Weißbuch Prävention 2005/2006
Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze
Weißbuch Prävention 2005/20...
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Weißbuch Prävention 2005/2006
Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze
Weißbuch Prävention 2005/2006
Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze
123
Herausgeber:
KKH Kaufmännische Krankenkasse Hauptverwaltung Karl-Wiechert-Allee 61 30625 Hannover Telefon 0511 2802-0 Telefax 0511 2802-3299 In Zusammenarbeit mit: MHH Medizinische Hochschule Hannover Stiftungslehrstuhl Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung an der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung Projektleitung: Prof. Dr. Ulla Walter (wiss. Bearbeitung) Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Telefon 0511 532-0 www.mh-hannover.de
ISBN 3-540-32661-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN 978-3-540-32661-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Design: deblik Berlin Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Druck: Stürtz AG, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
SPIN 11672944
5135 – 5 4 3 2 1 0
V
Inhaltsverzeichnis 1
2
Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze – das Weißbuch Prävention der Kaufmännischen . . . . . . . . . . 1
3 4 5 7 8 9
6.3
Stress im internationalen Vergleich . . . . . . 13
Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Stellenwert von psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . 30 Relevanz von psychischen Störungen in unterschiedlichen Versichertengruppen . . . . . . . . . . . . . 39 Störungen durch Alkohol. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Psychische Störungen und Pflegebedürftigkeit . . . . . . 55 Fazit und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5
6.4
6
Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . 79
6.1
Lebensweltbezogene Risiken und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Stress: Ursachen und Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Lebensbereich Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Lebensbereich Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Stress dynamisch balancieren – personale und institutionelle Erfolgsvariablen für die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Problem- und Zielstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Gesundheitsförderliche Umsetzung des Bildungsund Erziehungsauftrages in der Schule . . . . . . . . . . . . . 107 Umsetzung in der Fridtjof-Nansen-Schule . . . . . . . . . . 108 Fachliche und personale Kompetenzen als individuelle Widerstandsressourcen im Umgang mit Störfeldern im Schulalltag weiterentwickeln – Professionelles Selbstverständnis der Lehrkräfte fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Stresstheoretische Modelle . . . . . . . . . . . . . 63 Biologische Stressmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Soziologische Stressmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Psychologische Stressmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Ressourcenfokussierte Stressmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Arbeitsweltbezogene Stressmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Biopsychosoziale Sichtweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Zusammenfassung und Folgerungen für die Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Suchtprävention mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Ansätze der Suchtprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Wirksamkeit suchtpräventiver Maßnahmen mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Lebenskompetenzförderung als Ansatz der Suchtprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Suchtpräventive Lebenskompetenzprogramme in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Inhalte suchtpräventiver Lebenskompetenzprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Stressbelastung verschiedener Bevölkerungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Stress im Erwerbsleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
4
Belastungen in der Familie und Ansätze der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Entwicklungsförderliches Erziehungsverhalten im Spiegel aktueller Forschungsbefunde . . . . . . . . . . . . 86 Ausgewählte Risikofaktoren im Familienkontext . . . . . 89 Präventionsansätze zur Stärkung von elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen . . . . . . . . . . 92 Zur Wirksamkeit der Präventionsansätze . . . . . . . . . . . . . 95 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Grundlagen zu Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stressgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
6.2
6.5
Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte: das schweizerische Forschungsprojekt supra-f . . . . 118 Universelle, selektive und indizierte Prävention . . . . . 118 Vorteile der selektiven und indizierten Prävention . . 118 Das Interventionsforschungsprogramm supra-f . . . . . 119 Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
6.6
Lebensweltbezogene Prävention: Ansätze und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . 126 Herausforderungen für die Wissenschaft. . . . . . . . . . . . 129 Herausforderungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
VI
Inhaltsverzeichnis
7
Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131
7.1
Arbeitsweltbezogene Risiken und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
7.2
Anforderungen in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit . . . . . . . . . . . . 141 Aktuelle Entwicklungen in der Arbeitswelt. . . . . . . . . . 141 Stress in der Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
7.3
Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Ebenen von Stressmanagementinterventionen . . . . . 148 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Studienschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Individuelle Stressinterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Organisatorische Stressinterventionen und ihre Kombinationen mit individuellen Maßnahmen . . . . . 156 Herausforderungen und Ansätze zur Prävention . . . . 159 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
7.4
Psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkennen und reduzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
7.5
Ein neues Präventionsleitbild psychischer Belastungen am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Zwei unterschiedliche Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Sind Computer »Attraktoren« für ungesundes Arbeitsverhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Ein neues Leitbild der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
7.6
Arbeitsweltbezogene Prävention: Ansätze für Wissenschaft und Praxis . . . . . . . . . . 174 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
8
Prävention von Stress: Ansätze und Umsetzung in Deutschland . . . . . . . .179 Interview mit Experten der Wissenschaft und der Versorgungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
9
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .187 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .189
VII
Autorenverzeichnis Koautoren
Prof. Dr. Rolf Meermann
Prof. Dr. Johannes Siegrist
Dr. Anneke Bühler
Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont, Bad Pyrmont
IFT Institut für Therapieforschung, München
Universitätsklinikum Düsseldorf, Institut für Medizinische Soziologie, Düsseldorf
Dr. Elisabeth Pott
Prof. Dr. Antje Ducki
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln
Technische Fachhochschule Berlin, Fachbereich I: Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, Berlin
Statements
Dr. Franz Friczewski
Dr. Detlef Dietrich
Held und Partner, Hannover
Dr. Kathrin Heppekausen
Medizinische Hochschule Hannover, Abt. Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Hannover
Pathways – Therapeutische Wohngemeinschaften, München
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Bernhard Meili
Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Bielefeld
Dr. Thomas Suermann Ärztekammer Niedersachsen, Hannover Niedergelassener Internist, Göttingen
Prof. Dr. Manfred Zielke
Bundesamt für Gesundheit, Sektion Jugend, Ernährung, Bewegung, Bern, Schweiz
Prof. Dr. Gert Kaluza GKM – Institut für Gesundheitspsychologie, Marburg
Bruno Reddehase Staatliches Gewerbeaufsichtsamt Hannover, Fachreferat »psychische Belastungen«, Hannover
Dr. Wilfried Kunstmann Bundesärztekammer, Berlin
Ministerin Ursula von der Leyen Hermann Städtler Fridtjof-Nansen-Schule, Hannover
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin
Prof. Dr. Sabine Walper
Dr. Rolf Manz
Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Pädagogik, München
Bundesverband der Unfallkassen, München
Prof. Dr. Rolf Meermann
Interview
Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont, Bad Pyrmont
Prof. Dr. Dr. Uwe Koch
Dr. Doris Pfeiffer
Universitätsklinikum HamburgEppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Hamburg
Verband der Angestellten-Krankenkassen e. V., Arbeiter-ErsatzkassenVerband e. V., Siegburg
Dr. Elisabeth Pott Prof. Dr. Friedhelm Lamprecht Medizinische Hochschule Hannover, Abt. Psychosomatik und Psychotherapie, Hannover
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln
Wissenschaftsrat der Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG, Mönkeberg Universität Mannheim, Fakultät für Sozialwissenschaften, Fachbereich Klinische Psychologie, Mannheim
Redaktionsgruppe MHH/ISEG Medizinische Hochschule Hannover (MHH), Stiftungslehrstuhl Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung an der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) e. V. Witten/Hannover
Prof. Dr. Ulla Walter (Projektleiterin und wissenschaftliche Bearbeitung) Dipl.-Oec.-Troph. Martina Plaumann, MPH (Koordination) Dipl.-Psych. Anja Busse Dipl.-Soz.-Wiss. Hans Dörning Dr. Ulrike Klippel, Dipl.-Ghl. Christoph Lorenz
1 Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze – das Weißbuch Prävention der Kaufmännischen
Der Begriff »Stress« hat in den vergangenen Jahrzehnten in unserer Gesellschaft an Bedeutung und Popularität gewonnen und Eingang in die Alltagssprache gefunden. Äußerungen wie »Ich habe keine Zeit, ich bin im Stress« und »Das stresst mich« sind am Arbeitsplatz, in der Schule und selbst in der Freizeit gang und gäbe. Stressäußerungen haben gesellschaftlich eine hohe Akzeptanz und vermitteln den Eindruck, wichtig und unabkömmlich zu sein.
Stress kann verstanden werden als emotionale, kognitive, physiologische und verhaltensbezogene Reaktion auf die subjektiv erlebte Diskrepanz zwischen persönlichen, sozialen, instrumentellen und strukturellen Ressourcen und den Anforderungen der Umwelt. Die auch in Deutschland insbesondere seit den 1990er Jahren spürbaren Veränderungen, wie zunehmende Arbeitsintensität, Leistungsorientierung, Informationsüberfluss und -überreizung, Globalisierung, Pluralisierung der Gesellschaft einschließlich kultureller Vielfalt, aber auch vermehrte Individualisierung und erhöhte Anforderungen an Flexibilität, Mobilität und Eigenverantwortung sowie die Diskussion um den Umbau der Sozialsysteme und dem damit verbundenen Abbau sozialer Versicherungsversprechen stellen Herausforderungen an jeden Einzelnen und an die Gesellschaft dar und führen zu vermehrt wahrgenommener Belastung. Nach Aussage der Europäischen Kommission stehen stressassoziierte arbeitsbezogene Gesundheitsprobleme an zweiter Stelle der Krankheitshäufigkeit nach MuskelSkelett-Erkrankungen und führen zu hohen Arbeitsausfällen. Stress, Depression und Angst werden inzwischen auch subjektiv als zweithäufigste arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden wahrgenommen. Mit dem Band »Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze« setzt die KKH die Reihe der
Weißbücher Prävention fort. Das vorliegende Buch geht folgenden Fragen nach: ▬ Wie kann Stress definiert werden? ▬ Wie hoch ist das subjektive Stresserleben in der Bevölkerung? Wie hoch ist es insbesondere aufgrund von Situationen am Arbeitsplatz? ▬ Welche Gruppen von Versicherten weisen besonders hohe Leistungsinanspruchnahmen und Ausgaben bzgl. körperlich und psychisch relevanter stressassoziierter Störungen auf? ▬ Welchen stressassoziierten Belastungen sind bereits Kinder und Jugendliche ausgesetzt? Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Belastungen und ihren gesundheitsbeeinträchtigenden Auswirkungen vorzubeugen? ▬ Welche Stressoren und kompensatorische Ressourcen liegen in der Arbeitswelt vor? Wie wirksam sind präventive Interventionen zur Verminderung von bzw. zum Umgang mit Stress am Arbeitsplatz? ▬ Wie können insbesondere stressassoziierte psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkannt werden? Wie können diese in der Praxis verhindert bzw. reduziert werden? Ausgehend von den Grundlagen verschiedener Stresstheorien zeigt das vorliegende Weißbuch das Verständnis unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen auf. Das Kapitel »Stresstheoretische Modelle« geht möglichen Ursachen sowie Reaktionen von Stress nach. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf arbeitsplatzbezogenen Stressmodellen. Stress führt zu vielfältigen physiologischen, endokrinologischen und immunologischen Prozessen, die in verschiedene krankmachende Prozesse oder Krankheitsverläufe einfließen können. Da die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme jedoch keine Kodierung von Stressproblemen erlaubt, finden sich die Auswirkungen von Stress nur indirekt in krankheitsbezogenen objektiven Daten wieder.
2
1
Kapitel 1 · Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze – das Weißbuch Prävention der Kaufmännischen
Hierzu legt das vorliegende Weißbuch eine Analyse der leistungsbezogenen Daten der KKH vor. Diese so genannten Routinedaten bieten die größte Dichte an gesundheitsrelevanten Informationen zur Bevölkerung und vermitteln einen differenzierten Einblick in die Häufigkeit von Erkrankungen und Kosten ihrer Behandlung sowie zu ihrer Verteilung nach Alter, Geschlecht, Berufsgruppen und Regionen der Bevölkerung in Deutschland. Die bereits im »Weißbuch Prävention! HERZgesund?« durchgeführte detaillierte Analyse der Routinedaten der KKH der Jahre 2000 bis 2002 wird im vorliegenden Report unter besonderer Berücksichtigung psychisch relevanter Störungen um das Jahr 2003 fortgeschrieben. Die Auswertung der Routinedaten belegt, dass von Stress (mit-)verursachten psychosomatischen Gesundheitsbeschwerden, psychischen Störungen sowie Alkoholproblemen nicht nur Erwachsene mittleren Lebensalters betroffen sind, sondern auch Kinder und Jugendliche. Das vorliegende Weißbuch der KKH betrachtet daher insbesondere die zwei wichtigen Lebensphasen mit den für sie zentralen Lebensbereichen: ▬ Kindheit und Jugend, mit den Lebensbereichen Familie und Schule sowie ▬ mittleres Lebensalter mit dem Lebensbereich Arbeitswelt. Im einleitenden Kapitel werden jeweils zentrale lebensphasen- und lebensbereichsspezifische Stressoren sowie mögliche Ressourcen dargestellt, die in den nachfolgenden Beiträgen vertieft werden. Es werden Maßnahmen aufgezeigt, die dazu beitragen, durch Stress mitverursachte Erkrankungen anhand präventiver lebensweltbezoge-
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz, Medizinische Hochschule Hannover
ner und individueller Interventionen zu verhindern oder zumindest zu verringern. Im Kapitel »Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter« werden vor allem Belastungen in der Familie, die durch konfliktreiche Familienkonstellationen und Erziehungsstile begründet sind, analysiert. Das Kapitel verdeutlicht sowohl in theoretischen, studienbasierten Beiträgen als auch anhand von Praxisbeispielen aus dem schulischen und außerschulischen Bereich Ansätze zur Prävention. Im Kapitel »Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt« wird der Entwicklung der Stressbelastung von Erwerbstätigen sowie Stressoren und Ressourcen in der Arbeitswelt nachgegangen. Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche zur Prävention von Stress im Bereich Arbeit werden dargestellt. Sich nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ergebende Anforderungen an Wissenschaft, Unternehmen und Versorgungsprozesse werden abschließend aufgezeigt. Ein Interview mit Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen zu Herausforderungen an die Wissenschaft und die Praxis sowie Anforderungen an erfolgreiche Lösungsansätze runden die Darstellung ab. Mit dem vorliegenden Weißbuch »Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze« greift die Kaufmännische Krankenkasse erneut ein gesellschaftlich aktuelles und zukünftig bedeutsames Thema auf. Mit der Aufbereitung internationaler Studien, nationaler und kasseninterner Daten sowie mit der Darstellung ausgewählter Projekte liefert sie einen eigenen Beitrag für die Weiterentwicklung von Präventionsansätzen in Deutschland und für zielgruppenorientierte Interventionen.
Ingo Kailuweit, KKH-Vorstandsvorsitzender
2 Grundlagen zu Stress Martina Plaumann, Anja Busse, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Der Begriff »Stress« wird je nach Disziplin und theoretischem Ansatz unterschiedlich definiert, was eine allgemeine Stressdefinition erschwert. Das folgende Kapitel stellt unterschiedliche Erklärungsansätze für Stress vor, beschreibt Ursachen für stresshaftes Geschehen sowie dessen Folgen und mögliche Präventions- oder Schutzmaßnahmen. Anhand von zwei Studien wird gezeigt, wie das soziokulturelle Umfeld die psychische Gesundheit der Bevölkerung beeinflussen kann.
Begriffsbestimmung Der Begriff »Stress« (lat. strictus: straff) wurde aus dem Englischen übernommen und bedeutet im technisch-physikalischen Kontext Druck, Belastung oder Spannung. In der Alltagstheorie wird unter Stress meist die psychosoziale Belastung verstanden und bezeichnet jene Situationen, die beispielsweise Störungen, Irritationen und Angst hervorrufen und zu einer Beeinträchtigung des psychischen oder physischen Wohlbefindens beitragen. So führen Stressoren wie z. B. hoher Lärmpegel, Verkehrsdichte oder Arbeitsüberlastung zu einem belasteten oder gespannten Zustand, der mit Gefühlen von Ärger, Angst, Aggressivität, Hilflosigkeit und ihren physischen Korrelaten wie Herzklopfen, Magendrücken oder Schweißausbrüchen einhergeht. Die eigene Wahrnehmung, das eigene Erleben des Stresszustandes und der damit gekoppelten Gefühle ist die subjektive Seite dieser Belastungen, die grundlegend verschieden ist von der objektiven naturwissenschaftlichen Beschreibung des Stresszustandes (Prinz 2004 u. Henry 1992, zitiert nach Rensing et al. 2006). Im modernen wissenschaftlich-medizinischen Zusammenhang wurde Stress zum ersten Mal 1944 – und zwar im Index der »Psycholo-
gical Abstracts« – genannt (zitiert nach Lazarus u. Folkman 1984). Hans Selye, einer der ersten Stressforscher in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, verwendete den Begriff »Stress« erstmals 1950 im Titel einer Monographie. Durch seine Arbeiten wurde der Begriff »Stress« bekannt; auf Selye (1956) geht auch die Unterscheidung zwischen Distress und Eustress, also zwischen negativ und positiv erlebtem Stress, zurück ( Kap. 5). Die einschlägigen Disziplinen und theoretischen Ansätze, die die Beziehung zwischen Stress und Einflüssen auf die Gesundheit untersuchen, definieren den Begriff Stress unterschiedlich. So ist es nicht möglich, eine allgemein gültige Stressdefinition zu finden (Nitsch 1981). Im gesundheitswissenschaftlichen Bereich liegt aufgrund der komplexen geschichtlichen Entwicklung des Stresskonzeptes und der Verknüpfung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen eine allgemein gültige einheitliche Definition von »Stress« derzeit ebenfalls nicht vor (Esch 2002). Wort Stress wird häufig mehrdeutig benutzt. Einer» Das seits werden unter dem Begriff Stress stressauslösende Bedingungen (»Stressoren«) verstanden, z. B. berufliche Konflikt- und Belastungssituationen, Partnerschaftsprobleme, Zeitdruck, andererseits aber auch die individuelle Stressreaktion mit den typischen Begleiterscheinungen wie Bluthochdruck, Schwindel, Appetitlosigkeit, Erschöpfung, Grübeleien, Schlafproblemen. Prof. Dr. Rolf Meermann, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
«
Die Medizin definiert Stress als einen »Zustand des Organismus, der durch ein spezifisches Syndrom (wie erhöhte Sympathikusaktivität, vermehrte Ausschüttung von Katecholaminen, Blutdrucksteigerungen u. a.) gekennzeichnet ist, jedoch durch verschiedenartige unspezifische Reize (wie Infektionen, Verletzungen, Verbrennungen, Strah-
4
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Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
leneinwirkung, aber auch Ärger, Freude, Leistungsdruck und andere Stressfaktoren) ausgelöst werden kann. Unter Stress können auch die äußeren Einwirkungen selbst verstanden werden, an die der Körper nicht in genügender Weise adaptiert ist. Psychischer Stress entsteht infolge einer Diskrepanz zwischen spezifischen Anforderungen und subjektivem Bewältigungsverhalten (Coping). Andauernder Stress kann zu Allgemeinreaktionen im Sinne eines allgemeinen Anpassungssyndroms führen« (Pschyrembel 1998, S. 1517f.). Die Naturwissenschaften weisen darauf hin, dass die vielfältigen Formen von Stress nicht nur Reaktionen und Veränderungen in Psyche, Gehirn und Körper hervorrufen können, sondern auch auf der Ebene der Zellen und Moleküle (Rensing et al. 2006). In der Arbeitswissenschaft wird unter Stress ein »Zustand anhaltender und angstbetonter, erregter und unangenehmer Gespanntheit [verstanden], der sich durch psychische Überaktivierung und subjektive Bedrohung auszeichnet, er schlägt sich in überhastetem Tempo, fahrigen Bewegungen und übermäßigem Kraftaufwand bei der Arbeit nieder« (Oppolzer 1999, S. 736). Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2002, S. 3) berücksichtigt auch die auslösenden Faktoren in der Arbeitswelt und definiert (arbeitsbedingten) Stress als die »emotionale, kognitive, verhaltensmäßige und physiologische Reaktion auf widrige und schädliche Aspekte des Arbeitsinhalts, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung«. Stress ist somit ein Zustand, der durch hohe Aktivierungs- und Belastungsniveaus gekennzeichnet und oft mit dem Gefühl verbunden ist, man könne die Situation nicht bewältigen. Nach dem Gesundheitspsychologen Kaluza (2004, S. 12) bezeichnet der Begriff Stress »ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich – im weitesten Sinne – mit der Bedeutung sozioemotionaler Belastungserfahrungen für die körperliche und psychische Gesundheit befasst«. Ausgehend von der unterschiedlichen Verwendung des Stressbegriffs in den einzelnen Disziplinen können vier Perspektiven unterschieden werden (u. a. Kaluza 2004). Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen finden sich auch in den stresstheoretischen Modellen wieder, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Verständnis der Entstehung von Verarbeitung von Stress entwickelt wurden ( Kap. 5). Gemein ist den unterschiedlichen Perspektiven und Definitionen von Stress die Vorstellung, dass »die Anforderungen der Umwelt die adaptive Kapazität eines Organismus stark in Anspruch nehmen oder übersteigen; dies führt zu psychologischen und biologischen Veränderungen, die die Personen dem Risiko einer Krankheit aussetzen können« (Cohen et al. 1995, S. 3). Diese Definition wird – sofern nicht anders vermerkt – dem vorliegenden Weißbuch »Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze« zugrunde gelegt.
Perspektiven von Stress
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▬ Die biologische Perspektive untersucht Änderungen der physischen oder psychischen Homöostase (Gleichgewicht des Organismus), die durch die verfügbaren, routinemäßigen Reaktionen nicht ausgeglichen werden können. Die körperlichen Reaktionen als Antwort des Organismus auf jede Art von Belastungen stehen im Fokus dieser Betrachtung. ▬ Die soziologische Perspektive befasst sich mit den Abweichungen von subjektiven Sollwerten hinsichtlich zentraler psychischer Motive und Bedürfnisse, wie Anerkennung, Sicherheit, Kontakt und Selbstverwirklichung. Diese Diskrepanz führt zu Stress. Im Zentrum dieser Betrachtungsweise stehen die Belastungen (Stressoren), die – so die Annahme – jeweils spezifische Stressreaktionen hervorrufen und unterschiedliche Verhaltensweisen zu ihrer Bewältigung erfordern. ▬ Die psychologische Perspektive betrachtet vor allem die kognitive sowie emotionale Verarbeitung von Belastungen und ihre Wirkung auf die Intensität und Qualität von Stressreaktionen. Dabei ist die subjektive Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung eines Reizes ausschlaggebend dafür, ob und inwieweit er als Stress (auslösend) empfunden wird. ▬ Die salutogenetische Perspektive beschäftigt sich mit (gesundheitsbezogenen) Schutzfaktoren, auf die während der Verarbeitung einer Stresssituation zurückgegriffen werden kann. Inwieweit eine Situation als Stress empfunden wird und ein Individuum die damit verbundenen Anforderungen erfolgreich überwindet, hängt danach von vorhandenen externen und individuellen Ressourcen ab.
Stressgeschehen Bei einem Stressgeschehen können drei Ebenen differenziert werden, die in der Stressforschung der letzten Jahrzehnte unterschiedlich stark betont wurden (u. a. Kaluza 2004): ▬ unter Stressoren werden die existierenden Bedingungen und Situationen verstanden, ▬ Stressreaktionen sind die physischen und psychischen Reaktionen des Individuums auf diese Belastungen und ▬ Stressverstärker umfassen die persönlichen Motive, Einstellungen sowie Bewertungen des Individuums, die zwischen den äußeren Stressoren und den Stressreaktionen vermitteln und den Ausschlag geben, ob und wie ausgeprägt eine Stressreaktion auftritt.
5 Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
Die komplexen Zusammenhänge des Stressgeschehens können anhand einer »Stress-Ampel« (⊡ Abb. 2.1) dargestellt werden. Ein angemessener Stresslevel ist in vielen Lebenssituationen unabdingbar, um beispielsweise eine hohe Leistungsfähigkeit zur Bewältigung einer herausfordernden Situation zu erreichen. Wenn Individuen sich allerdings von den an sie gestellten Anforderungen überbeansprucht fühlen, wird ihr mentales, emotionales und körperliches Wohlbefinden beeinträchtigt. Wann etwas als Stressor empfunden wird, hängt von zahlreichen individuell unterschiedlich ausgeprägten Faktoren ab. Hierzu zählen die Persönlichkeit mit ihren charakteristischen Persönlichkeitsmerkmalen, die Wahrnehmung der stressvollen Situation, die Anzahl der Stressoren, die individuelle Toleranzgrenze von Stress sowie die vorhandenen Ressourcen und ihre Nutzung (Breinbauer u. Maddaleno 2005). Eine Studie, die diesen Zusammenhang verdeutlicht ist die Midtown-Manhattan-Studie (s. Infobox, S. 10f.). Sie untersuchte als erste epidemiologische Untersuchung den Einfluss des soziokulturellen städtischen Umfeldes auf die psychische Gesundheit und zeigte eine Charakterisierung der Betroffenen auf.
Stressoren Unter Stressoren werden die Bedingungen und Situationen verstanden, die Reaktionen beim Individuum hervorrufen. Diese sind individuell unterschiedlich und können sich positiv als auch negativ auswirken. So kann eine neue Arbeitsstelle beispielsweise einerseits als willkommene Herausforderung angesehen werden und zu engagierter Arbeitstätigkeit motivieren, anderseits kann sie Versagensängste auslösen und zu gesundheitlichen Problemen führen. Meistens wird ein Stressor jedoch mit negativen Reaktionen assoziiert. Stressoren sind auch von dem jeweiligen Lebensabschnitt abhängig (⊡ Abb. 2.2). Während beispielsweise für Jugendliche belastende Situationen im Zusammenhang mit ihrer Peer-Gruppe (Gleichaltrigengruppe) und der Schule bestehen, treten Stressoren bei Erwachsenen u. a. im Zusammenleben mit einem Partner und am Arbeitsplatz, aber auch in der Betreuung zu pflegender Angehöriger auf. Orte der Stressentstehung » Dagibt,esdieunterschiedliche Familie, die Schule, den Betrieb usw. müssen Ansätze zur Stressprävention diese unterschiedlichen Ausgangssituationen berücksichtigen. Je nachdem muss also Stressprävention bei der Konfliktkonstellation in der Familie, bei der schulischen Überforderungssituation, bei den Arbeitsbedingungen im Betrieb usw. ansetzen. Dr. Elisabeth Pott, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln
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Stress - was ist das eigentlich?
Die »Stress-Ampel« Ich gerate in Stress, wenn ...
Ich setze mich selbst unter Stress, indem ...
Wenn ich im Stress bin, dann ...
