters und der 10-Jahres-Wahrscheinlichkeiten für die wichtigsten osteoporosebedingten Frakturen beschrieben. 2006 wurden die Ergebnisse der BoneEVA-Studie mit neueren Zahlen zur Häufigkeit der Osteoporose für Frauen und Männer in Deutschland oberhalb des 50. Lebensjahres vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) veröffentlicht. Die Studie erfolgte auf Basis der Versichertendaten der Gmünder Ersatzkasse unter Einbeziehung von Abrechnungsdaten des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) sowie Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Diese Informationen über Pflegeleistungen zeigen, dass 25,5% der Versicherten über 50 Jahre an Osteoporose erkrankt waren (39,5% der Frauen und 9,7% der Männer). Hochgerechnet für Deutschland bedeutet dies ca. 7,8 Millionen Menschen mit Osteoporose. Bei 4,3% dieser Patienten wurden osteoporosetypische Frakturen diagnostiziert. Auch weisen diese Daten der BoneEVAStudie auf die Zunahme der Häufigkeit der Osteoporose mit steigendem Lebensalter hin (⊡ Tabelle 8.1).
8.1.2 Folgen und Auswirkungen
Klinische Symptome bei bestehender Osteoporose, die Frakturereignissen vorausgehen, sind nicht bekannt. Frakturen im Bereich der Wirbelsäule mit nachfolgender
Rundrückenbildung und Hüftgelenksfrakturen im Alter stehen im Vordergrund. Die Frakturen führen zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität. Diese ist in den ersten Monaten nach der Fraktur am stärksten ausgeprägt. Behinderungen im Alltag, selbst bei einfachen Tätigkeiten wie täglicher Hygiene oder Anziehen, können zu scheinbar unüberwindlichen Hürden werden. Schmerzmittelgebrauch, Einnahme von Psychopharmaka und Ängste sind die Folgen. Im höheren Lebensalter stehen zunehmende Isolation und Angst vor Pflegebedürftigkeit im Vordergrund. Osteoporose-assoziierte Frakturen sind darüber hinaus mit einer erhöhten Mortalität verbunden. Der Mortalitätsanstieg ist in den ersten zwölf Monaten nach einer Fraktur am höchsten. Zudem muss nach einem osteoporosetypischen Knochenbruch, wie Wirbelkörperfraktur, innerhalb eines Jahres damit gerechnet werden, dass 20% der Patienten auch bei ausreichender Kalzium- und Vitamin-D-Zufuhr einen weiteren Knochenbruch erleiden (DVO-Leitlinien 2006).
8.1.3 Pathogenese und Risikofaktoren
Die Knochengipfelmasse (»peak bone mass«) ist u. a. abhängig von genetischen und hormonellen Faktoren, Ernährung sowie körperlicher Aktivität. Den größten Einfluss haben die Geschlechtshormone auf die Knochenentwicklung in der Pubertät. Die höhere Knochengipfelmasse bei Männern im Vergleich zu Frauen ist im Wesentlichen durch den Körperbau und die kräftigere Muskulatur beziehungsweise durch den Knochenmineralgehalt (BMC) bedingt, während die Knochenmineraldichte (BMD) keine Geschlechtsunterschiede aufweist. In der zweiten Lebenshälfte findet auch beim männlichen Geschlecht ein altersabhängiger Knochenverlust statt. Während Frauen in der frühen Postmenopause etwa 2% jährlich abbauen, beträgt der Verlust bei Männern etwa 1% pro Jahr. Bis zum Lebensende werden ausgehend von der »peak bone mass« etwa 5–15% Kortikalis (Knochenrinde) und 15–45% Spongiosa (Schwammknochen im Inneren des Knochens) abgebaut (DVO-Leitlinien 2006). Die Pathogenese der Osteoporose ist multifaktoriell. Die postmenopausale Osteoporose ist die am häufigsten beobachtete Knochenstoffwechselstörung. In Analogie zum Östrogenmangel der Frau in der Postmenopause stehen beim Mann sinkende Testosteronwerte mit einer abnehmenden Knochenmasse im höheren Lebensalter und zusätzlich nachlassende Muskelkraft in einem direkten Zusammenhang. Eine im Alter abnehmende Kalziumresorption, Abfall der Vitamin-D-Konzentration sowie eine verminderte Vitamin-D-Produktion in der Niere fördern andererseits die Osteoklasie, den Knochenabbau. Die Minderung der Vitamin-D-Konzentration im Alter hat bei Frauen und
155 8.1 · Epidemiologie, Diagnostik und Ansätze zur Prävention
Männern vergleichbare Ursachen. Zum einen ist die Haut älterer Menschen weniger in der Lage, unter dem Einfluss von UV-B-Licht die Vorstufe des Vitamin D zu bilden und darüber hinaus halten sich Ältere seltener im Freien auf. Nicht vergessen werden sollte, dass Deutschland zu den eher nördlich gelegenen Ländern gehört und damit etwa von September bis März die Sonne so tief steht, dass zu wenig UV-Licht vorhanden ist. Ein Vitamin-D-Mangel vor allem im Winter und Frühjahr ist die Folge mit dem Risiko vermehrter Stürze und damit Frakturen. Wichtig ist also, Risikofaktoren herauszufiltern, um Gefährdeten rechtzeitig Empfehlungen für entsprechende Präventionsmaßnahmen zu geben. Die bekannten Hauptrisikofaktoren unterscheiden sich offenbar grundsätzlich nicht zwischen den Geschlechtern: ▬ Knochenbrüche nach Bagatellunfällen, die weitere Frakturen nach sich ziehen (Niedrigenergietraumata, z. B. Zusammensacken aus dem Stehen, vom Stuhl rutschen). ▬ Osteoporotische Frakturen, vor allem Hüftfrakturen bei Verwandten 1. Ordnung, vorrangig bei den Eltern (Kanis et al. 2004). ▬ Untergewicht mit einem Body Mass Index von unter 20 kg/m2 (DVO-Leitlinie 2006). ▬ Nikotinkonsum ist ein unabhängiger mäßiger Risikofaktor für Wirbelkörperfrakturen und periphere Frakturen. Die Bestimmung eines graduellen Risikos in Abhängigkeit von der Zahl der Zigaretten ist derzeit noch zu ungenau. Es lässt sich aber generell feststellen, dass Raucher ein höheres Frakturrisiko haben als Nichtraucher (Schneider 2003; DVO-Leitlinie 2006). ▬ Immobilität: Mangelnde körperliche Aktivität oder mangelnde Fähigkeit körperlicher Aktivität sind ein Risikofaktor für proximale Femurfrakturen, nicht so gut gesichert bei Wirbelkörperfrakturen. Immobilität beschreibt z. B. eine Person, die in ihrer Mobilität so stark eingeschränkt ist, dass sie nicht mehr die eigene Wohnung verlassen oder Hausarbeiten nachgehen kann (DVO-Leitlinie 2006). ▬ Sturzrisiko (DVO-Leitlinien 2006). ▬ Medikamenteneinnahme wie etwa die langfristige Behandlung mit Kortikosteroiden, die zu einem vermehrten Verlust an Knochenmasse und damit zu Knochenbrüchen führen kann. Hier wird dann nicht mehr von der primären, sondern von der sekundären Osteoporose gesprochen. ▬ Zu den sekundären Risikofaktoren gehören u. a. die aktuelle Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) bzw. medikamentöse Suppression mit Schilddrüsenhormon mit einem TSH-Wert von unter 0,03 mU/L, der primäre Hyperparathyreoidismus (Überfunktion der Nebenschilddrüse), entzündlich rheumatische Erkrankungen, der Diabetes mellitus Typ I, eine chronische Niereninsuffizienz, Malassimilation
(verminderte Nahrungszufuhr bzw. Verdauungsschwäche), Antiepileptikaeinnahme und neuerdings die antiöstrogene Therapie des hormonabhängigen Mammakarzinoms mit Aromatasehemmern (DVOLeitlinien 2006). Häufiger als bei Frauen ist bei Männern, die an Osteoporose leiden, ein übermäßiger Alkoholkonsum zu verzeichnen. Alkohol führt zu einem vermehrten Kalziumverlust über die Niere, zudem ernähren sich Alkoholkranke zumeist ungenügend und können somit auch Folgekrankheiten an Leber und Bauchspeicheldrüse aufweisen. Die oben genannten Risikofaktoren beschreiben diejenigen Faktoren, die sich in den bisherigen epidemiologischen Studien als konsistent, vom Lebensalter unabhängig und in univariaten Analysen von ausreichender Stärke (relatives Risiko > 1,5) in Bezug auf die Frakturvorhersage erwiesen haben. Die Interaktionen dieser Risiken sind aber erst teilweise geklärt. Mit Ausnahme der Vorgeschichte einer Wirbelkörperfraktur ist das Vorliegen eines oder mehrerer dieser Risikofaktoren derzeit deshalb nur als Indiz dafür zu sehen, dass das Frakturrisiko etwa um den Faktor 1,5- bis 2 höher ist, als dies ohne Vorliegen dieser Risikofaktoren der Fall wäre. Zukünftige Untersuchungen müssen die Stärke dieser Risikofaktoren in Bezug auf eine Frakturvorhersage und die Beziehungen der Risikofaktoren untereinander und in Bezug auf das Lebensalter und die Knochendichte noch besser definieren.
8.1.4 Empfehlung zur Basisdiagnostik
Osteoporose ist nicht gleich Osteoporose. Männer erkranken zwar seltener als Frauen, aber viele Risikofaktoren, diagnostische Schritte, Empfehlungen zur Prävention und zur Behandlung sind vergleichbar. Die Entscheidung, ob eine Osteoporosediagnostik (Basisdiagnostik) empfohlen wird, ist grundsätzlich abhängig vom Lebensalter und den erwähnten Risikofaktoren bei Frauen ab dem 60. und Männern ab dem 70. Lebensjahr. Ansatzpunkte zur Prävention bieten insbesondere die Risikofaktoren multiple Stürze, Nikotinkonsum, Immobilität und Untergewicht. Hierbei sollte zunächst eine Beseitigung der jeweiligen Risikofaktoren angestrebt werden, bevor ihre Modifikation durch multidimensionale Interventionen in den Mittelpunkt der präventiven Maßnahme rückt. Bei über 70-jährigen Frauen und über 80-jährigen Männern ist die Knochenbruchgefahr so groß, dass für die Entscheidung zur Basisdiagnostik keine zusätzlichen Risikofaktoren erforderlich sind. Bei jüngeren Patienten gibt es keine gesicherten Daten zur Indikation einer Diagnostik. Sie sollte jedoch durchgeführt werden, wenn osteoporosetypische Frakturen ohne erkennbare Ursache
8
156
Kapitel 8 · Osteoporose
auftreten, ansonsten ist es eine Einzelfallentscheidung, vor allem bei Hinweisen auf eine sekundäre Osteoporose. Die Diagnostik setzt sich aus einem Mosaikmuster von Anamnese, körperlicher Untersuchung, Osteodensitometrie, Röntgen, Laboruntersuchungen und evtl. Knochenbiopsie zusammen. Anamnese
In der Anamnese werden u. a. folgende Punkte berücksichtigt: ▬ Risikoerfassung, ▬ Frakturen nach einem Bagatellunfall sowie ▬ Rückenschmerzen.
Ziele der Röntgenuntersuchung der Brust- und Lendenwirbelsäule sind der Nachweis von osteoporotischen Sinterungsfrakturen (Wirbelkörper sinkt langsam in sich zusammen, im Gegensatz zum Wirbelkörperbruch nach Sturz/Unfall), Art und Schweregrad der Wirbelkörperverformung und die Differenzialdiagnose von Rückenschmerzen. Laboruntersuchungen
Bei der Untersuchung werden erfasst: ▬ Körpergröße und Körpergewicht (BMI) sowie Dokumentation der Körpergrößenabnahme, Fehlstatik (Rundrücken), ▬ lokaler Druck- oder Klopfschmerz über einzelnen Wirbelkörpern, ▬ funktionelle Einschränkungen, ▬ Muskelkraft und Gleichgewichtssinn sowie ▬ Sturztests (z. B. Einbeinstand, Chair-rising-Test [Aufstehtest, bei dem der Patient 5-mal so schnell wie möglich aus dem Sitzen aufsteht und sich wieder hinsetzt; dies darf nicht länger als 10 Sekunden dauern], Tandemstand [Stillstehen mit einem Fuß direkt vor dem anderen ist möglich]).
Blutuntersuchungen klären, ob andere Erkrankungen vorliegen, die die Entwicklung einer Osteoporose begünstigen. Nachfolgende Untersuchungen werden bei der Basisuntersuchung empfohlen: Kalzium und anorganisches Phosphat im Serum, Kreatinin, alkalische Phosphatase, YGT (Leberenzym), BSG (Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit), CRP (kapselreaktives Protein), Blutbild, Eiweißelektrophorese und TSH-Basalwert (Ausgangswert eines die Schilddrüse stimulierenden Hormons). Ergänzende Untersuchungen wie der Nachweis eines Hypogonadismus, einer Hyperkalziurie, Bestimmungen von Parathormon, Vitamin D oder auch Erfassen des Knochenumsatzes durch Bestimmung von Biomarkern wie Cross-laps als Marker des Knochenabbaus im Nüchternserum oder knochenspezifische Phosphatase (Ostase) als Marker des Knochenanbaus erfolgen nicht bei der Basisdiagnostik, sondern im Einzelfall durch Fachspezialisten.
Osteodensitometrie
Knochenbiopsie
Osteoporose geht mit einer erniedrigten Knochendichte einher. Zur Messung der Knochendichte wird in den Leitlinien des Dachverbands für Osteologie e. V. (DVO) von 2006 die als Standardmethode geltende DXA-Technik empfohlen. Die Knochendichte wird an der Lendenwirbelsäule (L1–L4) und der Hüfte (Gesamtdichte) mit geringen Röntgenstrahlen gemessen. Das Ergebnis wird mit der durchschnittlichen Knochendichte von gesunden jungen Erwachsenen verglichen und mit dem so genannten T-Wert beschrieben. Empfohlen wird diese Basisdiagnostik, wenn bereits osteoporosetypische Knochenbrüche vorliegen oder bei Frauen ab dem 70. Lebensjahr mit zusätzlichen Risikofaktoren bzw. ab dem 75. Lebensjahr ohne zusätzliche Risiken. Bei Männern eine Dekade später. Grundsätzlich stellt die Osteodensitometrie nicht die Diagnose einer Osteoporose, sondern hilft beim Abschätzen des individuellen Frakturrisikos. Quantitative Ultraschallverfahren oder andere Knochendichtemessungen z. B. quantitative Computertomographie können ebenfalls Aussagen zum Knochenbruchrisiko treffen. Die T-Werte dieser Messverfahren sind bezüglich der Fraktur-Risikoabschätzung nicht auf die T-Werte der DXA-Messung übertragbar.
Die Knochenbiopsie gehört nicht zur Routinediagnostik. Sie erlaubt aber bei unklaren oder unplausiblen Befunden die Mitbeurteilung des Knochenumsatzes, der Vernetzungsstruktur der Trabekel (Knochenbälkchen) und die Diagnose seltener sekundärer Formen einer Osteoporose, Mineralisationsstörungen sowie die Beurteilung des Knochenmarks.
Körperliche Untersuchung
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Röntgen
8.1.5 Prävention
Die nachfolgend aufgeführten Maßnahmen sind die Basis von Vorbeugung, aber auch von Behandlung – gelten also für primäre, sekundäre und tertiäre Prävention – zur Verbesserung der Knochenstabilität und Vermeidung von Sturz bedingten Knochenbrüchen. Eine knochengesunde Lebensweise zur Vermeidung von Knochenbrüchen durch Osteoporose ist eine lebenslange Aufgabe und erfordert Eigenverantwortung. Bewegung
Empfehlenswert ist eine regelmäßige körperliche Aktivität mit der Zielsetzung, Muskelkraft und Koordination (Balancetraining) zu fördern, u. a. Walking, Nordic
157 8.1 · Epidemiologie, Diagnostik und Ansätze zur Prävention
Walking, Tai Chi und Tanzen ( Kap. 10.3). Außerdem werden durch körperliches Training auch Gehirnleistung, Gleichgewichtssinn und Reaktionsvermögen verbessert. Eine Immobilisierung sollte unbedingt vermieden werden. Derzeit werden Leitlinien für die Physiotherapie erarbeitet. An der Erstellung sind Wissenschaftler, Physiotherapeuten und Betroffene, wie es für anerkannte Leitlinien gefordert ist, beteiligt. Ernährung
Untergewicht ist ein wichtiger, unabhängiger Risikofaktor und erhöht vor allem das Risiko von Hüftfrakturen. Kalzium und Vitamin D sind als Grundlage jeder Osteoporosebehandlung, aber auch zur Vorbeugung unverzichtbar. Es wird eine Zufuhr von 1200–1500 mg Kalzium und 400–1200 IE Vitamin D täglich empfohlen (DVO-Leitlinien 2006). Ist die Zufuhr durch die Ernährung oder bei Vitamin D durch zusätzlich regelmäßige Bewegung im Freien (Ultraviolett-Licht), bei älteren Menschen und in unseren Breiten während der Wintermonate, nicht gewährleistet, ist eine Ergänzungsmedikation empfehlenswert (DVOLeitlinien 2006). Um eine positive Kalziumbilanz zu erreichen, ist nicht nur die Zufuhr allein zu beachten. Kalzium muss u. a. im richtigen Verhältnis zu Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen aufgenommen werden ( Kap. 10.2). Vitamin D, Vitamin C, Vitamin K und Laktose fördern, Phosphate, vorrangig in Fleisch- und Wurstwaren, Phytine in ungeschrotenem Korn und Oxalate in Rhabarber, Mangold und Spinat hemmen dagegen die Kalziumaufnahme. Ein Übermaß an Salz, Koffein, schwarzem Tee und tierischem Protein steigert den renalen Kalziumverlust. Auch der Einfluss der Ernährung auf den SäureBasen-Haushalt als Ursache der primären Osteoporose ist zu beachten. Arnett (2003) beschreibt in seinen Experimenten eine direkte Abhängigkeit der Osteoblasten- und Osteoklastentätigkeit vom pH-Wert der umgebenden Flüssigkeit. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Bushinsky (1995) bei der metabolischen (nicht respiratorischen) Azidose (eine durch den Stoffwechsel bedingte Senkung des Blut-pH-Wertes unter 7,36). Die wichtigsten Gegenspieler in der Nahrung für die Ausbildung einer Azidose oder Alkalose (einen durch den Stoffwechsel [metabolisch] bedingten Anstieg des BlutpH-Wertes über 7,43) sind tierische Proteine einerseits und Obst und Gemüse andererseits. Tucker et al. (2001) konnten bei Überprüfung der Daten der FraminghamStudie eine signifikante positive Assoziation des Verzehrs von (basischem) Obst und Gemüse mit der Knochendichte aufzeigen. Andererseits ist bekannt, dass Protein in der Nahrung einen positiven (anabolen) Effekt für den Knochenaufbau hat. In einer prospektiven 4-Jahres-Studie mit 229 Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren stellten Alexy et al.
(2005) fest, dass bei höherer Säurebelastung unter anderem durch Protein (PRAL = »potential renal acid load«) die Knochendichtemesswerte signifikant schlechter waren. Als Konsequenz ist eine Ernährung mit reichlich Obst und Gemüse und Protein zu empfehlen. Sturzprophylaxe
Sturzrisiken sollten vermieden werden ( Kap. 9). Eine erhöhte Sturzneigung besteht im Haushalt beispielsweise bei herumliegenden Kabeln oder hochstehenden Teppichecken, bei eingeschränkter Sehkraft und ungenügender Beleuchtung. Im Freien wird das Risiko erhöht, wenn kein festes Schuhwerk getragen wird, z. B. im Herbst bei feuchter Witterung (Ausrutschen auf nassem Laub) oder im Winter bei Eisglätte. Weitere Sturzrisiken bestehen bei unkontrollierter Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, bei Schwindelgefühl und Neigung zur Unterzuckerung, aber auch bei Gehbehinderungen. Diese Sturzrisiken gelten für alle Altersgruppen. Nicht immer sind sie vermeidbar. Besonders gefährdet sind ältere Menschen. Das Tragen eines Hüftprotektors kann vor einer proximalen Femurfraktur (Oberschenkelhalsfraktur) schützen. Bei erfolgten Knochenbrüchen kann durch eine ergänzende psychosoziale Betreuung der Angst vor weiteren Frakturen, Schmerzen und Einschränkung der Mobilität entgegen gewirkt werden. Die Vernetzung mit fachlich ausgewiesenen Selbsthilfegruppen und Patientenorganisationen ist zu empfehlen.
8.1.6 Medikamentöse Prävention und Therapie
Die Indikation für eine spezifische Osteoporosemedikation bei Patienten mit einer primären Osteoporose ist abhängig vom Frakturrisiko. Eine solche zusätzliche Medikation wird dann empfohlen, wenn das 10-JahresFrakturrisiko für Wirbelkörper- und Hüftfraktur über 30% beträgt. Das Knochenbruchrisiko wird beeinflusst durch das Geschlecht, das Lebensalter, das Ergebnis der Knochendichte (T-Wert angegeben in Standardabweichung, SD), das Vorkommen von Risikofaktoren und bereits vorliegende osteoporosetypische Wirbelkörperbrüche (⊡ Abb. 8.1). Von der Empfehlung in der ⊡ Abb. 8.1 kann abgewichen werden. Besteht mindestens einer der angegebenen Zusatzrisiken, so verschiebt sich die Therapieempfehlung um eine Standardabweichung nach links. Dies bedeutet z. B. für eine Frau zwischen 50 und 60 Jahren, dass sie nicht erst bei einem T-Wert von – 4,0, sondern bereits ab einem T-Wert von – 3,0 behandelt wird. Umgekehrt verhält es sich bei schwerkranken Patienten mit erheblich verkürzter Lebenserwartung oder auf Wunsch des Patienten. Neben den bereits erwähnten Basismaßnahmen ist bei der tertiären Prävention eine bedarfsgerechte Kalzium-/Vitamin-D-Medikation empfehlenswert.
8
158
Kapitel 8 · Osteoporose
Alter (Jahre) Frau Mann 50–60
60–70
60–65
70–75
65–70
75–80
70–75
80–85
>75
>85
T –2,0 bis –2,5
T –2,5 bis –3,0
T –3,0 bis –3,5
nein
T –3,5 bis –4,0
T < –4,0 SD ja
Wirbelkörperfraktur (WK) Multiple WK-Frakturen
8
⊡ Abb. 8.1. Empfehlung einer osteospezifischen medikamentösen Therapie in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Ergebnis der Osteodensitometrie (T-Wert und Wirbelkörperfrakturen) (DVO-Leitlinien 2006)
Eine absolute Behandlungsindikation besteht bei Patienten mit Wirbelkörperbruch, bei denen der T-Wert der DXA-Knochendichtemessung an der Lendenwirbelsäule bzw. der Gesamtwert der Hüfte unter – 2,0 liegt oder wenn mehrere Wirbelkörperfrakturen, unabhängig vom T-Wert, vorliegen. Innerhalb des ersten Jahres nach einem Wirbelkörperbruch ist die Gefahr weiterer Knochenbrüche besonders hoch. Eine rasche Therapieeinleitung ist deshalb notwendig und nach einem Knochenbruch sollte schnellst möglich eine Mobilisierung erfolgen. Bei der Osteoporose postmenopausaler Frauen steht heute eine Vielzahl hochwirksamer spezifischer Osteoporose-Therapeutika zur Verfügung. Bei folgenden Wirkstoffen ist am besten belegt, dass die Gefahr von Wirbelkörperbrüchen nach einer dreijährigen Behandlung im vergleichbaren Umfang reduziert wird: Bisphosphonate, Östrogene, Raloxifen, Strontiumranelat und Teriparatid. Mit Ausnahme von Raloxifen ist auch eine Verminderung peripherer Knochenbrüche belegt. Die vorhandene Datenlage mit dem Ziel einer Frakturreduktion für die Osteoporose des Mannes ist jedoch ungenügend (DVO-Leitlinien 2006). Für die Behandlung der Osteoporose des Mannes sind aber in Deutschland die Bisphosphonate der zweiten Generation Alendronat und Risedronat sowie seit kurzem Teriparatid zugelassen. Die Empfehlung lautet im Einzelnen: Östrogene sind in der Lage, osteoporosebedingte Knochenbrüche zu vermeiden. Bei einer Nutzen-Risiko-Abwägung (thrombembolische Komplikationen, wie Thrombose, Lungenembolie, Herzinfarkt, Schlaganfall, Brustkrebsrisiko)
Zusatzrisiken 1. Periphere Fraktur 2. Schenkelhalsfraktur bei Eltern 3. Rauchen 4. Häufige Stürze 5. Immobilität
Gesamtkontext Multimorbidität Patientenwunsch kurze Lebenserwartung
Maximal 1 Standardabweichung (SD)
sollten Östrogene und Gestagene nur Frauen mit nicht beherrschbaren Wechseljahrsbeschwerden empfohlen werden und zwar in möglichst niedriger Dosis über den kürzesten Zeitraum. Bei Frauen nach operativer Gebärmutterentfernung können Östrogene allein verabreicht werden. Aufgrund der Studienlage der »Women’s Health Initiative – WHI« ist hier nicht mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko zu rechnen. Der Ausgleich eines zusätzlichen ausgeprägten Vitamin-D-Mangels (< 10–20 ng/ml) führt, möglicherweise über die Verminderung der Sturzrate, zu einer Senkung von proximalen Femurfrakturen. Für den aktiven Vitamin-D-Metaboliten Alfacalcidol ist bei bestimmten Untergruppen von älteren Frauen und Männern ebenfalls eine Verminderung der Sturzrate gezeigt worden (DVOLeitlinien 2006). Alendronat, Risedronat und Ibandronat (ab Herbst 2007 ist auch Zoledronat für die Osteoporosetherapie zugelassen) gehören zu der Gruppe der Bisphosphonate. Sie verhindern einen übermäßigen Knochenabbau, stärken aber auch den noch vorhandenen Knochen und gelten heute als Goldstandard (DVO-Leitlinien 2006). Allerdings können Bisphosphonate zu Nebenwirkungen wie Kopf- und Bauchschmerzen sowie zu Magen-DarmProblemen führen und somit die »Therapietreue« der Patienten in Einzelfällen herabsetzen. Ein Hypogonadismus ist altersabhängig und bei Älteren unter Beobachtung der Größe der Prostata zu substituieren. Östrogene in Kombination mit Gestagenen werden aufgrund der Studienlage bei Nutzen-Risiko-Abwägung (thrombotische Ereignisse und Mammakarzinomrisiko)
159 8.2 · Studienlage zu Risikofaktoren und zur Prävention von Osteoporose
nur bei nicht tolerablen Wechseljahrsbeschwerden, nicht aber zur Prävention der Osteoporose eingesetzt. Da Osteoporose eine chronische Erkrankung ist, sollte die Therapiedauer mindestens drei bis fünf Jahre betragen. Danach ist eine erneute Untersuchung des Patienten angezeigt. Die Basismaßnahmen und psychosoziale Betreuung sind lebenslang zu empfehlen. Die Schmerztherapie erfolgt individuell. Die klinische Entscheidung zur Therapiedauer ist abhängig vom Beschwerdebild, dem Verlauf der Knochendichte und vor allem vom Frakturrisiko.
Kanis JA, Johnell O, Oden A, Dawson A, De Laet C, Jonsson B (2001) Ten year probabilities of osteoporotic fractures according to BMD and diagnostic thresholds. Osteoporos Int 12:989–995 Kanis JA, Johnell O, Oden A, Borgstrom F, Zethraeus N, De Laet C, Jonsson B (2003) The risk and burden of vertebral fractures in Sweden. Osteoporos Int 15 (1):20–26 Kanis JA, Johansson H, Oden A et al. (2004) A family history of fracture and fracture risk: a meta-analysis. Bone 5:1029–1037 Schneider HPG (2003) Osteoporose – eine Volkskrankheit? Gynäkologe, 36:247-253 Tucker KL, Hannan MP, Kiel DP (2001) The acid-base hypothesis: diet and bone in the Framingham Osteoporosis Study. Eur J Nutr 40:231–237
8.1.7 Fazit
Studienlage zu Risikofaktoren und zur Prävention von Osteoporose
8.2
Das Ziel der Prävention und Therapie ist die Vermeidung von Osteoporose und von Knochenbrüchen. Das Erreichen dieses Zieles erfordert eine partnerschaftliche und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Patienten, Ärzten, verschiedenen Fachrichtungen und anderen Leistungsträgern des Gesundheitswesens. Eine korrekte Diagnostik und eine individuelle, Frakturrisiko adaptierte Empfehlung seitens der Ärzte sowie die Eigeninitiative der Betroffenen bei konsequenter Durchführung der Basismaßnahmen und Therapietreue ist unabdingbar. Literatur Alexy U, Remer T, Manz F, Neu CM, Schoenau E (2005) Long-term protein intake and dietary potential renal acid load are associated with bone modelling and remodelling at the proximal radius in healthy children. Am J Clin Nutr 82:1107–1114 Arnett T (2003) Regulation of bone cell function by acid-base balance. Proc Nutr Soc 62:511–520 BoneEVA-Studie – Pressekonferenz Iges-Institut, 14.2.2006 Berlin Bushinsky DA (1995) Stimulated osteoclastic and suppressed osteoblastic activity in metabolic but not respiratory acidosis. Am J Physiol 268:C80–C88 Cauley JA (2002) The determinants of fracture in men. J Musculoskelet Neuronal Interact 3:220–221 DVO-Leitlinien (2006) http://www.lutherhaus.de/dvo-leitlinien
Mareike Behmann, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Für die Forschung und Praxis wichtige Studien zu Osteoporose und ihrer Prävention werden in diesem Kapitel betrachtet. Im Mittelpunkt der zwei Kohorten-, zwei Querschnitts- und drei Interventionsstudien stehen verhaltensbedingte Risikofaktoren und präventive Ansätze. Zur Beschreibung der Studientypen siehe Kap. 5.4. Die vorgestellten Studien stellen lediglich eine Auswahl dar und sind chronologisch geordnet. Ausgewählt wurden Studien zu Risikofaktoren und zur präventiven Interventionen. Die internationalen und nationalen Studien sollten nachvollziehbar dokumentiert sein und eine möglichst große und qualifizierte Stichprobe beinhalten. Zudem sollten sie einen Zustand oder Unterschiede zwischen zwei Gruppen beschreiben oder das Ergebnis einer Intervention untersuchen. Nicht berücksichtigt werden Medikamentenstudien und Studien zur Therapie von Osteoporose.
⊡ Tabelle 8.2. Übersicht über ausgewählte Kohorten-, Querschnitts- und Interventionsstudien zu Osteoporose (in Klammern ist jeweils der untersuchte Zeitraum oder das Jahr der Publikation angegeben) Kohortenstudien
Querschnittsstudien
Interventionsstudien
Framingham Osteoporose-Studie: Effekte von Tabakkonsum auf die Knochenmineraldichte bei älteren Frauen und Männern (USA, 1948–1989) Rotterdam-Studie (Niederlande, 1990–1995)
Osteoporose Untersuchung im Rahmen der Rancho-BernardoStudie (USA, 1988–1991) Zusammenhang zwischen Vitamin- und Mineralienaufnahme und Knochenmineraldichte – Ergebnisse der Women’s Health Initiative (USA, 1993–1997)
Risiken und Nutzen von Östrogen plus Gestagen bei gesunden postmenopausalen Frauen – Ergebnisse der Women’s Health Initiative (WHI) (USA, 1993–1998) Einfluss von geringem Körpergewicht und Tabakkonsum auf Osteoporose im Zusammenhang mit einer Hormontherapie bei früh-postmenopausalen Frauen (Dänemark, 2000) Auswirkungen von Kalzium- und Vitamin-D-Supplementation auf das Frakturrisiko (USA, 1997–2005)
8
160
Kapitel 8 · Osteoporose
8.2.1 Studien zur Identifikation von Risiken
und Folgen
Schlussfolgerung für die Prävention
Beobachtungsstudien Infobox
I
I
Die Framingham Osteoporose Studie: Effekte von Tabakkonsum auf die Knochenmineraldichte bei älteren Frauen und Männern (USA, 1948–1989)
Rauchen wirkt sich negativ auf die Knochenmineraldichte aus. Ein zusätzlich erhöhtes Risiko weisen Raucherinnen, die Östrogene einnehmen, auf.
Literatur zum Thema Kiel DP, Zhang Y, Hannan MT, Anderson JJ, Baron JA, Felson DT (1996) The effect of smoking at different life stages on bone mineral density in elderly men and women. Osteoporos Int 6:240–248
Schwerpunkt Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und Knochenmineraldichte.
Ziel Untersuchung des Einflusses von Tabakkonsum auf Osteoporose.
Stichprobe
8
Teilstichprobe aus der 1948 beginnenden Framingham-Studie. 1164 Personen im Alter von 68 bis 98 Jahre, davon 448 Männer und 716 Frauen.
Studiendesign: Kohortenstudie
Infobox
I
I
Osteoporose Untersuchung im Rahmen der Rancho Bernardo Studie (USA, Kalifornien, 1988–1991) Schwerpunkt Auswirkungen von körperlicher Aktivität in der Freizeit auf Knochenmineraldichte und osteoporosebedingte Frakturen.
Ziel
Das Erhebungsinstrument setzt sich zusammen aus einer schriftlichen Befragung und einer medizinischen Untersuchung. Bei der Ein-Punkt-Erhebung werden die Knochenmineraldichte, der Rauchstatus zu verschiedenen Lebenszeitpunkten, Gewicht, Hormontherapie, Thiazideinnahme, körperliche Aktivität sowie Alkohol-/ Kaffee-/Tee- und Colakonsum erfasst. Die Teilnehmer werden eingeteilt in aktuelle und ehemalige Raucher sowie Nieraucher.
Untersuchung der Effekte von Bewegung auf Osteoporose und Frakturen.
Wesentliche Ergebnisse
Studiendesign: Querschnittsstudie
▬ Bei Frauen, die Östrogen einnehmen, ist die Kno-
Erhebungsinstrumente sind eine schriftliche Befragung, die im Rahmen einer Querschnittserhebung eingesetzt wird, und eine medizinischen Untersuchung. Erfasst wird der Alkohol- und Tabakkonsum, die Thiazid- und Östrogeneinnahme, eine ärztlich diagnostizierte Arthritis, aufgetretene Knochenfrakturen, die Knochenmineraldichte sowie der Body Mass Index. Darüber hinaus werden das gegenwärtige Bewegungsverhalten sowie die körperliche Aktivität in der Jugend und im Alter von 30 und 50 Jahren erhoben.
chenmineraldichte unter den Raucherinnen um 3,2 bis 16,8% niedriger als bei den Nichtraucherinnen. Männer, die zum Studienzeitpunkt rauchen, haben eine niedrigere Knochenmineraldichte als Männer, die nie geraucht haben. ▬ Tabakkonsum in den vorangegangenen zehn Jahren wirkt sich ebenso negativ auf die Knochenmineraldichte aus wie aktueller Tabakkonsum. Frauen, die in den vorangegangenen zehn Jahren geraucht und Östrogene eingenommen haben, haben eine niedrigere Knochenmineraldichte als Frauen, die keine Östrogene eingenommen und nicht geraucht haben. Ebenso weisen Männer, die bis zum 35. Lebensjahr 20 bis 29 Zigaretten am Tag geraucht haben, eine niedrigere Knochenmineraldichte auf als moderatere, Nicht- und Nieraucher. Zum Erhebungszeitpunkt rauchende und ehemalige Raucher weisen eine niedrigere Knochenmineraldichte auf als Nieraucher. ▼
Stichprobe Die Stichprobe umfasst 1703 in Gemeinschaft lebende über 50-jährige Personen aus einem bevölkerungsbezogenen Sample älterer Menschen in Kalifornien, USA. Die Stichprobe setzt sich zusammen aus 1014 Frauen und 689 Männern. Das Durchschnittsalter beträgt 73 Jahre.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Zwischen 1972 und 1991 treten 205 erste osteoporosebedingte Frakturen unter den 1703 Männern und Frauen auf. 35,1% (n = 72) sind Handgelenksfrakturen. Frauen erleiden 78% aller Frakturen. ▬ Es werden keine Effekte von körperlicher Aktivität in der Freizeit auf die Anzahl der Frakturen gefunden. ▼
161 8.2 · Studienlage zu Risikofaktoren und zur Prävention von Osteoporose
▬ Zusammenhänge zwischen osteoporosebedingten Frakturen und Geschlecht, Alter, Body Mass Index, Alkohol- und Tabakkonsum, Kalzium-, Thiazid- und Östrogeneinnahme werden nicht festgestellt. ▬ Frauen und Männer, die körperlich aktiv sind, verzeichnen eine höhere Knochendichte als diejenigen Personen, die sich weniger bewegen. Ebenso besteht ein schützender Effekt von aktueller und lebenslanger Bewegung auf die Knochenmineraldichte der Hüfte.
Schlussfolgerung für die Prävention Körperliche Aktivität beugt einer niedrigen Knochenmineraldichte vor.
die sie mindestens einmal im Monat im vergangenen Jahr konsumiert haben.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Die Prävalenz der Behinderung der unteren Extremitäten war generell bei Frauen höher.
▬ Osteoporose nimmt bis zur Altersgruppe der
▬ ▬
Literatur zum Thema
▬
Greendale GA, Barrett-Connor E, Edelstein S, Ingles S, Haile R (1995) Lifetime leisure exercise and osteoporosis. The Rancho Bernardo Study. Am J Epidemiol 141 (10):951–959
▬ ▬
Infobox
I
I
Die Rotterdam-Studie (Niederlande, Rotterdam, 1990–1995) Schwerpunkt Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Knochenschwund, Alter, Geschlecht und Risikofaktoren für Osteoporose.
Ziel
80-Jährigen zu, wobei die Zunahme bei den Männern deutlicher ist. Ab einem Alter von 80 Jahren steigt die Osteoporoserate nicht weiter an. Ein starker Trend kann zwischen Osteoporose und höherem Body Mass Index beobachtet werden. Bei Männern zeigt sich ein Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der unteren Extremitäten und Osteoporose. Kalziumeinnahme führt bei Männern tendenziell zu niedrigeren Osteoporoseraten. Tabakkonsum ist bei Männern und bei Frauen mit einer hohen Osteoporoserate verknüpft. Die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Osteoporose sind nicht überzeugend.
Schlussfolgerung für die Prävention Nichtrauchen und ein niedriger Body Mass Index beugen Osteoporose vor.
Literatur zum Thema Burger H, de Laet CEDH, van Daele PLA, Weel AEAM, Witteman JCM, Hofman A, Pols HAP (1998) Risk Factors for Increased Bone Loss in an Elderly Population. The Rotterdam Study. Am J Epidemiol 147 (9):871–879
Identifizierung von Risikofaktoren für Osteoporose.
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Stichprobe
Infobox
Die Stichprobe schließt 4308 über 55-jährige Einwohner Ommoords, Rotterdam, ein. Sie umfasst, 1856 Männer und 2452 Frauen.
Zusammenhang zwischen Vitamin- und Mineralienaufnahme und Knochenmineraldichte – Ergebnisse der Women’s Health Initiative (USA, 1993–1997)
Studiendesign: Kohortenstudie Erhebungsmethoden sind schriftliche Befragungen sowie ärztliche Untersuchungen. Die erste klinische Untersuchung findet im Zeitraum August 1990 bis Juni 1993, die zweite zwischen September 1993 und Dezember 1995 statt. Die klinischen Untersuchungen beinhalten die Erfassung der Knochenmineraldichte und des Body Mass Index. Bei der Baseline-Untersuchung wird ein Interview in der häuslichen Umgebung der Probanden durchgeführt. Während dieses Interviews werden die aufgetretenen Frakturen und die Funktionalität der unteren Extremitäten, Tabakkonsum, und die medizinische Behandlung erfasst. Die Teilnehmer erhalten außerdem eine Checkliste und werden gebeten, alle Lebensmittel und Getränke anzugeben,
Schwerpunkt
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Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Knochenmineraldichte und der Einnahme von Antioxidanzien über die Nahrung oder als Nahrungsergänzungsmittel.
Ziel Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Einnahme von Antioxidanzien und Knochenmineraldichte.
Stichprobe Die Stichprobe besteht aus einer Untergruppe von 50- bis 79-jährigen Frauen (n = 11.068) der Women’sHealth-Initiative-Studie, die in Kliniken in Pittsburgh (Pennsylvania), Birmingham (Alabama) und Tucson (Arizona) untersucht werden.
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162
Kapitel 8 · Osteoporose
8.2.2 Studien zu präventiven Maßnahmen Studiendesign: Querschnittsstudie Die Erhebung wird mittels Fragebogen und Interviews einmalig als Querschnittsbefragung durchgeführt. Erfasst werden soziodemographische Daten, der Body Mass Index, Verhaltensweisen wie Tabak-, Alkohol- und Kaffeekonsum, körperliche Aktivität sowie Anwendung einer Hormontherapie, die Einnahme von Vitaminen, Mineralien und Antioxidanzien über die Nahrung oder als Nahrungsergänzungsmittel. Das besondere Interesse gilt der Zufuhr an Energie, Fett, Proteinen, Magnesium, Kalzium und Vitamin D. Die Knochenmineraldichte wird mittels dualer Röntgenbildabsorptionsmessung gemessen. Zudem wird zur Ermittlung der Konzentration von Antioxidanzien ein Blutbild erstellt.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Es können teilweise Zusammenhänge zwischen
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Knochenmineraldichte und den erhobenen Variablen ermittelt werden. Ein signifikanter positiver Zusammenhang wird z. B. beobachtet zwischen der Nahrungsaufnahme von Vitamin A, Betakarotin, Retinol (Hauptvertreter des Vitamin A), Vitamin E, Selen und der Knochenmineraldichte des Oberschenkelhalses. Ebenso kann ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen der Zufuhr von Vitamin A, Retinol und Selen durch Nahrungsergänzungsmittel und der Knochenmineraldichte des Oberschenkelhalses festgestellt werden. Die Einnahme der Nahrungsergänzungsmittel Betakarotin, Vitamin C und Vitamin E senkt dagegen signifikant die Knochenmineraldichte. Die gefundenen Zusammenhänge liegen nur für die Knochenmineraldichte des Oberschenkelhalses vor. ▬ Vitamin C ist bekannt als Antioxidans, das schädliche Effekte von freien Radikalen sowie den Knochenabbau reduzieren kann. Es lässt sich jedoch lediglich ein förderlicher Effekt auf die Knochenmineraldichte bei Frauen beobachten, die Vitamin C kombiniert mit Hormonen einnehmen.
Interventionsstudien Infobox
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Risiken und Nutzen von Östrogen plus Gestagen bei gesunden postmenopausalen Frauen – Ergebnisse der Women’s Health Initiative (WHI) (USA, 1993–1998) Schwerpunkt Auswirkungen von Östrogen und Gestagen auf koronare Herzerkrankungen, Brustkrebs, Schlaganfall, Lungenembolie, Darmkrebs und Hüftfrakturen.
Ziel Abschätzung der Risiken und des Nutzens von Hormonpräparaten.
Stichprobe Die Stichprobe umfasst 16.608 50- bis 79-jährige postmenopausale Frauen aller ethnischen Gruppen in den USA.
Studiendesign: Interventionsstudie Die randomisierte kontrollierte Studie beinhaltet eine verblindete Einteilung der Frauen in eine Interventions- und eine Kontrollgruppe. Die Interventionsgruppe besteht aus 8506, die Kontrollgruppe aus 8102 Frauen. Vorgesehen ist eine 18-Punkt-Erhebung. Erhebungsinstrumente sind halbjährliche ärztliche Untersuchungen und schriftliche Befragungen über einen Zeitraum von 8,5 Jahren. Die Teilnehmerinnen werden sechs Wochen nach Beginn der Intervention das erste Mal kontaktiert. In Abständen von sechs Monaten über einen Zeitraum von fünf Jahren erfolgen Arztbesuche zur Kontrolle, bei denen Symptome erfasst werden, eine Beratung erfolgt und die Frauen einen standardisierten Fragebogen erhalten. Bei der Eingangsuntersuchung und drei Jahre später werden Elektrokardiogramme aufgenommen sowie Mammographien und Brustuntersuchungen durchgeführt.
Schlussfolgerung für die Prävention Bestimmte Nahrungsergänzungsmittel können zur Prävention der Osteoporose und des Erhalts der Knochenmineraldichte beitragen. Vitamin C in Kombination mit einer Hormontherapie senkt den Abbau der Knochenmineraldichte.
Intervention: Hormontherapie Die Interventionsgruppe erhält die tägliche Kombination der Hormone Östrogen und Gestagen, die Kontrollgruppe ein Plazebo.
Hinweis: Studienabbruch Literatur zum Thema Wolf RL, Cauley JA, Pettinger M, Jackson R, Lacroix A, Leboff MS, Lewis CE, Nevin MC, Simon JA, Stone KL, WactawskiWende J (2005) Lack of a relation between vitamin and mineral antioxidants and bone mineral density: results from the Women’s Health Initiative. Am J Clin Nutr 82:581–588
Die Evidenz eines erhöhten Risikos für Brustkrebs und die Zunahme von koronaren Herzerkrankungen, Schlaganfällen und Lungenembolien überwiegen den Nutzen der Verminderung von Frakturen und von Darmkrebs. Die Studie wird nach 5,2 Jahren aufgrund ▼
163 8.2 · Studienlage zu Risikofaktoren und zur Prävention von Osteoporose
der überwiegenden Nachteile der Hormontherapie vorzeitig abgebrochen.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Der systolische Blutdruck ist nach einem Jahr bei ▬
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▬
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den Östrogen/Gestagen einnehmenden Frauen höher und nimmt nach zwei Jahren weiter zu. Die Rate der Frauen, die kardiovaskuläre Herzerkrankungen erleiden, ist in der mit Östrogen/ Gestagen behandelten Gruppe um 29% höher als in der Plazebogruppe. Schlaganfallraten sind in der Interventionsgruppe um 41% höher. Frauen, die Östrogen/Gestagen einnehmen, haben zweimal höhere Raten an Venenthrombosen. Kardiovaskuläre Erkrankungen sind insgesamt in der Interventionsgruppe um 22% häufiger. Die invasive Brustkrebsrate in der Interventionsgruppe ist um 26% höher als in der Kontrollgruppe. Darmkrebs reduziert sich in der Interventionsgruppe um 37%. Östrogen- und Gestageneinnahme verringert osteoporotische Wirbel- und Hüftfrakturen bei einem Drittel der Interventionsgruppe verglichen mit der Plazebogruppe. Andere osteoporosebedingte Frakturen und Frakturen insgesamt nehmen um 24% ab. Die Unterschiede werden bereits nach kurzer Zeit deutlich. Die Inzidenz von Brustkrebs in der Interventionsgruppe steigt allerdings schneller an als in der Plazebogruppe. Es gibt Evidenz für ein steigendes Brustkrebsrisiko mit lang andauernder Östrogen- und Gestageneinnahme. Frauen in der Interventionsgruppe, die bereits vor der Studie Hormone eingenommen haben, verzeichnen höhere Gefährdungsquotienten für Brustkrebs gegenüber Frauen, die nie Hormone verabreicht bekamen. Östrogen und Gestagen gewähren keinen Nutzen in der Prävention von kardiovaskulären Herzkrankheiten bei Frauen. Das erhöhte Risiko für Schlaganfälle in der Interventionsgruppe ist im ersten Jahr nicht präsent, tritt aber im zweiten Jahr auf und verbleibt bis ins fünfte Jahr. Die Studie unterstützt den Nutzen von Östrogen und Gestagen bei Hüftfrakturen.
Schlussfolgerung für die Prävention
Literatur Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (2004) Konsensusempfehlungen zur Hormontherapie (HT) im Klimakterium und in der Postmenopause. Frauenarzt 45:620–630 Women’s Health Initiative Investigators (2002) Risks and benefits of estrogen plus progestin in healthy postmenopausal qomen, principle results from the Women’s Health Initiative Randomized Controlled Trial. JAMA 288 (3):321–333
Infobox
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Einfluss von geringem Körpergewicht und Tabakkonsum auf Osteoporose im Zusammenhang mit einer Hormontherapie bei früh-postmenopausalen Frauen (Ballerup, Dänemark, 2000; Datum der Publikation) Schwerpunkt Zusammenhang zwischen geringem Körpergewicht, Tabakkonsum, Hormontherapie und Osteoporose bei postmenopausalen Frauen.
Ziel Untersuchung der Auswirkungen von geringem Körpergewicht und Tabakkonsum auf Osteoporose.
Stichprobe Die Stichprobe schließt 153 48- bis 60-jährige Frauen in Dänemark ein, die sich seit ein bis sechs Jahren in der Menopause befinden.
Studiendesign: Interventionsstudie Randomisierte doppelblinde Studie mit vier Interventionsgruppen und einer Kontrollgruppe. Die Studie dauert drei Jahre. Mittels einer Vier-Punkt-Erhebung zur Baseline, nach einem, zwei und drei Jahren wird der Rauchstatus durch mündliche Befragung erfasst. Zudem werden der Body Mass Index, die Knochendichte und der Knochenabbau sowie die Hormonkonzentration gemessen.
Intervention Die vier Interventionsgruppen erhalten unterschiedliche Hormone: ▬ 2 mg Östrogen und 25 µg Gestagen (n = 55), ▬ 2 mg Östrogen und 50 µg Gestagen (n = 56), ▬ 1 mg Östrogen und 50 µg Gestagen (n = 56), ▬ 1 mg Östrogen durchgehend kombiniert mit 25 µg Gestagen (n = 55),
Östrogen alleine oder in Kombination mit Gestagen erhält die Knochenmineraldichte. Es trägt zur Prävention von Hüftfrakturen, vertebralen und anderen Frakturen bei. Diesem Vorteil steht das hohe Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Brustkrebs gegenüber. Die Einnahme von Östrogenen kann deshalb nicht bedenkenlos empfohlen werden.
Die Kontrollgruppe (n = 56) erhält ein Plazebo. Die Vergabe der Medikation erfolgt in 28-Tages-Zyklen,
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Kapitel 8 · Osteoporose
Infobox in den ersten drei Interventionsgruppen wird Gestagen in den Tagen 17 bis 28 zusätzlich verabreicht.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Frauen mit einem niedrigen Body Mass Index ▬ ▬
▬ ▬
8 ▬
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haben eine geringere Knochenmineraldichte. Die Knochenmineraldichte der Raucherinnen ist bei der Baseline-Untersuchung 4% niedriger als bei den Nichtraucherinnen. In der mit Östrogen behandelten Gruppe ist ein Anstieg der Serumkonzentration von Östrogen festzustellen, wobei Raucherinnen nur eine halb so hohe Serumkonzentration im Vergleich zu den Nichtraucherinnen aufweisen. Nichtraucherinnen sprechen schneller auf die Behandlung an als Raucherinnen. Die Raucherinnen der Gruppe, die mit 1 mg Östrogen behandelt werden, haben eine höhere FSH(follikelstimulierendes Hormon-)Konzentration als die Nichtraucherinnen. Nach drei Jahren wurde beobachtet, dass geringes Körpergewicht ein wichtiger Risikofaktor für eine niedrige Knochenmasse und eine niedrige Knochendichte bei postmenopausalen Frauen ist. Rauchen ist ebenso ein Risikofaktor für eine niedrige Knochenmasse und reduziert die Knochenmineraldichte bei der Behandlung mit 1 mg Östrogen. Frauen mit sehr niedrigem Body Mass Index zeigen eine um 14% niedrigere Knochenmineraldichte auf als Nichtraucherinnen mit hohem Body Mass Index und verlieren mit 1,6% mehr Knochenmineraldichte der Wirbelsäule pro Jahr als nichtrauchende Frauen mit hohem Body Mass Index mit 0,2%. Raucherinnen mit einem niedrigen Body Mass Index sollen mit einer höheren Dosis als 1 mg Östrogen behandelt werden, um Osteoporose vorzubeugen, wenn andere Risikofaktoren, bedingt durch diese höhere Dosis, ausgeschlossen werden können.
Schlussfolgerung für die Prävention Raucherinnen haben eine niedrige Östrogenkonzentration. Aufgrund der Ergebnisse der WHI-Studie sollten Östrogene zurückhaltend eingesetzt werden. Eine bessere Form der Prävention von Osteoporose ist Nichtrauchen.
Literatur zum Thema Bjarnason NH, Christiansen C (2000) The influence of thinness and smoking on bone loss and response to hormone replacement therapy in early postmenopausal women. J Clin Endocrinol Metab 85 (2):590–596
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Auswirkungen von Kalzium- und Vitamin-DSupplementation auf das Frakturrisiko (USA, 1997–2005) Schwerpunkt Zusammenhang zwischen Kalzium/Vitamin D und Knochendichte.
Ziel Untersuchung der präventiven Effekte von Kalzium und Vitamin D auf Frakturen.
Stichprobe Die Stichprobe besteht aus 36.282 50- bis 79-jährigen Frauen aus der Women’s-Health-Initiative-Studie. Das Durchschnittsalter der Teilnehmerinnen beträgt 62 Jahre. Die Teilnehmerinnen werden in drei Kliniken untersucht: Pittsburgh (Pennsylvania), Birmingham (Alabama) und Tucson (Arizona).
Studiendesign: Interventionsstudie Die Studie ist eine randomisierte, doppelblinde, plazebokontrollierte Untersuchung, beginnend 1997 über acht Jahre mit einer Interventions- und einer Kontrollgruppe. Die durchschnittlich mindestens acht Erhebungszeitpunkte finden während halbjährlichen bzw. jährlichen Klinikbesuchen und über telefonische Interviews statt. Risikofaktoren für Frakturen werden mit Hilfe von Interviews, Fragebögen und klinischen Untersuchungen erfasst. Bei einer Untergruppe von 2431 Frauen (1230 in der Interventions- und 1201 in der Plazebogruppe) werden duale Röntgenbildabsorptionsmessungen der Lendenwirbelsäule, der Hüfte und des gesamten Körpers durchgeführt. Die Knochenmineraldichte wird bei der dritten, sechsten und neunten klinischen Untersuchung gemessen.
Intervention Teilnehmerinnen für die vorliegende Studie werden eingeteilt in eine Interventions- (n = 18.176) und eine Kontrollgruppe (n = 18.106). Die Interventionsgruppe erhält täglich 1000 mg Kalziumkarbonat mit 400 IU Vitamin D, die Kontrollgruppe ein Plazebo.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Mehr als die Hälfte der Frauen (52%) nimmt Hormone. 76% haben die Medikation wie zu Beginn beibehalten. ▬ Die Kalzium und Vitamin D einnehmenden Frauen verfügen über eine höhere Knochenmineraldichte der Hüfte zu allen Zeitpunkten im Gegensatz zur Kontrollgruppe. ▼
165 8.2 · Studienlage zu Risikofaktoren und zur Prävention von Osteoporose
▬ Die Knochenmineraldichte steigt mit zunehmender Zeit in der Interventionsgruppe an. Innerhalb der sieben Jahre ereignen sich 2102 Frakturen in der Interventions- und 2158 in der Plazebogruppe. Frauen in der mit Vitamin D und Kalzium behandelten Gruppe haben 29% weniger Hüftfrakturen. Ältere Frauen haben ein größeres Frakturenrisiko als jüngere. Ein Zusammenhang zwischen Kalzium-/Vitamin-DEinnahme und Hormontherapie in Beziehung zu Hüftfrakturen besteht nicht. Ein Rückgang um 17% in der Inzidenz von Hüftfrakturen wird bei den mit Kalzium und Vitamin D behandelten Frauen beobachtet, die nie an einer Hormontherapie teilgenommen haben. ▬ Es gibt keine signifikante Reduktion der Frakturen. Ebenso ergibt die Dosis von Vitamin D keine Effekte auf die Reduzierung von Frakturen.
Schlussfolgerung für die Prävention Eine kombinierte Einnahme aus Vitamin D und Kalzium kann zur Prävention von Hüftfrakturen beitragen.