Stressoren
Motive Einstellungen
Stressreaktion
Leistungsanforderungen Zuviel Arbeit Soziale Konflikte Zeitdruck Störungen
Ungeduld Perfektionismus Kontrollambitionen Einzelkämpfertum Selbstüberforderung
Körperliche Aktivierung
langfristig
Erschöpfung/ Krankheit ⊡ Abb. 2.1. Stress-Ampel (Kaluza 2004)
Psychische Aktivierung
Neben den in ⊡ Abbildung 2.2 dargestellten Stressoren aus dem persönlichen und institutionellen Bereich können existenzbedrohende Stressbelastungen wie unkontrollierte staatliche Gewalt, Krieg, Terror sowie in den Ländern der »Dritten Welt« Armut, Nahrungsmangel, Hitze und Kälte oder Krankheiten Stressauslöser sein (Rensing et al. 2006). Eine Auswahl an Stressoren, die insbesondere in den Industrienationen existieren, zeigt ⊡ Abbildung 2.3. Die spezifischen Belastungen der Zielgruppen Kinder und Jugendliche sowie Erwerbstätige, auf die in vorliegendem Weißbuch fokussiert wird, sind in Kap. 6 »Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter« sowie in Kap. 7 »Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt« aufgezeigt. Die große Anzahl an Stressoren kann auf unterschiedliche Weise, oftmals nicht trennscharf, eingeteilt werden (Rensing et al. 2006): ▬ Wahrnehmungsebene: Stressoren können einerseits über neuronale Prozesse wahrgenommen werden wie Erwartungsdruck, Arbeitsbelastung oder Lärm. Andererseits können sie direkt auf den Körper und seine Zellen einwirken, z. B. körperliche Belastungen, Verletzungen, Strahlungen, Viren, Bakterien. ▬ Herkunft von Stressoren: Stressoren können von außerhalb des Organismus stammen (exogen) oder aus dem
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Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
allgemeine Stressoren, z.B.:
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spezifische Stressoren bedingt durch Probleme mit Personen / Institutionen
Umwelt, sozioökonomische Bedingungen, Gesellschaft, Genetik
Mutter
Eltern Geschwister Freunde
pränatal
kindlich
Familie Schule Peer-Gruppe
jugendlich
Familie Lebenspartner Beruf
Familie Pflege
erwachsen
alt
Individuelle entwicklungsabhängige Stressreaktionen abhängig von der individuellen Stresssensivität u.a. bedingt durch Genetik und Erfahrungswerte
⊡ Abb. 2.2. Stressoren im Lebensverlauf (mod. nach Rensing et al. 2006)
Stressoren
Setting Familie, z.B.: Familienkonflikte Krankheit, Tod Trennungen Arbeitslosigkeit Setting Arbeit, z.B.: Arbeitsklima, Lärm Zeitdruck Verantwortung Setting Schule, z.B.: Prüfungen Notendruck schlechtes LehrerSchüler-Verhältnis soziale Ausgrenzung sonstige, z.B: nachteiliges Wohnumfeld niedriger sozialer und wirtschaftlicher Status Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit
Ressourcen
Folgen
(+)(+)(+)
(+)(+)(+)
physiologischsomatisch, z.B.:
externe Ressourcen, z.B.:
Kopfschmerzen Magen-DarmBeschwerden Herz-KreislaufErkrankungen
gute und feste Freundschaften materielle Absicherung
(-)(-)(-)
kognitiv-emotional, z.B.:
individuelle Ressourcen, z.B.:
Ängste Schlafstörungen Burnout Depressionen
gute physiologische Verfassung soziale Fähigkeiten Bildung Optimismus Kohärenzgefühl Widerstandsfähigkeit Kontrollüberzeugung hohe Selbstwirksamkeitserwartung
Verhalten, z.B.: vermehrte Konflikte Leistungsabfall Isolierung Sucht
(-)(-)(-)
⊡ Abb. 2.3. Stressoren, Folgen und Ressourcen von Stress (eigene Darstellung nach Myers 2005; Zimbardo u. Gerrig 1999)
7 Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
Organismus selbst (endogen). Die exogenen Stressoren sind dabei eindeutig abzugrenzen und umfassen soziale Stressoren sowie Stressoren aus der physikalischen, chemischen und biologischen Umgebung. Die endogenen Stressoren schließen psychische Konflikte, aversive Gefühle, physiologische Belastungen (z. B. Hochleistungen) und zelluläre Stressoren ein. Sie können jedoch auch als Reaktion auf die exogenen Stressoren auftreten wie z. B. die körperlichen Symptome von Angst, Blutverlust oder Schmerz nach Verletzungen oder die Erschöpfungszustände bei Krankheit oder Flucht. ▬ Dauer und Intensität von Stressoren: Je nach Dauer und Intensität kann derselbe Stressor unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Eine weitere Klassifizierung von Stressoren findet sich in Kap. 5 unter den soziologischen Stressmodellen, die sie aufteilen in ▬ chronische Stressoren (z. B. soziale Bedingungen), ▬ wichtige Lebensereignisse (z. B. Heirat, Geburt eines Kindes) und ▬ tägliche Stressoren (z. B. ständige Unterbrechung der Arbeit).
Folgen Stressreaktionen sind u. a. abhängig von der genetischen Konstitution, der subjektiven Erfahrung und dem Alter des Betroffenen. Sie betreffen oft den gesamten Organismus: angefangen von subjektiven Befindlichkeiten, vom zentralen Nervensystem über Nerven und Hormone zu den Organsystemen und deren Zellen, oder auch umgekehrt von den Zellen über Signalmoleküle bis zum zentralen Nervensystem und der Psyche (Rensing et al. 2006). Negativ ausgeprägte Stressoren können Reaktionen auf drei Ebenen hervorrufen (⊡ Tabelle 2.1): ▬ Stressvolle Situationen können ein gesundheitsbeeinträchtigendes Verhalten (verhaltensbezogene Ebene) auslösen, das meist für Außenstehende sichtbar (»offenes« Verhalten) ist. Hierzu zählen z. B. hastiges und ungeduldiges Verhalten, zunehmender Konsum von Tabak, Alkohol und Medikamenten, geänderte Essgewohnheiten sowie unkoordiniertes Arbeitsverhalten und ein konfliktreicher Umgang mit anderen Personen. ▬ Reaktionen auf der kognitiv-emotionalen Ebene sind für Außenstehende oftmals nicht unmittelbar zu
⊡ Tabelle 2.1. Mögliche Folgen und Stabilisierungsstrategien von Stress (eigene Darstellung nach Rensing et al. 2006; Myers 2005; Bamberg et al. 2004; Kaluza 2004; Zimbardo u. Gerrig 1999) Ebene
Mögliche kurzfristige Folgen
Mögliche mittel- bis langfristige Folgen
Mögliche Stabilisierungsstrategien
Individuell und sozial verhaltensbezogen
Leistungsschwankungen Nachlassen der Konzentration Vermehrter Nikotin-, Alkohol- und Tablettenkonsum Vermehrte Streits und Konflikte, Aggressionen gegen Dritte
Erhöhte Fehlerquote Suchtverhalten Soziale Isolierung Fehlzeiten (Krankheitstage)
»Selbststabilisierung« Psychotherapie Medikamente
Kognitivemotional
Angst, Anspannung Frustration Ärger, Wut Furcht Ermüdungs- und Monotoniegefühle
Unzufriedenheit, Resignation, Ängste Schlafstörungen Burnout-Syndrom Depression
Physiologisch, somatisch
Erhöhte Herzfrequenz Blutdrucksteigerung Adrenalinausschüttung (»Stresshormon«) Schwächung des Immunsystems
Psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen, wie z. B. Kopfschmerzen, Reaktionen der Haut (z. B. Neurodermitis), Magen-Darm-Beschwerden, Muskel-Skelett-Erkrankungen, HerzKreislauf-Erkrankungen
Entspannung Bewegungstraining Ernährung Medikamente
Vermehrte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten wie z. B. Erkältung, Heuschnupfen, Asthma
Impfungen Desensibilisierung Vermeidung der Allergene
Krebs Altern Neurodegenerative Ausfallserscheinungen wie Alzheimer
Medikamente Stressproteine Antioxidanzien Antioxidative Enzyme Reparaturenzyme
Zellulär, molekular
Proliferation DNA-Schäden Veränderungen des Stoffwechsels Motilität
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Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
erkennen (»verdecktes« Verhalten). Sie äußern sich z. B. in Gefühlen innerer Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, Ärger, Hilflosigkeit sowie in Denkblockaden bis hin zu Angst, Selbstvorwürfen, grüblerischen Gedanken, Schlafstörungen und Depressionen. ▬ Die Reaktionen auf der physiologisch-somatischen Ebene äußern sich in einer Steigerung der körperlichen Aktivierung und Energiemobilisierung, z. B. schnellerer Herzschlag, erhöhte Muskelspannung, schnellere Atmung. Hält der Stressor über längere Zeit an oder kehrt er regelmäßig wieder, führt diese Aktivierungsreaktion zu Erschöpfungszuständen und zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Magen-DarmBeschwerden. Aufgabe der Prävention ist es daher u. a., die Entwicklung von gesundheitsfördernden Coping-Strategien anzuregen und zu unterstützen. Ziel ist es, der Initiierung der gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen vorzubeugen, ihren schädlichen Effekten entgegenzuwirken und diese umzukehren (Breinbauer u. Maddaleno 2005). sind die wichtigsten frühen Indikatoren von » Welches Stressbelastungen? Hierzu könnten »Symptome« zählen wie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, schmerzhafte Muskelverspannungen sowie häufige, aber kurze Krankheitsphasen (Fehltage am Arbeitsplatz). Dr. Detlef Dietrich, Medizinische Hochschule Hannover
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Neben den dargestellten Stressreaktionen existieren auch stressorspezifische Folgen (Rensing et al. 2006). Die Schilddrüsenachse wird z. B. bei Kälte, das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System bei Wassermangel und Blutverlust angeregt. Stressoren erzeugen folglich Stresszustände unterschiedlicher Art. So unterscheidet sich Angststress von Schmerzstress, Ärgerstress von Hungerstress und oxidativer Stress von Virusstress.
Ressourcen Ressourcen – auch Schutzfaktoren genannt – definiert Frese (1994, S. 34) als »Hilfsmittel, die es dem Menschen erlauben, die eigenen Ziele trotz Schwierigkeiten anzustreben, mit den Stressbedingungen besser umzugehen und unangenehme Einflüsse zu verringern«. Schutzfaktoren können direkte und indirekte Effekte im Stressgeschehen auslösen. Direkte Ressourceneffekte können das Auftreten von Belastungen verhindern bzw. diese verringern. Sie haben eine positive Wirkung auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Persönlichkeitsentwicklung, unabhängig von den Belastungen. Indirekt können Ressourcen dazu führen, dass Anforderungen als weniger bedrohlich wahrgenommen werden bzw. helfen, diese Anforderun-
gen besser zu bewältigen. Indirekte Ressourceneffekte verringern somit die Wirkungen von Stressreaktionen, puffern sie ab, verhindern oder verzögern ihre Entstehung (Bamberg et al. 2004). Lazarus und Folkmann (1984) unterscheiden intrapersonale und extrapersonale Ressourcen. Intrapersonale oder auch individuelle Ressourcen beziehen sich auf die Eigenschaften eines Individuums. Dazu gehören z. B. eine gute physiologische Verfassung, Optimismus, kommunikative und integrative soziale Fähigkeiten, eine Lebenseinstellung, die bestimmte Situationen als sinnvoll, zu bewältigen und als herausfordernd ansieht ( Kap. 5), eine Kontrollüberzeugung, dass Situationen zu beeinflussen sind und eine Selbstwirksamkeitserwartung, eine bestimmte Leistung oder ein Verhalten ausüben zu können (u. a. Myers 2005). Extrapersonale oder auch externe Ressourcen dagegen sind Bereiche der Lebensumwelt und umfassen beispielsweise gute Wohnverhältnisse, funktionierende familiäre und soziale Beziehungen, befriedigende Arbeitsbedingungen sowie eine finanzielle Absicherung (⊡ Abb. 2.3). Entsprechend setzt ihre Förderung bei der Modifikation dieser Umweltverhältnisse an. Individuelle Ressourcen hingegen können z. B. durch Stressmanagement, Training zur Entwicklung von Problemlöse- und Entspannungstechniken verstärkt und damit durch die Förderung des Verhaltens bzw. von Einstellungen beeinflusst werden. Auf die Identifikation protektiver Faktoren und auf die Stärkung von Ressourcen anstatt auf die Beseitigung von potentiell krank machenden Störgrößen zielt das Modell von Antonovsky (1987, deutsch 1997) ab. Hier steht nicht das pathogenetische, sondern das salutogenetische Verständnis im Zentrum seines Ressourcenkonzeptes. Danach geht es weniger um die Frage, welche Faktoren eine Krankheit auslösen, sondern vielmehr um die Frage nach den Bedingungen und Voraussetzungen des Erhalts der Gesundheit, d. h. was Personen befähigt, trotz zahlreicher belastender und krankheitserregender Lebens-, Arbeits- und Umwelteinflüsse gesund zu bleiben ( Kap. 5).
Vulnerabilität Vulnerabilität (Verletzbarkeit) bezeichnet die durch genetische, organische, biochemische, psychische und soziale Faktoren bedingte individuelle Veranlagung, auf Belastungen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Verwirrung zu reagieren bis hin zu psychotischen Dekompensationen (Auftreten von Organstörungen durch Wegfall einer Ausgleichsfunktion). Wesentlich für die Vulnerabilität scheint eine reduzierte affektiv-kognitive Belastbarkeit im Sinne einer Störung der Fähigkeit zu adäquater Informationsverarbeitung zu sein. So reagiert ein Individuum mit geringer Vulnerabilität erst bei hoher Stressintensität mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen
9 Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
hohes protektives Niveau niedriges protektives Niveau
Stressintensität
c a
krank
gesund c
b
Stimulation und Unterstützung zur Übung der kognitiven Fähigkeiten sowie Anerkennung erfahren haben und es Rollenmodelle mit einer hohen Widerstandsfähigkeit gab (Kobasa et al. 1982). Vergleichbare Bedingungen hält Bandura (1977) für die Entwicklung von Selbstwirksamkeitserwartungen, einem Konzept, das dem der Widerstandsfähigkeit nicht unähnlich ist, für förderlich. Sollte der Aufbau von Widerstandsfähigkeit durch Interventionsprogramme möglich sein, wäre dies ein potentieller Schutz vor negativen Stressfolgen wie gesundheitlichen Störungen.
Vulnerabilität a) Mensch mit geringer Vulnerabilität wird erst bei hoher Stressintensität krank. b) Mensch mit hoher Vulnerabilität wird schon bei niedrigem Stressniveau krank. c) Bei gleicher Vulnerabilität kann der Mensch bei höherem protektivem Niveau eine höhere Stressintensität verkraften, ohne zu erkranken.
⊡ Abb. 2.4. Vulnerabilitäts-Stress-Modell (mod. nach Zubin u. Spring 1977)
(⊡ Abb. 2.4), während ein Individuum mit hoher Vulnerabilität bereits bei einem niedrigen Stressniveau krank wird. Bei gleicher Vulnerabilität kann ein Individuum bei höherem protektivem Niveau eine höhere Stressintensität bewältigen, ohne zu erkranken. Die Frage der individuellen Auswirkungen und Bewäl» tigungsmöglichkeiten von Stress und ihre Beeinflussbarkeit müssen altersspezifisch und geschlechtsspezifisch weiter untersucht werden. Dazu gehören insbesondere auch die Forschung zu erhöhter Vulnerabilität in besonderen Lebenssituationen und die Bedeutung von Ressourcen/Schutzfaktoren. Ein wichtiges Forschungsgebiet ist in diesem Zusammenhang die Resilienzforschung. Dr. Elisabeth Pott, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln
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Resilienz Der Vulnerabilität steht die Resilienz, die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen belasteten Lebensereignissen, entgegen. Diese wurde erstmals prospektiv in der Studie »Widerstandsfähigkeit und Gesundheit« untersucht (s. Infobox, S. 11). Sie schlussfolgert ebenso wie das Vulnerabiliäts-Stress-Modell, dass die Charaktereigenschaft »Widerstandsfähigkeit« die Wahrscheinlichkeit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen trotz intensiver Lebensereignisse signifikant verringert. Die Studie zeigt u. a. auf, dass Personen meist dann eine Widerstandsfähigkeit entwickeln, wenn sie in ihrem bisherigen Leben eine Vielfalt von Ereignissen kennen lernen konnten,
Literatur Antonovsky A (1997) Salutogenese. Dgvt, Tübingen Bamberg E, Ducki A, Greiner B (2004) Betriebliche Gesundheitsförderung: Theorie und Praxis, Anspruch und Realität. In: Steffgen G (Hrsg) Betriebliche Gesundheitsförderung. Problembezogene psychologische Interventionen. Hogrefe, Göttingen, S 11–35 Bandura A (1977) Toward a unifying theory of behavioral change. Psychol Rev 84:191–215 Breinbauer C, Maddaleno M (2005) The stress and coping theories. In: Pan American Health Organization (ed) Youth: Choices and change. Silver Spring, Maryland, pp 176–189 Cohen S, Kessler RC, Gordon LU (1995) Measuring stress. Oxford University Press, New York Esch T (2002) Gesund im Stress: Der Wandel des Stresskonzeptes und seine Bedeutung für Prävention, Gesundheit und Lebensstil. Das Gesundheitswesen 64:73–81 Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2002) Stress lass nach! Bewusster Umgang mit Stress. Luxemburg Frese M (1994) Arbeit und psychische Störungen. In: Höchstetter K, Gunkel L, Beck R, Szpilok M (Hrsg) Gesundheitsförderung im Betrieb. Neue Antworten auf neue Herausforderungen. Kessler Verlagsdruckerei, Bobingen, S 27–46 Kaluza G (2004) Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Kobasa SC, Maddi S, Kahn S (1982) Hardiness and health: a prospective study. J Pers Soc Psychol 42:168–177 Lazarus RS, Folkman S (1984) Stress, appraisal, and coping. Springer, New York Myers DG (2005) Stress und Gesundheit. In: Myers DG (Hrsg) Psychologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 668–711 Nitsch JR (1981) Vorwort. In: Nitsch JR (Hrsg) Stress. Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen. Hans Huber, Stuttgart Wien, S 15–25 Oppolzer A (1999) Einbeziehung psychischer Belastungen in den gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz. Die Berufsgenossenschaft 12:735–742 Pschyrembel (1998) Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl. Walter de Gruyter, Berlin New York Rensing L, Koch M, Rippe B, Rippe V (2006) Mensch im Stress. Psyche, Körper, Moleküle. Elsevier, München Selye H (1950) Stress. Acta Inc., Montreal Selye H (1956) The stress of life. McGraw-Hill, New York Zimbardo PG, Gerrig RJ (1999) Psychologie, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Zubin J, Spring B (1977) Vulnerability – A new view of schizophrenia. J Abnorm Psychol 86:103–126
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Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
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Midtown-Manhattan-Studie/Midtown-ManhattanStudy
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USA, New York: Beginn 1954, Nachbefragung 1974 Schwerpunkt Psychische Beeinträchtigungen im Sinne von psychischen Leiden und Auffälligkeiten, weniger im Sinne von klinisch relevanten Diagnosen. Ziele ▬ Erforschung der Prävalenz der Symptome psychischer Beeinträchtigungen sowie eine Charakterisierung der Betroffenen. ▬ Erforschung des Zusammenhanges zwischen psychischen Störungen und dem soziokulturellen städtischen Umfeld. Zielgruppe Im New Yorker Stadtteil Midtown lebten zum Befragungszeitpunkt 1954 ca. 175.000 fast ausschließlich weiße Bewohner. Darüber hinaus war Midtown durch eine große Heterogenität hinsichtlich des Alters sowie des sozioökonomischen Status und der ethnischen Zugehörigkeit gekennzeichnet. Zielgruppe der Befragung (Home Survey) war eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe von 1911 Bewohnern Midtowns beiderlei Geschlechts im Alter von 20 bis 59 Jahren. 1660 Einwohner nahmen an den Interviews teil. Dies entspricht 1,5% der Gesamtbevölkerung Midtowns in dieser Altersgruppe zum Untersuchungszeitpunkt. Das Geschlechterverhältnis von 3:2 zwischen Frauen und Männern entsprach der damaligen Bevölkerungsverteilung. Studiendesign: Querschnittsstudie Durch die parallele Erhebung von Behandlungsdaten und der Befragung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe wurde ein Vergleich zwischen der Anzahl der in Behandlung befindlichen Einwohner und der psychisch beeinträchtigten, aber unbehandelten Bewohner Midtowns angestrebt. In die Studie wurden Informationen aus unterschiedlichen Datenquellen einbezogen: ▬ Soziodemographische Daten (Community Sociography Operation), z. B. statistische Daten aus öffentlichen Datenquellen, Informationen aus Interviews mit Schlüsselpersonen oder aus teilnehmender Beobachtung im Stadtteil. ▬ Daten über psychiatrische Behandlungen aller Bewohner Midtowns im ambulanten und stationären Bereich (Treatment Census Operation). ▬ Persönliche Befragung einer Bevölkerungsstichprobe (Home Interview Survey).
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Die Einschätzung der psychischen Gesundheit der Stichprobe im Rahmen des »Mental Health Rating« basiert auf der Zusammenfassung eines Interviews, das jeweils von zwei Psychiatern – unabhängig voneinander – im Hinblick auf bestehende Symptome einer psychischen Beeinträchtigung anhand eines Kontinuums von »symptomfrei« bis zu »arbeitsunfähig« klassifiziert wurde. Wesentliche Ergebnisse ▬ 23,4% der Befragten zeigten psychische Beeinträchtigungen im Alltag. ▬ Weniger als 20% der Stichprobe waren symptomfrei. 60% der Untersuchungsteilnehmer litten unter subklinischen mentalen Störungen. 25% zeigten klinisch relevante Beeinträchtigungen. ▬ Nur einer von 20 Untersuchungsteilnehmern mit einer psychischen Beeinträchtigung befand sich zum Untersuchungszeitpunkt in Behandlung. ▬ Die Anzahl berichteter Stressoren war der beste Prädiktor der Ergebnisse des Mental Health Rating. Je mehr Stressoren berichtet wurden, desto größer war die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Beeinträchtigung. ▬ Kein einzelner Stressfaktor war allein für eine Klassifikation in der Kategorie »mit psychischen Beeinträchtigungen« ausschlaggebend. Im Hinblick auf einzelne Variablen zeigte sich: ▬ Den größten Einfluss auf die psychische Gesundheit hatten der sozioökonomische Status und das Alter einer Person. ▬ Psychische Auffälligkeiten nahmen mit dem Alter zu, scheinbar aufgrund der erhöhten Anzahl von Stressoren. ▬ Personen mit einem geringen sozioökonomischen Status des Vaters in ihrer Kindheit zeigten zu 32,7% Beeinträchtigungen, in der höchsten Statusgruppe waren dagegen nur 17,5% betroffen. ▬ Soziale Mobilität wurde nur bei Männern erfasst. Diejenigen, die gegenüber dem sozioökonomischen Status ihres Vaters sozial aufgestiegen waren, wiesen am wenigsten Beeinträchtigungen auf. Symptomfreiheit war mit einer sozialen Aufwärtsmobilität assoziiert, Beeinträchtigung mit einer sozialen Abwärtsmobilität. ▬ Frauen berichteten eine größere Anzahl psychoneurotischer und psychophysiologischer Symptome, wie leichte Angstzustände oder Kopfschmerzen. In Bezug auf schwer wiegende Symptome, die die Lebensführung ernsthaft beeinträchtigen, fanden sich aber keine Geschlechtsunterschiede. ▬ Allein stehende Männer wiesen höhere Beeinträchtigungsraten auf als allein stehende Frauen.
11 Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
Midtown-Manhattan-Folgestudie/MidtownManhattan-Restudy USA, New York: 1974 Die Midtown-Manhattan-Studie war ursprünglich nicht als Langzeitstudie angelegt. In die schriftliche Nachfolgebefragung 1974 wurden 695 Teilnehmer der ersten Untersuchung eingeschlossen. Es wurde versucht, so viele Teilnehmer der ersten Studie einzubeziehen wie möglich. Die Untersuchungsteilnehmer der Midtown-ManhattanFolgestudie galten als repräsentative Stichprobe der Untersuchungsgruppe von 1954 (Srole 1975). Ausgehend von den Ergebnissen der ersten MidtownManhattan-Studie, wonach das Alter und der sozioökonomische Status den größten Einfluss auf die psychische Gesundheit haben, wurde angenommen, dass sich die psychische Gesundheit der Stichprobe im Vergleich zu 1954 aufgrund des höheren Alters verschlechtert hat. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass 30% der Studienteilnehmer von 1974 einen besseren und 25% einen schlechteren psychischen Gesundheitszustand aufwiesen als 1954, sodass insgesamt der Eindruck einer verbesserten psychischen Gesundheit entsteht. Um die Altersgruppen unterschiedlicher Jahrzehnte zu vergleichen, wurden die neuen Ergebnisse zusätzlich derart ausgewertet, als wären sie aus einer komplett neuen Stichprobe hervorgegangen. In der Gruppe der 40- bis
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Widerstandsfähigkeit und Gesundheit: Eine prospektive Studie/ Hardiness and Health: A Prospective Study USA: 1975–1977 Schwerpunkt »Widerstandsfähigkeit« (»hardiness«) als Mediator zwischen Stress und Gesundheit. Ziel Überprüfung der Hypothese: Personen, die trotz Stress nicht krank werden, zeichnen sich durch eine besondere Widerstandsfähigkeit aus. Zielgruppe In die Studie wurden 670 männliche Personen aus dem mittleren und höheren Management eines großen Versorgungsunternehmens einbezogen. 259 Manager haben an allen drei Befragungen teilgenommen. Die untersuchte Gruppe war männlich, zwischen 32 und 65 Jahre alt, verheiratet, weiß und zum großen Teil protestantisch.
59-Jährigen waren 1974 mehr Personen frei von psychischen Beeinträchtigungen (1974: 67,7%, 1954: 53,4%). Die mittlere Beeinträchtigungskategorie (1974: 27,9%, 1954: 35,7%) sowie die stärksten Symptomausprägungen (1974: 4,4%, 1954: 10,9%) wurden 1974 deutlich weniger verzeichnet als 1954. Diese Ergebnisse widersprechen der verbreiteten Hypothese von ständig steigenden Ausprägungen psychischer Krankheit in der Allgemeinbevölkerung (Srole u. Fischer 1980). Literatur zum Thema Langner TS, Michael ST (1963) Life stress and mental health. The Midtown Manhattan Study. Free Press of Glencoe, New York Srole L, Langner TS, Michael ST, Opler MK, Rennie TAC (1962) Mental Health in the Metropolis. The Midtown Manhattan Study. McGraw Hill, New York Toronto London Srole L, Fischer AK (1973) The social epidemiology of smoking behavior 1953 and 1970. The Midtown Manhattan Study. Soc Sci Med 7:341–358 Srole L (1975) Measurement and classification in socio-psychiatric epidemiology. Midtown Manhattan Study (1954) and Midtown Manhattan Restudy (1974). J Health Soc Behav 16:347–364 Srole L, Fischer AK (1980) The Midtown Manhattan Longitudinal Study vs. the Mental Paradise Lost doctrine. A controversy joined. Arch Gen Psychiatry 37:209–212 Srole L (1987) This week’s citation classic. 1:14 Weissman MM, Klerman GL (1980) Psychiatric Nosology and Midtown Manhattan Study. Arch Gen Psychiatry 37:229–230
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Studiendesign: Prospektive Kohortenstudie Manager eines großen Unternehmens erhielten einen Fragebogen zu stressvollen Lebensereignissen und Krankheitssymptomen der vergangenen drei Jahre. 400 zufällig ausgewählte Personen, die den ersten Fragebogen beantwortet hatten, wurden anschließend schriftlich bezüglich soziodemographischer Variablen, der subjektiven Wahrnehmung stresshafter Ereignisse und ihrer Ausprägung von Widerstandsfähigkeit befragt. Das Persönlichkeitsmerkmal Widerstandsfähigkeit setzt sich aus den drei Komponenten Engagement (»commitment«), Kontrolle (»control«) und Herausforderung (»challenge«) zusammen. Im Abstand von je einem Jahr fanden zwei weitere Befragungen statt. Im Unterschied zur ersten Befragung, die sich auf die letzten drei Jahre bezog, waren die folgenden Fragebögen auf den jeweils zurückliegenden Einjahreszeitraum gerichtet. Zur Messung des Stressniveaus wurden modifizierte Versionen gängiger Stressskalen (Schedule of Recent Life Events, Holmes u. Rahe 1967) eingesetzt. Als Krankheitsfragebogen wurde der »Serious of Illness Survey« (Wyler
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Kapitel 2 · Grundlagen zu Stress
et al. 1968) – eine Checkliste für psychische und physische Krankheitssymptome – verwendet. Die Komponenten der Widerstandsfähigkeit wurden mittels unterschiedlicher Fragebögen und Subskalen bestehender Untersuchungsinstrumente erfasst (Kobasa 1979). Wesentliche Ergebnisse ▬ Das Persönlichkeitsmerkmal Widerstandsfähigkeit (»hardiness«) verringert signifikant die Wahrscheinlichkeit von Krankheitssymptomen trotz stressvoller Lebensereignisse. Dies zeigt sich darin, dass die Untersuchungsteilnehmer trotz des Erlebens intensiver belastender Lebensereignisse nicht krank wurden, sondern gesund blieben. Hardiness ist demnach eine Ressource zur Verringerung erlebten Stresses, die besonders dann bedeutend wird, wenn sich kritische Lebensereignisse häufen. ▬ Es zeigt sich ein Zusammenhang (r = 0,23) zwischen kritischen Lebensereignissen und Krankheit. Allerdings finden sich interindividuell sehr unterschiedlich ausgeprägte Auswirkungen von kritischen Lebensereignissen auf die Gesundheit. ▬ Es lässt sich keine kausale Aussage über den Zusammenhang zwischen kritischen Lebensereignissen und Krankheit machen: Bei einer zeitgleichen Messung von Lebensereignissen und Krankheitssymptomen fand sich ein signifikanter Zusammenhang. Allerdings fand sich kein signi-
fikanter prospektiver Zusammenhang zwischen der Messung von kritischen Lebensereignissen zu einem früheren und Krankheit zu einem späteren Zeitpunkt, so dass unklar bleibt, ob sich die Anzahl kritischer Lebensereignisse auf die gesundheitliche Situation auswirkt oder umgekehrt. ▬ Hardiness korreliert nicht (r = 0,07) mit dem Score für kritische Lebensereignisse. Die beiden Variablen können als voneinander unabhängig betrachtet werden. ▬ Die meisten der soziodemographischen Variablen zeigen keinen Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen. Der geringe Einfluss von soziodemographischen Variablen auf die Ergebnisse kann möglicherweise auf die relative Homogenität der Stichprobe zurückgeführt werden. Literatur zum Thema Antonovsky A (1997) Salutogenese. Dgvt, Tübingen Bandura A (1977) Toward a unifying theory of behavioral change. Psychol Rev 84:191–215 Bengel J, Strittmatter R, Willmann H (2001) Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln Holmes TH, Rahe RH (1967) The Social Readjustment Rating Scale. J Psychosom Res 11:213–218 Kobasa SC (1979) Stressful life events, personality and health. An inquiry to hardiness. J Pers Soc Psychol 37:1–11 Kobasa SC, Maddi S, Kahn S (1982) Hardiness and health: a prospective study. J Pers Soc Psychol 42:168–177 Wyler AR, Masuda M, Holmes TH (1968) Seriousness of illness rating scale. J Psychosom Res 11:363–375
3 Stress im internationalen Vergleich Ulrike Klippel, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Stress stellt eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Das Regionalkomitee Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO Regionalbüro für Europa 2003) analysiert die psychische Gesundheit in der Europäischen Region und unterstreicht den aktuellen Handlungsbedarf. Es wird auf deutliche Unterschiede der Lebenserwartung innerhalb europäischer Länder hingewiesen, die zu einem großen Teil mit gesellschaftlich bedingtem Stress, psychischen Störungen sowie gesundheitsschädlichen Lebensweisen zusammenhängen. Dies trifft insbesondere auf Länder und Bevölkerungsgruppen zu, die aktuell gesellschaftlichen Veränderungen unterliegen, wie die Staaten der früheren Sowjetunion. Zu den durch Stress (mit-)verursachten Auswirkungen gehören demnach Depression und Suizid, Sucht, Gewalt, riskante Lebensweisen sowie kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität. Das vorliegende Kapitel setzt sich mit der Stressbelastung der Bevölkerung im internationalen Vergleich unter besonderer Berücksichtigung der Erwerbstätigkeit auseinander. Dabei steht der subjektiv erlebte Stress im Vordergrund.
Stressbelastung verschiedener Bevölkerungsgruppen Europa 38% der EU-Bevölkerung fühlen sich nach Erhebungen des Eurobarometers 52.1 (1999) regelmäßig gestresst, wobei deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten bestehen. Die ermittelten Anteile reichen von 26% in Finnland bis 72% in Griechenland. Frauen (40,5%) fühlen sich durchschnittlich häufiger gestresst als Männer (35,3%). Deutschland liegt mit 31,0% (Frauen 31,8%; Män-
ner 32%) unter dem EU-Durchschnitt (Eurobarometer 52.1, 1999, zitiert nach Europäische Kommission 2003). Das Eurobarometer 58.2 widmet sich der seelischen Gesundheit der Bevölkerung in der Europäischen Union. 16.000 Personen aus 15 Ländern und zwei Regionen (Nordirland, Ostdeutschland) wurden zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember 2002 in persönlichen Interviews befragt. Als Indikator für psychischen Distress wurde der fünf Items umfassende Mental Health Index (MHI-5) des SF-36, einem weltweit eingesetzten Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität, verwendet. Liegt der Summenscore unter 52 bei insgesamt 100 erreichbaren Punkten, wird von einer Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit bzw. psychischem Distress ausgegangen (European Opinion Research Group 2003). Psychischer Distress bezeichnet eine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit und ist somit abzugrenzen von der umgangssprachlichen Verwendung des Stressbegriffs (»Ich fühle mich gestresst«). entstehen beim Menschen als Ant» Stressreaktionen wort auf seine inneren Stressoren, aber auch als Reaktion auf eine direkte Beanspruchung durch die äußere Umwelt. Dabei ist davon auszugehen, dass aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen, wie etwa den zunehmenden Anforderungen an Mobilität, Flexibilität und Leistungsbereitschaft sowie der zunehmenden Auflösung traditionsbestimmter Sinn-, Werte- und Sozialstrukturen, das Belastungsniveau für den Einzelnen zukünftig eher noch steigen wird. Dr. Doris Pfeiffer, Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) e. V. und Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) e. V., Siegburg
«
Nach der Umfrage des Eurobarometers weisen 23,4% der europäischen Gesamtbevölkerung Probleme bei der seelischen Gesundheit auf. Zwischen den einzelnen Ländern
14
3
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
bzw. Regionen wie auch geschlechtsspezifisch bestehen deutliche Unterschiede (⊡ Abb. 3.1). Der geringste Anteil der Bevölkerung mit Einschränkungen der seelischen Gesundheit besteht in Finnland mit 9,3% (Frauen 9,4%; Männer 9,0%), der höchste Anteil liegt in Großbritannien mit 31,5% vor (Frauen 34,5%; Männer 25,8%). Deutschland weist in den alten Bundesländern einen Bevölkerungsanteil von 20,1% (Frauen 22,8%; Männer 17,2%) mit psychischem Distress auf, während der Anteil in den neuen Bundesländern mit 23,4% (Frauen 27,9%; Männer 18,1%) etwas höher liegt. Durchgängig sind Frauen stärker von Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit betroffen als Männer. Besonders deutlich wird dies in den mediterranen Ländern Griechenland (Frauen 32,0%; Männer 14,9%), Portugal (Frauen 40,7%; Männer 17,0%) und Italien (Frauen 37,1%; Männer 22,9%) (⊡ Abb. 3.2). Weiterhin bestehen Unterschiede hinsichtlich des Familienstandes, des beruflichen Status und der sozialen Unterstützung. So weisen geschiedene oder verwitwete Personen häufiger seelische Gesundheitsprobleme auf als alle übrigen Gruppen (Verheiratete, Personen in nichtehelicher Lebensgemeinschaft, Alleinstehende). ⊡ Abbildung 3.3 stellt diesbezüglich sämtliche befragten Länder den alten und neuen Bundesländern in Deutschland gegenüber. Hinsichtlich des beruflichen Status differenziert das Eurobarometer Angestellte, Arbeiter, Nichtbeschäftigte, Personen im Ruhestand und Sonstige. Die Unterschiede sowohl zwischen den einzelnen Ländern als auch zwischen verschiedenen Kategorien variieren stark. Im Vergleich zum EU-Durchschnitt ist der Anteil an Personen mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit in Deutsch-
31,5
19,1
20,1
25,9
23,4
land in der Regel geringer (⊡ Abb. 3.4). Beachtenswert erscheint die höhere Prävalenz bei Nichtbeschäftigten und Personen im Ruhestand. Auffallend ist ebenfalls ein erheblicher Unterschied bei den Angestellten zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Hier befinden sich die alten Bundesländer (15,4%) in etwa auf dem Niveau von Österreich (15,9%), die neuen Bundesländer (23%) auf dem von Frankreich (24,4%). Den höchsten Anteil an Nichtbeschäftigten mit seelischen Gesundheitsproblemen weist Luxemburg auf (85,5%), den geringsten Finnland (10%). Bei den Personen im Ruhestand liegen die Portugiesen mit einem Anteil von 50,7% mit psychischen Gesundheitsproblemen an der Spitze, während Schweden mit 8,8% das Schlusslicht bildet. Das Eurobarometer verfolgt auch die Frage nach der Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit in Abhängigkeit von der sozialen Unterstützung. Dafür wird erhoben, auf wie viele enge Bezugspersonen eine Person bei ernsten persönlichen Problemen wirklich zählen kann. Die Ergebnisse zeigen eine anteilig deutlich höhere Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit, je weniger enge Bezugspersonen genannt werden (⊡ Abb. 3.5). Ebenso wird die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung aufgrund seelischer Beeinträchtigung im Eurobarometer untersucht. Erwartungsgemäß nehmen in allen Ländern vermehrt Personen mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit die Gesundheitsversorgung aufgrund von (subjektiven) psychischen Problemen in Anspruch (⊡ Abb. 3.6). Deutschland liegt über dem Gesamtdurchschnitt der EU-Länder. Jedoch ist der Anteil der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten in den Niederlanden (40,1%) sowie in den Ländern Bel-
30,2
29,8
23,5
16,2
15,7 9,3
k n d d r) r) ch en ar ei nlan nnie de nde nlan gi l m n kr e ä ä a e n l l n Be i n t h i a F es es Fr riec Dä br nd und oß G u r B B G lte eue (a n . ( D D.
21,4
18,7 13,9
23,4 19,5
17,6 12,4
t n d al rg en de and eich en m an alie ug ni bu rlan sa r ed rl t a tI i r I rl r e m e te rd hw Sp -G Po xe ed Ös Sc No EU Lu Ni
⊡ Abb. 3.1. Anteil der Bevölkerung in Prozent mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit (Summenscore von ≤52 im MHI-5) (European Opinion Research Group 2003)
3
15 Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
40,7 37,1 34,5 32,0
30,8 27,9
27,6
25,8 22,8
22,4 18,3 15,4
22,9 20,4 17,2
21,7 21,1 21,2
18,9
18,1
14,9
14,9
14,1
22,1
12,4
17,0 14,3
20,8 17,0
18,9 15,7
14,2
13,4
9,4 9,0
Ita lie n Lu xe m bu Ni rg ed er la nd e No rd irl an d Ös te rre i ch Po r tu ga Sc l hw ed en Sp an ie n EU -G es am t
I rl an d
Be lg ie D. n Dä (a lte ne m Bu D. ar nd k (n es eu l än e Bu de nd r) es lä nd er ) Fin nl an d Fr an kr e Gr ich ie ch en Gr la oß nd br ita nn ie n
8,7
Frauen
Männer
⊡ Abb. 3.2. Anteil der Bevölkerung in Prozent mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit (Summenscore von ≤52 im MHI-5) differenziert nach Geschlecht (European Opinion Research Group 2003)
40,0 36,0 36,6
34,0 30,9 23,1
20,9 17,5
19,1
19,8
17,5
15,0
17,9
18,4
11,6
verheiratet
nichteheliche Lebensgemeinschaft
EU-Gesamt
alleinstehend
Deutschland (alte Bundesländer)
geschieden
verwitwet
Deutschland (neue Bundesländer)
⊡ Abb. 3.3. Anteil der Personen nach Familienstand in Prozent mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit (Summenscore von ≤52 im MHI-5) (European Opinion Research Group 2003)
16
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
gien (35,6%), Schweden (34,4%), Österreich (33,2%) und Nordirland (31,3%) höher als in Deutschland (alte Bundesländer 28,9%; neue Bundesländer 30%). Das Schlusslicht bildet Italien (12,8%).
3
Juni 1998 mit 1200 Personen, davon 800 aus der deutschen, 250 aus der französischen und 150 aus der italienischen Schweiz. Padlina et al. (1998) beschreiben einen Ressourcen-Belastungs-Status, der die Stichprobe in die Kategorien »Überforderte«, »Unter Druck« und »Ohne Druck« einteilt. Personen, die die Diskrepanz zwischen den Ressourcen und den Umweltanforderungen innerhalb des letzten Monats als besonders stark wahrnahmen, gehören zur ersten Gruppe. Der Kategorie »Unter Druck« wird ein Interviewter dann zugeordnet, wenn er den empfundenen Druck auf die individuellen Ressourcen als nicht überfordernd interpretiert, und »Ohne Druck«
Schweiz Das subjektive Stresserleben und der mögliche Zusammenhang zur subjektiven Gesundheit werden im Rahmen eines repräsentativen Bevölkerungssurveys in der Schweiz untersucht (Padlina et al. 1998). Die Erhebung erfolgte mittels telefonischer Interviews von April bis
31,4 23,0
21,3
29,2 25,0 23,9
19,4
22,1 18,2
Arbeiter
Eu-Gesamt
29,3
17,7 18,0
15,4
Angestellter
26,9
NichtBeschäftigter
Deutschland (alte Bundesländer)
im Ruhestand
15,5
Sonstige
Deutschland (neue Bundesländer)
⊡ Abb. 3.4. Anteil der Personen nach beruflichem Status in Prozent mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit (Summenscore von ≤52 im MHI-5) (European Opinion Research Group 2003)
51,7 45,5 36,4 29,8
27,0
23,0 18,3
EU-Gesamt
14,1
15,4
Deutschland (alte Bundesländer)
Deutschland (neue Bundesländer)
Keine
1 bis 2
3 oder mehr
⊡ Abb. 3.5. Anteil der Personen nach Anzahl der Bezugspersonen in Prozent mit Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit (Summenscore von ≤52 im MHI-5) (European Opinion Research Group 2003)
3
17 Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
sind die Personen, die in dem Zeitraum keine Überforderungssituation erlebt haben. Nach dieser Einteilung ergibt sich eine Verteilung von je einem Drittel pro Kategorie; 35,2% fühlen sich überfordert, 32,8% sind »Unter Druck«, jedoch nicht überfordert, und 32,0% haben zumindest im letzten Monat keine Diskrepanz zwischen den persönlichen Ressourcen und den Umweltanforderungen erlebt. Auch bei dieser Erhebung sind im Hinblick auf die Geschlechterverteilung Frauen in der Überforderungskategorie überrepräsentiert (⊡ Abb. 3.7). Die Erhebung aus der Schweiz geht auch dem Zusammenhang zwischen einer subjektiv empfundenen Über-
forderung und dem Gesundheitszustand (Item: »Wie geht es Ihnen zurzeit gesundheitlich?«) sowie der Stimmung (Item: »Wie ist zurzeit Ihre Stimmung?«) nach. Während die drei Gruppen nicht signifikant bezüglich ihrer subjektiven Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes differieren, zeigen sich deutliche Unterschiede bei der Abfrage spezifischer Gesundheitsindikatoren »Allgemeine Schwäche, Müdigkeit, Energielosigkeit«, »Einschlaf-, Durchschlafstörungen oder Probleme mit dem Aufstehen«, »Rücken- und Kreuzschmerzen« und »Kopfschmerzen, Druck im Kopf oder Gesichtsschmerzen«.
40,1 35,6
33,5 27,0
28,9
30,0
29,0
29,4
28,9
31,3
34,4
33,2 25,9
22,6 15,4
5,8
5,0
6,9
6,7
4,4
3,9
8,4 3,4
2,6
5,4
5,6
3,0
5,3
Ita lie Lu n xe m bu rg Ni ed er la nd No e rd irl an d Ös te rre i ch Po r tu Sc gal hw ed en Sp an ie EU n -G es am t
3,0
4,9
I rl an d
4,6
5,3
12,8
Be lg D. i (a Dä en lte ne Bu m D. ar nd (n k eu es lä e nd Bu er nd ) es lä nd er ) Fin nl an d Fr an Gr krei ch ie ch en Gr la oß nd br ita nn ie n
6,6
25,6 22,4
Summenscore £52 im MHI-5
Summenscore >52 im MHI-5
⊡ Abb. 3.6. Anteil der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten aufgrund (subjektiver) psychischer Probleme in Prozent, differenziert nach den Gruppen mit einem Summenscore von ≤52 und >52 im MHI-5 (European Opinion Research Group 2003)
38,8
35,5 30,4
Überforderte
34,1
30,7
30,4
Unter Druck
Ohne Druck
Frauen
Männer
⊡ Abb. 3.7. Anteile der Männer und Frauen nach den Kategorien »Überforderte«, »Unter Druck« und »Ohne Druck« in Prozent des Schweizer Bevölkerungs-Surveys TRAM (Padlina et al. 1998)
18
3
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
Etwa die Hälfte der »Überforderten« hat in den letzten vier Wochen unter den Symptomen »Schlafstörungen«, »Rückenschmerzen« und »Kopfschmerzen« gelitten, energielos fühlten sich knapp 70% der »Überforderten« (⊡ Abb. 3.8). Personen mit starker Ausprägung der Symptome sind zu über zwei Fünftel der Gruppe der Überforderten zuzuordnen.
Österreich Die Stadt Wien widmete 2004 explizit der psychischen Gesundheit ihrer Bewohner einen Bericht. Diesem liegen zum einen die Daten des Wiener Gesundheits- und
100%
15,3
18,0
80%
11,6
18,6
32,3
60%
Sozialsurveys zugrunde, in dem insgesamt 4019 Personen in persönlichen Interviews zu psychischen Beschwerden befragt wurden (Stadt Wien 2001). Zum anderen werden Daten eines Mikrozensus-Sonderprogramms zu »Fragen zur Gesundheit«, einer schriftlichen Erhebung in Privathaushalten, einbezogen (Niederösterreichische Landesregierung 2002; Stadt Wien 2004). Nach dem Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey wird Stress im Alltagsleben am häufigsten von jungen Erwachsenen berichtet. Frauen geben insgesamt leicht höhere Stresshäufigkeiten an als Männer (⊡ Abb. 3.9 und 3.10). Zur Bestimmung des Ausmaßes psychischer Beschwerden wurde für den Bericht »Psychische Gesundheit in
35,8
31,9
51,0
stark ein wenig
40% 52,3
20%
31,0
0%
it
ke
ig los
ie erg
n
h
En
Sc
en erz
en erz
ge
un
r stö laf
en
ck
Rü
m sch
überhaupt nicht
52,7
49,5
m ch pfs
Ko
Abweichungen von 100 % durch Rundung möglich
⊡ Abb. 3.8. Anteil der angegebenen Symptome in der Gruppe der Überforderten in Prozent (Padlina et al. 1998)
100% 23,9 80%
29,2
21,1
10,1
5,0 12,0
15,1 14,2 34,2
60% 46,8
21,2 of t
45,3
gelegentlich
40%
68,9
22,3 53,5 20%
0%
25,3
17,6
4,1
7,9
16-24
25-44
selten nie
22,5
45-59
60-74
75+ Abweichungen von 100 % durch Rundung möglich
⊡ Abb. 3.9. Häufigkeit des Leidens unter Stress bei Frauen, differenziert nach Alter in Prozent (Stadt Wien 2004)
19
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
Wien« ein Index konstruiert, der sowohl die Anzahl als auch die Stärke der psychischen Beschwerden einschließt. Berücksichtigt wurden folgende Beschwerden: Schlafstörungen, Müdigkeit, Angst, Nervosität, Unruhe, Unbehagen, Melancholie, Depression, Unglücklichsein, Niedergeschlagenheit, Kraftlosigkeit, Gedächtnisschwäche und Konzentrationsstörungen. Von der Wiener Bevölkerung sind demnach 61% beschwerdefrei, 30% haben ein mittleres und 9% ein hohes Ausmaß psychischer Beschwerden. Die häufigsten psychischen Beschwerden sind Müdigkeit (Frauen 25,1%; Männer 21%) und Schlafstörungen (Frauen 19%; Männer 13,2%). Bei den Männern folgen an dritter Stelle Niedergeschlagenheit und Kraftlosig-
100%
17,0
26,8
keit (7%), bei den Frauen Angst, Nervosität, Unruhe und Unbehagen (11,9%). Frauen zeigen insgesamt eine höhere Ausprägung psychischer Beschwerden als Männer (⊡ Abb. 3.11) (Stadt Wien 2004). Nach dem Wiener Gesundheitssurvey 2001 nimmt bei allen Kategorien der Beschwerden mit starker psychosomatischer Komponente wie Kopfschmerzen, Angst/Nervosität, Depression/depressive Verstimmungen, Müdigkeit und Niedergeschlagenheit/Kraftlosigkeit die Prävalenz mit zunehmendem Einkommen bei Männern wie Frauen deutlich ab: Sie treten in der untersten Einkommensschicht etwa zwei- bis dreimal häufiger auf als in der obersten Schicht (Stadt Wien 2001).
0,7 6,6
4,6 13,7
24,8
20,4
80%
18,6 41,7
60%
41,3
33,7
of t gelegentlich
40% 27,8
20%
19,6
63,0
selten nie
20,0
13,6
11,9
16-24
25-44
0%
72,3
22,0
45-59
60-74
75+
Abweichungen von 100 % durch Rundung möglich
⊡ Abb. 3.10. Häufigkeit des Leidens unter Stress bei Männern, differenziert nach Alter in Prozent (Stadt Wien 2004)
25,1 19,0 11,9
11,9 7,0
Frauen
Niedergeschlagenheit, Kraftlosigkeit
Angst, Nervosität, Unruhe, Unbehagen
Schlafstörungen
Müdigkeit
5,7
9,5 5,0
7,2
5,6
Gedächtnisschwäche, Konzentrationsstörungen
13,2
Melancholie, Depression, Unglücklichsein
21,0
Männer
⊡ Abb. 3.11. Psychische Beschwerden (in den letzten zwei Wochen) der Bevölkerung Wiens in Prozent, differenziert nach Geschlecht (Stadt Wien 2004)
3
20
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
Deutschland
3
Erhebungen zu Stress im Alltag sind u. a. aufgrund der schwierigen Abgrenzbarkeit bzw. undifferenzierten, umgangssprachlichen Gebrauchs des Stressbegriffs relativ selten. So werden beispielsweise im Mikrozensus keine Informationen zum allgemeinen Stressempfinden ermittelt. Im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsberichterstattung finden sich Angaben zur subjektiven Stressbelastung in Bezug auf die Erwerbstätigkeit im BundesGesundheitssurvey 1998 (s. unten). Stress ist kein objektiver Gegenstand, sondern subjek» tives Erleben. Dieses Faktum wird in der Praxis nahezu immer vernachlässigt. Für die Praxis bedeutet dies, dass einerseits nach Faktoren gesucht werden muss, die bei nahezu jedem Individuum zu Stresserleben führen, um eine wirkungsvolle Prävention zu leisten. Andererseits müssen die Individuen selbst Zielpunkte präventiver Anstrengungen sein und zwar in Form von Individualansätzen, auch wenn dies von der in Deutschland geführten Gesundheitsförderungsdebatte abweicht. Dr. Rolf Manz, Bundesverband der Unfallkassen, München
«
In diesem Bundes-Gesundheitssurvey liegen Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität vor, die durch den Fragebogen SF-36 erhoben wurden. Eine der acht Skalen dieses Instruments umfasst die seelische (psychische) Funktionsfähigkeit (MHI-5). Bei den erhobenen Daten zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede, Männer weisen eine höhere psychische Lebensqualität als Frauen auf. Altersspezifische Unterschiede zeigen sich dagegen nicht in größerem Umfang (⊡ Abb. 3.12) (Ellert u. Bellach 1999).
Informationen zur psychischen sowie körperlichen Beeinträchtigung der 18- bis 79-jährigen Münchner zeigt die Gesundheitsberichterstattung der Landeshauptstadt München auf. Im Gesundheitsmonitoring 1999/2000 wurden zwischen Juni 1999 und Mai 2000 telefonische Interviews mit 1900 Bewohnern durchgeführt. Während sich Frauen innerhalb der letzten 30 Tage im Durchschnitt an 4 Tagen durch Stress, Depressionen oder emotionale Probleme in ihrer psychischen Gesundheit eingeschränkt fühlten, waren dies bei den Männern durchschnittlich 3 Tage. Bei Männern nimmt die Anzahl der Tage mit psychischen Beeinträchtigungen mit steigendem Lebensalter (65–79 Jahre) bis auf einen Tag monatlich ab, während sie bei Frauen in etwa konstant bleibt (Wiedenmayer 2002). Im Rahmen einer 1999 in Bielefeld zur Gesundheitsversorgung durchgeführten schriftlichen Befragung von 1954 18- bis 80-Jährigen werden bei gesundheitlichen Problemen häufig Faktoren genannt, die direkt oder indirekt mit empfundenem »Stress« assoziierbar sind. Wesentliche Gründe für gesundheitliche Probleme sind psychische Belastungen am Arbeitsplatz (22%), gefolgt von persönlichen bzw. familiären Belastungen (20,1%), Sorgen über die Zukunft (17,8%) sowie Lebensweisen, die durch zu wenig Schlaf und Erholung (18,8%) gekennzeichnet sind. Hierbei sind wie bei allen bislang dargestellten Erhebungen geschlechtsspezifische Unterschiede zu erkennen (⊡ Abb. 3.13). Mit steigendem Einkommen erhöhen sich zwar die genannten psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, dagegen sinken die persönlichen und/oder familiären Belastungen sowie die Sorgen über die Zukunft (Stadt Bielefeld 2000). Für die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen liegen mit dem Jugendgesundheitssurvey des Forschungs-
100,0 90,0 80,0 70,0 60,0
76,0 69,7
80,0
76,0
80,0
76,0
72,0
72,0
76,0 72,0
80,0 72,0
80,0 76,0
50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0
18-19 Jahre
20-29 Jahre
30-39 Jahre Frauen
40-49 Jahre
50-59 Jahre
60-69 Jahre
70-79 Jahre
Männer
⊡ Abb. 3.12. Seelische (psychische) Funktionsfähigkeit der deutschen Bevölkerung nach dem SF-36, Medianwerte, differenziert nach Alter und Geschlecht (Ellert u. Bellach 1999)
21 Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
verbundes Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) Informationen zur seelischen Gesundheit vor (Hurrelmann et al. 2003). Unter anderem werden durch Stress (mit-)verursachte psychosomatische Gesundheitsbeschwerden erfasst. Befragt wurde eine repräsentative Zufallsstichprobe von 5650 Jugendlichen der 5., 7. und 9. Klasse. Müdigkeit und Erschöpfung stehen an erster Stelle, gefolgt von Einschlafstörungen. Weitere Beschwerden sind u. a. Reizbarkeit und Übellaunigkeit, Kopfschmerzen und Rückenschmerzen (⊡ Tabelle 3.1) (Ravens-Sieberer et al. 2003). Auch der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey, der von 2003 bis 2006 vom Robert Koch-Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung durchgeführt wird, legt einen Schwerpunkt auf die psychische Gesundheit und die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Robert Koch-Institut 2004).