Literatur zum Thema Women’s Health Initiative Investigators (2006) Calcium plus vitamin D supplementation and the risk of fractures. N Engl J Med 354:669–683
8.2.3
tungsbefreiende Wirkung. Die AWMF hat 20 Leitlinien zur Osteoporose sowie 19 zur Hormontherapie veröffentlicht. Da medikamentöse Therapieoptionen zur Fraktursenkung bei der postmenopausalen Frau z. B. Östrogene sind, wird hier eine Auswahl von Leitlinien vorgestellt, die sowohl die Osteoporose als auch die Hormontherapie betreffen. Die Frage, ob sich Hormone zur Prävention von Osteoporose eignen, soll somit geklärt werden. Infobox
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Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Berufsverband der Frauenärzte Die DGGG hat im Jahr 2004 zusammen mit dem Berufsverband der Frauenärzte einen Konsens geschlossen und gemeinsame Empfehlungen zur Hormontherapie veröffentlicht. Den Anlass für die Formulierung der Konsensusempfehlungen gab die zuvor veröffentlichte Women’s-Health-Initiative-Studie. Nach den Empfehlungen muss eine Hormontherapie bezogen auf Osteoporose immer mit einer Nutzen-Risiko-Abwägung einhergehen und speziell auf die Patientin abgestimmt sein. Eine Hormontherapie eigne sich nur zur Prävention der Osteoporose, wenn die Therapie über einen langen Zeitraum erfolge. Die Langzeitanwendung sei jedoch mit potenziellen Risiken verbunden. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (2004) Konsensusempfehlungen zur Hormontherapie im Klimakterium und in der Postmenopause. Frauenarzt 45:620
Osteoporose Leitlinien
Die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben 1997 in ihrer gemeinsamen Stellungnahme »Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung« festgelegt, welche Qualitätsanforderungen die ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften an Leitlinien stellen, die sie in ihrem eigenen Verantwortungsbereich nutzen wollen. Diese Leitlinien für Leitlinien berücksichtigen die nationalen und internationalen Vorstellungen über die Charakteristika »guter« Leitlinien. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sollte so bei qualitativ hochwertigen Leitlinien unterstützt und bestärkt werden. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bat die AWMF 1995, die Entwicklung u. a. von Richtlinien und Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften voranzutreiben und zu koordinieren. Die wissenschaftlich begründeten Leitlinien für Diagnostik und Therapie sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie sind rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haf-
Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) Die AkdÄ veröffentlicht 2003, dass die Indikation zur Prävention oder Behandlung abhängig ist vom individuellen Osteoporoserisiko und sich nicht allein aus dem osteodensitometrischen Befund allein ergibt, sondern erst durch Einbeziehung weiterer anamnestischer und/oder klinischer Risikofaktoren. Die erforderliche Langzeitbehandlung von Frauen mit einem hohen Osteoporoserisiko erfordere eine besonders gründliche individuelle und gemeinsame Abwägung mit der Patientin auch hinsichtlich der Risiken und angesichts wirksamer Behandlungsalternativen. Aufgrund des Risikoprofils, insbesondere des kardiovaskulären und des Brustkrebsrisikos, aber auch nur der geringgradigen Frakturreduktion, könne eine Östrogen-Gestagen-Therapie nicht für die Indikation Osteoporoseprophylaxe empfohlen werden. Die AkdÄ kommt zu dem Schluss, dass auch bei kurzzeitiger Therapie Risiken auftreten können, die abgewogen werden müssen. ▼
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Kapitel 8 · Osteoporose
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2003) Handlungsleitlinie Hormontherapie. Aus: Empfehlungen zur Therapie mit Östrogenen/Östrogen-Gestagen-Kombinationen im Klimakterium. Arzneiverordnung in der Praxis, 1. Aufl. Sonderheft
Dachverband Deutschsprachiger Wissenschaftlicher Gesellschaften für Osteologie (DVO)
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Eine Verminderung der Wirbelkörperfrakturen durch eine Hormontherapie ist für einen Zeitraum von drei Jahren nachgewiesen, so der Dachverband 2006. Eine Kombinationstherapie mit Östrogenen und Gestagenen könne bei postmenopausalen Frauen mit hohem Frakturrisiko aufgrund des insgesamt gesehen jedoch ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses nur ausnahmsweise zur Frakturprävention empfohlen werden. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Östrogen-Monotherapie ist laut dem DVO ausgeglichen. Dennoch sollen die Therapiekonzepte nur unter sorgfältiger individueller Abwägung gemeinsam mit der Patientin eingesetzt werden. Dachverband Deutschsprachiger Wissenschaftlicher Gesellschaften für Osteologie (DVO) (2006) Evidenzbasierte Konsensus-Leitlinien zur Osteoporose. http://www.lutherhaus.de/dvo-leitlinien
International Osteoporosis Foundation (IOF) Die IOF verweist auf ihrer Homepage auf nationale Leitlinien der einzelnen Staaten. Die für Deutschland aufgeführten sind die der DVO (s. oben). http://www.iofbonehealth.org/health-professionals/nationalregional-guidelines/evidence-based-guidelines.html
U. S. Preventive Services Task Force (USPSTF) 2005 hat die USPSTF eine Empfehlung zur Hormontherapie zur Prävention chronischer Krankheiten veröffentlicht. Die Einnahme von Östrogenen und Progesteronen habe sowohl Vor- als auch Nachteile. Das Risiko für Frakturen und für ein kolorektales Karzinom wird reduziert, während sich das Risiko für koronare Herzkrankheiten möglicherweise erhöht. Das Risiko für Brustkrebs, Venenthrombosen, Schlaganfall, Cholezystitis, Demenz und Störungen der kognitiven Funktionen steigt. Eine Östrogentherapie bei postmenopausalen Frauen, die eine Hysterektomie hatten, senkt das Risiko für Frakturen. Das Risiko für Venenthrombosen, Schlaganfall, Demenz und Störungen der kognitiven Funktionen steigt. Die USPSTF kommt zu dem Schluss, dass die schädigenden Effekte der Östrogentherapie die Vorteile überwiegen. U. S. Preventive Services Task Force (2005) Hormone therapy for the prevention of chronic conditions in postmenopausal women: Recommendations from the U.S. Preventive Services Task Force. Ann Int Med 142:855–860 http://www.ahrq.gov/clinic/uspstf/uspspmho.htm
9 Stürze im Alter Jennifer Anders, Mareike Behmann, Ulrike Dapp, Ulla Walter
Das folgende Kapitel widmet sich dem Thema Sturzsyndrom. Gerade bei hochbetagten Menschen stellt dies ein hohes gesundheitliches Risiko mit zum Teil langfristigen gesundheitlichen Folgen da. Der erste Teil widmet sich den Grundlagen, Risikofaktoren und präventiven Ansätzen. Im zweiten Teil werden wesentliche Studien vertieft.
gen Einflüsse auf unsere Gangsicherheit und Mobilität im Alter auf. Daraus werden vorbeugende Maßnahmenbündel abgeleitet, die sich an unterschiedliche Zielgruppen innerhalb dieser wachsenden, breit gefächerten (heterogenen) Bevölkerungsgruppe ab dem 60. Lebensjahr richten (Walter 2001). Dargestellt werden exemplarisch vier von zahlreichen internationalen Projekten, die Konzepte zur Sturzprävention bereits in die Praxis umsetzen (WHO 2004a).
Sturzsyndrom älterer Menschen
9.1
9.1.1 Grundlagen
Jennifer Anders, Ulrike Dapp Stürze sind häufige Ereignisse in anfälligen (vulnerablen) Altersstufen des Menschen (Sattin 1992). Kritische Phasen sind dabei das erste Lebensjahr, in dem das Laufen erlernt wird, und die letzten Lebensjahre im höheren Alter. Unter den 65-jährigen und älteren Menschen stürzt etwa jeder Dritte einmal oder mehrmals pro Jahr. Zudem steigt das Risiko weiter mit zunehmendem Alter (Blake et al. 1988). Der Mensch ist trotz langer stammesgeschichtlicher Entwicklung mit seinem Bewegungsapparat nicht perfekt an den aufrechten bzw. zweifüßigen Gang angepasst. Der Preis für die Bewegungsfreiheit unserer Hände ist, übertrieben ausgedrückt, ein erhöhtes Sturzrisiko im Vergleich zu Vierfüßlern (Singer 1980; Kroker 1999). Während Kinder beim Fallen selten mehr als blaue Flecken davontragen und ihr Entdeckerdrang sie rasch zu neuen Taten anspornt, ist ein Sturz für ältere Erwachsene oft ein Ereignis mit weitreichenden Folgen. Dazu zählen: Ängste, Rückzug, Verletzungen, Verlust von Beweglichkeit oder Pflegebedürftigkeit bis hin zu tödlichen Verläufen (Chu et al. 2006). Dabei ist ein Sturz im höheren Alter selten auf eine Ursache allein zurückzuführen (Tinetti et al. 1996). Die nachstehenden Ausführungen zur Entstehung und zu Folgen von Sturzereignissen zeigen die vielfälti-
Zunächst stellt bereits die Definition eines Sturzes eine besondere Herausforderung dar. Gegenwärtig arbeiten mehrere internationale Forschergruppen an einheitlichen Systemen zur Definition, Dokumentation und Messung von Sturzereignissen, die dann erst genauere epidemiologische Angaben ermöglichen. Den folgenden Ausführungen liegt die weit gefasste Definition der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) zugrunde. Zum einen erfasst diese Definition auch Personen, die nicht gehfähig und z. B. durch einen Sturz aus Bett oder Rollstuhl auffällig geworden sind. Zum anderen wird hier das Sturzereignis losgelöst von etwaigen Sturzfolgen bestimmt, wodurch eine frühe Erkennung und Prävention erleichtert wird: »...ein unfreiwilliges, plötzliches, unkontrolliertes Herunterfallen oder -gleiten des Körpers auf eine tiefere Ebene aus dem Stehen, Sitzen oder Liegen – auch, wenn das Fallen durch äußere Umstände verhindert wurde (z. B. Auffangen durch eine andere Person) und unabhängig von den Folgen ...«. (DEGAM 2004). Sowohl unter medizinischem Fachpersonal als auch unter älteren Menschen selbst werden Sturzereignisse ohne ernste Verletzungsfolgen aus unterschiedlichen Gründen oft bagatellisiert, sodass sekundärpräventive Maßnahmen versäumt oder zu spät eingeleitet werden (Zecevic et al. 2006). Selbst wenn infolge eines Sturzes
168
Kapitel 9 · Stürze im Alter
Verletzungen wie Frakturen der Extremitäten aufgetreten sind, werden nach der fachgerechten, monodisziplinären wie orthopädischen oder chirurgischen Therapie Maßnahmen zur Abklärung respektive Behandlung der Sturzursachen häufig vernachlässigt, denn diese verlangen zumeist eine multidimensionale Herangehensweise (Donaldson et al. 2005). Multidimensionale Herangehensweisen beziehen verschiedene Bereiche mit ein, wie die Behandlung von Sturzangst im psychischen oder den Aufbau von stützender Muskulatur im körperlichen Bereich. In welcher Kombination und in welcher Form diese multidimensionalen Maßnahmen umgesetzt werden, richtet sich nach den individuellen Problemen und Ressourcen des einzelnen Betroffenen.
9.1.2 Entstehung des Sturzsyndroms
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Unter einem Syndrom wird eine Gruppe von Krankheitszeichen verstanden, die für ein bestimmtes Krankheitsbild meist uneinheitlicher Entstehungsweise (Ätiologie), aber nachvollziehbarer Pathogenese charakterisiert sind (Pschyrembel 1994). Da sich bei älteren Menschen eine Sturzgefährdung unterschiedlich und oft unbemerkt über einen längeren Zeitraum entwickelt, ist es angebracht, von einem Sturzsyndrom im höheren Lebensalter zu sprechen (Wagner et al. 1994). Bei mehr als drei Risikofaktoren wie Hörminderung, Balancestörung und neurologischer Erkrankung steigt das Sturzrisiko exponentiell an (Goetz 2000; ⊡ Abb. 9.1). Nur ein geringer Anteil der Stürze älterer Menschen beruht auf äußeren (extrinsischen) Einflüssen wie z. B. der Gewalteinwirkung durch Kraftfahrzeuge oder Personen. Hinzu kommen selten monokausale, innere (intrinsische) Auslöser von Stürzen wie Orthostasestörungen (Störungen der Regulation des Blutdrucks mit und ohne Bewusstseinsverlust) oder eine kardiale Synkope (kurzer Bewusstseinsverlust; Sahni et al. 2005). In diesem Zusammenhang können auch Medikamente mit blutdruckregulierender oder das Nervensystem beeinflussender Wir-
⊡ Abb. 9.1. Risikofaktoren und prädisponierende Wechselwirkungen für Stürze im Alter (eigene Darstellung frei nach Inhalten der American Geriatrics Society 2001)
kung die Sturzgefahr erhöhen (Cumming 1998; Van der Velde et al. 2007). Die überwiegende Mehrheit von Stürzen im Alter beruht auf einer oder mehrfacher Störungen des Bewegungsapparates und damit der Störung der Fähigkeit zur selbstständigen Fortbewegung – zusammengefasst unter Störungen des lokomotorischen Systems. Lokomotorische Störungen erhöhen die Anfälligkeit für äußere Herausforderungen (Stressoren), sodass geringfügige Barrieren wie Teppichkanten oder Bordsteine in Situationen geteilter Aufmerksamkeit (sog. »multi-tasking«) zu Anlässen für Sturzereignisse werden können, ohne dass die eigentlichen Ursachen offenbar werden (Hirsch 2004). Typischerweise werden solche Sturzereignisse dem Hausarzt oder Umfeld nicht spontan berichtet, sondern sogar auf aktives Nachfragen heruntergespielt: »Gestürzt? Nein, draußen passe ich auf und bleibe bei Glatteis im Haus. Neulich bin ich drinnen einmal gestolpert, irgendwie am Teppich hängen geblieben; als ich rasch zum Herd wollte, weil der Topf überkochte. Passiert ist aber nichts weiter ...«. An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Entfernung von Barrieren oder Stolperfallen allein wenig effektiv zur weiteren Vorbeugung von Stürzen ist (Nikolaus u. Bach 2003). Erfolgversprechend ist vor allem eine proaktive Förderung der lokomotorischen Fähigkeiten in Kombination mit einer Ausräumung von Gefahrenquellen (Hindernisse im Wohnumfeld oder anderweitige Risikoquellen wie z. B. unverträgliche Medikamente). Als Merksatz dazu kann gelten: »Unsicher ist das Gehen, sicher ist der nächste Stolperstein.« Störungen des lokomotorischen Systems können bereits im jugendlichen Alter durch spezifische Erkrankungen oder einen Mangel an körperlicher Aktivität einsetzen. Vorrangig beteiligt sind an lokomotorischen Störungen, und damit an einer Gangunsicherheit im Alter, Risikofaktoren oder Erkrankungen, die das Gleichgewicht, die Beweglichkeit, die Reaktionsfähigkeit oder die Orientierung sowie kognitive Planung und Sinnesleistungen wie Hören und Sehen beeinträchtigen. Kurz: Es werden beim Gehen alle Fähigkeiten beansprucht, die für das Gleichgewicht bzw. die Kontrolle über die aufrechte Haltung (posturale
Geringe körperl. Aktivität
Muskelabbau
Frailty
Pflegebedürftigkeit
Sehbehinderung
Sturzangst
Gangstörung
Hilfsmittelgebrauch
Schwindel
Balancestörung
STURZ
Kognitive Störung
Gelenkerkrankungen
Bewegungsverlust
Schmerzen
Depressionen
Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Orthostase-Störung
Nebenwirkungen von Medikamenten
169 9.1 · Sturzsyndrom älterer Menschen
Kontrolle) benötigt werden (American Geriatrics Society 2001; ⊡ Abb. 9.1). Dabei neigen Patienten mit Sturzneigung oder mit bestimmten Erkrankungen wie Gelenkschmerzen infolge einer Arthrose (Verschleiß) oder Schwindel (z. B. Morbus Menière) dazu, ihre körperliche Aktivität und ihren Bewegungsradius auf ein Minimum einzuschränken. Der Angst vor Stürzen kommt in diesem Prozess eine entscheidende und frühe Rolle zu (Howland 1998). Dadurch beschleunigt sich der körperliche Abbau dramatisch und es kann zu einer Kumulation von Risikofaktoren mit einer Einschränkung der Mobilität und Bedrohung der Fähigkeit zur Selbsthilfe kommen. Diese Anhäufung von Risikofaktoren eines krankhaft beschleunigten funktionellen Abbaus im Alter wird auch »Frailty-Syndrom« genannt (engl. »frail«: gebrechlich). Kennzeichen sind u. a. körperliche Inaktivität, langsame Gehgeschwindigkeit, Schwäche z. B. der Handkraft, schnelle Erschöpfung sowie ein (ungewollter) Gewichtsverlust (Fried et al. 2001). Personen mit drei oder mehr Kennzeichen des »Frailty-Syndroms« zeigen alle Mobilitätseinschränkungen und oft gleichzeitig eine hohe Sturzgefährdung (Hamerman 1999).
9.1.3 Vorbeugung und Behandlung
des Sturzsyndroms Um erfolgreich Strategien zur Vorbeugung von Stürzen oder Wiederherstellung der Gangsicherheit anwenden zu können, müssen zuvor – mittels der Situation und dem Setting angepassten Filtermechanismen und -instrumenten – geeignete Zielgruppen definiert werden. Dieser Vorgang wird als Screening bezeichnet. Während in gut beschriebenen Bereichen wie Krankenhäusern Instrumente und Handlungsanweisungen zum Sturz-Screening, d. h. zur Bestimmung weniger oder deutlich sturzgefährdeter Patienten zur Verfügung stehen, befinden sich diese für den ambulanten Bereich noch in der Entwicklung. Bei älteren Personen mit beginnendem oder vollständigem Verlust körperlicher Funktionen ist von einer Kumulation von Sturzrisikofaktoren in mehreren unterschiedlichen Bereichen auszugehen, sodass dann eine Planung vorbeugender oder therapeutisch-rehabilitativer Interventionen im Sinne eines geriatrischen Assessments notwendig wird: »[Geriatrisches Assessment ist eine]... multidisziplinäre Evaluation, in der die multiplen Probleme älterer Menschen aufgedeckt, beschrieben und wenn möglich erklärt werden. In dieser Evaluation werden die Ressourcen und Kräfte der Menschen katalogisiert, der Bedarf für Unterstützung ermittelt und ein koordinierter Behandlungs- und Pflegeplan entwickelt, um gezielt bei den Problemen des Menschen intervenieren zu können« (National Consensus Conference on Geriatric Assessment Methods for Clinical Decision-making von 1987, vgl. das Kapitel »Assessment« in von Renteln-Kruse 2004).
9.1.4 Screening zur Erkennung von
Risikofaktoren und Patienten Es gibt eine große Auswahl an theoretischen Studien und Praxisprogrammen mit und ohne wissenschaftliche Begleitung zum weiten Themenkomplex von Stürzen und deren Prävention im Alter. Als ein Beispiel für verschiedene, vorzugsweise multimodale Ansätze sei auf die entsprechenden Leitlinien und die Homepage des Center for Disease Control and Prevention zu ganzheitlichen Programmen der U.S. Regierung zur Sturzprävention hingewiesen (Center for Disease Control and Prevention 2001). Wirksame Konzepte zur Sturzprävention berücksichtigen v. a. intrinsische und weniger extrinsische Risikofaktoren. Im Bereich der Gesundheitsförderung wird auf kommunaler Ebene die Implementierung eines interdisziplinären, multidimensionalen Screenings der noch selbstständig lebenden älteren Menschen mit entsprechender Intervention für unauffällige und auffällige Personen (Risikofaktoren, Sturz) empfohlen (American Geriatrics Society 2001; Rubenstein 2006). ⊡ Abbildung 7.2 verdeutlicht das Ideal zielgruppenspezifischer, kommunal integrierter Sturzpräventionsprogramme im ambulanten und stationären Versorgungsbereich. Über die praktische Umsetzung und Evaluation in verschiedenen Settingansätzen berichtet der Abschnitt zu wissenschaftlich begleiteten Praxismodellen zur Prävention von Sturzgefahr und Stürzen. Um gezielt und erfolgreich sowohl die Ursachen von Stürzen auszuräumen als auch bereits gestürzte Patienten angemessen zu versorgen und zu rehabilitieren, ist es notwendig, unterschiedliche Zielgruppen in der heterogenen Bevölkerungsgruppe »60 plus« zu bestimmen. Ambulanter Versorgungsbereich
Zunächst ist es vorstellbar, aber noch selten erprobt (vgl. Abschnitt 9.1.6), noch selbstständig lebende ältere Menschen durch einfache Fragen oder Testuntersuchungen im Sinne eines populationsbasierten Screenings in robuste, nicht sturzgefährdete sowie gebrechliche, sturzgefährdete oder gar bereits gestürzte Personen zu unterteilen (McClure et al. 2005). ▬ Zielgruppe I: Robuste, selbstständig Lebende ohne hohes Sturzrisiko
Maßnahmen: multidimensionale gesundheitsfördernde und primärpräventive Maßnahmen mit individueller Anpassung im Sinne eines präventiven Assessments. In der älteren Bevölkerung mittels eines Screenings (z. B. über den Fragebogen Sturz-Risikocheck©, vgl. Anders et al. 2006) identifizierte Personen ohne messbare Anzeichen einer Sturzgefahr sollten aktiven Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Primärprävention zugeführt werden, wobei die Hilfe zu mehr Eigenverantwortung (Empowerment) sowie Trainingsangebote zur Förderung von Balance und
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Kapitel 9 · Stürze im Alter
Kraft wie das chinesische Tai Chi im Vordergrund stehen (Nied u. Franklin 2002).
▬ Zielgruppe IV: Bewohner mit Sturzgefahr in Pflege-
▬ Zielgruppe II: Gebrechliche (»frail«), selbstständig
Maßnahmen: multidimensionale tertiärpräventive Maßnahmen in Pflegeheimen mit individueller Anpassung im Sinne eines fachpflegerischen Assessments. Entsprechende Skalen und Maßnahmenbündel zur Sturzprävention werden auch in Pflegeeinrichtungen angewandt. Allerdings sind palliative Zielsetzungen und passiv-schützende Interventionen wie Hüftschutzhosen weiter verbreitet als aktivierende oder rehabilitierende Angebote. Die Implementierung aktivierender Angebote ist abhängig von der fachlichen Einschätzung der jeweiligen Bewohnerstruktur durch die behandelnden Ärzte und das fachlich qualifizierte Pflegepersonal – z. B. der kognitiven Fähigkeiten und medizinischer Prognose. So kann bei demenziell Erkrankten die Bewegungsfreiheit und Lebensqualität Vorrang vor lebensverlängernden oder sturzpräventiven Maßnahmen haben (Oliver et al. 2006). Untersuchungen der letzten Jahre haben allerdings belegt, dass auch bei pflegebedürftigen Personen durch multidimensionale, pro-aktive Interventionen noch eine Förderung von Mobilität und Wohlbefinden möglich ist (vgl. Abschnitt 9.1.6).
Lebende mit hohem Sturzrisiko
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Maßnahmen: multidimensionale sekundär- bis tertiärpräventive Maßnahmen mit individueller Anpassung im Sinne eines präventiven Assessments. Noch selbstständig lebende Personen mit frühzeitig mittels eines Screenings (z. B. über den Fragebogen Sturz-Risikocheck©, vgl. Anders et al. 2006) erkannter und messbarer Sturzgefährdung oder zunehmender Gebrechlichkeit (»frailty«) sollten individuell angepasste Maßnahmen der Sekundär- oder Tertiärprävention erhalten (Chang et al. 2004; ⊡ Abb. 9.2 und ⊡ Tabelle 9.1). Weiter gehören Fragen nach Sturzängsten, Einschränkungen der Mobilität oder bereits erfolgten Stürzen zu den Pflichtbestandteilen einer Anamneseerhebung bei älteren Patienten, wenn diese ärztlichen Rat in der Arztpraxis oder Notaufnahme suchen (Weigand u. Gerson 2001). Bislang fehlen im ambulanten Versorgungsbereich für Personen dieser noch schlecht beschriebenen Zielgruppe II sowohl geeignete Instrumente für die gesünderen Älteren zur vorausschauenden Präventionsplanung als auch definierte Rahmenbedingungen für eine bevölkerungsweite Erfassung, Abklärung und anschließende Angebote zur Sturzprävention.
einrichtungen
9.1.5 Assessment zur multidimensionalen Stationärer Versorgungsbereich
Im Gegensatz zum ambulanten sind im stationären Bereich (Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen) Strukturen und Prozesse zur Verbesserung der Patientensicherheit und Versorgungsqualität bereits vorhanden. ▬ Zielgruppe III: Patienten mit Sturzgefahr in Kliniken Maßnahmen: multidimensionale tertiärpräventive Maßnahmen in Kliniken mit individueller Anpassung im Sinne eines geriatrischen Assessments. In vielen Kliniken wird ein Screening von Patienten nach der Aufnahme zu Risiken wie Sturzgefährdung, Mangelernährung oder Dekubitus bereits erfolgreich eingesetzt (Oliver et al. 1997). Für diesen Versorgungsbereich sind auch mehrere validierte Skalen zur Sturzrisikoerfassung und Handlungsanleitungen bekannt, die aufgrund von Ceiling-Effekten bei anderen Zielgruppen allerdings zur Gesundheitsförderung und Primärprävention im ambulanten Bereich nicht angewandt werden können. Unter Ceiling-Effekt (Decken-Effekt) wird das Phänomen beschrieben, dass trotz Zunahme von zu messenden Faktoren aufgrund unpassender Messverfahren keine Effekte nachgewiesen werden können. So würde z. B. bei weitgehend gesunden Personen aus der Zielgruppe II mit klinischen Skalen zum Sturzrisiko von kranken, teilmobilen Patienten keine Gefährdung nachgewiesen, obwohl bereits (prä)klinische Probleme wie Balancestörungen vorliegen.
Abklärung und Behandlungsplanung Nach der groben Voruntersuchung aller älteren Personen (Screening der Zielgruppen I–IV) sollten weiterführende diagnostische Untersuchungen bei bereits gestürzten Personen oder denjenigen mit erhöhter Sturzgefahr erfolgen. Diese erlauben es, Probleme, gesundheitliche Reserven, persönliche Ziele und die Prognose der betroffenen Personen in einen individuellen Präventions- oder Behandlungsplan bzw. eine Pflegeplanung zu übersetzen. Dieser Prozess wird (geriatrisches) Assessment genannt. Da sowohl Stürzen im Alter als auch dem Frailty-Syndrom komplexe Wirkgefüge zugrunde liegen (vgl. ⊡ Abb. 9.1), ist bei allen Zielgruppen eine multidimensionale Herangehensweise in Diagnostik und Therapie unerlässlich (Goetz 2000). Personen mit erhöhter Sturzneigung oder Gebrechlichkeit sind von Verletzungen und funktionellen Verlusten stark bedroht und erfüllen damit alle wesentlichen Kriterien geriatrischer Patienten (Deutsche Gesellschaft für Geriatrie 2007). Nach einer Anamnese zu Sturzangst, möglichen Stürzen und näherem Sturzhergang sind daher auch Fragen und Untersuchungen zu Mobilität, Selbsthilfestatus, Vorerkrankungen, Medikamentengebrauch, Schmerzen, Psyche und sozialem Umfeld sowie dem Ernährungszustand erforderlich (Perell et al. 2001). Eine evidenzbasierte und praktikable Anregung zur Umsetzung eines Assessments bei älteren Sturzpatienten bietet u. a. eine deutschsprachige
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9.1 · Sturzsyndrom älterer Menschen
Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM 2004; Moreland et al. 2003).
9.1.6 Praxismodelle zur Prävention
von Sturzgefahr und Stürzen Zur Sturzprävention bzw. zur Verminderung von sturzbedingten Verletzungen im Alter werden vier Praxisprojekte aufgeführt, die jeweils ihren Fokus auf eine der vier oben beschriebenen Zielgruppen legen (⊡ Abb. 9.2). Zielgruppe I – Robuste, selbstständig Lebende ohne hohes Sturzrisiko: das Projekt »Aktive Gesundheitsförderung im Alter«
Das Programm »Aktive Gesundheitsförderung im Alter« ist eine Investition in die gesundheitlichen Ressourcen selbstständig lebender älterer Menschen, die keine Pflege
im Alltag benötigen. Der Schwerpunkt dieser gesundheitsfördernden und primärpräventiven Maßnahme liegt auf der aktiven Investition und dem Ausbau der gesundheitlichen Ressourcen und damit einer besseren Gangsicherheit im Alter (vgl. ⊡ Abb. 9.1). Diese Klientel ist geistig, körperlich und sozial mobil genug, um an einer halbtägigen Beratungsveranstaltung an einem geriatrischen Zentrum teilzunehmen (Komm-Struktur). Beraten wird durch ein interdisziplinäres Team von Gesundheitsberatern aus der Geriatrie unter ärztlicher Leitung in den drei Gesundheitsbereichen körperliche Aktivität (Physiotherapeut), Ernährung (Ökotrophologe) und psychosoziales Wohlbefinden im Alter (Sozialpädagoge). Diese drei Bereiche wurden ausgewählt, da sie primär der Eigenverantwortung unterliegen und sich gegenseitig verstärken können sowie die individuelle Gesundheit und damit auch die Prävention von eventuellen Stürzen maßgeblich beeinflussen.
Heterogene Bevölkerung 60+ Ambulanter Versorgungsbereich
Stationärer Versorgungsbereich
Heterogene Bevölkerung 60+ selbständig lebend
Screening wie Sturz-Risikocheck (Anders et al. 2006) via kommunale Settings wie Seniorentreffs
I robuste Personen 60+ ohne hohes Sturzrisiko selbständig lebend
Primärprävention Gesundheitsförderung („Empowerment“)
Funktionelle Verluste
Heterogene Bevölkerung 60+ Institutionalisierung
Screening wie STRATIFY (Oliver et al. 1997)
via Multiplikatoren wie Hausarztpraxen
Medizin. Versorgung Klinken, Notaufnahmen
Pfleger. Versorgung Pflegeeinrichtungen
II (frail) Personen 60+ mit hohem Sturzrisiko selbständig lebend
III Patienten mit Sturzgefahr in Klinken, Notaufnahmen
IV Bewohner mit Sturzgefahr in Pflegeeinrichtungen
Sekundärprävention (ärztliche Abklärung und definierte Trainingsangebote)
Tertiärprävention (geriatrische Abklärung und Rehabilitation, Schutzmaßnahmen)
⊡ Abb. 9.2. Ideale Vernetzung zielgruppenspezifischer, kommunal integrierter Sturzpräventionsprogramme
Tertiärprävention/ Palliation (Schutzmaßnahmen, aktivierende Pflege)
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Kapitel 9 · Stürze im Alter
Die Förderung von Eigenverantwortung und gesundem Verhalten erfolgt in dynamisierenden Kleingruppen nach einer speziellen Didaktik (verhaltensorientierter Ansatz; Blais 2004; Wetzels et al. 2007). Eingesetzt werden im Sinne eines präventiven Assessments u. a. standardisierte, validierte Instrumente und Informationsmaterialien. Zur nachhaltigen Förderung der Gesundheit dienen individuelle Empfehlungen und wohnortnahe, weiterführende Angebote, z. B. Sport- und Freizeitvereine in einem gesundheitsfördernden Netzwerk (verhältnisorientierter Ansatz). Durch dieses Vorgehen können die multidimensionalen Maßnahmen effektiv durch das interdisziplinär arbeitende Gesundheitsberater-Team koordiniert werden (multidimensionaler Ansatz). Bezüglich der Sturzprävention werden beispielsweise in der Kleingruppe zur körperlichen Aktivität individuelle Trainingsdefizite gemeinsam mit dem Physiotherapeuten aufgedeckt, indem jede durchgeführte körperliche Aktivität immer gezielt nach den Bewegungsqualitäten wie Balance, Koordination und Kraft aufgeschlüsselt wird. Erst darauf basierend können und werden entsprechende Trainingsangebote abgeleitet. In der Interaktion zwischen dem Gesundheitsberater und den Teilnehmern kommt es dabei zu inhaltlich und psychologisch sich gegenseitig verstärkenden, so genannten dynamisierenden Effekten (Meier-Baumgartner et al. 2006; Dapp et al. 2005). Das Programm »Aktive Gesundheitsförderung im Alter« wurde wissenschaftlich begleitet und zeigte in der Interventionsgruppe nachhaltige positive Verhaltensänderungen nach sechs Monaten sowie signifikant bessere Lebensstile im Einjahresvergleich mit der kontrolliert randomisierten Vergleichsgruppe. Nach dem Wirksamkeitsnachweis wurde das Programm 2003 geöffnet. Seit 2005 beteiligen sich die gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der Prävention nach § 20 SGB V – Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – an den Kosten der Maßnahme. Der ganzheitliche Ansatz, in dem Gesundheit für ein positives Konzept steht, das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten sowie das psychologische Konzept zur Verhaltensänderung, ist wahrscheinlich ausschlaggebend für die nachhaltigen Effekte des Programms. Das Projekt wurde mit dem Innovationspreis der Kaufmännischen Krankenkasse (2003), den Parkwohnstiftpreis für Gerontologie (2005) und den Deutschen Präventionspreis (2005) ausgezeichnet. Zielgruppe II – Gebrechliche (»frail«), selbstständig Lebende mit hohem Sturzrisiko: das Projekt »Sind Sie SICHER, dass Sie (GANG)SICHER sind?«
Die Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz (BSG) der Stadt Hamburg hat sich zum Ziel gesetzt, die Angebote zur Sturzprävention für ältere Menschen auszuweiten und besser zu vernetzen. Hier-
für wurde die Arbeitsgruppe (AG) »Sturzprävention im Alter« eingerichtet, in die Einrichtungen ihre vielfältigen Kompetenzen interdisziplinär einbringen, wie das Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie (geriatrische und wissenschaftliche Kompetenz), Barrierefrei Leben e. V. (Wohnraumanpassung), Hamburger Sportbund (Trainingsangebote), Hospital zum heiligen Geist (Betreutes Wohnen), Landesseniorenbeirat (Interessenvertretung alter Menschen), Paritätischer Wohlfahrtsverband und Seniorenbildung Hamburg e. V. (offene Seniorenarbeit). Die Angebote der Arbeitsgruppe richten sich zum einen an Professionelle und Laien (Multiplikatoren) und zum anderen direkt an selbstständig lebende alte Menschen in einer Komm-Struktur. Der Aufbau einer Bring-Struktur, wie der so genannte »Präventive Hausbesuch«, wurde in diesem Zusammenhang verworfen. Eine stadtweite Implementierung schien aufgrund des hohen zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwandes sowie fehlender Rahmenbedingungen nicht umsetzbar. Im Rahmen der Arbeit der AG »Sturzprävention im Alter« wurde ein Selbstausfüllerinstrument, der Sturz-Risikocheck©, zur Erfassung der relativen Sturzgefährdung bei noch selbstständig lebenden, älteren Bürgern entwickelt, da bisher vorliegende Instrumente zur Erkennung der Sturzgefährdung sich nicht auf diese mobile Zielgruppe beziehen. Wenn überhaupt, so wird für gebrechliche oder bereits gestürzte Patienten die Durchführung eines hausärztlichen geriatrischen Basis-Assessments nach dem neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) vorgeschlagen. Dieses ist allerdings recht zeitintensiv und erfordert Vorkenntnisse sowie ein aktives Erkennen sturzgefährdeter Personen. Zur Entwicklung des Instruments wurden ausgehend von einer systematischen Literaturrecherche Risikofaktoren für Stürze identifiziert. Die Risikofaktoren, die einem präventiven Ansatz zugänglich sind, wurden zunächst in einem neuartigen Screening – dem »Sturz-Risikocheck« – zusammengefasst. Dazu gehören: körperliche Aktivität, Herzerkrankungen, Seh- oder Hörstörung, Multimedikation, Gleichgewichtsstörung, Sturzangst, Kraftmangel oder Ernährung (v. a. Mangelernährung). Risikofaktoren, die eng mit Pflegebedürftigkeit im Alter assoziiert sind, wie demenzielle Erkrankungen, wurden nicht weiter berücksichtigt, da diese in anderen Zielgruppen vorherrschen und einer Erfassung mittels Selbsteinschätzung schwer zugänglich sind. Das so zusammengestellte Instrument wurde anschließend in einer Pilottestung mit 117 Bewohnern einer Hamburger Einrichtung für Betreutes Wohnen ohne Pflegebedürftigkeit überprüft. Alle Angaben wurden zur Überprüfung der Plausibilität und Reliabilität des Instruments in einem Telefonat durch eine in der Forschungsarbeit
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erfahrene Pflegekraft verifiziert (Anders et al. 2006). Aktuell wird die Validität des Sturz-Risikochecks u. a. mittels Performance-Untersuchungen sowie computergestützten Ganganalysen (GaitRite®-System) im Albertinen-Haus überprüft. Wichtig ist, dass das Screening nicht isoliert betrachtet wird, sondern begleitende Maßnahmen im Gesundheitsnetzwerk für selbstständig lebende Senioren greifen. Weitere Informationen zu Aktivitäten der AG »Sturzprävention im Alter« finden sich unter http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/bsg/gesundheit/ gesundheitsfoerderung-und-vorsorge/alte-menschen/ sturzpraevention.html. So wurde die Etablierung des
Sturz-Risikochecks in Hamburg begleitet von Schulungen für Multiplikatoren, die im Hamburger Netzwerk mit Senioren arbeiten. Die Nachhaltigkeit wird gesichert durch Fortbildungsveranstaltungen an der Ärztekammer für niedergelassene Ärzte, die Abgabe von schriftlichen Empfehlungen zur Sturzprävention und das Angebot von speziellen Bewegungseinheiten zur Sturzprävention für Senioren in Hamburger Sportvereinen durch dafür fortgebildete Trainer. Zielgruppe III – Patienten mit Sturzgefahr in Kliniken: das Projekt »MOBilité et de l’EQuilibre« – MOBEQ«
Viele Programme zur Sturzprävention im Krankenhaus konzentrieren sich auf die Optimierung validierter Maßnahmen der Dokumentation, Evaluation und interdisziplinärer Intervention (Renteln-Kruse u. Krause 2007). Darüber hinausgehend werden im Programm MOBEQ Gangbild und Gangsicherheit technisch untersucht und Trainingstherapien entsprechend durchgeführt. Im Erwachsenenalter ist das Gehen eine regelmäßige, motorische Aktivität, die weitgehend von subkortikalen Hirnregionen unbewusst und damit weitgehend automatisch kontrolliert wird. Bei Betagten erfordert dieser Vorgang vermehrte Aufmerksamkeit. Dies hat einen direkten Einfluss auf diverse Gangparameter wie die Schritt-zuSchritt-Variabilität. Im Design von Sturzpräventionsinterventionen, die eine Verminderung der Gangvariabilität anstreben, sollten grundsätzliche Mechanismen aus dem motorischen Lernprozess einbezogen werden. Vormals unterbewusste, automatisierte Bewegungsabläufe müssen wieder erlernt und im motorischen Gedächtnis abgespeichert werden (Kressig u. Beauchet 2004). Hierzu werden seit 2001 im Programm MOBEQ während des stationären Aufenthalts in der Klinik für Rehabilitation und Geriatrie des Universitätsspitals Genf über das computergestützte Ganganalysesystem GaitRite® sturzgefährdete Patienten mit großer Gangvariabilität präzise identifiziert (kleine, breite Schritte, verlangsamter Gang, verlängerter gleichzeitiger Bodenkontakt beider Füße während eines Gangzyklus). Danach werden individuell abgestimmte Therapiepläne durch das interdisziplinäre geriatrische Team, bestehend aus
Altersmediziner, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, medizinischen Bademeistern und Masseuren, Diätassistenten, Neuropsychologen sowie Sozialpädagogen, entwickelt. Ein wichtiger Bestandteil ist neben der Anpassung des Schuhwerks die Förderung der körperlichen Balance in Einzel- und Gruppentraining (z. B. Tai Chi mit seinen langsamen, hochkontrollierten Bewegungssequenzen). Eine Studie im Rahmen von MOBEQ über fünf Wochen zeigte eine Verringerung von Stürzen und Sturzangst sowie eine verbesserte Lebensqualität (http://www.hug-ge.ch/_library/pdf/Actualite_sante/ pulsations_nov_2002.pdf). Zielgruppe IV – Bewohner mit Sturzgefahr in Pflegeeinrichtungen: das Ulmer Modellvorhaben »Mobilität und Mobilitätsstörungen von Heimbewohnern«
Die Prävention von Stürzen im Pflegeheim konzentrierte sich in der Vergangenheit verstärkt auf die passive Verhütung von Komplikationen. So soll z. B. das Tragen von Hüftprotektoren bei noch gehfähigen Bewohnern Sturzverletzungen abwenden. Neuere Modelle setzen auch im Pflegeheim auf eine Kombination schützender und aktivierender Maßnahmen. Es gibt mehr Projekte zu Stürzen und Sturzprävention in Pflegeheimen als in anderen Settings. Die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die praktische Versorgung setzt jedoch eine sorgfältige Gestaltung der Rahmenbedingungen voraus, unter denen die Programme wirksam sein können (Meyer, ohne Jahr). Das 1998 in der Stadt Ulm angestoßene Modellvorhaben »Mobilität und Mobilitätsstörung von Heimbewohnern« hat zum Ziel, nicht nur Unfälle im Heim zu verhindern, sondern gleichzeitig die Beweglichkeit der Bewohner zu verbessern (Nikolaus u. Becker 1999). Zu Beginn wurde in einem Ulmer Pflegeheim eine Pilotphase zur Überprüfung der organisatorischen Durchführung erprobt. Ab Oktober 1998 wurden drei weitere Alten- und Pflegeheime eingeschlossen, ein Jahr später die verbleibenden drei Einrichtungen. Die Reihenfolge wurde unter Aufsicht der Stadt Ulm ausgelost. Teilnehmen konnten alle Bewohner ab 60 Jahren, die mit Hilfe steh- oder gehfähig waren. Geplant war, vor Beginn des Trainings und der Ausgabe von Hüftprotektoren, bei allen Bewohnern eine standardisierte Erhebung der Pflegebedürftigkeit anhand des MDS-RAI durchzuführen. Dies ist ein wissenschaftlich geprüftes Instrument zur Pflegedokumentation und -planung von Heimbewohnern. Mit ihm können die Sturzrisikofaktoren, Pflegeprobleme und Fähigkeiten ermittelt werden. Das Trainingsprogramm enthielt Kraft-, Ausdauer- und Balanceelemente. Es wurden apparative und nichtapparative Übungsteile eingesetzt. Angestrebt wurde die Kräftigung von Fußstreckern, Knieextensoren und -flexoren, Hüftflexoren und -extensoren, Schultergürtel, Bizeps sowie Trizeps. Die Balance wurde im Stand und
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Kapitel 9 · Stürze im Alter
in der Fortbewegung trainiert. Dabei wurden neben funktionellen Übungen (Schrittfolgen, Drehübungen etc.) auch spielerische Übungsformen wie Ballspiele angewandt. Die Übungen waren für Gruppen mit sechs bis acht Personen in unterschiedlichen Räumen angedacht. Das Training wurde von einem Therapeuten angeleitet, eine Hilfsperson war außerdem anwesend. Hierfür wurden ausgebildete Gymnastiklehrer und Physiotherapeuten eingestellt. Es wurden zwei verschiedene Trainingsprogramme mit unterschiedlicher Intensität angeboten. Ein Trainingsprogramm war gedacht für Bewohner, die die Übungsräume mit wenig Hilfe erreichen konnten. Diese übten unter Anleitung dreimal pro Woche. Das zweite Trainingsprogramm war geplant für Bewohner, die nicht alleine einen Übungsraum aufsuchen konnten. Diese übten zweimal pro Woche. Die Dauer einer Trainingseinheit betrug in beiden Programmen einschließlich kommunikativer und sozialer Anteile mindestens 60 Minuten. Das Programm wurde über einen Zeitraum von vier Monaten beibehalten. Die Teilnehmer wurden angehalten, auch an den anderen Tagen zu üben. Die Teilnahme an den Trainingsprogrammen wurde dokumentiert. Zur Überprüfung der Mobilität wurden Gehgeschwindigkeit, Stehen in unterschiedlichen Standpositionen, Aufstehen von einem Stuhl, Gehstrecke in sechs Minuten und Kraftmessung bei den Teilnehmern erhoben. Während der Umsetzung des Modells in die Praxis mussten im Verlauf einige Modifikationen vorgenommen werden (Nikolaus u. Becker 1999; Becker et al. 2001). Das Ulmer Modell führte im Zeitraum zwischen 1998 bis Anfang 2001 zu einer Sturzreduktion von mehr als 40% und zu einem Rückgang schwerer Verletzungen von mehr als 30% (Becker 2003). Im Jahr 2005 wurde das auf das Bundesland BadenWürttemberg ausgeweitete Ulmer Modell »Sturzprävention in Pflegeheimen«, das in Kooperation zwischen der AOK Baden-Württemberg und dem Geriatrischen Zentrum Ulm durchgeführt wurde, mit dem Qualitätsförderpreis Gesundheit Baden-Württemberg 2005 ausgezeichnet. In der Presseerklärung zu der Preisverleihung des Qualitätsförderpreises für das Projekt »Sturzprävention im Pflegeheim« heißt es (Zitat): »Die Maßnahmen wurden bisher in über 300 Einrichtungen eingeführt, das Projekt soll auch künftig fortgeführt werden. Das Projekt konnte in der Sturzprävention beachtliche Erfolge erzielen. So ergab sich im Projektzeitraum eine Reduktion der Stürze von 4532 auf 3576 Stürze. Dies entspricht einer Reduktion von 21,1%. Ebenso ergab sich im Projektzeitraum eine Reduktion der Krankenhauseinweisungen von 302 um 90 auf 212. Dies entspricht einer Reduktion von 29,8%. Des Weiteren konnte die Zahl der Frakturen vermindert werden. Sie sanken von 112 auf 100, was einer Reduktion von 10,7% entspricht. Die Ergebnisse beziehen sich auf 82 ausgewer-
tete Heime in Baden-Württemberg mit insgesamt 8414 Bewohnerplätzen« (Gesundheitsforum Baden-Württemberg 2005). In ⊡ Tabelle 9.1 werden die stellvertretend ausgewählten Programme noch einmal systematisch bezüglich Zielgruppen, Ziele, Zugang, Diagnostik, Intervention und Durchführende zu dieser Angebotsform aufgeschlüsselt und verglichen.
9.1.7 Fazit und Ausblick
Die Vermeidung von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen im höheren Lebensalter hat in den letzten Jahren international hohe Priorität erlangt (WHO 2004b). Proaktive Ansätze gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung. Am Beispiel der in ⊡ Tabelle 91 vorgestellten Programme im Bereich der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention wird die Bandbreite der Zielgruppen und Ziele deutlich, die es vor dem Einsatz spezifischer Interventionen eindeutig zu definieren gilt. In diesem Zusammenhang sind auch weitere interessante Ergebnisse des seit 2003 bestehenden europäischen Netzwerks ProFaNE (Prevention of Falls Network Europe) zu erwarten. Das Netzwerk arbeitet in verschiedenen Arbeitsgruppen (AG) zu vier Hauptthemenfeldern der Sturzprävention, wie Klassifikation von Sturzinterventionsstudien und Vereinheitlichung der Outcome-Messungen (AG 1), Bewertung und Verfügbarkeit von Untersuchungsverfahren (Screening und Assessment) und Interventionen (AG 2), Bewertung von klinischen und apparativen Messverfahren, die in der Einschätzung von Bewegung im Alter und Sturzgefährdung von Bedeutung sind (AG 3) sowie Motivation und Behinderung der Beteiligung an präventiven Maßnahmen (AG 4) (www.profane.eu.org). Prävention von Stürzen im Alter gelingt nur mit interdisziplinärer Kompetenz, innerhalb vernetzter Strukturen des Gesundheitssystems und unter einer ganzheitlichen, strukturierten Herangehensweise nach dem biopsychosozialen Modell (Buddeberg 2003). Das biopsychosoziale Modell wurde gegenüber dem Krankheitsfolgemodell der ICIDH (International Classification of Impairment, Disability and Handicap) erheblich erweitert und damit der Lebenswirklichkeit betroffener Menschen besser angepasst. Insbesondere wird nun der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen über die Kontextfaktoren, d. h. Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren, berücksichtigt (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006). Die aktuell gebräuchliche International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) basiert auf dem biopsychosozialen Modell und ermöglicht so, die körperlichen, seelischen und gesellschaftlichen Aspekte eines Gesundheitsproblems miteinander zu verknüpfen (vgl. WHO 2007).
Programm Aktive Gesundheitsförderung im Alter Entwickelt, durchgeführt und evaluiert am Albertinen-Haus Hamburg
Menschen ab 60 ohne Demenz, Pflegestufe oder Institutionalisierung und ohne bekanntes Sturzrisiko (vgl. Zielgruppe I im Text in ambulanter Versorgung)
Ausbau von Mobilität, Balance, Kraft und Koordination bei entsprechenden Trainingsdefiziten, gezielte geistige Aktivität sowie Förderung einer ausgewogenen Ernährung ohne den Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln nach internationalem geriatrischem Ernährungsstandard (vgl. Volkert 2004; Volkert et al. 2006)
Persönliche Ansprache oder Anschreiben durch Hausärzte sowie via Multiplikatoren im »Netzwerk Gesundheit und Alter« in Hamburg und in Krankenkassen
Präventives Assessment, z. B. Ernährungsund Mobilitätsprotokoll
Motivation, Information und individuelle Beratung in dynamisierenden Kleingruppen gefolgt von konkreten individuellen, schriftlichen Empfehlungen zur wohnortnahen, praktischen Umsetzung – basierend auf dem präventiven Assessment
Interdisziplinäres geriatrisches Team mit Zusatzausbildung zum GesundheitsberaterTeam für Senioren
Programmtitel
Zielgruppe
Ziele
Zugang
Diagnostik
Intervention
Ausführende
▼
Primärprävention Gesundheitsförderung
Interventionsstufe
Einsatz von Hüftprotektoren und regelmäßige Durchführung von Trainingseinheiten durch Therapeuten mit Übungen zur Förderung von Kraft und Gleichgewicht bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen.
Gymnastiklehrer (2,5-jährige Ausbildung), Physiotherapeuten
Individuell abgestimmte Therapiepläne zur Verbesserung von Mobilität und Gleichgewicht der Patienten durch Bewegungsformen wie Tai Chi, Gleichgewichtstraining, Tanz nach Jaques-Dalcroze als innovative Methoden, um körperliche Aktivität zu fördern. Interdisziplinäres geriatrisches Team
Selbstausfüller: Sturz-Risikocheck (Auswertung durch Interdisziplinäres Geriatrisches Team oder im Vorgabemodus geplant)
Auswahl von Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen in der Stadt Ulm
Fachärztliche Auswahl aus eingewiesenen Patienten
Abgabe von Infomaterial und via Multiplikatoren im »Netzwerk Gesundheit und Alter« in Hamburg
Populationsbasiertes Screening und schriftliche Empfehlung zur eigenständigen Einleitung ausgewählter Maßnahmen (z. B. körperliches Training oder hausärztliche Abklärung)
Hauptziel ist die Verminderung der Anzahl proximaler Femurfrakturen und Frakturen anderer Lokalisation. Daneben soll die Zahl der Stürze vermindert und die Mobilität der Bewohner verbessert werden.
Identifikation und Modifikation mobilitätsassoziierter Sturzrisikofaktoren (z. B. erhöhte Gangvariabilität, Gleichgewichtsdefizite etc.) im Kontext geriatrischer Rehabilitation
Proaktive, strukturierte Abklärung und Modifikation von Risikofaktoren, die zu Stürzen im Alter führen können, auf Basis eines systematischen Screenings
MDS-RAI zur Überprüfung der Pflegebedürftigkeit und Assessment zu Kontinenz, Sehfähigkeit und Kognition
60-jährige und ältere sturzgefährdete Bewohner in Alten- und Pflegeheimen, die mit Hilfe steh- und gehfähig sind (vgl. Zielgruppe IV im Text in stationärer Versorgung)
Hospitalisierte, geriatrische Patienten mit Leitsymptom Gangstörung oder Sturzereignis (vgl. Zielgruppe III im Text in stationärer Versorgung)
Menschen ab 60 ohne Demenz, Pflegestufe oder Institutionalisierung, aber mit erhöhtem Sturzrisiko (vgl. Zielgruppe II im Text in ambulanter Versorgung)
Geriatrisches Assessment und Ganganalyse
Mobilität und Mobilitätsstörungen von Heimbewohnern Das Ulmer Modellvorhaben (Bethesda Geriatrie Ulm)
MOBEQ: Programme de réhabilitation de la MOBilité et de l’Equilibre, Universitätsspital Genf (HUG)
Sind Sie SICHER, dass Sie (GANG)SICHER sind? Programm der »AG Sturzprävention« der Stadt Hamburg
Präventives Screening, Sturz-Risikocheck©
Tertiärprävention (Pflegeheim)
Tertiärprävention (Klinische Geriatrie)
Sekundärprävention
⊡ Tabelle 9.1. Beispiele für zielgerichtete, erfolgreiche und bestehende Maßnahmen zur Sturzprävention
9.1 · Sturzsyndrom älterer Menschen 175
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Erfolgreiche Reliabilität des multidimensionalen Sturz-Risikochecks.
Ja, u. a. im Rahmen randomisierter Studie im Kontrollgruppendesign (RCT)
Große Akzeptanz des Programms bei Zielgruppe, Durchführenden, Politikern und Krankenkassen.
Nachhaltige, multidimensionale Erfolge bezüglich Verbesserung des Gesundheitsverhaltens in den Dimensionen körperliche Bewegung, Ernährung und soziale Teilhabe sowie Verbesserung der Gesundheitsvorsorge bzgl. Teilnahme an FrüherkennungsUntersuchungen und Impfungen.
Wissenschaftliche Begleitung
Ausgewählte Ergebnisse
Förderung durch die gesetzlichen Krankenkassen nach § 20 SGB V
Meier-Baumgartner et al. 2006; Dapp et al. 2005
Implementierung in die Regelfinanzierung
Literatur (vgl. Literaturverzeichnis)
Signifikante multidimensionale Erfolge des Gesundheitsverhaltens und der Gesundheitsvorsorgung und damit auch der Sturzprävention im Vergleich mit randomisierter Kontrollgruppe.
Erfolgreiche Überprüfung des multidimensionalen Sturz-Risikochecks auf TestRetest-Reliabilität.
Teams in Hamburg, südl. Schleswig-Hostein und nördl. Niedersachsen sowie weitere Teams an ausgewählten Standorten in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Berlin und Österreich
Geographische Reichweite
Anders et al. 2006
Anschubfinanzierung über Stadt Hamburg und Albertinen-Diakoniewerk
Große Akzeptanz bei Zielgruppe I und Zielgruppe II in Hamburg.
Ja, bisher im Pilotstadium des SturzRisikochecks (Reliabilität, Validität)
Stadt Hamburg mit Perspektive der Erweiterung im »Gesunden Städte Netzwerk Deutschland«
Komm-Struktur: Abgabe des SturzRisikochecks© (Selbstausfüller) über Hausarzt und/oder Multiplikatoren im kommunalen Gesundheits-Netzwerk
Komm-Struktur: Selbstständig lebende Senioren nehmen an ausgewählten geriatrischen Zentren an dem Programm teil, das von einem zertifizierten Team durchgeführt wird
Zugang/ Erreichbarkeit der Angebotsform
Sekundärprävention
Primärprävention Gesundheitsförderung
Kressig u. Beauchet 2004
Finanzierung in der Schweiz über stationären Aufenthalt
Präzise Identifizierung sturzgefährdeter Patienten mit großer Gangvariabilität durch Einsatz eines computergestützten Ganganalysesystems GaitRite® mit anschließender Therapieempfehlung spezieller Bewegungsformen wie Tai Chi oder Gleichgewichtstraining zur Verbesserung von Mobilität und Gleichgewicht während des stationären Verlaufs sowie auch nach Entlassung in den ambulanten Bereich.
Ja, im Rahmen verschiedener Studien im Programm MOBEQ
Kantonale Ebene Genf sowie seit 2006 Aufbau einer analogen Einheit in Basel
Bring-Struktur: Durchführung während des stationären Aufenthalts in der Geriatrie
Tertiärprävention (Klinische Geriatrie)
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Interventionsstufe
⊡ Tabelle 9.1. Fortsetzung
Nikolaus u. Becker 1999; Becker 2003; Becker et al. 2001, 2003
Nach Abschluss des Modellvorhabens führen einige Alten- und Pflegeheime Trainingseinheiten auf eigene Kosten durch
Das Ulmer Modell führte in dem Zeitraum zwischen 1998 bis Anfang 2001 zu einer Sturzreduktion von mehr als 40% und zu einem Rückgang schwerer Verletzungen von mehr als 30% (Becker 2003)
Ja, u. a. im Rahmen randomisierter Studie im Cluster-Design (RCT)
Alten- und Pflegeheime der Stadt Ulm. Nach Abschluss des Modellvorhabens Ausweitung auf interessierte Heime
Bring-Struktur: Therapeuten suchen sturzgefährdete Bewohner in Pflegeheimen für Durchführung der Trainingseinheiten auf
Tertiärprävention (Pflegeheim)
176 Kapitel 9 · Stürze im Alter
177 9.1 · Sturzsyndrom älterer Menschen
Künftig gilt es, insbesondere frühe Maßnahmen der Primär- und Sekundärprävention von Gangunsicherheit und Gebrechlichkeit wie kommunale Screeningprogramme weiter auszubauen, um eine alternde Bevölkerung möglichst lange mobil und selbstständig zu erhalten. Literatur American Geriatrics Society, British Geriatrics Society, and American Academy of Orthopaedic Surgeons Panel on Falls Prevention (2001) Guideline for the Prevention of Falls in Older Persons. J Am Geriatr Soc 49:664–672 Anders J, Dapp U, von Renteln-Kruse W, Juhl K (2006) Einschätzung der Sturzgefährdung gebrechlicher, noch selbstständig lebender, älterer Menschen. Z Gerontol Geriat 39:268–276 Becker C (2003) Einführung in das Ulmer Modellvorhaben zur Verminderung von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen bei Heimbewohnern. In: Sturzprävention in der stationären Altenpflege. Fachtagung 25.06.2003 Erlangen. http://www.geronto. uni-erlangen.de/pdfs/abstractband.pdf [Stand: 15.04.2007] Becker C, Kron M, Lindemann U, Sturm E, Eichner B, Walter-Jung B, Nikolaus T (2003) Effectiveness of a multifaceted intervention on falls in nursing home residents. JAGS 51 (3):306–313 Becker C, Lindemann U, Kapfer E, Eichner B, Hausner M, Nikolaus T (2001) Mobilität und Mobilitätsstörungen von Heimbewohnern. »Verminderung von sturzbedingten Verletzungen bei Alten- und Pflegeheimbewohnern«. Dritter Bericht des Ulmer Modellvorhabens. http://www.kda.de/bma-modellprogramm/ulm/bericht3. pdf [Stand: 15.04.2007] Blais, Mireille (2004) La dynamique de l’intervention en éducation à la santé au primaire. http://www.theses.ulaval. ca/2004/21501/21501.html [Stand: 15.04.2007] Blake AJ, Morgan K, Bendall MJ, Dallosso H, Ebrahim SBJ, Arie THD (1988) Falls by elderly people at home: prevalence and associated factors. Age Ageing 17:365–372 Buddeberg C (2003) Zur integralen Betreuung alter Menschen – ein biopsychosoziales Modell in der Akutspitalbehandlung? In: Carigiet E, Grob D (Hrsg) Der alte Mensch im Spital – Altersmedizin im Brennpunkt. Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich, S 150–156 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (Hrsg) (2006) Arbeitshilfe zur geriatrischen Rehabilitation. Frankfurt a. M. 2006 Center for Disease Control and Prevention, CDC, National Center for Injury Prevention and Control (2001) U.S. Fall Prevention Programs for Seniors – Comprehensive Programs. CDC, 2001: http:// origin.cdc.gov/ncip/falls/toc.pdf [Stand: 15.04.2007] Chang JT, Morton SC, Rubenstein LZ, Mojica WA, Maglione M, Suttorp MJ, Roth AE, Shekelle PG (2004) Interventions for the prevention of falls in older adults: systematic review and meta-analysis of randomised clinical trials. BMJ 328:680 Chu LW, Chiu AYY, Chi I (2006) Impact of falls on the balance, gait, and activities of daily living functioning in community-dwelling Chinese older adults. The Journals of Gerontology Series A: Biological Sciences and Medical Sciences 61:399–404 Cumming RG (1998) Epidemiology of medication-related falls and fractures in the elderly. Drugs Aging 12:43–53 Dapp U, Anders J, von Renteln-Kruse W, Meier-Baumgartner HP (2005) Active health promotion in old age: methodology of a preventive intervention programme provided by an interdisciplinary health advisory team for independent older people. J Public Health 13:122–127 Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (2004) DEGAM-Leitlinie Nr. 4: Ältere Sturzpatienten. omikron publishing 2004. www. degam-leitlinien.de [Stand: 15.04.2007]
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9
178
9
Kapitel 9 · Stürze im Alter
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Interventionsstudien und systematische Literaturrecherchen zur Prävention von Stürzen
9.2
Mareike Behmann, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Das Kapitel stellt eine Interventionsstudie und zwei systematische Literaturrecherchen zur Sturzprophylaxe exemplarisch vor. Die Studientypen sind in Kap. 5.4 erläutert. Die angeführten Studien zur Prävention stellen lediglich eine Auswahl dar. Nicht berücksichtigt werden Medikamentenstudien und Studien zur Rehabilitation von Stürzen. ⊡ Tabelle 9.2. Übersicht über ausgewählte Interventionsstudien und systematische Literaturrecherchen zu Stürzen (in Klammern ist jeweils der untersuchte Zeitraum oder das Jahr der Publikation angegeben) Interventionsstudien
Systematische Literaturrecherchen
Gemeindebasierte Studie zur Sturzprophylaxe (Neuseeland, 1995– 1997)
Interventionen zur Sturzprävention bei Älteren (Australien, 2003) Bevölkerungsbezogene Interventionen zur Prävention sturzbezogener Verletzungen bei Älteren (Australien, 2005)
9.2.1 Studien zu präventiven Maßnahmen Interventionsstudien Infobox
I
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Gemeindebasierte Studie zur Sturzprophylaxe (Neuseeland, 1995–1997) Schwerpunkt Prävention von Stürzen bei über 80-jährigen Frauen.
Ziele Reduktion der Sturzrate durch neu erlernte Bewegungsabläufe.