Im April 2004 führte TNS (Taylor Nelson Sofres) Emnid eine telefonische Befragung von 1006 deutschsprachigen Personen über 14 Jahren in Privathaushalten der Bundesrepublik Deutschland zum Thema Zeitmanagement durch, wobei Fragen zu Stress berücksichtigt wurden. Bei der Interpretation der Ergebnisse sollte allerdings der suggestive Charakter der Befragung mit berücksichtigt werden.1 1 Vor
der eigentlichen Befragung wurden die Interviewten durch folgenden einleitenden Satz auf das Thema der Befragung »Zeitmanagement« vorbereitet: »Zeitforschern zufolge schlafen wir 40 Minuten weniger als 1960, gönnen uns 15 Minuten weniger Zeit für die Mahlzeiten und 6 Minuten weniger für die Körperpflege. Kein Wunder, dass in der heutigen Zeit das Wort »Stress« in aller Munde ist. Bitte sagen Sie mir, ob Sie den folgenden Aussagen zustimmen oder nicht.«
25,9 22,7
22,0
21,2
19,2
persönliche familiäre Belastung
15,9
14,9
13,8
Arbeit: psychische Belastungen Frauen
wenig Schlaf und Erholung
Sorgen über die Zukunft
Männer
⊡ Abb. 3.13. Ausgewählte Ursachen für bestehende gesundheitliche Probleme in Prozent (Mehrfachnennungen), differenziert nach Geschlecht (Stadt Bielefeld 2000)
⊡ Tabelle 3.1. Auftreten psychosomatischer Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen in Prozent (Auswahl) (HBSC 2002, zitiert nach Ravens-Sieberer et al. 2003) Fast täglich
Mehrmals pro Woche
Fast jede Woche
Etwa einmal im Monat
Selten oder nie
Fühle mich müde und erschöpft
11,3
13,6
21,3
25,7
28,1
Kann schlecht einschlafen
8,3
7,4
11,2
22,4
50,8
Bin gereizt oder schlecht gelaunt
4,1
9,5
16,9
35,9
33,7
Kopfschmerzen
4,7
7,6
12,2
30,9
44,6
Rückenschmerzen
4,2
4,2
9,0
20,9
61,8
3
22
3
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
Frauen fühlen sich nach der Erhebung von TNS Emnid häufiger gestresst als Männer (⊡ Abb. 3.14). Erwerbstätige inklusive aktuell vorübergehend Arbeitsloser fühlen sich zu 52,2% häufig gestresst, im Vergleich zu Nichtberufstätigen (Rentner, Auszubildende, Schüler, Studenten) mit 34,6%. Die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen scheint Einfluss auf das Stresserleben zu haben. Die am wenigsten gestressten Personen (36,7%) leben in ZweiPersonen-Haushalten, dicht gefolgt vom Ein-PersonenHaushalt mit 39,4%. Ein sprunghafter Anstieg ist ab einer Anzahl von drei Personen im Haushalt zu beobachten.
Hier stimmen 50,2% (Drei-Personen-Haushalt) zu, sich häufig gestresst zu fühlen. Ist die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen noch höher (vier und mehr Personen), steigt die anteilig empfundene Stressbelastung nicht mehr stark an (52,6%). Im Hinblick auf das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen zeichnet sich gemäß der Emnid-Befragung kein Trend ab, der eine eindeutige Interpretation zulässt (⊡ Abb. 3.15). Insgesamt sind 94,7% der Befragten davon überzeugt, dass Stress sich negativ auf die Gesundheit auswirkt.
Stress im Erwerbsleben
»Ich fühle mich häufig gestresst.« Stimme zu: Männer: 39 % Frauen: 48 %
»Das Wochenende reicht mir zur Erholung nicht aus.« Stimme zu: Ost: 59 % West: 48 %
⊡ Abb. 3.14. Zustimmung »voll und ganz« bzw. »eher« auf die Aussage »Ich fühle mich häufig gestresst« und »Das Wochenende reicht mir zur Erholung nicht aus«, differenziert nach Geschlecht (TNS Emnid 2004)
Während mit der Veränderung der Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen Arbeitsunfälle im 20. Jahrhundert an Bedeutung verloren, nahmen neue, kognitive und auch psychosoziale Belastungen zu (Walter 2003). Mittlerweile liegen stressassoziierte arbeitsbezogene Gesundheitsprobleme nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen an zweiter Stelle vor Lungenerkrankungen (Europäische Kommission 2002). Nach der WHO (2004) sind in mehreren europäischen Ländern stressbedingte Gesundheitsstörungen zu 50–60% die Hauptursache für Fehlzeiten. In Deutschland werden von allen Arbeitsunfähigkeitsfällen 31% auf psychische und 29% auf physische Belastungen zurückgeführt (Bödeker et al. 2002). Im Folgenden wird ein Überblick über Einschätzungen zur erwerbsbedingten Stressbelastung in Europa und Deutschland gegeben. Bei der Interpretation ist einschränkend die uneinheitliche Verwendung des Stressbegriffs im Bereich des Erwerbslebens anzumerken.
55,3 46,8 42,8 39,3
37,2
< 1.000
1.000 bis <1.500
1.500 bis < 2.000
2.000 bis < 2.500
> 2.500
⊡ Abb. 3.15. Zustimmung auf die Frage »Ich fühle mich häufig gestresst« in Bezug auf das Haushaltsnettoeinkommen in Prozent (TNS Emnid 2004)
3
23 Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
Europa Die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen führt seit 1990 im Fünfjahresrhythmus die repräsentative »Europäische Umfrage über die Arbeitsbedingungen« durch. Im März 2000 wurden in den damaligen 15 EU-Staaten insgesamt 21.703 persönliche Interviews mit Erwerbstätigen durchgeführt. 60% der Befragten sind im Jahr 2000 der Ansicht, ihre Arbeit habe eine negative Wirkung auf ihre Gesundheit (Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen 2002). Deutschland befindet sich hinsichtlich dieses Kriteriums im EU-Durchschnitt, während zwischen den einzelnen europäischen Ländern zum Teil deutliche Unterschiede bestehen (⊡ Abb. 3.16). Von den erhobenen Beeinträchtigungen durch die berufliche Tätigkeit werden im EU-Durchschnitt am häufigsten Stress mit 28% und allgemeine Erschöpfung mit 20% genannt, gefolgt von Kopfschmerzen mit 15%, Schlafstörungen (8%), Angst (7%) und Magenschmerzen (4%). Stress wird demnach in dieser Befragung als eine gesundheitliche Auswirkung der Arbeit im Sinne eines nicht näher spezifizierten Symptoms oder Symptomkomplexes verstanden. Die Nennungen in Deutschland liegen mit 25% für Stress geringfügig unter dem EU-Durch-
90
schnitt. Die anteilig häufigste Nennung erhält Stress in Griechenland mit 53%, die seltenste in Irland mit 12%. Eine differenzierte Betrachtung des Stressniveaus nach Berufsgruppen lässt erkennen, dass höher qualifizierte Beschäftigte am stärksten von Stress betroffen sind (⊡ Abb. 3.17). Nach einer weiteren Befragung der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zum Thema »Aktuelle Lebensqualität in Europa« stimmen durchschnittlich 47% der EU-Bevölkerung (EU-15) der Aussage zu, dass ihre Arbeit zu fordernd und stressig sei (too demanding and stressful) (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2004). sind primärpräventive Konzepte » Erfolgversprechend bei Personengruppen, die im Rahmen ihrer beruflichen Aufgabenstellungen oder in ihrer sich abzeichnenden Lebenssituation mit hoher Wahrscheinlichkeit intensivem oder längerfristigem Stress ausgesetzt sind und denen auch in diesen Gruppierungen präventive Stresskonzepte vermittelt werden können. Prof. Dr. Manfred Zielke, Wissenschaftsrat der Allgemeinen Hospitalgesellschaft (AHG) AG
«
85,2 79,2
80
70
66,4 62,8
60
69,5
68,6 64,4 59,9
59,5
60,5
60
59,9
52,3 50
46,7
45
40 29,2
30 20
10 0
B
DK
D
G
I
E
F
IL
L
NL
P
GB
FIN
S
A
EU-15
⊡ Abb. 3.16. Anteil der durch die Erwerbstätigkeit in ihrer Gesundheit subjektiv beeinträchtigten EU-Bevölkerung im Jahr 2000 in Prozent (Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen 2002)
24
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
40
25
32
28
Alle Beschäftigten
Wissenschaftler
Techniker
Führungskräfte
Maschinenbediener
Dienstleistungsberufe
Bürokräfte
18
Handwerker
18
Beschäftigte in der Landwirtschaft
17
Soldaten
3
Hilfsarbeitskräfte
23
29
27
35
⊡ Abb. 3.17. Beschäftigte, die über Stress berichten, nach Berufsgruppen in Prozent (Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen 2002)
Im Report zu arbeitsbedingtem Stress2 konstatiert die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen einen Mangel an validen Informationen zur Prävalenz der durch Stress verursachten Arbeitsunfähigkeit. Daten aus Finnland, Deutschland und den Niederlanden weisen jedoch auf einen deutlichen Zusammenhang von Stress und Arbeitsunfähigkeit hin (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2005a). In der europäischen Sozialstatistik zu Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsbeschwerden ermittelte die Europäische Kommission (2002) durch eine Befragung von 650.000 Personen3 im Jahr 1999 Informationen zu arbeitsbedingten Gesundheitsbeschwerden. Von den Interviewten, die arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden angeben, liegen im EU-Durchschnitt Stress, Depression und Angst mit 18,2% (Frauen 20,2%; Männer 16,5%) an zweiter Stelle hinter Muskel-Skelett-Erkrankungen und vor Lungenerkrankungen. Von den stressassoziierten Gesundheitsbeeinträchtigungen haben etwa 48% zu mehr als drei Tagen und etwa 38% zu zwei oder mehr Wochen Arbeitsunfähigkeit geführt (⊡ Tabelle 3.2) (Europäische Kommission 2002).
Deutschland Der Report »Working and employment conditions in Germany« der European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (2005b), dem die Daten des sozioökonomischen Panels4 von 2001 zugrunde liegen, verwendet den Begriff Stress in Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit im Gegensatz zu den oben beschriebenen Erhebungen nicht als eine gesundheitliche Einschränkung, sondern als eine »Eigenschaft« der beruflichen Tätigkeit.
Problem entsteht, wenn der Stress überhand » Das nimmt, sein positiver Nutzen für Motivation und Antrieb verloren geht, er krank macht – Situationen, die wir in der heutigen Arbeitswelt leider gehäuft antreffen. Hier müssen die Präventionsmaßnahmen ansetzen, um aktiv Wohlbefinden und Gesundheit zu erhalten. Ministerin Ursula von der Leyen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
«
Etwa ein Drittel (31,1%) der Angestellten in Vollzeit berichten, dass ihre Arbeit ein hohes Stressniveau beinhaltet. Etwa die Hälfte (51,2%) stimmt dieser Aussage zumindest teilweise zu, während 17,2% nicht dieser Ansicht sind (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2005b). Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen in geringem Maße zu Ungunsten der Frauen, die stärker berufsspezifischen Stress empfinden als Männer (⊡ Tabelle 3.3). Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 richtet sich eine Frage auf »Stress am Arbeitsplatz«, der durch die Zusätze wie »Zeit-/Leistungsdruck, starke Konzentration, schlechtes Arbeitsklima und Sorge um den Arbeitsplatz«
2
Der Report bezieht sich auf die Länder Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Spanien und Schweden.
3
Die Befragung erfolgte anhand des hierfür entwickelten Ad-hocModuls, das auf einer Selbsteinschätzung der Befragten über ihren arbeitsbedingten Gesundheitszustand basiert.
4
Das Sozioökonomische Panel (SOEP) ist eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) seit 1984 jährlich durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland.
3
25 Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
⊡ Tabelle 3.2. Arbeitsbedingte Gesundheitsproblemea, differenziert nach Geschlecht, Diagnosegruppe und Schweregrad 1999, eigene Übersetzung (Europäische Kommission 2002)
Alle Diagnosen und Bevölkerungsgruppen
Alle (mit oder ohne Abwesenheit von der Arbeit)
Mit Abwesenheit von der Arbeitb
EU-15
länger als 3 Tage
2 Wochen oder länger
EU 15
Anzahl
% von Gesamt
Anzahl
% von Gesamt
Anzahl
% von Gesamt
7.711.906
100,0
2.953.543
100,0
2.063.482
100,0
Männer
4.174.268
54,1
Frauen
3.537.638
45,9
Personen mit mehr als einem Gesundheitsproblem
12,0
Diagnosegruppe
a
b
Muskel-Skelett-Erkrankungen
4.094.276
53,1
1.472.563
49,9
1.015.146
49,2
Stress, Depression, Angst
1.399.825
18,2
669.328
22,7
533.066
25,8
Atem- und Lungenerkrankungen
587.105
7,6
207.211
7,0
116.982
5,7
Herz- und Gefäßerkrankungen
319.434
4,1
101.528
3,4
83.796
4,1
Kopfschmerzen, Augenermüdung
262.462
3,4
74.932
2,5
33.739
1,6
Erkrankungen des Gehörs
207.028
2,7
50.257
1,7
38.512
1,9
Infektiöse Erkrankungen
196.193
2,5
127.656
4,3
60.270
2,9
Hautprobleme
195.262
2,5
56.183
1,9
34.024
1,6
Sonstige
450.321
5,8
193.885
6,6
147.947
7,2
Personen mit mehr als einem derartigen Problem: Es wird nur das schwerwiegendste Problem (Selbsteinschätzung des Betroffenen) gezählt. Abwesenheit von der Arbeit in den letzten 12 Monaten.
⊡ Tabelle 3.3. Grad der Zustimmung zu der Frage, ob die Arbeit ein hohes Stressniveau beinhaltet, in Prozent, differenziert nach Geschlecht (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2005b) Frauen
Männer
Vollständige Zustimmung
32,7
30,3
Teilweise Zustimmung
48,9
52,3
Keine Zustimmung
18,0
16,9
Keine Antwort
0,5
0,5
weiter charakterisiert wird. Diese Frage bejahen 63% der Vollzeitbeschäftigten, 47% der Teilzeitbeschäftigten und 28% der stundenweise Beschäftigten (Robert Koch-Institut 2002). Die forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH führte 2001 eine telefonische Befragung von 500 Führungskräften zum Thema Stress und Zeitmanagement durch. Der Stressbegriff wird in
dieser Befragung umgangssprachlich verwendet. Demnach haben die meisten deutschen Führungskräfte subjektiven Stress in ihrem Arbeitsalltag. Mehr als die Hälfte empfindet die Stressbelastung als sehr hoch oder hoch (52%), weitere 42% geben eine durchschnittliche subjektive Stressbelastung an (forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH 2001). Jüngere Führungskräfte empfinden insgesamt eine höhere Stressbelastung als über 50-Jährige (⊡ Tabelle 3.4). Im Hinblick auf die subjektiven Auswirkungen von Stress auf die persönliche Verfassung und Gesundheit heben die Führungskräfte am häufigsten die positive Funktion von Stress hervor: Immerhin 39% fühlen sich demnach von Stress beflügelt. Es besteht jedoch zusätzlich ein hoher Anteil an Personen, die angeben, stressassoziiert negative Auswirkungen zu beobachten. Zu diesen gehören u. a. Magenprobleme (21%), Überaktivität (20%), schlechte Laune und Reizbarkeit (19%) sowie Schlafstörungen (15%). Die erhobenen negativen Auswirkungen von Stress werden von Frauen häufiger berichtet als von Männern (⊡ Tabelle 3.5) (forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH 2001).
26
Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
⊡ Tabelle 3.4. Stress im Arbeitsalltag bei Führungskräften, subjektive Einstufung der Stressbelastung im Arbeitsalltag in Prozent (forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH 2001)
3
Sehr hoch/hoch
Durchschnittlich
Niedrig/sehr niedrig
Überhaupt keinen Stress
Insgesamt
52
42
4
2
Frauen
56
43
3
1
Männer
50
40
6
4
Bis 40 Jahre
55
42
1
2
41 bis 50 Jahre
53
3
7
3
Über 50 Jahre
44
47
6
3
Mittelstand
52
41
4
3
Großunternehmen
51
43
4
1
An 100% fehlende Angaben = »Weiß nicht«.
⊡ Tabelle 3.5. Auswirkungen von Stress bei Führungskräften auf die persönliche Verfassung und die Gesundheit in Prozent (Basis: Personen, die Stress haben, Zustimmung voll und ganz) (forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH 2001) Insgesamt
Frauen
Männer
Bis 40 Jahre
41 bis 50 Jahre
Über 50 Jahre
Stress beflügelt
39
39
39
35
41
46
Stress bereitet Magenprobleme
21
23
18
24
20
15
Stress macht überaktiv
20
21
19
20
20
20
Stress verursacht schlechte Laune und Reizbarkeit
19
19
20
22
18
15
Stress führt zu Schlafstörungen
15
17
12
13
13
21
Stress führt zu Kopfschmerzen
13
18
7
16
8
11
Stress führt zu Nervosität und schlechter Konzentration
13
16
9
15
10
11
Stress erzeugt Angst, die Arbeit nicht mehr zu schaffen
9
11
7
10
9
8
Stress löst allergische Reaktionen aus bzw. verstärkt sie
6
7
4
8
7
1
Fazit Das Kapitel »Stress im internationalen Vergleich« gibt einen Überblick zum allgemeinen sowie beruflich assoziierten Stresserleben in Europa und Deutschland und verdeutlicht die Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit der Bevölkerung. Die allgemeine subjektive Stressbelastung in Deutschland liegt unter dem EU-Durchschnitt, wohingegen sich die Häufigkeit von Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit im europäischen Mittel befindet. Es zeigen sich Zusammenhänge zwischen seelischer Gesundheit und sozioökonomischen Parametern wie Familienstand, Unterstützungsindex und beruflicher Status.
Stress, Depression und Angst stellen nach subjektiver Angabe in Europa die zweithäufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsbeschwerden der Erwerbstätigen nach Muskel-Skelett-Erkrankungen dar und führen zu hohen Arbeitsausfällen. Frauen sind sowohl im allgemeinen als auch beruflichen Bereich stärker von subjektiver Stressbelastung betroffen als Männer, eine Verteilung, die sich darüber hinaus auch bei stressassoziierten Gesundheitsbeschwerden fortsetzt. Die dargestellten Ergebnisse verdeutlichen die Relevanz der Prävention von Stressbelastungen sowohl im beruflichen als auch außerberuflichen Alltag.
27 Kapitel 3 · Stress im internationalen Vergleich
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Versorgung – Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. In: Stadt Bielefeld (Hrsg) Bielefeld zur Lage ... Reihe Stadtforschung in Bielefeld. Bielefeld Stadt Wien (2001) Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey. AV-Druck plus GmbH, Wien Stadt Wien (2004) Psychische Gesundheit in Wien – subjektives Empfinden und psychosoziale Faktoren. AV Astoria, Wien TNS Emnid (2004) Zeitmanagement. Hamburg Walter U (2003) Wahrnehmung und Umsetzung rechtlicher Bestimmungen zur Prävention in Deutschland. Expertise aus sozialmedizinischer Sicht. Bonn WHO (2004) Pressemitteilung EURO/14/14/04. http://www.euro. who.int/mediacentre/pr/2004/20041004_1?language=german [15.05.2005] WHO Regionalbüro für Europa (2003) Psychische Gesundheit in der Europäischen Region der WHO. http://www.euro.who.it/document/rc53/gdoc07.pdf [17.05.2005] Wiedenmayer G (2002) Münchner Gesundheitsmonitoring 1999/2000. München
3
4 Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen Hans Dörning, Christoph Lorenz, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Die routinemäßig bei Krankenkassen gespeicherten leistungsbezogenen Daten bieten die größte Dichte an zentralen gesundheitsrelevanten Informationen über die deutsche Bevölkerung. Sie werden daher seit einigen Jahren verstärkt genutzt, um einen differenzierten Einblick in die gesundheitliche Versorgung in Deutschland zu erhalten. Allein bei der KKH liegen solche leistungsbezogenen Daten von ca. 2,2 Millionen Versicherten – Mitglieder und mitversicherte Angehörige – jährlich vor. Sie können in der Regel einen fundierten Eindruck darüber vermitteln, welcher Stellenwert bestimmten Krankheiten im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern bei Versicherten der KKH zukommt. Außerdem können sie Auskunft darüber geben, welche Erkrankungen besonders häufig vorkommen und zu besonders hohen kassenseitigen Ausgaben führen und welche Versichertengruppen im besonderen Maße von welchen Krankheiten betroffen sind. Analysen der personenbezogenen anonymisierten Routinedaten der KKH können damit vom Prinzip her wichtige krankheitsbezogene Hinweise für eine zielgruppenspezifische Ausrichtung und Ausgestaltung präventiver Maßnahmen und Programme geben.
Ausgangslage In Abweichung beispielsweise von den Analysen im Rahmen der Erstellung des »Weißbuch Prävention! HERZgesund?« können die Routinedaten allerdings keine spezifischen Informationen zur Stressproblematik liefern: So sind Herz-Kreislauf-Krankheiten, wie Bluthochdruck
oder Myokardinfarkt, über eindeutige Codes der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10), in den Kassendaten abgebildet. Dagegen ist das Versorgungsgeschehen in Zusammenhang mit dem Gesundheitsproblem »Stress« weder systematisch noch eindeutig oder gar umfassend aus den vorliegenden Daten ableitbar. Aus diesem Grund konnten die Analysen der Routinedaten auch nicht direkt auf die Stressproblematik fokussiert werden. Sie mussten sich daher in übergreifender Form auf den Stellenwert psychischer Störungen insgesamt sowie auf besonders relevante psychische Krankheiten beschränken. Auch wenn somit keine dezidierten Aussagen über die quantitative Bedeutung und Verteilung von Stressproblemen möglich sind, so lassen sich doch zumindest indirekt Zusammenhänge zwischen dem Stellenwert einzelner psychischer Krankheiten und der Relevanz von Stressproblemen aufzeigen. Da beispielsweise Stress aufgrund unterschiedlicher Problematiken (z. B. Arbeitslosigkeit, Mobbing, Schulprobleme, Überforderung) als wichtiger Risikofaktor für psychische Krankheiten wie Depressionen und Alkoholprobleme sowie als häufigste Ursache für Rückfälle bei Alkoholikern angesehen wird, würde eine hohe Relevanz dieser Krankheiten mittelbar auch auf eine substanzielle Bedeutsamkeit von Stressproblemen hindeuten. Oder mit anderen Worten: Sollten psychische Krankheiten, die auch mit Stressproblemen assoziiert sind, durch eine ausgeprägte quantitative und/oder ökonomische Bedeutung gekennzeichnet sein, so würde auch gezielten präventiven Maßnahmen zur Stressvorbeugung und zum Stressabbau ein erhebliches Gewicht zur Reduktion des Erkrankungsrisikos bei diesen Krankheiten zukommen.
30
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Stress stellt einen bedeutsamen (mit-) » Psychosozialer verursachenden, auslösenden oder gravierenden Faktor für viele der heute sozialmedizinisch besonders relevanten kardiovaskulären, muskuloskelettalen, immunologischen, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen dar. Dr. Doris Pfeiffer, Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) e.V. und Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) e.V., Siegburg
«
4 Die Routinedatenanalysen zu psychischen Störungen basieren auf den Daten der Kaufmännischen Krankenkasse zu den drei besonders relevanten Leistungsgruppen »stationäre Leistungen«, »Arbeitsunfähigkeitsgeschehen bzw. Krankengeldzahlungen« und »Arzneimittel«. Um empirisch fundierte Hinweise über die Relevanz von Krankheiten und Krankheitsgruppen auch im zeitlichen Verlauf zu erhalten, wurden die Daten aus den Kalenderjahren 2000 bis 2003 ausgewertet und Jahresvergleiche durchgeführt. Grundlage der Analysen waren dabei vorrangig die nach der ICD-10 verschlüsselten Daten der KKH.
Infobox
I
I
ICD-10 Bei der ICD-10 handelt es sich um die 10. Revision einer international einheitlichen hierarchischen Systematik zur Erfassung und Klassifizierung von Krankheiten. Das Klassifikationssystem ist in 21 Kapitel unterteilt (z. B. Diagnosekapitel »Psychische Störungen«). Jedes Kapitel untergliedert sich wiederum in mehrere gleichartige Diagnosegruppen (z. B. Diagnosegruppe »Affektive Störungen« als eine der Gruppen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen«). Jede Diagnosegruppe umfasst dabei, auf der nächst tieferen Gliederungsebene, mehrere Einzeldiagnosen (z. B. die Diagnose »Depressive Episode« als eine von mehreren Einzeldiagnosen der Diagnosegruppe »Affektive Störungen«). Neben den genannten drei Gliederungsebenen enthält der ICD-10 noch weitere Abstufungen (z. B. »Leichte depressive Episode« als eine von mehreren Subkategorien der Einzeldiagnose »Depressive Episode«).
Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse beruhen sowohl auf versichertenbezogenen Analysen auf der Ebene von Diagnosekapiteln (Diagnosekapitel 1 bis 21), der obersten Gliederungsstufe der ICD-10, als auch auf Analysen auf der differenzierteren Ebene von Diagnosegruppen. Darüber hinaus werden auch Ergebnisse zu den besonders relevanten Einzeldiagnosen berichtet.
Methodik Um Analysen zur anteiligen Bedeutung von psychischen Störungen und damit verbundenen kassenseitigen Ausgaben auf unterschiedlichen Aggregationsebenen durchführen zu können, wurde in einem mehrstufigen Verfahren jedem Versicherten mit dokumentierten Leistungsausgaben für jedes in die Analysen einbezogene Kalenderjahr jeweils genau ein Diagnosekapitel, eine Diagnosegruppe sowie eine Diagnose zur Charakterisierung der vorrangigen Erkrankung zugewiesen. ▬ War für das jeweilige Analysejahr mindestens ein stationärer Aufenthalt in den Daten erfasst, so wurde die Diagnose mit dem längsten stationären Aufenthalt innerhalb des jeweiligen Jahres als versichertenbezogene Diagnose berücksichtigt. ▬ War für das jeweilige Analysejahr kein stationärer Aufenthalt erfasst, so wurde die für das jeweilige Kalenderjahr dokumentierte Diagnose mit der längsten Krankengeldbezugsdauer verwendet. ▬ Waren für das jeweilige Analysejahr weder stationäre Aufenthalte noch Krankengeldtage erfasst, so wurde die für das jeweilige Kalenderjahr dokumentierte Diagnose des längsten Arbeitsunfähigkeitsfalles ohne Krankengeldbezug ausgewählt. ▬ Waren für das jeweilige Analysejahr keine stationären Leistungstage, Krankengeldbezugstage oder Arbeitsunfähigkeitstage erfasst, so wurde – ausschließlich für Analysen auf der Ebene der Diagnosekapitel – zusätzlich anhand einer Zuordnungstabelle für das jeweilige Kalenderjahr ermittelt, auf welche Diagnoseklasse die meisten verordneten Medikamente entfallen. ▬ Konnte auf der Grundlage dieses Verfahrens für einzelne Versicherte und Analysejahre keine Diagnose zugeordnet werden, so wurde versucht, die Zuordnung durch eventuelle Diagnoseangaben in einem an das Analysejahr direkt angrenzenden Halbjahr zu ergänzen.
Stellenwert von psychischen Störungen Im Folgenden wird zunächst dargestellt, welche quantitative und ökonomische Bedeutung psychischen Störungen insgesamt im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern bei Versicherten der KKH zukommt. Danach wird berichtet, welche spezifischen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen aus dem Gesamtspektrum der 234 Diagnosegruppen und mehr als 1600 dreistelligen Einzeldiagnosen am häufigsten in den Routinedaten der KKH erfasst sind sowie zu den höchsten kassenseitigen Ausgaben führen. Darüber hinaus werden, auf der Grundlage von Datenauswertungen über insgesamt vier Kalenderjahre, Analyseergebnisse zur Entwicklung des Stellenwertes von psychischen Störungen im zeitlichen Verlauf dargestellt.
4
31 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene von Diagnosekapiteln Die nachfolgende Grafik (⊡ Abb. 4.1) gibt einen ersten Überblick zur anteiligen Verteilung der versichertenbezogen zugeordneten Diagnosen nach Diagnosekapiteln. In den Beobachtungsjahren 2000 bis 2003 dominieren insbesondere Krankheiten des Atmungssystems, zu denen z. B. Erkältungskrankheiten, Grippe und Mandelentzündungen zählen (Diagnosekapitel 10, zwischen 18,8% und 20,4% der Diagnosen). Auf den Rangplätzen 2 bis 4 folgen Krankheiten des Kreislaufsystems, d. h. Herz-Kreislauf-Krankheiten (Diagnosekapitel 9, zwischen 9,4% und 11,2%), Krankheiten des Verdauungssystems (Diagnosekapitel 11, zwischen 7,6% und 8,1%) sowie infektiöse und parasitäre Krankheiten (Diagnosekapitel 1, zwischen 7,6% und 8,0%). Psychische Störungen (Diagnosekapitel 5) haben dagegen eine lediglich mittlere quantitative Bedeutung und rangieren auf Rang 9 (⊡ Tabelle 4.1). Nachweisbar ist zudem, dass der quantitative Stellenwert von psychischen Störungen auch im zeitlichen Verlauf kaum variiert. So entfielen im Jahr 2000 insgesamt 3,9% und in den Folgejahren 2001 bis 2003 zwischen 4,0% und 4,1% der versichertenbezogen zuzuordnenden Diagnosen auf psychische Störungen. Neben der Analyse der anteiligen quantitativen Bedeutung von versichertenbezogenen Diagnosen wurde in einem weiteren Analyseschritt die Verteilung von Ausgaben auf die einzelnen Diagnosekapitel eruiert.
Die in ⊡ Abbildung 4.2 dargestellten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Verteilung der Ausgaben zum Teil merklich von der diagnosebezogenen quantitativen Verteilung abweicht, da eine Reihe von Diagnosen trotz der hohen Anzahl betroffener Versicherter nur relativ geringe Ausgaben verursachen. So sind vor allem Krankheiten des Kreislaufsystems (Diagnosekapitel 9, zwischen 16,1% und 17,3% der versichertenbezogen zuschreibbaren Ausgaben) sowie darüber hinaus Neubildungen, d. h. Krebskrankheiten (Diagnosekapitel 2, zwischen 11,2% und 11,8%), mit hohen Ausgaben in der KKH assoziiert. An dritter Stelle unter den ökonomisch bedeutsamsten Krankheiten rangieren dann aber bereits die psychischen Störungen (Diagnosekapitel 5, zwischen 11,1% und 11,4%) vor Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems (Diagnosekapitel 13, zwischen 10,9% und 11,2%). Insbesondere infektiöse und parasitäre Krankheiten, zu denen u. a. Diphtherie, Keuchhusten, Magen-Darm-Grippe und Durchfall zählen, sowie in abgeschwächter Form auch Krankheiten des Atmungssystems, haben dagegen eine deutlich geringere ökonomische als quantitative Bedeutung (⊡ Tabelle 4.2). Feststellbar ist darüber hinaus, dass die Relevanz der ökonomisch wichtigsten Diagnosekapitel auch im zeitlichen Verlauf stabil ist, d. h. dass sie in allen analysierten Kalenderjahren von 2000 bis 2003 die dominanten bzw. besonders ausgabenträchtigen Diagnosekapitel darstellen.
25,00
20,00
15,00
10,00
5,00
0,00
01
02
03
04
05
06
07
08
09 2000
10 11 12 Diagnosekapitel 2001
2002
13
14
15
16
17
2003
⊡ Abb. 4.1. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen nach Diagnosekapitel je 100 Versicherungsjahre in Prozent
18
19
21
32
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
⊡ Tabelle 4.1. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen nach Diagnosekapitel (je 100 Versicherungsjahre) in Prozent
4
Diagnosekapitel
2000
2001
2002
2003
01
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
8,0
7,8
7,6
7,9
02
Neubildungen (»Krebskrankheiten«)
1,4
1,4
1,4
1,5
03
Blut und Immunsystem
0,1
0,1
0,1
0,1
04
Endokrinologie, Ernährung und Stoffwechsel
5,2
5,5
5,7
6,1
05
Psychische und Verhaltensstörungen
3,9
4,1
4,0
4,0
06
Nervensystem
1,1
1,2
1,2
1,3
07
Auge und Augenanhangsgebilde
2,1
2,2
2,3
2,3
08
Ohr und Warzenfortsatz
0,7
0,7
0,6
0,6
09
Krankheiten des Kreislaufsystems
9,4
10,0
10,5
11,2
10
Atmungssystem
20,4
20,1
19,6
18,8
11
Verdauungssystem
7,6
7,7
8,1
8,0
12
Haut
6,2
6,2
6,1
6,0
13
Muskel-Skelett-System
6,5
6,6
6,6
6,1
14
Urogenitalsystem
7,1
7,1
7,2
6,9
15
Schwangerschaft, Geb. u. Wochenbett
1,7
1,5
1,4
1,3
16
Zustand mit Ursprung in der Perinatalperiode
0,2
0,2
0,2
0,1
17
Angeborene Fehlbildungen
0,2
0,2
0,1
0,1
18
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde
1,4
1,4
1,4
1,4
19
Verletzungen, Vergiftungen
3,7
3,6
3,5
3,3
21
Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen
0,3
0,3
0,3
0,4
20,00 18,00 16,00 14,00 12,00 10,00 8,00 6,00 4,00 2,00 0,00
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10 11 12 Diagnosekapitel
2000 ⊡ Abb. 4.2. Verteilung von Ausgaben auf Diagnosekapitel in Prozent
2001
2002
13
2003
14
15
16
17
18
19
21
4
33 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
⊡ Tabelle 4.2. Verteilung von Ausgaben auf Diagnosekapitel in Prozent Diagnosekapitel
2000
2001
2002
2003
01
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
2,4
2,5
2,3
2,3
02
Neubildungen (»Krebskrankheiten«)
11,2
11,8
11,6
11,6
03
Blut und Immunsystem
0,4
0,5
0,5
0,4
04
Endokrinologie, Ernährung und Stoffwechsel
4,6
5,3
5,6
5,9
05
Psychische u. Verhaltensstörungen
11,4
11,1
11,1
11,1
06
Nervensystem
3,6
3,8
3,9
3,8
07
Auge und Augenanhangsgebilde
1,0
1,1
1,0
1,1
08
Ohr und Warzenfortsatz
0,7
0,7
0,6
0,5
09
Krankheiten des Kreislaufsystems
16,1
16,7
17,3
17,3
10
Atmungssystem
6,8
6,1
5,8
5,5
11
Verdauungssystem
7,2
7,1
7,0
7,3
12
Haut
1,7
1,7
1,6
1,5
13
Muskel-Skelett-System
11,2
10,9
11,1
11,1
14
Urogenitalsystem
4,5
4,5
4,4
4,5
15
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
4,6
4,2
3,8
3,6
16
Zustand mit Ursprung in der Perinatalperiode
1,4
1,2
1,1
1,0
17
Angeborene Fehlbildungen
0,9
0,7
0,7
0,7
18
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde
2,8
2,3
2,4
2,5
19
Verletzungen, Vergiftungen
6,9
6,7
6,6
6,8
21
Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen
0,7
1,4
1,5
1,5
Da Krankenhausaufenthalte die Leistungsgruppe mit den höchsten finanziellen Aufwendungen für Krankenkassen bilden, erscheint nachvollziehbar, dass die ausgabenrelevantesten Diagnosekapitel auch durchgängig durch hohe bis sehr hohe Ausgaben für stationäre Leistungen gekennzeichnet sind. Auch in Bezug auf psychische Störungen lassen sich stark ausgeprägte Ausgaben für stationäre Leistungen nachweisen (zwischen 11,7% und 12,2%). Lediglich Krankheiten des Kreislaufsystems und Neubildungen haben dabei eine höhere ökonomische Bedeutung als psychische Störungen. Die separierten Analysen für die drei wesentlichen Leistungsbereiche »stationäre Leistungen«, Krankengeldzahlungen« und »Arzneimittel« machen zudem deutlich, dass die ökonomische Relevanz von psychischen Störungen zusätzlich auch noch auf besonders häufige und längerfristige Krankengeldzahlungen zurückzuführen ist. So führen einzig Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems zu höheren Krankengeldzahlungen als psychische Störungen. Erwähnenswert erscheint zudem der kontinuierliche Anstieg der Ausgabenanteile von Krankengeldzahlungen für psychische Störungen im zeitlichen Verlauf (2000: 15,7%; 2001: 17,8%; 2002: 18,3%; 2003: 19,3%).
Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene von Diagnosegruppen Um differenziertere Aussagen über die Relevanz von psychischen Störungen im Versichertengut der KKH machen zu können, wurden neben einer Analyse auf der Ebene von Diagnosekapiteln zusätzliche Datenanalysen auf der Aggregationsebene von Diagnosegruppen durchgeführt. Analog zu den Auswertungen auf der Ebene von Diagnosekapiteln wurde auch hier wiederum geprüft, welche Diagnosen im Versichertengut der KKH besonders häufig vorkommen und welche Diagnosegruppen mit den höchsten kassenseitigen Ausgaben assoziiert sind. Die Diagnosegruppen mit der anteilig stärksten quantitativen Bedeutung in den Jahren 2000 bis 2003 sind in ⊡ Tabelle 4.3 in absteigender Reihenfolge zusammengefasst. Bereits bei den Analysen auf der Ebene der Diagnosekapitel wurde deutlich, dass die in der Regel durch relativ kurze Erkrankungsverläufe gekennzeichneten Krankheiten des Atmungssystems (Diagnosekapitel 10) die mit Abstand am häufigsten diagnostizierten Krankheiten bei KKH-Versicherten darstellen. Insofern erscheint es nachvollziehbar, dass fünf der sieben Diagnosegruppen mit der anteilig stärksten quantitativen Bedeutung auch
34
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
⊡ Tabelle 4.3. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen nach Diagnosegruppen (je 100 Versicherungsjahre) in Prozent
4
ICD
Diagnosegruppe
2000
2001
2002
2003
J00–J06
Akute Infektionen obere Atemwege
4,0
3,8
3,6
3,5
M50–M54
Sonstige Krankheiten Wirbelsäule/Rücken
2,8
2,8
2,7
2,4
J20–J22
Sonstige akute Infektionen untere Atemwege
1,6
1,5
1,4
1,3
J40–J47
Chronische Krankheiten untere Atemwege
1,3
1,2
1,2
1,1
J30–J39
Sonstige Krankheiten obere Atemwege
1,0
1,0
1,0
0,9
K00–K14
Krankheiten der Mundhöhle, Speicheldrüse, Kiefer
0,9
0,9
0,9
0,9
J10–J18
Grippe und Pneumonie
1,1
0,8
0,7
0,8
K50–K52
Nichtinfektiöse Enteritis und Kolitis
0,8
0,8
0,9
0,8
A00–A09
Infektiöse Darmkrankheiten
0,7
0,8
0,9
0,8
F40–F48
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
0,8
0,8
0,8
0,7
O80–84
Entbindung
1,0
0,8
0,6
0,4
I20–I25
Ischämische Herzkrankheit
0,6
0,6
0,7
0,7
M70–M79
Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes
0,6
0,6
0,7
0,6
M20–M25
Sonstige Gelenkkrankheiten
0,6
0,6
0,6
0,6
N80–N98
Nichtentzündliche Krankheiten des weiblichen Genitaltraktes
0,6
0,6
0,6
0,6
K20–K31
Krankheiten des Ösophagus, Magen, Duodenums
0,7
0,6
0,6
0,5
R50–R69
Allgemeinsymptome
0,6
0,6
0,6
0,6
F30–F39
Affektive Störungen
0,5
0,6
0,6
0,6
I80–I89
Krankheiten der Venen, Lymphgefäße/-knoten
0,5
0,6
0,6
0,6
S80–S89
Verletzungen des Knies/Unterschenkels
0,5
0,5
0,5
0,5
diesem Diagnosekapitel zugehörig sind (»J«-Diagnosen). Erwähnenswert erscheint darüber hinaus, dass nach der Diagnosegruppe »Akute Infektionen der oberen Atemwege« die unter das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« (Diagnosekapitel 13) subsumierte Diagnosegruppe »Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens« die Krankheitsgruppe mit dem zweiten Rangplatz bildet. Neben zwei weiteren dem Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« zugehörigen Diagnosegruppen (u. a. »Sonstige Gelenkkrankheiten«) sind unter den anteilig bedeutsamsten zwanzig Krankheitsgruppen auch Diagnosegruppen aus dem ebenfalls ökonomisch wichtigen Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« (»Ischämische Herzkrankheit« und »Krankheiten der Venen, der Lymphgefäße und der Lymphknoten«) vertreten. Psychische Störungen gehören mit den Diagnosegruppen »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« sowie »Affektive Störungen« zu den zentralen zwanzig Krankheitsgruppen. Das gleichermaßen ökonomisch relevante Diagnosekapitel »Neubildungen« ist dagegen durch keine Diagnosegruppe repräsentiert.
Bei einer Betrachtung der Verteilung von Ausgaben auf der Ebene von Diagnosegruppen werden – wie bereits auf der Analyseebene »Diagnosekapitel« – zumindest partiell deutliche Unterschiede im Vergleich zur Häufigkeit diagnostizierter Krankheiten erkennbar. So nimmt bei Berücksichtigung des kassenseitigen monetären Aufwandes beispielsweise die Bedeutung von Krankheiten des Atmungssystems erheblich ab. Unter den zwanzig Diagnosegruppen mit dem höchsten Ausgabenanteil ist nicht eine Diagnosegruppe des Diagnosekapitels »Krankheiten des Atmungssystems« vertreten. Demgegenüber nimmt die Relevanz von psychischen Störungen, von Krankheiten des Kreislaufsystems und des Muskel-Skelett-Systems sowie von Neubildungen deutlich zu. Unter den zehn ausgabenintensivsten Diagnosegruppen sind – mit Ausnahme der Diagnosegruppe »Entbindungen« – ausschließlich diese vier Diagnosekapitel repräsentiert (⊡ Tabelle 4.4). Aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« sind die drei Diagnosegruppen »Affektive Störungen«, »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« sowie »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« auf den ersten zehn Rangplätzen vorzufinden.
4
35 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
⊡ Tabelle 4.4. Verteilung von Ausgaben auf Diagnosegruppen in Prozent ICD
Diagnosegruppe
2000
2001
2002
2003
I20–I25
Ischämische Herzkrankheit
4,4
4,2
4,5
4,5
M50–M54
Sonstige Krankheiten Wirbelsäule/Rücken
4,1
3,8
3,5
3,2
M15–M19
Arthrose
2,8
3,0
3,3
3,6
F30–F39
Affektive Störungen
2,7
3,1
3,1
3,1
I30–I52
Sonstige Formen der Herzkrankheit
2,6
2,8
2,8
2,7
I60–I69
Zerebrovaskuläre Krankheiten
2,6
2,5
2,6
2,5
F40–F48
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
2,6
2,0
1,9
1,9
C15–C26
Bösartige Neubild. der Verdauungsorgane
1,9
2,0
1,9
1,9
F20–F29
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
1,8
1,8
1,7
1,8
O80–O84
Entbindung
2,5
1,8
1,4
1,0
C81–C96
Bösartige Neubild. des lymphatischen, blutbildenden und verwandten Gewebes
1,7
1,7
1,5
1,6
C50
Bösartige Neubildung der Brustdrüse
1,5
1,7
1,6
1,6
F10–F19
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
1,5
1,4
1,5
1,6
K80–K87
Krankheiten der Gallenblase, der Gallenwege u. des Pankreas
1,3
1,4
1,3
1,3
E10–E14
Diabetes mellitus
1,2
1,3
1,3
1,3
S80–S89
Verletzungen des Knies/Unterschenkels
1,3
1,2
1,2
1,2
I70–I79
Krankheiten der Arterien, Arteriolen, Kapillaren
1,2
1,2
1,2
1,3
N80–N89
Nichtentzündliche Krankheiten des weiblichen Genitaltraktes
1,3
1,2
1,2
1,1
M20–M25
Sonstige Gelenkkrankheiten
1,3
1,1
1,1
1,2
O30–O48
Betreuung der Mutter (bezüglich Feten, Amnionhöhle, Entbindungskomplikationen)
0,9
1,1
1,2
1,3
(Ökonomisch relevant ist zudem auch noch die auf Rang dreizehn rangierende Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen«.) Das Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« ist ebenfalls durch drei und das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« durch zwei Diagnosegruppen unter den zehn ausgabenrelevantesten Krankheitsgruppen vertreten. Komplettiert werden die ersten zehn Rangplätze durch die dem Diagnosekapitel »Neubildungen« zugehörige Diagnosegruppe »Bösartige Neubildungen der Verdauungsorgane« und die dem Kapitel »Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett« angehörende Krankheitsgruppe »Entbindung«. Festzuhalten ist zudem, dass das Diagnosekapitel »Neubildungen« zusätzlich durch die allein die gleichnamige Diagnosegruppe (C50) bildende Einzeldiagnose »Bösartige Neubildung der Brustdrüse« auf Rangplatz zwölf der ausgabenintensivsten Krankheitsgruppen repräsentiert ist.
Diagnosen und Ausgaben auf der Ebene von Einzeldiagnosen Auch auf der Ebene von Einzeldiagnosen wurden vergleichende Datenanalysen durchgeführt. Dabei wurden jeweils die zwanzig Einzeldiagnosen selektiert, die in den Kalenderjahren 2000 bis 2003 den höchsten quantitativen Anteil bzw. den höchsten Ausgabenanteil aufweisen. Wie bereits bei den Ergebnissen auf den Ebenen »Diagnosekapitel« und »Diagnosegruppen« zeigt sich auch auf der Einzeldiagnoseebene die Dominanz von Krankheiten des Atmungssystems: Insgesamt sieben der zwanzig Diagnosen mit der stärksten quantitativen Bedeutung gehören diesem Diagnosekapitel an. Die anteilig bedeutsamste Krankheit über alle vier Beobachtungsjahre (2000 bis 2003) ist dabei die akute Infektion der oberen Atemwege (J06) (⊡ Abb. 4.3 und ⊡ Tabelle 4.5). Nach Krankheiten des Atmungssystems sind Krankheiten des Verdauungssystems (Diagnosekapitel 11) mit
36
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
2,5
2,0
1,5
4 1,0
0,5
0,0
J06
M54
J20
K52
J40
A09
K08
J03
O80
J11
J01
B34
F32
J35
K29
I10
M53
I25
T14
R10
ICD10-Diagnose 2000
2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.3. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen (je 100 Versicherungsjahre) in Prozent
⊡ Tabelle 4.5. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen (je 100 Versicherungsjahre) in Prozent ICD
Diagnose
2000
2001
2002
2003
J06
Akute Infektionen der oberen Atemwege
2,1
1,9
1,9
1,9
M54
Rückenschmerzen
2,0
2,0
2,0
1,7
J20
Akute Bronchitis
1,5
1,4
1,3
1,2
K52
Sonstige nichtinfektiöse Gastroenteritis/Kolitis
0,7
0,7
0,8
0,7
J40
Bronchitis (nicht akut oder chronisch bezeichnet)
0,8
0,7
0,7
0,7
A09
Diarrhö/Gastroenteritis (vermutlich infektiösen Ursprungs)
0,6
0,6
0,7
0,7
K08
Sonstige Krankheiten der Zähne und des Zahnhalteapparates
0,6
0,6
0,7
0,6
J03
Akute Tonsillitis
0,7
0,7
0,6
0,5
O80
Spontangeburt eines Einlings
0,9
0,7
0,5
0,3
J11
Grippe (Viren nicht nachgewiesen)
0,8
0,5
0,4
0,5
J01
Akute Sinusitis
0,6
0,5
0,5
0,5
B34
Viruskrankheit, nicht näher bezeichnete Lokalisation
0,4
0,4
0,4
0,4
F32
Depressive Episode
0,4
0,4
0,4
0,4
J35
Chronische Krankheiten der Gaumen-/Rachenmandeln
0,4
0,4
0,4
0,4
K29
Gastritis und Duodenitis
0,5
0,4
0,4
0,3
I10
Essentielle (primäre) Hypertonie
0,3
0,4
0,4
0,4
M53
Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens (anderenorts nicht klassifiziert)
0,4
0,4
0,3
0,3
I25
Chronische ischämische Herzkrankheit
0,3
0,3
0,4
0,4
T14
Verletzung einer nicht näher bezeichneten Körperregion
0,4
0,3
0,3
0,3
R10
Bauch- und Beckenschmerzen
0,3
0,3
0,4
0,3
4
37 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
insgesamt drei Diagnosen unter den zwanzig anteilig bedeutsamsten Krankheiten am häufigsten vertreten. Krankheiten des Kreislaufsystems sind ebenso wie das Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« mit zwei Einzeldiagnosen unter den zwanzig Krankheiten mit der stärksten quantitativen Bedeutung repräsentiert. Alle anderen Diagnosekapitel sind dagegen mit maximal einer Krankheit vertreten, so auch das Diagnosekapitel »Psychische Störungen« mit der Einzeldiagnose »Depressive Episode« (F32). Die Analyseergebnisse zu den zwanzig Einzeldiagnosen mit dem höchsten Ausgabenanteil weichen, wie schon auf den Aggregationsebenen »Diagnosekapitel« und »Diagnosegruppen«, zum Teil deutlich von den Ergebnissen zur Häufigkeit diagnostizierter Krankheiten ab (⊡ Abb. 4.4 und ⊡ Tabelle 4.6). Aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« zählen fünf Einzeldiagnosen zu den ausgabenträchtigsten Krankheiten (»Depressive Episode« [F32], »Schizophrenie« [F20], »Störungen durch Alkohol« [F10], »Rezidivierende depressive Störung« [F33], »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« [F43]). Das Diagnosekapitel »Psychische Störungen« ist mit diesen fünf Einzeldiagnosen, zusammen mit einem weiteren Diagnosekapitel, am häufigsten unter den ausgabenintensivsten Krankheiten vertreten. Somit sind allein ein Viertel der ökonomisch besonders relevanten Diagnosen den psychischen Störungen zuzurechnen.
Ebenfalls mit fünf Diagnosen ist das Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« unter den durch besonders hohe Ausgaben gekennzeichneten Krankheiten vertreten. Zusätzlich zu der auf dem ersten Rangplatz befindlichen Diagnose »Chronische ischämische Herzkrankheit« (I25) sind das die Diagnosen »Hirninfarkt« (I63), »Essentielle (primäre) Hypertonie« (I10), »Herzinsuffizienz« (I50) sowie »Akuter Myokardinfarkt« (I21). Auf Platz 2 der ausgabenintensivsten Krankheiten rangiert die Diagnose »Rückenschmerzen« (M54), die unter dem Diagnosekapitel »Krankheiten des Muskel-SkelettSystems« klassifiziert ist. Neben »Rückenschmerzen« zählen drei weitere Diagnosen dieses Diagnosekapitels zu den ökonomisch besonders relevanten Krankheiten (»Gonarthrose« – d. h. Arthrose des Kniegelenkes – [M17], »Koxarthrose« – d. h. Arthrose des Hüftgelenkes – [M16] und »Sonstige Bandscheibenschäden« [M51]). Während das Diagnosekapitel »Verletzungen und Vergiftungen« noch durch zwei Diagnosen unter den ersten zwanzig Rangplätzen repräsentiert ist (»Fraktur des Femurs« [S72], d. h. des Oberschenkels und des Oberschenkelhalses, und »Fraktur des Unterschenkels« [S82]), sind alle anderen Diagnoseklassen lediglich jeweils höchstens einmal unter den ökonomisch relevantesten Krankheiten vertreten. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die dem Diagnosekapitel »Neubildungen« zugehörige Diagnose »Bösartige Neubildung der Brustdrüse« auf Platz vier der ausgabenintensivsten Krankheiten rangiert.
3,5
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0
I25
M54
F32
C50
M17 M16 O80
M51
F20
F10
S72
I63
I10
ICD10-Diagnose 2000
2001
⊡ Abb. 4.4. Verteilung von Ausgaben auf Einzeldiagnosen in Prozent
2002
2003
F33
I50
F43
S82
K80
I21
P07
38
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
⊡ Tabelle 4.6. Verteilung von Ausgaben auf Einzeldiagnosen in Prozent
4
ICD
Diagnose
2000
2001
2002
2003
I25
Chronische ischämische Herzkrankheit
2,7
2,7
3,0
3,0
M54
Rückenschmerzen
2,2
1,8
1,6
1,4
F32
Depressive Episoden
1,6
1,8
1,7
1,8
C50
Bösartige Neubildung der Brustdrüse
1,5
1,7
1,6
1,6
M17
Gonarthrose (Arthrose des Kniegelenks)
1,4
1,3
1,6
1,7
M16
Koxarthrose (Arthrose des Hüftgelenks)
1,2
1,4
1,6
1,7
O80
Spontangeburt eines Einlings
2,2
1,5
1,1
0,7
M51
Sonstige Bandscheibenschäden
1,2
1,4
1,3
1,2
F20
Schizophrenie
1,3
1,2
1,2
1,2
F10
Störungen durch Alkohol
1,1
1,0
1,1
1,1
S72
Fraktur des Femurs
1,0
0,9
1,0
1,1
I63
Hirninfarkt
0,8
1,0
1,0
1,0
I10
Essentielle (primäre) Hypertonie
0,7
0,9
1,1
1,0
F33
Rezidivierende depressive Störung
0,8
0,9
0,9
0,9
I50
Herzinsuffizienz
0,8
0,9
0,9
0,8
F43
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
0,8
0,9
0,8
0,8
S82
Fraktur des Unterschenkels
0,8
0,8
0,8
0,8
K80
Cholelithiasis
0,7
0,8
0,8
0,8
I21
Akuter Myokardinfarkt
0,9
0,7
0,7
0,8
P07
Störungen im Zusammenhang mit kurzer Schwangerschaftsdauer u. niedrigem Geburtsgewicht
0,9
0,7
0,7
0,6
Zwischenfazit Bereits auf der Ebene der Diagnosekapitel, der obersten Gliederungsstufe der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10), wird insbesondere die ökonomische Bedeutung von psychischen Störungen deutlich. So bilden die unter dieses Diagnosekapitel gefassten Krankheiten über die Beobachtungsjahre 2000 bis 2003 die im Vergleich zu allen anderen Diagnosekapiteln drittwichtigste Krankheitsart unter den Versicherten der KKH. Lediglich die Kapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« und »Neubildungen« sind mit höheren kassenseitigen Ausgabenanteilen verbunden. Auf der Aggregationsebene der Diagnosegruppen lässt sich feststellen, dass vor allem die vier Krankheitsgruppen »Affektive Störungen«, »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen«, »Schizophrenie, schizoptype und wahnhafte Störungen« sowie »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« maß-
geblich für die ökonomische Relevanz von psychischen Störungen verantwortlich sind. Alle vier Diagnosegruppen zählen zu den zwanzig ausgabenintensivsten Krankheitsgruppen. Die affektiven Störungen beispielsweise belegen unter allen 234 Diagnosegruppen den vierten Rangplatz. Analysen auf der Ebene von Einzeldiagnosen machen evident, dass die ökonomisch drittwichtigste Diagnose unter den über 1600 dreistelligen Diagnosen die Einzeldiagnose »Depressive Episode« ist. Die ebenfalls zur Krankheitsgruppe »Affektive Störungen« gehörende Diagnose »Rezidivierende depressive Störung« sowie die Diagnosen »Schizophrenie« (Diagnosegruppe »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen«), »Störungen durch Alkohol« (Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen«) sowie »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (Diagnosegruppe »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen«) zählen ebenfalls noch zu den zwanzig ausgabenintensivsten Krankheiten.