Stichprobe Die Stichprobe setzt sich aus 233 Frauen über 80 Jahren zusammen, die sich zu Hause noch gut bewegen können. Die Auswahl der Teilnehmerinnen erfolgte in 17 Allgemeinarztpraxen. ▼
179 9.2 · Interventionsstudien und systematische Literaturrecherchen zur Prävention von Stürzen
Studiendesign: Interventionsstudie
Literatur zum Thema
Die Teilnehmerinnen der randomisierten kontrollierten Studie werden in eine Kontroll- und Interventionsgruppe eingeteilt. In einer Drei-Punkt-Erhebung wird als Erhebungsinstrument eine schriftliche Befragung eingesetzt. Eine Follow-up-Befragung findet nach dem ersten Jahr statt. Die Studie wird für ein Jahr angesetzt, danach können die Teilnehmerinnen entscheiden, ob sie noch ein weiteres Jahr anschließen. Insgesamt nehmen 213 Frauen an der Studie für ein Jahr teil, 152 Teilnehmerinnen, 81 Frauen (74%) aus der Kontrollgruppe und 71 (69%) aus der Interventionsgruppe, verblieben ein zweites Jahr. Von den Teilnehmerinnen werden bei der BaselineBefragung die Krankengeschichte sowie die bisherigen Stürze erfasst. Stürze, Verletzungen und Compliance mit dem Bewegungsprogramm wird bei den Follow-upBefragungen erhoben.
Campbell AJ, Robertson MC, Gardner MM, Norton RN, Tilyard MW, Buchner DM (1997) Randomised controlled trial of a general practice programme of home based exercise to prevent falls in elderly women. Br Med J 315:1065–1069 Campbell AJ, Robertson MC, Gardner MM, Norton RN, Buchner DM (1999) Falls prevention over 2 years: a randomized controlled trial in women 80 years and older. Age Ageing 28:513–518 Campbell AJ (2002) Preventing fractures by preventing falls in older women. CMAJ 167 (9):1005–1006 Gardner MM, Robertson MC, McGee R, Campbell AJ (2002) Application of a falls prevention program for older people to primary health care practice. Prev Med 34:546–553 Robertson MC, Devlin N, Scuffham P, Gardner MM, Buchner DM, Campbell AJ (2001) Economic evaluation of a community-based exercise programme to prevent falls. J Epidemiol Commun Health 55:600–606
Intervention Das Bewegungsprogramm besteht aus Muskel-, Balancetraining und Walking dreimal pro Woche. Während vier Hausbesuchen vor der Intervention werden die Übungen von einem Physiotherapeuten individuell ausgearbeitet. Er erinnert telefonisch an die Durchführung und steht den Teilnehmerinnen motivierend zur Seite.
Wesentliche Ergebnisse
▬ Innerhalb von zwei Jahren ereignen sich 220 Stürze in der Kontrollgruppe und 138 in der Interventionsgruppe. Nach zwei Jahren resultierten insgesamt 111 (31%) Stürze in moderaten Verletzungen und 34 (9,5%) in ernsthaften. ▬ 44% von 71 Probandinnen in der Interventionsgruppe führen die Übungen noch dreimal pro Woche aus. Diese Frauen sind physisch aktiver und haben weniger Stürze als Frauen, die die Übungen weniger häufig durchführen. ▬ Mit dem Bewegungsprogramm kann die Anzahl der Stürze innerhalb von zwei Jahren signifikant reduziert werden. Bereits vor Studienteilnahme gestürzte Teilnehmerinnen sind eher bereit, die Übungen zwei Jahre fortzuführen als Teilnehmerinnen ohne Sturzerfahrung. Zur Aufrechterhaltung der Motivation sowie für die Modifikation der Übungen werden Hausbesuche in Abständen von sechs Monaten empfohlen, zur Verbesserung der Compliance individuell zugeschnittene Programme und Unterstützung durch den Allgemeinarzt.
Systematische Literaturrecherchen Infobox
I
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Interventionen zur Sturzprävention bei Älteren (Australien, 2003) Schwerpunkt Reduzierung der Sturzinzidenz bei älteren Pflegebedürftigen.
Ziele Identifikation von effektiven Interventionsmaßnahmen zur Prävention von Stürzen.
Methode: Systematische Literaturrecherche Eine Literaturrecherche wird in den Datenbanken Cochrane, Medline (1966–2003), Embase (1988–2003), Cinahl (1982–2003), PsycLIT und Social Sciences Citation Index (jeweils bis 1997) durchgeführt. Einschlusskriterien sind: ältere Pflegebedürftige beider Geschlechter, Sturzstatus sowie Wohnort. Studien in Krankenhäusern werden miteinbezogen, wenn es sich um Interventionen speziell für Ältere handelt. Ausgeschlossen werden Personen mit Schlaganfall. Die einbezogenen Studien sollen sich auf Risikofaktoren von Stürzen konzentrieren.
Beschreibung der Studien
Körperliche Aktivität ist wesentlich zur Verringerung von Stürzen.
62 randomisierte kontrollierte Studien mit 21.668 involvierten Personen werden in das Review einbezogen. 71% (n = 44) der Studien beschäftigen sich mit Bewegung oder anderen Therapien, die Bewegungselemente beinhalten (n = 23) und multidisziplinären, multifaktoriellen Risikofaktoren für Screenings oder Interventionen (n = 21). 47 Studien berichten über Effekte von Interventionen für in Gemeinschaft lebende Ältere.
▼
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Schlussfolgerung für die Prävention
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Kapitel 9 · Stürze im Alter
Wesentliche Ergebnisse
▬ Bewegungsstudien: Die Effektivität von nicht zielori-
▬ ▬
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▬
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entierten Bewegungsinterventionen zur Sturzprävention kann nicht bestätigt werden. Computergestütztes Balancetraining stellt keine effektive Intervention dar. Programme, die Hindernisumgehung trainieren, erzielen keine effektiven Ergebnisse. Ein Programm, das Muskeltraining, Balancetraining, Walking und Bewegung beinhaltet, kann die Anzahl der Stürze signifikant reduzieren. Allgemeine Bewegungsprogramme allein oder kombiniert mit anderen Elementen sind effektiv. Ein Muskeltraining allein hat keine signifikanten Effekte. Entsprechendes gilt für ein Physiotherapieprogramm. Unterrichtete Übungen, Entspannung und gesundheitsbezogene Informationen zur Sturzprävention führen nicht zur Sturzreduktion. Interventionen zur Steigerung der Sicherheit in der häuslichen Umgebung können die Anzahl der Stürze bei zuvor gestürzten Personen reduzieren. Kognitive Verhaltensinterventionen: Interventionen zur Änderung des Risikoverhaltens, die Bewegung und ein Training für das Verhalten beim Stürzen beinhalten, können signifikante Effekte erzielen. Alleinige Information kann die Anzahl von Stürzen nicht verringern. Medikamentöse Interventionen: Zusätzliche Medikation zu Muskel-, Balancetraining und Walking verbessert nicht die Ergebnisse zur Sturzprophylaxe. Es gibt keine signifikanten Effekte einer Hormoneinnahme kombiniert mit Kalzium auf die Anzahl von Stürzen. Ernährungsinterventionen: Die Einnahme von Vitamin D hat keinen signifikanten Effekt auf die Reduzierung von Stürzen. Ein Mangel an Vitamin D ist jedoch ein Risikofaktor für Stürze. Sehvermögen: Es gibt keine ausreichende Evidenz, dass eine alleinige Veränderung des Sehvermögen zu einer Verminderung von Stürzen führt. Eine Verbesserung des Sehvermögens kombiniert mit Bewegung und häuslicher Intervention führt zu einer geringen Anzahl an Stürzen. Herzschrittmacher: Bei Sturzpatienten mit Herzrhythmusstörungen, die einen Herzschrittmacher erhalten, können die Stürze und das Erleiden von Ohnmachtsanfällen reduziert werden. Multidisziplinäre, multifaktorielle Interventionen: Kombinierte Interventionen mit Einschätzung des medizinischen und häuslichen Zustands und gleichzeitigen Bewegungsinhalten erzielen keine Effekte auf die Anzahl der Stürze. Auf Risikofaktoren zielgerichtete Interventionen für in Gemein-
schaft lebende Personen können die Anzahl der Stürze reduzieren. ▬ Systemmodifikationen: Bei einem Vergleich zwischen Personen, die in Zimmern einer Rehabilitationseinrichtung mit Teppichboden unterbracht sind, mit Personen, die in Zimmern mit glattem Fußboden untergebracht sind, erleiden die Personen mit Teppichboden häufiger Stürze. ▬ Interventionen im Altenheim: Multiple Interventionsmodelle in Altenheimen zur Reduzierung von Stürzen sind effektiv.
Schlussfolgerung für die Prävention Regelmäßige Bewegung und Verhaltensinterventionen sowie Interventionen zur Steigerung der Sicherheit in häuslicher Umgebung reduzieren die Anzahl von Stürzen.
Literatur zum Thema Gillespie LD, Gillespie WJ, Robertson, MC, Lamb SE, Cumming RG, Rowe BH (2003) Interventions for preventing falls in elderly people (review). Cochrane Database of Systematic Reviews 4, 1–117
Infobox
I
I
Bevölkerungsbezogene Interventionen zur Prävention sturzbezogener Verletzungen bei Älteren (Australien, 2005) Schwerpunkt Prävention sturzbezogener Verletzungen.
Ziele Identifikation geeigneter bevölkerungsbezogener Interventionen zur Sturzreduktion.
Methode: Systematische Literaturrecherche Die Literaturrecherche wird in den Datenbanken Medline (1966–2002), Cinahl (1982–2002), PsycInfo (1966–2002), Embase, Ageline, Cochrane Controlled Trials und im Cochrane Injuries Group Trials Register durchgeführt. Ergänzend erfolgt eine Handsuche in den Zeitschriften Injury Prevention (1995–2004) sowie Accident Analysis and Prevention (1974–2004). 23 Studien werden für das Review berücksichtigt, davon erfüllen fünf die Einschlusskriterien: Personen älter als 65 Jahre, prospektive kontrollierte Studie, bevölkerungsbezogene Intervention zur Reduzierung von sturzbezogenen Verletzungen, Vergleich zwischen Kontroll- und Interventionsgruppe oder Prä-PostVergleich. Diese Studien beschreiben die Ergebnisse von bevölkerungsbezogenen Interventionen in Aus▼
181 9.2 · Interventionsstudien und systematische Literaturrecherchen zur Prävention von Stürzen
tralien, Dänemark, Norwegen und Schweden. Drei der Studien basieren auf dem World Health Organization Safe Communities Model for Safety and Injury Prevention (WHO-Modell für Sicherheit und Prävention von Verletzungen).
Studien und Ergebnisse
▬ Das Stay on Your Feet Programm wird in New South Wales, Australien durchgeführt. Als Outcome-Maß werden sturzbezogene Krankenhausaufenthalte fünf Jahre lang (1990/91–1994/1995) dokumentiert. Die Interventionsregion beinhaltet 80.000 Personen, die Kontrollgemeinde 62.000. Die vierjährige Intervention zielt auf Wissensvermittlung, Einstellung, Verhalten, Medikamenteneinnahme, Schuhwerk, Risikoreduktion in der häuslichen Umgebung und andere sturzbezogene Risikofaktoren. Die Informationen werden über Broschüren, Poster, Fernsehen und Radio, politische Akteure, lokale Krankenhausärzte und andere Gesundheitsexperten vermittelt. Im Vergleich zur Kontrollgruppe gehen in der Interventionsgruppe die sturzbezogenen Krankenhausbesuche um 20% zurück. 77% der Stichprobe wird von den Interventionsmaßnahmen erreicht. ▬ Die prospektive Intervention in fünf Gemeinden in Vejle, Dänemark schließt 12.905 über 65-Jährige in der Interventions- und 11.460 in der Kontrollgruppe ein. Das Programm besteht aus aufklärender Beratung, Hausbesuchen, körperlicher Untersuchung, Überprüfung der Medikation, Behandlung psychiatrisch und somatisch Kranker und Förderung der mentalen und körperlichen Aktivität. Das gesamte Gesundheitspersonal hilft bei der Durchführung der einzelnen Maßnahmen. Sturzbezogene Frakturen nehmen in der Interventionsgruppe um 15% ab. Ein signifikanter Rückgang von 33% wird für Frakturen in den unteren Extremitäten beobachtet. ▬ Das WHO Injury Prevention Programm in Norwegen mit 22.000 Einwohnern der Gemeinde Harstad wird von 1985–1993 durchgeführt. Zwei Kontrollgruppen werden herangezogen: Sechs Gemeinden in der Nähe Harstads und eine separierte Gemeinde (Trondheim) mit 135.000 Einwohnern. Die Intervention beinhaltet aufklärende Beratung, Hausbesuche bei Hochrisikopersonen durch Gesundheitsexperten, Förderung von körperlicher Aktivität, Tragen sicheren Schuhwerks und Veränderungen der häuslichen Umgebung. Die Intervention wird durch lokale Medien und Gemeindeeinrichtungen unterstützt. ▼
Der Prä-Post-Vergleich zeigt eine nichtsignifikante Reduktion von 9,7% der Inzidenz aller Frakturen in der Interventionsgemeinde. In der Kontrollgemeinde gibt es eine signifikante Zunahme in der Frakturenrate von 37%. ▬ Das WHO Safety Community Programm in Motala, Schweden dauert ein Jahr (1983/1984) und beinhaltet eine einjährige Refresher-Intervention (1989). Die Grundgesamtheit des Interventionsbereichs umfasst 42.000 über 65-Jährige, die des Kontrollbereichs 27.000. Das Rote Kreuz und andere Organisationen fördern Sicherheitsinitiativen. Die Intervention beinhaltet mediale Informationen, Beratung, Hausbesuche, Walking und bessere Beleuchtung an öffentlichen Plätzen, Straßen und Gehwegen. Ein rückläufiger Trend für sturzbezogene Verletzungen kann lediglich in der Altersgruppe der 75bis 79-Jährigen beobachtet werden. ▬ Das Accident Prevention Programm, eine WHO Safe Community Intervention, wird in Lidkoping, Schweden mit einer Bevölkerungsstichprobe von 35.000 über 65-Jährigen für sechs Jahre (1987– 1992) durchgeführt. Es gibt zwei unterschiedliche Kontrollgruppen: den Ort Skaraborg mit 270.000 Einwohnern und das Land Schweden mit 1,2 Millionen Einwohnern. Die Intervention beinhaltet Beratung, die Vorführung von Sicherheitsausstattung, Training für Gesundheitspersonal sowie für Personen, die an Hausplanungen beteiligt sind, Informationen über Strategien zur Sicherung der Umgebung und des Wohnraums vor Stürzen. Es gibt einen signifikanten Rückgang in der Inzidenz der sturzbezogenen Frakturen in der weiblichen Bevölkerung in Lidkoping um 6,6% pro Jahr. Nicht signifikant ist der rückläufige Trend bei Männern mit 5,4% pro Jahr.
Schlussfolgerung für die Prävention Bei älteren Menschen, die bevölkerungsbezogene Maßnahmen umgesetzt haben, können signifikante Rückgänge sturzbezogener Verletzungen beobachtet werden. Die relative Reduktion sturzbezogener Verletzungen variiert zwischen sechs und 33%. Ein bevölkerungsbezogener Ansatz zur Prävention von Verletzungen kann zu Verhaltensänderungen und normativen Effekten führen und damit zur Sturzprophylaxe beitragen.
Literatur zum Thema McClure R, Turner C, Peel N, Spinks, A, Eakin E, Hughes K (2005) Population-based interventions for the prevention of fallrelated injuries in older people. The Cochrane Database of Systematic Reviews 1, 1–17
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10 Ernährung und Bewegung Vicky Henze, Jana Hofmann, Kerstin Ketelhut, Christian Krauth, Sebastian Liersch, Richard Lux, Klaus Pfeifer, Martina Plaumann, Markus Röbl, Petra Wagner, Ulla Walter, Astrid Zech
Das vorliegende Kapitel zeigt zunächst auf, welche Überlegungen für eine effektive Planung und Umsetzung präventiver ernährungs- und bewegungsorientierter Maßnahmen erforderlich sind ( Kap. 10.1). Im Anschluss stellen die zwei folgenden Beiträge detailliert ernährungs- und bewegungsbedingte Präventionsmöglichkeiten zur Vermeidung von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems dar ( Kap. 10.2 bzw. Kap. 10.3). Für erfolgreiche Präventionsmaßnahmen ist jedoch nicht nur das Wissen um eine gesundheitsförderliche Ernährung und körperliche Aktivität bei den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen von Bedeutung. Ebenfalls berücksichtigt werden muss das Wissen um Möglichkeiten der Motivation, den individuellen Lebensstil gesundheitsförderlicher zu gestalten. Dies zeigt Kap. 10.4 anhand eines theoretischen Modells am Beispiel der körperlichen Aktivität auf. Nachfolgend verdeutlichen zwei Praxisprojekte, eines in der Schule ( Kap. 10.5) und eines im Kindergarten ( Kap. 10.6), wie Kinder und Jugendliche zu vermehrter körperlicher Aktivität angeregt werden können.
10.1
Planung und Umsetzung präventiver Maßnahmen
Martina Plaumann, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Der folgende Beitrag liefert vorab einen kurzen Abriss, welchen Einfluss die Lebensstilfaktoren Ernährung und Bewegung auf das Muskel-Skelett-System haben. Anschließend zeigen Daten die Inanspruchnahme ernährungs- und bewegungsorientierter Angebote auf. Mit diesen Maßnahmen werden jedoch meist die Personen erreicht, die sich bereits gesundheitsbewusst verhalten.
Im Folgenden wird erörtert, welche Aspekte bei zielgruppenspezifischen präventiven Maßnahmen berücksichtigt werden müssen, damit diese wirksam sein können und auch diejenigen erreichen, die dieser bedürfen.
10.1.1 Bedeutung des Lebensstils
Das Vorkommen chronischer nicht übertragbarer Erkrankungen ist nicht nur assoziiert mit ungünstigen sozialen und ökonomischen Bedingungen sowie genetischen Voraussetzungen, sondern auch mit dem jeweiligen Lebensstil eines Individuums. Lebensstilfaktoren wie Ernährung und Bewegung sind mitbestimmend dafür, ob bei einem Menschen zukünftig Krankheiten wie z. B. HerzKreislauf-Erkrankungen, Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2, Krebserkrankungen oder auch Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems auftreten. Zivilisationskrankheiten beeinflussen das Bewegungsverhalten mit. Dieses ist wiederum ein wichtiger Einflussfaktor zur Vermeidung und Linderung von Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems. Je weniger letztgenanntes beeinträchtigt ist, umso besser sind wiederum die körperlichen Voraussetzungen zur Bewegung gegeben. Regelmäßige körperliche Aktivität weist ein hohes gesundheitsförderndes bislang unzureichend ausgeschöpftes Potenzial auf. Unter einer relevanten körperlichen Aktivität wird jene durch die Skelettmuskulatur hervorgebrachte Bewegung verstanden, die eine wesentliche Steigerung des Energieumsatzes zur Folge hat. Sie verzeichnet jedoch erst positive Auswirkungen auf die Gesundheit, wenn sie geplant, strukturiert, zielgerichtet und regelmäßig, d. h. mindestens an drei Tagen pro Woche, betrieben wird. Positive Effekte von ausdauernder Bewegung im aeroben Stoffwechselbereich, wie z. B. Gehen, Laufen, Fahrradfahren, sind am besten durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt (u. a. Cléroux et al. 1999).
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10
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
Bewegung spielt auch zur Prävention von Rückenschmerzen, Arthrose und Osteoporose eine wichtige Rolle (siehe u. a. Kap. 5.2, 6.2, 8.1 und 10.3). Zudem kann körperliche Aktivität dem Muskelabbau vorbeugen und gleichzeitig die neuromuskuläre Koordination verbessern. Die Aktivität von Enzymen der zellulären Energiebereitstellung sowie das Volumen der Mitochondrien werden gesteigert. Hinzu kommt eine Erhöhung der Transportleistung für Glukose und freie Fettsäuren aus dem Blut in die Muskulatur, wo sie in Energie umgesetzt bzw. verstoffwechselt werden. Daraus resultiert u. a. eine Zunahme der Ausdauerund Kraftleistung der Skelettmuskulatur. Kraftorientiertes Training führt zudem zu einer Verdichtung der Knochenstruktur, einer Kräftigung der Gelenkknorpel sowie zu einer Verdickung und Verfestigung von Sehnenfasern (Predel u. Tokarski 2005). Den Sport- und Bewegungsprogrammen werden jedoch nicht nur wichtige Funktionen hinsichtlich der körperlichen Gesundheit beigemessen, sondern auch positive Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit und die soziale Teilhabe. Durch die Vermittlung von Körperbewusstsein und Identität sind Bewegung und Sport wichtige Sozialisationsinstrumente, die zudem die Integration in Gruppen fördern (Koch u. Schulz 2005). Eine gesunde ausgewogene Ernährung trägt u. a. dazu bei, dass das Muskel-Skelett-System keine Belastungen z. B. aufgrund von Übergewicht erfährt. Eine ausreichende Zufuhr an Nahrungsinhaltsstoffen, wie beispielsweise bestimmte Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine, ist zudem nötig, um genügend Knochenmasse im jungen Alter aufzubauen, im späteren Alter der Osteoporose vorzubeugen sowie die Festigkeit der Knochen und ihren ständigen Ab- und Aufbau mit zu gewährleisten ( Kap. 8 und Kap. 10.2).
10.1.2 Orientierende Daten zum Ernährungs-
und Bewegungsverhalten Es gibt in Deutschland keine routinemäßig erhobenen repräsentativen Daten über das Ernährungsverhalten und das Ausmaß der körperlichen Aktivität der Bevölkerung. Für die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen liefert die KiGGS-Studie (www.kiggs.de, s. auch Kap. 10.5) beispielsweise aktuelle Daten, der Alters-Survey gibt einige diesbezügliche Informationen für Personen, die sich in der zweiten Lebenshälfte befinden (d. h. 40 Jahre und älter sind). Somit ist es nur eingeschränkt möglich, eine Aussage darüber zu treffen, wie viele Menschen sich in Deutschland gesund ernähren und regelmäßig körperlich bewegen. Außerdem ist wenig über die Inanspruchnahme bewegungsund ernährungsorientierter Angebote bekannt. Hierzu müssen verschiedene Quellen herangezogen werden. So ist z. B. die Zahl der Sportvereine und die absolute Anzahl ihrer Mitglieder in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Waren 1989 knapp 21 Millionen Perso-
nen in entsprechenden Verbänden organisiert, wurden 2006 insgesamt 27,3 Millionen Personen verzeichnet. Eine Betrachtung des prozentualen Anteils an der Bevölkerung zeigt allerdings keine Steigerung. So waren 1989 34,3% und 2006 33,1% Vereinsmitglieder (Deutscher Olympischer Sportbund 2006). Inwieweit diese tatsächlich aktiv sind, ist unklar, eine Differenzierung in aktive und passive Mitglieder liegt nicht vor. Zudem sind nicht alle Sporttreibenden auch gleichzeitig Mitglieder in Vereinen. Die Anzahl der Freizeit- und Breitensportler wird insgesamt auf 15 Millionen geschätzt. Hinzu kommen ca. 13 Millionen Schulkinder mit Sportunterricht (Ueblacker et al. 2005). Die seit 2002 jährlich durchgeführte bundesweit einheitliche, krankenkassenartenübergreifende Dokumentation über Aktivitäten in der Primärprävention und betrieblichen Gesundheitsförderung kann zur Analyse der Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen herangezogen werden (Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen 2005). Danach nahmen deutschlandweit in 2005 knapp 1,2 Millionen Teilnehmer (ca. 1,7% aller GKV-Versicherten; 2002: knapp 353.000 Teilnehmer) präventive verhaltensbezogene Kurs- und Seminarangebote nach dem individuellen Ansatz wahr. Mit 72% wurden am meisten Maßnahmen zum Handlungsfeld »Bewegung« besucht, an dritter Stelle standen Kurse zur »Ernährung« (12%). Wie auch schon in den Jahren zuvor sind Frauen (77%) – bei insgesamt annähernd gleichem Anteil an den GKV-Versichterten mit 53% (Frauen) bzw. 47% (Männer) für 2005 – wesentlich häufiger als Männer (23%) vertreten. Zudem suchten besonders Versicherte ab 40 Jahren individuelle Kursangebote auf, jüngere Menschen bis zu 29 Jahren nutzten diese Angebote eher selten. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass über diesem individuellen, meist auf Komm-Struktur basierendem Zugangsweg, oft bereits motivierte und informierte so genannte »gesundheitsbewusste Gesunde« angesprochen werden. Um auch diejenigen Menschen zu erreichen, die individuelle Kursangebote weniger in Anspruch nehmen, werden zunehmend auch Aktivitäten in den Lebenswelten, den »Settings«, wie z. B. Schule und Betrieb, durchgeführt. Diese Interventionen fußen nicht nur auf der Veränderung des Gesundheitsverhaltens der Individuen, sondern sind auf die gesundheitsförderliche Strukturveränderung des jeweiligen Settings ausgerichtet. Die Dokumentation der Krankenkassen unterscheidet die präventiven Maßnahmen in nichtbetriebliche Settings und die betriebliche Gesundheitsförderung. 2005 wurden danach Maßnahmen in über 18.300 nichtbetrieblichen Institutionen durchgeführt. 83% dieser Setting-Aktivitäten fanden in Schulen, Berufsschulen und/oder Kindergärten/-tagesstätten statt. In zwei Drittel der Fälle richteten sich die gesundheitsförderlichen und präventiven Maßnahmen an Lehrer und Erzieher als Multiplikatoren (66,1%), Eltern wurden am zweithäufigsten (47,0%) berücksichtigt. Die Maßnahmen zielten zu 63,0%
185 10.1 · Planung und Umsetzung präventiver Maßnahmen
auf die »unter 15-Jährigen«, gefolgt von den »15- bis unter 20-Jährigen« (34,4%). Die Handlungsfelder »Bewegung« (63,1%) und »Ernährung« (47,8%) wurden in den Aktivitäten am häufigsten aufgegriffen. Mehrfachnennungen waren bei den hier aufgezeigten Analysen möglich. Für das Jahr 2005 wurden 2531 Aktivitäten und Projekte zur betrieblichen Gesundheitsförderung verzeichnet, wobei das verarbeitende Gewerbe die meisten Maßnahmen aufwies. Die inhaltliche Ausrichtung der Interventionen in der betrieblichen Gesundheitsförderung umfasste zu 77,1% die »Reduktion körperlicher Belastungen«, gefolgt von »gesundheitsgerechter Mitarbeiterführung« (34,9%) und »Stressmanagement« (32,7%). An dritter Stelle stand mit 30,4% die gesundheitsgerechte Gemeinschaftsverpflegung.
ständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007). Nach Ermittlung des Bedarfs und der Analyse der Lebensbedingungen der Zielgruppen sollte anschließend die Entwicklung geeigneter präventiver Maßnahmen erfolgen (s. Infobox). Diese müssen u. a. berücksichtigen, wie hoch die derzeitige Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen ist, wie die entsprechenden Zielgruppen erreicht werden, welches Wissen bei ihnen bereits vorliegt, welche Informationen von Bedeutung sind, welche Informationen und Maßnahmen demnach möglichst barrierefrei, z. B. hinsichtlich Verständlichkeit der Sprache, über geeignete Multiplikatoren vermittelt werden müssen sowie wie die Angebotsstruktur aufgebaut sein muss. Nicht zuletzt spielt das Qualitätsmanagement und die Evaluation eine wichtige Rolle für den Erfolg der präventiven Maßnahmen (u. a. Altgeld et al. 2006; Walter et al. 2003).
10.1.3 Zielgruppenspezifische Präventions-
strategien Zur Förderung eines gesundheitsorientierten Lebensstils in der Bevölkerung, müssen Präventionsmaßnahmen zielgruppenspezifisch ansetzen. Zunächst muss eine vorangestellte Analyse den Bedarf ermitteln und die besonders gefährdeten Zielgruppen identifizieren (s. Infobox). Nach dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) sind vulnerable Gruppen gesundheitlich relevanten Belastungen ausgesetzt, die sie nicht bewältigen können. Hierzu zählen z. B. Personen mit sehr niedriger Schulbildung, sehr niedrigem sozialen Status oder sehr niedrigem Einkommen, aber auch Personen mit Vorerkrankungen oder in erschwerenden Lebensphasen (z. B. Trennung, Tod von Angehörigen) sowie Menschen, die besonderen beruflichen bzw. umweltbedingten Belastungen ausgesetzt sind. In seinem aktuellen Gutachten hat der Rat ein Kapitel der Primärprävention vulnerablen Gruppen gewidmet. Der Schwerpunkt wird dabei auf Zielgruppen gelegt, die bislang bei präventiven Maßnahmen kaum berücksichtigt wurden: Arbeitslose, arme alte Menschen und Obdachlose. Zentrale Zielgruppen zur Förderung der Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems sind u. a. Kinder und Jugendliche, Erwerbstätige, die physischen und/oder psychischen Belastungen ausgesetzt sind, ältere Menschen sowie Frauen in der Postmenopause. Die Routinedaten der KKH weisen u. a. darüber hinaus die Altersgruppen »50 bis unter 55 Jahre« und »55 bis unter 60 Jahre« sowie die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« und Arbeitslose als die relevantesten Gruppen aus ( Kap. 4). Wesentlich ist, die Entstehungsbedingungen gesundheitlicher Gefährdung und die aktuellen Lebenslagen der entsprechenden Zielgruppen in ihren jeweiligen Lebenswelten zu kennen und zu berücksichtigen, damit die Präventionsmaßnahmen zielgerichtet entwickelt, adressiert und erfolgreich durchgeführt werden können (Sachver-
Infobox
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I
Zu klärende Aspekte für zielgerichtete Präventionsmaßnahmen 1. Bedarf – Wie häufig kommen Muskel-Skelett-Beschwerden in der Bevölkerung vor? – Welche Zielgruppen sind besonders belastet? – Wie sehen das Gesundheitsbewusstsein, das Gesundheitsverhalten und die Lebensbedingungen dieser Zielgruppen aus? 2. Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen – Welche präventiven Angebote zur Prävention von Muskel-Skelett-Beschwerden bestehen bereits? – Inwieweit sind diese präventiven Angebote den Zielgruppen überhaupt bekannt und zugänglich? – Werden diese von den vulnerablen Gruppen in Anspruch genommen? – Treffen die präventiven Angebote die Bedürfnisse der Adressaten? Wenn nicht, wie können diese geweckt werden? – Welche Barrieren der Inanspruchnahme existieren auf Seiten der Adressaten, welche auf Seiten der Anbieter? – Sind Anreize zur Förderung der Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen für Adressaten und Anbieter hilfreich? Wenn ja, welche? 3. Zugang – Wo können die Zielgruppen erreicht werden? In welchen Lebenswelten oder auch in welchem Versorgungsgeschehen? – Wie sind diese Zielgruppen anzusprechen? – Über wen können sie angesprochen werden? Mit wem identifizieren sie sich? ▼
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10
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
– Sind Mediatoren bzw. Peers erforderlich, um Zielgruppen zu erreichen und zu motivieren? – Welche Personen, z. B. Angehörige, Professionelle, müssen ebenfalls einbezogen werden? 4. Intervention – Welches Basiswissen zu Muskel-Skelett-Erkrankungen und ihrer Prävention ist bei den Zielgruppen vorhanden? – Welche Informationen müssen vermittelt werden? – Wie kann das Alltagsverhalten verändert werden? – Welche Methoden müssen eingesetzt werden? – Ist die Sprache verständlich? – Welche Medien können und sollten genutzt werden? – Sind kulturelle Unterschiede, z. B. hinsichtlich Ernährung und Bewegung, zu bedenken? – Wie können Effekte nachhaltig gesichert werden? 5. Angebotsstruktur – Welche Organisationsformen eignen sich? – Welche Akteure sollten im Versorgungsgeschehen wann einbezogen werden? – Welche weiteren Akteure und Institutionen sind einzubeziehen? Sind die Professionellen auch hinreichend qualifiziert? – Können kontextbezogene Faktoren modifiziert werden?
Soll bundesweit erreicht werden, dass sich die Bürger gesünder ernähren und regelmäßig körperlich betätigen, kann dies durch isolierte präventive Maßnahmen einzelner Institutionen nicht bewältigt werden. Hierzu sind viele Organisationen und Anbieter im Gesundheits- und Sozialwesen vonnöten, die optimalerweise eine abgestimmte einheitliche sich ergänzende Strategie auf Bundes,- Landes- und kommunaler Ebene verfolgen. Förderung von Bewegung im Alltag gelingt » Die durch eine bewegungsfreundliche Politik sowie die Schaffung von bewegungsfreundlichen Lebenswelten unter Beteiligung der verschiedenen Gruppen von Betroffenen. Prof. Dr. Alfred Rütten, Institut für Sportwissenschaften und Sport, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen
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So müssen Strategien auf vielfältigen Ebenen ansetzen. Um nicht nur das Wissen über das Muskel-Skelett-System generell sowie über Ernährung und Bewegung zu fördern, sondern auch die Modifikationen von Verhaltensweisen im Alltag positiv zu beeinflussen, wird als wichtige Strategie in diesem Zusammenhang das soziale Marketing angesehen. Dieses umfasst »eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen […], die durch die Verknüpfung zu einer komplexen Strategie sozialen Wandel beeinflussen« (Pott
2003, S. 215). Dabei zielen die sozialen Marketingstrategien auf die Veränderung von Wissen, Einstellung und Verhalten. Neben traditionellen Zugangswegen, wie z. B. die persönliche Beratung, werden auch moderne Kommunikationstechniken, PR-Instrumente und Werbekonzepte einbezogen. Analyse, Planung, Implementationsstrategien und Evaluation sind zentrale Elemente von Marketingstrategien. Die Analysen der Aufklärungskampagnen »Gib AIDS keine Chance« der BZgA (seit den 1980er Jahren) und »Trimm Dich Fit« des Deutschen Sportbundes (in den 1970er Jahren) verdeutlichen, dass soziale Marketingstrategien erfolgreich sind, wenn komplexe Langzeitstrategien mit einem Mix unterschiedlicher Maßnahmen eingesetzt und diese von gut geschulten Fachleuten und unter Einbeziehung von Peers durchgeführt werden. Zudem sollten die Zielgruppen an der Entwicklung der Strategie und der Durchführung beteiligt sein. wichtiger Schritt ist die Motivation der Bevölke» Ein rung, selbstständig und aktiv an diesen Präventionsmaßnahmen teilzunehmen. « Prof. Dr. Erich Schmitt, Forum Gesunder Rücken – besser Leben e.V., Wiesbaden
Die Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen sollte zudem in die bestehende gesundheitliche Versorgung integriert werden. In die hausärztliche Betreuung könnten Beratungsgespräche zur Förderung der körperlichen Aktivität und der gesunden Ernährungsweise systematisch eingeführt und nachhaltig verankert werden. Routinemäßige ärztliche Kurzinterventionen, die sich bei der Tabakentwöhnung als wirksam erwiesen haben (u. a. Lancaster u. Stead 2004; Ulbricht et al. 2004), könnten auch bei der Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen sinnvoll sein. Dabei sollte eine motivationsorientierte Gesprächsführung (wie z. B. das Transtheoretische Modell, Kap. 10.4) von Seiten der Ärzte berücksichtigt werden. Grundlage für eine erfolgreiche Beeinflussung des Verhaltens ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten mit weiteren Berufsgruppen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens wie Ernährungsberater, Physiotherapeuten sowie Sportpädagogen. Die positiven Erfahrungen bieten einen Anstoß, die Implementierung der strukturierten Anleitung zur Änderung des Lebensstils durch niedergelassene Ärzte auf die Bereiche Bewegung und Ernährung auszuweiten. eine allgemeine Prävention von Muskel-Skelett» Für Erkrankungen ist eine regelmäßig durchgeführte körperliche Aktivität von mindestens zwei Stunden pro Woche bei moderater Belastung zentral. Dabei sollten Ausdauer, Kraft, Dehnfähigkeit, Koordination und Entspannung gleichermaßen einbezogen und gefördert werden. Prof. Dr. Walter Brehm, Lehrstuhl für Sportwissenschaft, Universität Bayreuth
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187 10.2 · Bedeutung der Ernährung für das Muskel-Skelett-System
10.1.4 Fazit
Um einen gesundheitsbewussten Lebensstil, auch hinsichtlich gesunder Ernährung und Bewegung, in der Bevölkerung zu erreichen, müssen präventive Maßnahmen u. a. den unterschiedlichen Bedarf sowie die unterschiedlichen Bedürfnisse und Zugangswege der Zielgruppen berücksichtigen. Zudem spielt neben dem theoretischen Wissen über eine für das Muskel-Skelett-System positiv wirkende Ernährung und körperliche Aktivität auch die zielgruppenspezifische Motivierung der Bevölkerung, den persönlichen Lebenswandel diesbezüglich zu ändern, eine große Rolle. Wichtig ist zu erkennen, in welchem Motivationsstadium sich Individuen hinsichtlich einer Lebensstiländerung befinden, um geeignete Präventionsmaßnahmen einzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Motivierung nicht bei der erfolgten Änderung einer Lebensweise beendet ist. Vielmehr muss gesichert sein, dass der veränderte gesundheitsbewusstere Lebenswandel nicht nur kurz-, sondern auch langfristig anhält. Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt, den präventive Maßnahmen ebenfalls beinhalten sollten. Literatur Altgeld T, Bächlein B, Deneke C (Hrsg) (2006) Diversity Management in der Gesundheitsförderung. Nicht nur die leicht erreichbaren Zielgruppen ansprechen! Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main Cléroux J, Feldman R, Petrella R (1999) 4. Recommendations on physical exercise Training. CMAJ 160 (9):S21–S28 Deutscher Olympischer Sportbund (2006) Bestandserhebung 2006. http://www.dosb.de/de/service/statistiken [Zugriff am 28.08.2007] Koch U, Schulz KH (2005) »Gesund durch Sport?« oder »Sport ist Mord?«. Editorial. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 48 (8):831–832 Lancaster T, Stead LF (2004) Physician advice for smoking cessation. Cochrane Database of Systematic Reviews, 4, CD000165 Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (Hrsg) (2005) Dokumentation 2005. Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung in der Primärprävention und Betrieblichen Gesundheitsförderung gemäß § 20 Abs. 1 und 2 SGB V. Köln Pott E (2003) Strategien des sozialen Marketing. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Urban & Fischer, München Jena, S 215–225 Predel HG, Tokarski W (2005) Einfluss körperlicher Aktivität auf die menschliche Gesundheit. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 48 (8):833–840 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. http:// www.svr-gesundheit.de [Zugriff am 24.08.2007] Ueblacker P, Gebauer M, Ziegler M, Braumann KM, Rueger JM (2005) Verletzungen und Fehlbelastungsfolgen im Sport. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 48 (8):927–938 Ulbricht S, Meyer C, Schumann A, Rumpf HJ, Bischof G, Hapke U, John U (2004) Förderung der Intention zur Tabakabstinenz bei Patienten in der hausärztlichen Praxis. Gesundheitswesen 66:518–521 Walter U, Schwartz FW, Hoepner-Stamos F (2003) Zielorientiertes Qualitätsmanagement und aktuelle Entwicklungen in Gesundheitsförderung und Prävention. In: BZgA (Hrsg) Qualitätsmanagement in Gesundheitsförderung und Prävention. Grundsätze, Methoden und Anforderungen. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Bd 15. Köln
10.2
Bedeutung der Ernährung für das Muskel-Skelett-System
Martina Plaumann, Richard Lux, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Neben den indirekten Folgen einer unausgewogenen Ernährung auf das Muskel-Skelett-System durch Übergewicht, Stoffwechselentgleisungen, Durchblutungsstörungen oder Sauerstoffknappheit wirken Bestandteile aus der Nahrung direkt auf die Knochen- und Knorpelstrukturen sowie das Muskelgewebe. Die Erkenntnisse über die Bedeutung von Mineralstoffen, Spurenelementen, Vitaminen sowie Eiweißen für die skelettale und muskuläre Gesundheit sind keineswegs statisch. Vielmehr unterliegen diese teilweise seit langer Zeit bekannten Nährstoffe einer dynamischen wissenschaftlichen Diskussion mit sich ändernden Schlussfolgerungen. Hinzu kommen neu entdeckte Substanzen wie die sekundären Pflanzeninhaltsstoffe. Deren Nutzen oder Schaden muss auch vor dem Hintergrund einer vermehrten Bewerbung durch die Produzenten entsprechender Präparate und einer zunehmenden Verbreitung unter den Konsumenten eingeordnet werden. Das folgende Kapitel befasst sich mit den Wirkungen und Nebenwirkungen der für den Bewegungsapparat besonders relevanten Nahrungsbestandteile.
10.2.1 Mineralstoffe und Spurenelemente Kalzium
Grundsubstanz bei der Knochenmineralisation ist Kalzium, das ständig ausreichend in der Nahrung vorhanden sein sollte. Über 99% seines Bestandes findet sich im Skelett, das somit einen sehr großen Kalziumspeicher darstellt und durch eine geringe Kalziumaufnahme bedingte Schwankungen durch den Einfluss von Parathormon (dem Gegenspieler des Hormons Calcitonin) ausgleichen kann. Das Parathormon stammt aus der Nebenschilddrüse und aktiviert die knochenabbauenden Osteoklasten; das Calcitonin wird in der Schilddrüse gebildet und hemmt die Osteoklasten. Eine ausreichende Zufuhr von Kalzium ist insbesondere im Kindes- und Jugendalter wichtig, da in dieser auch als »bone modeling« bezeichneten Phase das Skelettsystem aufgebaut wird. Mit dem Ende des 20. Lebensjahres ist die maximale Knochenmasse (»peak bone mass«) meist erreicht. Diese bleibt in den folgenden Lebensjahren stabil, wobei der Knochen jedoch ständig erneuert wird (»bone remodeling«). Besonders bei Frauen erfolgt aufgrund der Hormonveränderungen in der Menopause ein Abbau an Knochensubstanz, der mit zunehmendem Alter weiter fortschreitet (Allolio 2006). Wird in den verschiedenen Lebensabschnitten zu wenig Kalzium
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
aufgenommen, kann dies eine Osteoporose ( Kap. 8) fördern (Huch u. Bauer 2003). Der tägliche Verlust an Kalzium beträgt ca. 200 mg. Davon werden 100 mg über die Niere, 85 mg über den Darm und 10–20 mg über die Haut ausgeschieden. Da Kalzium aus der Nahrung nur zu ca. 50% resorbiert wird (Bioverfügbarkeit), muss ein Erwachsener pro Tag mindestens 400 mg Kalzium zum Ausgleich aufnehmen. Eine Übersättigung von Kalzium wird dadurch verhindert, dass mit zunehmendem Kalziumangebot der Anteil des aus dem Darm resorbierten Kalziums sinkt (NIH-Consensus-Statement 1994, zitiert nach Allolio 2006). Dieser Schutzmechanismus verliert erst bei einem Kalziumangebot von über 4 g pro Tag an Wirkung (Allolio 2006). ist, dass Prävention frühzeitig ansetzt, ins» Wichtig besondere durch eine Stärkung des Muskelgewebes und des Knochenaufbaus in der körperlichen Reifungsphase. Dr. Wilfried Kunstmann, Bundesärztekammer, Berlin
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Die empfohlene Aufnahmemenge an Kalzium ist altersabhängig und kann je nach Gesellschaft etwas variieren (⊡ Tabelle 10.1). Während des schnellen Skelettwachstums im Kindes- und Jugendalter sollten zwischen 700– 1300 mg, in der Schwangerschaft bzw. Stillzeit 1000 mg und im höheren Lebensalter bis zu 1200 mg pro Tag aufgenommen werden. Der erhöhte Bedarf von Kalzium in der Pubertät ist dadurch bedingt, dass in dieser Zeit vermehrt Kalzium in das Skelett eingebaut wird. Im Erwachsenenalter sind ca. 1000 mg Kalzium pro Tag nötig, um die erreichte »Knochengipfelmasse« stabil zu halten. Da ältere Menschen über 65 Jahre oftmals eine vermin-
derte Kalziumresorption aufweisen, wird zur Prävention von Frakturen eine höhere Kalziumaufnahme empfohlen. Die verminderte Kalziumresorption beruht auf einem Vitamin-D-Mangel, der aufgrund einer Niereninsuffizienz und zu geringer Sonnenbestrahlung (s. unten) entstehen kann. Sowohl die Niere als auch die Haut sind am Vitamin-D-Stoffwechsel beteiligt. Die optimale Kalziumaufnahme wird in Deutschland von den meisten Menschen nicht erreicht und auch die adäquate Kalziumzufuhr in einem hohen Prozentsatz unterschritten. Die durchschnittliche Aufnahme von Kalzium liegt in Deutschland bei 856 mg/Tag bei Männern und 789 mg/Tag bei Frauen (Allolio 2006; Elmadfa u. Leitzmann 2004). Die Empfehlungen zur Kalziumaufnahme des USamerikanischen »Food and Nutrition Board of the National Academy of Science« liegen für alte Menschen über denen der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Ernährungsgesellschaften (D-A-CH-Referenzwerte). Für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene im mittleren Lebensalter sowie Schwangere und Stillende über 19 Jahre sind die Empfehlungen größtenteils ähnlich. Kalzium kommt u. a. in der Milch und in Milchprodukten vor. Deren Aufnahme kann jedoch mit einer Zufuhr hoher Kalorienmengen und gesättigter Fette verbunden sein. Fettreduzierte und kalziumreiche Milchprodukte oder pflanzliche Lebensmittel mit einem hohen Kalziumgehalt wie Brokkoli, Staudensellerie und Lauch stellen Alternativen dar (⊡ Abb. 10.1). Eine weitere Kalziumquelle können entsprechende Mineralwässer sein, die teilweise 550–600 mg Kalzium pro Liter aufweisen. Hierbei sollten jedoch natriumarme Mineralwässer bevorzugt werden.
⊡ Tabelle 10.1. Vergleich der Empfehlungen der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Ernährungsgesellschaften (D-A-CH-Referenzwerte) mit den US-amerikanischen »Dietary Reference Intake (DRI) Values« (Bryant et al. 1999) zur Kalziumaufnahme Altersgruppe
D-A-CH [mg/Tag]
Altersgruppe
DRI [mg/Tag]
0–4 Monate
220
0–6 Monate
210
4–12 Monate
400
6–12 Monate
270
1–4 Jahre
600
1–3 Jahre
500
4–7 Jahre
700
4–8 Jahre
800
7–10 Jahre
900
9–13 Jahre
1300
10–13 Jahre
1100
14–18 Jahre
1300
13–15 Jahre
1200
19–30 Jahre
1000
15–19 Jahre
1200
31–50 Jahre
1000
19–25 Jahre
1000
51–70 Jahre
1200
25–65 Jahre
1000
> 70 Jahre
1200
Schwangere/Stillende
1000
Schwangerschaft (19–50 Jahre)
1000
> 65 Jahre
1000
Stillzeit (19–50 Jahre)
1000
189 10.2 · Bedeutung der Ernährung für das Muskel-Skelett-System
Wird die empfohlene Kalziumzufuhr durch die Ernährung nicht erreicht, kann auf Kalziumsupplemente zurückgegriffen werden. Diese werden besser resorbiert, wenn sie in kleineren Dosen (von maximal 500 mg) über den Tag verteilt eingenommen werden. Ein Faktor, der die Kalziumaufnahme fördert, ist das Vitamin D. Es unterstützt die Resorption von Kalzium aus dem Darm (s. unten). Einen negativen Einfluss auf die Resorption von Kalzium besitzen die Oxalsäure/das Oxalat (Salz der Oxalsäure; vor allem in Spinat, Mangold, Rhabarber, Kakao und Rote Beete) sowie die Phytinsäure/das Phytat (Anion der Phytinsäure; besonders in Vollkornmehlen). Beide Stoffe bilden mit Kalzium schwer lösliche Komplexe und tragen dazu bei, dass der Mineralstoff nicht oder nur schwer vom Körper aufgenommen werden kann. Während oxalsäurehaltige Lebensmittel nicht mit kalziumreichen Lebensmitteln aufgenommen werden sollten, spielt die hemmende Wirkung des Phytats auf die Kalziumaufnahme bei einer ausgewogenen Mischkost keine große Rolle. Der exzessive Konsum von Genussmitteln wie Kaffee und Alkohol kann sich ebenfalls ungünstig auf den Knochenaufbau auswirken. Ein übermäßiger Kaffeekonsum kann die Ausscheidung von Kalzium über die Niere erhöhen. Ein erhöhter Alkoholkonsum stört das Gleichgewicht bei der Knochenerneuerung (⊡ Tabelle 10.2).
Phosphor und Magnesium
Neben Kalzium ist auch der Mineralstoff Phosphor/Phosphat (Salz der Phosphorsäure) für die Festigkeit der Knochen unentbehrlich. Phosphorhaltige Lebensmittel sind u. a. Milch und Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Getreide sowie Hülsenfrüchte. Wird Phosphor jedoch in erhöhter Menge dem Körper zugeführt, kann dies eine geringere Kalziumresorption und eine Abnahme der Knochensubstanz bedingen. Daher sollte das Kalzium-Phosphor-Verhältnis im optimalen Fall 1:1 bzw. 1:1,2 betragen. Reich an Phosphor sind vor allem die industriell verarbeiteten Lebensmittel und jene Produkte, die mit Konservierungsstoffen versetzt werden. Hierzu zählen Wurst, Käse, Fertiggerichte, Suppen und Saucen sowie koffeinhaltige Erfrischungsgetränke namhafter Hersteller. 55 bis 60% der etwa 25 g Magnesium, die in einer erwachsenen Person vorkommen, sind an das Hydroxylapatit des Knochens gebunden. Das Skelett stellt somit den größten Magnesiumspeicher des Körpers dar (Vormann 1999). Etwa 40% des Gesamtgehalts an Magnesium im Körper befindet sich in der Muskulatur. Die empfohlene Aufnahmemenge pro Tag beträgt für Frauen ungefähr 280 mg, für Männer 350 mg (Grunewald 2006). Besonders magnesiumreiche Lebensmittel sind Nüsse, Schokolade, Honig, Vollkorn- und Samenprodukte, Hülsenfrüchte (Bohnen und Erbsen), Fisch sowie Geflügel. Folgen eines Magnesiummangels (Hypomagnesiämie) können u. a.
Pflanzliche Lebensmittel
Milch/Milchprodukte ~85 ml Buttermilch
12,5 g Sesamsamen 50 g Brennesselsaft
~85 g Dickmilch
~60 g gekochter Grünkohl ~85 g Joghurt
100 g Brokkoli
~85 ml Kefir
100 mg Kalzium
~85 ml Milch
125 g roher Staudensellerie 140 g gegarter Lauch 150 g rohe Kohlrabi
100 g Fruchtjoghurt 100 g Quark
200 g gekochte Artischocken 200 g gekochte grüne Bohnen
⊡ Abb. 10.1. Vorkommen von 100 mg Kalzium in pflanzlichen Lebensmitteln und Milch bzw. Milchprodukten (auf Basis von Allolio 2006)
⊡ Tabelle 10.2. Einflussfaktoren auf die Verfügbarkeit von Kalzium (nach Elmadfa u. Leitzmann 2004) Verminderte Absorption
Vermehrte Ausscheidung mit dem Urin
Vitamin-D-Mangel exzessive Phosphatzufuhr viel Oxalat, Phytat und Ballaststoffe erhöhte Darmmotilität Medikamente (Glukokortikoide, Antikonvulsiva) wenig Magensäure
viel Protein in der Nahrung viel Speisesalz in der Nahrung hoher Kaffeekonsum (Koffein) regelmäßiger Alkoholkonsum
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
Muskelkrämpfe und ein Kalziumdefizit (Hypokalzämie) sein (Fliser u. Ritz 1999). Häufigste Ursachen eines Magnesiummangels sind die Einnahme von harntreibenden Medikamenten (Diuretika), Mangelernährung und chronischer Alkoholismus. Eine übermäßige Zufuhr von Magnesium (Hypermagnesiämie) stört die neuromuskuläre Erregungsübertragung und führt zu Lähmungen (Kisters et al. 2000). Prävention sollte vorrangig in der Aufklärung » Die über richtige Ernährung, besonders bei Kindern und Jugendlichen, sowie bei der Reduktion und der Vermeidung von Übergewicht ansetzen. Dr. Detlef Detjen, Aktion Gesunder Rücken e. V., Selsingen
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Fluor
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Der Effekt des Fluors/Fluorids (Salz des Fluors) am Knochen wird vor allem auf eine Vermehrung der aktiven Osteoblasten und eine gesteigerte Bildung von Knochenmatrix zurückgeführt (Eibl et al. 1998). Fluoridreiche Nahrungsmittel sind beispielsweise Meeresfische und schwarzer Tee. Die Gesamtaufnahme an Fluorid über Lebensmittel beträgt in Deutschland bei Erwachsenen etwa 0,4–0,5 mg pro Tag. Die angemessene Gesamtzufuhr an Fluorid wird alters- und geschlechtsabhängig mit 0,25–0,5 mg bei Säuglingen bis zu einem Alter von 12 Monaten, mit 0,7–3,2 mg bei Kindern von 1–15 Jahre sowie mit 2,9–3,8 mg pro Tag bei Jugendlichen und Erwachsenen von 15–65 Jahren und älter angegeben (Elmadfa u. Leitzmann 2004). Eine Supplementation von Fluorid über fluoridiertes Speisesalz oder Fluoridtabletten beispielsweise zur Kariesprophylaxe erfolgt in Anpassung an den Fluoridgehalt des Trinkwassers. Zum Zweck der Osteoporoseprävention und -therapie ist die Einnahme von Präparaten wie Natriumfluorid oder Natriumfluorphosphat mit ihrer osteoanabolen Wirkung ebenfalls eine Option (Pfeilschifter 2001). Bei mehrjähriger Aufnahme von Fluoridmengen zwischen 10 und 25 mg pro Tag kann jedoch eine Skelettfluorose auftreten. Diese ist mit einer erhöhten Knochenbrüchigkeit und Gelenkveränderungen vergesellschaftet (Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin 2002). Während die Skelettfluorose in den gemäßigten Klimazonen eine untergeordnete Rolle spielt, ist sie in den Tropenregionen mit einem hohen Fluoridgehalt im Trinkwasser weiterhin relevant (Gönnewicht 2005). Spurenelemente
Zink und Kupfer sind für das Muskel-Skelett-System wichtige Spurenelemente. 90% des gesamten Körperzinks sind in Muskeln (60%) und Knochen (30%) gespeichert. Zu den Symptomen eines Zinkmangels können Wachstumsverzögerungen, langsamere Wundheilung und Knochenveränderungen gehören. Ursache eines Defizits kann eine unzureichende alimentäre Zufuhr sein aufgrund ei-
ner Fehl- oder Mangelernährung, einer einseitigen Reduktionsdiät, Alkoholismus sowie parenteraler Ernährung. Kinder, Jugendliche, Schwangere und Stillende, Leistungssportler, Vegetarier, Alkoholiker, alte Menschen, Kranke, frisch Operierte sowie Rekonvaleszente werden als Risikogruppen angesehen. Dem Zinkmangel kann mit einer Supplementierung begegnet werden (initial 2-mal 20–25 mg täglich über 4 Tage, gegebenenfalls Fortsetzung der Therapie mit 20–25 mg pro Tag über 3 Monate; Roth u. Kirchgessner 1999). Kupferquellen sind Getreideprodukte, Innereien wie Leber oder Niere, Fische und Schalentiere, Nüsse, Kakao sowie Schokolade. Der Kupferbedarf beträgt bei Kindern über 7 Jahre und Erwachsenen 1,0–1,5 mg pro Tag. Bei Absorptionsstörungen kann die Aufnahme mangelhaft sein, bei Krankheiten ein erhöhter Bedarf bestehen (Bayer u. Gerz 2004). Ein Defizit an Kupfer verursacht eine verminderte Knochenstabilität. Als Ausgleich stehen Nahrungsergänzungsmittel mit zumeist 0,5–2 mg elementarem Kupfer pro Kapsel (1- bis 4-mal täglich eingenommen), Kombinationspräparate mit hohem Kupfergehalt und intravenöse Darreichungsformen zur Verfügung.
10.2.2 Vitamine Vitamin D
Vitamin D3 (Cholecalciferol) ist das physiologisch im Menschen vorkommende Vitamin D. Es ist kein Vitamin im eigentlichen Sinne, da es durch die UV-Bestrahlung der Haut entsteht, die Funktion eines Prohormons hat und über eine Zwischenstufe in das Hormon Calcitriol umgewandelt wird. Es ist u. a. an dem Kalziumtransport im Darm und somit an der Regulation des Kalziumund Phosphathaushaltes (Kalziumhomöostase) beteiligt. Zudem spielt Vitamin D bei dem ständigen Ab- und Aufbau der Knochen eine Rolle. Es erhöht die Resorptionsfähigkeit der Knochen und stimuliert die Knochenmineralisation. Ein Mangel an Vitamin D kann zu einer Demineralisierung der Knochen führen, ausgelöst durch eine inadäquate Absorption von Kalzium und Phosphat im Darm sowie einem sekundären Hyperparathyreoidismus (erhöhte Ausschüttung des Parathormons, s. oben). Die Demineralisierung des Knochens kann in der Folge bei Kindern zu Rachitis und bei Erwachsenen zu Osteomalazie führen. Zur Rachitisprophylaxe ist es deshalb in Deutschland üblich, Säuglingen während des ersten Lebensjahres Vitamin D in einer täglichen Einzeldosis zu verabreichen (s.u.). Die Osteomalazie ist ein seltenes Krankheitsbild, das bei alten Menschen mit verminderter Sonnenexposition und bei jüngeren Personen mit Essstörungen wie Anorexia nervosa (Magersucht) beobachtet werden kann. Vitamin D kommt in Lebensmitteln nur sehr begrenzt vor, Fischleber hingegen enthält z. B. sehr hohe Mengen (⊡ Tabelle 10.3).
191 10.2 · Bedeutung der Ernährung für das Muskel-Skelett-System
⊡ Tabelle 10.3. Vitamin-D-Gehalt ausgewählter Lebensmittel (Elmadfa u. Leitzmann 2004)
⊡ Tabelle 10.4. Tägliche Empfehlungen der Aufnahme von Vitamin D (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2007)
Lebensmittel
Lebensabschnitt
Vitamin D [µ/Tag]
Säuglinge (0 bis unter 12 Monate)
10
µg/100 g
Fisch Hering
26,71
Kinder (1 bis unter 15 Jahre)
5
Lachs
16,30
5
Sardine
10,75
Jugendliche und Erwachsene (15 bis unter 65 Jahre)
Thunfisch
4,54
Ältere (65 Jahre und älter)
10
Makrele
4,00
Schwangere
5
Kabeljau
1,30
Stillende
5
Innereien, Fleisch
Vitamin K
Hühnerleber
1,30
Kalbsleber
0,33
Eier Hühnereigelb
5,58
Hühnerei, gesamt
2,93
Vitamin-D-Mangel ist in Mitteleuropa und Deutschland weit verbreitet. Beispielsweise konnten in Deutschland während der Wintermonate bei Personen zwischen 50 und 80 Jahren zu einem hohen Prozentsatz (30–40%) Vitamin-D-Defizite nachgewiesen werden. In geriatrischen Einrichtungen untergebrachte Personen sind ebenfalls dem erhöhten Risiko für einen Mangel ausgesetzt (Kudlacek et al. 2001). Zudem führt bereits das subklinische Defizit zu einem sekundären Anstieg des Parathormons und damit zu einem gesteigerten Knochenabbau (Scharla 2003). Die Eigensynthese des Körpers kann durch die UVSonnenbestrahlung den Großteil des Bedarfs abdecken. Bei stärker pigmentierter Haut und bei Bewohnern von Regionen mit niedriger Sonnenscheindauer sollte Vitamin D allerdings zur Prävention von Rachitis und Osteomalazie dem Körper zugeführt werden (Biesalski et al. 2004). Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde empfiehlt zudem unabhängig von der VitaminD-Produktion durch UV-Licht in der Haut und der Vitamin-D-Zufuhr durch Muttermilch bzw. Säuglingsmilchnahrung (Basisvitaminierung) zur Rachitisprophylaxe bei gestillten und nicht gestillten Säuglingen die tägliche Gabe einer Vitamin-D-Tablette von 10–12,5 µg ab dem Ende der ersten Lebenswoche bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Die Prophylaxe kann im zweiten Lebensjahr in den Wintermonaten fortgeführt werden (zitiert nach Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. 2007). Menschen, die älter als 65 Jahre sind, wird eine höhere tägliche Aufnahme von Vitamin D angeraten (⊡ Tabelle 10.4).
Beim Vitamin K werden Phylloquinon (Vitamin K1) und Menaquinon (Vitamin K2) voneinander unterschieden. Das Vitamin K1 ist in Pflanzen enthalten. Das Vitamin K2 wird von Bakterien beispielsweise im Dickdarm gebildet, kann jedoch in geringen Mengen auch im Käse nachgewiesen werden. Die K-Vitamine sind an der Aktivierung des Osteocalcins beteiligt – eines Eiweißstoffes, der durch Osteoblasten synthetisiert wird und am Knochenaufbau beteiligt ist. Ein Vitamin-K-Mangel ist beispielsweise bei Frauen im Alter ab 70 Jahren mit einer erniedrigten Knochendichte und einem erhöhten Frakturrisiko der Hüfte assoziiert (Szulc et al. 1996; Takahashi et al. 2001). Darüber hinaus können Personen in jüngeren Altersgruppen von einem gesteigerten Osteoporoserisiko betroffen sein, wenn sie medizinisch indiziert bestimmte Medikamente zur Blutverdünnung einnehmen müssen, die als Vitamin-K-Antagonisten (Gegenspieler) wirken (orale Antikoagulanzien). Dieses Osteoporoserisiko unter Einnahme oraler Antikoagulanzien wurde bislang unterschätzt (Liebig et al. 2004). Zur Verhinderung eines Mangels wird der Konsum Vitamin-K-reicher Gemüsesorten wie Kohl, Salat, Spinat und Sauerkraut empfohlen. Ferner besteht die Möglichkeit der Vitamin-K-Supplementierung (auf eine Gesamtmenge von 200 µg pro Tag; Teichmann u. Riemann 2004) mit entsprechenden Präparaten – bei Bedarf in Kombination mit Kalzium und Vitamin D3. Bei Personen unter oraler Antikoagulanzien-Therapie verbietet sich selbstverständlich eine Steigerung der Vitamin-K-Zufuhr – bei ihnen sollte zur Osteoporoseprophylaxe die alleinige Einnahme von Kalzium und Cholecalciferol erwogen werden (Becher 2001). Vitamin C
Vitamin C (Ascorbinsäure) stellt ein weiteres für die Knochenneubildung notwendiges Vitamin dar. Es gewährleistet jene chemischen Veränderungen bestimmter Aminosäuren, die für die Quervernetzungen der organischen Strukturen im Knochen sorgen. Darüber hinaus ist Vitamin C für die Bildung des Knorpels von Bedeutung.
10
192
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
Ein Mangel an Vitamin C hat beim Kleinkind die MoellerBarlow-Krankheit (»Säuglingsskorbut«), beim Erwachsenen Skorbut zur Folge. Ein Vitamin-C-Defizit verzögert die Wund- und Frakturheilung (Wirth et al. 2000). Ein Vitamin-C-Mangel ist heutzutage jedoch selten. Vitamine B1
Aus der Gruppe der B-Vitamine ist das Vitamin B1 (Thiamin) für das Muskel-Skelett-System von Bedeutung. Das Thiamin ist v. a. in Hülsenfrüchten (Sojabohnen), Vollkornprodukten, Nüssen, Samen und im Schweinefleisch enthalten. Für erwachsene Frauen und Männer wird die tägliche Zufuhr von 1,1 bzw. 1,3 mg empfohlen (Hahn u. Ströhle 2006). Die durch ein Vitamin-B1-Defizit ausgelöste Krankheit wird Beri-Beri genannt und ist u. a. durch eine Muskelschwäche gekennzeichnet (Wirth et al. 2000). Das Defizit wird zumeist durch einen chronischen Alkoholabusus erzeugt, kann jedoch auch Folge einer Tumorerkrankung, parenteraler Ernährung und von anderen mit einer Malnutrition assoziierten Zuständen sein (Bitsch et al. 1998). Während Beri-Beri in den Industrienationen praktisch nicht vorzufinden ist (Hahn u. Ströhle 2006), kann bei Kindern und Jugendlichen in den deutschsprachigen Ländern jedoch weiterhin eine Unterversorgung mit Vitamin B1 festgestellt werden (Baerlocher u. Laimbacher 2001).
10
Vitamin A
Einerseits beeinflusst Vitamin A (Retinol) die Aktivität der Osteoblasten/-klasten und somit das Gleichgewicht zwischen Knochenauf- und -abbau (Wirth et al. 2000). Andererseits wird die Inzidenzsteigerung der Osteoporose in Nordeuropa auf eine erhöhte Vitamin-A-Aufnahme zurückgeführt. Kurzfristig sind zwar keine negativen Auswirkungen auf den Knochenstoffwechsel zu erwarten. Langfristig scheint aber die Einnahme von Retinol-Präparaten mit einem Anstieg des Frakturrisikos einherzugehen (Woschnagg 2003). Zudem kann die Intoxikation (Vergiftung) mit Vitamin A – wie die Vitamin-D-Intoxikation – zu einer Hyperkalzämie (Kalziumüberschuss) und deren negativen Folgen für den Bewegungsapparat führen (Fliser u. Ritz 1999).
10.2.3 Sekundäre Pflanzenstoffe
(Phytoöstrogene) Zur Gruppe der Phytoöstrogene gehören die Isoflavonoide (Isoflavone, Coumestane) und die Lignane. Isoflavone kommen in Sojabohnen und Rotklee, Coumestane in Kleesprossen und Lignane in Vollkornprodukten, verschiedenen Bohnen, Leinsamen, Kürbiskernen sowie im Spargel vor. Phytoöstrogene wirken als partielle Östrogenagonisten. Ihre Wirkung ist zwar um ein Vielfaches schwächer als die der körpereigenen Östrogene, gleichzeitig können die pflanzlichen Varianten jedoch eine sehr viel höhere
Konzentration im Körper erreichen (Melzer et al. 2004). Knochenschützende Effekte der Phytoöstrogene werden intensiv diskutiert (Briese 2000). Isoflavone beispielsweise, die als wirkstärkste Phytoöstrogene gelten, bestätigten tierexperimentell einen osteoprotektiven Effekt, in klinischen Studien bleiben die Befunde allerdings widersprüchlich (Wuttke et al. 2002). Eine der wenigen doppelblinden randomisierten Studien – veröffentlicht im angesehenen »Journal of the American Medical Association« – konnte die Hypothese, der Konsum von Isoflavone enthaltendem Soja-Eiweiß wirke sich positiv auf die Knochendichte aus, nicht unterstützen (Kreijkamp-Kaspers et al. 2004).
10.2.4 Proteine (Aminosäuren)
Klinische Symptome, die auf einen Eiweißmangel hinweisen können, sind Muskelschwäche und -atrophie (Muskelschwund; Pirlich et al. 2003). Zudem ist die adäquate Zufuhr von hochwertigen Proteinen für den optimalen Knochenstoffwechsel gerade im Kindes- und Jugendalter unabdingbar. Aber auch in der osteoanabolen (knochenaufbauenden) und -katabolen (knochenabbauenden) Wirkung von Eiweiß zeigt sich eine Dosisabhängigkeit: Eine proteinarme Ernährung senkt die Kalziumaufnahme und begünstigt eine negative Bilanz des Knochenstoffwechsels (Allolio 2006); eine übermäßige Eiweißzufuhr steht in Verdacht, vermehrt Kalzium über die Nieren auszuscheiden (Kalziurie) und sich negativ auf die Knochendichte auszuwirken (Metges u. Barth 2000).
10.2.5 Ernährungsabhängiger Säure-Basen-
Haushalt und Knochengesundheit Neben der Abhängigkeit des Säure-Basen-Haushalts von der Nierenfunktion trägt auch die Ernährung zur Aufrechterhaltung des Säure-Basen-Gleichgewichts und damit zur Gesunderhaltung des Knochens bei (Horn 2001). Bereits 1932 konnten im Tierexperiment rachitisch anmutende Knochenveränderungen durch Absenkung des pH-Wertes im Blut erzeugt werden. Diese Übersäuerung (Azidose) wurde durch eine Überfütterung mit Traubenzucker herbeigeführt (Haslhofer u. Custer 1933). Mittlerweile ist die chronisch-metabolische (stoffwechselbedingte) Azidose als Mitursache der Osteoporose anerkannt. Auch der zur Demineralisation führende Mechanismus scheint geklärt: Die bei der Übersäuerung überschüssigen Wasserstoffionen (H+-Protonen) können durch eine vermehrte Freisetzung von Phosphat aus dem Hydroxylapatit der Knochensubstanz abgepuffert werden (Stradtmann 2004). Eine metabolische Azidose kann ernährungsassoziiert durch eine diabetische Stoffwechselentgleisung, die inadäquate Aufnahme säuernder Nahrungsinhaltsstoffe (Protein und Phosphor) sowie durch
193 10.2 · Bedeutung der Ernährung für das Muskel-Skelett-System
den Verlust basenbildender Substanzen (Bikarbonat) beispielsweise im Rahmen einer Durchfallerkrankung auftreten. Schon im Kindes- und Jugendalter beeinflusst die ernährungsbedingte Säurelast die Knochenstabilität. Einer erhöhten Säurelast kann mit einer ausreichenden Zufuhr von basenbildenden Nährstoffen und Lebensmitteln wie Obst und Gemüse begegnet werden (Alexy u. Remer 2007). Zudem gibt es Hinweise, dass die Gabe von Basenpräparaten wie Kaliumhydrogenkarbonat insbesondere bei postmenopausalen Frauen die Kalzium- und Phosphorbilanz verbessert, die Knochenresorption vermindert sowie die Knochenbildung fördert (Bayer u. Gerz 2006).
10.2.6 Fazit
Einerseits kann eine ausgewogene Ernährung mit allen wichtigen Nährstoffen ein wichtiger Schlüssel beispielsweise für die Knochengesundheit darstellen. Andererseits können Nahrungsinhaltsstoffe auch Schädigungen am Muskel-Skelett-System verursachen. Nahrungsinhaltsstoffe können primärpräventiv vor Entstehung einer Schädigung eingesetzt, sekundärpräventiv bei bereits bestehenden Defekten eingenommen oder tertiärpräventiv als supportive Hilfsmittel genutzt werden. Nicht selten ist bei ein und derselben Substanz der Grad des Nutzens oder Schadens allein von der Dosierung abhängig. Keine der erwähnten Substanzen wirkt isoliert von den Begleitumständen: die An- und Abwesenheit weiterer Nahrungsinhaltsstoffe, die physiologischen oder pathologischen Ausgangsbedingungen, verhaltens- bzw. verhältnisbezogene Einflussfaktoren sowie das Resorptionsausmaß im Darm (Bioverfügbarkeit) entscheiden über die Wirkungsweise und den Wirkungsgrad. Gründe für eine Supplementierung können der Ausgleich eines generellen oder individuellen Defizits, der erhoffte Nutzen einer zusätzlichen Einnahme trotz adäquater Versorgung oder der Ersatz einer bestimmten Komponente durch eine in ihrer Wirkung gleichsinnige Substanz sein. Die Störanfälligkeit nährstoffbezogener Interaktionen durch beabsichtigte oder unbeabsichtigte Interventionen macht sich gerade im Bereich muskuloskelettaler Erkrankungen bemerkbar. Einer starken Vereinfachung wie sie aus marketingstrategischen Erwägungen heraus betrieben wird, sollte demzufolge mit einem entsprechenden Misstrauen begegnet werden. Dies ändert nichts an den Erfolgen, die mit einem wohlüberlegten Einsatz von Mikrosubstanzen in der Prävention und Kuration von Krankheiten des Bewegungsapparates erzielt werden. Literatur Alexy U, Remer T (2007) Ernährungsbedingte Säurelast. Beeinflussung der Knochenstabilität bei Kindern und Jugendlichen. Monatsschr Kinderheilkd 155 (5):456
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
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10.3
Körperliche Aktivität und Sport zur Prävention von Muskel-SkelettErkrankungen
Klaus Pfeifer, Jana Hofmann, Astrid Zech Arthrose, Osteoporose und Rückenschmerzen zählen zu den muskuloskelettalen Erkrankungen mit großer individueller Krankheitslast und hoher sozioökonomischer Belastung des Gesundheitssystems. Sowohl veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen als auch eine zunehmend älter werdende Bevölkerung stehen im Kontext mit der steigenden Prävalenz dieser Erkrankungen. Gleichzeitig steigt die Aufmerksamkeit für die Rolle von Bewegungsmangel bei der Entstehung bzw. die Frage nach dem ausreichenden Maß von regelmäßiger körperlicher Aktivität auch für die Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen. Hintergrund ist die zunehmende Evidenz für einen inversen Zusammenhang zwischen körperlicher
Aktivität und der Mortalitäts- bzw. Morbiditätsrate bei einer Vielzahl von chronisch-degenerativen Erkrankungen (Samitz u. Baron 2002; Pandolf 2001). So wird neben einer Abnahme der Gesamtmortalität bei regelmäßiger moderater körperlicher Aktivität z. B. für den Bereich der Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen eine deutliche Reduktion von Morbidität und erkrankungsbedingter Mortalität beschrieben. In diesem Zusammenhang entstanden die aktuellen Empfehlungen des American College of Sport Medicine (ACSM) und der American Heart Association (AHA; vgl. Haskell et al. 2007). Demnach ergibt sich eine Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit bei Erwachsenen durch: ▬ moderate aerobe körperliche Aktivität von mindestens 30 Minuten Dauer an fünf Tagen der Woche oder ▬ anstrengende aerobe körperliche Aktivität von 20 Minuten Dauer an drei Tagen der Woche und ▬ acht bis Kräftigungsübungen mit jeweils acht bis zwölf Wiederholungen an zwei Tagen der Woche. Jenen Empfehlungen kann in Bezug auf die genannten Erkrankungen eine relativ hohe Gültigkeit beigemessen werden. Für die unterschiedlichen Erkrankungen bzw. deren Endpunkte können derzeit jedoch keine allgemein gültigen Dosis-Wirkungs-Beziehungen beschrieben werden. Im Folgenden werden die Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivität und der Inzidenz sowie Prävalenz von Arthrose, Osteoporose und Rückenschmerzen dargestellt. Dabei werden unter körperlicher Aktivität zunächst all jene Bewegungen verstanden, die durch die Skelettmuskulatur hervorgebracht werden und zu einer Steigerung des Energieverbrauchs führen (Caspersen et al. 1985). Diese allgemeine Bezeichnung wird verwendet, weil in den meisten der nachfolgend benannten Quellen keine eindeutige Klassifizierung der Form körperlicher Aktivität in Bezug auf Umfang, Häufigkeit und Intensität vorgenommen wurde (zu diesem Problem siehe z. B. Samitz u. Baron 2002). In der Prävention von Arthrose, Osteoporose und Rückenschmerz ist vor allem eine allgemeine körperliche Aktivierung im Sinne der oben genannten Empfehlungen von hoher Bedeutung. Ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung und bereits ein hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen entsprechen hinsichtlich ihres täglichen Bewegungsverhaltens jedoch nicht den aktuellen Ratschlägen (Lampert et al. 2007; RKI 2006; Langness et al. 2005). Aus Puplic-Health-Perspektive stellt sich hier die Aufgabe, differenzierte Konzepte und innovative Zugangswege für spezifische Zielgruppen und Hochrisikogruppen zu entwickeln, um das Ausmaß regelmäßiger körperlicher Aktivität in der Bevölkerung zu erhöhen. Im letzten Abschnitt werden daher populations- und lebensweltbezogene sowie individuumsbezogene Ansätze vorgestellt und Bedingungen einer erfolgreichen Umsetzung im Hinblick auf die Erhöhung körperlicher Aktivität bewegungsarmer Zielgruppen erörtert.
195 10.3 · Körperliche Aktivität und Sport zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen
10.3.1 Körperliche Aktivität und Arthrose
Während sich zahlreiche Untersuchungen mit der Rolle körperlicher Aktivität in der Therapie von Arthrose auseinandersetzen, liegen bisher nur wenige Studien im Hinblick auf die Prävention von Neuerkrankungen vor. Ein überdurchschnittlich häufiges Auftreten der degenerativen Arthrose wird meist im Zusammenhang mit andauernden bzw. wiederholt applizierten, einseitigen Belastungen beschrieben. So zeigen beispielsweise Personen, die im Rahmen ihres Berufs eine dauerhaft hohe körperliche Beanspruchung erfahren, z. B. Feuerwehrmänner, Landwirte, Landwirtschaftsarbeiter, Fischer oder Hafenarbeiter, eine besonders hohe Anfälligkeit für Arthrose im Knie- und/oder Hüftgelenk (Vingard et al. 1991). Auch für Leistungssportler innerhalb bestimmter Sportarten kann ein erhöhtes Arthroserisiko nachgewiesen werden, was vermutlich mit der regelmäßig hohen, sportartspezifischen Belastung zu begründen ist (Vuori 2001; Buckwalter u. Martin 2004; Pedersen u. Saltin 2006; Vignon et al. 2006). Zu den stark gelenkbelastenden Sportarten zählen nahezu alle Spielsportarten oder Laufdisziplinen während Schwimmen, Radfahren, Tai Chi und leichte Aerobicübungen eher zu geringen Belastungen des Gelenkes führen. Allerdings scheinen Arthroseerkrankungen selbst in den hoch belastenden Sportarten nur dann aufzutreten, wenn frühere Gelenkverletzungen bzw. anatomisch veränderte Gelenkstrukturen vorhanden sind (Buckwalter u. Martin 2004; Vuori 2001). Somit ist zu vermuten, dass die erhöhte (sportliche) Belastung vor allem für Personen mit zurückliegenden Gelenkproblemen einen Risikofaktor für Arthroseanfälligkeit darstellt. Eindeutige Aussagen sind jedoch schwierig abzuleiten, da die individuelle Gelenkbelastung z. B. auch vom technomotorischen Können des einzelnen Sportlers und seiner Fähigkeit zur muskulären Stabilisation in belastenden Situationen abhängig ist. Weitere Risikofaktoren sind gerade bei Frauen das Übergewicht sowie die Östrogentherapie. So werden Zusammenhänge zwischen der Reduzierung des Körpergewichts und der Abnahme der individuellen Arthroseanfälligkeit festgestellt (Sandmark et al. 1999; Roddy u. Doherty 2006). Kein Zusammenhang scheint hingegen zwischen einer einmalig hohen Belastung und der Verletzungsanfälligkeit von Knorpelstrukturen zu bestehen, da für den Gelenkknorpel eine Belastungstoleranz beschrieben wird, die weit oberhalb von sportlichen Maximalbelastungen liegen (Vuori 2001). In Bezug auf die Prävention von Arthrose scheint also insgesamt vor allem die Vermeidung von hohen einseitigen Gelenkbelastungen angezeigt zu sein. Nachweise hinsichtlich der Effektivität regelmäßiger sportlicher Aktivität zur primären Prävention von Arthrose beim Menschen liegen zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vor. Lediglich in wenigen Tierversuchsstudien konnten artikulär strukturelle Anpassungen und funktionelle Ver-
besserungen nach moderater körperlicher Aktivität beobachtet werden (Vuori 2001). Nachweislich wirksam ist allerdings die körperliche Aktivität bei der Behandlung von bereits bestehenden Arthroseerkrankungen im Sinne einer Sekundärprävention (Vuori 2001; Buckwalter u. Martin 2004; Devos-Comby et al. 2006; Pedersen u. Saltin 2006; Vignon et al. 2006). So konnten Ettinger et al. (1997) in einer randomisiert kontrollierten Untersuchung deutliche Verbesserungen der funktionellen Einschränkungen, des Knieschmerzes und der Leistungsfähigkeit infolge erhöhter körperlicher Aktivität – im Rahmen von sportlichen Übungsprogrammen – bei Patienten mit Kniearthrose feststellen. Nur geringen Einfluss auf die Verbesserungen hatten dabei jedoch die Übungsinhalte, da keine Unterschiede zwischen einer Aerobictrainingsgruppe, einer Krafttrainingsgruppe und einer Gruppe mit gesundheitsschulenden Inhalten beobachtet wurden. Auch Deyle et al. (2000) zeigten Verbesserungen in der Kniefunktionalität und der Schmerzsituation bei Gonarthrosepatienten nach einem vierwöchigen bewegungstherapeutischen Programm. Die Wirksamkeit körperlicher Aktivität bei der Behandlung von Arthrose im Hüftgelenk demonstrierten z. B. van Baar et al. (1999) ( Kap. 6.2). Insgesamt scheint die Auswahl der Übungsinhalte nur geringen Einfluss zu haben (Ettinger et al. 1997; Roddy et al. 2005; Vignon et al. 2006), solange diese eine angemessene Belastungsintensität weder unter- noch überschreiten. Sowohl das Krafttraining gelenknaher Muskelgruppen als auch ein allgemeines Herz-Kreislauf-Training führten zu einer Verbesserung der Kniefunktionalität und damit der Leistungsfähigkeit sowie zu einer Reduktion des Gelenkschmerzes (Pedersen u. Saltin 2006). Weiterhin sollten die Übungsaktivitäten regelmäßig (2- bis 3-mal in der Woche) und nachhaltig durchgeführt werden, da bei deren Beendigung wieder eine Verschlechterung der Arthrose erwartet wird (Roddy et al. 2005; Roddy u. Doherty 2006; Pedersen u. Saltin 2006; Vignon et al. 2006). Spezifische Aussagen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung von einzelnen Trainingsmaßnahmen in der Therapie bzw. Sekundärprävention von Arthrose können derzeit nicht getroffen werden.
10.3.2 Körperliche Aktivität und Osteoporose
Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich bisher mit der Wirksamkeit körperlicher Aktivität im Rahmen der Prävention und der Therapie von Osteoporose. Eine überdurchschnittlich häufige Inzidenz an Osteoporoseerkrankungen zeigt sich bei Frauen mittleren bzw. höheren Alters (≥ 50 Jahre) (Kelley et al. 2000). Als Ursache hierfür wird die postmenopausale Verminderung des Östrogengehalts und die damit verbundenen Knochenmasseverluste oder eine langjährige Glukokortikoidtherapie beschrieben (Priemel et al. 2006; Lange u. Müller-Ladner 2007).
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
Haupteinschätzungskriterium zur Beurteilung der Effektivität von Interventionen sind in der Regel Veränderungen der lokalen Knochendichte bzw. der Knochenmasse (Kelley et al. 2000; Wolff et al. 1999). Da ein direkter Zusammenhang zwischen dem Grad der Belastungen des Knochens und der Knochendichte besteht (Smith u. Gilligan 1996), gelten körperliche Aktivität bzw. sportliches Üben, neben der Verabreichung von Kalzium und Vitamin D, als adäquate Interventionsmaßnahmen für die Prävention von Osteoporoseerkrankungen. Ziel der körperlichen Übungen und des Sports im Rahmen der Osteoporosebehandlung ist die Provokation von knochenaufbauenden Prozessen durch vermehrte Druck- und Biegebelastungen (Frost 1987; Kap. 8). Es liegen zahlreiche Studien vor, die den Einfluss von körperlicher Aktivität auf strukturelle Veränderungen des Knochens bei überwiegend jungen/jugendlichen aber auch älteren (meist weiblichen) Probanden untersuchen und dabei eine hohe Wirksamkeit nachweisen können (Chilibeck et al. 1995; Layne u. Nelson 1999; Vuori 2001; Bonaiuti et al. 2002; Scheel et al. 2003 u. a.). Eine hohe Evidenz liegt auch für die Effektivität sportlicher Aktivität und dem prämenopausalen Erhalt sowie dem geringeren postmenopausalen Verlust an Knochenmasse vor (Wallace u. Cumming 2000; Wolff et al. 1999). Demzufolge tendieren sportlich aktive Frauen nach dem Einsetzen der Menopause weniger zu Osteoporoseerkrankungen als Frauen ohne regelmäßige sportliche Aktivitäten (Vuori 2001). So zeigen beispielsweise Kemmler et al. (2004), dass ein zweijähriges Training – zweimal wöchentlich unter Aufsicht und zweimal wöchentlich zu Hause – innerhalb der kritischen Phase kurz nach dem Eintritt der Menopause zu einer signifikanten Verbesserung der Kraft- und Ausdauerfähigkeiten, einem geringeren Knochenmasseabbau und einer verminderten Rückenschmerzproblematik führt. Nur wenige Untersuchungen liegen hingegen zur Wirksamkeit körperlicher Aktivität hinsichtlich des Erhalts bzw. der Verbesserung der Knochendichte bei älteren Männern vor. Die in diesen Studien festgestellten Veränderungen der Knochendichte erscheinen zudem zu geringfügig, um eindeutige Aussagen zur Evidenzbasierung innerhalb dieser Population zu treffen (Kelley et al. 2000). Obwohl die Notwendigkeit körperlicher Aktivität zur Prävention von Osteoporose in der Menopause und Postmenopause als erwiesen gilt, liegen noch immer relativ wenige Erkenntnisse zur Belastungsdosierung im Sinne der Trainingshäufigkeit bzw. Trainingsintensität vor. Bisher können anhand der vorliegenden Studien folgende allgemeine Belastungsprinzipien für eine optimale Adaptation des Knochens abgeleitet werden (Turner 1998): 1. Dynamische Übungen sind effektiver als statische Übungen. 2. Bereits kurzfristige Belastungen sind ausreichend, um strukturelle Anpassungsmechanismen des Knochens hervorzurufen.
3. Wechselnde Belastungen und unterschiedliche Übungsinhalte sind wirksamer als monotone bzw. oft wiederholte Belastungsreize. Auf Basis dieser Prinzipien beschreiben einige Autoren (Vuori 2001; Scheel et al. 2003; Pedersen u. Saltin 2006) ein optimales Training zur Osteoporoseprophylaxe mit hohen, schnellen, vielseitigen, aber kurzfristigen Belastungen, die entweder unter Verwendung von Gewichtsbelastungen (Eigen- bzw. Fremdgewichte) oder aber auch durch einfache Muskelkontraktionen erfolgen können. Anpassungsauslösende Belastungsreize werden dabei durch das Eigengewicht oder durch Drehung bzw. Biegung des Knochens bei Muskelzug ausgelöst (Kemmler et al. 2003). Als entsprechende angemessene Übungsinhalte werden Bewegungen unter Vollbelastung, wie z. B. Steppen, Walking, Radfahren, Skilanglauf, Joggen, Tanzen, Wandern und Krafttraining, beschrieben (Scheel et al. 2003; Pedersen u. Saltin 2006). Zusätzlich sollten Trainingsprogramme zur Sturzprophylaxe durchgeführt werden, um das Risiko von sturzbedingten Frakturen gering zu halten (Scheel et al. 2003; Kap. 9). Wichtig ist, dass alle Übungen unter voller Gewichtsbelastung erfolgen, da insbesondere die Druckbelastungen einen intensiven Reiz zur Bildung von Knochensubstanz darstellen. Dementsprechend konnten Sinaki et al. (1989) keine Effekte sportlicher Aktivität zur Prävention von Knochenmasseverlusten bei postmenopausalen Frauen feststellen, wenn diese ohne entsprechende Gewichtsbelastung ausgeführt wurden. Darüber hinaus werden für schnelle Bewegungen bei hoher Intensität bessere Anpassungsergebnisse des Knochens beobachtet, als für dieselben Übungsinhalte bei langsamer Ausführung und geringintensiver Belastung (Kemmler et al. 2003). Keine der bisher durchgeführten Studien lässt allerdings zuverlässige Aussagen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung einzelner Trainingsmaßnahmen bei Osteoporoseerkrankungen zu. Es ist nach wie vor unklar, welche Art Training, welche Reizrate und welche Trainingshäufigkeit zu einer langfristigen Prävention führt und dabei bis ins hohe Alter ausgeübt werden kann (Kemmler et al. 2003).
10.3.3 Körperliche Aktivität und
Rückenschmerzen Körperliche Aktivität und körperliches Training sind seit Jahren ein zentraler Bestandteil in der Prävention, Therapie und Rehabilitation von Rückenschmerzen. Internationale systematische Übersichtsarbeiten zeigen starke Evidenz für die präventive Wirksamkeit körperlicher Aktivität oder eines körperlichen Trainings hinsichtlich des Auftretens und der Dauer zukünftiger Rückenschmerzepisoden sowie positive Effekte in der Reduktion von rückenbedingten Fehlzeiten am Arbeitsplatz (Burton 2005; van Poppel et al. 2004; Kool et al. 2004; Linton u. van Tulder 2001;
197 10.3 · Körperliche Aktivität und Sport zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen
Vuori 2001; Waddell u. Burton 2001). Dabei besteht Konsens, dass eine echte Primärprävention des Auftretens von Rückenschmerzen aufgrund der hohen Prävalenz im Erwachsenen- bzw. bereits im Kindes- und Jugendalter kaum möglich ist, sondern vielmehr die Prävention einer Chronifizierung im Vordergrund stehen sollte ( Kap. 5.2). So empfehlen die aktuellen Europäischen Leitlinien zur Prävention von Rückenschmerzen insgesamt die Nutzung bewegungsbezogener Interventionen mit einer zusätzlichen biopsychosozialen Edukation (z. B. Veränderung subjektiver Theorien durch Wissensvermittlung zu Grundlagen der Schmerzentstehung und -verarbeitung, Risikofaktoren für die Chronifizierung von Rückenschmerzen, Vermittlung von Selbstmanagementkompetenzen im Umgang mit Schmerz) als viel versprechendsten Ansatz bei Erwachsenen (Burton 2005) ( Kap. 5.3). Dabei sind die spezifischen Zusammenhänge zwischen sportlicher und körperlicher Aktivität und dem Auftreten bzw. der Prävention von Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen und im Erwachsenenalter aufgrund von noch zu wenigen Studien unklar (Burton 2005). Für die Behandlung von rezidivierenden und chronischen Rückenschmerzen belegen systematische Reviews die Wirksamkeit körperlicher Aktivität bzw. gezielter bewegungsbezogener Interventionen in der Verbesserung der Funktionsfähigkeit und Linderung der Symptomatik (Vuori 2001; van Tulder et al. 2003, 2006; Hayden et al. 2005a,c). Zur Bewertung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen von präventiven oder risikoerhöhenden Effekten körperlicher Aktivität liegen insgesamt keine ausreichenden Informationen vor. Für die meisten Formen körperlicher Aktivität gibt es keine Nachweise hinsichtlich einer Risikoerhöhung für Rückenschmerzen. Lediglich über lange Zeiträume ausgeübte, sehr hohe körperliche Beanspruchungen bei Arbeit oder Sport scheinen das Risiko für Rückenschmerzen zu erhöhen. Es bleibt jedoch ungeklärt, inwieweit diese Risikoerhöhung auf die Intensität der körperlichen Aktivität oder dabei möglicherweise erlittene (Mikro-)Verletzungen zurückzuführen ist (Vuori 2001). Die Ergebnisse aktueller Studien deuten darauf hin, dass der präventive Effekt körperlicher Aktivität hinsichtlich der Inzidenz und Prävalenz von Rückenschmerzen eher von der Häufigkeit und Intensität als durch die Form der körperlichen Aktivität bestimmt wird (Hartvigsen u. Christensen 2007; Hurwitz et al. 2005). In einer prospektiven Kohortenstudie mit Zwillingspaaren im Alter von 70–100 Jahren ermittelten Hartvigsen u. Christensen (2007), dass anstrengende körperliche Aktivität (lange Spaziergänge, schwere Gartenarbeit, Tanzen, Gymnastik und/oder andere Übungsformen) einmal pro Woche protektiv auf die Inzidenz von kurzfristigen und länger andauernden Rückenschmerzen bei Senioren wirkt. Besonders stark zeigte sich der Effekt bei Personen, die zu Beginn der Befragung eine schwache allgemeine körperliche Funktionsfähigkeit aufwiesen. Hurwitz et al.
(2005) folgern in einer Studie zu den Effekten unspezifischer Freizeitaktivitäten und spezifischer Rückenübungen auf Rückenschmerzen und psychologischen Distress, dass Individuen mit Rückenschmerzen zur Schmerzreduktion und Verbesserung der psychischen Gesundheit vor allem unspezifische körperliche Aktivitäten und keine spezifischen Rückenübungen durchführen sollten. Bei akuten Rückenschmerzen wird die Durchführung spezifischer Rückenübungen (z. B. Flexions- und Extensionsübungen) nicht empfohlen. Jedoch fördert die schnelle Rückkehr zu normalen Alltagsaktivitäten und die Durchführung gering beanspruchender Aktivitäten wie Walking, Radfahren und Schwimmen während der ersten zwei Wochen die Regeneration akuter Rückenschmerzen (van Tulder et al. 2003; Hayden et al. 2005b,c). Bei subakuten Rückenschmerzen zeigen sich »graded-activity«Programme, die in berufsbezogenen Settings durchgeführt wurden als wirksam (Hayden et al. 2005b,c). Neuere Untersuchungen zu subakuten und rezidivierenden Rückenschmerzen zeigen ebenfalls, dass die frühzeitige Durchführung bewegungsbezogener Interventionen der Entwicklung langfristiger Beeinträchtigung durch Rückenschmerzen vorbeugt (Linton et al. 2005; Wright et al. 2005; Nordemann et al. 2006; Pinnington et al. 2004; Wand et al. 2004; Karjalainen et al. 2003; Soukup et al. 2001; Linton u. Ryberg 2001). In der Behandlung chronischer Rückenschmerzen erweisen sich bewegungsbezogene Interventionen vor allem als wirksam, wenn sie die Rückkehr an den Arbeitsplatz und zu normalen Alltagsaktivitäten fördern (van Tulder et al. 2003). Hayden et al. (2005a,b,c) können in zwei systematischen Reviews und einer Metaanalyse zur Wirksamkeit bewegungsbezogener Interventionen bei nichtspezifischen Rückenschmerzen keine Empfehlungen für die Überlegenheit einer spezifischen bewegungsbezogenen Interventionsform und keine evidenzbasierten Empfehlungen zur Intensität, Frequenz und Dauer spezifischer Rückenübungen geben. Jedoch erwiesen sich Beweglichkeits- und Kräftigungsübungen als die effektivsten Übungsformen zur Verbesserung des Schmerz- und Funktionszustandes bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Dabei scheinen Übungsformen effektiver zu sein, wenn sie mit größerem Umfang (> 20 h) über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden, wobei bislang noch keine konkreten Angaben zur Länge dieses Zeitraums sowie Häufigkeit und Frequenz der Interventionen vorliegen.
10.3.4 Ansätze zur Prävention
muskuloskelettaler Erkrankungen durch körperliche Aktivität und Sport: Implikationen für die Praxis In Deutschland ist nur ein geringer Teil der erwachsenen Bevölkerung entsprechend der eingangs beschriebenen
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
Empfehlungen körperlich aktiv. Der Anteil körperlich ausreichend aktiver Kinder und Jugendliche sinkt (Lampert et al. 2007; RKI 2006; Langness et al. 2005). Aus Public-Health-Perspektive stellt sich hier die Aufgabe, erfolgreiche Interventionsstrategien zu entwickeln, die eine allgemeine körperliche Aktivierung der Bevölkerung und von Bevölkerungsgruppen ermöglichen, insbesondere derjenigen die zu wenig bzw. kaum körperlich aktiv sind (Rütten u. Abu-Omar 2003). Zum anderen bedarf es differenzierter bewegungsbezogener Konzepte zur Prävention von Arthrose, Osteoporose und Rückenschmerz sowie innovativer Zugangswege, die sich an spezifische Zielgruppen und Hochrisikogruppen wenden. Dementsprechend eignen sich zur Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen durch körperliche Aktivität folgende Ansätze (⊡ Abb. 10.2): 1. populations- und lebensweltbezogene Interventionen, die sich auf die Förderung gesundheitsbezogener körperlicher Aktivität in der Bevölkerung und Erhöhung von Bewegung im Alltag richten sowie 2. individuumsbezogene Interventionen, die spezifische Gesundheitssportangebote und individuelle Beratungen umfassen und sich an verschiedene Zielgruppen und/oder Hochrisikogruppen wenden.
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Populations- und lebensweltbezogene Interventionen
Populations- und lebensweltbezogene Ansätze in unterschiedlichen Settings, die von einem allgemeinen Konzept gesundheitsbezogener körperlicher Aktivität ausgehen und sich auf die Erreichung größerer Bevölkerungsgruppen richten, haben in den letzen Jahren an Bedeutung gewonnen. In der kommunalen und regionalen Gesundheitsförderung bedeutet dies, Möglichkeiten für regelmäßige körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen, in Arbeit und Freizeit sowie im späten und hohen Erwachsenenalter zu schaffen. Dies umfasst die Gestaltung bewegungsfreundlicher Lebenswelten durch städtebauliche Maßnahmen wie den Bau von Fahrrad- und Fußwegen, die Erhaltung von Grünanlagen, die Errichtung bewegungsfreundlicher Wohn- und Freizeitanlagen, die
Schaffung sicherer Verkehrswege und Förderung des Personennahverkehrs. Dabei sollten lokale Bedingungen und Bedürfnisse der jeweiligen Bevölkerungsgruppen Berücksichtigung finden und durch partizipative Ansätze unterstützt werden. Ebenso können informationsbezogene Kampagnen Wissen über Bedingungen der Entstehung von muskuloskelettalen Erkrankungen und positiven Wirkungen von körperlicher Aktivität vermitteln, über entsprechende Angebote und Ansprechpartner informieren sowie durch Mitmachangebote zur Aufnahme körperlicher Aktivität anregen. Vorrausetzung für die Aufnahme entsprechender Aktivitäten ist das Vorhandensein entsprechender Angebote. Um hier Synergieeffekte zu erzielen, sollten Gesundheitsund Sportsystem miteinander vernetzt sein, z. B. durch ein kooperatives System von Gesundheitssportangeboten der Krankenkassen für bewegungsarme Zielgruppen und Risikogruppen in Kooperation mit dem Arzt sowie – dann selbständig besuchten und finanzierten – Dauerangeboten der Sportvereine und Fitnesseinrichtungen. Insgesamt ist die Entwicklung einer bewegungsförderlichen Gesamtpolitik (z. B. Sicherstellung einer langfristigen Finanzierung wirksamer Programme) und die Vernetzung von unterschiedlichen Institutionen und Akteuren auf kommunaler Ebene eine zentrale Aufgabe. Muskuloskelettale Erkrankungen, insbesondere Rückenschmerzen, sind eine der Hauptursachen für Arbeitsunfähigkeit. In verschiedenen Studien konnten positive Effekte arbeitsbezogener Programme zur Förderung körperlicher Aktivität in der Reduktion von rückenschmerzbedingten Arbeitsunfähigkeitstagen nachgewiesen werden (Kool et al. 2004; Linton u. van Tulder 2001). Sinnvoll sind also Ansätze, die sich auf die körperliche Aktivierung größerer Gruppen von Beschäftigten und die Veränderung von Strukturen beziehen. Dazu gehören Maßnahmen zur Schaffung einer bewegungsfreundlichen Kultur am Arbeitsplatz, Einrichtung von Fahrradstellplätzen, Verringerung von Parkmöglichkeiten, Einrichtung von Duschen, Motivation der Beschäftigten, den Arbeitsweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen und ihre Pausen körperlich aktiv zu gestalten, Hinweise zur
Populations- und lebensweltbezogene Interventionen
⊡ Abb. 10.2. Interventionsstrategien zur Steigerung der gesundheitsbezogenen körperlichen Aktivität in der Bevölkerung
Politik- und infrastrukturbezogene Maßnahmen Auffordernde/anregende Lebenswelten Informationskampagnen
Individuumsbezogene Interventionen
Individuelle Beratung Zielgruppenbezogene Interventionen
199 10.3 · Körperliche Aktivität und Sport zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen
Nutzung von Treppen statt Aufzügen (Schilder, E-Mail etc.). Insbesondere in Regionen mit kleinen und mittelständischen Unternehmen bietet sich die Vernetzung von Unternehmen mit lokalen Institutionen und Akteuren der Kommune an. In Kindergärten und Schulen sollten frühzeitig die Hinführung zu freudvoll erlebter körperlicher Aktivität und die Vermittlung von Handlungskompetenzen zur nachhaltigen Integration von Bewegung in die tägliche Lebensführung erfolgen. Dies umfasst u. a. die Implementation von Bewegungsförderung in Kindertageseinrichtungen, die Verankerung der Hinführung zu körperlicher Aktivität in Lehrpläne, die Ausweitung des Sportunterrichtes, die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrkräften in der Förderung von Bewegungskompetenzen und die Einbindung von Eltern und wichtigen Bezugspersonen. Ebenfalls bietet sich hier die Vernetzung mit Ansätzen in der Kommune an, u. a. durch Kooperation mit bestehenden kommerziellen und nichtkommerziellen Sporteinrichtungen, die Schaffung sicherer Verkehrswege zu Kindergarten und Schule sowie die Gestaltung bewegungsfreundlicher Kindertageseinrichtungen und Schulen. Beispiele für Aktivitäten dieser Art finden sich unter www.bewegteschule.de oder www.anschub.de. Zur Wirksamkeit solcher Interventionsstrategien liegen derzeit zahlreiche Erkenntnisse vor (Dunn u. Blair 2002). Die von den Centers of Disease Control and Prevention (CDC) herausgegebenen Empfehlungen (The Community Guide 2006) zeigen für folgende Interventionsstrategien überwiegend hohe Evidenz hinsichtlich der wirksamen Erhöhung allgemeiner gesundheitsbezogener körperlicher Aktivität: ▬ informationsbezogene Ansätze (gemeindebezogene Kampagnen, Informationsangebote, die zu körperlicher Aktivität auffordern, z. B. Treppensteigen), ▬ Politik- und umweltbezogene Ansätze (Schaffung und/oder Verbesserung des Zugangs zu anregenden Bewegungsräumen kombiniert mit Beratungsangeboten), ▬ verhaltensbezogene und soziale Ansätze (Erweiterung des Sportunterrichts, Aufbau eines unterstützenden sozialen Netzwerkes, zielgruppenbezogene Angebote mit einem kognitiv-behavioralen Ansatz). Für Massenmedienkampagnen (Radio, Fernsehen, Printmedien) ohne Bezug zu anderen Interventionsansätzen oder Einzelmaßnahmen wie schulische Gesundheitserziehung, Gesundheitsbildungsprogramme mit einem Baustein zur Verringerung von Video- und Computerspielzeiten oder Ansätze familienbezogener sozialer Unterstützung liegen derzeit keine gesicherten Erkenntnisse zur wirksamen Erhöhung körperlicher Aktivität vor. Jedoch können diese Interventionsansätze in Kombination mit anderen Ansätzen durchaus wirksam sein. So verändern Massenmedien zwar nicht das aktuelle Ausmaß von Be-
wegung im Alltag, aber sie können Wissen zu Erkrankungen und den Wirkungen körperlicher Aktivität vermitteln und damit eine positive soziale Norm für körperliche Aktivität schaffen. Individuumsbezogene Interventionen
Unter individuumsbezogenen Interventionen werden individuelle Beratungsleistungen oder Gruppenangebote verstanden, die sich direkt an betroffene Personen wenden. Ziel solcher Interventionen ist die Unterstützung von bzw. Hinführung zu gesundheitsförderlichem Verhalten bzw. Lebensstilen. In Bezug auf die hier behandelten Zusammenhänge geht es also um die Heranführung und Bindung an regelmäßige körperliche bzw. gesundheitssportliche Aktivität, um nachhaltige Wirkungen auf physische und psychosoziale Gesundheitsressourcen zu ermöglichen. Entsprechende zielgruppen- bzw. indikationsspezifische Angebote des Gesundheitssports (Brehm u. Sygusch 2003) vermitteln z. B. »alltagsaffine« Bewegungsformen, die nach Beendigung des Programms selbstständig weitergeführt werden können (z. B. Walking, Schwimmen, Radfahren, Kräftigungs- und Beweglichkeitsübungen). Um auch Menschen mit wenig und ggf. negativen Bewegungserfahrungen zu eigenständiger gesundheitssportlicher Aktivität zu motivieren, müssen entsprechende Interventionen zielgerichtet geplant und strukturiert sein und spezifische Inhalte und Methoden nutzen (Qualitätskriterien von Gesundheitssport, Brehm u. Sygusch 2003). Dazu gehört u. a. die Vermittlung entsprechender Bewegungs- und Steuerungskompetenzen, der Aufbau positiver Bewegungserfahrungen, die Vermittlung von Selbstwirksamkeits- und Kompetenzerfahrungen sowie von Strategien für die Änderung und Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität. Dies setzt insgesamt eine hohe Struktur- und Prozessqualität zielgruppenspezifischer Angebote voraus, wie sie auch im aktuellen Leitfaden der Spitzenverbände der Krankenkassen formuliert werden (z. B. Auswahl angemessener Übungsinhalte sowie die zielgruppenspezifische Steuerung der Belastung in Bezug auf Intensität, Dauer, Häufigkeit und Frequenz, Berücksichtigung von Teilnehmerbedürfnissen, Anbieterqualifikation, Teilnehmermanuale sowie räumliche und materielle Bedingungen wie das Vorhandensein einer ausreichenden Anzahl von Gymnastikbällen, Matten, Stäben, Therabändern etc.). Darüber hinaus können im Rahmen von Gesundheitssportprogrammen auch Selbstmanagementkompetenzen für einen adäquaten Umgang mit der Erkrankung bzw. Gesundheitsstörung vermittelt werden. Dies ist z. B. bei Angeboten zur Förderung der Rückengesundheit der Fall (Pfeifer 2005, 2007), an denen exemplarisch auch die Bedeutung der inhaltlichen und strukturellen Qualität für die Erreichung der postulierten Ziele diskutiert werden kann. Eine besondere Herausforderung stellt nach wie vor die Erreichung spezifischer Zielgruppen bzw. Hochri-
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
sikogruppen dar (Walter et al. 2005). Auch in Gesundheitssportangeboten sind häufig Teilnehmer zu finden, die bereits eine hohe Gesundheitsorientierung bezüglich körperlicher Aktivität aufweisen (Huber 1999). Vor allem Menschen mit einem geringen Einkommen, niedriger Bildung, höherem Alter, Migrationshintergrund, gering ausgeprägter körperlicher Aktivität, einem negativen Gesundheitszustand und/oder einem erhöhten Risiko für muskuloskelettale Erkrankungen werden kaum für die Teilnahme an solchen Angeboten gewonnen (Stiggelbout et al. 2006). Die Konzeption und Planung von Zugangswegen sollte auf der Basis prozessorientierter Modelle der Verhaltensänderung (z. B. Transtheoretisches Modell [TTM], Health Action Prozess Approach [HAPA]) erfolgen und sich auf die Beeinflussung von Faktoren richten, die in einem positiven Zusammenhang zur Aufnahme körperlicher Aktivität stehen (Schwarzer 2004; Schlicht 2003). Insgesamt bedarf die Erreichung schwieriger Zielgruppen der Vernetzung unterschiedlicher Akteure im Gesundheitswesen sowie innovativer Ansätze, die populations- und individuumsbezogene Interventionsstrategien sinnvoll miteinander verknüpfen. Beispielsweise gehören hierzu: ▬ die gezielte Ansprache von spezifischen Zielgruppen und Hochrisikogruppen durch aufsuchende Akquise und Beratung in Kombination mit Gesundheitssportangeboten, ▬ die ärztliche Empfehlung zu körperlicher Aktivität und Verordnung von »Bewegung auf Rezept«, ▬ Kooperation unterschiedlicher Akteuren wie Arzt, Arbeitgeber und Gesundheitssportanbieter, ▬ Implementation von bewegungsbezogenen Maßnahmen in Settings und Strukturen (insbesondere in Betrieben oder Schulen).
10.3.5 Fazit
Die Wirksamkeit körperlicher Aktivität zur Prävention einer Vielzahl von Erkrankungen und deren Folgen ist heute gut belegt (Samitz u. Baron 2002; Pandolf, 2001). Fasst man darüber hinaus die vorliegende Evidenz hinsichtlich der Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen durch körperliche Aktivität zusammen, so gilt ein primärpräventiver Effekt von körperlicher Aktivität für die Osteoporose und die Chronifizierung von Rückenschmerz als gesichert. In der Sekundärprävention und Therapie sind die Wirksamkeit körperlicher Aktivität hinsichtlich der Verhinderung chronisch-progredienter Krankheitsverläufe sowie die Verbesserung der Funktionsfähigkeit und Linderung der Symptomatik bei Arthrose, Osteoporose und Rückenschmerzen ebenfalls evident. Dabei können keine speziellen Formen von körperlicher Aktivität empfohlen werden, sondern es scheint insgesamt die körperliche Aktivierung im Vordergrund zu stehen.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Evidenzlage, wird die hohe Bedeutung körperlicher Aktivität in der Prävention der beschriebenen muskuloskelettalen Erkrankungen deutlich. Zukünftige Studien sollten sich vor allem auf die Untersuchung spezifischer Dosis-WirkungsBeziehungen zur Verringerung der Inzidenz und Prävalenz dieser Krankheitsbilder und ihrer Folgen richten. Um eine allgemeine körperliche Aktivierung bewegungsarmer Zielgruppen und von Hochrisikogruppen sicherzustellen, bedarf es spezifischer Ansätze und innovativer Zugangswege. Als erfolgversprechend haben sich hier theoriegeleitete Interventionsansätze erwiesen, die sowohl populations- und lebensweltbezogene als auch individuumsbezogene Maßnahmen miteinander kombinieren. Literatur ACSM – American College of Sports Medicine (2000) ACSM’s guidelines for exercise testing and prescription. Lippincott Williams u. Wilkins, Philadelphia Bonaiuti D, Shea B, Iovine R, Negrini S, Robinson V, Kemper HC, Wells G, Tugwell P, Cranney A (2002) Exercise for preventing and treating osteoporosis in postmenopausal women. Cochrane Database Syst Rev. 2002;(3):CD000333. Review Brehm W, Sygusch R (2003) Prävention in Sportvereinen. In: Jerusalem M, Weber H (Hrsg) Psychologische Gesundheitsförderung. Hogrefe, Göttingen Buckwalter JA, Martin JA (2004) Sports and osteoarthritis. Curr Opinion Rheumatol 16 (5):634–639 Burton AK (2005) How to prevent back pain? Best Pract Res Clin Rheumatol 19:541–555 Caspersen CJ, Powell KE, Christensen GM (1985) Physical activity, exercise, and physical fitness: definitions and distinctions for healthrelated research. Public Health Reports 100:126–131 Centers for Disease Control and Prevention (2001) Increasing physical activity: a report on recommendations of the Task Force on Community Preventive Services. Morbidity and Mortality Weekly Report 50 (RR18):1–16 Chilibeck PD, Sale DG, Webber CE (1995) Exercise and BMD. Sports Medicine 19:103–122 Devos-Comby L, Cronan T, Roesch SC (2006) Do exercise and selfmanagement interventions benefit patients with osteoarthritis of the knee? A metaanalytic review. J Rheumatol 33 (4):744–756 Deyle GD, Henderson NE, Matekel RL, Ryder MG, Garber, MB, Allison SC (2000) Effectiveness of manual physical therapy and exercise in osteoarthritis of the knee: A randomized, controlled trial. Ann Internal Med 132 (3):173–181 Dunn AL, Blair SN (2002) Translating evidenced-based physical activity interventions into practice. The 2010 Challenge. Am J Prev Med 22:8–9 Ettinger Jr WH, Burns R, Messier SP, Applegate W, Rejeski WJ, Morgan T, Shumaker S, Berry MJ, O’Toole M, Monu J, Craven T (1997) A randomized trial comparing aerobic exercise and resistance exercise with a health education program in older adults with knee osteoarthritis: The Fitness Arthritis and Seniors Trial (FAST). J Am Med Assoc 277 (1):25–31 Frost HM (1987) Bone »mass” and the »mechanostat”: a proposal. Anat Rec 219:1–9 Hartvigsen DC, Christensen K (2007) Active lifestyle protects against incident low back pain in seniors. A population-based 2-year prospective study of 1387 Danish twins aged 70–100 years. Spine 32:76–81
201 10.3 · Körperliche Aktivität und Sport zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen
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10
202
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
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10
10.4
Motivierung zu körperlich-sportlicher Aktivität
Petra Wagner Der Bundes-Gesundheitssurvey von 1998 (Mensink 1999) stellt fest, dass 46,7% der deutschen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 79 Jahren sportlich inaktiv sind. Sallis und Owen (1999) belegen Anteile körperlicher Inaktivität von einem Viertel bis zu einem Drittel der Erwachsenen in Kanada, England, Australien und den USA. Ein großer Teil der inaktiven oder nur wenig aktiven Bevölkerung möchte allerdings sportlich aktiv sein. Etwa 10–25% der Bevölkerung beginnen innerhalb eines Jahres mit einer regelmäßigen Sportaktivität (Wagner 2007). Von denjenigen, die mit einer Sportaktivität beginnen, bricht ein großer Teil relativ früh die Aktivität wieder ab bzw. findet keinen Einstieg in eine regelmäßige Betätigung. Zudem beenden zwischen 30–70% von jenen, die den Einstieg in eine regelmäßige Aktivität geschafft haben, ihr Engagement bereits wieder nach wenigen Wochen (Wagner 2007). Sogar Personen, denen aus gesundheitlicher Sicht ein regelmäßiges Sporttreiben angeraten wird, z. B. Herz-, Diabetes- oder Rückenschmerzpatienten, nehmen nur zu ca. 20–40% Kontakt mit einem entsprechenden Sportangebot auf bzw. schließen sich einem solchen an. Daraus wird deutlich, dass es offensichtlich erhebliche Motivationsdefizite gibt: Vielen Menschen fällt es schwer,
eine sportliche Aktivität aufzunehmen und diese über einen längeren Zeitraum regelmäßig fortzuführen. Dies findet sich sowohl für das präventive als auch für das rehabilitative Sporttreiben, also selbst bei gesundheitsbezogener Begründung für eine regelmäßige Sportaktivität. Vorausgesetzt, Bewegung und Sport sind gesundheitsrelevant und Bewegungsmangel stellt einen sekundären Risikofaktor dar, ist für möglichst viele Menschen ein gesundheitswirksames Minimum an Bewegung anzustreben. Für eine effektive Gesundheitsförderung durch körperlich-sportliche Aktivität stellt sich also die Frage, durch welche Maßnahmen die Motivation hierfür gefördert werden kann. In den letzten zwei Jahrzehnten ist bereits eine Vielzahl wissenschaftlicher Interventionsprojekte durchgeführt worden. Jedoch fehlt bislang ein Nachweis für die tatsächliche Effektivität hinsichtlich des nachhaltigen Aufbaus eines körperlich-sportlichen Aktivitätsverhaltens. So scheitert eine evidenzbasierte Empfehlung für Motivationsmaßnahmen vor allem an einer unzureichenden Studienlage mit inkonsistenten Befunden (z. B. Eden et al. 2002; Baranowski et al. 1998; Marcus et al. 2000). Die Inkonsistenz der Befundlage wird mit einer Reihe von methodischen Mängeln und Problemen sowie mit der Heterogenität der Interventionsmaßnahmen begründet. Als besonders kritisch wird die häufig fehlende theoretische Fundierung von Interventionen herausgestellt. Im vorliegenden Kapitel wird zuerst ein Überblick über die Evidenzlage zu Interventionsmaßnahmen gegeben. Vor dem Hintergrund vielfacher Forderungen nach einer theoretischen Fundierung werden dann im zweiten Abschnitt relevante Theorieansätze vorgestellt und um Strategien der Intervention ergänzt. Anschließend erfolgt eine Konkretisierung der theoretischen Ansätze über die Beschreibung des am häufigsten in der sportbezogenen Intervention berücksichtigten Ansatzes, des Transtheoretischen Modells (Prochaska u. DiClemente 1992). Diese Ausführungen münden in die Darstellung ausgewählter Projekte. Weitere Hinweise für eine Erfolg versprechende Konzeption und Durchführung von Maßnahmen für eine wirkungsvolle und dauerhafte Beeinflussung der Motivation zu körperlichsportlicher Aktivität in der Bevölkerung ergeben sich aus der Reflexion der Evaluationsergebnisse der vorgestellten Maßnahmen.
10.4.1 Evidenzlage sportbezogener Inter-
ventionen zur Förderung des Aktivitätsverhaltens In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine Vielzahl wissenschaftlicher Projekte zur Motivierung zu körperlich-sportlicher Aktivität durchgeführt worden. Deren Effekte und Evidenzen werden allerdings sehr unterschiedlich und überwiegend skeptisch beurteilt. Entsprechende Einschätzungen finden sich in den Reviews
203 10.4 · Motivierung zu körperlich-sportlicher Aktivität
von Baranowski et al. (1998), Marcus et al. (2000) und Sallis et al. (1998). Für bevölkerungsbezogene Interventionen und massenmediale Kampagnen resümieren Rütten und Abu-Omar (2004), dass solche Maßnahmen aufgrund einer höchst heterogenen wissenschaftlichen Befundlage nicht zur Förderung körperlich-sportlicher Aktivität empfohlen werden können. Auch für den Bereich der medizinischen Bewegungsberatung kommen Eden et al. (2002) und van Sluijs et al. (2004) zu dem Ergebnis, dass vor dem Hintergrund einer unzureichenden Studienlage mit inkonsistenten Befunden eine evidenzbasierte Empfehlung für Maßnahmen innerhalb der ärztlichen Versorgung derzeit nicht auszusprechen ist. Neben einer Reihe methodischer Mängel sowie der Heterogenität der Interventionen wird von den Autoren der am häufigsten genannten Reviews angemerkt, dass eine theoriebasierte Konzeption der Maßnahmen gegenüber einem nichtwissenschaftlichen erfahrungsgeleiteten Vorgehen von Vorteil ist (z. B. Hillsdon et al. 2005; Schlicht et al. 2003), insbesondere im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Effekte.