39 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Relevanz von psychischen Störungen in unterschiedlichen Versichertengruppen Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse geben Aufschluss darüber, welche Versichertengruppen der KKH in besonders ausgeprägtem Maße von psychischen Störungen betroffen sind. Außerdem veranschaulichen sie, welche spezifischen psychischen Störungen bei welchen Versichertengruppen besonders häufig vorkommen. Diese Analyseergebnisse können damit wichtige Hinweise für eine krankheitsbezogene und zielgruppenspezifische Ausrichtung und Ausgestaltung von präventiven Maßnahmen und Programmen geben.
Psychische Störungen nach Alter, Geschlecht, Regionen und Berufsgruppen auf der Ebene von Diagnosekapiteln Subgruppenanalysen zeigen zunächst, dass Frauen in den Beobachtungsjahren 2000 bis 2003 mit Ausnahme der jüngeren Altersgruppen (bis unter 20 Jahre) in allen anderen Altersgruppen anteilig (wesentlich) häufiger von einer psychischen Störung betroffen sind als Männer. Die Unterschiede in der quantitativen Bedeutung psychischer Störungen zwischen Frauen und Männern nehmen dabei mit steigendem Alter nahezu kontinuierlich zu (⊡ Abb. 4.5 und 4.6). Darüber hinaus lässt sich bei den weiblichen und männlichen KKH-Versicherten ab 20 Jahre eine weitge-
hend vergleichbare Altersabhängigkeit der Relevanz psychischer Störungen feststellen: Bis zum 50. Lebensjahr ist ein kontinuierlicher Anstieg der quantitativen Bedeutung von psychischen Störungen und danach bis zum ca. 60. Lebensjahr eine relative Konstanz beobachtbar. Nach einer Abnahme in den beiden folgenden Altersgruppen (»60 bis unter 65 Jahre« und »65 bis unter 70 Jahre«) ist im weiteren Altersverlauf ein zunehmend stärkerer Anstieg der quantitativen Bedeutung psychischer Störungen mit einem Gipfel bei der ältesten kontrollierten Altersgruppe erkennbar. Wie bereits oben berichtet, lässt sich für alle Altersgruppen nach dem 20. Lebensjahr konstatieren, dass Frauen in stärkerem Maße als Männer von psychischen Störungen betroffen sind. Demgegenüber zeigt sich in den drei jüngsten Altersgruppen (»unter 10 Jahre«, »10 bis unter 15 Jahre« und »15 bis unter 20 Jahre«) eine höhere anteilige Bedeutung psychischer Störungen bei den männlichen KKH-Versicherten. Bedenkenswert erscheinen dabei insbesondere die extremen Differenzen zwischen weiblichen und männlichen KKH-Versicherten in Bezug auf die anteilige Bedeutung psychischer Störungen in der Altersgruppe der 10- bis unter 15-Jährigen. Während die weiblichen Versicherten in dieser Gruppe über alle vier Beobachtungsjahre einen durchschnittlichen Anteil von 1,1% aufweisen, liegt der durchschnittliche Anteil der männlichen Versicherten bei 3,9% und damit in etwa auf dem Niveau der 40- bis unter 45-jährigen Männer.
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2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.5. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« bei Männern getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
40
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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10
8
6
4 4
2
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2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.6. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« bei Frauen getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
Forschungsergebnisse weisen aus, dass sich » Klinische bereits im Kindes- und Jugendalter spezifische Reaktionsmuster auf Belastungen herausbilden: Zunehmend aggressive Verhaltensmuster oder aber nach innen gerichtete psychosomatische und depressive Reaktionsmuster. Diese Stressfolgen sind zwar überwiegend geschlechtsspezifisch, jedoch zeigen sich auch bei einem Teil der Mädchen aggressives Verhalten wie auch bei einem Teil der Jungen depressive Reaktionen. Prof. Dr. Manfred Zielke, Wissenschaftsrat der Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG (AHG)
«
Zusätzlich durchgeführte Analysen belegen dabei, dass diese Differenzen zwischen weiblichen und männlichen Versicherten dieser Altersgruppe auf Unterschiede in der Verordnung bestimmter Medikamente zurückzuführen sind. Zum besseren Verständnis dieses Sachverhalts und der nachfolgenden Ausführungen sei noch einmal auf die Grundlagen der Analysen zur anteiligen quantitativen und ökonomischen Bedeutung von psychischen Störungen verwiesen: Um derartige Analysen durchführen zu können, wurde – unter Berücksichtigung der angefallenen stationären Leistungen, Krankengeldzahlungen, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Medikamentenverordnungen – jedem Versicherten mit dokumentierten Leistungen ausschließlich ein Diagnosekapitel zur Charakterisierung der vorrangigen Erkrankung in einem Kalenderjahr zugewiesen. Da in der Altersgruppe der 10- bis
unter 15-jährigen Krankengeldzahlungen und Arbeitsunfähigkeitszeiten allenfalls in äußerst geringem Umfang anfallen können und stationäre Krankenhausaufenthalte eher seltene Ereignisse sind, kann angenommen werden, dass die Zuweisung zu einem Diagnosekapitel bei dieser Altersgruppe zumeist über Medikamentenverordnungen erfolgt. Die in diesem Zusammenhang durchgeführten Analysen bestätigen eindeutig diese Annahme: Bei insgesamt 88,1% der weiblichen und männlichen KKH-Versicherten der Altersgruppe »10 bis unter 15-jährigen«, die in den jeweiligen Kalenderjahren eine oder mehrere gesundheitsbezogene Leistungen in Anspruch genommen haben, basiert die Zuordnung zu einem Diagnosekapitel auf Medikamentenverordnungen. Die männlichen Versicherten dieser Altersgruppe, die in den Beobachtungsjahren 2000 bis 2003 eine vorrangige Diagnose aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« aufweisen und bei denen die Zuweisung zu diesem Diagnosekapitel über Medikamentenverordnungen erfolgt ist, sind dabei durch besonders häufige Verordnungen von Medikamenten mit dem Wirkstoff Methylphenidat gekennzeichnet: Insgesamt ca. 89% von ihnen wurden Medikamente mit diesem Wirkstoff verordnet. Dabei handelt es sich in der Regel um das in der Öffentlichkeit zum Teil kontrovers diskutierte Präparat »Ritalin«, das zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – auch als »Zappelphilipp-Syndrom« bezeichnet – eingesetzt wird.
41 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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2001
2002
Be
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2003
⊡ Abb. 4.7. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« getrennt nach Bundesländern in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
Über die bislang vorgestellten geschlechts- und altersgruppenspezifischen Auswertungen hinaus wurden zusätzlich regionenbezogene Analysen auf Bundeslandebene durchgeführt. Diese alters- und geschlechtsstandardisierten1 Auswertungen machen ersichtlich, dass psychische Störungen vor allem in den beiden nördlichen Stadtstaaten Hamburg und Bremen sowie im Saarland in besonders ausgeprägtem Maße auftreten. Eine relativ hohe quantitative Bedeutung haben psychische Störungen zudem in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, BadenWürttemberg und Berlin (⊡ Abb. 4.7). Die bisherigen Subgruppenanalysen ergänzend wurden in einem weiteren Analyseschritt berufsgruppenspezifische Auswertungen durchgeführt. Diese altersstandardisierten Auswertungen beziehen sich dabei auf die zwanzig Berufsgruppen, die in der KKH am häufigsten vertreten sind. Aus Platzgründen werden nur die elf Berufsgruppen dargestellt, die insgesamt gesehen über
1 Als
Referenz für die Standardisierung wurde die Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung in Deutschland (Stand Ende 1993) gewählt. Die Standardisierung erfolgte nach der Methode der direkten Standardisierung.
alle vier Beobachtungsjahre die höchste quantitative und ökonomische Bedeutung haben. Die in ⊡ Abbildung 4.8 und ⊡ Tabelle 4.7 dargestellten Auswertungsergebnisse verdeutlichen, dass sowohl bei Frauen als auch bei Männern Arbeitslose sowie die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« die Personengruppen darstellen, die über den Gesamtbeobachtungszeitraum von 2000 bis 2003 anteilig am häufigsten von einer psychischen Störung betroffen sind. Während bei Männern Arbeitslose die mit Abstand höchste Betroffenheitsquote aufweisen, ist bei Frauen die Berufsgruppe »Bürofach-/-hilfskräfte« noch in etwas stärkerem Maße von psychischen Störungen betroffen als die Gruppe der Arbeitslosen. Feststellbar ist darüber hinaus bei beiden Geschlechtern ein kontinuierlicher Anstieg der quantitativen Bedeutung von psychischen Störungen bei Arbeitslosen im zeitlichen Verlauf. Bei Arbeitssuchenden kommt der Aufklärung der » Betroffenen sowie der Familie ein noch wichtigerer Stellenwert zu, insbesondere im Hinblick auf die Prävention von Suchtmittel-Missbrauch, Abhängigkeitssyndromen und Depression. Dr. Detlef Dietrich, Medizinische Hochschule Hannover
«
4
42
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
0,45 0,4 0,35 0,3 0,25 0,2
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⊡ Abb. 4.8. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« bei Männern getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
⊡ Tabelle 4.7. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« bei Frauen getrennt nach Berufsgruppen in Prozent Berufsgruppe
2000
2001
2002
2003
Warenkaufleute
0,419
0,441
0,426
0,398
Bank-/Versicherungskaufleute
0,102
0,108
0,109
0,102
Andere Dienstleistungskaufleute
0,036
0,031
0,032
0,298
Berufe des Landverkehrs
0,006
0,008
0,008
0,006
Lager-/Transportarbeit
0,016
0,018
0,019
0,019
Manager/innen
0,039
0,036
0,037
0,030
Datenverarbeitung
0,098
0,111
0,104
0,092
Bürokräfte
0,726
0,714
0,684
0,636
Übrige Gesundheitsberufe
0,209
0,223
0,224
0,225
Sozialpflegerische Berufe
0,140
0,152
0,161
0,156
Arbeitslose
0,603
0,633
0,681
0,736
Bei weiblichen Versicherten der KKH weisen neben den genannten Berufsgruppen zusätzlich auch noch die beiden Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« (z. B. Krankengymnastinnen, Krankenpflegerinnen, Arzthelferinnen und Hebammen) sowie »Sozialpflegerische Berufe« (z. B. Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagoginnen und Kindergärtnerinnen) in ausgeprägtem Maße psychische Störungen auf.
Psychische Störungen nach Alter, Geschlecht, Regionen und Berufsgruppen auf der Ebene von Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen Von den insgesamt 11 Diagnosegruppen der ICD-10, die psychische Störungen beinhalten, sind vor allem die vier Krankheitsgruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19), »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29),
43 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
»Affektive Störungen« (F30–F39) sowie »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« (F40–F48) von Interesse für differenziertere Analysen. Diese Diagnosegruppen sind sowohl anteilig quantitativ als auch ökonomisch am bedeutsamsten. Zusätzlich werden auch die zentralen Einzeldiagnosen »Schizophrenie« (F20), »Depressive Episode« (F32), »Rezidivierende depressive Störung« (F33) sowie »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (F43) in diese Analysen mit einbezogen. Ergebnisse zu der ebenfalls relevanten Diagnose »Störungen durch Alkohol« (F10) werden in einem separaten Abschnitt berichtet. Geschlechts- und altersgruppenspezifische Analysen auf der Ebene der Diagnosegruppen und zu den relevanten Einzeldiagnosen zeigen zunächst, dass die unter die Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) und »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) subsumierten Krankheiten bei Männern häufiger diagnostiziert werden als bei Frauen. Das trifft auch auf die Einzeldiagnose »Schizophrenie« (F20) zu. Dagegen sind bei Frauen die Diagnosegruppen »Affektive Störungen« (F30–F39) und »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« (F40–F48) sowie die Einzeldiagnosen »Depressive Episode« (F32), »Rezidivierende depressive Störung« (F33) und »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (F43) quantitativ von größerer Bedeutung als bei Männern.
Darüber hinaus wird deutlich, dass sowohl die weiblichen als auch die männlichen KKH-Versicherten in den Altersgruppen von 35 bis unter 50 bzw. 60 Jahre von einer Ausnahme abgesehen deutlich häufiger von einer Diagnose aus den vier relevanten Krankheitsgruppen betroffen sind als die übrigen Altersgruppen. In Abweichung dazu ist die Diagnosegruppe »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) zumindest bei den männlichen Versicherten bereits ab Vollendung des 20. Lebensjahres quantitativ besonders bedeutsam (⊡ Abb. 4.9). Analysen auf der Ebene der relevanten Einzeldiagnosen bestätigen im Wesentlichen die Resultate zur Gliederungsebene »Diagnosegruppen«. So ist beispielsweise die Krankheit »Schizophrenie« (F20) – ebenso wie die Gesamtheit der übergeordneten Diagnosegruppe »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20– F29) zugehörigen Einzeldiagnosen – bei Frauen ab einem Alter von 35 Jahren und bei Männern bereits ab einem Alter von 20 Jahren quantitativ bedeutsam. Bereits auf der obersten Gliederungsebene der Klassifikation der Krankheiten (ICD-10), der Ebene der Diagnosekapitel, wurde bei den durchgeführten regionenspezifischen Auswertungen deutlich, dass das Bundesland Hamburg durch besonders hohe Anteile an Versicherten mit psychischen Störungen gekennzeichnet ist. Dieses Ergebnis lässt sich auch bezogen auf die relevantesten Diagnosegruppen und Einzeldiagno-
0,40 0,35 0,30 0,25 0,20 0,15 0,10 0,05
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2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.9. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen der Diagnosegruppe »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« bei Männern in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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2002
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2003
⊡ Abb. 4.10. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen der Diagnosegruppe »Affektive Störungen« getrennt nach Bundesländern in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
sen des Kapitels »Psychische Störungen« nachvollziehen. So weist Hamburg über den Gesamtzeitraum von vier Beobachtungsjahren in Zusammenhang mit den Diagnosegruppen »Affektive Störungen« (F30–F39) und »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« (F40–F48) sowie den Einzeldiagnosen »Depressive Episode« (F32) und »Rezidivierende depressive Störung« (F33) die höchsten quantitativen Anteile unter allen Bundesländern auf (⊡ Abb. 4.10). Darüber hinaus belegt Hamburg auch bei den Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) und »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) sowie den Einzeldiagnosen »Schizophrenie« (F20) und »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (F43) in Bezug auf die quantitative Bedeutung jeweils einen der vordersten Rangplätze. Von besonderer quantitativer Bedeutung sind jeweils mehrere der benannten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen auch in den Stadtstaaten Bremen und Berlin sowie in Schleswig-Holstein. In Bremen sind insbesondere die Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19), »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) und »Affektive Störungen« (F30–F39) sowie die Einzeldiagnosen »Schizophrenie« (F20) und »Depressive Episode« (F32) quantitativ bedeutsam. In Berlin trifft dies vor allem auf die Diagnosegruppen »Affektive Störungen«
(F30–F39) und »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« (F40–F48) sowie die Einzeldiagnosen »Depressive Episode« (F32) und »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (F43) zu. Dagegen sind in Schleswig-Holstein in erster Linie Krankheiten der Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) und »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) quantitativ am relevantesten. Die Ergebnisse altersstandardisierter berufsgruppenspezifischer Auswertungen auf der Ebene der Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen entsprechen grundsätzlich den Resultaten auf der Gliederungsebene »Diagnosekapitel« und lassen zudem ein durchgängiges Grundmuster erkennen (⊡ Abb. 4.11): ▬ Sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen KKHVersicherten stellen Arbeitslose sowie Angehörige der Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« durchgängig (d. h. bezogen auf alle vier relevanten Diagnosegruppen und alle vier Einzeldiagnosen) die Personengruppen dar, die am häufigsten von einer spezifischen psychischen Störung betroffen sind. ▬ Bei weiblichen Versicherten der KKH sind zusätzlich noch die beiden Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« bei sämtlichen zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen quantitativ besonders relevant.
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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⊡ Abb. 4.11. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen der Diagnosegruppe »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« bei Männern getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
Dabei stellen bei den männlichen Versicherten der KKH Arbeitslose die Personengruppe dar, die durchgängig – also in Bezug auf sämtliche zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen – am häufigsten von einer einschlägigen psychischen Störung betroffen sind. Bei den weiblichen KKH-Versicherten haben Arbeitslose im Zusammenhang mit den Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) und »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) sowie den Einzeldiagnosen »Schizophrenie« (F20) und »Rezidivierende depressive Störung« (F33) ebenfalls die höchste quantitative Relevanz. Bezogen auf die Krankheitsgruppen »Affektive Störungen« (F30–F39) und »Neurotische, Belastungsund somatoforme Störungen« (F40–F48) sowie die Einzeldiagnosen »Depressive Episode« (F32) und »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (F43) hat die Berufsgruppe »Bürofach-/-hilfskräfte« aber einen noch zentraleren Stellenwert als die Gruppe der Arbeitslosen. Anzumerken ist zudem, dass Arbeitslose und Angehörige der Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« sowie die bei weiblichen Versicherten der KKH zusätzlich bedeutsamen Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« nicht nur im Zusammenhang mit psychischen Störungen die zentralen Personengruppen darstellen. Sie sind, wie bereits im »Weißbuch Prävention 2004« dargestellt, auch
die Gruppen, die am häufigsten von Herzkrankheiten betroffen sind.
Zwischenfazit Die Auswertungsergebnisse auf der Ebene des Diagnosekapitels »Psychische Störungen«, das insgesamt 11 Diagnosegruppen umfasst, belegen, dass Frauen in den Jahren 2000 bis 2003 insgesamt gesehen häufiger von psychischen Problemen betroffen sind als Männer. Differenziertere Analysen, die sich auf die vier quantitativ und ökonomisch besonders zentralen Diagnosegruppen sowie die relevantesten Einzeldiagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« beziehen, weisen aber darauf hin, dass Männer zumindest bei bestimmten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen dominieren. So werden die unter die Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) sowie »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) subsumierten Krankheiten sowie auch die Einzeldiagnose »Schizophrenie« bei Männern häufiger diagnostiziert als bei Frauen. Nach den Ergebnissen auf der Ebene des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« erweist sich insbesondere die Altersgruppe »80 Jahre und älter« als quantitativ am bedeutsamsten. Abweichend davon ist zumindest bei den zentralen Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19),
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
»Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29), »Affektive Störungen« (F30–F39) sowie »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« (F40–F48) nahezu durchgängig feststellbar, dass sowohl die männlichen als auch die weiblichen Versicherten der KKH im Alter von 35 bis maximal unter 60 Jahre in der Regel deutlich häufiger eine psychische Störung aufweisen als die jüngeren und älteren Versicherten. Durchgängig auf allen drei Analyseebenen »Diagnosekapitel«, »Diagnosegruppen« und »Einzeldiagnosen« ist das Bundesland Hamburg durch den höchsten Anteil an Versicherten mit psychischen Störungen gekennzeichnet. Relativ hohe Betroffenheitsquoten bei mehreren der zentralen Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen sind zudem auch in den beiden anderen Stadtstaaten Bremen und Berlin sowie in Schleswig-Holstein feststellbar. Berufsgruppenspezifische Auswertungen zeigen, dass Arbeitslose insgesamt gesehen am häufigsten von psychischen Störungen betroffen sind. Daneben sind vor allem die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« – sowie zusätzlich bei weiblichen KKH-Versicherten die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« – sowohl auf der Ebene des Diagnosekapitels als auch bei den besonders relevanten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen quantitativ besonders auffällig. Festzuhalten ist dabei, dass die genannten Berufsgruppen nicht nur in Zusammenhang mit psychischen Störungen die zentralen Personengruppen darstellen. Sie sind auch, wie bereits die Auswertungen im Rahmen des »Weißbuches Prävention 2004« ergeben haben, die Gruppen mit der höchsten Betroffenheitsquote in Bezug auf Herzkrankheiten.
Störungen durch Alkohol Störungen durch Alkohol nach Alter und Geschlecht Die unter die Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) gefasste Einzeldiagnose »Störungen durch Alkohol« (F10) bezieht ihre Relevanz vor allem aus dem hohen Anteil an Ausgaben, der auf dieses Krankheitsbild entfällt, sowie den hohen Verweilzeiten in Krankenhäusern unter dieser Diagnose. Die ICD-10-Diagnose F10 »Störungen durch Alkohol«, in der nahezu alle anteilig relevanten Gesundheitsleistungen mit Ausnahme der organischen Folgeerkrankungen zusammengefasst sind, belegt bei Versicherten der KKH Rang 10 unter den ökonomisch bedeutsamsten Krankheiten. Außerdem verursacht sie mehr Krankenhaustage als fast alle übrigen der mehr als 1600 Einzeldiagnosen. So entfielen insgesamt in den Jahren 2000 bis 2003 lediglich auf die Diagnosen »Essentielle (primäre) Hypertonie« (I10), »Chronische ischämische Herzkrankheit« (I25) und »Depressive Episode« (F32)
mehr Krankenhaustage als auf die Diagnose »Störungen durch Alkohol«. Bei den Männern nimmt die Diagnose F10 mit einem Anteil von 2,9% an allen Krankenhausbehandlungstagen sogar den dritten Rang ein. gilt es, in der Öffentlichkeit die Gefahren » Gleichzeitig ständiger Über- oder Unterforderung medienwirksam darzustellen, um das Problembewusstsein zu schärfen, etwa die aus Stress und Stressfolgeerkrankungen resultierenden Gesundheitskosten zu vermitteln, um sowohl bei den betroffenen Menschen als auch bei der Zielgruppe von möglichen Institutionen Problembewusstsein und die Bereitschaft zur Durchführung stressreduzierender Maßnahmen zu wecken. Prof. Dr. Rolf Meermann, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
«
Die Ergebnisse zu geschlechts- und altersgruppenspezifischen Auswertungen belegen zunächst, dass Männer in allen Altersgruppen in deutlich stärkerem Maße von Alkoholproblemen betroffen sind als Frauen. Bezogen auf den Gesamtbeobachtungszeitraum von vier Jahren ist die quantitative Bedeutung von Störungen durch Alkohol bei Männern durchschnittlich nahezu dreimal so hoch ausgeprägt wie bei Frauen (um den Faktor 2,7). Offensichtlich wird aus den beiden nachfolgenden Grafiken (⊡ Abb. 4.12 und ⊡ 4.13) zudem bei beiden Geschlechtern ein zweigipfliger Verlauf der Altersabhängigkeit von Alkoholproblemen. Neben je einem Gipfel in den mittleren Lebensjahren (Männer: Altersgruppe »40 bis unter 45 Jahre«; Frauen: Altersgruppe »45 bis unter 50 Jahren«) lässt sich ein weiterer Gipfel in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen aufzeigen, der bei den weiblichen Jugendlichen weitaus markanter ausgebildet ist. Auffällig erscheint, dass weibliche Jugendliche dieser Altersgruppe in zum Teil wesentlich stärkerem Maße von Alkoholproblemen betroffen sind als die weiblichen KKH-Versicherten aus den vier nachfolgenden Altersgruppen (»20 bis unter 25 Jahre«, »25 bis unter 30 Jahre«, »30 bis unter 35 Jahre« sowie »35 bis unter 40 Jahre«). Demgegenüber ist bei männlichen Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahre eine höhere anteilige Bedeutung von Alkoholproblemen »lediglich« gegenüber den beiden nachfolgenden Altersgruppen feststellbar. Diese Diskrepanz zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« wird ebenfalls evident, wenn sich vergegenwärtigt wird, dass Alkoholprobleme bei Männern im Durchschnitt sehr viel verbreiteter sind als bei Frauen (um den Faktor 2,7). Bei den Jugendlichen in dieser Altersgruppe lassen sich dagegen nur relativ geringe Unterschiede ausmachen (Faktor 1,65). Die Ergebnisse getrennter Analysen nach den drei Leistungsbereichen »stationäre Leistungen«, »Arzneimittel« und »Krankengeld« verdeutlichen, dass die Relevanz von
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
0,90 0,80 0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00
e e e e e e e e e e e e e e e e hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja 0 0 0 0 0 5 0 5 0 5 5 5 5 5 0 4 2 3 5 3 6 5 7 1 2 4 6 7 8 80 r1 -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< ab te n 5 5 5 5 0 5 0 5 0 0 0 0 0 5 u 3 1 2 4 3 5 5 6 1 2 4 6 7 7 2000
2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.12. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Störungen durch Alkohol« bei Männern getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
0,35 0,30 0,25 0,20 0,15 0,10 0,05 0,00
e e e e e e e e e e e e e e e e hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr hr Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja 0 0 0 0 0 0 5 5 0 5 5 5 5 5 0 4 5 2 3 6 3 5 7 1 4 2 6 7 8 80 r1 -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< ab te n 5 5 5 5 5 0 0 5 0 0 0 0 0 5 u 3 4 1 2 5 3 5 6 1 4 2 6 7 7 2000
2001
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2003
⊡ Abb. 4.13. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Störungen durch Alkohol« bei Frauen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Alkoholproblemen bei Jugendlichen in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen – und hier im besonderen Maße bei den weiblichen Jugendlichen dieser Altersgruppe – in erster Linie aus quantitativ bedeutsamen Krankenhausaufenthalten sowie zusätzlich auch aus ausgeprägten Medikamentenverordnungen resultiert. Lediglich die vier Altersgruppen im Altersbereich 40 bis unter 60 Jahre sind in beiden Leistungsbereichen in stärkerem Umfang von Alkoholproblemen betroffen als weibliche Jugendliche der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre«. Männliche Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren erweisen sich im Vergleich zu den weiblichen Versicherten dieser Altersgruppe wiederum als weniger auffällig, auch wenn sie durch anteilig häufigere Krankenhausaufenthalte und Medikamentenverordnungen als die beiden folgenden Altersgruppen (»20 bis unter 25 Jahre« und »25 bis unter 30 Jahre«) gekennzeichnet sind. Da sich die besondere Bedeutsamkeit von Alkoholproblemen bei Jugendlichen in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen – und hier insbesondere bei den weiblichen Jugendlichen – vor allem aus einer anteilig hohen Krankenhausinanspruchnahme ergibt, wurden zur weiteren Differenzierung der Problematik zusätzliche Analysen zu Krankenhausbehandlungsraten durchgeführt. In der nachfolgenden ⊡ Abbildung 4.14 ist der gemittelte Anteil der Versicherten der KKH dargestellt, der
innerhalb eines Kalenderjahres mindestens einmalig mit der Diagnose »Störungen durch Alkohol« im Krankenhaus behandelt wurde. Auch diese allein auf Krankenhausbehandlungsraten bezogenen Auswertungsergebnisse lassen – zumindest bei den weiblichen KKH-Versicherten – einen zweigipfligen Verlauf der Altersabhängigkeit von Alkoholproblemen erkennen. Dieser Verlauf entspricht dabei in etwa dem Altersverlauf zur gesamtanteiligen Bedeutung von alkoholbedingten Störungen bei Frauen. Im Durchschnitt über die Jahre 2000 bis 2003 liegt der Anteil der weiblichen Jugendlichen in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« mit mindestens einer stationären Behandlung aufgrund von Alkoholproblemen bei 0,21%. Er liegt damit höher als in den drei folgenden Altersgruppen im Altersbereich zwischen 20 bis unter 35 Jahren bzw. auf dem gleichen Niveau wie in der Altersgruppe »35 bis unter 40 Jahre«. Bei den männlichen KKH-Versicherten ist dagegen kein expliziter zweigipfliger Altersverlauf ersichtlich. Die Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen männlichen Jugendlichen weist eine durchschnittliche jährliche stationäre Behandlungsrate von 0,34% auf und liegt damit auf einem vergleichbaren Niveau wie die Altersgruppen »20 bis unter 25 Jahre« und »25 bis unter 30 Jahre«. Die ergänzend durchgeführten Auswertungen nach einzelnen Kalenderjahren lassen zudem sowohl bei den
0,5 0,44
0,45
0,42
0,4 0,35
0,35 0,3
0,28
0,25
0,22
0,21
0,2
0,15
0,15
0,11
0,1 0,05 0
0,35
0,00
0,24 0,21
0,20
0,18
0,13
0,02
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48
⊡ Abb. 4.14. Anteil der weiblichen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Störungen durch Alkohol« getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
49 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
jungen Frauen als auch bei den jungen Männern insgesamt gesehen eine deutliche Zunahme der Behandlungsraten zwischen den Jahren 2000 und 2003 erkennen. So steigt die Behandlungsrate in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-jährigen weiblichen Jugendlichen von gut 0,13% im Jahre 2000 auf fast 0,24% im Jahre 2003. Dies entspricht einer Steigerung von über 75%. Die größte Steigerungsrate ist dabei zwischen den Jahren 2000 und 2001 zu verzeichnen (um 66%). In den Folgejahren 2002 und 2003 sind demgegenüber kaum noch Veränderungen beobachtbar. Auch bei den männlichen Jugendlichen der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« ist ein Anstieg der stationären Behandlungsraten im zeitlichen Verlauf feststellbar. Dieser Anstieg ist jedoch wesentlich moderater als bei den weiblichen Jugendlichen dieser Altersgruppe (⊡ Abb. 4.15). Die jahresbezogenen Auswertungen verdeutlichen aber über die spezifische Problematik in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen hinaus, dass die stationären Behandlungsraten in Zusammenhang mit Alkoholproblemen in den Beobachtungsjahren 2000 bis 2003 bei beiden Geschlechtern (mit Ausnahme der jüngsten Altersgruppen »unter 10 Jahre« und »10 bis unter 15 Jahre«) auch in allen übrigen Altersgruppen erheblich angestiegen sind. Dabei lassen sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen in verschiedenen Altersgruppen Steigerungsraten von über 200% feststellen (⊡ Abb. 4.15).