10.4.2 Interventionstheoretische
Konzeptionen zur Förderung körperlich-sportlicher Aktivität Vor dem Hintergrund einer überwiegend kritischen Einschätzung der empirischen Evidenz bisheriger sportbezogener Interventionen zur Förderung körperlich-sportlicher Aktivität wird von verschiedenen Autoren eine stärkere theoretische Fundierung der Programme gefordert (Fuchs 2003; Michie u. Abraham 2004; Perrez 1998; Schlicht et al. 2003; Tietze 2003). Voraussetzung einer solchen theoretischen Fundierung ist die Kenntnis und die Berücksichtigung der Bedingungen für eine Verhaltensänderung. Die Bedingungen geben Anhaltspunkte, welche Faktoren und Prozesse das Verhalten steuern und somit entsprechend verändert werden müssten. Während sich Experten relativ einig darüber sind, dass dieses »Bedingungswissen« in Erklärungstheorien der Verhaltensänderung spezifiziert wird und welche vorhandenen Ansätze und Modelle dazu zu zählen sind (Buckworth u. Dishman 2002; Fuchs 1997, 2003; Fuchs et al. 2007; Sallis u. Owen 1999; Schlicht et al. 2003; Wagner, 2000), ist hinsichtlich der theoretischen Grundlagen zu Interventionen ein solcher Konsens in der Literatur nur ansatzweise zu erkennen. Im Unterschied zu den Erklärungstheorien umfasst ein interventionstheoretisches Konzept (Fuchs 2003): ▬ Maßnahmen, z. B. Wissensvermittlung über die Risiken körperlicher Inaktivität, ▬ erwartete Effekte dieser Maßnahme; z. B. Erhöhung der Risikowahrnehmung und ▬ Rahmenbedingungen, unter denen dieser Effekt auftritt; z. B. im Arzt-Patient-Gespräch.
Interventionstheoretische Konzeptionen lassen sich je nach Zielgruppe verschiedenen Kategorien zuordnen: ▬ bevölkerungsbezogene Ansätze, wie die »Social-Marketing-Theorie« (Lefebvre u. Rochlin 1997; Weinreich 2002) oder die »Theorie der Diffusion von Interventionen« (Rogers 1995), ▬ gemeindebezogene Ansätze, wie die »Kooperative Planung« (Wetterich 2002) als Modell der Sportentwicklungsplanung, ▬ organisationsbezogene Ansätze mit Konzeptionen der Organisationsentwicklung, wie z. B. für die betriebliche Gesundheitsförderung (Westermayer 1998), ▬ individuumsbezogene Ansätze, wie z. B. die »Theorie der Verhaltensmodifikation« (Kanfer u. Goldstein 1991), Teile der »Sozial-kognitiven Theorie« (Bandura 2000) und das »Transtheoretische Modell« (Prochaska u. DiClemente 1992) und ▬ gruppenbezogene Ansätze, wie z. B. didaktische Modelle des Schulsports mit dem Konzept des »Erziehenden Sportunterrichts« (Beckers 2000). Zusammenfassende Darstellungen dieser theoretischen Konzeptionen und ihrer Bedeutung für die Förderung körperlich-sportlicher Aktivität finden sich unter anderem bei Baranowski et al. (1998), Biddle u. Mutrie (2001), Fuchs (2003), Lippke u. Kalusche (2007), Marcus et al. (2000), Sallis u. Owen (1999), Schlicht et al. (2003), Tietze (2003) und im Report of the Surgeon General (USDHHS, 1996). In der Praxis für die Förderung sportlicher Aktivität ist bis heute eine Vielzahl an Methoden, Strategien und Programmen zur Anwendung gekommen. Zur konzeptionellen Abgrenzung der zahlreichen Projekte und Maßnahmen existieren verschiedene Vorschläge. Diese Einteilungen sportbezogener Fördermaßnahmen orientieren sich im Wesentlichen an Kriterien wie dem Setting, in dem die Maßnahmen realisiert werden und der Zielgruppe, auf die sie gerichtet sind. Dabei liegt nicht immer eine trennscharfe Unterscheidung vor. In ⊡ Tabelle 10.5 sind diese exemplarisch zusammengefasst.
10.4.3 Das Transtheoretische Modell und seine
Konsequenzen für Interventionen zur körperlich-sportlichen Aktivierung Das Transtheoretische Modell (TTM) soll an dieser Stelle ausführlicher erläutert werden. Es wurde ausgewählt, da es sich sowohl im Bereich der Erklärungstheorien als auch im Bereich der Interventionstheorien einordnen lässt und zudem in den letzten Jahren verhältnismäßig oft auf Elemente des Modells zurückgegriffen wurde. Von Prochaska und DiClemente (1992) entwickelt, wird es heute auf eine Vielzahl von Veränderungen von Verhaltensweisen angewendet, auch auf körperlich-sportliche Aktivität (Marcus et al. 1992). Das TTM zählt zu den Stadienmodellen und
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204
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
⊡ Tabelle 10.5. Systematisierung von Interventionsmaßnahmen zur Förderung körperlich-sportlicher Aktivität Interventionsformen
Interventionsmaßnahmen und Beispiele
Autor
Bevölkerungsbezogene Intervention (ganze Bevölkerung bzw. einzelne Bevölkerungsgruppen) Verhaltensbezogene Maßnahmen
Einsatz von Massenmedien oder Massen-Events in Nationalen Kampagnen wie »Im Verein ist Sport am schönsten«
Verhältnisbezogene Maßnahmen
Politische Maßnahmen, Veränderungen des sozialen Umfelds oder der Infrastruktur
Zielgruppenfokussierte Maßnahmen (»population-based target interventions«)
Informations- und Werbekampagnen: Verbreitung grundlegender Informationen zum Zielverhalten oder zum Nutzen einer Verhaltensänderung, Kampagnen in geeigneten Medien wie »PfundsKur«
Individuumsfokussierte Maßnahmen (»population-based tailored interventions«)
Persönlich adressierte individuelle Schreiben
Brehm u. Rütten (2003); Fuchs (2003)
Brand (2007)
Kommunale bzw. gemeindebezogene Intervention
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Individuums- bzw. gruppenzentrierte Maßnahmen
Verhaltensprogramme für Übergewichtige; kommunale Aktionen wie Volksläufe oder KKH-Herz-Kreislauf
Informationale Maßnahmen
Aufklärungskampagnen in den lokalen Medien
Organisatorische Maßnahmen
Implementierung betrieblicher Gesundheitssportprogramme
Umweltbezogene Maßnahmen
Schaffung von Sportanlagen, Radwegen etc.
Wirtschaftliche Maßnahmen
Schaffung ökonomischer Anreize für kommerzielle Sportanbieter
Politische Maßnahmen
Sicherstellung des Sportunterrichts an den örtlichen Schulen
Fuchs (2003); Brehm u. Rütten (2003)
Betriebliche Intervention Individueller Arbeitsplatz
»Aktive Bewegungspause«
Innerbetriebliche Ebene: während der Arbeitszeit oder im Anschluss
Bewegungsprogramm in Pausen, Rückenschule nach der Arbeit
Außerbetriebliche Ebene
Betriebssportgruppen
Lagerström u. Froböse (1995)
Individuumsbezogene Interventionen (kleine Gruppen bzw. Individuen) Gruppenprogramme (z. B. nach Alter, Indikation, Aktivitätsstatus der Teilnehmer oder Settings wie Verein, Volkshochschule, Schule, Klinik etc.)
Gesundheitssportprogramm »Gesund & Fit«; »Highmark Osteoporosis Prevention and Education Programm«; »Gesundheitstraining in der medizinischen Rehabilitation«
Fuchs (2003); Göhner (2007); Brehm et al. (2006)
Individuelle Interventionen und Beratungen
Individuell angepasstes Fitnesstraining oder Aktivitätsprogramm im primärpräventiven Setting; Beratungs- und Trainingsprogramme im medizinischen Setting: ärztliche Bewegungsberatung (»physical activity counseling«)
Brehm u. Rütten (2003); Sudeck 2007
beschreibt den Prozess der Verhaltensänderung als stufenförmig (⊡ Abb. 10.3). Eine Person nähert sich über fünf Stadien dem (stabilen) Zielverhalten. Die einzelnen Stadien unterscheiden sich nach dem Grad der Bereitschaft, ein Verhalten – z. B. eine körperlich-sportliche Aktivität – aufzunehmen. Während des Prozesses der Änderung des gesundheitlich relevanten Verhaltens werden die folgenden Stadien durchlaufen: ▬ Absichtslosigkeit (Präkontemplation): In ihm wird nicht nur kein Sport betrieben, sondern es besteht auch kein Interesse, dieses Verhalten für sich in Erwägung zu ziehen.
▬ Absichtsbildung (Kontemplation): Dieses Stadium ist bereits durch das ernsthafte Nachdenken über eine Änderung des bisherigen Verhaltens (körperlichsportliche Aktivität) und das Abwägen der Vor- und Nachteile gekennzeichnet. ▬ Vorbereitung (Präparation): Die Personen zeichnen sich vor allem durch den Entschluss zu körperlich-sportlicher Aktivität aus. Das Verhalten wird ausprobiert. ▬ Aktion: Die Personen dieses Stadiums haben eine regelmäßige Ausübung aufgenommen. Ab jetzt wird die Verhaltensänderung von außen direkt beobachtbar.
205 10.4 · Motivierung zu körperlich-sportlicher Aktivität
Verstärkungsmanagement Mobilisierung hilfreicher Beziehungen Gegenkonditionierung Stimuluskontrolle
Selbstverpflichtung Steigern des Problembewusstseins Herstellen von Betroffenheit Neubewertung der Umwelt
Neubewertung der eigenen Person
Aufrechterhaltung
Aktion
Vorbereitung
Absichtsbildung
Absichtslosigkeit
⊡ Abb. 10.3. Stadienübergänge und Änderungsstrategien des TTM (Nach Biddle u. Mutrie 2001)
▬ Aufrechterhaltung (Maintenance). Die Personen üben die körperlich-sportliche Aktivität über einen längeren Zeitraum hinweg aus. Diese fünf Stadien (»stages of change«) werden bei einer Verhaltensänderung nicht zwangsläufig als »Einbahnstraße« durchlaufen. Personen können auch mit einer einmal begonnenen Aktivität wieder aufhören (Rückfall vom Handlungs- in das Vorbereitungs- oder Absichtsbildungsstadium) oder lange Zeit keinen Handlungsbedarf sehen (Verharren im Stadium der Absichtslosigkeit). Als Erklärungstheorie beschäftigt sich das TTM mit der Frage, welche Faktoren den Übergang von einem zum nächsten Stadium steuern. Dafür machen die Autoren des TTM die individuell wahrgenommenen Kosten und Nutzen des Verhaltens (Konsequenzerwartungen) sowie die Selbstwirksamkeitserwartungen hinsichtlich körperlich-sportlicher Aktivität verantwortlich (Reed 2001). In seiner Rolle als Interventionstheorie geht das TTM vor allem der Frage nach, welche Techniken und Strategien dazu führen, dass Personen von einem Stadium zum nächsten voranschreiten. Postuliert werden deshalb Änderungsprozesse (»processes of change«), die der Person dazu dienen, den Übergang von einem Stadium zum nächsten herbeizuführen, d. h. einen Stadienwechsel auszulösen. Dazu zählen Techniken und Strategien, die insbesondere aus der klinischen und pädagogischen Psychologie bekannt sind und die die Verhaltensänderung mental begleiten. Von Prochaska u. DiClemente (1992) werden im TTM zehn Techniken und Strategien benannt: Die kognitiv-emotionalen Strategien umfassen ▬ das »Steigern des Problembewusstseins« (»consciousness raising«), ▬ das »emotionale Erleben« (»emotional arousal/dramatic relief«),
▬ die »Neubewertung der persönlichen Umwelt« (»environmental reevaluation«), ▬ die »Selbstneubewertung« (»self-reevaluation«) und ▬ das »Wahrnehmen förderlicher Umweltbedingungen« (»social liberation«). Zu den verhaltensorientierten Strategien gehören ▬ die »Selbstverpflichtung« (»self-liberation«, »commitment«), ▬ die »Kontrolle der Umwelt« (»stimulus control«), ▬ die »Gegenkonditionierung« (»counterconditioning«), ▬ das »Nutzen hilfreicher Beziehungen« (»helping relationships«) und ▬ die »(Selbst-)Verstärkung« (»reinforcement management«). Ausführliche Darstellungen dieser Strategien finden sich u. a. bei Biddle u. Mutrie (2001) oder Keller et al. (1999). Es wird angenommen, dass die Änderungsstrategien an verschiedenen Übergängen wirksam sind (⊡ Abb. 10.3). Trotz offener Fragen hat das TTM im Bereich der Interventionsforschung zur Förderung körperlich-sportlicher Aktivität eine hohe Ausstrahlungskraft (Biddle u. Mutrie 2001; Lippke u. Kalusche 2007). Die hier vorgenommene Integration des Stadienmodells und des Strategiemodells gibt Auskunft darüber, in welchem Stadium welche Maßnahme begründet einzusetzen ist. Dadurch lässt sich auch die steigende Zahl der Interventionsstudien erklären, die das TTM als konzeptionellen Rahmen herangezogen haben und die in den nächsten Jahren sicherlich weiter zunehmen wird (Culos-Reed et al. 2001). Ausgerichtet an den Befunden zum TTM (im Überblick: Marshall u. Biddle 2001; Rosen 2000; Marcus u. Forsyth 2003; Napolitano et al. 2003) lassen sich folgende Empfehlungen für die Motivation zu körperlich-sportlicher Aktivität formulieren:
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206
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
▬ Bestimme die Bedürfnisse und die Interessen der Teilnehmer (Interessen und Bedürfnisse sind nicht in jedem Fall identisch). ▬ Berücksichtige das Stadium der Verhaltensänderung (nicht alle Personen sind in dem Umfang bereit, ihr Verhalten zu ändern, wie sie es aus medizinischer Sicht sollten). ▬ Hebe den persönlichen Nutzen der Verhaltensänderung hervor (positive Konsequenzerwartungen). ▬ Stärke die Selbstwirksamkeit. Vermittle Fähigkeiten und Fertigkeiten, um Barrieren zu überwinden. ▬ Organisiere die Intervention zielgruppenspezifisch (Frauen, Männer, soziales Milieu, Krankheitsfaktoren). ▬ Unterstütze und anerkenne die Schritte auf dem Weg zur Verhaltensänderung. ▬ Vermittle Strategien des Selbstmanagements. Im Folgenden soll exemplarisch von zwei Projekten die Rede sein, die in Anlehnung an das TTM konzipiert, wissenschaftlich begleitet, dokumentiert und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft wurden: Das Projekt PACE
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Ein Beispiel TTM-basierter Intervention stellt das PACEProjekt (Physician-based Assessment and Counselling for Exercise) dar (Calfas et al. 1996; s. auch www.paceproject. org). Die Vorgehensweise sah dabei wie folgt aus: Im Wartezimmer füllten Patienten einen kurzen Fragebogen zur Klassifikation ihres aktuellen Bewegungsstadiums sowie möglicher Gesundheitsrisiken aus. Abhängig vom diagnostizierten Stadium wurde eines von drei stadienspezifischen Arbeitsblättern bearbeitet (⊡ Tabelle 10.6). In einem drei- bis fünfminütigen Beratungsgespräch diskutierte der Arzt mit dem Patienten die Eintragungen und vereinbarte die weitere Vorgehensweise. Zwei Wochen nach dem Arztbesuch erfolgte ein Telefonanruf durch einen Gesundheitsberater, in dem das Vorhaben aufgegriffen und mögliche Probleme diskutiert wurden. Die Evaluation vier bis sechs Wochen nach dem Beratungsgespräch ergab im Vergleich zu einer Kontrollgruppe positive Effekte bei der TTM-Stadienzugehörigkeit für die Gruppe »Kontemplation« sowie hinsichtlich des Umfangs eines Gehtrainings. In einer weiteren Studie mit 812 Patienten aus 32 Praxen konnten Norris et al. (2000) keine nachhaltigen Vorteile der PACE-Beratung gegenüber der Standardbehandlung nachweisen. Da es sich hierbei um eine vergleichsweise aktive Stichprobe handelte, schließen die Autoren, dass diese Form der Bewegungsberatung ihre Stärken bei inaktiven Patienten mit ausgeprägter Änderungsbereitschaft zeigt. In der weiterentwickelten Konzeption PACE+ (Patient-centered Assessment and Counceling for Exercise Plus Nutrition) wird neben der Förderung körperlicher Aktivität der Bereich einer gesunden Ernährung einbezo-
gen. Im Unterschied zur früheren Version wird ein interaktives Computerprogramm eingesetzt, das die Patienten z. B. im Wartezimmer eigenständig anwenden können. Auf diese Weise werden das Assessment, ein Vergleich des bisherigen Verhaltens mit allgemeinen Aktivitätsempfehlungen sowie individuelle Zielsetzungen und Konkretisierung von Handlungsplänen vorgenommen. Darauf aufbauend kann der Arzt sein kurzes Beratungsgespräch auf Basis computergenerierter individueller Unterlagen strukturieren (Prochaska et al. 2000). Zur Steigerung der ärztlichen Kompetenz in Fragen der Gesundheitsförderung und Prävention haben sich in den letzten Jahren einige relevante Veränderungen in den Bereichen der ärztlichen Ausbildung und Fortbildung vollzogen, die unter anderem grundsätzliche Kenntnisse über Strategien und Techniken der ärztlichen Bewegungsberatung forcieren. Für das Beratungskonzept PACE hat sich z. B. in Nordamerika aufgrund der hohen Nachfrage ein umfangreiches Fortbildungssystem mit Workshops, Online-Trainingsmodulen etc. entwickelt, das zur Anwendung standardisierter Interventionsmaterialien befähigt (Jacobsen et al. 2005). Motivation zu körperlich-sportlicher Aktivität auf Bevölkerungsebene
Die US-amerikanische, multikulturelle Medienkampagne VERBTM befasste sich ab Juni 2002 mit der Förderung der körperlichen Aktivität von Jugendlichen im Alter von 9 bis 13 Jahren (Huhmann et al. 2006; http://www. cdc.gov/youthcampaign). Über Massenmedien wie Fernsehen und Radio versuchte die Kampagne, Jugendliche jeglicher Bevölkerungsgruppen/-schichten mit Hilfe von kindgerechten Werbe-Spots zu täglichen körperlichen Aktivitäten zu motivieren. Die Kampagne nutzte die Tatsache, dass amerikanische Kinder dieser Altersgruppe durchschnittlich mehr als drei Stunden am Tag fernsehen. Ein Zielaspekt der Spots bestand darin, den Jugendlichen das Bewusstsein zu vermitteln, dass körperliche Aktivität »cool« ist, Spaß macht, überall möglich ist und vor allem, dass jeder mitmachen kann, dass es dabei nicht um das »Gewinnen oder Verlieren« bzw. das Erbringen von Leistung geht, sondern darum, sich »aufzuraffen« und sich zu bewegen. Die Eltern und Lehrer (sekundäre Zielgruppe) wurden parallel miteinbezogen und ihnen wurde vermittelt, dass durch langfristige sportliche Aktivität die Gesundheit der Kinder unterstützt und gefördert wird. Dadurch sollten die Kinder parallel über ihr soziales Umfeld in einem gesunden, aktiven Verhalten bestärkt werden. Zwischen Juni 2002 und Juni 2003 wurden kindgerechte Werbe-Spots auf Kinder-TV-Kanälen so platziert, dass davon auszugehen war, dass etwa 85% aller 9- bis 13Jährigen die Chance hatten, die Spots im Schnitt 8,8-mal pro Monat zu sehen. Die wissenschaftliche Betreuung der Kampagne erfolgte durch das Center for Disease Control (CDC, Ein-
207 10.4 · Motivierung zu körperlich-sportlicher Aktivität
⊡ Tabelle 10.6. Stadienspezifische Interventionsmaterialien des Projekts PACE (Auswahl; vgl. ausführlich Houde u. Melillo 2000) Stufe der Verhaltensänderung
Arbeitsblatt
Ärztliches Beratungsgespräch
Präkontemplation (keine Bereitschaft für Verhaltensänderung)
Getting Out of Your Chair Optionen für moderate und anstrengende Tätigkeiten Barriereidentifikation und Bewältigungsmöglichkeiten Identifikation des individuellen Gesundheitsnutzens
Empfehlung für a) Gesundheits-Checkup b) Aufnahme moderater oder anstrengender Aktivitäten
Kontemplation (Bereitschaft für Verhaltensänderung)
Planning the First Steps Handlungsplanung hinsichtlich Aktivitätstyp, Häufigkeit, Dauer, sozialem Kontext Barriereidentifikation und Bewältigungsmöglichkeiten Aktivitätsprotokoll
Vereinbarung über Modalitäten der Aneignung körperlich-sportlicher Aktivitäten (FITT = Frequency [Häufigkeit], Intensity [Intensität], Time [Zeit], Type [Art])
Aktion (ausreichende moderate oder anstrengende körperliche Aktivitäten)
Keeping the Pace Identifikation von individuellen Motiven Bewertung der bisherigen Aktivitäten Rückfallprävention
Vereinbarung über Modalitäten der Aufrechterhaltung körperlich-sportlicher Aktivitäten (FITT)
richtung der Bundesbehörde für Gesundheit in den USA). Kommerzielle Werbeagenturen unterstützten finanziell eine riesige Sozialmarketing Kampagne. Mit Hilfe spezieller Telefoninterviews wurde zwei Monate vor dem Start der TV-Werbekampagne eine für die Vereinigten Staaten repräsentative Stichprobe von 3120 amerikanischen Kindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren befragt (Huhmann et al. 2006). Ein Jahr später konnten 87,6% der zuvor befragten Kinder erneut interviewt werden. Bei dieser zweiten Befragung erinnerten sich 27% gar nicht an die Kampagne. 7% konnten zwar keinen zentralen Aspekt der Kampagne wiedergeben, erinnerten sich jedoch allgemein, sie gesehen zu haben. Bei gestützter Befragung erinnerten sich 50% und nannten wenigstens eine der zentralen Botschaften. Bei ungestützer Befragung erinnerten sich 17% an Kampagne und zentrale Botschaften. Die zu Beginn der Kampagne angestrebten 50% Aufmerksamkeitsquote in der Zielgruppe konnte weit übertroffen werden. Mit einer Aufmerksamkeitsquote von insgesamt 74% wurden den 9- bis 13-jährigen amerikanischen Kindern die Zielaspekte der Kampagne vermittelt. Zwar fanden die Autoren Unterschiede zwischen Subgruppen, doch für das Aktivitätsniveau der Kinder und den Grad der Aufmerksamkeitszuwendung (von »keine Erinnerung« bis »ungestützte Erinnerung mit Kampagnen-Botschaften«) wurde ein signifikant positiver Zusammenhang konstatiert. Zudem waren ein Jahr nach Start der Kampagne insbesondere die 9- bis 10-Jährigen, die sich an die Kampagne erinnerten, um 34% körperlich aktiver gegenüber den Kindern, die sich nicht an die Kampagne erinnerten. Vor dem Hintergrund dieser methodisch ausgezeichnet kontrollierten und dokumentierten Untersuchung (siehe: www.cdc.
gov/youthcampaign/research) verdeutlicht die VERBTMKampagne, dass bei geeignetem und geplantem Sozialmarketing durchaus größere Bevölkerungsgruppen erfolgreich erreicht werden können (Huhmann et al. 2006).
10.4.4 Fazit
Kaum ein anderes Gesundheitsverhalten hat in den letzten Jahren einen ähnlichen Aufmerksamkeitszuwachs erfahren wie die körperlich-sportliche Aktivität (Dunn u. Blair 2002). Trotz der nachweislich positiven Wirkungen regelmäßiger Aktivität findet sich ein aktiver Lebensstil nur bei einer Minderheit der Bevölkerung (Livingstone et al. 2003; Rütten u. Abu-Omar 2003; Wagner 2007). Vor dem Hintergrund einer effektiven Gesundheitsförderung leitet sich die Frage nach wirkungsvollen Maßnahmen ab, die Motivation zu körperlich-sportlicher Aktivität zu fördern. In den letzten 20 Jahren ist eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen durchgeführt worden, um das Ausmaß körperlich-sportlicher Aktivität zu erhöhen. Eine Reihe von Reviews ergab jedoch, dass nur ein Teil der Interventionen Menschen nachhaltig zu mehr körperlich-sportlicher Aktivität motivieren konnte. Verallgemeinerbare Empfehlungen für Motivationsmaßnahmen können aufgrund der inkonsistenten Befunde somit nicht gegeben werden. Eine Ursache dafür ist in der mangelnden theoretischen Fundierung zu sehen. Dennoch: Bei genauerem Hinsehen gibt es auch heute schon eine ganze Reihe von Ansätzen, die als theoretisches Fundament für die praktische Interventionsplanung und -durchführung dienen können. Da
10
208
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
ein Nachteil dieser interventionstheoretischen Ansätze darin liegt, dass sie häufig zu allgemein formuliert sind, sollte es künftig verstärkt um die Entwicklung sportspezifischer Interventionstheorien gehen, in denen expliziert wird, wie sich einzelne Maßnahmen unter Berücksichtigung von Setting und Zielgruppe auf das Aktivitätsverhalten auswirken.
Infobox
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I
I
Für die praktische Planung und Durchführung von sportbezogenen Interventionen empfiehlt Fuchs (2006) auf der Basis einschlägiger Erklärungs- und Interventionstheorien zur Verhaltensänderung die Beachtung folgender Prinzipien: ▬ Prinzip der Zielexplikation: Interventionsmaßnahmen sind an explizit ausformulierten Zielen zu orientieren. Unterschieden werden Globalziele (z. B. Förderung der körperlichen Gesundheit), strategische Ziele auf der Verhaltensebene (z. B. Art, Umfang, Häufigkeit, Dauer einer körperlichsportlicher Aktivität) sowie taktische Ziele auf der Ebene der Verhaltensbedingungen (z. B. soziale Determinanten: Partnerunterstützung), ▬ Prinzip der Mehrebenen: Interventionen zur Förderung der körperlich-sportlichen Aktivität sollen vor dem Hintergrund sozial-ökologischer Modelle der Gesundheitsförderung auf mehreren Ebenen ansetzen: der Ebene des Individuums (z. B. Wissen), der Ebene des sozialen Umfelds (z. B. Familie), der Ebene der Organisation (z. B. Schule), der Gemeinde (z. B. Sportentwicklungsplanung) und der Politik (z. B. Gesetzgebung), ▬ Prinzip der Stadienspezifik: Interventionen sollen das jeweilige Entwicklungsstadium der Zielpopulation berücksichtigen, z. B. im Sinne des Transtheoretischen Modells (Marcus u. Forsyth 2003). ▬ Prinzip der Niedrigschwelligkeit: Interventionen sollen Hindernisse bei der Planung und Initiierung körperlich-sportlicher Aktivität durch entsprechende Maßnahmen beseitigen oder so niedrig halten, dass die Zielgruppe sie ohne größere Probleme überwinden kann. Dabei geht es um die Erleichterung des Zugangs zu Einrichtungen bzw. Bewegungsangeboten (z. B. räumliche Lage, Erreichbarkeit, zeitliche und finanzielle Struktur, soziale Zugänglichkeit etc.) sowie die Suche nach Formen körperlich-sportlicher Aktivitäten, die sich möglichst problemlos mit existierenden Lebensstilstrukturen vereinbaren lassen (z. B. »lifestyle physical activities« wie Treppensteigen, Wege des Transports zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen).
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209 10.5 · Tägliche Bewegung in der Schule: Das Praxisprojekt »fit für pisa«
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10.5
Tägliche Bewegung in der Schule: Das Praxisprojekt »fit für pisa«
Ulla Walter, Sebastian Liersch, Christian Krauth, Vicky Henze, Markus Röbl Internationale und nationale Studien zeigen eine Abnahme der alltäglichen Bewegung und der körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, die wesentliche Risikofaktoren für chronische Krankheiten darstellen. Die Förderung der körperlichen Aktivität ist besonders im ersten Lebensjahrzehnt bedeutsam. Aufgrund vollständiger Erreichbarkeit der Kinder ist täglicher Sportunterricht in der Grundschule ein wichtiger Ansatz zur Prävention und Gesundheitsförderung. Im Rahmen des seit fünf Jahren laufenden Projekts »fit für pisa« werden die obligatorischen zwei Schulstunden Sport pro Woche durch drei weitere Sportstunden an inzwischen fünf Grundschulen in Göttingen ergänzt. Der tägliche Schulsport wurde
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Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
von dem Allgemeinen Sport-Club Göttingen (ASC Göttingen von 1846 e. V.), der Ärztekammer Niedersachsen und dem Gesundheitsamt Göttingen in Kooperation mit der Universität Göttingen initiiert und wird seit dem Schuljahr 2003/2004 kontinuierlich durchgeführt. Eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung von 2007 bis 2010 geförderte Studie soll Aufschluss darüber geben, inwieweit sich täglicher Sportunterricht auf die Gesundheit, das Bewegungsverhalten und die kognitive Aufmerksamkeit von Schülern langfristig, auch nach Abschluss der Intervention, auswirkt und inwieweit Kinder mit erhöhten Risikofaktoren von dem Angebot profitieren.
10.5.1 Relevanz des täglichen Schulsports
10
Bevor das Projekt vorgestellt wird, soll auf die Bedeutung täglicher Bewegung eingegangen werden. Eine Verminderung der motorischen Leistungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 25 Jahren um mehr als 10% weist ein Review von Bös (2003) aus. Die Verringerung der alltäglichen Bewegung trägt zu einer Reduktion der gesamten körperlichen Aktivität und zu Übergewicht bei Kindern bei. Nach dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) werden in der Altersklasse der 7- bis 10-Jährigen nur 15,2% der Jungen und 9,9% der Mädchen dem gewünschten Niveau der fast täglichen Aktivität gerecht. In der Altersklasse der 11- bis 17-Jährigen sind es lediglich 28,2% der Jungen und 17,3% der Mädchen (Lampert et al. 2007). Der Survey zeigt erwartungsgemäß, dass die motorische Leistungsfähigkeit von älteren Kindern und Jugendlichen gegenüber Jüngeren besser ist. Dieser typische Verlauf unterscheidet sich jedoch bei der jeweils betrachteten motorischen Fähigkeit in der Steilheit des Leistungsanstiegs. So ist beispielsweise bei den Mädchen kein altersabhängiger Leistungsanstieg bei dem Test zur Überprüfung der Beweglichkeit (Rumpfbeugen) sowie dem Fahrrad-Ausdauertest zu verzeichnen (Starker et al. 2007). Prävention sollte insbesondere bei Freizeit» Die angeboten und Angeboten über Sportvereine ansetzen. « Reinhard Mann, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln
Zur physiologischen Wirksamkeit von körperlicher Aktivität und Fitness sowie von präventiven Wirkungen auf Mortalität und (Gesamt-)Morbidität liegen zahlreiche Studien vor, die u. a. positive Einflüsse auf koronare Herzkrankheit, Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, Brust- und Darmkrebs bis hin zu Depression oder Angst zeigen (ASCM 2005; Samitz u. Baron 2002; KKH u. MHH 2004). Neben positiven Effekten auf die körperliche Funktionsfähigkeit und auf physiologische Parameter wirkt
sich sportliche Aktivität auch auf die psychische Gesundheit aus. So zeigt eine in Deutschland durchgeführte Untersuchung 14- bis 18-Jähriger deutliche Assoziationen zwischen Ausdauersport und Selbstbild, seelischem Wohlbefinden und geringem Alkohol- und Tabakkonsum (Kirkcaldy et al. 2002). Erste Ergebnisse des deutschen CHILT-Projekts (Children’s InterventionaL Trial) weisen auch bei Kindern einen positiven Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Leistungen aus (Graf et al. 2003). Nach einem systematischen Review (Trost et al. 2002) ist in allen Studien die körperliche Aktivität bei Männern höher als bei Frauen und invers assoziiert mit dem Alter. Konsistente Determinanten sind sozioökonomischer Status, Berufstätigkeit und Bildung. Selbstwirksamkeit hinsichtlich Bewegungsaktivität sowie soziale Unterstützung korrelieren mit körperlicher Aktivität, ebenso konsistent zeigt sich die nicht vorhandene Assoziation zwischen Wissen um Gesundheit und körperlicher Aktivität. Studien ab Ende der 1990er Jahre zeigen den Einfluss umfeldbedingter Faktoren wie Zugang, gemeindebezogene Einflüsse, häufige Beobachtung körperlicher Aktivität bei anderen Personen, Ausrüstung und angenehme Umgebung. Auf Basis vorliegender Evidenz und unter Berücksichtigung der Praktikabilität von Handlungsorientierungen liegen inzwischen auch einige Empfehlungen zur Primärprävention für Kinder vor. Ein systematischer Review über 850 Artikel zu dem Einfluss körperlicher Aktivität auf Verhalten und Gesundheit bei 6- bis 18-Jährigen führt zu der Empfehlung täglicher mindestens 60-minütiger moderater bis intensiver körperlicher Aktivität und unter zwei Stunden pro Tag sitzende Tätigkeit in der Freizeit. Die körperliche Aktivität sollte die Freude an der Bewegung fördern, an den Entwicklungsstand angepasst sein und helfen, grundlegende sowie spezifische motorische Fähigkeiten zu erwerben (Strong et al. 2005). In jungen Jahren etablierte körperliche Aktivität bzw. Inaktivität wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Lebensverlauf beibehalten (Kelder et al. 1994). Prinzipiell sind drei Beziehungen zwischen körperlicher Aktivität in Kindheit und Jugend und Gesundheit im Erwachsenenalter denkbar (Blair et al. 1989; Twisk 2001; ⊡ Abb. 10.4). 1. Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen beeinflusst ihre Gesundheit, die ein wesentlicher Prädiktor für die Gesundheit im Erwachsenenalter ist. 2. Körperliche Aktivität in Kindheit und Jugend beeinflusst die körperliche Aktivität im Erwachsenenalter, die sich wiederum mit hoher Evidenz positiv auf die Gesundheit auswirkt. 3. Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen wirkt sich direkt auf die adulte Gesundheit aus. Ein Review von Twisk (2001) zeigt jedoch insgesamt nur eine geringe Evidenz für die Auswirkungen körperlicher
211 10.5 · Tägliche Bewegung in der Schule: Das Praxisprojekt »fit für pisa«
Aktivität in der Kindheit und Jugend auf die Gesundheit im Erwachsenenalter. Eine israelische Studie weist außercurriculare schulbezogene körperliche Aktivitäten als stärksten Prädiktor für freizeitbezogene körperliche Aktivität im Erwachsenenalter aus (Kraut et al. 2003). Umfangreichen bewegungsorientierten Schulprogrammen wird das Potenzial zugeschrieben, den altersbezogenen Rückgang der körperlichen Aktivität zu verlangsamen und die Etablierung eines lebenslangen gesundheitsfördernden Bewegungsmusters zu unterstützen. Zur Ausschöpfung der Ressourcen wird eine Koordination schulischer und kommunaler Maßnahmen empfohlen (Centers for Disease Control and Prevention 1997; Kolbe 1993). Der Deutsche Sportbund (2005) legte eine Untersuchung zur Situation des Schulsports in Deutschland vor. Demnach ist ein häufiges Problem in Grundschulen, auch bedingt durch das Klassenlehrerprinzip, die mangelnde bzw. fehlende fachliche Qualifikation der Lehrer im Bereich Sport. Dies wird besonders kritisch beurteilt, da nur mit hinreichender Qualifikation entwicklungsgemäße Inhalte gezielt zur Förderung der Motorik von Kindern eingesetzt werden können. Zudem lassen die Rahmenrichtlinien oft (zu) großen pädagogischen Freiraum. Qualitätssichernde Maßnahmen werden bislang in Schulen kaum durchgeführt. Bemängelt wird zudem die Diskrepanz zwischen schulischem Angebot und Schülerwünschen, die den Unterricht als zu wenig abwechslungsreich, nicht anstrengend genug und mit zu geringen Anforderungen erleben. Der Lebensraum Schule ist als zentraler Lebensbereich von Kindern für Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit besonders geeignet. Fast alle Angehörigen einer Altersgruppe werden unabhängig vom sozioökonomischen Status der Eltern erreicht. Dies gilt insbesondere
Kindheit
1
2
Adoleszenz
für die Grundschule (Palentien 2003), in der die Kinder zwar nach ihrem Wohnbezirk, jedoch noch nicht nach ihren schulischen Leistungen getrennt sind. Das Setting bietet die Möglichkeit, bei allen Kindern gesundheitsfördernd anzusetzen, ohne einzelne Zielgruppen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko zu selektieren. Der tägliche Sportunterricht stellt somit einen wichtigen Ansatz zur Prävention dar. Für die Förderung der körperlichen Aktivität von Kindern im Lebensbereich Schule bieten sich prinzipiell drei Ansatzpunkte an: 1. als curricularer Bestandteil des Unterrichts, 2. durch die Förderung der Schule als Bewegungsraum und 3. die Öffnung der Schule für sportbezogene Angebote in der Freizeit. Viele Programme sind übergreifend und kombinieren verschiedene Ansätze.
10.5.2 Die Intervention »fit für pisa«
Im Rahmen des Interventionsprojekts »fit für pisa« werden seit 2003/2004 die obligatorischen zwei Schulstunden Sport pro Woche durch drei weitere Sportstunden ergänzt. Der tägliche Sportunterricht von jeweils 45 Minuten pro Tag wird für den ausgewählten Jahrgang durchgängig von Beginn bis zum Ende der Grundschulzeit als Bestandteil des Pflichtunterrichts durchgeführt. Davon werden zwei Stunden – wie in der Stundentafel für die Grundschule in Niedersachsen vorgesehen – von den Lehrern erteilt. Zusätzlich werden unter Berücksichtigung der Höchststundenzahl in der Grundschule drei Stunden Sportunterricht durch außerschulische Übungsleiter des ASC Göttingen
Erwachsenenalter
Körperliche Aktivität Gesundheit
Gesundheit
Körperliche Aktivität
Körperliche Aktivität Gesundheit
3 Körperliche Aktivität
Gesundheit
⊡ Abb. 10.4. Beziehungen zwischen körperlicher Aktivität und Gesundheit im Lebensverlauf (nach Twisk 2001)
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212
10
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
von 1846 e. V. wöchentlich gegeben, wofür zwei Verfügungsstunden und eine Fachstunde genutzt werden. In einem einjährigen Projektvorlauf wurden ab Oktober 2002 zunächst die Rahmenbedingungen für das Gesamtprojekt festgelegt und u. a. die personelle und räumliche Struktur der Grundschulen erfasst (Henze 2003). Mit Beginn des Schuljahres 2003/2004 konnten drei Grundschulen in Göttingen (Lohberg-Grundschule, Henneberg-Grundschule und Hölty-Grundschule) mit jeweils zwei ersten Klassen (n = 138 Schüler) für die Projektdurchführung gewonnen werden. Die Auswahl der Grundschulen erfolgte auf freiwilliger Basis, um eine langfristige Teilnahme der Schulen und die Unterstützung aller Beteiligten zu gewährleisten. Das Projekt fand im Verlauf das Interesse weiterer Schulen, sodass in den folgenden Schuljahren zwei Grundschulen in Göttingen (Hagenberg-Grundschule, Brüder Grimm Grundschule) mit insgesamt neun Klassen hinzukamen. Inzwischen wird an fünf Grundschulen in Göttingen von der 1. bis zur 4. Klasse täglicher Sportunterricht durchgeführt. Unterrichtsinhalte und Methoden wurden – basierend auf den niedersächsischen Rahmenrichtlinien – durch das Institut für Sportwissenschaft der Universität Göttingen und den ASC von 1846 e. V. entwickelt und werden kontinuierlich optimiert. Inhalte des 1. und 2. Schuljahres beispielsweise umfassen die folgenden fünf Lernfelder: ▬ Spielen, ▬ Turnen und Bewegungskünste, ▬ gymnastische, rhythmische und tänzerische Bewegungsgestaltung, ▬ Laufen, Springen, Werfen, Wandern sowie ▬ Räder und Rollen mit den Thematiken: ▬ kleine Spiele, ▬ Geräteturnen, ▬ Rhythmik und Tanz, ▬ Leichtathletik und ▬ Balance.
Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen sollte » Die bei Bewegungsförderung, beginnend im Kindergarten, über Schule bis hin zu aktiver sportlicher Betätigung, einschließlich Schul- und Betriebssport, ansetzen. Dabei sollte auch die Motorik gefördert werden. Detlef Detjen, Aktion Gesunder Rücken e. V., Selsingen
«
In diesen Klassenstufen ist der Sportunterricht auf eine vielseitige Spiel- und Bewegungserziehung gerichtet, während sich die Akzente in der 3. und 4. Klasse auf eine altersangemessene Einführung in den Kulturbereich Bewegung, Spiel und Sport verschieben. Durch dieses vielfältige Angebot, das das Ausprobieren neuer Sportarten einschließt, wird versucht, den Sportunterricht für alle Schülerinnen und Schüler attraktiv zu machen (⊡ Abb. 10.5). Auf Stärken und Schwächen jedes einzelnen Kindes wird eingegangen. Die Kinder werden gefordert und gefördert, aber nicht über- oder unterfordert. Sie werden an ihrem individuellen Leistungsstand abgeholt. Der Sportunterricht in der Grundschule sieht eine gemeinsame Bildung von Jungen und Mädchen vor. Die Intervention differenziert nicht zwischen Mädchen und Jungen. Ab der 3. Klasse werden Sportarten vertieft, die spezifische Konditionen fördern und sowohl Mädchen als auch Jungen an ihnen bislang fremdere Bewegungsformen heranführen (Klewin 1998; Zipprich 2003). Sollte sich im Verlauf des Unterrichts in den höheren Grundschulklassen herausstellen, dass eine geschlechtsspezifische Differenzierung erforderlich ist, wird diese vorgenommen. Während in den ersten beiden Klassenstufen jeweils ein Übungsleiter für den Sportunterricht zuständig ist, übernehmen ab der 3. Klasse drei spezifisch ausgebildete Übungsleiter jeweils einen der Schwerpunkte Ballsport, Turnen und Tanzen sowie Leichtathletik, die von ihnen jeweils einmal pro Woche angeboten werden (⊡ Abb. 10.5). Bislang wurden die Kosten für die externen Übungsleiter (ca. 2500,- Euro/Schuljahr/Klasse) durch die Gewinnung von Förderern wie der Ärztekammer Niedersachsen, der Schulstiftung der Stadt Göttingen, der Toto Lotto-Stif-
„fit für pisa“ – täglicher Schulsport in der Grundschule
45 min/Tag Übungsleiter
1. Klasse
45 min/Tag Lehrer
2. Klasse
Freude an der Bewegung
⊡ Abb. 10.5. Die Intervention »fit für pisa«
45 min/Tag Übungsleiter
45 min/Tag Lehrer
3. Klasse
45 min/Tag Übungsleiter
4. Klasse
Spezifische Sportarten: Ballsport, Turnen & Tanzen, Leichtathletik
213 10.5 · Tägliche Bewegung in der Schule: Das Praxisprojekt »fit für pisa«
tung, dem Sportärztebund sowie dem Verein zur Gesundheitsförderung gedeckt.
10.5.3 Qualitätssicherung
Zur Gewährleistung einer weitgehend standardisierten Durchführung in den Interventionsschulen und gleichzeitigen Qualitätssicherung werden die Übungsleiter speziell für diesen Unterricht regelmäßig einmal monatlich geschult; sie verfügen zudem im Gegensatz zu vielen Grundschullehrern (Deutscher Sportbund 2005) über eine Grundqualifikation im Bereich Sport. Hinzu kommen monatliche Besprechungen, in denen auftretende Schwierigkeiten, Differenzierungen im Unterricht usw. erörtert werden. Darüber hinaus werden Checklisten eingesetzt, mit denen Übungsleiter und Lehrer Inhalte und Zielkonditionen (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit, Orientierung) für jede Unterrichtsstunde erfassen. Die Auswertung der Checklisten wird in die regelmäßige, vom Sportverein geleitete Supervision mit einbezogen. Die bisher im Projekt »fit für pisa« konzipierten und eingesetzten Instrumente zur Qualitätssicherung des Sportunterrichts, mit denen Inhalte und Ziele der einzelnen Stunden festgehalten werden, unterliegen einer Weiterentwicklung. Ergänzend kommen Faktoren der Lehrer-Schüler-Interaktion wie z. B. Unruhe, Zuspätkommen, Nichtteilnahme und die effektive Unterrichtszeit hinzu (Deutscher Sportbund 2005). Diese ermöglichen eine Transparenz und Reflexion des Unterrichtsgeschehens. Die Instrumente werden in den beteiligten Interventionsschulen eingesetzt und auf ihre Anwendbarkeit in der Grundschule hin überprüft. Reflexionen in den regelmäßigen Supervisionen geben Hinweise auf erforderliche Modifikationen.
10.5.4 Evaluation
Von Beginn an wurde eine wissenschaftliche Evaluation angestrebt. Sie gibt einen Einblick in gesundheits- und bildungsbezogene Effekte täglichen vierjährigen Sportunterrichts in der Grundschule und seiner Nachhaltigkeit. Die Evaluationsergebnisse sollen Hinweise für den Nutzen der Maßnahme für spezielle Zielgruppen wie Jungen, Mädchen, Kinder von Eltern mit geringem sozioökonomischen Status, Kinder mit Bewegungseinschränkungen, Übergewicht oder Adipositas etc. liefern. Dies bietet einerseits Ansätze für weiterführende Forschungsfragen. Andererseits können praxisrelevante Handlungsstrategien z. B. für spezifische Stadtteile, Klassen und Subgruppen etc. abgeleitet werden. Zudem erhöht ein entsprechend qualitätsgesichertes Programm die Attraktivität der einzelnen Schule. Seit dem Schuljahr 2003/2004 werden jährlich medizinische Anamnesen und Untersuchungen vom Gesundheitsamt Göttingen und der Universitätskinderklinik Göttingen
durchgeführt. Die motorische Entwicklung durch Sporttests wird vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Göttingen untersucht. Die emotionale Befindlichkeit wird durch standardisierte Fragebögen des Pädagogischen Seminars der Universität Göttingen analysiert. Zudem wird anhand validierter Instrumente u. a. die Lebensqualität, die Aufmerksamkeit sowie die körperliche Aktivität im Alltag durch den Stiftungslehrstuhl Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung der Medizinischen Hochschule Hannover erfasst. Eltern und Kinder werden über das Projekt umfassend informiert. An der Untersuchung nehmen nur diejenigen Kinder teil, deren Eltern ihr Einverständnis erklärt haben. Mit den Interventionsschulen wurde zugleich eine Kontrollgrundschule mit vier Klassen (n = 120 Schülern) rekrutiert, die den Sportunterricht mit einer Doppelstunde pro Woche unverändert fortführt. Im Schuljahr 2006/2007 konnten zwei weitere Kontrollschulen mit fünf Klassen (n = 110 Schülern) gewonnen werden. Zur Prüfung der Nachhaltigkeit der Effekte nach Abschluss der Intervention wird eine Erhebung Ende der 5. sowie der 6. Klasse durchgeführt. Die Evaluation der nachhaltigen Effektivität sowie der Kosteneffektivität täglichen Schulsports wird von dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (2007 bis 2010) gefördert. Die ersten Befragungsergebnisse von Eltern und Lehrer der Interventionsgruppe nach der 1. Klasse (n = 73) weisen auf eine hohe Zufriedenheit insbesondere hinsichtlich verminderter Aggressionen sowie einer Verbesserung der Konzentration und Ausgeglichenheit hin (⊡ Abb. 10.6). Über die gesundheitsbezogene sowie die ökonomische Analyse wird die Evaluation eine Basis für zukünftige Entscheidungen und Investitionen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Sport geben. Von den Kindern werden nach Aussage der Lehrkräfte der beteiligten Interventionsschulen die Pausen häufiger zur Bewegung genutzt, Spielgeräte von ihnen öfter nachgefragt und deshalb diese von den Schulen vermehrt angeschafft. Im Sommer 2005 bildete sich in einer der ersten Interventionsschulen eine Elterninitiative, mit dem Ziel, bei Übernahme der Kosten durch die Eltern vermehrten Sportunterricht auch in Klassen anzubieten, die nicht an dem Praxisprojekt »fit für pisa« teilnehmen. Ziel des Projekts ist es, Empfehlungen für eine flächendeckende Umsetzung eines bewegungsorientierten Interventionsprogramms zu geben. Grundlage für die Entwicklung der Empfehlungen bilden 1. die Ergebnisse der Längs- und Querschnittsanalysen zu gesundheits- und bildungsbezogenen Outcomes bei den Schülern, 2. die Erhebung bei den Schulleitern, Lehrern, Eltern und Übungsleitern zur systematischen Ermittlung von Hemmnissen und ihrer Überwindung, 3. die Analyse der strukturellen Voraussetzungen sowie 4. die langjährigen Erfahrungen der Initiatoren und Organisatoren des Praxisprojektes.
10
214
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
100 90
87
82
80
73
Prozent
70
73
68
67
60
55
55
50 40 30 20 10 0
⊡ Abb. 10.6. Eltern- und Lehrerbefragung der Interventionsgruppe nach Ende der 1. Klasse
Fitness
10.5.5 Fazit
10
Die Intervention »fit für pisa« nimmt die vielfach erhobenen Forderungen nach täglichem Sportunterricht während der gesamten Grundschulzeit auf und setzt diese seit fünf Jahren an fünf Schulen um. Mit der standardisierten Durchführung durch speziell qualifizierte Lehrkräfte und auf Basis eines gesondert entwickelten und verbindlichen Curriculums soll die Qualität des Unterrichts verbessert werden. Diese wird zusätzlich durch ein begleitendes Qualitätsmanagement inklusive kontinuierlicher Supervision gesichert. Die Evaluation der Intervention überprüft die Nachhaltigkeit einer derartigen Intervention ein bzw. zwei Jahre nach ihrem Abschluss im Hinblick auf verschiedene gesundheits- und bildungsbezogene Effekte. Geschlechtsspezifische- und sozioökonomische Variablen werden gezielt berücksichtigt und ausgewertet. Darüber hinaus werden über die Analyse der strukturellen Voraussetzungen sowie die systematische Ermittlung von Hemmnissen und ihrer Überwindung Hinweise für eine flächendeckende Umsetzung eines bewegungsorientierten Aktivitätsprogramms gegeben und der Investitionsbedarf geschätzt. Mit der curricularen Integration von täglichem Sportunterricht in einen zentralen Lebensbereich im Kindesalter wird die körperliche Aktivität bei allen Schülern gefördert. Nach Pate et al. (1995) kann die Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und gesundheitlichem Outcome bei Erwachsenen mit einer parabolischen Funktion beschrieben werden. Träfe dieses auch für Kinder zu, führt die Erhöhung der körperlichen Aktivität besonders bei geringen Ausgangswerten zu raschen Verbesserungen der Gesundheit. Damit trägt diese Maßnahme zur Verbesserung der Chancengleichheit auch bei Kindern in sozial benachteiligten Stadtteilen bei, die häufig, wie eine schwedische Untersuchung zeigt, eine schlechtere Infrastruktur
Konzentration
Lehrer
Ausgeglichenheit
Sozialverhalten
Eltern
hinsichtlich bewegungsfördernder Freizeiteinrichtungen aufweisen. Zudem beteiligen sich Kinder von Eltern mit geringerem sozioökonomischen Status (ebenso wie Mädchen) weniger am außerschulischen Sport (Deutscher Sportbund 2005). Nach Siegrist et al. (1998) hat die Schule eine homogenisierende Wirkung auf den sozialen Gradienten und der Einfluss des Elternhauses wird zunächst relativiert bzw. verdeckt (Paulus u. Zurhorst 2001).
Infobox
I
I
Das Projekt »fit für Pisa« im Überblick Initiatoren »fit für pisa« wurde initiiert und durchgeführt von dem Allgemeinen Sport-Club Göttingen von 1846 e. V., der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer Niedersachsen, dem Gesundheitsamt der Stadt und des Landkreises Göttingen, der Universitätskinderklinik Göttingen in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sportwissenschaften sowie dem Institut für Pädagogik und Psychologie der Universität Göttingen.
Schirmherren Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft von Lothar Koch, dem Kultusausschussvorsitzenden des niedersächsischen Landtages. Darüber hinaus wird es durch den niedersächsischen Kultusminister Bernd Busemann unterstützt.
Projektlaufzeit Die Intervention begann mit dem Schuljahr 2003/2004. Die Evaluation der Intervention wird von 2007 bis 2010 durchgeführt.
Ort Schulen in Göttingen. ▼
215 10.5 · Tägliche Bewegung in der Schule: Das Praxisprojekt »fit für pisa«
Literatur Zielsetzung Das primäre Ziel dieser Maßnahme ist es, die Bewegung der Kinder in der Schule durch täglichen Sportunterricht zu erhöhen, um somit dem natürlichen Bewegungsdrang der Kinder zu entsprechen. Die Freude an der Bewegung soll erhalten und weiter entwickelt werden. Darüber hinaus ist das Ziel, die Bewegung im Alltag und in der Freizeit zu steigern sowie die körperliche Gesundheit und sozioemotionale Entwicklung der Kinder zu fördern.
Inhalte Im Rahmen des Interventionsprojekts »fit für pisa« werden die obligatorischen zwei Schulstunden Sport pro Woche durch drei weitere Sportstunden ergänzt. In den Klassenstufen 1 und 2 ist der Sportunterricht auf eine vielseitige Spiel- und Bewegungserziehung gerichtet. In der Klasse 3 und 4 bilden eine altersangemessene Einführung in den Kulturbereich Bewegung, Spiel und Sport den Schwerpunkt.
Evaluation Die Evaluation mittels Untersuchung der Schüler sowie Befragung der an der Intervention beteiligten Personengruppen soll Aufschluss darüber geben, inwieweit sich täglicher Sportunterricht auf die Gesundheit, das Bewegungsverhalten und die kognitive Aufmerksamkeit von Schülern langfristig auch nach Abschluss der Intervention auswirkt und inwieweit Kinder mit erhöhten Risikofaktoren von dem Angebot profitieren.
ACSM – American College of Sports Medicine (2005) ACSM’s guidelines for exercise testing and prescription. Lippincott Williams & Williams, Baltimore Blair S, Clark D, Cureton K (1989) Exercise and fitness in childhood: implications for a lifetime of health. In: Gisolfi C, Lamb D (eds). Perspectives in exercise science and sports medicine. McGrawHill, New York, pp 605–613 Bös K (2003) Motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Universität Karlsruhe Centers for Disease Control and Prevention (1997) Guidelines for school and community programs to promote lifelong physical activity among young people. MMWR; 46(RR6) Deutscher Sportbund (2005) Kurzfassung der DSB-Sprint-Studie. Eine Untersuchung zur Situation des Schulsportes in Deutschland. www.dsb.de/fileadmin/Bilder_allgemein/Veranstaltungen/Schulsport/Kurzfassung_1_.pdf Graf C, Koch B, Klippel S et al. (2003) Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivität und Konzentration im Kindesalter. Eingangsergebnisse des CHILT-Projektes. Dtsch Z Sportmed 54 (9):242–246 Henze V (2003) Der Einfluss der täglichen Sportstunde auf Gesundheit, Motorik und Psyche – eine exemplarische Untersuchung im Rahmen des Projekts »Kinder – bewegen“. Unveröffentlichtes Dokument, Magisterarbeit am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Göttingen Kelder S, Perry C, Klepp K, Lytle L (1994) Longitudinal tracking of adolescent smoking, physical activity, and food choice behaviors. Am J Public Health 84 (7):1121–1126 Kirkcaldy B, Shephard R, Siefen R (2002) The relationship between physical activity and self-image and problem behaviour among adolescents. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 37 (11):544–550 KKH, MHH (2004) Weißbuch Prävention! HERZgesund? Druckhaus Benatzy GmbH, Hannover Klewin G (1998) Mädchen und Jungen im Schulsport. Kettler, Bönen Kolbe L (1993) An essential strategy to improve the health and education of Americans. Prev Med 22:544–560 Kraut A, Melamed S, Gofer D, Froom P (2003) Effect of school age sports on leisure time physical activity in adults: The CORDIS Study. Med Sci Sports Exerc 35 (12):2038–2042 Lampert T, Mensink GBM, Romahn N, Woll A (2007) Körperlich-sportliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 50:634–642 Palentien C (2003) Kinder und Jugendliche. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Urban & Fischer, München, S 636–642 Pate RR, Pratt M, Blair S, Haskell W, Macera C, Bouchard C, Buchner D, Ettinger W, Heath GW, King AC et al. (1995) Physical activity and public health: a recommendation from the Centers for Disease Control and Prevention and the American College of Sports Medicine. JAMA 273:402–407 Paulus P, Zurhorst G (2001) Gesundheitsförderung, gesundheitsfördernde Schule und soziale Ungleichheit. Gesundheitswesen, 63 (Sonderheft1):S52–S55 Samitz G, Baron R (2002) Epidemiologie der körperlichen Aktivität. In: Samitz G, Mensink G (Hrsg) Körperliche Aktivität in Prävention und Therapie. Hans Marseille, München, S 11–31 Siegrist J, Frühbuß J, Grebe A (1998) Sozial ungleiche Gesundheitsrisiken im Kindes- und Jugendalter. Eine aktuelle Bestandsaufnahme der internationalen Forschung. Diskurs 1:76–84 Starker A, Lampert T, Worth A, Oberger J, Kahl H, Bös K (2007) Motorische Leistungsfähigkeit. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 50:775–783
10
216
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
Strong W, Malina R, Blimkie C et al. (2005) Evidence based physical activity for school-age youth. J Pediatr 146 (6):732–737 Trost S, Owen N, Bauman A, Sallis J, Brown W (2002) Correlates of adults’ participation in physical activity: review and update. Med Sci Sports Exerc 34 (12):1996–2001 Twisk J (2001) Physical activity guidelines for children and adolescents: a critical review. Sports Med 31 (8):617–627 Zipprich C (2003) Die Bedeutung von Spiel und Sport im Selbst- und Fremdbild von Mädchen und Jungen. Czwalina, Hamburg
10.6
Bewegung im Kindergarten: Das Projekt »Fitness für Kids«
Kerstin Ketelhut
10
Immer mehr Kinder in Deutschland sind übergewichtig und leiden unter Bewegungsmangel. Die Ursachen hierfür sind in den veränderten Lebensgewohnheiten zu finden. Die nachteiligen Auswirkungen einer medienorientierten Welt auf das Spiel- und Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen werden immer deutlicher. Viele Kinder sind zu passiven Konsumenten geworden und folglich körperlich zu wenig aktiv. Untersuchungen in Deutschland ergaben, dass sich Kinder durchschnittlich nur eine Stunde am Tag bewegen (Bös et al. 2002). Dieser Bewegungsmangel führt zunehmend dazu, dass Kinder sowohl motorische Defizite als auch eine verringerte körperliche Fitness aufweisen. In der Folge treten Risikofaktoren und Krankheiten, wie erhöhter Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Adipositas und Diabetes mellitus, aber auch Schwächen des Stütz- und Bewegungsapparates, zunehmend häufiger bereits im Kindes- und Jugendalter auf. Die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass vielfach bereits bei Erstklässlern motorische
Defizite und gesundheitliche Vorschädigungen vorliegen (Delekat u. Kis 2001). Es ist das Anliegen der Berliner Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen e. V. (BGPR) und der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH), durch gezielte Bewegungsangebote im frühesten Kindesalter dieser negativen Entwicklung entgegenzusteuern. So sollen bereits Kindergartenkinder zu einem aktiven und gesunden Lebensstil erzogen werden.
10.6.1 Vorgehen
Das gemeinsame Projekt »Fitness für Kids« der BGPR und der KKH hat zum Ziel, den oben genannten Problemen durch eine regelmäßige, gesundheitsorientierte Bewegungserziehung bereits im Kindergartenalter zu begegnen. Diese Präventionsmaßnahme wurde in 50 Kindergärten in Berlin, Chemnitz und Leipzig über sechs Monate während der Projektlaufzeit von Juni 2006 bis September 2007 durchgeführt. Eine Ausdehnung und Erweiterung des Projektes ist geplant. Die Intervention besteht aus einem wöchentlichen Bewegungsprogramm von drei Einheiten von jeweils 45 Minuten, das zunächst einmal pro Woche von qualifizierten Übungsleitern und die zwei weiteren Male von zwischenzeitlich geschulten Erzieherinnen durchgeführt wird. Dabei geht es um eine vielfältige spielerische Bewegungserziehung, die neben der Freude an der Bewegung die motorischen Grundeigenschaften wie Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Geschicklichkeit der Kinder schulen soll. Mit diesen niedrigschwelligen Bewegungsangeboten soll jedes Kind erreicht werden. Insbesondere Bewegungsspiele mit Alltagsmaterialien (z. B. Zeitungen, Fliegenklatschen, Spülschwämmen, etc.) erweisen sich hierbei als sehr motivierend bei den Kindern und sind zugleich eine kostengünstige Alternative für teure Spiel- und Sportgeräte.
217 10.6 · Bewegung im Kindergarten: Das Projekt »Fitness für Kids«
10.6.2 Multiplikation
10.6.3 Evaluation
Im Rahmen des Projekts ist es wichtig, neben der Förderung der Kinder auch die Dauerhaftigkeit der Maßnahme zu gewährleisten. Aus diesem Grund werden die Erzieher der jeweiligen Einrichtungen regelmäßig vor Ort geschult, indem sie an der Bewegungsstunde, die der Übungsleiter mit den Kindern durchführt, teilnehmen. Der Übungsleiter fungiert stets auch als Berater für die Erzieher. Anschließend ist es deren Aufgabe, das Gelernte in den zwei weiteren wöchentlichen Bewegungsstunden anzuwenden und mit den Kindern zu erproben. Um die Arbeit der Erzieher zu erleichtern, erhalten sie Materialien wie Joghurtbecher, Fliegenklatschen und Zeitungen. Zusätzlich erfolgt im Zuge eines begleitenden Workshops eine weitere Qualifizierung der beteiligten Erzieher. Auf diese Weise werden kompetente Multiplikatoren ausgebildet, die dieses Konzept selbständig umsetzen und es innerhalb ihrer Einrichtung an andere Kollegen weitervermitteln können. Der kostenträchtige Übungsleiter kann nach Beendigung des Projekts in weiteren Kindergärten eingesetzt werden. Durch dieses Multiplikatorenkonzept wird der langfristige Fortbestand des Angebotes nach einer anfänglichen Starthilfe kostenneutral gesichert.
Um die Wirksamkeit dieser Präventionsmaßnahme zu belegen, wird das Projekt durch das Institut für Sportwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin wissenschaftlich begleitet. Hierbei werden die motorischen Fähigkeiten sowie einige gesundheitsbezogene Parameter vor Projektbeginn und nach einem halben Jahr bei den Kindern erhoben und mit einer entsprechenden Kontrollgruppe verglichen werden. Die Erwartung aus entwicklungspsychologischer Sicht wIrd durch die Evaluation bestätigt. Alle Kinder haben sich innerhalb der sechsmonatigen Intervention in ihrer Motorik verbessert. Die Effektivität der Maßnahme wurde mit standardisierten motorischen Tests und einigen gesundheitsbezogenen Parametern vor und nach der sechsmonatigen Interventionszeit gemessen und die Ergebnisse mit denen einer Kontrollgruppe verglichen. In die Untersuchung wurden jeweils 20 Interventions- und Kontrollkindergärten einbezogen. Die Kinder aus den Interventionskindergärten schnitten in allen motorischen Tests deutlich besser ab als die Kinder der Kontrollkitas. Die Ergebnisse (s. auch ⊡ Tabelle 10.7): ▬ Alle Kinder wiesen bei der zweiten Messung motorische Verbesserungen auf. ▬ Die Kinder aus den Interventionskindergärten schnitten jedoch in allen motorischen Tests besser ab als die Kinder aus den Kontrollkindergärten. ▬ Trotz schlechterer Eingangstestergebnisse konnte die Interventionsgruppe die Kontrollgruppe nicht nur ein-, sondern sogar überholen. ▬ In der Gesamtbilanz aller motorischen Testaufgaben ergeben sich signifikante Unterschiede zugunsten der Interventionsgruppe (p < 0,001). Bereits eine sechsmonatige Intervention im Kindergarten zeigt schon deutliche Verbesserungen der motorischen Leistungsfähigkeit bei Kindergartenkindern.
⊡ Tabelle 10.7. Zwei exemplarische Ergebnisse der Evaluation Test
Interventionsgruppe
Kontrollgruppe
Eingangstest
Abschlusstest
Eingangstest
Abschlusstest
Mittelwert [sec]
7,31
16,08
8,67
12,23
Standardabweichung
5,77
10,46
6,51
8,47
Mittelwert [sec]
2,8
2,5
2,6
2,7
Standardabweichung
0,4
0,3
0,4
0,4
Einbeinstand (gesamt)
6-Meter-Lauf
10
218
Kapitel 10 · Ernährung und Bewegung
10.6.4 Nachhaltigkeit
Durch die Qualifizierung und Verselbstständigung der Multiplikatoren erzeugt das Projektvorgehen Strukturen und Wirkungen, die über die sechsmonatige Projektlaufzeit hinaus gehen und keine Kosten mehr verursachen. Unter der Bedingung einer kontinuierlichen Durchführung in den Kindertagestätten ist von überdauernden positiven Effekten auf die motorische Entwicklung der Kinder auszugehen. Auch die Tatsache, dass dieses spaßbetonte und motivierende Bewegungsprogramm sehr gut bei den Kindern ankommt, sorgt für eine schnelle Verbreitung dieses einfachen und wirkungsvollen Konzepts. Auch die Nachfrage von Seiten der Eltern führt dazu, dass immer mehr Erzieher/-innen auf diesem Gebiet aktiv werden. Weitere Informationen zum Projekt unter www.fitnessfuer-kids.de Literatur Bös K, Opper E, Woll A (2002) Fitness in der Grundschule – Endbericht. Wiesbaden Delekat D, Kis A (2001) In: Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Frauen (Hrsg) Gesundheitsberichterstattung Berlin, Spezialbericht 2001–1, Zur gesundheitlichen Lage von Kindern in Berlin
10
11 Ergonomie Dieter Breithecker, Nicole Teichler, Ulla Walter
Zur Vermeidung arbeitsplatzbezogener Muskel-Skelett-Erkrankungen werden ergonomische Maßnahmen im Rahmen der Prävention eingesetzt. Im folgenden Kapitel wird ein Überblick über die Grundlagen der Ergonomie und ihre verschiedenen Anwendungsbereiche am Arbeitsplatz und im häuslichen Umfeld gegeben, Zusammenhänge zu Muskel-Skelett-Erkrankungen aufgezeigt und mögliche präventive Ansätze zur Vermeidung von Beeinträchtigungen vorgestellt. Das Kapitel umfasst folgende Aspekte: Definition und Umfang der Ergonomie ( Kap. 11.1), die Rolle der Ergonomie am Arbeitsplatz ( Kap. 11.1), die Bedeutung der Ergonomie im Alltag ( Kap. 11.1), die Relevanz ergonomischer Aspekte in der Schule ( Kap. 11.2) sowie die Möglichkeiten einer Integration in den (Schul-)Alltag ( Kap. 11.3).
11.1
Theoretische Grundlagen und Bedeutung der präventiven Ansätze
Nicole Teichler, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG) Ergonomie ist die Lehre von der menschlichen Arbeit (griech.: ergon = Arbeit, nomos = Gesetz) und eine Teildisziplin der Arbeitswissenschaften. Ziel der Ergonomie ist die Anpassung von Arbeitsbedingungen an die Eigenschaften und Bedürfnisse des Menschen, um ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten im Zusammenwirken unter Berücksichtigung der Arbeitsmittel, Arbeitsumgebung und deren Schnittstellen optimal zu nutzen (Laurig 1983). Präventive Ziele sind der Erhalt bzw. die Verbesserung der Gesundheit und der Beschäftigungsfähigkeit. Dabei wird zwischen der Gestaltung des Arbeitsplatzes (Mikroergonomie) und seiner Integration in den Gesamtbetrieb (Makroergonomie) unterschieden (⊡ Tabelle 11.1).
Inhalte der Ergonomie beziehen sich auf die Analyse und Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsplatzumgebung, die spezifischen Aufgabenstellungen sowie die Arbeitsorganisation, um sowohl zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und Effizienzerhöhung des gesamten Systems als auch zur Verringerung von Belastungen beizutragen (Schmidtke 1993). Daraus ergeben sich zwei Schwerpunkte: ▬ Verbesserung der Qualität des Arbeitslebens und ▬ Steigerung der Qualität der Arbeitsergebnisse. Des Weiteren wird die Ergonomie nach ihren Ansätzen in Verhaltens- und Verhältnisergonomie (Heidinger et al. 1999) sowie in Systemergonomie (Held 2005) unterschieden. Eine Übersicht über die verschiedenen Ebenen der Ergonomie gibt ⊡ Tabelle 11.2. In der Systemergonomie wird der Arbeitsplatz als Einheit zwischen Arbeitsaufgabe und Arbeitsmitteln gesehen, d. h., es wird beurteilt, ob diese Einheit ihren Anforderungen gerecht wird. An Schnittstellen werden mögliche Leistungsverluste ermittelt und passende Lösungen aufge-
⊡ Tabelle 11.1. Unterscheidung Mikro- und Makroergonomie. (Nach Hartmann 2003) Mikroergonomie
Makroergonomie
Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Arbeitssystems
Regeln für die Gestaltung von Organisation, Betriebssowie Arbeitsgruppen
Reduktion der Belastung des arbeitenden Menschen
Zusammenwirken von Arbeitsplätzen
Anthropometrische Arbeitsplatz- und Arbeitsmittelgestaltung
Arbeitsablauf (Aufgabenausführung und gegenseitige Abhängigkeit)
Schnittstellenoptimierung in der Systemergonomie zur Reduktion von Leistungsverlusten
Umgebungsbedingungen (direkt wirkende Einflüsse auf Arbeitsprozesse und Kommunikation)
220
Kapitel 11 · Ergonomie
⊡ Tabelle 11.2. Elemente und Anwendungsgebiete der Verhältnis-, Verhaltens- und Systemergonomie. (Mod. nach Bruder 2007; Held 2005; Heidinger et al. 1999)
Organisation
Verhältnisergonomie Organisatorische Ebene
Verhaltensergonomie Individuelle Ebene
Verbesserungen im Bereich der Arbeitsorganisation (Optimierung von Arbeitsabläufen, Schaffen von Handlungsspielräumen etc.) Evaluation von Interventionen Identifikation von Barrieren und Möglichkeiten ihrer Überwindung (bezogen auf Unternehmen und Mitarbeiter) Erfassung der Nachhaltigkeit
Qualifikation
Systemergonomie
Gesundheitsförderprogramme Rückenschulen Entspannungstechniken Umgang mit Stress Sensibilisierung der Mitarbeiter für Prävention am Arbeitsplatz Mitarbeiterschulung zur Erkennung und Verhütung von Muskel-SkelettErkrankungen
Abstimmung von verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen Integration von Interventionen in die Unternehmensstruktur Steigerung der Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter bzgl. ihrer Gesundheit Förderung der Bereitschaft nachhaltiger Veränderungen bei Mitarbeitern Motivation und Anreize für Mitarbeiter zur Teilnahme sowie Möglichkeiten ihrer Förderung
Ausbildung ergonomischen Grundwissens bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern Förderung von Arbeitsfähigkeit
Arbeitsplatzspezifische, ggf. externe Schulungsmaßnahmen Ergonomisch gestaltete Geräte bzw. Instrumente Hilfsmittel (lumbale Stützgürtel)
Führungsverhalten Gesundheitsmanagement
Risiko- und Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen und -systemen Zusammenhang Arbeitsplatzunsicherheit und Gesundheit Arbeitsplatz
11
Arbeitsplatz/Arbeitsmittel: Bürostuhl Arbeitstisch Stehpult Computer Arbeit in der Pflege Arbeitsumgebung: Beleuchtung Klima Lärm Schadstoffe
zeigt. So bezieht sich die Schnittstelle Mensch – Stuhl nach Peters et al. (2002) beispielsweise auf die optimale Anpassung und Benutzung des Bürostuhls für den Nutzer, die Schnittschnelle Mensch – Bewegung sucht Lösungen, wie sich bei sitzender Tätigkeit Bewegung in den Arbeitsalltag integrieren lässt, die Schnittstelle Tisch – Bildschirm zeigt Lösungen für die Anordnung von Arbeitselementen am Arbeitsplatz. In Bedarfsanalysen werden relevante gesundheitsbelastende Bereiche für die ergonomische Prävention am Arbeitsplatz, der Arbeitsumgebung und der Arbeitsorganisation ermittelt.
11.1.1 Gesundheit am Arbeitsplatz
Bei der Entstehung bzw. Verhinderung von körperlichen Problemen am Arbeitsplatz stehen zahlreiche organisato-
Dynamisches Sitzen Steh-Sitz-Dynamik Ausgleich (Bewegung, Pausen) (Schutz-)Kleidung Hebe- und Tragetechniken
Schnittstellen Anpassung von Arbeitsmitteln: Mensch – Stuhl Mensch – Bewegung Tisch – Bildschirm
rische und individuelle Einflussfaktoren miteinander in Wechselwirkung. Ergonomie ist hierbei allerdings nur ein Teilaspekt im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren. So rücken biopsychosoziale Faktoren wie arbeitsplatzbezogener Stress, Arbeitsplatzunzufriedenheit sowie psychische Belastungen zunehmend in den Vordergrund. Weitere Aspekte befassen sich mit den sozialen, organisatorischen sowie technischen Voraussetzungen, unter denen menschliche Arbeit stattfindet und Einflussfaktoren ihrer Gestaltung. Die arbeitsplatzbezogenen Einflussfaktoren und Wechselwirkungen auf die Gesundheit am Arbeitsplatz verdeutlicht ⊡ Abb. 11.1. Eine detaillierte Darstellung kann dem Weißbuch Stress?, Kap. 7.3., entnommen werden. Nachfolgend wird auf die Bereiche Arbeitsbedingungen, Arbeitsmittel sowie Arbeitsausgleich näher eingegangen.
221 11.1 · Theoretische Grundlagen und Bedeutung der präventiven Ansätze
Arbeitsmittel
Arbeitsbedingungen
Art des Betriebes
Arbeitsausgleich
Gesundheit am Arbeitsplatz Arbeitszeit
Arbeitsaufgabe
Arbeitsorganisation
11.1.2 Arbeitsbedingungen
Die Gestaltung von Arbeitsbedingungen sollte derart erfolgen, dass der Arbeitsplatz keine gesundheitlichen Gefahren beinhaltet und effektives Arbeiten ermöglicht. Das wird in der Grundsatzerklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deutlich: »Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit und die Arbeitsbedingungen organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein« (Ottawa-Charta der WHO vom 21.11.1986). Die Ergonomie erhält damit einen wichtigen Stellenwert in der Arbeitswelt. Diese Relevanz zeigt sich u. a. in Arbeitsplatznormen für bestimmte Arbeitsplätze (z. B. Bildschirmarbeitsplätze), um körperliche Beeinträchtigungen weitgehend zu verhindern. im Rahmen der Prävention am Arbeits» Wesentlich platz ist die Ausstattung mit ergonomischen Arbeitsmitteln, bei Neueinstellungen kurzfristig angebotene arbeitsmedizinische Beratung, besser noch die ar. beitsmedizinische Begleitung vom ersten Tag an Dr. Klaus Giersiepen, MPH; Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS)
«
Nachfolgend wird die Nutzung ergonomischer Arbeitsmittel für Büro- und Bildschirmarbeitsplätze beispielhaft näher dargestellt. Für diese Bereiche liegen Normen vor, d. h. nationale bzw. internationale Vereinbarungen (z. B. DIN, ISO), die Produkte und deren Wirkungen auf Güter oder Menschen betreffen. Ergonomienormen beinhalten Leitsätze für menschengerechte Gestaltung und orientieren sich an funktionellen Verhaltensaspekten, z. B. der
⊡ Abb. 11.1. Arbeitsplatzbezogene Einflussfaktoren und Wechselwirkungen auf die Gesundheit
Arbeitskraft, statischen Arbeitshaltungen oder der manuellen Handhabung von Lasten (Hartmann 2003). Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA, www.baua.de) entwickelte Richtlinien zur gesundheitszuträglichen Gestaltung von Büroarbeitsplätzen, die sich an der Bildschirmarbeitsverordnung des Bundesjustizministeriums orientieren. Die Bildschirmarbeitsverordnung zum Abbau arbeitsbedingter Risikofaktoren trat erstmals 1996 in Kraft (BildscharbV 1996), deren Einhaltung allein jedoch für eine Prävention von muskuloskelettalen Erkrankungen nicht ausreichend ist. Zwar werden die Voraussetzungen für einen optimal eingerichteten (Bildschirm-)Arbeitsplatz geschaffen, doch sind für die Vermeidung von arbeitsplatzbezogenen Beschwerden, wie von Rückenschmerzen, und effektiver Arbeitsleistung weitere Einflussfaktoren, wie das Arbeitsklima, zu berücksichtigen (Windel 2002). ⊡ Abbildung11.2 verdeutlicht genormte Anforderungen an Arbeitsplätze mit überwiegend sitzender Tätigkeit.
11.1.3 Arbeitsmittel
Ein Arbeitsplatz umfasst mit dem Arbeitsstuhl, dem Arbeitstisch, dem Monitor und der Tastatur verschiedene Arbeitsmittel, die definierte Normen besitzen sollten. Nachfolgend werden wesentliche Arbeitsmittel näher erläutert. Der Arbeitsstuhl zeichnet sich durch sicheren Stand aus, der durch mindestens fünf Rollen gewährleistet wird. Er wird individuell an den Benutzer angepasst. Dabei sollte die Einstellung so vorgenommen werden, dass Ober- und Unterschenkel einen leicht stumpfen
11
222
Kapitel 11 · Ergonomie
durch eine natürliche Lichtquelle des Arbeitsplatzes oder durch indirekte Ausleuchtung des Arbeitsplatzes mit Kunstlicht gewährleistet sein sollte. Das Raumklima wird durch die Vorgaben für ein gesundheitlich zuträgliches Raumklima der Arbeitsstättenverordnung von 2004 geregelt. Die Lärmbelastung sollte gering gehalten werden; die Farbgestaltung berücksichtigt die Abstimmung von Farben, Formen und Materialien des Arbeitsplatzes.
11.1.4 Arbeitsbedingungen und Muskel-
Skelett-Erkrankungen
⊡ Abb. 11.2. Beispiel: Ein Büroarbeitsplatz – Tisch + Stuhl (+ Fußstütze) = ein System (Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin)
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Winkel, d. h. größer als 90°, bilden und die Sitzfläche die Oberschenkel ausreichend unterstützt. Ebenso sollte die Rückenlehne die Wirbelsäule physiologisch stützen. Der Stuhl besitzt eine Federung, um die Stoßbelastung der Wirbelsäule gering zu halten. Optimal ist ein Stuhl, der sich mit seiner Sitzfläche dreidimensional bewegt. Der Sitzvorgang läuft quasi reflektorisch als Reaktion auf die flexiblen Stuhlelemente (Sitzfläche und Rückenlehne) über die natürlich-dynamischen Mechanismen des Organismus. Durch kontinuierliche Bewegung des Beckens und der Wirbelsäule wird die Durchblutung gesteigert und die Muskulatur trainiert. Die Stützfunktion des Halteapparates der Wirbelsäule kann optimal gewährleistet werden. Zusätzlich werden die Bandscheiben durch Bewegung mit Nährstoffen versorgt ( Kap. 5) (Peters et al. 2002; Peters 1973). Der Arbeitstisch sollte höhenverstellbar mit einer Möglichkeit zur Nutzung als Sitz-Steh-Kombination sein. Die Mindestgröße der Arbeitsfläche beträgt 1600×800 mm und besteht aus reflexionsarmen Materialien. Zudem ist auf Freiheit im Beinraum des Tisches zu achten. Beim Sitzen liegt die optimale Einstellung vor, wenn Ober- und Unterarm bei aufrechter Sitzposition einen leicht stumpfen Winkel, d. h. größer als 90°, bilden. Zur Ermöglichung einer Steh-Sitz-Dynamik sollte über ein zusätzliches Stehpult nachgedacht werden. Der Monitor muss eine ausreichende Größe haben, um ermüdungsfreies Arbeiten zu gewährleisten. Die oberste Bildschirmzeile sollte etwas unterhalb der Blickrichtung des Nutzers liegen, sodass die Schulter-Nacken-Muskulatur durch unphysiologische Haltung der Halswirbelsäule nicht verspannt. Die Platzierung erfolgt parallel zu den Fenstern im Raum, um Reflexionen bzw. Blendungen zu vermeiden. Weitere zu berücksichtigende Faktoren in der Arbeitsumgebung stellt die Beleuchtung dar, die möglichst
Bewegungsmangel, Überlastung und Fehlhaltungen am Arbeitsplatz können zu anhaltenden Schädigungen des Muskel- und Sehnengewebes, der Wirbelsäule und Bandscheiben führen (van Tulder u. Koes 2003). In systematischen Literaturrecherchen, u. a. der Cochrane-Datenbank, werden Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems aufgezeigt, die als arbeitsbedingt anzusehen sind (Verhagen et al. 2006). Diese werden unter dem Ausdruck »repetitive strain injury« (RSI, im Deutschen der sog. Mausarm) zusammengefasst, einem Sammelbegriff für Schmerzen im Nacken-, Kopf-, Arm- und Handbereich. Als Ursache liegt eine sich ständig wiederholende Bewegung über einen längeren Zeitraum in ungünstiger Haltung zugrunde. Betroffen sind vor allem Personen, die am Computer oder Fließband arbeiten. In den Niederlanden werden solche Beeinträchtigungen unter dem Begriff CANS (»complaints of the arm, neck and/or shoulder«) als Beschwerden gebündelt (Yassi 1997, 2000). Arbeitsbedingte Risiken für Muskel-Skelett-Erkrankungen können aus einseitiger bzw. zu schwerer Belastung z. B. der Wirbelsäule resultieren (Pope et al. 2002). Zwei Tätigkeitsschwerpunkte sollen exemplarisch Schwächen dieser Arbeitsplätze und ihre möglichen Folgen für das Muskel-Skelett-System aufzeigen. ▬ Arbeitsplätze, an denen Bewegung und Kraft gefordert sind, z. B. in der Pflege oder am Fließband ( Kap. 5.6), können durch falsche Hebe- und Tragetechniken zu einer überanstrengten, verspannten und schmerzenden Muskulatur führen. Diese geht mit Kraft- und Koordinationsverlust einher und kann u. U. Auslöser für beschleunigte Degeneration oder einen Bandscheibenvorfall sein. Hinzu können Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit und Veränderungen der physiologischen Bewegungsmuster kommen. Zudem werden ungünstige Arbeitsbedingungen als weitere Ursache von arbeitsbedingten Erkrankungen verantwortlich gemacht (Buckle u. Devereux 2000). ▬ Arbeitsplätze mit überwiegend sitzender Tätigkeit tragen das Risiko von Bewegungsmangel, von statischer Belastung der Muskulatur oder repetitiven Bewegungsabläufen, verbunden mit falscher und zu langer Sitzhaltung. Verspannungen und Bewegungs-
223 11.1 · Theoretische Grundlagen und Bedeutung der präventiven Ansätze
einschränkungen können die Folge sein. Bei sitzender Tätigkeit kann es neben vermehrter Haltearbeit der Muskulatur durch eine falsche Sitzhaltung zu Rückenschmerzen, Kopfschmerzen sowie Verspannungen im Schulter-Nackenbereich kommen. Durch diese statische Belastung – bei sitzender Tätigkeit besonders im Bereich der Halswirbelsäule – entstehen muskuläre Dysbalancen sowie Überlastungserscheinungen der oberen Extremitäten, die sich durch schmerzende Muskeln und/oder Sehnenansätze bemerkbar machen (»work-related upper extremity and shoulder/neck disorders«; Kilbom et al. 1996).
tung der Handgelenke sollte möglichst gerade sein, ggf. mit Unterstützung einer gepolsterten Auflage vor der Tastatur (aufgrund der Beugung bzw. seitlichen Drehung der Handgelenke wird der sog. Karpaltunnel [Durchgang auf der Unterseite des Handgelenks für Sehnen und Nerven] belastet bzw. überlastet). Die Finger liegen unabgestützt auf der Tastatur und tiefer als die Handgelenke, um eine unphysiologische Gelenkbelastung zu vermeiden. Infobox
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Prävention
Weitere Risikofaktoren im Bereich der Verhältnis- und Verhaltensergonomie beziehen sich u. a. auf die unzureichende Abstimmung von Arbeitsmitteln, wie z. B. falsch eingestellte Büromöbel und fehlenden Arbeitsausgleich (Eisfeller et al. 2004). im Rahmen der Prävention von Muskel» Wesentlich Skelett-Erkrankungen ist das persönliche Verhalten – richtige Sitzhaltung, ergonomisches Heben und Tragen von Lasten, Bewegung – am Arbeitsplatz mit einzubeziehen. Mit Blick auf Änderungen des Verhaltens ist eine individuelle Aufklärung mittels Beratung, Informationsschriften, etc. ebenso wichtig, wie die Aufklärung und Unterstützung der Verantwortlichen . in Betrieb, Ausbildungsstätten und Schule Fritz Bindzius, Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), Sankt Augustin
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Einige Einrichtungen stellen Lernprogramme und Übungen im Internet zur Verfügung. Diese können z. B. als Bildschirmschoner oder regelmäßige Erinnerungen auf dem PC installiert werden und helfen, die Empfehlungen zur Prävention an Büroarbeitsplätzen – dynamisches Sitzen, Sitz-Steh-Dynamik, Entspannungsübungen – in den Arbeitsalltag zu integrieren. Beispielhaft seien zwei Programme genannt: ▬ Die Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG) stellt im Internet Lernprogramme zur Verfügung, die Informationen und Anleitungen zur Verbesserung des Arbeitsplatzes hinsichtlich ergonomischer Gesichtspunkte bereitstellen (http://www.vbg.de/ qualifizierung/medien/lernprogramme.html). ▬ Das Bundesministerium für Gesundheit stellt seit 2005 für Bildschirmarbeit mit Programmen und Grafiken spezielle Lockerungsübungen zur Vermeidung von Rückenschmerzen im Internet zum Herunterladen bereit (www.die-praevention.de).
11.1.5 Arbeitsausgleich
Berufe mit überwiegend sitzender Tätigkeit sowie schweren körperlichen Belastungen erfordern arbeitsausgleichende Interventionen zur Vorbeugung von Beschwerden im Muskel-Skelett-Bereich. Hierzu können z. B. die präventiven Maßnahmen für sitzende Tätigkeiten mit Bildschirmarbeit eingesetzt werden (u. a. Hartmann 2000): ▬ das dynamische Sitzen ist das häufige Wechseln der Sitzposition auf richtig eingestellten Bürostühlen, um eine Entlastung der Wirbelsäule und Entspannung der Muskulatur zu ermöglichen und Ermüdung vorzubeugen, ▬ die Sitz-Steh-Dynamik erzeugt Bewegungsanreize durch einen gesunden, regelmäßigen Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Bewegen am Arbeitsplatz, wie z. B. Telefonieren im Stehen, ▬ Kopf-, Hals-, Arm- und Schulterbereich brauchen aufgrund der Belastung eine Entlastung, z. B. durch ergonomisch angepasste Armlehnen und Nackenstützen am Bürostuhl, zudem sind Ausgleichsbewegungen zur Sitzhaltung und Bewegungspausen bei vermehrter Bildschirmarbeit wünschenswert. Die Hal-
11.1.6 Wirksamkeit ergonomischer
Interventionen Die Wirksamkeit ergonomischer Maßnahmen und Hilfsmittel wurde in zahlreichen Studien überprüft. So zeigen Studien mit sog. Wiedereinsteigern, dass ergonomische Interventionen – in Form der Anpassung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsaufgaben an die Bedürfnisse des Einzelnen – einen positiven Effekt auf das Auftreten von Rückenschmerzen haben (Anema et al. 2004) Bei verhaltenspräventiven Maßnahmen im Betrieb bilden bewegungsorientierte Maßnahmen einen festen Bestandteil, deren Wirkung für den Erhalt und zur Stärkung der Gesundheit bzw. Gesundheitsressourcen hinreichend belegt ist (u. a. Pfeifer 2004; Bös et al. 2002). Die Evidenz von Interventionen und ergonomischen Hilfsmitteln zur Vermeidung der Überlastung der oberen Extremitäten (z. B. Karpaltunnelsyndrom) ist jedoch gering. Untersucht wurde u. a. die Wirksamkeit von Bewegungsübungen, zusätzlichen Arbeitspausen oder speziell
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Kapitel 11 · Ergonomie
geformten Computer-Tastaturen (Verhagen et al. 2006). Ergonomische Hilfsmittel, wie rückenschützende lumbale Stützgürtel, die u. a. bei schweren körperlichen Tätigkeiten zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen zum Einsatz kommen, haben nur begrenzte bzw. keine Wirksamkeit (Lühmann et al. 2006; Tveito et al. 2004; Linton u. van Tulder 2001). Auch individualpräventiven Ansätzen in Form von traditionellen Rückenschulen konnte wissenschaftlich bisher nur ein geringer Nutzen zugeschrieben werden (Lühmann u. Müller 2005; Kap. 5.2). Zur Wirksamkeit ergonomischer Interventionen am Arbeitsplatz bzw. in der Arbeitsumgebung können nach neueren Studien und Reviews keine eindeutigen Aussagen getroffen werden (Boocock et al. 2007; Brewer et al. 2006; Lühmann et al. 2006). Insgesamt liegen für das Gebiet der Ergonomie nur wenig kontrollierte Studien vor, die den Nachweis für entsprechende Interventionen bei verschiedenen Formen von Arbeitsplätzen als effektive Präventionsmaßnahmen erbringen. Gleiches gilt für Interventionen, die eine Rückkehr nach längerer Ausfallzeit in den Beruf ermöglichen. Auch systematische Übersichtsarbeiten zeigen kaum Evidenz für die Wirksamkeit alleiniger ergonomischer Maßnahmen (Tveito et al. 2004; Linton u. van Tulder 2001). Ursache hierfür ist möglicherweise eine unklare Definition des Ausdrucks der arbeitsbezogenen Beeinträchtigungen (Brewer et al. 2006; Anema et al. 2004; Williams et al. 2004). Boocock et al. (2007) stellen nach einer systematischen Literaturrecherche darüber hinaus fest, dass keine ein- oder mehrdimensionale Strategie für ergonomische Interventionen am Arbeitsplatz zu existieren scheint, die sich präventiv als effektiv erwiesen hat. Zukünftige Studien müssen zeigen, inwieweit Ergonomie als Bestandteil vielfältiger Interventionen, auch biopsychosoziale Einflüsse berücksichtigend, wirksam ist.
11.1.7 Alltagsbezogene ergonomische
Prävention Auch im Alltag ist es möglich, mit ergonomischen Hilfsmitteln Arbeitsabläufe zu verbessern und Beeinträchtigungen von Muskel-Skelett-Erkrankungen zu vermeiden bzw. zu verringern. Im Folgenden werden relevante Bereiche des Alltags mit möglichen ergonomischen Lösungsansätzen aufgezeigt. Belege durch wissenschaftlich fundierte Studien sind hierzu jedoch kaum gegeben, da die zur Verfügung stehende Literatur im Vergleich zu ergonomischer Prävention am Arbeitsplatz deutlich geringer ist. Einige ausgewählte Bereiche im häuslichen Umfeld sind nachfolgend dargestellt: Im Haushalt finden sich oft zu niedrige Arbeitsflächen in der Küche, sodass das Arbeiten in unphysiologischer Haltung mit gebeugtem Rücken erfolgt. Lösungen bieten Erhöhungen der Arbeitsflächen, um mit rechtwinklig angewinkelten Unterarmen bequem zu arbeiten. So werden
z. B. seitens verschiedener Hersteller von alltagsrelevanten Produkten wie Küchenmöbeln ergonomische Aspekte in der Produktentwicklung berücksichtigt. Alternativ kann ein dicker Holzblock aufgelegt werden, um das Höhendefizit auszugleichen. Viele Arbeiten lassen sich auch im Sitzen am Küchentisch ausführen. Auch Reinigungsarbeiten im Haushalt können rückengerecht erledigt werden, wie z. B. Staubsaugen oder Wischen. Beim Auto ist häufig der Autositz falsch eingestellt. Das Fußpedal sollte ohne komplettes Ausstrecken des Beines erreichbar sein. Die Sitzhöhe ist so einzustellen, dass mit locker angewinkelten Armen das Steuer erreicht werden kann. Die Kopfstützen sollten ihre maximale Höhe erreicht haben, um den Kopf (nicht den Nacken!) im Fall eines Aufpralls zu schützen. In der Gartenarbeit erleichtern Kniehocker oder niedrige Hocker zum Sitzen die Arbeit und bieten Entlastung für Rücken und Gelenke. Für die Säuglingspflege ist auf die passende Höhe des Wickeltisches zu achten. Hier gilt, ähnlich den Arbeitsflächen in der Küche, dass mit rechtwinklig angewinkelten Unterarmen bequem gearbeitet werden kann. In einer durchgeführten Studie gaben Eltern an, dass sie sich durch die hohen Anforderungen in der Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern und unzureichenden Arbeitsmitteln erhöhten Risiken für Beeinträchtigungen des Muskel-Skelett-Systems ausgesetzt sahen, z. B. für Rückenschmerzen (Sanders u. Morse 2003). Schreibtischsysteme der Schulkinder zu Hause sollten das körperliche Wachstum berücksichtigen und höhenverstellbar sein, sodass sie »mitwachsen« können. Matratzen werden oft zu hart bzw. zu weich gewählt. Ideal ist ein komplettes System für das Bett, wobei neben der Matratze der Lattenrost und das Kopfkissen wesentliche Elemente darstellen, um die Trag- und Stützwirkung für den Körper optimal leisten zu können und dadurch Verspannungen zu vermeiden (Dubbs 2003). Schuhe mit zu harten Sohlen bzw. zu hohen Absätzen erfüllen die Stoßdämpferfunktion nicht und geben Erschütterungen beim Gehen ungebremst an die Wirbelsäule weiter. Daher sollte auf rückenfreundliche Schuhe mit folgenden Merkmalen geachtet werden: Die Passform orientiert sich an der individuellen Fußform, bietet Halt und reduziert Unfälle durch Ausrutschen, Stolpern und Umknicken. Die Schuhe sollten möglichst keine Absätze besitzen, da durch die Erhöhung im Fersenbereich das Becken nach vorne gekippt wird und die Wirbelsäule in einer dauerhaften Lordose (Hohlkreuz) ist. Gedämpfte bzw. gefederte Sohlen oder Einlagen fangen Druck- und Stoßbelastungen ab und entlasten die Wirbelsäule. Zusätzlich ist die Verwendung natürlicher Materialien, ergänzt durch ein auswechselbares, waschbares Fußbett wünschenswert, um Atmungsaktivität zu gewährleisten. Für pflegende Angehörige bettlägeriger Personen ist es wichtig, auf ein höhenverstellbares Bett der zu pflegenden
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225 11.1 · Theoretische Grundlagen und Bedeutung der präventiven Ansätze
Person zu achten, ggf. ist über die Anschaffung eines Lifters nachzudenken, um Transfers auch ohne viel Gewichtsbelastung durchführen zu können. Prävention sollte vorrangig bei der rückengerech» Die ten Gestaltung des alltäglichen Umfeldes, Betten, Heimmöblierung, Schulmöblierung, Büro- und Arbeitsplatzgestaltung ansetzen. Detlef Detjen, Aktion gesunder Rücken e. V., Selsingen
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Infobox
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Die Arbeitsgemeinschaft Gesunder Rücken e. V. – AGR (www.agr-ev.de) wird von verschiedenen Verbänden unterstützt (u. a. dem Berufsverband der Orthopäden, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltung und Bewegungsförderung, dem Bundesverband der Rückenschulen, der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung, dem Deutschen Turnerbund, dem Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie). Sie hat u. a. einen Einkaufsleidfaden mit eigenem Gütesiegel für rückengerechte Produkte erstellt, die beim Kauf ergonomischer und rückengerechter Produkte unterstützen soll. Die Produktbewertung findet anhand von wissenschaftlichen Prüfkriterien statt, die durch Mediziner und Wissenschaftlicher vergeben werden.
11.1.8 Fazit
Die ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes hat u. a. zum Ziel, arbeitsplatzbezogene Muskel-Skelett-Erkrankungen gering zu halten bzw. zu vermeiden. Daher sollten sich präventive Maßnahmen an den gegebenen Bedingungen des Arbeitsplatzes und -umfeldes orientieren, um dort anzusetzen und wenn möglich Verknüpfungen mit bereits existierenden Maßnahmen herzustellen. Durch die Berücksichtigung z. B. biopsychosozialer Aspekte wird eine multimodale Anwendung ergonomischer Konzepte möglich. Insgesamt liegen jedoch wenige aussagekräftige Untersuchungen auf dem Gebiet ergonomischer Interventionen am Arbeitsplatz vor. Daher sollte die ausführlichere Untersuchung solcher Aspekte zukünftig verstärkt in den Fokus der Wissenschaft gerückt werden, um den Stellenwert der Ergonomie für den Arbeitsalltag im Kontext weiterer organisatorischer und psychosozialer Interventionen zu ermitteln. Die Relevanz ergonomischer Arbeitsmittel und -anpassungen wird bereits durch zahlreiche Normen, die für verschiedene Arbeitsplätze existieren, verdeutlicht. Der Gebrauch von Normen geschieht unter präventiven Aspekten zur Vermeidung körperlicher Beeinträchtigungen. Die in diesem Kapitel angesprochenen Prinzipien der Ergonomie und ihre Anwendung in der Arbeitswelt der Erwachsenen gelten ebenso für Kinder, u. a. in der Schule.
Die Erforschung und Ermittlung der Wechselwirkungen » zwischen Muskel-Skelett-Beschwerden und z. B. psychischer Belastungen am Arbeitsplatz sind eine wesentliche Größe bei der betrieblichen Prävention. Fritz Bindzius, Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), Sankt Augustin
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Kapitel 11 · Ergonomie
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herausgedrängt. Verfügten im Rahmen der »Straßenspielkultur« der fünfziger und sechziger Jahre die Kinder noch über genügend Bewegungsräume und -anlässe, so wirken sich die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte eher restriktiv auf das Bewegungsbedürfnis der Heranwachsenden aus. Diese Restriktion wirkt sich auch ungünstig auf ein gesundes Aufwachsen aus. Zu einem negativen Einfluss auf ein gesundes Bewegungsverhalten trägt auch die Lebenswelt Schule bei. Denn Bewegungsmangel, verbunden mit langen Sitzzeiten auf zumeist nicht körpergrößenangepassten Möbeln sowie einem sich daraus ableitenden unphysiologischen Sitzverhalten, ist im Setting Schule eine wesentliche Ursache für immer frühzeitiger auftretende Entwicklungsstörungen. Dauersitzen trifft Kinder zu einem Zeitpunkt, in dem hoch sensible wachstumsbedingte Veränderungen ihre Reifung und Entwicklung prägen. Insbesondere die Schule kristallisiert sich für Heranwachsende als ein besonders gesundheitsgefährdendes soziales Umfeld heraus: Mit Eintritt in die Schule – der »Einstuhlung« – werden Grundschüler, von Schuljahr zu Schuljahr zunehmend, stundenlangen Sitzbelastungen an ungünstigen ergonomischen Arbeitsplatzverhältnissen ausgesetzt. Erschwerend kommt eine tradierte »Sitzerziehung« hinzu. Den Kindern das ruhige und disziplinierte Sitzen zu vermitteln, scheint in den westlichen Ländern ein wichtiges Gebot eines »heimlichen Lehrplans« zu sein (Zimmer 1995). Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, ausgehend von einer kurzen Vorstellung der Bedeutung eines gesunden Bewegungs- und Sitzverhaltens und einer Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation in der Schule, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Institution positiv auf die Gesundheit einwirken und das Bewegungs- und Sitzverhalten von Kindern positiv beeinflussen kann. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf ein geeignetes Schulmobiliar gelegt. Mit ergonomischen Möbeln können Schulen bereits einen wichtigen Beitrag zu einer gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung leisten.
11.2.1 11.2
Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung
Dieter Breithecker Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung und Verbreitung der Informations- und Computertechnologie sowie der wachsenden psychischen Beanspruchung hat sich das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen zunehmend verändert. Immer mehr wird die körperliche Bewegung zugunsten sitzender Tätigkeiten aus dem Alltag
Bewegung – ein Schlüssel für ein gesundes Aufwachsen und erfolgreiches Lernen
Gerade die Jahre der frühen Kindheit bis hin zur Pubertät sind entscheidende Jahre für die Entwicklung und Vervollkommnung vestibulär-propriozeptiver Funktionen. Ihre vielseitige Stimulation – auch während des Sitzens – setzen spezielle Botenstoffe (Hormone) frei, die die Verschaltung neuronaler Strukturen gewährleisten und den Nervenstoffwechsel fördern (Hollmann et al. 2005). Dieser stimulative Faktor sorgt für einen erhöhten Funktionszustand des Gehirns. Damit können geistige Potenziale besser ausgeschöpft und erweitert werden. Einfach gesagt: »Bewegung kommt nicht nur vom Kopf, Bewegung nützt auch dem Kopf.«
227 11.2 · Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung
Die für die aufrechte Haltung und Bewegung des Menschen notwendige Körperwahrnehmung hat sich im Zuge der Evolution – der Aufrichtung des Menschen – ebenso verändert und ökonomisiert, wie die phylogenetischen Veränderungen im Bereich des Muskel-SkelettSystems. Das bedeutet aber auch, dass die propriozeptive Wahrnehmung wie auch das Muskel- und Skelettsystem ausreichender körperlich-motorischer Entwicklungsreize bedürfen, um sich gesund zu entwickeln. Diese Bewegungsreize werden nicht durch auf körperliche Statik ausgerichteten Arbeitsplatzverhältnissen sowie ein passiv-rezeptives Unterrichtsverhalten gegeben. Beide genannten Faktoren führen unweigerlich in eine »Sitzträgheitsfalle« (⊡ Abb. 11.3), die den Reifungs- und Entwicklungsprozess eines »heranwachsenden« jungen Menschen eher behindern als fördern. Neben mangelnden Entwicklungsreizen für ein harmonisches Muskelund Skelettwachstum und die Gefahr möglicher Haltungsschäden sind es vor allem die Körpernahsinne, die vestibulären und propriozeptiven Funktionen, die aufgrund mangelnder Bewegungsreize verspätet oder unvollkommen heranreifen. Im Körper – insbesondere im Innenohr, in den Gelenken, Muskeln und Sehnen – ist ein umfangreiches Meldesystem vertreten, das jede Haltung und Bewegung registriert und dem Gehirn meldet, damit dieses gegebenenfalls Korrekturen durchführen kann. Der Vestibularapparat und die Propriozeption ermöglichen, dass sich der Mensch u. a. aufrecht halten und bewegen
⊡ Abb. 11.3. Der Schüler in der Trägheitsfalle
kann. Je weniger vestibuläre und propriozeptive Qualitäten eine Person zur Verfügung hat, desto unzureichender sind die Haltungs- und Bewegungsleistungen. »Das menschliche Gehirn denkt nur in Bewegung, leitet aber auch jede Bewegung und führt sie bis in die kleinsten Einzelheiten aus« (u. a. Reichel u. Schuk 1992, S. 206).
11.2.2 Entstehung von Rückenschmerzen
in der Schule Häufig treffen mehrere ungünstige Faktoren zusammen, wenn Rücken- oder Kopfschmerzen entstehen. In der Literatur werden z. B. mehrfach genannt: ▬ Alter, Gewicht, Körpergröße, ▬ zu wenig Bewegung, schwache Muskulatur, ▬ psychosoziale Belastungen, ▬ inadäquate Schulmöbel, ▬ übergewichtiger Schulranzen. Auf die beiden letztgenannten Punkte – Schulmöbel und Schultasche – soll im Folgenden näher eingegangen werden, da diese vorrangig von den Schulen beeinflusst werden können.
11.2.3 Arbeitsplatz Schule – Mobiliar häufig
mangelhaft Zwei wesentliche Konstellationen wirken heute belastend auf den Rücken des dauersitzenden Schülers: zum einen unvollständige ergonomische Richtlinien und zum anderen ein begrenztes finanzielles Budget der Einkäufer von Schulmobiliar. Die ergonomischen Richtlinien für Sitzmöbel orientieren sich ausschließlich an den anthropometrischen Daten, die sich bisher in der Internationalen Standardnorm (ISO 5970) und in der Europäischen Norm, inklusive der sicherheitstechnischen Standards, widerspiegeln. Neben diesen grundsätzlichen Ansprüchen sollten aber auch anthropologische Gesetzmäßigkeiten bei den Richtlinien ergonomischer Schulmöbelanforderungen Berücksichtigung finden. Jeder Mensch hat einen anthropologisch fundierten Bedarf nach Bewegung. Für den heranwachsenden Organismus stellt Bewegung sogar ein Grundbedürfnis dar. Ohne Bewegung, d. h. ohne regelmäßige, auch im Sitzen zum Tragen kommende rhythmische Be- und Entlastungswechsel, wird nicht nur der Rücken, sondern die gesamte geistige und körperliche Entwicklung negativ beeinflusst. Fakt ist, dass Schüler heute durchschnittlich zehn Stunden am Tag sitzen. Für die täglich notwendige Bewegungszeit bleibt gerade durchschnittlich eine Stunde (Bös u. Schott 1999). Das knappe Budget diktiert den Handlungsspielraum der meist nur unzureichend informierten Einkäufer von Schulmobiliar. In der Regel darf ein Schülerarbeitsplatz
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Kapitel 11 · Ergonomie
bestehend aus Tisch und Stuhl nicht mehr als € 100,– kosten. Mit dem Ergebnis, dass meist die Anschaffung qualitativ minderwertiger »krank machender Schulmöbel« erfolgt. Dies führt dazu, dass nicht einmal 20% der Grundschulkinder an körpergrößenangepassten Schulmöbeln sitzen (Jerosch u. Jansen 1997; BAG 2006). Eine einfache Rechnung zeigt, dass diese Sparmaßnahmen angesichts der hohen Leistungskosten für Haltungsschäden und andere gesundheitliche Folgekosten zu kurzfristig gedacht sind. Ein ergonomischer Schülerarbeitsplatz – als stufenlos höhenverstellbarer Einzelarbeitsplatz – kostet etwa € 380,–. Das würde bei einer angenommenen Nutzung von mindestens 15 Jahren pro Schülerarbeitsplatz und Jahr € 25,33 betragen. Auf den Monat bezogen entspricht dies einer Ausgabe von ca. € 2,11. Erschwerend kommt hinzu, dass der Einsatz von Computern an den Schulen an Bedeutung gewinnt. Auch hierfür sind die erforderlichen und verstellbaren ergonomischen Möbel häufig nicht vorhanden (Benett 2002). Infobox
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zu sein (Roth-Isigkeit et al. 2005). Rückenschmerzen beeinträchtigen somit den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Sie stehen im Zusammenhang mit einer verringerten Lernmotivation und reduziertem Lernerfolg bei betroffenen Kindern und Jugendlichen. Schmerz ist aber nicht immer mit einer Schädigung des Rückens gleichzusetzen, jedoch kann es bei Kindern und Heranwachsenden zu Vorschädigungen kommen. Bereits Berquet (1988) wies darauf hin, dass Haltungsschäden eine mögliche Folge des unzureichend angepassten Schulmobiliars sind, da sich ungünstige Sitzbedingungen nachteilig auf den wachsenden Organismus auswirken. Auch Marshall et al. (1995), Troussier et al. (1999), Knight und Noyes (1999) sowie Breithecker (2005b) sehen in unangepasstem Schulmobiliar eine der wesentlichen Ursachen von Haltungsschäden oder zumindest Mitauslöser. Schülert et al. (1997) werden noch konkreter, indem sie die Zahl der Schüler mit Haltungsschäden oder Wirbelsäulenveränderungen, die auf unangepasstes Schulmobiliar zurückzuführen sind, mit 10% quantifizieren.
Die Bedeutung von ergonomischen Möbeln aus Sicht der Wissenschaft
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Zwar gibt es keine wissenschaftliche Studie, die einen gesicherten Beweis dafür liefert, dass durch herkömmliche Schulmöbel Wirbelsäulenschädigungen hervorgerufen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass durch unangepasste Schulmöbel sowie langes Sitzen nicht auch Beschwerden entstehen können. Der gegenwärtige Stand der Forschung verweist darauf, dass bei Kindern und Jugendlichen ein komplexes Zusammenspiel von körperlichen, psychologischen und sozialen Faktoren das Rückenschmerzgeschehen bestimmt (Roth-Isigkeit et al. 2005). Sitzen, vor allem das Dauersitzen, scheint dabei das Risiko für Rückenschmerzen zu erhöhen. In einer Studie von Salminen et al. (1992) an 1503 Schülern im Alter von 14 Jahren gaben 38,9% der Betroffenen an, über Rückenschmerzen nach einer Sitzdauer von mehr als 30 Minuten in der Schule und 28% beim Sitzen von mehr als 30 Minuten zu Hause zu leiden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Harreby et al. (1999), Troussier et al. (1994), Tesniere (1996), Grimmer und Willimas (2000), Murphy und Buckle (2002) sowie Bös et al. (2002), die Rückenschmerzangaben auch schon im Grundschulalter zwischen 23% und 48% angeben. In einer Studie mit 749 Kindern und Jugendlichen in Ostholsstein berichteten 83% der Kinder und Jugendlichen von diversen Schmerzsymptomen wie Migräne, Bauch- und Rückenschmerzen. Dabei scheinen insbesondere wiederkehrende und chronische Schmerzen ein häufiger Grund von Schulfehlzeiten ▼
11.2.4 Schultasche – übergewichtig und
ungeeignet Ein weiterer wichtiger Faktor ist zudem der Schulranzen. Er wird bei »Übergewicht« sowie falscher Tragweise sehr schnell zur Rückenlast. Von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. (BAG 2006) durchgeführte »Schulranzen-TÜVs« haben aufgedeckt, dass nur 35% von 2782 untersuchten Kindern ein tolerables Schulranzengewicht auf dem Rücken getragen haben. Als tolerabel wird international ein Zusatzgewicht von 12 bis maximal 15% des Körpergewichts angesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Schulranzen nicht richtig getragen und dadurch die Last noch einmal potenziert wird. Voraussetzung für ein richtiges Tragen ist, dass der Schulranzen die in der nachstehenden Infobox genannten Anforderungen erfüllt. Problematisch erweisen sich zudem Modetrends wie ein Rucksack, der möglichst tief über dem Gesäß hängt. Infobox
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Worauf es im Einzelnen bei einem Schulranzen ankommt
▬ Ein Schulranzen muss der DIN 58124 entsprechen. ▬ Das Schulranzenleergewicht soll maximal 1,4 kg betragen.
▬ Der Schulranzen sollte ein ergonomisch geformtes ▼
Rückenteil besitzen, das sich der natürlichen Form der Wirbelsäule anpasst.
229 11.2 · Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung
▬ Polster links und rechts gewährleisten eine mittige Platzierung des Ranzens auf dem Rücken.
▬ Der Schulranzen liegt im oberen Bereich am Rücken an und schließt mit der Oberkante im Nacken ab. ▬ Das Rückenteil sollte eine hohe Festigkeit haben, damit der Inhalt nicht auf den Rücken drücken kann. ▬ Die Tragegurte sollten gut gepolstert und ca. 4 cm breit sein. ▬ Der Schulranzen sollte an allen Seiten mit großen Reflektoren ausgestattet sein.
tige Interpretation wäre also, dem Kinderkörper eine Entlastung zu verschaffen: durch ergonomisch angepasstes Mobiliar und Bewegung. Der »bewegungsergonomisch« gestaltetet Schülerarbeitsplatz sollte im Interesse einer gesunden und harmonischen Entwicklung von Körper, Geist und Seele folgende Kriterien erfüllen: ▬ Stuhl und Tisch müssen der individuellen Körpergröße angepasst werden können. ▬ Der Stuhl muss das Bewegungsbedürfnis des Schülers aufnehmen und sich unterschiedlichen Tätigkeiten anpassen. ▬ Die Schulmöbel sollten eine Anwendung dynamischer Unterrichtsmethoden und Organisationsformen erleichtern.
11.2.5 Konsequenzen für die Schulpraxis
Die Erkenntnisse zu einer Förderung des Bewegungsverhaltens in der Schule und das Fehlen eines angepassten Mobiliars sollten dazu veranlassen, das Sitzverhalten der Kinder anders zu interpretieren. Ein Beispiel dafür ist der ständig auf dem Stuhl unruhig hin- und herrutschende oder sogar gefährlich schaukelnde (»kippelnde«) Schüler. »Die können nicht einmal still sitzen ...«, so oder ähnlich klagen viele Erwachsene ob der teils akrobatisch anmutenden Sitzvariationen, zu denen auch das gefürchtete »Kippeln« gehört. Nicht allzu selten werden diese Schüler vorschnell als »hyperaktiv« und unkonzentriert etikettiert. Dabei ist diese – in den meisten Fällen – gesunde Bewegungsunruhe ein absolutes Muss, damit Körper, Geist und Seele sich harmonisch entwickeln können. Insbesondere für Kinder in der Grundschule ist hinsichtlich ihres Rhythmisierungsbedürfnisses ein solches Verhalten während längerer Sitzzeiten unumgänglich. Die folgerich-
Die einzelnen Punkte werden nachstehend detailliert betrachtet.
11.2.6 Richtiges Sitzen ist »Einstellungssache« Die Sitzgröße muss stimmen
Bei höhenverstellbaren Schulmöbeln erfolgt die richtige Anpassung in zwei Schritten (Breithecker 2005a; ⊡ Abb. 11.4). Zuerst wird der Stuhl angepasst. Die Stuhlhöhe wird so gewählt, dass die Sitzvorderkante etwa der Höhe des unteren Kniescheibenpunktes entspricht. Der Winkel zwischen Oberschenkel und Rumpf ist dabei leicht geöffnet und größer als 90 Grad. Das Hüftgelenk befindet sich oberhalb des Kniegelenks. Beide Füße haben Bodenkontakt. Bei voller Nutzung der Sitztiefe darf die Vorderkante den Unterschenkel nicht drücken. Die Lehne soll in Zuhörhaltung den Rücken unterhalb der Schulterblätter abstützen.
⊡ Abb. 11.4. Anpassung von Stuhl und Tisch
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230
Kapitel 11 · Ergonomie
Erst wenn der Stuhl angepasst wurde, erfolgt die Einstellung der Tischhöhe: In seitlicher Sitzhaltung zum Tisch hängen die Arme entspannt neben dem Körper. Die Arme werden nun 90 Grad angewinkelt. Die Ellenbogenspitzen befinden sich zwei bis drei Zentimeter unterhalb der Tischplatte/ Tischvorderkante. Eine physiologische Arbeitshaltung wird optimiert, wenn sie durch einen Tisch mit neigungsverstellbarer Arbeitsfläche von mindestens 16 Grad ergänzt wird. Die Schreib- und Lesefläche kommt somit dem Blick entgegen, sodass Rumpf und Kopf aufrecht gehalten werden können. Bei nicht höhenverstellbaren Schulmöbeln ist zumindest darauf zu achten, dass die vorhandenen Größen den Kindern so zugeordnet werden, dass sie der oben beschriebenen Forderung möglichst nahe kommen. Diese Anpassung sollte zweimal im Jahr vorgenommen werden. Das Bewegungsbedürfnis bestimmt das Sitzverhalten
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Schulmöbel müssen sich dem Bewegungsbedürfnis des Nutzers anpassen und nicht umgekehrt. Erwachsene und insbesondere Kinder sollten nicht über einen längeren Zeitraum in derselben Körperhaltung verharren. Der gleichmäßige und unbewusste Belastungswechsel zwischen Spielbein und Standbein bei einem frei stehenden Menschen macht dies deutlich. Auch beim Sitzen sollte dieser rhythmische Be- und Entlastungswechsel zum Tragen kommen. Solange die muskuläre Balance der Nacken-, Schulter- und Rumpfmuskulatur im Sitzen dynamisch gehalten wird, ist ein aktives und rückenfreundliches Sitzen gewährleistet. Erst die Balance des Beckens ermöglicht die Balance des darauf aufbauenden Halte- und Bewegungssystems. Das bedeutet, dass eine mobile Konstruktion der Sitzfläche (vorwärtsrückwärts um ca. 7 Grad; seitwärts um ca. 3 Grad) die unbewussten Lageveränderungen des Beckens – und damit ein dynamisches Sitzverhalten – aufnehmen kann. Eine Drehstuhltechnik sollte auch das wichtige Hin- und Herdrehen ermöglichen. Die dadurch ausgelösten dosierten Seitwärtsrotationen des Beckens sorgen für physiologische Reaktionen an den posturalen Strukturen (⊡ Abb. 11.5). Der Sitz folgt somit jeder Bewegung des Körpers, gleichzeitig animiert er diesen, sich zu verändern. Damit werden die natürlichen Bewegungsimpulse der Schüler nicht mehr gebremst, sondern gefördert – kontinuierlich und wirkungsvoll. Dabei werden insbesondere ▬ die Wirbelsäulenschwingungen regelmäßig verändert, ▬ die Bandscheiben permanent mit Nährstoffen versorgt, ▬ die komplexen Rückenmuskeln stimuliert, ▬ die über 100 Gelenke an der Wirbelsäule in Bewegung gehalten, ▬ die Blutzirkulation und damit Sauerstoffversorgung optimiert sowie ▬ die Hirnstoffwechselprozesse und damit Aufmerksamkeit und Konzentration aufrechterhalten.
Eine solche dynamische Sitzlösung unterstützt darüber hinaus eine wohltuende, rückenentlastende Ruhehaltung und eine physiologische Arbeitshaltung. Da Sitzen Haltearbeit erfordert, sucht der dann ermüdete (Ober-)Körper, durch Gewichtsverlagerung nach hinten, immer wieder nach einer temporären Entlastungshaltung (Ruhehaltung). Entspanntes Ablegen des Rumpfes wird aber nur an einer sich schräg nach hinten mitbewegenden Rückenlehne ermöglicht. Die dadurch eingenommene Haltungsentlastung lässt Bandscheiben, Muskeln und Bänder sich erholen. Eine Arbeitshaltung erfordert meistens eine Orientierung zum Tisch. Die Vorwärtsbewegung des Oberkörpers mit einhergehender Gewichtsverlagerung nach vorn muss durch eine sich vorwärts neigende Sitzfläche begleitet werden. Dadurch wird das Becken hinten etwas angehoben und leicht nach vorn gekippt. In Verbindung mit der um 16 Grad neigungsverstellbaren Tischplatte entsteht eine physiologische Arbeitshaltung. Darüber hinaus sollte so häufig wie möglich zu vielfältigen Haltungswechseln angeregt werden. Der beschriebene Wechsel vom Sitzen zum Stehen (s. Stehpult) oder aber auch Anregungen zum dynamischen Sitzen auf traditionellen Schulstühlen sind wichtige verhaltenspräventive Maßnahmen. Hierzu sind Beispiele der folgenden Infobox zu entnehmen.