Im Rahmen der geschlechts- und altersgruppenbezogenen Analysen zur Diagnose »Störungen durch Alkohol« wurden in einem weiteren Analyseschritt die stationären Behandlungsraten infolge eines »akuten Alkoholmissbrauchs« (Diagnosen: F10.0, F10.1 und T51) mit den Raten von Krankenhausbehandlungen aufgrund einer »Alkoholabhängigkeit« (Diagnosen: F10.2, F10.3 und F10.4) vergleichend berechnet. In den ⊡ Abbildungen 4.16 und 4.17 sind die durchschnittlichen jährlichen Behandlungsraten in Krankenhäusern für die Jahre 2000 bis 2003 insgesamt sowie getrennt nach »akuter Alkoholmissbrauch« und »Alkoholabhängigkeit« für männliche bzw. weibliche Versicherte der KKH dargestellt. Die Grafiken belegen eindeutig, dass Krankenhausbehandlungen in Zusammenhang mit Alkoholproblemen bei Frauen und Männern vor Vollendung des 20. Lebensjahres nahezu ausschließlich auf akuten Alkoholmissbrauch (akute Intoxikationen) zurückzuführen ist. Der ausgeprägte Altersgipfel bei den weiblichen KKH-Versicherten in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« sowie das relative hohe Niveau an Krankenhausaufenthalten bei den männlichen Versicherten in dieser Altersgruppe basiert damit weitestgehend auf akut auftretenden Probleme im Umgang mit alkoholischen Getränken.
1,6 1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2
un te r1 0 Ja 10 hr e -< 15 Ja 15 hr e -< 20 Ja 20 hr e -< 25 Ja 25 hr -< e 30 Ja 30 hr e -< 35 Ja 35 hr e -< 40 Ja 40 hr e -< 45 Ja 45 hr e -< 50 Ja 50 hr e -< 55 Ja 55 hr -< e 60 Ja 60 hr e -< 65 Ja 65 hr e -< 70 Ja 70 hr e -< 75 Ja 75 hr e -< 80 Ja hr e ab 80 Ja hr e
0
2000
2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.15. Anteil der männlichen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung aufgrund von »Störungen durch Alkohol« im Kalenderjahr getrennt nach Alter in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
50
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
1,6 1,4 1,2 1
4
0,8 0,6 0,4 0,2 0
re re re re re re re re re re re re re re re re ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah ah J J J J J J J J J J J J J J J J 0 40 30 50 35 60 20 55 70 15 25 45 65 75 80 80 r1 -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< -< ab te n 5 5 5 0 5 5 0 5 0 0 0 0 0 5 u 3 2 4 3 5 1 5 6 1 2 4 6 7 7 Akute Intoxikation
Abhängigkeit
Alle Diagnosen zusammen
⊡ Abb. 4.16. Anteil der männlichen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Störungen durch Alkohol« getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
0,6
0,5
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Abhängigkeit
Alle Diagnosen zusammen
⊡ Abb. 4.17. Anteil an weiblichen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Störungen durch Alkohol« getrennt nach Alter (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Ab Vollendung des 30. Lebensjahres dominieren dagegen bei beiden Geschlechtern Behandlungen der Alkoholabhängigkeit, die sowohl bei Frauen als auch bei Männern am häufigsten in der Altersgruppe »45 bis unter 50 Jahre« zu einer Krankenhausbehandlung führen und somit maßgeblich für den höchsten Altersgipfel verantwortlich sind. Die Ergebnisse der ergänzend durchgeführten Auswertungen nach Kalenderjahren zeigen – mit Ausnahme der beiden jüngsten Altersgruppen »unter 10 Jahre« und »10 bis unter 15 Jahre« – durchgängig bei beiden Geschlechtern und allen sonstigen Altersgruppen einen zumeist ausgeprägten Anstieg der stationären Behandlungsraten zwischen den Jahren 2000 und 2003 sowohl infolge »akuten Alkoholmissbrauchs« als auch aufgrund einer »Alkoholabhängigkeit«. Bei weiblichen Jugendlichen der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« ergibt sich in Hinblick auf die in dieser Altersgruppe zentralen Krankenhausbehandlungen infolge akuten Alkoholmissbrauchs ein Anstieg von gut 0,15% auf annähernd 0,26%. Das entspricht einer Zuwachsrate von ca. 70%. Die größte Steigerung ist dabei, wie bereits in Bezug auf die stationäre Gesamtbehandlungsrate, zwischen den Jahren 2000 und 2001 beobachtbar. Ein ebenfalls relativ deutlicher Anstieg der mit einem akuten Alkoholmissbrauch verbundenen Behandlungs-
rate ist auch bei den männlichen Jugendlichen dieser Altersgruppe beobachtbar. So steigt der Anteil stationärer Einweisungen von 2000 bis 2003 kontinuierlich von knapp 0,28% auf über 0,42% an.
Störungen durch Alkohol nach Regionen Auch bei den alters- und geschlechtsstandardisierten regionenspezifischen Auswertungen zeigen sich einige Auffälligkeiten. So sind Versicherte aus den Bundesländern Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im stärksten Umfang von alkoholbedingten Störungen betroffen, während in Baden-Württemberg und Thüringen am seltensten Alkoholprobleme auftreten (⊡ Abb. 4.18). Die separierten Analyseergebnisse zu den drei Leistungsbereichen »stationäre Leistungen«, »Arzneimittel« und »Krankengeld« verweisen darauf, dass die Relevanz der Bundesländer Schleswig-Holstein, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern in Zusammenhang mit der quantitativen Bedeutung von Alkoholproblemen auf besonders häufige Krankenhausaufenthalte und Medikamentenverordnungen zurückzuführen ist. In SchleswigHolstein fallen zudem zusätzlich noch besonders häufige Krankengeldzahlungen an.
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2000
2002
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2003
⊡ Abb. 4.18. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Störungen durch Alkohol« getrennt nach Bundesländern in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
4
Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Störungen durch Alkohol nach Berufsgruppen
schnitt mehr als doppelt so häufig von Alkoholproblemen betroffen als Frauen (um den Faktor 2,2). Der herausragende Stellenwert insbesondere der arbeitslosen Männer wird besonders deutlich bei einem Vergleich der quantitativen Relevanz von alkoholbedingten Problemen zwischen der in diesem Zusammenhang wichtigsten Personengruppe »Arbeitslose« und der zweitwichtigsten Berufsgruppe »Bürofach-/-hilfskräfte«. So liegt die anteilige quantitative Bedeutung von Alkoholproblemen bei Arbeitslosen um den Faktor 9,8 höher als bei der Berufsgruppe »Bürofach-/-hilfskräfte«. Bei Frauen sind dagegen merklich geringere Unterschiede beobachtbar (Faktor 2,6). Die Ergebnisse der Analysen zu den einzelnen Leistungsbereichen »stationäre Leistungen«, »Arzneimittel« und »Krankengeld« zeigen, dass die ausgeprägte quantitative Bedeutung von alkoholbedingten Störungen in den besonders auffälligen Berufsgruppen durchgängig auf einer besonders häufigen Leistungsinanspruchnahme in Bezug auf alle drei Leistungsarten beruht. Zur weiteren Differenzierung der ausgeprägten Alkoholproblematik in einzelnen Berufsgruppen wurden exemplarisch zu stationären Leistungen, der Leistungsgruppe mit den höchsten finanziellen Aufwendungen für Krankenkassen, ergänzende Analysen zu Krankenhausbehandlungsraten durchgeführt. Dazu wurden zunächst wiederum die altersstandardisierten gemittelten Anteile
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2000
2002
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Die altersstandardisierten berufsgruppenbezogenen Auswertungen bestätigen die bisherigen Ergebnisse zum Diagnosekapitel »Psychische Störungen« sowie zu den zentralen Diagnosegruppen dieses Kapitels. Sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen KKH-Versicherten sind die Arbeitslosen sowie die Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« am stärksten von Alkoholproblemen betroffen. Bei den weiblichen Versicherten sind darüber hinaus auch noch die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« aufgrund ihrer hohen Betroffenheitsquote von besonderem Interesse (⊡ Abb. 4.19). Arbeitslose sind dabei sowohl bei Frauen als auch bei Männern die Personengruppe, bei der am häufigsten Alkoholprobleme ersichtlich werden. Festzustellen ist zudem, dass der Anteil an Arbeitslosen mit Alkoholproblemen bei beiden Geschlechtern im zeitlichen Verlauf, d. h. vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2003, kontinuierlich ansteigt (z. B. bei Männern: von 0,07% im Jahr 2000, über 0,084% im Jahr 2001 und 0,10% im Jahr 2002, auf 0,11% im Jahr 2003). Auch wenn die Gruppe der Arbeitslosen damit bei beiden Geschlechtern die zentrale Personengruppe in Bezug auf alkoholbedingte Störungen darstellt, so wird doch auch ein relevanter Unterschied zwischen ihnen offensichtlich: Über alle vier Beobachtungsjahre sind Männer im Durch-
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2003
⊡ Abb. 4.19. Verteilung von versichertenbezogenen Diagnosen »Störungen durch Alkohol« bei Frauen getrennt nach Berufsgruppen in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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53 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
der KKH-Versicherten für die Kalenderjahre 2000 bis 2003 insgesamt berechnet, die innerhalb eines Jahres mindestens einmal mit der Diagnose »Störungen durch Alkohol« in einem Krankenhaus behandelt wurden. Auch die Ergebnisse dieser Auswertungsvariante bestätigen die Bedeutsamkeit von Alkoholproblemen bei Arbeitslosen sowie in den Berufsgruppen »Bürofach-/hilfskraft« und »Warenkaufleute«. Bei den weiblichen Versicherten der KKH sind zusätzlich wiederum noch die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« von relativ hohen Behandlungsraten betroffen. Bemerkenswert erscheint dabei, dass in den beiden Berufsgruppen »Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute« Frauen in Abweichung vom Gesamttrend in stärkerem Maße von einer Krankenhausbehandlung aufgrund von Alkoholproblemen betroffen sind als Männer (⊡ Abb. 4.20). Bei den Arbeitslosen, der Personengruppe mit den höchsten stationären Behandlungsraten, sind es dagegen die männlichen KKH-Versicherten, die merklich häufiger von einer Krankenhausbehandlung in Zusammenhang mit Alkoholproblemen betroffen sind als die weiblichen Versicherten (um den Faktor 2,2). Zusätzlich durchgeführte jahresbezogene Auswertungen lassen zudem bei männlichen Arbeitslosen einen kontinuierlichen Anstieg der Behandlungsraten im zeitlichen Verlauf erkennen. Innerhalb des Beobachtungszeitraums von vier Jahren
zeigt sich dabei ein Anstieg der Behandlungsraten um 120%. Bei einer Differenzierung der stationären Behandlungsraten in Krankenhausaufenthalte infolge »akuten Alkoholmissbrauchs« sowie »Alkoholabhängigkeit« wird deutlich, dass sowohl männliche als auch weibliche Arbeitslose häufiger in Zusammenhang mit einer Alkoholabhängigkeit stationär behandelt werden. Insgesamt haben bei männlichen Arbeitslosen Behandlungen einer Alkoholabhängigkeit eine etwa doppelt so hohe anteilige Bedeutung wie Krankenhausbehandlungen infolge akuten Alkoholmissbrauchs. Bei weiblichen Arbeitslosen ist dieser Unterschied zwischen Behandlungen mit Bezug zu einer Alkoholabhängigkeit bzw. zu akutem Alkoholmissbrauch in drei von vier Beobachtungsjahren deutlich geringer ausgeprägt (⊡ Abb. 4.21). Bei weiblichen und männlichen Arbeitslosen ist darüber hinaus eine kontinuierliche Zunahme sowohl von Krankenhausaufenthalten mit Bezug zu akutem Alkoholmissbrauch als auch von Behandlungsraten aufgrund einer Alkoholabhängigkeit im zeitlichen Verlauf beobachtbar. So beträgt der Anstieg der Krankenhausbehandlungsraten aufgrund akuten Alkoholmissbrauchs bei männlichen Arbeitslosen zwischen den Jahren 2000 und 2004 ca. 260% (bei Alkoholabhängigkeit ca. 115%). Bei weiblichen Arbeitslosen sind ähnlich hohe Anstiege zu verzeichnen (bei akutem Alkoholmissbrauch um ca. 205%; bei Alkoholabhängigkeit um ca. 120%).
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⊡ Abb. 4.20. Anteil an Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Störungen durch Alkohol« nach Berufsgruppen (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
0,07
0,065 0,059
0,06 0,050
0,05
0,045 0,039
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Akute Intoxikation
Abhängigkeit 2000
2001
2002
2003
⊡ Abb. 4.21. Anteil an weiblichen arbeitslosen Versicherten mit mindestens einer Krankenhausbehandlung im Kalenderjahr aufgrund von »Störungen durch Alkohol« (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
Zwischenfazit Die zur Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« zählende Einzeldiagnose »Störungen durch Alkohol« (F10) belegt bei Versicherten der KKH Rang 10 unter den ökonomisch bedeutsamsten Krankheiten und verursacht die vierthäufigsten Krankenhausbehandlungstage. Geschlechts- und altersgruppenspezifische Auswertungen zeigen, dass Männer in wesentlich stärkerem Maße als Frauen von Alkoholproblemen betroffen sind. Darüber hinaus lässt sich bei beiden Geschlechtern ein zweigipfliger Verlauf der Altersabhängigkeit von Alkoholproblemen feststellen. Ein erster Gipfel findet sich in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen, ein zweiter, höherer Gipfel, in den mittleren Lebensjahren (Männer: »40 bis unter 45 Jahre«; Frauen: »45 bis unter 50 Jahre«). Auffällig erscheint, dass der erste Gipfel in der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre« bei weiblichen Jugendlichen weitaus markanter ausgebildet ist als bei den männlichen Jugendlichen dieser Altersgruppe. Die besondere Relevanz von Alkoholproblemen bei Jugendlichen – und hier insbesondere bei den weiblichen Jugendlichen zwischen 15 und unter 20 Jahren – resultiert dabei vorrangig aus einer anteilig hohen Krankenhausinanspruchnahme sowie zusätzlich aus ausgeprägten Medikamentenverordnungen. Analysen zu Krankenhausbehandlungsraten bestätigen zumindest bei den weiblichen KKH-Versicherten den auf der Globalauswertungsebene beobachtbaren zweigipfligen Verlauf der Altersabhängigkeit von Alkoholproble-
men. Die Auswertungen verweisen zudem darauf, dass die stationären Behandlungsraten mit Bezug zu Alkoholproblemen bei beiden Geschlechtern, mit Ausnahme der jüngsten Altersgruppen »unter 10 Jahre« und »10 bis unter 15 Jahre«, in allen übrigen Altersgruppen im zeitlichen Verlauf von 2000 bis einschließlich 2003 erheblich angestiegen sind. Dabei lassen sich sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen in verschiedenen Altersgruppen Steigerungsraten von über 200% nachweisen. Eine Differenzierung der Krankenhausbehandlungsraten in stationäre Aufenthalte infolge »akuten Alkoholmissbrauchs« und Behandlungen aufgrund einer »Alkoholabhängigkeit« belegen zudem, dass der erste Altersgipfel in der Gruppe »15 bis unter 20 Jahre« nahezu ausschließlich auf akuten Alkoholmissbrauch zurückzuführen ist. Insgesamt über alle Altersgruppen ist bei beiden Geschlechtern feststellbar, dass stationäre Aufenthalte mit Bezug zu Alkoholproblemen bis zum 30. Lebensjahr weitestgehend mit akuten Intoxikationen verbunden sind. Nach Vollendung des 30. Lebensjahres dominieren demgegenüber Behandlungen der Alkoholabhängigkeit. Regionenspezifische Auswertungen lassen erkennen, dass Versicherte aus den Bundesländern Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im stärksten Umfang von Alkoholproblemen betroffen sind. Berufsgruppenbezogene Auswertungen bestätigen zudem, dass bei weiblichen und männlichen KKH-Versicherten die Gruppe der Arbeitslosen am häufigsten von Alkoholproblemen betroffen ist. Neben den Arbeitslosen sind bei beiden Geschlechtern vor allem die Berufsgruppen
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
»Bürofach-/-hilfskräfte« und »Warenkaufleute«, sowie zusätzlich bei weiblichen Versicherten die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe«, aufgrund ihrer hohen Betroffenheitsquote von besonderem Interesse.
Psychische Störungen und Pflegebedürftigkeit Der Anteil Pflegebedürftiger am Gesamtversichertenbestand der KKH beträgt in den Jahren 2000 bis 2003 durchschnittlich 1,7% (Frauen: 1,8%; Männer: 1,5%). Das heißt, dass ca. jeder 60. Versicherte der KKH innerhalb des vierjährigen Beobachtungszeitraums Pflegeempfänger ist. Bei beiden Geschlechtern zeigt sich ein deutliches Übergewicht der ambulanten im Vergleich zur stationären Pflege. So liegt der Anteil ambulant versorgter Pflegebedürftiger bei Frauen durchschnittlich bei 1,3% (Männer: 1,3%), während stationär 0,7% der weiblichen Versicherten der KKH gepflegt werden (Männer: 0,3%). Sowohl bei Frauen als auch bei Männern lässt sich ein kontinuierlicher Anstieg des Anteils Pflegebedürftiger im zeitlichen Verlauf beobachten (⊡ Abb. 4.22). Die steigende anteilige Bedeutung der Pflege ist dabei auf Zuwächse bei beiden Pflegeformen – ambulante und stationäre Pflege – zurückzuführen. Insbesondere in den höheren Altersgruppen hat die Pflegebedürftigkeit, und damit auch die Gewährung von Versicherungsleistungen, eine erhebliche Bedeutung. Beträgt im Analysezeitraum beispielsweise der Anteil von pflegebedürftigen Frauen in der Altersgruppe »65 bis unter 70 Jahre« durchschnittlich 2,3% (Männer: 3,3%), so steigt
er in den Altersgruppen »70 bis unter 75 Jahre«, »75 bis unter 80 Jahre« und »ab 80 Jahre« von 5,5%, über 11,9%, auf 45,9% an (Männer: von 6,4%, über 11,5%, auf 35,6%). Da sich die Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Umfang des Hilfebedarfs richten, werden die Pflegebedürftigen drei unterschiedlichen Pflegestufen (I bis III) zugeordnet. Die in den Jahren 2000 bis 2003 als pflegebedürftig anerkannten Versicherten der KKH sind am häufigsten der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) zugehörig. Insgesamt 46,7% gehören dieser Pflegestufe an, während 37,9% in die Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) und 15,4% in die Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) klassifiziert sind.
Pflegebedürftigkeit auf der Ebene von Diagnosekapiteln Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse basieren wiederum auf Analysen, bei denen jedem Versicherten mit dokumentierten Gesundheitsleistungen für jedes der vier berücksichtigten Kalenderjahre jeweils ausschließlich ein Diagnosekapitel bzw. eine Diagnose(gruppe) zur Kennzeichnung der vorrangigen Erkrankung zugeordnet wurde. Die nachfolgende Grafik (⊡ Abb. 4.23) zeigt die jeweilige altersstandardisierte quantitative Bedeutung, die den pflegebedürftigen KKH-Versicherten in den Jahren 2000 bis 2003 in Bezug auf die einzelnen Diagnosekapitel zukommt. Offensichtlich wird dabei, dass der Anteil von pflegebedürftigen Frauen und Männern mit einer vorrangigen Erkrankung aus dem Diagnosekapitel 6 »Krankheiten des Nervensystems«, das u. a. Krankheiten wie Folgen von Schlaganfällen, Parkinson, Alzheimer, Epilepsie und
2,5 2,09 2
1,91 1,64
1,5
1,32
1,41
1,61
1,51
1,75
1
0,5
0
Männer
Frauen 2000
2001
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2003
⊡ Abb. 4.22. Anteil Pflegebedürftiger getrennt nach Geschlecht in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
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⊡ Abb. 4.23. Anteil der weiblichen Pflegebedürftigen an den Diagnosekapiteln in Prozent (je 100 Versicherungsjahre)
Multiple Sklerose beinhaltet, am höchsten ist. In den einzelnen Beobachtungsjahren sind zwischen 10,5% und 13,0% aller Frauen (bzw. 12,5–14,0% aller Männer), die eine vorrangige Diagnose aus diesem Kapitel aufweisen, Pflegebedürftige. Da der Anteil Pflegebedürftiger am Gesamtversichertenbestand der KKH insgesamt 1,8% bei Frauen und 1,5% bei Männern beträgt, liegen die Werte der Pflegebedürftigen in diesem Diagnosekapitel damit bis um den Faktor 9,3 (bei Männern) bzw. 7,2 (bei Frauen) höher als es ihrem jeweiligen Gesamtanteil im Versichertenbestand der KKH entspricht. In nennenswertem Umfang sind Pflegebedürftige auch von psychischen Erkrankungen betroffen: Zwischen 4,8% und 5,7% der weiblichen Versicherten mit einer vorrangigen psychischen Erkrankung sind als pflegebedürftig anerkannt (bei Männern: zwischen 4,3% und 5,0%). Auch diese Werte liegen noch deutlich über den durchschnittlichen Gesamtanteilswerten der Pflegebedürftigen im Versichertenbestand der KKH (bei Frauen: bis um den Faktor 3,2; bei Männern: bis um den Faktor 3,3). Neben diesen auf die Gesamtpopulation der Versicherten bezogenen Auswertungen wurden zusätzlich Analysen durchgeführt, die sich ausschließlich auf die Population der Pflegebedürftigen beziehen. Diese Auswertungen geben Auskunft über die anteilige Verteilung der Pflegebedürftigen auf die einzelnen Diagnosekapitel sowie auf die wichtigsten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen«.
⊡ Abbildung 4.24 verdeutlicht, dass psychische Erkrankungen in der Gruppe der Pflegebedürftigen, nach Krankheiten des Kreislaufsystems (Diagnosekapitel 9), den zweithöchsten Stellenwert haben. In den Jahren 2000 bis 2003 weisen zwischen 11,9% und 13,4% der pflegebedürftigen weiblichen Versicherten eine vorrangige Erkrankung aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« auf (bei Männern: 9,5–9,9%). Bei getrennter Betrachtung der Pflegebedürftigen nach Pflegestufen zeigt sich, dass von männlichen Pflegebedürftigen der drei Pflegestufen über den Gesamtbeobachtungszeitraum von vier Jahren im Durchschnitt durchgängig jeweils knapp 10% von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Der Anteil von weiblichen Pflegebedürftigen mit psychischen Störungen liegt im Vergleich dazu ausnahmslos etwas höher (Pflegestufe I: 12,1%; Pflegestufe II: 12,9%; Pflegestufe III: 14,7%). Auswertungen, die die Pflegeform berücksichtigen, lassen zudem erkennen, dass psychische Erkrankungen bei stationär versorgten Pflegebedürftigen eine weitaus zentralere Bedeutung haben als bei ambulant gepflegten Versicherten: Der Anteil ambulant versorgter Pflegebedürftiger mit einer vorrangigen Diagnose aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« beträgt insgesamt durchschnittlich 8,0% (Männer) bzw. 9,9% (Frauen). Dem gegenüber liegt der Anteil stationär gepflegter Versicherter mit einer psychischen Erkrankung im Durchschnitt bei 18,0% (Männer) bzw. 19,0% (Frauen) (⊡ Abb. 4.25).
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57 Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
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⊡ Abb. 4.24. Anteilige Verteilung von weiblichen Pflegebedürftigen nach Diagnosekapiteln in Prozent
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⊡ Abb. 4.25. Anteilige Verteilung von stationär versorgten männlichen Pflegebedürftigen nach Diagnosekapiteln in Prozent
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
Pflegebedürftigkeit auf der Ebene von Diagnosegruppen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen«
4
Die Gruppe der Pflegebedürftigen ist insbesondere von psychischen Erkrankungen aus den drei Diagnosegruppen »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00–F09), »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) sowie »Affektive Störungen« (F30–F39) betroffen. Bei männlichen Pflegebedürftigen ist zudem noch die Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) als bedeutsam einzustufen. Die übrigen sieben Diagnosegruppen des Kapitels »Psychische Störungen« sind dagegen weder bei den weiblichen noch bei den männlichen Pflegeempfängern von besonderer Bedeutung. Abweichend von den bisherigen Ergebnissen stellen bei Pflegebedürftigen die unter »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00–F09) subsumierten Krankheiten die mit Abstand wichtigste Diagnosegruppe dar. Zu dieser Diagnosegruppe zählen u. a. Krankheiten wie Demenz und psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns. Die besondere Relevanz dieser Diagnosegruppe für Pflegebedürftige ist dabei durchgängig beobachtbar, und zwar sowohl bei Frauen als auch bei Männern sowie
in Bezug auf die stationäre und ambulante Pflege sowie die drei Pflegestufen (⊡ Abb. 4.26). Aus ⊡ Abbildung 4.26 wird ersichtlich, dass zwischen 1,55% und 1,85% aller Frauen mit Pflegeanspruch in den Jahren 2000 bis 2003 eine vorrangige Diagnose aus der Diagnosegruppe F00–F09 aufweisen (Männer: zwischen 1,27% und 1,47%). Die zweitwichtigste Diagnosegruppe aus Sicht der weiblichen Pflegebedürftigen sind »affektive Störungen« (F30–F39). Zwischen 0,57% und 0,70% der Frauen sind von einer Erkrankung aus dieser Krankheitsgruppe betroffen. Bei männlichen Pflegeempfängern sind es hingegen vor allem Erkrankungen aus dem Spektrum der Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19), die sich zusätzlich als besonders bedeutsam erweisen. Pflegebedürftige mit einer vorrangigen Diagnose aus den Diagnosegruppen »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19), »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) sowie »Affektive Störungen« (F30–F39) gehören am häufigsten der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) an. Pflegeempfänger mit einer Diagnose aus der Krankheitsgruppe »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00–F09) sind dagegen vor allem in die Pflegestufen II und III (Schwerpflegebedürftige bzw. Schwerstpflegebedürftige) eingruppiert.