⊡ Abb. 11.5. Dynamisches Sitzen
231 11.2 · Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung
Infobox
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Praktische Beispiele zum dynamischen Sitzen
▬ Im Fersensitz auf dem Stuhl knien ▬ Schneidersitz auf dem Stuhl ▬ Reitsitz auf umgedrehtem Stuhl mit angelehnter Brust bei gerader Tischplatte
▬ Seitlich auf dem Stuhl sitzen und sich an der Lehne anlehnen
▬ Hintere Sitzhaltung, einen Fuß hochziehen und auf der Sitzfläche abstellen
▬ Vordere Sitzhaltung und den Körper strecken bzw. »Langmachen«
Um Kosten hinsichtlich der Anschaffung ergonomischer Schulmöbel zu umgehen werden immer mehr so genannte »Sitzhilfen« empfohlen. Einige der bekanntesten Sitzhilfen werden in ⊡ Tabelle 11.3 kritisch dargestellt. Die Schulmöbel sollten dynamische Unterrichtsmethoden und Organisationsformen erleichtern
Die für Gesundheit, Wohlbefinden und Lernen so wichtigen rhythmischen Be- und Entlastungswechsel basieren nicht allein auf diesen ergodynamischen Forderungen. Vielmehr kommt es auch darauf an, durch möglichst dynamische Unterrichtsmethoden sowie Organisationsformen ein bewegtes Körper- und Arbeitsverhalten über den Schulalltag hinweg zu ermöglichen.
11.2.7 Schulstunden rhythmisieren
Unter Rhythmisierung wird ein regelmäßiges, dem psychomotorischen Bedürfnis des Individuums gerecht werdender Wechsel von Statik und Dynamik, von Spannung und Entspannung, von Belastung und Erholung verstanden, der zu einem ausgewogenen körperlich-geistig-seelischen Wohlbefinden beiträgt. Gerade der sich in seiner hochsensiblen Ausdifferenzierungsphase befindliche Organismus von Heranwachsenden braucht auch während des Sitzens viel körperliche Aktivität, damit die heranreifenden Organe besser durchblutet und mit Sauerstoff, Nährstoffen und Botenstoffen versorgt werden können. Nicht nur die kindliche Muskulatur ist für Dauerbelastungen ungeeignet, sondern auch der kindliche Geist. Das persönliche Rhythmusbedürfnis eines Kindes schlägt nach einer anderen Uhr als das der Erwachsenen. Heranwachsende sind kaum in der Lage, über einen längeren Zeitraum still zu sitzen und sich zu konzentrieren. So können folgende Richtlinien für ein konzentriertes Folgen des Unterrichts angegeben werden: ▬ bis zu 10 Minuten bei 5- bis 9-Jährigen, ▬ bis zu 15 Minuten bei 10- bis 12-Jährigen, ▬ bis zu 25 Minuten bei 12- bis 18-Jährigen. Je nach Unterrichtsmethode – aktiv, spannend, organisatorisch variierend oder passiv teilnehmend, sinnlich reduziert – und der damit verbundenen Aktiviertheit (Imhof 1995) können sich diese Zeiten nach oben oder unten verschieben. Ein angemessenes Niveau psychomen-
⊡ Tabelle 11.3. Vorstellung und Bewertung von Sitzhilfen Sitzhilfe
Bewertung
Gymnastikbälle/ Sitzbälle
Gymnastikbälle (Sitzbälle) sollten nicht als Stuhlersatz betrachtet werden. Ihren Ursprung haben sie in der gymnastischen und physiotherapeutischen Anwendung. Zwar fördern Gymnastikbälle – die es in unterschiedlichen Größen gibt – aufgrund ihrer labilen Auflagefläche das aktiv-dynamische Sitzen, sie erfordern aber auch viel Muskel- und Koordinationsleistung, sodass schnell eine Ermüdung eintritt und der Körper in sich zusammensackt. Es fehlt hier eine entlastende Rückenlehne. Darüber hinaus ist die Ballgröße nur grob an die Körpergröße der Schüler anpassbar und eine harmonisch aufeinander abgestimmte Sitz- und Tischhöhenanpassung ist in der Praxis selten möglich. Vom permanenten Einsatz der Gymnastikbälle ist daher abzuraten. Der temporäre Einsatz von ca. 5–10 Minuten, vor allem im Sitzkreis, kann als sinnvoll betrachtet werden.
Keilkissen/ Sitzkeil
Der Sitzkeil ist eine keilförmige gestaltete, meist schaumstoffartige Sitzauflage. Er unterstützt die aktive Arbeitshaltung, indem er die Beckenkippung und somit das »aufrechte Sitzen« und Arbeiten am Tisch unterstützt. Allerdings sollte man nicht über längere Zeit mit gekippten Becken sitzen: Beim rhythmischen Sitzhaltungswechsel in eine entlastende Ruhehaltung stört die einseitige Keilausrichtung, sodass nun der Sitzkeil entfernt werden müsste. Dies wird allerdings in der Alltagspraxis bei den vielen unbewussten Sitzhaltungswechseln nicht praktiziert. Deshalb nur bedingt zu empfehlen.
Ballkissen
Das Ballkissen ist eine mit Luft gefüllte, rundflächige Sitzauflage (ca. 30 cm Durchmesser, etwa 5 cm Höhe), die in ihrer Instabilität dem Sitzball ähnelt und das dynamische Sitzen fördern soll (allerdings kein Wippeffekt). Aufgrund der hohen Labilität des Ballkissens und der Tatsache, dass das Becken der Kinder nach allen Richtungen ungebremst wegkippen kann, ist es im Unterrichtsalltag nicht zu empfehlen. Durch die Auflage des Ballkissens auf der Sitzfläche kommt es darüber hinaus zu einer überhöhten Sitzposition, die einerseits den Sitzabstand zum Boden, andererseits die Position des Rückens zur Sitzlehne ungünstig verändert. Der Einsatz des Ballkissens kann im Zuge gezielter haltungsfördernder Bewegungspausen jedoch durchaus Sinn machen.
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Kapitel 11 · Ergonomie
taler Aktiviertheit ist Voraussetzung für Aufmerksamkeit und konzentriertes Lernen. Uniforme Anforderungen, wie sie im statischen passiven Frontalunterricht häufig zum Tragen kommen, lösen einen Zustand herabgesetzter Aktiviertheit aus. Dies hat zur Folge, dass das Kind seine psychophysische Haltung aufgibt: Es sinkt in sich zusammen, verliert die Aufmerksamkeit und die Gedanken vagabundieren. Eine alternative Verhaltensweise dazu ist: Der Organismus sucht nach zusätzlicher Stimulation wie kompensatorischer körperlicher Aktivität. Motorische Aktivitäten wie das »Kippeln« oder unruhiges Hin- und Herrutschen auf dem Stuhl stellen dabei den dynamischen Anteil der Rhythmisierung dar. Sie sind zum einen Ausgleich, aber auch Vorbereitung für eine vorangegangene bzw. folgende körperliche sowie psychomentale Anspannungsphase. Und genau hierin begründet sich die Forderung nach einer schulischen Arbeitsplatzgestaltung – einer »Bewegungsergonomie« –, deren Verhältnisse den individuellen Bedürfnissen nach altersangemessenen physiologischen Verhaltensweisen Rechnung tragen.
11.2.8 Unterricht abwechslungsreich gestalten
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Gerade für viele Lehrkräfte in der Grundschule sind Wechsel von Unterrichtsmethoden und der Einsatz von Spiel- und Bewegungsaufgaben durchaus ein vertrautes Handeln. Dies trägt vor allem dazu bei, die Lernfreude der Kinder in den notwendigen Übungsphasen zu steigern, das Üben abwechslungsreicher und damit interessanter zu gestalten (Müller u. Petzhold 2002). Grundsätzlich sind verschiedene Organisationsformen wie Freiarbeit, Wochenplanarbeit und Lernstationen geeignet. Hier beinhaltet bereits die Unterrichtsorganisation, dass die Kinder sich im Klassenraum z. B. von Station zu Station bewegen und sich dadurch ihre Materialien selbst besorgen können. Ohne großen Zeitaufwand und gemeinsam mit den Kindern können Räume zur Bewegung eröffnet werden. Erforderlich für diese bewegenden Maßnahmen ist, dass Schultische, Sideboards, Stehpulte, Computerarbeitsplätze aber auch die Schulstühle mit Rollen versehen sind. Eine wichtige Bereicherung für einen Unterricht mit dynamischen Haltungswechseln – insbesondere für die Schulen, bei denen aus diversen Gründen noch keine Anschaffung neuer Schulmöbel ansteht – ist ein höhenverstellbares Stehpult (⊡ Abb. 11.6), beispielsweise mit einer runden großen Tischplatte von ca. 90 cm Durchmesser. Das Stehpult steht den Schülern insbesondere während den Gruppenarbeiten und Freiarbeitsphasen zur Verfügung. Darüber hinaus kann es auch als zentrale Informationsstation genutzt werden, an der die Schüler die für sie bereitgestellten Arbeitsblätter oder sonstige Unterlagen abholen können. Ein Stehpult kann auch mit etwas handwerklichem Geschick und mit Hilfe vorgegebener Bauanleitungen (Pütz et al. 2003, S. 43) kostengünstig selbst hergestellt
⊡ Abb. 11.6. Gruppenarbeit am Stehpult
werden. Darüber hinaus gibt es viele Klassenzimmer, an denen z. B. an einer breiten Fensterbank im Stehen gearbeitet werden kann. Außerdem bieten sich auch Sideboards zum temporären Stehen an.
11.2.9 Bewegungsanreize schaffen
Als weitere erforderliche Anregung für die Schule ergibt sich, dass neben dem Sportunterricht und den dynamischen verhältnis- und verhaltenspräventiven Angeboten im Klassenzimmer auch Flure und Schulhöfe so genutzt werden müssen, dass sie den Wunsch nach nichtnormierten Bewegungsangeboten Rechnung tragen (⊡ Abb. 11.7).
11.2.10 Ganzheitlicher Ansatz zur Förderung
eines gesunden Lebensstils – die Ergebnisse einer Studie Nicht das Sitzen an sich, sondern die Dauer des Sitzens stellt eine Belastung dar. Hätten Kinder genügend Bewegung und kämen nur kurzzeitig für etwa 10–15 Minuten zum Sitzen, könnte man sie auch auf Apfelsinenkisten oder ähnlichem Behelfsmaterial sitzen lassen. Da dies aber
233 11.2 · Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung
⊡ Abb. 11.7. Freiraumgestaltung für herausfordernde Pausenaktivitäten
Verhältnisse
heutzutage sehr unrealistisch ist und die Zukunft unseren Heranwachsenden eher längere, anstatt kürzere Sitzzeiten abverlangt, müssen im Sinne gesunder Entwicklungs- und Lernbedingungen in der Schule sowohl an die Qualität der Arbeitsplatzverhältnisse als auch an das Arbeitsverhalten besondere Anforderungen gestellt werden. Das heißt, Schule sollte so organisiert werden, dass durch eine schüler- und lehrergerechte Rhythmisierung des Schulalltags, bewegte Pausen, bewegtes Lernen, bewegungsergonomische Verhältnisse sowie dynamische Organisationsformen und -strukturen den in der Schule Handelnden ganzheitlich begegnet werden kann. Diese verhältnis- und verhaltenspräventiven Elemente sollten grundsätzlich im Schulprogramm verankert sein (Städtler 2005). Der Stellenwert einer solchen verhältnis- und verhaltenspräventiven Arbeitsplatzgestaltung ist von Breithecker (2005a,b) in einer vierjährigen Pilotstudie an der FridtjofNansen-Schule (Grundschule) in Hannover untersucht worden (⊡ Abb. 11.8) Ziel der Studie war es zu überprüfen, inwieweit die auf mehr körperliche Dynamik im Unterricht ausgerichteten Interventionsmaßnahmen ▬ das Körper- und Arbeitsverhalten, ▬ die körperlich-motorischen Entwicklungsprozesse, ▬ die medizinisch-orthopädischen Entwicklungsprozesse sowie ▬ das Aufmerksamkeits- und Konzentrationsvermögen der Schüler innerhalb eines vierjährigen Untersuchungszeitraumes beeinflussen können.
Verhaltensweisen
„Bedürfnisergonomie“
Bedürfnisse dynamisches Sitzen Stehen Liegen Bewegen
höhenverstellbare StuhlTisch-Kombinationen bewegliche Sitzflächen 16° neigbare Tischflächen Steharbeitsplätze Liegeflächen ergänzende Sitzmöbel
Gesundheit Lernen Leisten
Arbeitsorganisationen Projektarbeit Gruppenarbeit Wochenplanarbeit freies Arbeiten Informationsstationen
⊡ Abb. 11.8. Lernen und Bewegen am Arbeitsplatz Schule
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Kapitel 11 · Ergonomie
⊡ Tabelle 11.4. Unterschiede zwischen der Versuchs- und Kontrollgruppe in der Pilotstudie Versuchsgruppe
Kontrollgruppe
»bewegungsergonomisches« Schulmobiliar (körpergrößenangepasste Stuhl-Tisch-Kombinationen, Stühle mit flexiblen Sitzflächen, Stehpulte, Liegeflächen), das zu einem dynamischen Arbeits- und Körperverhalten (dynamisches Sitzen, Stehen, Liegen) anregt Möbel auf Rollen zur schnellen und bequemen Veränderung von Organisationsformen bewegte Unterrichtsmethoden, die fachbezogenes Lernen mit Bewegung kombinieren gezielter Wechsel der Organisationsformen (u. a. Projektarbeit, Freiarbeit, Wochenplanarbeit), die zu häufigen Ortswechseln anregen freie Wahl des Körperverhaltens nach festgelegten Regeln (Stehen, verschiedene Sitzpositionen, Liegen) Schulung der Lehrkräfte: Diese waren geschult, die Interventionen konsequent anzuwenden und konsequent die Größenanpassung der Schulmöbel zu überprüfen
statisches – nicht dem körperlichen Bedürfnis nach Sitzdynamik gerecht werdendes – Schulgestühl keine kontinuierliche Körpergrößenanpassung des Schulmobiliars keine Optionen für wechselnde Körperhaltungen überwiegend passive Teilnahme der Schüler am Unterrichtsgeschehen keine fachbezogenen bewegten Unterrichtsmethoden; gelegentlich Bewegungspausen keine spezielle Schulung der Lehrkräfte in Bezug auf Rhythmisierung des Unterrichts
⊡ Tabelle 11.5. Körperverhalten in der Versuchs- bzw. Kontrollgruppe während der vier Untersuchungsjahre Versuchsgruppe der Pilotstudie (n = 48)
Kontrollgruppe (traditioneller Klassenraum; n = 24)
Statisches Sitzen
4,8%
61,0%
Dynamisches Sitzen
51,5%
24,5%
Stehen
20,5%
5,5%
Körperliche Aktivität
20,0%
9,0%
Liegen
3,2%
0%
Die Schüler, die ihre individuellen Bewegungsbedürfnisse aufgrund einer sinnes- und körperaktiven Unterrichts- und Arbeitsplatzgestaltung natürlich entfalten konnten (⊡ Tabellen 11.4 und 11.5), wiesen in dieser vierjährigen Beobachtungsstudie eine signifikant bessere Haltungsentwicklung als die Schüler in der Kontrollgruppe auf. Auch die Aufmerksamkeits- und Konzentrationswerte haben sich im Zuge dieses dynamischen körperlichen Verhaltens gegenüber der Kontrollgruppe signifikant besser entwickelt (⊡ Abb. 11.9). Aufmerksamkeit und Konzentration sind wie die Wahrnehmung, das Gedächtnis, die Sprache sowie die Fähigkeit zur Planung, Entscheidung und Problemlösung wichtige Teilaspekte der Kognition. Der zur Erfassung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungsfähigkeit verwendete Test »d2« gehört zu den allgemeinen Leistungstests; er »verlangt [...] eine auf externe visuelle Reize bezogene Konzentrationsleistung« (Brickenkamp 2002, S. 6). Die Bereitschaft und Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf den Lerngegenstand zu lenken, können als wesentliche Grundlage für den Lernerfolg angenommen werden.
6
5 Bewertung
11
Körperverhalten
4
3 2
1 0 1. Stunde
3. Stunde
Kontrollgruppe
5. Stunde
Versuchsgruppe
⊡ Abb. 11.9. Wertung der Aufmerksamkeitsleistung anhand der Normierung des Tests d2 (Brickenkamp 2002): 2 = unterdurchschnittlich, 3 = durchschnittlich, 4 = überdurchschnittlich, 5 = weit überdurchschnittlich, 6 = weit überdurchschnittlich, außerhalb des durch die Normierung erfassten Bereiches
235 11.2 · Arbeitsplatz Schule – Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Gestaltung
Diese sollte, wie in der Versuchsgruppe geschehen, möglichst durch die Rhythmisierung des Schultages (Entfaltung eines dynamischen Arbeitsplatzverhaltens) immer wieder hergestellt werden können. Als Ergebnis dokumentiert sich zu allen Messzeitpunkten eine signifikante Steigerung der Aufmerksamkeitsleistung (Breithecker 2005a; Dordel u. Breithecker 2003) gegenüber der Kontrollgruppe mit ihrem hohen Anteil an statischem Arbeitsplatzverhalten (⊡ Tabelle 11.5). Infobox
I
I
▬ Statisches Sitzen: Ist definiert als das Sitzen, bei
▬
▬
▬ ▬
dem ein Kind innerhalb eines Beobachtungszeitraumes von einer Minute keine Veränderungen der Sitzhaltung vornimmt. Dynamisches Sitzen: Ist definiert als das Sitzen, bei dem ein Kind seine Sitzhaltung unregelmäßig verändert. Hierzu zählt auch das Kippeln oder Wippen. Stehen: Ist definiert als das Verhalten, bei dem ein Kind eine stehende Körperhaltung an einem geeigneten Ort (Stehpult) im Klassenzimmer zum Arbeiten wahrnimmt. Körperliche Aktivität: Ist definiert als das Verhalten, bei dem ein Kind sich im Klassenzimmer in Abhängigkeit vom Arbeitsauftrag umherbewegt. Liegen: Ist definiert als das Verhalten, bei dem ein Kind sich auf den Boden legt.
Ebenso nachhaltige Ergebnisse konnten Cardon et al. (2004) hinsichtlich aktiv-dynamischer und damit weniger haltungsbelastender Sitzverhaltensweisen bei Schülern belegen, die an bewegungsergonomischen Arbeitsplätzen den Unterrichtsalltag verbracht haben. In der Auswertung und Analyse ihrer Studien gehen die Autoren konform mit vielen weiteren international forschenden Experten (u. a. Wilke et al. 1999, 2001; Balaque et al. 1999; Salminen et al. 1992, 1999) und sehen vor allem im Zuge des Dauersitzens an unphysiologischen Arbeitsplatzverhältnissen in Verbindung mit Bewegungsmangel eine große Gefahr für frühzeitige degenerative Verschleißprozesse an der noch im Wachstum befindlichen Wirbelsäule.
11.2.11 Fazit
Die Schule ist für Schüler ein »Arbeitsplatz«. Sowohl Eltern als auch Lehrkräfte verlangen heutzutage Höchstleistungen von Schülern. Umso mehr ist es erforderlich, dass dies an einem Schülerarbeitsplatz geschieht, der den besonderen psychophysischen Bedürfnissen eines Heranwachsenden entspricht. Im Interesse der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung junger Menschen
sollte – bei allen positiv wahrnehmbaren Ansätzen einer sich immer mehr bewegenden Schule – deshalb nicht verkannt werden, dass die Schulen auch sukzessive mit »bewegungsergonomischen« Arbeitsplatzverhältnissen auszustatten sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die Schule vor erforderlichen Neuanschaffungen steht. Dabei sollte weniger die Diskussion um das Budget im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Erfüllung der Anforderungen wie sie in der Arbeitswelt üblich sind. Nicht jede Schule wird sofort in der Lage sein, mit ergonomischen Schulmöbeln darauf zu reagieren. Es wäre auch sehr einseitig, ausschließlich nur bei den Schulmöbeln anzusetzen. Vielfältige Methoden- und Organisationswechsel als auch Bewegungs- und Entspannungspausen (BAG 2004; Breithecker et al. 2004) stellen wichtige Maßnahmen zur körperlichen und geistigen Rhythmisierung dar. Sie fördern damit nicht nur die Rückengesundheit, sondern tragen auch zu mehr Wohlbefinden und somit zu einer besseren Lernatmosphäre bei Schülern und Lehrkräften bei. Literatur Balaque F, Troussier B, Salminen JJ (1999) Non-specific low back pain in children and adolescents: risk factors. Eur Spine 8:429–438 Bennett CH (2002) Changing education ergonomics. The proceeding of the XVI Annual International Ergonomics and Safety Conference 2002, pp 1–5 Berquet KH (1988) Sitz- und Haltungsschäden. Auswahl und Anpassung an Schulmöbel. Thieme, Stuttgart Bös K, Schott N (1999) Kinder brauchen Bewegung – leben mit Turnen, Sport, Spiel. Bericht vom Kongress der rheinland-pfälzischen Turnverbände vom 12. bis 14 November 1998 in Worms. Czwalina, Hamburg Bös K, Opper E, Woll A (2002) Fitness in der Grundschule. Förderung von körperlich-sportlicher Aktivität, Haltung und Fitness zum Zwecke der Gesundheitsförderung und Unfallverhütung. Endbericht. Eigenverlag, Wiesbaden Breithecker D, Rinderle B, Sowodniok B, Wnuck A (2004) Das AOLBewegungsbuch für den Unterricht. AOL-Verlag, Lichtenau Breithecker D (2005a) Arbeitsplatz Schule – Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus. Vierjährige Pilotstudie zur »bewegungsergonomischen« Arbeitsplatzgestaltung und zu »bewegungsgeleiteten« Unterrichtsmethoden für Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter – Teil 1: Auswirkungen auf Körperverhaltensweisen und Haltungsentwicklung. Haltung und Bewegung 3:17–22 Breithecker D (2005b) Arbeitsplatz Schule – Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus. Vierjährige Pilotstudie zur »bewegungsergonomischen« Arbeitsplatzgestaltung und zu »bewegungsgeleiteten« Unterrichtsmethoden für Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter. Unveröffentlichter Endbericht, Wiesbaden Brickenkamp R (2002) Test d2 Aufmerksamkeits-Belastungs-Test. Manual. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. 2004) Bewegte Kinder-Schlaue Köpfe. Eigenverlag, Wiesbaden BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. 2006) Aktionstag Sitzen und Bewegen im Unterricht. Dokumentation. Eigenverlag, Wiesbaden Cardon G, De Clercq D, De Bourdeaudhuij I, Breithecker D (2004) Sitting habits in elementary schoolchildren: a traditional versus a »Moving school«. Patient Education and Counseling 54:133–142
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Kapitel 11 · Ergonomie
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11.3
Praxisbeispiel »Bewegte Schule« – ein Interview
Die Fridtjof-Nansen-Grundschule in Hannover-Vahrenheide hat ihr Schulprogramm gesundheitsförderlich ausgelegt. 350 Schülerinnen und Schüler aus 26 Nationen besuchen diese Schule, die in einem so genannten sozialen Brennpunkt liegt. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter praktizieren bewegte und gesunde Schule seit etwa zwölf Jahren als eine Alternative zu einem meist durchrationalisierten Schulalltag mit dem Ziel, Kindern sinnes- und handlungsaktives Lernen zu ermöglichen und bei den Stärken der Kinder statt bei ihren Schwächen anzusetzen. Dieses Vorgehen ist ressourcenorientiert und entspricht dem Ansatz der Salutogenese. Darauf gründet sich das Schulprogramm. Unter der Überschrift: »Bewegte Schule – Schule als lernendes System im Stadtteil« arbeitet die Grundschule an fünf Schwerpunkten. Dem Gesundheitsaspekt »Schwerpunkt Gesundheitsförderung« kommt dabei als übergreifende und zugleich verbindende Klammer zu den weiteren Schwerpunkten »Lernen neu organisieren«, »Sozialarbeit«, »Schule steuern und organisieren« sowie »Bewegung schafft Raum« eine zentrale Bedeutung zu. Der Rektor der Schule ist Hermann Städtler. Er ist gleichzeitig Leiter des Niedersächsischen Kultusministeriumsprojekts »Bewegte Schule«. Im folgenden Gespräch mit der Redaktionsgruppe MHH/ISEG berichtet er aus Sicht des Praktikers über die Bedeutung von ergonomischem Schulmobiliar. Dabei legt er besonderen Wert auf die Einbindung in ein ganzheitliches, gesundheitsförderliches Schulkonzept. Für wie wichtig halten Sie als Schulleiter und Pädagoge ergonomische Möbel? Wenn Kinder in den Kindergarten oder in die Schule kommen, beginnt die oft leidvolle Wandlung vom Bewegungs- zum Sitzkind. Kinder müssen plötzlich lernen, lange Zeit im Unterricht still zu sitzen. War bisher die Bewegung wichtiger Schlüssel zur Erschließung ihrer Umwelt, wird für sie ein uneinsehbar statisches Verhalten verlangt – ganz so, als ob Lernen ohne Bewegung ab dem Schulalter besonders gut gelänge. Wir Sportpädagogen beschreiben deshalb den Übergang zur Schule etwas ketzerisch als »Einstuhlung« statt »Einschulung«. Dabei hat die Lernforschung schon längst nachgewiesen, wie wichtig handlungsbegleitende Bewegung für den Lernerfolg ist. Auch vor dem Hintergrund zeitlich zunehmender häuslicher Sitzbelastungen vor dem Computer oder aufgrund von Video-Spielen wird es immer dringlicher, statisches Sitzen zu vermeiden, denn statisches Sitzen auf starren Stühlen ist entwicklungshemmend. Dynamisches und ergonomisches Sitzen hingegen unterstützt die natürlichen, Neugier geleiteten, mehr oder weniger spontanen Bewegungen der Kinder, die im Kontext ihres hoffentlich spannenden Unterrichts in der Schule entstehen.
237 11.3 · Praxisbeispiel »Bewegte Schule – Mehr als ergonomisches Mobiliar«
Trotzdem arbeiten über drei Viertel der Grundschüler an Schulmobiliar, das nicht einmal ergonomische Grundanforderungen erfüllt. Solchen Qualitätsstandards entsprechen ergonomisch geformte Stühle mit einer Sitzschale mit Wipp- und beidseitigem Neigemechanismus, Liegearbeitsplätze auf ausrangierten Turnmatten sowie stufenlos verstellbare Stehtische auf Rollen und Einzeltische mit schräg neigbarer Platte, die sich von Schülerhand stufenlos verstellen und auf Rollen schnell zu neuen Sitzordnungen arrangieren lassen. Die Frage nach der Wichtigkeit von ergonomischen Möbeln lässt sich nur im Zusammenspiel von Verhältnissen und Verhalten beantworten. Ergonomische Verhältnisse sind lediglich ein Teil der beeinflussenden Faktoren. Wirkungen für die gesundheits- und leistungsfördernde Atmosphäre gehen darüber hinaus – merklich wie unmerklich – von Räumen, Schulgebäuden, den umgebenden Freiflächen und der Qualität des Unterrichtsgeschehens sowie des Schullebens aus. So hat der gekonnte Umgang mit Faktoren wie Licht, Akustik, Raumklima, Oberflächen, Materialien und Farben im Schulgebäude und ein zur Bewegung herausfordernder Freiraum förderlichen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Räumliche Verhältnisse haben dienende Funktion für ein gesundheits- und leistungsbezogenes Verhalten im Lebens- und Lernraum Schule. Ergonomisches Mobiliar von Anfang an in der Schule einzusetzen zieht verhaltensbewusstes Arbeiten nach sich und ist besonders nachhaltig, weil Schülerinnen und Schüler in der Schule ihren ersten langjährigen Arbeitsplatz prägend erleben. Sie haben in Ihrer Schule teilweise Klassenzimmer mit ergonomischen Sitzmöbeln ausgestattet. Wie haben Sie dies im Rahmen der geringen finanziellen Möglichkeiten umsetzen können? Das Kollegium der Fridtjof-Nansen-Schule hat Bewegung schon seit Jahren in sein Schulprogramm integriert. So war es verständlich, dass wir trotz ungünstiger Rahmenbedingungen hier Prioritäten setzten. Außerdem trugen die Erfahrungen meines »sitzgeplagten« Sohnes, damals in einer ersten Klasse mit krank machendem Gestühl, dazu bei, mich besonders mit diesem Thema zu beschäftigen (s. Brief von Niki an seine Lehrerin; ⊡ Abb. 11.10). Dies führte zur Initiierung der von 2000 bis 2004 laufenden Längsschnittstudie »Arbeitsplatz Schule – Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus?« durch die FridtjofNansen-Schule und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. ( Kap. 11.2). Die vierjährige Studie sollte belegen, wie wirkungsvoll ergonomisches Arbeiten in der Schule sein kann. Wir nutzten die Nominierung der Fridtjof-Nansen-Schule zur EXPO-Schule 2000, um eine breitere Öffentlichkeit und auch Sponsoren anzusprechen, denn sowohl die sehr aufwändige vierjährige Studie als auch das Versuchsmobiliar mussten anteilig – von der Schule verantwortet
– finanziert werden. Die ergonomische Ausstattung der vier Versuchsklassen wurde weitgehend von der Stadt Hannover finanziert. Die Auswahl geeigneter Produkte, wie die Entscheidung für grundsätzlich stufenlos und durch Schülerhand leicht verstellbare Einzeltische auf Rollen, statt für preisgünstigere Tische, die nur mit Werkzeug schwierig einzustellen wären und bei einer Veränderung des Stellplatzes immer gehoben werden müssten, übernahm die Schule aus Praxissicht. Die Stadt Hannover war zusammen mit dem Kultusministerium Niedersachsen mutiger und kooperativer Auftraggeber dieser europaweit Richtung weisenden Studie. Sie wird für die Schulträger eine deutliche Kostensteigerung nach sich ziehen und in der Politik eine Veränderung der Prioritäten in der Förderung der Schulgesundheit auslösen. So ist beispielsweise die Initiative des Niedersächsischen Kultusministeriums »Bewegte Kinder – Schlaue Köpfe – Lernen braucht Bewegung – Niedersachsen setzt Akzente« ein viel versprechender Schritt zur Verbesserung der Praxis im Schulalltag. Im Jahre 2007 und 2008 sollen 50 Aktionstage an 50 verschiedenen Schulen in Niedersachsen mit dem Ziel durchgeführt werden, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrkräften und den Eltern handlungsbezogene Ansätze zu gesundheitsförderlichen Lebensweisen in der Schule aufzuzeigen. Die Einstiegsthematik ist »Bewegung macht stark: Gesunder Kinderrücken«.
⊡ Abb. 11.10. Brief von Niki
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Kapitel 11 · Ergonomie
Welche Ergebnisse lieferte die Längsschnittstudie »Arbeitsplatz Schule – Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus?« Neben der Evaluation des gesamten Schulkonzepts wurde ein wissenschaftlicher Bericht zur vierjährigen Längsschnittstudie »Arbeitsplatz Schule – Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus?« über die Wirkung von ergonomischen Verhältnissen in der Schule sowohl für Schüler als auch für Lehrkräfte von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. angefertigt. Die Ergebnisse sind eindeutig und belegen die hohe Wirkung ergonomischer Möblierung für bessere Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler. Zu nennen sind hier folgende Punkte: ▬ Kinder werden zu einem dynamischen und abwechslungsreichen Arbeiten im Sitzen, Stehen und auch im Liegen angeregt. ▬ Unterrichtsstörungen durch Ausweichbewegungen der Kinder (z. B. Kippeln, Störgeräusche) lassen nach, da die beweglichen Sitzflächen spannungsabbauende Bewegungen unterstützen. ▬ Die Haltungsentwicklung ist im Vergleich zur Kontrollgruppe besser. ▬ Die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen sind gesteigert. Vor allem in den letzten Stunden waren die Schülerinnen und Schüler (und damit auch ihre Lehrkräfte) noch frischer und weniger gestresst. ▬ Die Flexibilität der Möbel unterstützt die Rhythmisierung durch Bewegungspausen. ▬ Das Verhaltensrepertoire der Schülerinnen und Schüler wurde kontinuierlich verbessert, sie kennen unterschiedliche Sitzarten, wissen um die entlastende Bedeutung von Abwechslung in den Arbeitsformen und können diese Kompetenzen auch auf unergonomische Bedingungen übertragen, um ihren Leidensdruck auf starrem Mobiliar zu minimieren. Schließlich wurde die hilfreiche Funktion ergonomischer und im Klassenraum leicht neu zu arrangierender Möbel für die Umsetzung neuerer schüleraktivierender Methoden, wie Gruppenarbeit, Stationenlernen, Frei- und Wochenplanarbeit, genutzt. Wie können andere Schulen von Ihren Erfahrungen lernen? Es existiert inzwischen eine Kurz- und eine Langfassung der Untersuchung, die die Ergebnisse der Studie dokumentieren. Besser ist natürlich, die neuen ergonomischen Möbel in der Praxis zu erleben. Wir haben pro Woche derzeit mindestens zwei Lehrer-, Erzieherinnen-, Elternoder kommunale Entscheider-Gruppen, die sich vor Ort einen Eindruck über die förderliche Wirkung der Möblierung machen wollen und im Unterricht hospitieren. Dies ist ein hoher Aufwand für uns, den wir im Interesse der Sache neben unseren Alltagsaufgaben zusätzlich erbringen. Außerdem werden die Ergebnisse auf der Inter-
netplattform www.bewegteschule.de und auf zahlreichen Tagungen veröffentlicht. Trotz unseres eindeutigen Votums für ergonomische Verhältnisse in Schulen weisen wir immer wieder darauf hin, dass Ergonomie allein nicht ausreicht, um mehr gesundheits- und leistungsbezogenes Verhalten in die Schule zu bringen. Dies kann nur in der Verknüpfung gesundheitsförderlicher Verhältnisse mit bewegendem Unterricht und bewegter Schulkultur gelingen. Inzwischen haben etliche Elternvertretungen aus Grundschulen, Integrierten Gesamtschulen, Realschulen und Gymnasien dafür gesorgt, das Problembewusstsein in ihren Schulen für gesundheitsförderliche Bedingungen zu schärfen und sind zusammen mit den Kollegien dabei, auch die ergonomischen Bedingungen zu verbessern. Ebenfalls erfreulich ist die, wenn auch noch etwas zaghafte, Entwicklung in einigen Kommunen, die sich aufgrund der eindeutigen Ergebnisse der Studie und der positiven Erfahrungen in den Ergonomieklassen unserer Schule der Neugestaltung von Schülerarbeitsplätzen mehr Priorität zu geben. Sie haben sich die Aufgabe gestellt, bei Ersatzbeschaffungen und Neueinrichtungen – im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel – nur noch auf ergonomische Möbel zurückzugreifen. Trotz aller viel versprechenden Ansätze ist es noch ein langer Weg. Wie gewährleisten Sie eine korrekte Einstellung der ergonomischen Möbel für die einzelnen Schüler? Die ergonomischen Möbel, die wir in vier Klassen unserer Schule verwenden, sind in der Bedienung selbsterklärend. Tische und Stühle sind einfach von Schülerhand stufenlos verstellbar (⊡ Abb. 11.11). Sie werden von den Nutzern in Abhängigkeit von der Tätigkeit jeweils neu eingestellt, sodass es funktional und bequem ist. Hier die richtige Einstellung zu gewährleisten, gelingt nicht automatisch, sondern muss zunächst von der Lehrkraft selbst erlernt werden, bevor sie es bei den Schülerinnen und Schülern überzeugend anregen und einfordern kann. Dabei helfen Markierungen an den Tischen und das Wissen um die richtigen Sitz- und Arbeitshaltungen. Die Kinder können nach einigen Wochen kompetent mit den Einstellungen umgehen und sind in der Lage, unseren Besuchern über den Vorteil der Reitsitzhaltung beim Zuhören Auskunft zu geben oder zu vertreten, warum es entlastend sein kann, im Liegen ein Buch zu lesen und erst zum Schreiben wieder an den Tisch zu gehen. Ergreifen Sie auch Maßnahmen bei den Schülern, die keine ergonomischen Möbel nutzen? Außerhalb dieser Versuchsklassen haben wir noch vorwiegend starres Mobiliar, das erst nach und nach durch ergonomische Möbel ersetzt werden kann. An diesen Schulmöbeln ist eine korrekte Einstellung nicht vorzunehmen. Eine Farbpunktung gibt Auskunft darüber, für welche Altersklasse sie gedacht sind. Diese Norm ist
239 11.3 · Praxisbeispiel »Bewegte Schule – Mehr als ergonomisches Mobiliar«
sehr aufwändigen Tauschverfahren zu bewerkstelligen ist. Die schweren Doppeltische müssen oft über Etagen hinweg getragen werden. Dies findet in der Praxis wegen fehlender »Möbelpacker« häufig nicht statt. Selbst wenn Eltern zur Mithilfe bereit sind, wird kaum eine durchweg passende Stuhl- und Tischkombination in einer Klasse entstehen, weil Doppeltische eine Höhe vorgeben, aber befreundete Schülerinnen und Schüler ungeachtet verschiedener Körpergrößen nebeneinander sitzen wollen. Trotzdem lohnt sich der Aufwand des Stuhltauschs, denn ein passender Stuhl hat Priorität. Für die zukünftige Einrichtung von Klassenräumen geben wir die Empfehlung, ausschließlich leicht auf Rollen zu fahrende Einzeltische einzusetzen, die in Abhängigkeit von der zu verrichtenden Arbeit stufenlos höhenverstellbar und mit einer schräg verstellbaren Arbeitsplatte ausgestattet sind. Die Stühle müssen ebenfalls rollbar und leicht höhenverstellbar sein sowie eine durchgehende halbelastische Sitzschale mit vor- und rückwärts, auch seitwärts neigbarer Sitzfunktion haben.
⊡ Abb. 11.11. Mädchen misst Stuhl aus
jedoch vollkommen ungeeignet, denn gleich alte Kinder können einen körperlichen Entwicklungsunterschied von zwei bis drei Jahren aufweisen. Dies führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler vorwiegend auf unpassenden Stühlen und an den dazugehörenden Tischen sitzen. Diese belastenden Verhältnisse führen neben konkreter physischer Schädigung zur Abnahme der Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Lernleistung unserer Schülerinnen und Schüler, die in Bildungsstudien immer wieder beklagt werden. Unsere Antwort auf diese unbefriedigende Situation ist ein halbjährliches sehr aufwändiges »Stühle rücken«. Die Prozedur: Jede Schülerin, jeder Schüler trägt ihren/seinen Stuhl auf den Schulhof. Dort wird die richtige Sitzhöhe ermittelt und unpassende Stühle werden ausgetauscht. Dies klappt nur, wenn neben interessierten Lehrkräften auch der Hausmeister kräftig mitwirkt und sich um eine passgerechte Schulmöbelausstattung kümmert. Die Messregel für die Überprüfung ist: Die Sitzkante muss sich genau in der Mitte der Kniescheibe des vor dem Stuhl Stehenden befinden. Diese Regel ist einfach, sodass die Schüler immer wieder die Sitzhöhe selbst kontrollieren können. Während die Stühle leicht auf den Schulhof getragen und dort ausgetauscht werden können, bleiben die Tische im Klassenraum. Sie müssen ebenfalls der neuen Höhe angepasst werden, was nur in einem
In Ihrer Schule haben Sie die »klassische Sitzordnung« zum Teil aufgehoben und sie durch ein »bewegtes Klassenzimmer« ersetzt. Was ist darunter zu verstehen? Welche Auswirkungen hat dies auf den Unterricht? Die klassische Sitzordnung eines Klassenraums hat jede/r von uns im Kopf, denn wir sind alle zur Schule gegangen. Meist wurde der Unterricht frontal abgehalten. Allerdings entspricht dieses Bild vom lehrerzentrierten Informationsund Belehrungsunterricht nicht mehr der Auffassung moderner Pädagogik, die sich vor allem Richtung weisend mit schülerorientierten Verfahren im Grundschulbereich seit Jahren beweist. Wir wollen in der Schule erreichen, dass Kinder selbsttätig Phänomene und Rätsel dieser Welt erforschen, sie motiviert bearbeiten und dabei merken, wie wichtig es ist, sich auf dem Weg zur Lösung anzustrengen und die Erfolge auch auf sich selbst zu beziehen. Das bedarf gruppen- und teamorientierter Methoden, wie Projektunterricht, Stationen lernen, Gruppen- oder Partnerarbeit und Freiarbeit. Diese Methoden und Arbeitsformen lassen sich am besten umsetzen mit mobilen und variablen Möbeln, die eine freie Wahl der individuellen Arbeitshaltung zulassen. Selbst das Rollen eines Tisches oder Stuhles ist eine willkommene Entlastung, genauso wie ein Methodenwechsel, der die Konzentration erneut mobilisieren kann. Neben den Schülertischen favorisieren wir Steharbeitstische, die wegen ihrer stufenlosen Verstellbarkeit schnell zu Präsentationsflächen im Sitzkreis oder zum Rundgruppenarbeitstisch umfunktioniert werden können. Auf ausrangierten abwaschbaren Turnmatten ist es den Schülern gestattet, auch im Liegen zu arbeiten. Auch der Arbeitsplatz der Lehrkräfte hat sich verändert. Etliche Lehrkräfte sind inzwischen dazu übergegangen, statt eines Lehrerpultes einen stufenlos höhenverstellbaren auf Rollen fahrbaren Stehtisch für ihre Arbeiten zu nutzen,
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Kapitel 11 · Ergonomie
⊡ Abb. 11.12. Arbeiten am Stehtisch und im Liegen
denn kurzzeitiges Arbeiten im Stehen entlastet und der Körper kann sich beim Abstützen erholen (⊡ Abb. 11.12).
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Neben dem richtigen Sitzen spielen auch noch andere Faktoren eine wichtige Rolle bei der Vermeidung von Rückenschmerzen. Zum Beispiel tragen viele Kinder zu schwere Schulrucksäcke und diese oftmals auch »falsch«. Vermeiden Sie in Ihrer Schule schwere Schulrucksäcke? Wie vermitteln Sie »richtiges« Tragen? Ein zu schwerer Schulranzen ist oft Ausdruck von schlechter Organisation oder Bequemlichkeit zwischen Schule und Elternhaus. Zur »Sicherheit« ist immer alles dabei. Dabei verheben sich viele, denn das ungelöste Problem der Hausaufgaben wird immer zwischen Schule und Elternhaus im wahrsten Sinne hin und her geschleppt. Wir versuchen, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern darauf zu achten, nicht benötigte Materialien in der Schule zu lassen. Als Faustregel für zumutbares Schulranzengewicht halten Experten ca. 12% des Körpergewichts für tragbar. Gelegentliches Wiegen des Ranzens im Rahmen eines »Schulranzen-TÜVs« ist hilfreich und sorgt zusammen mit der Kontrolle der körpernahen Einstellung der Tragesysteme für Nachhaltigkeit. Bewegung ist ein wichtiger Schlüssel zum gesunden Aufwachsen. Sie versuchen, in Ihrem gesamten Schulkonzept die Bewegung der Kinder zu fördern. Wie sieht dies konkret aus? Im Wesentlichen versuchen wir, darauf zu achten, dass die Kinder ihr natürliches Bewegungsbedürfnis in der Alltagsschulroutine erfüllen können und wir es nicht durch ängstliches Erwachsenenverhalten behindern. Darüber hinaus gestalten wir Lernprozesse spannend, gliedern Phänomene und Probleme in entwicklungsgerechte »For-
schungshäppchen«, moderieren Probleme kindgerecht und versuchen gemeinsam, Antworten auf die Rätsel der Welt zu finden und das Kind mit all seinen Fähigkeiten an der Lösung zu beteiligen. Es geht uns weniger um abstrakten Wissenserwerb als um konkretes Können. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass Kinder nach wie vor Vokabeln in Ruhe lernen und Basiskenntnisse, wie das kleine Einmaleins, beherrschen müssen. Was bedeutet dies konkret? Lernen mit allen Sinnen bedeutet beispielsweise im Mathematikunterricht auch Zahlen konkret zu begreifen, anzufassen und zu verändern – kneten, modellieren oder nachzubauen –, zu riechen, zu schmecken – Zahlenkekse backen und essen –, zu hören – kann man an einem Kreidestrich hören, welche Zahl geschrieben wird? –, zu spüren – welche Zahl, oder welche Rechenaufgabe, auf meinen Rücken gemalt, welche Form ist mit geschlossenen Augen zu erspüren? – und zu schreiben, um schriftlich zu denken. Wenn nach solch anstrengender Kopfarbeit die Luft im Unterricht »mal raus ist«, können sich die Kinder durch aktive Bewegung draußen erholen. Schon eine Viertelstunde Bewegung auf Rollern, Stelzen, Pedalos und Einrädern oder Ball- und Geschicklichkeitsspiele bringen sie neu in Schwung. Alle Geräte sind in einem kleinen Raum am Schulhof gelagert. Der pädagogische Pfiff dieser Erholungsphase liegt darin, dass sie nur während des Unterrichts als bewusste Rhythmisierung zwischen Kopfund Körperarbeit genutzt werden darf. Dabei verinnerlichen die Kinder im Laufe der Zeit, welche wohltuende Wirkung aktive Bewegung für die Befindlichkeit haben kann. Bewegungspausen im Klassenraum ergänzen situativ das Bemühen um einen gewinnbringenden Ausgleich zwischen Anspannung und aktiver Entspannung.
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⊡ Abb. 11.13. Klettergerüst
Und in den Schulpausen? Während der zwei 25 Minuten dauernden Pausen können sich die Kinder Kleingeräte wie Springseile oder Bälle aus ihren Klassenbewegungskisten mit nach draußen nehmen, die vom Förderverein der Schule ausgestattet worden sind. Das Frühstück findet in Ruhe anschließend gemeinsam in der Klasse statt, damit die aktive Erholung in der Pause nicht durch hastiges Essen behindert wird. Im bewegungsförderlichen Außenraum der Schule steht den Kindern ein breites Angebot zur Verfügung, in dem sie ihre Bewegungsbedürfnisse ausleben und darüber hinaus ihre Selbstsicherungsfähigkeit ausbilden können. Beim Klettern in einem fünf Meter hohen Stangengestrüpp, beim Schaukeln auf der Sechs-Eck-Kontaktschaukel, beim Hangeln am Hangelpfad, beim Springen von der tonnenschweren Granitstele, beim Schwingen am Rundreck, beim Balancieren und Ballspielen können sie sich selbst erproben und im Umgang mit ihren Grenzen Risiko- und Wagniskompetenz entwickeln (⊡ Abb. 11.13). Wesentliche Vorbilder für die Kinder sind ihre Lehrkräfte, die versuchen, ihnen zu zeigen, dass lebenslanges, inneres und äußeres Bewegen und Lernen Spaß und Sinn machen kann. Bewegte und motivierte Lehrkräfte sind nach wie vor die beste Voraussetzung für bewegendes und bewegtes Lernen. Wurde eine Evaluation dieses Schulkonzepts durchgeführt? Wie sehen ggf. die Ergebnisse aus und welche Konsequenzen hat die Schule daraus gezogen? Im Zuge unserer Teilnahme am Niedersächsischen Qualitätsnetzwerk ist das Schulprogramm inklusive dem Unterrichtskonzept unserer Schule mehrfach extern von einem unabhängigen Institut evaluiert worden. Über eine anonyme Befragung in Verantwortung eines externen In-
stituts kamen Lehrkräfte, Schulleitung, Schülerinnen und Schüler sowie die Eltern zu allen Themen des Lern- und Lebensraums Schule zu Wort. Aus der Diskrepanz zwischen Ansprüchen und der Umsetzung in den Alltag hinein entstanden weiterführende Aktivitäten, die Anspruch und Wirklichkeit stärker aufeinander beziehen konnten. Es gab zwei Resultate: Die Gründung eines Elterncafés und mehr Mitsprachemöglichkeiten für die Schüler durch die Bildung eines Kinderparlaments. Interessantes Ergebnis aller Evaluationen war, dass die Berufszufriedenheit unseres Kollegiums durch die Schwerpunktsetzung auf gesundheitsfördernde und bewegte Schule deutlich gestiegen ist. Diese Zufriedenheit konnte ebenfalls bei Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern aufgezeigt werden. Inzwischen ist der »Schwerpunkt Gesundheitsförderung« übergreifender Schulprogrammschwerpunkt und wird systematisch in den Schulalltag eingesteuert. Als besonders effektiv hat sich die Durchführung eines kollegialen Gesundheitsaudits mit Zertifizierung zwischen der Grundschule Treskowstraße Hannover und der FridtjofNansen-Schule unter Leitung der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e. V. erwiesen. Die besondere Wirkung entstand aus dem Abgleich der Selbsteinschätzung und Selbstvergewisserung der pädagogischen Arbeit durch unser Kollegium (Innensicht) mit den Ergebnissen der externen Zertifizierungskommission, die aus Experten der anderen Schule und einer Expertin der Landesvereinigung Gesundheit bestand (Außensicht). Welche Akzeptanz erfährt das Konzept bei den Eltern, welche Effekte hat es bei den Kindern? Die Eltern erfahren die wohltuende Wirkung der bewegten Schule auch am eigenen Leib. Ein Elterncafé mit ergonomischer Möblierung trägt dazu bei, dass Eltern sich in
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Kapitel 11 · Ergonomie
der Schule zuhause fühlen und schulische, pädagogische Bemühungen leichter als gewinnbringend einstufen können. Jeden Tag besuchen viele Eltern ihr Café und bauen so ihre Hemmschwelle vor der Institution Schule ab. Dies ist vor dem Hintergrund unserer Nationenvielfalt außerordentlich sinnstiftend und zugleich Basis für die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern. Bewegung ist als nationenübergreifendes, stärkeorientiertes Prinzip sprachübergreifend von den Eltern nachzuvollziehen, denn es hilft den Kindern, sich in ihrer Schule wohl zu fühlen und gut zu lernen. Ergonomische Auswirkungen spüren die Eltern zu Hause, wenn Kinder wie selbstverständlich darauf bestehen, im Liegen, im Stehen und etwa im Reitsitz »verkehrt herum« zu arbeiten.
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Wie rüsten Sie die Kinder für weniger optimale Bedingungen bei dem Besuch einer weiterführenden Schule? Wichtig ist, dass Kinder während ihrer vierjährigen Grundschulzeit gesundheitsfördernde Verhaltensweisen zu ihrer Lebensgewohnheit machen können. Diese erlernten Verhaltensweisen helfen ihnen dabei, sich auch bei schlechteren Rahmenbedingungen gesund zu verhalten. Sie wissen, dass es darauf ankommt, die Körperhaltung beim Lernen häufig zu ändern, ggf. auch aufzustehen und sich Entlastung zu verschaffen. Inzwischen ist die handlungsorientierte Unterrichtsweise auch bei weiterführenden Schulen angekommen. Ein Austausch findet regelmäßig statt. Der Schulträger Hannover investiert ab 2007 aufgrund der Studie erheblich in die ergonomische Ausstattung, auch der weiterführenden Schulen.
12 Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems Ein Expertengespräch zum Status quo und zu Zukunftsperspektiven der Prävention
Interview mit den Gesprächspartnern:
▬ Prof. Dr. Christoph Gutenbrunner, Medizinische Hoch-
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schule Hannover, Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Balneologie und Medizinische Klimatologie Prof. Dr. Jan Hildebrandt, Universitätsmedizin Göttingen Ulrich Kuhnt, Rückenschule Hannover Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz, Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Dr. Sabine Wedekind, Deutscher Olympischer Sportbund, Frankfurt/Main
Das Interview führte Prof. Dr. Ulla Walter, Medizinische Hochschule Hannover, Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung, Stiftungslehrstuhl am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung
Prof. Walter: Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, davon insbesondere Rückenschmerzen, sind das Diagnosekapitel mit den häufigsten Arbeitsunfähigkeitstagen. Welche Handlungserfordernisse sehen Sie insbesondere vor dem Hintergrund einer Zunahme älterer Arbeitnehmer und einer verlängerten Lebensarbeitszeit? Prof. Schwartz: Rückenschmerzen und damit assoziierte Erkrankungen des Bewegungsapparates sind in hohem Maße mit der Dominanz sitzender Tätigkeiten in unserer Arbeitsgesellschaft verbunden. Die Öffentlichkeit, die Forschung, die Betriebe und die Berufsgenossenschaften müssen der Förderung der Rückengesundheit bei sitzenden Tätigkeiten sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher. Die mit Rückenschmerzen und Rückenerkrankungen verbundenen volkswirtschaftlichen Verluste sind mittlerweile so immens, dass dies nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein wirtschaftliches
Gebot der Vernunft ist. Es gibt zahlreiche betriebsbezogene Präventionsmöglichkeiten, die sich nicht nur auf die ergonomische Gestaltung von Sitzmöbeln beziehen, sondern auch auf bewegungsstrukturierte Arbeitspausen. Arbeitgeber und Gewerkschaften müssen dahin gebracht werden zu erkennen, dass derartige Programme auch der Produktivität und dem sozialen Betriebsklima dienen. Eine Vielzahl von Modellen ist dazu in den vergangenen beiden Jahrzehnten erarbeitet worden. Wichtig ist, dass diese in der Breite umgesetzt werden. Rückenprobleme sind nicht nur Anlass für Arbeitsunfähigkeit, sondern auch für vorgezogene Erwerbsunfähigkeit. Ihre Vermeidung oder Verzögerung ist insbesondere auch dann gesellschaftlich wichtig, wenn wir immer mehr ältere Arbeitnehmer haben, die wir trotz gesundheitlicher Belastungen durch Sitztätigkeiten langfristig arbeitsfähig erhalten wollen. Bei betrieblichen Präventionsprogrammen im Bereich Rücken ist allerdings auch ein über Ergonomie und Übungsphysiologie hinausgehender enger Zusammenhang mit psychischen und psychosozialen Arbeitsplatzbelastungen zu bedenken. Ein positives Betriebsklima wirkt sich auch positiv auf Rückenerkrankungen aus. Prof. Walter: In Spanien wurden mit 40 »Spielplätzen«
Bewegungs- und Kommunikationsräume für ältere Menschen eingerichtet. An bis zu 20 verschiedenen Geräten können sie sich fit halten. Die Idee der Bewegungsanlagen kommt aus China und wurde zunächst nach Spanien importiert. Hier entstanden bereits rund 40 Parks. Kurze Anleitungen an den Übungsgeräten geben Hinweise zur Benutzung und welche Körperteile sie kräftigen. So fördert beispielsweise das Steuerruder die Muskulatur des Oberkörpers, insbesondere der Schultern. Erste Spielplätze dieser Art wurden auch in Deutschland verwirklicht. Sehen Sie Chancen, dass diese Idee in Deutschland Verbreitung findet? Wedekind: Das klingt sehr attraktiv: Gerade angesichts der demographischen Entwicklung ist es notwendig, für die Zielgruppe der Älteren angemessene Bewegungs-
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Kapitel 12 · Beeinträchtigungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems
programme bereitzustellen. Besonders wichtig aus meiner Sicht ist es, neben den Geräten vor allem gutes Betreuungspersonal zur Verfügung zu stellen, um zu motivieren, anzuleiten und ggf. fehlerhafte Übungen korrigieren zu können. Neben der physischen Beanspruchung ist dabei auch die psychische und soziale Betreuung von großer Bedeutung. Gerade über Bewegungsangebote können in hervorragender Weise Kontakte aufgebaut und gepflegt werden. Hierzu bedarf es jedoch aus unserer Erfahrung geschulter Übungsleiter, die gemeinschaftliche Aspekte in die Gruppen einbringen. Unter dem Aspekt Flächendeckung ist zu bedenken, dass gerade ältere Personen wohnortnahe Angebote benötigen. Das heißt jedoch, dass in einer Stadt wie Hannover oder Frankfurt mindestens zehn solcher Angebote geschaffen werden müssten, was erhebliche Fragen der Finanzierung nach sich zieht.
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Prof. Walter: Zu Beginn der 1970er Jahre startete der damalige Deutsche Sportbund bundesweit eine »Trimm Dich Fit«-Bewegungskampagne. Inwieweit könnte eine bewegungsorientierte Kampagne körperliche Aktivität in der Bevölkerung fördern? Gibt es in Deutschland derzeit Ansätze für eine derartige massenmediale Kampagne? Was können wir von anderen Ländern lernen? Wedekind: Unsere Erfahrung mit der Trimm-Aktion hat gezeigt, dass massenmediale Kampagnen immer einhergehen müssen mit konkreten Bewegungsangeboten. Als wir damals die Aufforderung »Lauf mal wieder« plakativ ins Land getragen haben, wurden parallel dazu so genannte Lauf-Treffs entwickelt. An 3000 solcher Treffpunkte kann man heute noch unter Anleitung kostenlos Laufen oder Walken, in Gemeinschaft Gleichgesinnter. Erst in der Koppelung von Werbebotschaft und Angebot vor der Haustür wird eine massenmediale Kampagne wirksam. Aufgrund der medialen Vielfalt, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat, wird es immer schwerer und vor allem teurer, über die Massenmedien Gehör zu finden. Der Deutsche Sportbund hatte damals eine Vielzahl von Sponsoren und Medienpartner gefunden, die die Kampagnen relativ uneigennützig unterstützt haben. Heute ist es kaum noch möglich, Partner zu finden, die sich dem Erscheinungsbild einer Kampagne unterordnen. Deshalb ist es nötig, wie z. B. in Österreich, Holland, Schweden oder Australien praktiziert, dass eine solche Kampagne – wenn politisch gewünscht – auf der Basis von Steuermitteln finanziert wird. Prof. Walter: Inwieweit sind Vereinsstrukturen noch passend zu unserer heutigen Gesellschaft mit hohen Anforderungen an Mobilität und Flexibilität? Was haben der Deutsche Olympische Sportbund und andere Sportverbände getan, um diesen veränderten Anforderungen gerecht zu werden? Wedekind: Gerade in Zeiten der Mobilität und Flexibilität bieten Vereinsstrukturen einen gewissen Halt.
Wenn ich in eine andere Stadt umziehen müsste, würde ich mir als Erstes einen Sportverein suchen, um soziale Kontakte aufzubauen. Um dem Wunsch nach kurzzeitigen Bindungen, gegenüber festen Mitgliedschaften, entgegenzukommen, gibt es in vielen Vereinen bereits Kursangebote. Hier verpflichtet man sich lediglich für ein Viertel- oder Halbjahr und ist danach in seiner Angebotswahl wieder frei. Das hat jedoch den Nachteil, dass die Gruppen, die sich über diese Kurse finden, im Anschluss auseinanderbrechen. Prof. Walter: Über welche Zugangswege werden Bevöl-
kerungsgruppen erreicht, die Maßnahmen zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen gar nicht oder nur wenig in Anspruch nehmen wie Alleinerziehende und Migranten? Welche Strukturen sind erforderlich, um körperlich Inaktive anzusprechen? Welche Rolle können hierbei Sportverbände übernehmen und welche weiteren Akteure müssen einbezogen werden? Wedekind: Vereine sind ja vom Ursprung her Interessengemeinschaften, die Personen zusammenführen, die gemeinsam Sport treiben möchten. Aufgrund der ehrenamtlichen Strukturen und kommunaler Zuschüsse sind die Beiträge extrem günstig, sodass sich aus finanzieller Sicht alle Zielgruppen einbringen können. Um insbesondere Migranten für Bewegungsprogramme zu gewinnen, gibt es in Deutschland, finanziert über das Bundesministerium des Innern und koordiniert über den Deutschen Olympischen Sportbund, ein bundesweites Programm »Integration durch Sport«. 450 so genannte Stützpunktvereine mit 750 Starthelfern kümmern sich besonders um die Zielgruppe der Migranten. Um Alleinerziehenden die Möglichkeit zur Teilnahme an Bewegungsprogrammen zu erleichtern, werden seitens der Vereine vielfach begleitend Kinderbetreuungsangebote eingerichtet. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass auch die besten Strukturen hartnäckige Bewegungsmuffel nicht hinter dem Ofen hervorlocken. Dazu kommt, dass gerade die kleineren Vereine ohne zusätzliche Unterstützung überfordert sind, diese schwierigen Zielgruppen zu motivieren und zu betreuen. Hier muss über die Mitgliedsbeiträge hinaus zusätzliche finanzielle Unterstützung geleistet werden. Ist dies – wie im Projekt »Integration durch Sport« – der Fall, sind die Vereine jedoch hervorragend geeignet, flächendeckend und sozialverträglich qualitätsgeprüfte und attraktive Programme anzubieten. Im Bereich der Prävention haben sich Vereine als verlässliche Partner der Krankenkassen etabliert. Unter dem Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT halten die Vereine und Verbände ein qualitätsgeprüftes und teilweise von den Krankenkassen bezuschusstes Programm flächendeckend in Deutschland vor. Prof. Walter: Die Entstehung zahlreicher Gesundheits-
störungen und Krankheiten erweist sich zunehmend als
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multifaktorielles Geschehen, bei dem auch psychosozialen Belastungen bis hin zu Stress und Depressionen eine große Rolle zukommt. Singuläre Maßnahmen scheinen nicht mehr angebracht. Behindert diese Komplexität nicht auch die Prävention? Brauchen wir dann nicht doch eine umfassende und in der Realität nur schwer umsetzbare Gesundheitsförderung? Prof. Schwartz: Wie schon für den Rücken ausgeführt, gehen körperliche und psychische Belastungsfaktoren oft Hand in Hand und bedingen sich wechselseitig. Diese Tatsache führt im Grunde zu keiner spezifischen Erschwernis der Prävention, sie muss lediglich als Selbstverständlichkeit mitgedacht und mitgestaltet werden. Das heißt, körperbezogene Maßnahmen bedürfen auch der positiven psychischen Einbettung oder begleitender Entspannungstechniken – was im Übrigen auch lerntheoretisch förderlich ist – ebenso lassen sich psychische Interventionen sehr oft mit oder über körperliche Bewegungs- oder Entspannungsmaßnahmen beeinflussen. Natürlich müssen wir diese Mehrdimensionalität auch in der Ausbildung, in Konzepten und Handlungsentwürfen präventiv planender und handelnder Berufsgruppen als Selbstverständlichkeit verankern. Prof. Walter: Bei zahlreichen Beeinträchtigungen des
Muskel-Skelett-Systems wird heute Mobilisation empfohlen. Schmerzen können der Umsetzung entgegenstehen und zu einem Vermeidungsverhalten führen, z. B. bei unspezifischen Rückenschmerzen. Was raten Sie den Betroffenen? Wie können sie sich selber helfen? Was gilt es zu beachten? Prof. Hildebrandt: Aktive Bewegung als Prophylaxe wird nicht nur bei Krankheiten des muskuloskettalen Systems empfohlen, sondern in letzter Zeit auch bei den meisten internistischen Erkrankungen. Bewegung ist somit ein sehr wichtiger Baustein und Therapieelement vieler Erkrankungen. Dies gilt für alle Lebensabschnitte bis ins hohe Alter. Auch ältere Menschen sind gut trainierbar und profitieren von regelmäßiger Bewegung. Ich würde dabei aber weniger den Begriff »Mobilisation« verwenden, der aus der manuellen Therapie – also einer passiven Behandlungsmethode – kommt, sondern körperliche »Mobilität«. Schmerzen sind in der Regel kein Hinderungsgrund für ein aktives Verhalten, auch nicht Rückenschmerzen, es sei denn, es handelt sich um sehr akute, schmerzhafte Zustände. Dem Vermeidungsverhalten der Patienten, das durch viele Therapeuten heute immer noch verstärkt oder ausgelöst wird, muss entgegengewirkt werden. Patienten sollten informiert werden, dass Bewegung und Belastung nicht zu Schäden oder Verschlimmerung der Beschwerden führen, sondern im Gegenteil die Heilung wesentlich beschleunigen. Ich führe gern das Verhalten der ProfiSportler nach einem Trauma an, die gleichfalls sofort mit einem – dosierten – Training beginnen und niemals Ruhe
oder Schonung praktizieren. Wenn man sich an Prinzipien der Bewegungstherapie oder des Trainings hält, sind keine ernsten Probleme zu erwarten. Es ist die Frage, wie die Bewegungstherapie aussehen sollte: Hier gibt es keine klaren Regeln. Aufgrund der Evidenzen ist keine Therapie oder Methode der anderen unterlegen, es sei denn, dass sie nicht nach verhaltenstherapeutischen Prinzipien (Übung nach Quoten mit gradueller Steigerung, Schmerz ist nicht das Leitsymptom, sondern die Funktionsverbesserung) durchgeführt werden. Auf jeden Fall sollten die Betroffenen das tun, was ihnen am meisten Spaß macht. Ich selbst bevorzuge für Patienten mit chronifizierten Beschwerden neben Sport und Spiel – insbesondere wegen der Koordinationsverbesserung und der Motivation – ein Krafttraining, da es ein sehr sicheres Training mit positivem Feedback für Patienten ist. Aber Evidenzen hierfür gibt es nicht. Prof. Walter: Die Risikofaktoren, insbesondere für Rü-
ckenschmerzen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten vertieft wissenschaftlich untersucht. Danach ist eine Abkehr von den biomechanischen Einflussgrößen hin zu einem biopsychosozialen Modell zu verzeichnen. Wird nach diesen Forschungserkenntnissen in der Praxis gehandelt? Wie können ggf. die Erkenntnisse aus der Forschung vermehrt in die Praxis umgesetzt werden? Prof. Hildebrandt: Im Augenblick entstehen durch das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), das die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) vertritt, Versorgungsleitlinien für Kreuzschmerzen unter Mitarbeit zahlreicher relevanter Fachgebiete. Grundlage für diese praxisorientierten Leitlinien sind die Europäischen Leitlinien, die 2006 publiziert wurden, die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und die unlängst in ihrer dritten Auflage herausgegebenen Leitlinien der Arzneimittelkommission. Anhand dieser Versorgungsleitlinien ist es dann möglich, Behandlungspfade aufzubauen und diese entweder lokal – z. B. in einer Klinik – oder flächendeckend – z. B. in Form integrierter Versorgung – anzubieten bzw. nach ihnen vorzugehen. Für diese Therapien mit nachgewiesener Wirksamkeit sollten Vergütungsmöglichkeiten geschaffen werden. Hier fehlen insbesondere qualifizierte Einrichtungen und Kostenregelungen für schwer chronifizierte Patienten, die nur durch interdisziplinäre intensive Behandlungskonzepte – mit mindestens 100 Stunden Therapie – erfolgreich behandelt bzw. wieder arbeitsfähig gemacht werden können. Die derzeitige Praxis ist dagegen in der Regel noch nicht leitliniengerecht und ignoriert neuere Erkenntnisse. Wedekind: Die neuen Forschungserkenntnisse decken sich mit Beobachtungen und Erfahrungen aus der
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Praxis der Mitgliedsorganisationen des Deutschen Olympischen Sportbundes. Leider dauert es ja immer sehr lange, bis entsprechend große Studien finanziert und umgesetzt werden können. Ähnlich schwerfällig ist der Prozess, Forschungserkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Auf Bundesebene wurden sämtliche zentrale Veröffentlichungen, Grundlagenpapiere etc. an die neuesten Forschungserkenntnisse angepasst. In einem nächsten Schritt galt es, die großen Ausbildungszentren mit entsprechenden Informationen zu versorgen. Hier finden die neuen Erkenntnisse Eingang sowohl in die Ausbildung neuer Lehrkräfte als auch in die verpflichtenden Fortbildungsprogramme der bereits praktizierenden Ausbilder und Übungsleiter. Da die Sportverbände, insbesondere im Bereich der Aus- und Fortbildung, sehr gut vernetzt und organisiert sind, ist hier aus unserer Sicht von einer sehr dynamischen Entwicklung auszugehen. Prof. Walter: Psychosoziale Faktoren werden als ein Risi-
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kofaktor für Rückenschmerzen angesehen. Welche Anforderungen stellen diese Erkenntnisse an die Praxis und wie können diese realisiert werden? Prof. Hildebrandt: Die Mehrzahl der in den letzten Jahren durchgeführten – auch epidemiologischen – Studien hat gezeigt, dass psychosoziale Faktoren für den Krankheitsverlauf von nichtspezifischen Rückenschmerzen eine entscheidende Rolle spielen, während somatische Faktoren und Befunde aus der körperlichen Untersuchung, z. B. radiologische Befunde, Leistungsparameter, kaum prognostische Bedeutung aufweisen. Wichtig ist deshalb, dass Merkmale wie Distress, Depression, Angst oder Schonvermeidungsverhalten (sog. »yellow flags«) möglichst früh erfasst werden. Da Rückenpatienten in der Regel sowohl bei Hausärzten als auch Orthopäden behandelt werden, müssten beide Berufsgruppen in der Erkennung dieser Faktoren geschult werden. Erleichtert wird dies durch inzwischen vorhandene kurze Risikotests mit denen gefährdete Patienten erkannt werden können. Unter den englischsprachigen Instrumenten hat sich dabei der von dem Schweden Linton entwickelte Örebro Musculoskeletal Pain Screening Questionnaire (MPSQ) international am ehesten durchgesetzt. Im deutschsprachigen Raum liegen zwei Instrumente vor, die im Wesentlichen auf dem Kieler Schmerzinventar von Hasenbring basieren. Erstens das Risiko-Screening zur Schmerzchronifizierung bei Rückenschmerzen (RISC-R) und zweitens der Heidelberger Kurzfragebogen Rückenschmerz (HKF-R10). Über diese drei Instrumente wird derzeit auch im Prozess der Entwicklung von Versorgungsleitlinien gesprochen, ohne dass bisher eine Entscheidung gefällt worden ist. Wichtig ist, wie gesagt, dass die Risikofaktoren frühzeitig erkannt werden, um rasch und noch vor einer Chronifizierung entsprechende verhaltenstherapeutische Schritte einleiten zu können.
Prof. Walter: In der Prävention haben die Spitzenverbände
der Krankenkassen den Leitfaden Prävention grundlegend im Handlungsfeld Bewegung überarbeitet. Hierzu haben Sie, Herr Kuhnt, mit beigetragen. Damit einher ging nahezu eine Abschaffung des bisher üblichen Angebots der Rückenschule. Was hat sich verändert? Was ist neu? Kuhnt: In den vergangenen Jahren wurden der Verschleiß der Wirbelsäule, falsche Bewegungsmuster und schlecht trainierte Muskeln als Hauptursache für Rückenbeschwerden angesehen. Die »Klassische Rückenschule« orientierte sich bei der Programmentwicklung an diesen medizinischen Erkenntnissen. Somit standen bandscheibenentlastende Körperhaltungen, rückenschonende Bewegungsabläufe und funktionsgymnastische Übungen im Mittelpunkt der »Klassischen Rückenschule«. Heute belegen wissenschaftliche Studien, dass Rückenschmerzen langfristig und nachhaltig nur durch multimodale Programme auf Basis eines biopsychosozialen Ansatzes gelindert werden können. Unter Berücksichtigung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse entwickelte sich in den zurückliegenden fünf Jahren die »Klassische Rückenschule« zur »Neuen Rückenschule«. Die »Neue Rückenschule« zielt dabei vorrangig auf die Einstellungsänderung der Kursteilnehmer zum Rückenschmerz. Sie fördert die körperliche Aktivität im Alltag und vermittelt den psychosozialen Ansatz zur Förderung der Rückengesundheit. Körperhaltungen und gymnastische Übungen werden nicht mehr in »falsch« und »richtig« eingeteilt, Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule werden nicht mehr als die Hauptursache für Rückenbeschwerden angesehen. Die Kursteilnehmer sollen über die Verbesserung der Körperwahrnehmung und Entspannungsfähigkeit, über erlebnisorientierte Bewegungserfahrungen und durch Erweiterung des Handlungs- und Effektwissens ihre individuelle Rückengesundheit langfristig fördern. Prof. Walter: Wie wird die Qualität von Rückenschulpro-
grammen in der Praxis gewährleistet? Kuhnt: Vor drei Jahren gründeten die wichtigsten neun deutschen Rückenschulverbände die »Konföderation der deutschen Rückenschulen – KddR«. Hauptaufgabe dieser Kooperationsgemeinschaft ist die Vereinheitlichung der Rückenschulangebote in Deutschland. Im interdisziplinären Expertenteam mit Unterstützung der Bertelsmann Stiftung konnten bisher gemeinsame Ziele, Inhalte, Indikationen und Kontraindikationen, Durchführungsmodalitäten und Ausbildungscurricula für die präventive Rückenschule verabschiedet werden. Alle lizenzierten Rückenschullehrer sind verpflichtet, bis Ende 2008 eine spezielle Fortbildung für die »Neue Rückenschule« zu absolvieren. In Kooperation mit einem renommierten Fachverlag wird zurzeit ein einheitliches Kursleitermanual erstellt. Diese erstaunlich positive Kooperation mit insgesamt 60.000 Bewegungsfachkräften ist eine wichtige Basis für die Qualitätskontrolle und schafft gute Voraus-
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setzungen für wissenschaftliche Studien zum Nachweis der Wirksamkeit der »Neuen Rückenschule«. Prof. Walter: Zur Unterstützung der Muskulatur und zum gelenkschonenden Gehen werden spezifische Schuhe angeboten. Inwieweit tragen Ihrer Meinung nach diese zur Förderung der Rückenmuskulatur bei? Wie sollten muskelskelettunterstützende Schuhe beschaffen sein? Kuhnt: Es ist durchaus möglich, dass so genannte Gesundheitsschuhe mit speziellen Einlagen oder gerundeten Schuhsohlen beim Gehen oder Laufen positive Effekte auf die Rückenmuskulatur bewirken können. Allerdings liegen hierfür keine wissenschaftlichen Belege vor. In Anbetracht der komplexen biomechanischen Zusammenhänge zwischen der Fußabrollbewegung und der Aktivität der Rückenmuskulatur halte ich es für unseriös, pauschale Empfehlungen für rückenmuskelaufbauende Schuhe zu geben. Die Fokussierung auf vermeintlich rückenfreundliche Schuhe kann bei Personen die Erwartung wecken, dass allein durch das Tragen von speziellen Schuhen ein gesunder Rücken garantiert wird. Diese Vorstellung entspricht nicht dem biopsychosozialen Ansatz, sondern verstärkt die klassische biomedizinische Sichtweise. Spezielle Schuhe sind kein Ersatz für die regelmäßige körperliche Aktivität oder den gesundheitsorientierten Sport. Wer sie ausprobieren oder tragen möchte, sollte auf Folgendes achten: Muskelskelettunterstützende Schuhe sollten eine rutschfeste Sohle und keine höheren Absätze als vier Zentimeter aufweisen sowie individuell an die Schuhlänge und Schuhbreite angepasst sein. Zudem sollte sich die Schuhform an der natürlichen Fußform mit ausreichender Zehenfreiheit orientieren und eine möglichst verschleißfreie Dämpfung im Fersenbereich gewährleisten. Weitere Anforderungen sind eine entsprechende Fersenführung des Schuhs, die den sicheren Gang verbessert und stabilisiert, sowie eine ausreichende Unterstützung der Abroll- und Torsionsbewegungen des Fußes. Prof. Walter: Studien widerlegen zum Teil die Wirksamkeit alleiniger ergonomischer Verbesserungen von Arbeitsplätzen in Bezug auf den Rückgang von rückenschmerzbezogenen Arbeitsunfähigkeitstagen. Welche Bedeutung kommt heute der Ergonomie am Arbeitsplatz und im nicht berufsbezogenen Alltag zu? Welche Konsequenzen für die Praxis ergeben sich hieraus? Prof. Hildebrandt: Die Konzentration auf ergonomische Verbesserungen am Arbeitsplatz hat sich in der Vergangenheit als Fehlschlag erwiesen, um Rückenschmerzen und Arbeitsunfähigkeit zu verhindern. Dies gilt genauso für die Rückenschulen ohne aktives, biopsychosoziales Konzept, bei dem es eher um Vermeidung geht mit Aussagen wie »halte den Rücken gerade«. Verhaltensprävention und nicht Verhältnisprävention ist die Devise. Natürlich gibt es daneben auch rückenungünstige Arbeitsabläufe zu ändern, die einer Modifizierung der jeweiligen Tätigkeit
bedürfen. Jedoch sind allgemeine Äußerungen wie »darf nicht mehr als zehn Kilo heben« oder »auf keinen Fall den Oberkörper verdrehen«, wie man es auch heute noch entweder in Entlassungsberichten nach Reha-Behandlungen oder in Broschüren vieler Institutionen findet, kontraproduktiv. In den Behandlungskonzepten für chronifizierte, in der Regel arbeitsunfähige Patienten ist dagegen das so genannte »Work Hardening« integriert, bei dem das Kraft- und Bewegungstraining unter verhaltenstherapeutischem Prozedere mit sukzessiver Steigerung der Belastung und Simulation von realen Arbeitstätigkeiten bewusst eingesetzt wird, um die Wiederherstellung der Funktion und Arbeitsfähigkeit zu erreichen – daher auch der Ausdruck »Functional Restoration«. Ebenso wie bei der Bewegungstherapie unter Einschluss von Training soll der Dekonditionierung der Patienten entgegengewirkt werden, sodass diese wieder am normalen täglichen Leben teilhaben können. Prof. Walter: Als effektive Präventionsstrategie wird
neuerdings die Demedikalisierung angesehen. Rückenschmerzen sollen nicht mehr als Krankheit, sondern als alltägliche Befindlichkeitsstörung wie z. B. Kopfschmerzen wahrgenommen werden. Dies erfordert eine deutliche Veränderung der Einstellungen seitens der Professionellen im Gesundheitssystem, aber auch seitens der Versicherten. Würde dieses gelingen, könnte die Demedikalisierung von Rückenschmerzen exemplarisch für mehrere Gesundheitsstörungen fast einen Paradigmenwechsel einleiten. Wie sehen Sie die Chancen einer Realisierung auch vor dem Hintergrund, dass physiologischen Veränderungen seit Jahrzehnten systematisch Krankheitswert zugeschrieben wird (so genanntes »disease mongering«)? Welche Verantwortung hat Ihrer Meinung nach die Gesundheitspolitik? Prof. Schwartz: Die Demedikalisierung von Rückenschmerzen, auch von chronischen Rückenschmerzen, ist im Bewusstsein der Bevölkerung ungewohnt. Sie stößt auch bei den professionalisierten Ärzten oder Therapeuten auf zunächst verständlichen Widerspruch. Aus fachlicher Sicht muss darauf verwiesen werden, dass die bisherigen Behandlungsstrategien der Rückenschmerzen nicht nur in Deutschland keinen überzeugenden Beitrag gegen das epidemische Anwachsen der damit verbundenen Gesundheitsstörungen und Erkrankungsformen geliefert haben. Die Chronifizierungen der Verläufe sind vielmehr oft geradezu die Regel und werden eben nicht durch konventionelle medizinische Maßnahmen unterbrochen. Kritische Betrachtungen erfahren auch seit zwei Jahrzehnten die durchaus häufig durchgeführten Bandscheibenoperationen. Hier mangelt es an fundierten wissenschaftlichen Langzeitevaluationen. Es deutet vieles darauf hin, dass eine Demedikalisierung des Rückenschmerzes, die die Ursachen, die Prävention und die initiale Selbstbehand-
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lung wieder mehr zurückführt in die Selbstverantwortung der Versicherten, eine insbesondere bei frühen und mittleren Erkrankungen durchaus Erfolg versprechende Strategie ist. Die Gesundheitsberufe sollten diesen Prozess kompetent unterstützen. Selbstverständlich bedarf es bei spezifischen Rückenschmerzen mit Verdacht auf assoziierte oder zugrunde liegende Erkrankungen innerer Organsysteme, etwa der Nieren oder des onkologischen Formenkreises, auch in Zukunft bei entsprechenden Symptombildern einer rechtzeitigen fachgerechten ärztlichen Diagnostik und Behandlung. Prof. Walter: Welche präventiven Ansätze sehen Sie vor
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dem Hintergrund der zahlreichen Knie- und Hüftgelenkoperationen? Gibt es Ihrer Meinung nach Aspekte, die bei der Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen derzeit zu wenig beachtet werden? Prof. Schwartz: Die in den letzten Jahren stark ansteigende Zahl von Knie- und Hüftgelenkoperationen wird bislang zu wenig unter dem Gesichtspunkt der Prävention gesehen und auch zu wenig kritisch hinsichtlich der Indikationsstellungen diskutiert. Daneben gibt es natürlich auch, insbesondere bei den Hüfteingriffen, einen demographischen Effekt, der mit der wachsenden Zahl hochbetagter Patienten zusammenhängt. Zur Prävention ist zu bemerken, dass falsches Schuhwerk, generell die Vernachlässigung der Fußgesundheit, und das Laufen auf asphaltierten Flächen erhöhte mikrotraumatisierende Belastungen von Knie- und Hüftgelenken bedeuten. Im Bereich normaler Abnutzungserscheinungen sowie verletzungsbedingter Schäden im Kniegelenkbereich wird nach meiner Überzeugung heute die operative Indikation viel zu großzügig gestellt; die Selbstheilungsrate bei Meniskusverletzungen ist hoch. Vergleichende kritische und ausreichend große Studien innerhalb der operativen Orthopädie fehlen bedauerlicherweise weitgehend. Lebenslange ausreichende, aber maßvolle Bewegung auf weichen Böden bedeutet für beide Gelenke optimale Prävention.
haben muss. Schließlich ist die Bewegungstherapie ein zentraler Bestandteil in allen drei Versorgungsbereichen, sodass auch hier Überschneidungen bestehen. In Bezug auf die Optimierung der Versorgung haben wir im »Weißbuch für Physikalische und Rehabilitative Medizin in Europa« für Patienten mit funktionellen Behinderungen eine »Culture of Rehabilitation« gefordert. Dies bedeutet, dass in allen Versorgungssektoren rehabilitative Aspekte mitberücksichtigt werden müssen und dass die Zielstellung der Verbesserung von Aktivität und Partizipation für Menschen mit Behinderungen in allen Phasen ihrer Erkrankung eine Bedeutung haben muss. Entsprechend muss auch für die muskuloskelettalen Erkrankungen gefordert werden, dass sowohl vor Auftreten der Erkrankung als auch in den frühen und manifesten Krankheitsphasen durch Training und Verbesserung der Bewegungsabläufe dem Fortschreiten der Erkrankung vorzubeugen ist. Dies ist in späteren Erkrankungsphasen nicht von der Therapie der Erkrankung selbst sowie der Vorbeugung einer weiteren Verschlechterung zu trennen. Schließlich sind auch im Rehabilitationsbereich, wenn z. B. kompensatorische Bewegungsabläufe geübt werden müssen, ähnliche Grundprinzipien wie in der Prävention zu sehen. Zur praktischen Umsetzung muss das Wissen über die Grundprinzipien von Prävention und Rehabilitation bei den behandelnden Ärzten und Gesundheitsberufen verbessert werden. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass die notwendigen Interventionen auch finanziert werden. Schließlich bedarf es einer Aufklärung über die Grundprinzipien und Wirkungen der Bewegung auf das muskuloskelettale System und die Entstehung von funktionellen und chronischen Erkrankungen. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass eine Schonung und ein Vermeidungsverhalten vermieden oder verringert werden. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen konnte in Australien am Beispiel des Rückenschmerzes auch wissenschaftlich belegt werden. Prof. Walter: Welchen Handlungsbedarf und welche
Prof. Walter: Prävention sollte nicht nur der Kuration
vorgeschaltet sein, sondern auch in diese stärker integriert werden, was bislang nur ansatzweise erfolgt. Wo sehen Sie als Rehabilitationsmediziner an einer Universitätsklinik im Feld der Muskel-Skelett-Erkrankungen Ansätze? Prof. Gutenbrunner: Es ist sicher richtig, dass sich im Bereich der Muskel-Skelett-Erkrankungen, insbesondere wenn man sich die funktionellen und degenerativen Erkrankungen ansieht, eine klare Trennung von Prävention, Kuration und Rehabilitation nicht möglich ist. Dieses ergibt sich schon daraus, dass bei dem häufig schleichenden Auftreten der Erkrankung der zeitliche Beginn sich oft nicht klar zuordnen lässt. Darüber hinaus bedürfen chronisch degenerative Erkrankungen einer therapeutischen Langzeitstrategie, die stets auch rehabilitativen Charakter
Ansatzpunkte bestehen nach Ihren Erfahrungen in der Schmerzambulanz für die Prävention im ambulanten und akutstationären Bereich? Welche system-, professionsund patientenbedingten Barrieren stehen diesen derzeit entgegen? Prof. Hildebrandt: Patienten mit andauernden oder wiederkehrenden Rückenschmerzen – und das sind in den Industriestaaten und somit auch in Deutschland ca. 30% der Bevölkerung – müssen angehalten werden, sportlich aktiv zu sein, ohne Einschränkung! Behauptungen, dass manche Sportarten rückengünstig sind, wie z. B. Rückenschwimmen oder Skilanglauf, andere dagegen ungünstig und generell zu vermeiden, wie z. B. Abfahrtski oder Tennis, sind Mythen. Falls ein Rückenpatient muskulär ausreichend trainiert ist, kann er jeden Sport machen.
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Das gilt sogar für Menschen mit Bandscheibenvorfällen. Noch wirkungsvoller ist die Prävention, wenn schon im Klein- und Schulkinderalter Interesse und Spaß an der Bewegung geweckt werden können. Der heutige Mensch bewegt sich kaum noch, ist aber von der Entwicklungsgeschichte her für ständige Bewegung konzipiert. Fehlt die Bewegung und Belastung, kommt es zu Störungen der Körperfunktion. Systembarrieren sind eine zunehmend passive Lebensweise einschließlich unserer täglichen Arbeit, Stress, Arbeitsdruck und Entfremdung am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit und zu wenig Arbeitsplätze für Menschen mit Rückenerkrankungen. Professionsbarrieren sind Ignoranz neuerer Erkenntnisse über die Entstehung und Aufrechterhaltung von Rückenschmerzen, Unkenntnis über die biopsychosoziale Bedeutung der Beschwerden bzw. Auslöser und Nichterkennen des Paradigmenwechsels sowie eine zunehmende Medikalisierung von Rückenbeschwerden, auch aus ökonomischen Gründen. Patientenbarrieren sind passive Lebensweise und Einstellung, Wunsch nach passiven Behandlungen wie z. B. Massagen oder Akupunktur und Medikamentengläubigkeit. Generell gilt, dass von relativ fitten Menschen Sport- und Fitness-Angebote und Möglichkeiten mehr oder weniger intensiv genutzt werden, von den eigentlichen Betroffenen aber nicht. Natürlich spielt hierbei auch die Einstellung und Vermittlung der behandelnden Ärzte eine Rolle. Prof. Walter: Prävention und Rehabilitation sind in der
Gesundheitsversorgung bislang kaum verzahnt. Welche Anforderungen stellen sich aus Sicht des Gesundheitssystems und der Versorgungspraxis? Prof. Gutenbrunner: Die starke Einteilung in Sektoren stellt für die Behandlung von Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen sicher eine Barriere im Versorgungssystem dar. So wird die Prävention überwiegend in Sportgruppen, Sportvereinen und im Freizeitbereich durchgeführt, während die Kuration bei niedergelassenen oder in der Klinik tätigen Orthopäden oder anderen Fachärzten erfolgt. Diese arbeiten jedoch fast ausschließlich krankheitsbezogen und berücksichtigen präventive und funktionelle Aspekte oft nur in zweiter Linie. Ähnliches gilt für die Rehabilitation, wobei am Beispiel der Patientenschulung klar wird, dass diese häufig isoliert während der Heilverfahren erfolgt und nicht in der ärztlichen Weiterbetreuung angesprochen wird. Hierdurch entstehen Probleme der Nachhaltigkeit von Rehabilitationseffekten. Die Anforderungen sind auch hier eine Vereinheitlichung der Informationsbasis, die Erarbeitung und Verfolgung einheitlicher, an der individuellen Situation des Betroffenen orientierter Gesundheitsziele und eine Optimierung der Kommunikation. Letzteres könnte beispielsweise in Form lesbarer Rehabilitationsberichte
für den Praktiker, in der Weitergabe von Befunden aus der Praxis an den Rehabilitationsort sowie durch direkte Teamkontakte erfolgen. Auch wäre wichtig, die behandelnden Therapeuten im Sinne von Teamsitzungen eng in die Gesamtstrategie einzubinden. Prof. Schwartz: Ähnlich wie bei der koronaren Herzkrankheit sind auch bei vielen Erkrankungen der Muskeln und des Skelettsystems – namentlich im Bereich des Rückens – die Maßnahmen der Rehabilitation nach eingetretenen Ersterkrankungen den Maßnahmen der Prävention zur Vermeidung einer Ersterkrankung oder einer späteren Folgeerkrankung nahezu identisch. Es ist daher nur logisch, die besten Präventionskonzepte gleichermaßen für primäre wie für sekundäre oder tertiäre Prävention, sprich Rehabilitation, zu entwickeln, zu optimieren und einzusetzen. Die jetzige Versorgungspraxis, die in diesem Bereich präventive Leistungen – ausgenommen Rückenschulen als freiwillige Leistung der Krankenkassen – gar nicht kennt, in der betrieblichen Gesundheitsförderung bislang erheblichste Lücken aufweist und ferner scharf zwischen kurativer Versorgung im ambulanten oder stationären Bereich einerseits und rehabilitativer Versorgung andererseits unterscheidet, ist einem solchen Konzept nicht dienlich und sollte insgesamt überdacht und abgelöst werden. Prof. Walter: Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten spielen in der Primärprävention in Deutschland bislang eine nachgeordnete Rolle. Gerade vor dem Hintergrund der Zunahme älterer Menschen und dem Erhalt der Funktionsfähigkeit wäre eine verstärkte Einbindung in die Prävention denkbar. Wie beurteilen Sie derartige Konzepte? Wie könnten diese realisiert werden? Prof. Gutenbrunner: Konzepte, die Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und andere in Rehabilitationsstrategien systematisch miteinbeziehen, würde ich als außerordentlich positiv beurteilen und zwar insbesondere deshalb, weil das Wissen dieser Gesundheitsberufe um Funktionsstörungen und im Falle der Ergotherapeuten um Störungen von Aktivität und Partizipation für Präventionsstrategien einen wichtigen Beitrag leisten könnten. Voraussetzung für eine erfolgreiche präventive Tätigkeit von Physiotherapeuten und Ergotherapeuten wäre allerdings eine Veränderung ihres Fokus von einer krankheitsbezogenen Intervention auf die Funktionserhaltung. Dies müsste in die Ausbildung dieser Berufe Eingang finden. Dabei wäre neben dem Wissen um die moderne Präventionsstrategie auch der Umgang mit den Betroffenen im Sinne eines Empowerment, d. h. der Zielstellung einer selbstständigen Weiterführung von Bewegungen und Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, zu verankern. Darüber hinaus müsste ein Gesamtkonzept erarbeitet werden, in der die Rollen der einzelnen Gesundheitsberufe niederzulegen sind. Hierbei wird es auch darum gehen, Überschneidungen und Abgrenzungen mit
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der Sporttherapie zu beschreiben. Bei komplexeren Problemen der Betroffenen sind auch in der Prävention multiprofessionelle Teambildungen zu empfehlen. Prof. Walter: In Deutschland hat die Physiotherapie, im
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Vergleich zu anderen Ländern, keine akademische Tradition. Welche Auswirkungen hat dieses auf die Forschung insbesondere in der Rehabilitation, ggf. auch in der Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen? Prof. Gutenbrunner: Die Physiotherapie spielt in der medizinischen Rehabilitation eine zentrale Rolle. So ist sie Bestandteil jedes rehabilitativen Ziels und ist dort in allen Phasen der Rehabilitation eine der wichtigsten Interventionen und zwar nicht nur bei muskuloskelettalen Erkrankungen, sondern auch bei neurologischen und vielen anderen Krankheitsbildern. Dies gilt sowohl für die Frührehabilitation im Akutkrankenhaus als auch für die Anschlussrehabilitation, die stationären Heilverfahren bei chronischen Erkrankungen und ambulante Rehabilitationsansätze. Es ist richtig, dass die Physiotherapie in Deutschland keine akademische Tradition hat. Inzwischen gibt es aber einige Bachelor-Studiengänge für Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden sowie erste Ansätze für Master-Studiengänge. Diese Entwicklungen sind positiv zu bewerten, wenngleich die starke Betonung sozialwissenschaftlicher Inhalte in diesen Studiengängen noch eine Limitierung darstellt. Die Diskussion um die Etablierung akademischer Ausbildung für Therapeuten wird leider dadurch erschwert, dass hiermit nicht nur auf die wissenschaftliche Erforschung oder die Verbesserung der Therapiemethodik abgezielt wird, sondern von einigen Verbänden die Abkoppelung der Gesundheitsberufe von anderen Versorgungsformen angestrebt wird. Dies betrifft insbesondere auch den angestrebten Zugang zur Therapie ohne vorherige ärztliche Verordnung. Wenn es gelingt, dass Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und andere Gesundheitsberufe eine selbstkritische wissenschaftliche Haltung zu ihren Therapieformen erlangen und dass hierdurch eine wissenschaftliche Erforschung der betreffenden Methoden resultiert, kann dies eine außerordentlich positive Auswirkung auf Prävention, Kuration und Rehabilitation mit den Mitteln der physikalischen Medizin haben. Wenn Prävention und Rehabilitation eine Teamaufgabe sind, muss auch die Wissenschaft gleichberechtigt die verschiedenen Berufsgruppen mit einbeziehen. Diesbezüglich sollte die akademische Fortbildung von Gesundheitsberufen stärker gefördert werden. Prof. Walter: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
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Experteninterview: Profile
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Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner ist Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin mit den Zusatzweiterbildungen Chirotherapie, Balneologie und Medizinische Klimatologie. Er ist Direktor der Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie seit 2004 geschäftsführender Leiter der Koordinierungsstelle Angewandte Rehabilitationsforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Prof. Dr. Gutenbrunner ist darüber hinaus Vorsitzender des Professional Practice Committee of the Section de la Médecin Physique et de Réadaptation de la Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS) und europäischer Vize-Präsident der International Society for Physical and Rehabilition Medicine.
Prof. Dr. med. Jan Hildebrandt ist Facharzt für Anästhesie und leitete bis 2005 den Schwerpunkt Algesiologie (Schmerztherapie), Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Klinikum der Georg-August Universität Göttingen. 1977 gründete er die dortige Schmerzambulanz. Prof. Dr. Hildebrandt ist Mitglied der »International Society for the Study of the Lumbar Spine (ISSLS)« und war am »Spine Institute of New England« und an der orthopädischen Abteilung der Universitätsklinik in Burlington, Vermont, USA, tätig. Seit 2007 ist er außerordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission. Prof. Dr. Hildebrandt ist seit 2006 Mitglied der Kommission zur Erstellung von nationalen Versorgungsleitlinien Rückenschmerz der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ).
Ulrich Kuhnt ist Sportwissenschaftler und Leiter der Rückenschule Hannover. Das Team der Rückenschule Hannover bietet bundesweit in über 100 Betrieben und Behörden arbeitsplatzbezogene Rückenschulmaßnahmen an und berät mehrere Krankenkassen. Ulrich Kuhnt ist Mitglied im Direktorium des Bundesverbandes der deutschen Rückenschulen (BdR) e. V. und Autor mehrerer Rückenschulkonzepte.
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I Prof. Dr. med. Friedrich Wilhelm Schwartz
ist seit 1985 Direktor des Instituts für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Er hat an der MHH den Postgraduierten Studiengang »Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health)« und den MBA-Studiengang »Hannover School of Health Management« sowie die Patientenuniversität eingerichtet. Prof. Dr. Schwartz war von 1985 bis 2003 Mitglied sowie mehrjähriger Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen.
Prof. Dr. phil. Ulla Walter ist seit 2004 Leiterin des Stiftungslehrstuhls »Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung« am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und Mitglied der Kommission des 6. Altenberichts der Bundesregierung.
Dr. phil. Sabine Wedekind ist Leiterin des Ressorts Präventionspolitik und Gesundheitsmanagement im Deutschen Olympischen Sportbund, der Dachorganisation des Deutschen Sports. Sie ist maßgeblich beteiligt an der Entwicklung und Umsetzung bundesweiter Social-MarketingKampagnen u. a. »Trimm Dich durch Sport«, »Trimming 130«, »Im Verein ist Sport am schönsten« und »Sport tut Deutschland gut«. Im Gesundheitsbereich hat sie federführend für die deutschen Sportverbände und -vereine das Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT entwickelt. Mit dem Siegel werden spezielle gesundheitsorientierte Programme (zurzeit 14.000) – vor dem Hintergrund einer durchgängigen Qualitätssicherung – deutschlandweit ausgezeichnet.
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Ausblick
KKH-Läufe für Groß und Klein, Bewegungsspiele für Kinder, qualitätsgeprüfte Präventionskurse sowie Bonuspunkte für gesundheitsbewusstes Verhalten für alle – die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) bietet eine breite Palette von verschiedenen Angeboten, um die sportliche Aktivität ihrer Versicherten zu fördern. Dass die KKH damit auf dem richtigen Weg ist, bestätigt das Weißbuch »Beweglich?«. Denn das ganz klare Fazit lautet: Mehr Bewegung tut not. Das vorliegende Weißbuch widmet sich erneut einem bedeutsamen Thema. Nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen im ersten Band und durch Stress (mit-)verursachte Erkrankungen im zweiten Band liegt der Schwerpunkt im dritten Buch auf den Muskel-Skelett-Erkrankungen. Allen bisherigen Weißbuchthemen ist nicht nur die quantitative und ökonomische Brisanz der Krankheitsbilder gemeinsam, sondern auch das Vorhandensein eines enormen präventiven Potenzials. Dieses Potenzial gilt es auszuschöpfen. Hierzu kann die Reihe der Weißbücher insgesamt sowie der aktuelle Band einen wertvollen Beitrag leisten: Die gesammelten Erkenntnisse sind konsequent in die Praxis umzusetzen und weiterzuentwickeln. Der besondere Stellenwert der Bewegung als Behandlungsmethode und als präventive Maßnahme muss noch mehr Beachtung finden und ausgebaut werden. Ebenso sollte das Zusammenspiel mit den anderen Handlungsfeldern der Prävention – wie Ernährung, Entspannung und Suchtmittelkonsum – noch mehr gefördert werden. Das Weißbuch bietet hierfür den verschiedenen Akteuren des Gesundheitssystems Impulse und regt zum gemeinsamen Handeln an. Es gilt – für die Vermeidung der wichtigsten Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie weiterer (Zivilisations-)Krankheiten unserer Zeit –, die Bewegung und die Entwicklung eines gesunden Lebensstils zu einer Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Dafür ist das gemeinsame Handeln aller Akteure über den Gesundheitsbereich hinaus sowie die Stärkung der Kompetenz und der Eigenverantwortung des Einzelnen erforderlich.
Die KKH hat sich dies bereits zur Aufgabe gemacht. Sie bietet ihren Versicherten ein breites Angebot von qualitätsgeprüften Präventionsmaßnahmen und ein Bonusprogramm für gesundheitsbewusstes Verhalten an. Zudem setzt die KKH auf Verhältnisprävention. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung eines bewegten Lebensstils von Kindesbeinen an. Das Projekt »Fitness für Kids« zeigt beispielsweise, dass Bewegung mit Spiel und Spaß auch bei sehr begrenzten finanziellen und räumlichen Gegebenheiten möglich ist und sich bei regelmäßiger Durchführung signifikante positive Effekte auf die motorischen Fähigkeiten der Kinder ergeben. Um frühzeitig Handeln zu können und Eltern und Kinder auf geeignete Maßnahmen aufmerksam zu machen, setzt die KKH auf die Unterstützung der Kinderärzte und übernimmt die Kosten für weitere Kinderuntersuchungen. Trotz dieser vielfältigen Ansätze sieht sich die KKH auch durch die Erkenntnisse aus dem aktuellen Weißbuch weiterhin in der Pflicht, bei ihren Versicherten für einen bewegten, gesundheitsbewussten Lebensstil zu werben und entsprechende zielgruppengerechte Angebote zu entwickeln sowie den Stellenwert der Bewegung bei der Therapie von Erkrankungen auszubauen. Zudem wird die KKH den Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis weiter fördern und die Zusammenarbeit ausbauen. Denn für die Förderung eines bewegten Lebensstils sind komplexe Ansätze erforderlich. Alle gesellschaftlichen Akteure sind aufgefordert, zu bewegungsfreundlichen Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen beizutragen. Hierzu bedarf es einer Bündelung der Kräfte aller Akteure, konzertierter Aktionen und Kampagnen, ausgerichtet auf abgestimmte (nationale) Gesundheitsziele sowie eines ressortübergreifenden Handelns der Politik. Diese Forderung gilt einmal mehr angesichts der aktuellen Diskussionen um ein Präventionsgesetz. Gesundheit muss bei allen Belangen mitbedacht werden. Nur die Krankenkassen in die Pflicht zu nehmen, ist nicht ausreichend. Die Krankenkassen haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend der Präven-
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Ausblick
tion und dem Abbau sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen angenommen und sowohl in der Verhaltens- als auch in der Verhältnisprävention ein breites Spektrum an qualitativ hochwertigen und erfolgreichen Angeboten geschaffen. Hier gilt die klare Forderung an die Politik, die Kompetenzen der Krankenkassen in diesem Feld zu stärken und bei allen geplanten Aktivitäten auf Wirksamkeit und Vernetzung zu setzen – und nicht auf werbewirksamen Aktionismus. Denn wenn die Stärkung der Prävention ernst gemeint ist, dann bedarf es auch auf politischer Seite klarer Signale, um eine gemeinsame Kampagne für mehr Bewegung auch im Alltag wiederzufinden. Dazu zählt beispielsweise auf kommunaler und regionaler Ebene die Schaffung von Bewegungsräumen durch städtebauliche Maßnahmen wie Spiel- und Sportplätze für Jung und Alt sowie sichere Fahrrad- und Fußwege. Aus bildungspolitischer Sicht ist die Aufnahme von gesundheitsförderlichen Aspekten in die Ausbildung von Lehrkräften und Erziehern zu fordern, damit in Kindertagesstätten und in Schulen Bewegung positiv entdeckt werden kann und zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens wird. Ein beweglicher Schulalltag in einem bewegungsanregenden Umfeld mit ergonomischem Mobiliar sollte keine Ausnahme sein. Den politischen Entscheidungsträgern liefert das Weißbuch eine Fülle von Möglichkeiten, wie mehr Bewegungsanreize geliefert werden können. Diese Optionen wird die KKH der Politik aufzeigen und ein aktives Handeln einfordern. Ebenso setzt die KKH auf den Dialog mit Wissenschaftlern und Praktikern im Gesundheitssystem. Erst wenn alle gemeinsam einen Beitrag dazu leisten, mehr Bewegungsanreize zu schaffen und zu geben, kann die epidemische Ausbreitung von Muskel-Skelett-Erkrankungen – insbesondere von Rückenschmerzen – eingedämmt werden. Wenn die derzeitigen Erkenntnisse konsequent umgesetzt und eine Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren erfolgen würde, wäre schon viel getan. Beispielsweise können Ärzte ihre Patienten zu mehr Bewegung motivieren und noch mehr auf die Angebote der Krankenkassen verweisen. Eine weitere Vernetzung von ärztlicher Behandlung, Präventionsmaßnahmen und eigenverantwortlichen Aktivitäten muss das Ziel sein. Darüber hinaus stellt sich immer wieder die zentrale Frage nach Möglichkeiten zur Förderung der Motivation und zur Stärkung der Eigenverantwortung. Hier besteht ein Bedarf an innovativen Konzepten. Bonusprogramme der Krankenkassen sind ein Weg. Andere Ansätze, wie Steuererleichterungen, finanzielle Anreize für Arbeitgeber oder die Ermöglichung einer kostenfreien Teilnahme von Sozialbenachteiligten an Angeboten in Sport- und Schwimmvereinen, sind zu diskutieren und zu prüfen. Den Blick für die Lösung eines zunehmenden gesundheitlichen Problems zu schärfen, dazu kann das vorliegende Weißbuch einen Beitrag leisten. In diesem Sinne
kann es allen Beteiligten an der gesundheitspolitischen Debatte sowie den Einzelnen in der Praxis und Wissenschaft als Standortbestimmung dienen und wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung positiver Ansätze bieten, sodass künftig für immer mehr Menschen Bewegung ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens wird. KKH – Die Kaufmännische
Glossar
Anthropologie/anthropologisch
DXA-Methode (Knochendichtemessung)
Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung in natur- und geisteswissenschaftlicher Hinsicht.
Dual-Energy X-Ray Absorptiometry – ein Verfahren zur Bestimmung der Knochendichte. Bei dieser Untersuchung werden zwei unterschiedlich starke Röntgenstrahlen durch das Knochengewebe an der Lendenwirbelsäule oder am Oberschenkel geschickt. Je nach Durchlässigkeit des Knochens dringt eine bestimmte Menge Strahlung durch den Knochen und ermöglicht die Berechnung des Knochenmineralgehalts im Untersuchungsbereich. Die Strahlungsmenge beträgt nur etwa ein Hundertstel einer Röntgenaufnahme.
Anthropometrie/anthropometrisch
Wissenschaft von den Maßverhältnissen am menschlichen Körper und deren exakter Bestimmung. Biopsychosoziales Modell
Systemischer Ansatz, der die Interaktion von Körper, Psyche und Umwelt einbezieht. Das biopsychosoziale Modell versucht, die verschiedenen Perspektiven zu verbinden, indem es sowohl die biologische (körperliche Gesundheit) als auch die psychologische (seelischer Zustand) und die soziale (Umwelt-)Systemebene sowie die Interaktion zwischen diesen drei Ebenen berücksichtigt. Krankheit wird danach nicht als isolierte Störung eines Organs aufgefasst, sondern als Störung des Gleichgewichts zwischen den Ebenen. Compliance
Bereitschaft eines Patienten zur Zusammenarbeit mit den im Gesundheitssystem Tätigen bzw. zur Mitarbeit bei diagnostischen, präventiven, rehabilitativen und therapeutischen Maßnahmen, z. B. Zuverlässigkeit, mit der Anweisungen befolgt werden. Die Compliance ist u. a. abhängig von: 1. Patientenmerkmalen, 2. soziodemographischen Indikatoren, 3. psychosozialen Einflussgrößen, 4. Besonderheiten des Krankheitsbildes, 5. Charakteristika der Behandlung, 6. Rahmenbedingungen. Coping
Umfasst unterschiedliche Arten der Stressbewältigung. Problemorientiertes Coping versucht z. B., Stress durch Veränderung der stressauslösenden Situation zu bewältigen, emotionsorientiertes Coping setzt an der Beeinflussung der eigenen Stressreaktionen und Gefühle an.
Eutonus/eutonisierend
Gesunde mittlere Körperspannung, sog. Wohlspannung der Muskulatur. Evidenz
Im Kontext der evidenzbasierten Medizin abgeleitet von englisch »evidence« für Nachweis oder Beweis. Informationen werden zur Entscheidungsfindung eingesetzt – in Form wissenschaftlicher Fragestellungen werden diese in klinischen Studien untersucht, bis sich Thesen erwiesen haben oder verworfen werden. So genannte Quellen aufbereiteter Evidenz (z. B. Leitlinien, systematische Reviews oder Health-Technology-Assessment-Berichte) sind im Gegensatz zu Originalarbeiten das für einen bestimmten Nutzerkreis zusammengestellte aktuelle, wissenschaftlich nachgewiesene Wissen. ICD-10
International Classification of Diseases and Related Health Problems werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt und im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ins Deutsche übertragen und herausgegeben. Bei der ICD-10 handelt es sich um die 10. Revision einer international einheitlichen hierarchischen Systematik
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Glossar
zur Erfassung und Klassifizierung von Krankheiten. Das Klassifikationssystem ist in 21 Kapitel unterteilt (z. B. Diagnosekapitel XIII »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes«). Jedes Kapitel untergliedert sich wiederum in mehrere gleichartige Diagnosegruppen (z. B. Diagnosegruppe »Arthrose« als eine der Gruppen des Diagnosekapitels »Krankheiten des Muskel-SkelettSystems«). Jede Diagnosegruppe umfasst dabei, auf der nächst tieferen Gliederungsebene, mehrere Einzeldiagnosen (z. B. die Diagnose »Koxarthrose« als eine von mehreren Einzeldiagnosen der Diagnosegruppe »Arthrose«). Neben den genannten drei Gliederungsebenen enthält der ICD-10 noch weitere Abstufungen, z. B. »Primäre Koxarthrose« als eine von mehreren Subkategorien der Einzeldiagnose »Koxarthrose«. ICF, Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
International Classification of Functioning, Disability and Health – erstellt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sie dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person; vor allem gebräuchlich in der Rehabilitation. Intervention
1. Jede Maßnahme, die zur Heilung, Linderung oder Prävention von Krankheiten oder zur Gesundheitsförderung eingesetzt wird. 2. In Interventionsstudien Bezeichnung für die Maßnahme, deren Wirksamkeit untersucht werden soll. Der Interventionsbegriff ist weit gefasst und umfasst u. a. Medikamente, Prozeduren und Verfahren, Programme und Gesetzesänderungen.
charakterisiert sind durch Absinken der Östrogenproduktion. Ein Jahr nach der letzten Menstruation beginnt die Postmenopause, in der die Östrogenproduktion stetig abnimmt. Östrogene (weibliche Geschlechtshormone) werden in den Eierstöcken gebildet; das wichtigste Östrogen ist Östradiol. Morbidität
Krankheitshäufigkeit innerhalb einer Population. Sie wird in bestimmten Größen (z. B. Prävalenz, Inzidenz) ausgedrückt; vgl. Komorbidität. National Health Service Trainer
Trainer, die den Organisationen des britischen Nationalen Gesundheits-Service (National Health Service) angehören und Personen bzw. Personengruppen in der Erreichung ihrer gesundheitlichen Ziele unterstützen, z. B. durch die Beseitigung von Barrieren oder die Erleichterung von Zugangswegen. Nozizeption/nozizeptiv
Die Schmerzwahrnehmung betreffend. Schmerzreize werden über A-delta- und C-Nervenfasern aus der Peripherie des Körpers zum Rückenmark geleitet. Für Erstschmerz sind schnellleitende A-delta-Fasern verantwortlich; dumpfer, schlecht zu lokalisierender Schmerz läuft über langsamer leitende C-Fasern. Osteomalazie
Knochenerweichung (Erkrankung), die durch eine zu geringe Versorgung mit Kalzium, einem Vitamin-D-Mangel oder einer Störung des Phosphatstoffwechsels entsteht. Dafür verantwortlich ist das Fehlen des Kalziumphosphats in der Knochenmatrix des Knochens. Pathogenese
Inzidenz
Anzahl der Neuerkrankungsfälle einer bestimmten Erkrankung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes; epidemiologisches Maß zur Charakterisierung des Krankheitsgeschehens in einer bestimmten Population, vgl. Prävalenz.
Die Pathogenese beschreibt die Entstehung einer physischen oder psychischen Erkrankung oder den Verlauf eines krankhaften Prozesses bis zu einer Erkrankung. Phylogenese/phylogenetisch
Entwicklung einer Art betreffend, Stammesgeschichte der Lebewesen.
Komorbidität
Bezeichnet das gleichzeitige Vorkommen von mehreren diagnostisch unterschiedlichen und eigenständigen Krankheits- oder Störungsbildern bei einer Person. Dabei müssen diese nicht unbedingt in einem ursächlich gemeinsamen Zusammenhang stehen; vgl. Morbidität. Menopause
Zeitpunkt der letzten Menstruation der Frau infolge Nachlassens der Ovarialfunktion (Eierstockfunktion), meist zwischen dem 47. und 52. Lebensjahr. Die Prämenopause beschreibt die Jahre vor Aufhören der Menstruation, die
Prävalenz
Häufigkeit des Vorliegens eines Ereignisses, z. B. einer Erkrankung, in einer bestimmten Population innerhalb eines bestimmten Zeitraums; Epidemiologisches Maß zur Charakterisierung des Krankheitsbestehens in einer bestimmten Population; vgl. Inzidenz. Die Prävalenzrate beschreibt den Anteil Erkrankter bzw. die Häufigkeit des Merkmals an der untersuchten Person/betrachteten Bevölkerung. Gleichzeitig ist sie die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällig aus der Bevölkerung ausgewählte Person erkrankt ist. Spezielle Prävalenzraten sind z. B. die
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jährliche Prävalenzrate (Prävalenz pro Jahr), und die Lebenszeitprävalenzrate (Prävalenz innerhalb der Lebensspanne). Prävention
Gesamtheit aller Maßnahmen, die eine gesundheitliche Schädigung gezielt verhindern, weniger wahrscheinlich machen oder verzögern. Primärprävention umfasst alle spezifischen Aktivitäten vor Eintritt einer fassbaren biologischen Schädigung zur Vermeidung auslösender oder vorhandener Teilursachen. Gesundheitspolitisches Ziel ist, die Neuerkrankungsrate einer Erkrankung in einer Population zu senken. Sekundärprävention umfasst alle Maßnahmen zur Entdeckung klinisch-symptomloser Krankheitsfrühstadien und ihre erfolgreiche Frühtherapie. Gesundheitspolitisches Ziel ist die Inzidenzabsenkung manifester oder fortgeschrittener Erkrankungen. Tertiärprävention ist die wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkrankung mit dem Ziel, Verschlimmerung und bleibende Funktionsverluste zu verhüten. Gesundheitspolitisches Ziel ist es, die Leistungsfähigkeit soweit wie möglich wiederherzustellen und die Inzidenz bleibender Einbußen und Behinderungen abzusenken. Teilweise Überschneidung mit Rehabilitation.
Recall Bias
Recall Bias (engl. Erinnerungsfehler, Erinnerungsverzerrung) bezeichnet eine Fehlerquelle vor allem in rückblickenden Studien. Gemeint sind Verzerrungen, die dadurch entstehen, dass die Probanden sich nicht mehr korrekt an Begebenheiten erinnern oder Begebenheiten im Nachhinein mehr oder weniger Bedeutung als ursprünglich zumessen. Rehabilitation
Prozess, der darauf abzielt, dass Menschen mit schweren gesundheitlichen Störungen ihr optimales physisches, sensorisches, intellektuelles, psychisches und/oder soziales Funktionsniveau wiedererlangen und aufrecht erhalten, indem ihnen Hilfestellungen zur Änderung ihres Lebens in Richtung eines höheren Niveaus der Unabhängigkeit gegeben werden. In Deutschland stellt die Rehabilitation einen integrativen Bestandteil des Gesundheitssystems dar. Ziel ist die Teilhabe, die u. a. die Wiedererlangung der Berufstätigkeit umfasst. Rezidiv/rezidivierend
Wieder auftretende bzw. wiederkehrende Krankheitssymptome. Salutogenese
Primary Care Nurses
Zusatzqualifikation für Fachkräfte im Pflegeberufen, die in primärmedizinischen Zentren arbeiten, z. B. in Großbritannien. Primary Health Care Zentren
Primärversorgungszentren, die allgemeinärztliche Versorgung, nichtärztliche Versorgung durch Physiotherapeuten und Pflegepersonal mit guter technischer Ausstattung und Versorgung rund um die Uhr sicherstellen, z. B. in den USA. Propriozeption
Die Wahrnehmung von Eigenbewegung(en) durch Informationen aus Muskeln, Sehnen und Gelenken betreffend.
Bezeichnet die Gesamtheit biologischer, psychischer und sozialer Ressourcen, die die Gesundheit fördern und – nicht nur Risiken – zu verhindern vermögen. Statt nach Krankheitsursachen und Risikofaktoren fragt die Salutogenese vorrangig danach, warum Menschen gesund bleiben. Nach Aaron Antonovsky (1923–1994) lassen sich salutogene Wirkungen besonders gut auf der psychosozialen Ebene beschreiben, und zwar in Form eines ausgeprägten »Kohärenzsinns«. Menschen, die Ereignissen ihrer Umwelt mit einem höheren Grad an Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit begegnen, weisen ein erhöhtes Gesundheitspotential auf. Salutogenese untersucht – im Gegensatz zur Pathogenese – personale und lebensweltliche Faktoren, die zur Erhaltung von Gesundheit beitragen. Standardisierung
Randomisierung
Zufallsaufteilung von Probanden auf die einzelnen Versuchsgruppen (Interventions- und Kontrollgruppen). Ziel ist die Ausschaltung der »störenden« Einflüsse auch unbekannter Drittvariablen. Bei Randomisierung unterscheiden sich die beiden Gruppen nur bezüglich der Interventionsmaßnahme selbst. Alle anderen Charakteristika wie z. B. Alter, Geschlecht, Sozialstatus sind in beiden Gruppen nahezu gleich verteilt. Randomisierte kontrollierte Studien gelten als Goldstandard, sind in der Versorgungsforschung unter Alltagsbedingungen aber oft nicht möglich.
Bei Vergleichen zwischen Bundesländern und Berufsgruppen ist zu berücksichtigen, dass sich die Geschlechtsverteilung und Altersstruktur in den einzelnen Bundesländern bzw. Berufsgruppen unter Umständen deutlich unterscheidet. Durch ein geeignetes Standardisierungsverfahren muss ausgeschlossen werden, dass Unterschiede z. B. im Ausmaß von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems in den einzelnen Bundesländern und Berufsgruppen durch derartige Differenzen in der Geschlechts- und Altersstruktur bedingt sind. Mit Hilfe der Methode der direkten Standardisierung wird daher allen Teilpopulationen rechnerisch die gleiche Geschlechts-
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Glossar
und Altersstruktur unterlegt. Im vorliegenden Weißbuch wird dabei jeweils die Geschlechts- und Altersverteilung der Bevölkerung in Deutschland (Stand Ende 1993) als Referenz für die Standardisierung verwendet. Versicherungsjahre
Eine übliche Vorgehensweise bei Routinedarstellungen zu Daten von Krankenkassen, die veränderlichen Populationen im zeitlichen Verlauf adäquat Rechnung trägt, ist die Angabe in Bezug auf Versicherungszeiten (z. B. je 1, je 100 oder je 1000 Versicherungsjahre). Durch diesen rechnerischen Bezug auf Versicherungsjahre können auch Personen mit nur zeitweiliger Versicherung innerhalb eines Kalenderjahres angemessen berücksichtigt werden. Vestibularsystem
Das Vestibularsystem ist darauf ausgerichtet, Richtungsund Ortsveränderungen sowie die Lage des Körpers im Raum zu erfassen. Für dieses Erkennen ist Bewegung und Beschleunigung erforderlich. Eine weitere Leistung des Vestibularsystems ist die Aufrechterhaltung des (Körper-) Gleichgewichts.
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www.fit-fuer-pisa.de Fotos Kap. 10.6
Frank Brünner, Berlin Kap. 11.2
Dr. Dieter Breithecker, Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V., Wiesbaden Kap. 11.3
Fridtjof-Nansen-Grundschule, Hannover