2 1,8 1,6 1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 09 0-F F0
19 0-F F1
29 0-F F2
39 0-F F3
48 0-F F4
2000
59 0-F F5
2001
69 0-F F6
2002
79 0-F F7
2003
⊡ Abb. 4.26. Anteilige Verteilung von weiblichen Pflegebedürftigen nach Diagnosegruppen in Prozent
89 0-F F8
98 0-F F9
9 F9
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Wie bereits auf der Ebene des Diagnosekapitels »Psychische Störungen«, so zeigt sich auch bei den besonders relevanten Diagnosegruppen, dass psychische Erkrankungen bei stationär versorgten Pflegebedürftigen quantitativ bedeutsamer sind als bei ambulant gepflegten Versicherten. Besonders deutlich wird dies bei Pflegebedürftigen mit einer Krankheit aus der Diagnosegruppe »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00–F09): Der Anteil stationär gepflegter Versicherter mit einer vorrangigen Diagnose aus dieser Krankheitsgruppe liegt bei den weiblichen KKH-Versicherten um den Faktor 2,4 höher als bei den ambulant versorgten Pflegebedürftigen (bei Männern: um den Faktor 3,2) (⊡ Abb. 4.27).
Pflegebedürftigkeit auf der Ebene von Einzeldiagnosen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« Insgesamt neun Einzeldiagnosen aus den vier besonders relevanten Diagnosegruppen des Kapitels »Psychische Störungen« erweisen sich für die Gruppe der Pflegebedürftigen als quantitativ bedeutsam. Allein fünf der neun Diagnosen zählen dabei zur Diagnosegruppe »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (»Vaskuläre Demenz« [F01], »Nicht näher bezeichnete
Demenz« [F03], »Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt« [F05]. »Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit« [F06], »Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns« [F07]). Neben diesen fünf Einzeldiagnosen aus der Diagnosegruppe F00–F09 sind auch die Diagnosen »Störungen durch Alkohol« (F10), »Schizophrenie« (F20), »Depressive Episode« (F32) sowie »Rezidivierende depressive Störung« (F33) als relevant einzustufen. Die weiblichen Pflegebedürftigen sind im Durchschnitt über die Jahre 2000 bis 2003 am häufigsten von den Diagnosen »Nicht näher bezeichnete Demenz« (F03) und »Vaskuläre Demenz« (F01) betroffen (anteilig zu 0,49% bzw. 0,39%). Quantitativ bedeutsam sind bei Frauen mit Pflegeanspruch darüber hinaus vor allem auch die Diagnosen »Schizophrenie« (F20) und »Depressive Episode« (F32). Jeweils 0,36% weisen im Durchschnitt über die vier Beobachtungsjahre eine der beiden Erkrankungen auf (⊡ Abb. 4.28). Auch bei den männlichen Pflegebedürftigen zählen die Einzeldiagnosen »Vaskuläre Demenz« (F01), »Nicht näher bezeichnete Demenz« (F03) und »Schizophrenie« (F20) zu den vier anteilig relevantesten psychischen Störungen. Am häufigsten sind Männer mit Pflegeanspruch
4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 09 0-F F0
19 0-F F1
29 0-F F2
39 0-F F3
48 0-F F4
2000
59 0-F F5
2001
69 0-F F6
2002
79 0-F F7
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98 0-F F9
2003
⊡ Abb. 4.27. Anteilige Verteilung von stationär versorgten weiblichen Pflegebedürftigen nach Diagnosegruppen in Prozent
9 F9
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1 0,9 0,8 0,7 0,6
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5 F0
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ambulant
7 F0
0 F1
stationär
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2 F3
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insgesamt
⊡ Abb. 4.28. Anteilige Verteilung von weiblichen Pflegebedürftigen nach Einzeldiagnosen (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent
allerdings von »Störungen durch Alkohol« (F10) betroffen. So beträgt der Anteil von männlichen Pflegebedürftigen mit Alkoholproblemen 0,47% (⊡ Abb. 4.29). Die ⊡ Abbildungen 4.28 und 4.29 verdeutlichen zudem, dass psychische Erkrankungen auch auf der Ebene der Einzeldiagnosen bei stationär versorgten Pflegebedürftigen dominieren. Von einer Ausnahme abgesehen sind Versicherte, die in stationären Einrichtungen gepflegt werden, in zumeist weitaus stärkerem Maße als ambulant versorgte Pflegebedürftige von den einzelnen Diagnosen betroffen. Pflegestufenbezogene Analysen zeigen darüber hinaus, dass männliche Pflegebedürftige der Pflegestufen I und II in besonders ausgeprägtem Umfang von Alkoholproblemen betroffen sind. Bei weiblichen Pflegeempfängerinnen stehen dagegen die Diagnosen »Schizophrenie« (in Pflegestufe I) und »Nicht näher bezeichnete Demenz« (in Pflegestufe II) im Vordergrund. Weibliche und männliche Pflegebedürftige der Pflegestufe III weisen hingegen am häufigsten eine vaskuläre Demenz auf.
Zwischenfazit Der Anteil Pflegebedürftiger, der bezogen auf die Gesamtpopulation der KKH-Versicherten in den Jahren 2000 bis 2003 durchschnittlich bei 1,7% liegt, hat insbesondere in den höheren Altersgruppen eine erhebliche Relevanz.
So sind z. B. in den beiden Altersgruppen »75 bis unter 80 Jahre« und »ab 80 Jahre« 11,5% bzw. 35,6% der männlichen Versicherten und 11,9% bzw. 45,9% der weiblichen Versicherten als pflegebedürftig anerkannt. Psychischen Erkrankungen kommt in der Gruppe der Pflegebedürftigen eine wesentliche Bedeutung zu. Über 10% der weiblichen und fast 10% der männlichen Pflegebedürftigen weisen in den Jahren 2000 bis 2003 jeweils eine vorrangige Erkrankung aus dem Diagnosekapitel »Psychische Störungen« auf. Der Anteil stationär versorgter Pflegebedürftiger mit einer psychischen Erkrankung ist dabei etwa doppelt so hoch wie in der Gruppe der ambulant gepflegten Versicherten. Besonders häufig sind Pflegebedürftige von Erkrankungen aus dem Spektrum der Diagnosegruppe »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00–F09) betroffen. In ausgeprägtem Maße weisen sie darüber hinaus auch Diagnosen aus den Krankheitsgruppen »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20–F29) sowie »Affektive Störungen« (F30– F39) auf. Bei männlichen Pflegeempfängern ist außerdem noch die Diagnosegruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F10–F19) als bedeutsam einzustufen. Als quantitativ relevant können insgesamt neun Einzeldiagnosen aus diesen vier Diagnosegruppen bezeichnet werden, davon allein fünf aus der Diagnosegruppe »Orga-
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5 F0
6 F0 ambulant
7 F0
0 F1
stationär
insgesamt
0 F2
2 F3
3 F3
⊡ Abb. 4.29. Anteilige Verteilung von männlichen Pflegebedürftigen nach Einzeldiagnosen (Durchschnittswerte aus 2000 bis 2003) in Prozent
nische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00–F09). Weibliche Pflegebedürftige sind am häufigsten von einer Demenz (»vaskuläre Demenz« sowie »nicht näher bezeichnete Demenz«) sowie von den Diagnosen »Schizophrenie« und »Depressive Episode« betroffen. Auch bei den männlichen Versicherten der KKH mit Pflegeanspruch zählen Demenz und Schizophrenie zu den bedeutsamsten psychischen Erkrankungen. Am anteilig relevantesten ist bei den männlichen Pflegebedürftigen allerdings die Diagnose »Störungen durch Alkohol«.
Fazit und Empfehlungen Die bei Krankenkassen routinemäßig erfassten Daten zur Leistungsinanspruchnahme ihrer Versicherten ermöglichen einen differenzierten Einblick in die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung in Deutschland. Allein bei der KKH liegen jährlich gesundheitsbezogene Informationen von rund 2,2 Millionen Versicherten vor. Die Auswertungen dieser so genannten Routinedaten, die für das vorliegende »Weißbuch Prävention!« vor allem auf psychische Erkrankungen ausgerichtet waren, sollten einen Einblick in die Verbreitung und Verteilung wichtiger Krankheiten und Gesundheitsprobleme innerhalb der Versichertengemeinschaft der KKH sowie in ihre ökonomische Relevanz geben.
Die dargestellten Ergebnisse der Routinedatenanalysen konnten die hohe Relevanz von psychischen Störungen bei Versicherten der KKH und damit auch die Bedeutsamkeit gezielter präventiver Aktivitäten eindeutig belegen. Insbesondere der hohe ökonomische Stellenwert psychischer Erkrankungen ließ sich dabei verdeutlichen. So belegen psychische Störungen unter allen 21 Diagnosekapiteln den dritten Rangplatz. Lediglich die Diagnosekapitel »Krankheiten des Kreislaufsystems« und »Neubildungen« sind mit höheren Ausgabenanteilen verbunden. Die Analysen konnten zudem zeigen, dass vor allem fünf Einzeldiagnosen aus vier Krankheitsgruppen des Diagnosekapitels »Psychische Störungen« einen besonders hohen Stellenwert haben – depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen, Schizophrenie, Störungen durch Alkohol sowie Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen. Darüber hinaus konnten sie aufzeigen, dass in der Gruppe der Pflegebedürftigen neben den genannten psychischen Erkrankungen insbesondere auch Diagnosen aus der Diagnosegruppe »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen«, und hier vor allem die Demenz, von zentraler Bedeutung sind. Die Analysen der Routinedaten aus insgesamt vier Kalenderjahren haben außerdem wichtige Hinweise für eine zielgruppenspezifische Ausrichtung von Interventionen liefern können. Das heißt, dass verschiedene Ver-
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Kapitel 4 · Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen
sichertengruppen identifiziert werden konnten, die in besonders ausgeprägtem Maße von den zentralen psychischen Erkrankungen betroffen sind bzw. die ein deutlich erhöhtes Risiko für diese Erkrankungen aufweisen. So belegen die Analyseergebnisse beispielsweise, dass Frauen insgesamt häufiger von psychischen Problemen betroffen sind als Männer. Auch eine Altersabhängigkeit der Relevanz psychischer Störungen war feststellbar: Versicherte im Alter von 35 bis maximal 59 Jahre weisen in der Regel deutlich häufiger Krankheiten aus den vier wichtigsten Krankheitsgruppen auf als jüngere und ältere Versicherte. Es konnte zudem festgestellt werden, dass Arbeitslose in Bezug auf alle relevanten Diagnosegruppen und Einzeldiagnosen die anteilig häufigsten psychischen Erkrankungen verzeichnen. Ebenfalls in besonders starkem Maße sind »Bürofach-/-hilfskräfte« sowie »Warenkaufleute« (und bei weiblichen Versicherten zusätzlich die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« sowie »Sozialpflegerische Berufe«) von psychischen Erkrankungen betroffen. Bedenkenswert erscheint, dass sich sowohl Arbeitslose als auch die Angehörigen der übrigen auffälligen Berufsgruppen bereits bei den letztjährigen Auswertungen zum »Weißbuch Prävention! HERZgesund?« in Bezug auf Herzkrankheiten als die besonders relevanten Personengruppen, d. h. die Gruppen mit den anteilig häufigsten Herzkrankheiten, herauskristallisiert hatten. Neben diesen durchgängig alle zentralen psychischen Erkrankungen betreffenden Resultaten konnten zudem krankheitsspezifische Risikogruppen und Risikoregionen identifiziert werden. Genannt sei z. B. die Problematik der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (»Zappelphilipp-Syndrom«) bei männlichen Jugendlichen der Altersgruppe »10 bis unter 15 Jahre«, die auch als prädisponierender Faktor für Belastungsund Anpassungsstörungen (F43) angesehen wird. Auch die besondere Problematik alkoholbedingter Störungen bei Jugendlichen, und hier insbesondere bei weiblichen Jugendlichen der Altersgruppe »15 bis unter 20 Jahre«, ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Da aus den Codes der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10) keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse zur Stressproblematik ableitbar sind, waren auch die Analysen der Routinedaten nicht direkt auf das Gesundheitsproblem »Stress« fokussierbar. Allerdings lassen sich auf der Grundlage vorliegender Studienergebnisse zumindest für einige der besonders relevanten Erkrankungen indirekt Zusammenhänge zur Stressproblematik aufzeigen. So wird z. B. häufig ausgeführt, dass Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit, Mobbing, familiäre Belastungen, Schulprobleme, Überforderung etc. zu (chronischen) Stressreaktionen führen können, die wiederum als Risikofaktoren u. a. für die
Ausbildung von Depressionen und Alkoholproblemen bezeichnet werden. Zugleich werden Ängste und Depressionen als häufigste psychische Begleiterkrankungen bei Alkoholikern bezeichnet. Chronischer, familiärer Stress sowie chronischer Arbeitsstress, aber auch Depressionen und Angst stellen – wie bereits im »Weißbuch Prävention! HERZgesund?« 2004 ausführlich beschrieben – Risikofaktoren für die Entstehung und den Verlauf von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, den ausgabenträchtigsten Krankheiten, dar (De Backer et al. 2003). Ebenso zählen chronisch anhaltende Belastungen im beruflichen und privaten Alltag zu den relevanten Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen (Pfingsten 2005). Bereits diese Beispiele machen deutlich, dass zielgruppenspezifische stressbezogene präventive Maßnahmen von hoher Relevanz sind. Derartige Maßnahmen können dabei nicht nur der Stressvorbeugung und Stressreduktion dienen, sondern müssten bei zielgerechter Ausgestaltung zusätzlich auch das Risiko für besonders relevante Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenschmerzen sowie depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen wirksam mindern. Darüber hinaus könnten sie gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsum positiv beeinflussen. Entsprechend sollten Programme zur Stressprävention verschiedene Aspekte berücksichtigen und auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Derartige multimodale Programme sind auch beginnend Bestandteil der Präventionspraxis in Deutschland (Puls et al, 2002). Flankiert werden sollten solche verhaltensbezogenen präventiven Maßnahmen aber auch durch eine gezielte Verhältnisprävention. Beispiele sind Veränderungen der Organisationsstrukturen im Bereich Arbeit sowie eine gesundheitsförderliche Gestaltung von Schulen.
Literatur De Backer G, Ambrosiani E, Borch-Johnsen K, Brotons C, Dallongeville J et al. (2003) European guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Third Joint Task Force of European and other Societies on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur J Cardiovasc Prev Rehab 10 (Suppl 1): S 1–S78 Pfingsten M (2005) Psychologische Faktoren. In: Hildebrandt J, Müller G, Pfingsten M (Hrsg) Lendenwirbelsäule. Ursachen, Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen. Urban & Fischer, München, S 26–40 Puls W, Inhester M-L, Wienold H (2002) Stressbewältigungstrainings als Komponente betrieblicher Suchtprävention. Sucht 4: S 271–283
5 Stresstheoretische Modelle Anja Busse, Martina Plaumann, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Einschlägige Wissenschaften, die die Ursachen und Folgen von Stress untersuchen, nähern sich dem Stressverständnis aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Im Folgenden werden diese Perspektiven mit ihren wesentlichen stresstheoretischen Modellen dargestellt, die von den biologisch geprägten reaktionsorientierten Ansätzen über reizorientierte soziologische Modelle zu den psychologischen Stressmodellen bis zu ressourcenorientierten Modellen wie der Salutogenese reichen. Diese Einteilung wird durch arbeitsweltbezogene Stressmodelle und das biopsychosoziale Modell erweitert. Diese aufgelisteten Modelle fokussieren jeweils auf einen anderen spezifischen Aspekt des komplexen Stressgeschehens, können aber als einander ergänzend verstanden werden. ⊡ Tabelle 5.1 gibt einen Überblick über die Modelle und ihre Charakteristika.
Biologische Stressmodelle Neurologische und endokrinologische Abläufe bei Wahrnehmung einer Bedrohung Im zentralen Nervensystem sind vor allem das limbische System, der Kortex und das Stammhirn an einer Stressreaktion beteiligt (⊡ Abb. 5.1). Neue sensorische Informationen laufen zunächst im Thalamus, einem Teil des limbischen Systems, zusammen, wo ein noch unscharfes, aber dafür schnell verfügbares Bild der Situation erstellt wird. Gleichzeitig wird die Information an Areale des Kortex weitergeleitet, in denen die Informationen detaillierter verarbeitet werden. Ergibt bereits die Prüfung durch den Thalamus eine eindeutige Gefahr, so sendet dieser direkt an den Mandelkern und löst somit eine körperliche Kurz-
schlussstressreaktion unter Umgehung der höheren Hirnareale aus. Auch vom Kortex aus wird sich die Erregung bei Vorliegen einer Gefahr wieder in tiefer liegende Hirnbereiche ausdehnen und den Mandelkern erreichen. Dieser – wie der Thalamus Teil des limbischen Systems – ist von zentraler Bedeutung bei emotionalen Reaktionen und verleiht der Erregung ihre emotionale Qualität. Der im Stammhirn angesiedelte Locus coeruleus (»der blaue Kern«), der den Großteil des zentral vorhandenen Neurotransmitters Noradrenalin produziert, wird im Rahmen einer Stressreaktion ebenfalls zu vermehrter Tätigkeit angeregt. Im Stammhirn, dem evolutionsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns, werden die willkürlichen und unwillkürlichen motorischen Reaktionen gesteuert, unter anderem durch die anregende Wirkung des Noradrenalins auf die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse. Kann die Gefahr auslösende Situation schnell bewältigt werden und sich der Organismus erholen, wird das vorhandene Noradrenalin wieder abgebaut. Bei fortbestehender Gefahr wird die Aktivierung aufrechterhalten, Noradrenalin wird weiterhin freigesetzt und die bisher beteiligten Gehirnareale Kortex, limbisches System und Stammhirn erhöhen ihre Aktivierungsleistung. Die Erregung breitet sich bei fortbestehender Gefahrensituation bis in Teile des Hypothalamus (der auch Teil des limbischen Systems ist) aus. Von dort wird die zweite Stressachse, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, stimuliert. Den biologischen Stressmodellen zufolge wird Stress durch externe oder interne Stressoren ausgelöst, die das Gleichgewicht eines Organismus stören und eine aus spezifischen und unspezifischen Reaktionen bestehende Anpassungsleistung verlangen. Der Organismus stößt dabei jedoch an die Grenzen seiner Adaptionsfähigkeit oder überschreitet diese sogar (Zimbardo u. Gerrig 1999). Walter B. Cannon (1929) prägte den Begriff Homöostase,
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Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
um »die koordinierten physiologischen Prozesse, welche die meisten der gleichbleibenden Verhältnisse im Organismus aufrechterhalten« zu beschreiben (zitiert nach Selye 1974, S. 66). Dazu gehören »spezifische homöostatische Mechanismen, die für die Gleichmäßigkeit des Pulsschlages, Blutdrucks usw. sorgen« (Selye 1974, S. 93). Cannon erkannte bereits die bedeutende Rolle des Adrenalins und des sympathischen Nervensystems bei einer »Notfallreaktion«. Diese tritt ein, sobald plötzliche oder neuartige Störungen eine Aufrechterhaltung der inneren Homöostase durch die routinemäßigen Prozesse gefährden. Die Auslösung eines unspezifischen Aktivierungsprogramms bot evolutionsbiologisch einen Überlebensvorteil, da so der Organismus in die Lage versetzt wird, mit einer Kampf- oder Fluchtantwort (»fight or flight«) auf eine potentiell bedrohliche Situation zu reagieren. Die dabei ablaufenden körperlichen Reaktionen sind in ⊡ Abbildung 5.2 dargestellt.
Mittlerweile wird angenommen, dass sich die Stressreaktionen von Männern und Frauen unterscheiden (Taylor et al. 2000, 2002). Demnach antworten Frauen mit einem erweiterten Verhaltensrepertoire auf Stress. Sie zeigen eine Reaktion, die über die als Fight-or-Flight-Syndrom beschriebene Reaktion hinausgeht und eher auf Fürsorge, Hilfestellung und Unterstützung gerichtet ist (»tend and befriend«). Das Hormon Oxytocin, das unter anderem auch während der Stillzeit ausgeschüttet wird und generell eine beruhigende Wirkung hat, ist an dieser Reaktionsweise beteiligt.
Allgemeines Adaptionssyndrom Selye sah, ebenso wie Cannon, in Stress die unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Art von Störung der Homöostase und unterschied Stressoren (Reize) von Stress (Reaktion). Er erkannte, dass Stress nicht unbedingt
⊡ Tabelle 5.1. Stressmodelle Modelle
Wesentliche Vertreter
Fokus
Stressverständnis/Fragestellung
Biologische Stressmodelle
Cannon (1929) Selye (1956)
Reaktionsorientierung, körperliche Reaktionen
Die unspezifische Stressreaktion ist die Antwort des Organismus auf jede Art von Stressor.
Soziologische Stressmodelle
Holmes u. Rahe (1967) Anderson (1991)
Reizzentrierung, chronische Stressoren (Lärm, Armut), kritische Lebensereignisse, tägliche Ärgernisse
Jeder Stressor ruft eine spezifische Stressreaktion hervor.
Psychologische Stressmodelle
Lazarus u. Folkman (1984)
Transaktionales Modell, subjektive Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewältigungsversuche
Der Stressbegriff umfasst die belastende Situation, die Reaktion darauf und das Bewältigungsverhalten (Coping). Stress entsteht im Austauschprozess der Person mit dem Umfeld, vorausgesetzt, die Anforderungen übersteigen in der subjektiven Einschätzung des Betroffenen seine Anpassungskapazität. Stress wird als herausfordernd, bedrohend oder schädigend erlebt.
Ressourcenfokussierte Stressmodelle
Becker u. Polenz (1997) Hobfoll (1998)
Tatsächlicher oder antizipierter Ressourcenverlust
Die Bedrohung oder der Verlust von Ressourcen, womit Gegenstände, privilegierende Bedingungen oder Persönlichkeitsmerkmale wie seelische Gesundheit gemeint sind, führen zu Stress.
Antonovsky (1987)
Salutogenetische Perspektive, Erhalt der Gesundheit
Die zentrale Frage ist: »Was erhält uns gesund?« Im salutogenetischen Modell ist die Identifikation von Ressourcen und protektiven Faktoren, den so genannten generalisierten Widerstandsressourcen, ausschlaggebend.
Karasek u. Theorell (1990)
Anforderung und Kontrolle
Quantitativ hohe Anforderungen mit niedrigem Kontrollspielraum, großer Monotonie und sozialer Isolation bedingen chronischen Stress.
Siegrist (1996)
Aufwandsentschädigung (Gratifikation)
Hohe Verausgabung ohne entsprechende Entschädigung erzeugt Distress.
Engel (1977) Adler et al. (2003)
Systemischer Ansatz, der die Interaktion von Körper, Psyche und Umwelt einbezieht
Stress entsteht durch die Interaktion biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren.
Arbeitsweltbezogene Stressmodelle
Biopsychosoziale Modelle
65 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
Kortex
Limbisches System Sensorischer Input
Thalamus
Hypothalamus Locus coeruleus (blauer Kern)
Stammhirn
Hypophyse
Amygdala (Mandelkern)
⊡ Abb. 5.1. Die neurologische Stressreaktion (nach Kaluza 2004)
Die Reaktion des Körpers auf Stress Blutgefäße in der Haut, Skelettmuskulatur, Gehirn und Eingeweide ziehen sich zusammen
Pupillen erweitern sich und Ziliarmuskeln akkomodieren auf Fernsicht Bronchien dehnen sich aus
Schweißbildung verstärkt sich
Herz erhöht die Herzschlagrate und steigert die Stärke der Kontraktionen Haut und Körperbehaarung bringen »Gänsehaut« hervor Adrenalindrüsen regen die Ausschüttung von Adrenalin an, dadurch erhöhter Blutzucker, Blutdruck und Herzschlag Ausschüttung von Verdauungsflüssigkeiten werden verringert
Verdauungstrakt verlangsamt die Peristaltik (Zusammenziehen und Ausdehnen der glatten Muskulatur) Leber schüttet Zucker in den Blutkreislauf aus Ausschüttungen aus der Pankreasdrüse werden verringert
Analer Schließmuskel kontrahiert Urethraler Schließmuskel kontrahiert
⊡ Abb. 5.2. Die körperlichen Stressreaktionen (nach Zimbardo u. Gerrig 1999)
Harnblase entspannt sich Blutgefäße der äußeren Genitalien erweitern sich
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66
Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
gesundheitsschädlich sein muss und sowohl als positiv (Eustress) als auch negativ (Distress) empfunden werden kann. Die positive Funktion von Stress brachte er in dem Satz »Stress ist die Würze des Lebens« (Selye, zitiert nach Kaluza 2004) zum Ausdruck. Diese Unterscheidung wird durch das Yerkes-Dodson-Gesetz gestützt, wonach Stress die Leistungsfähigkeit eines Organismus auch erhöhen kann. scheint inzwischen ständiger Begleiter der » Stress Menschen in der modernen Gesellschaft geworden zu sein. Dabei kann Stress durchaus nützliche Seiten haben: Er schafft das Spannungsfeld, das hilft, notwendige Energien zu mobilisieren, die zur Bewältigung wichtiger Aufgaben nötig sind. Ministerin Ursula von der Leyen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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«
Im Fokus von Selyes biologischer Stresstheorie stand für ihn als Endokrinologe zunächst die physiologische, ins-
Normales Widerstandsniveau
besondere die hormonelle Veränderung im Organismus durch physikalische oder chemische Stressoren, von Selye auch »Agenzien« genannt. Er gewann seine Erkenntnisse durch Untersuchungen an Laborratten: »Im Verlauf meiner Experimente, bei denen Ratten verschiedene unreine und toxische Drüsenextrakte injiziert wurden, stellte sich heraus, daß [...] diese Injektionen ein stereotypes Syndrom – eine Reihe gleichzeitig auftretender Organveränderungen – erzeugten, dessen charakteristische Merkmale Vergrößerung und übermäßige Tätigkeit der Nebennierenrinde sowie Schrumpfen (Atrophie) der Thymusdrüse und der Lymphknoten und schließlich das Auftreten von Magen- und Darmgeschwüren waren« (Selye 1974, S. 69). Das von Selye beschriebene allgemeine Adaptionssyndrom (»general adaption syndrome«, GAS) besteht aus drei Phasen (⊡ Abb. 5.3): 1. Alarmreaktions-, 2. Resistenz- und 3. Erschöpfungsphase.
Erfolgreicher Widerstand
Krankheit/ Tod
(1) Alarmreaktion
(2) Phase der Resistenz
(3) Phase der Erschöpfung
Phase 1
Phase 2
Phase 3
Alarmreaktion (im Laufe des Lebens unzählige Male wiederholt)
Widerstand (im Laufe des Lebens unzählige Male wiederholt)
Erschöpfung
-
Erweiterung der Nebennierenrinde Erweiterung des Lymphsystems Steigende Hormonspiegel Reaktionen auf spezifische Stressoren Ausschüttung von Adrenalin, verbunden mit höherer physiologischer Erregung und negativem Affekt - Größere Anfälligkeit für steigende Intensität des Stressors - Erhöhte Anfälligkeit für Krankheit
- Schrumpfung der Nebennierenrinde - Rückkehr der Lymphknoten zu normaler Größe - Gleich bleibende Hormonspiegel - Hohe physiologische Erregung - Gegensteuern des parasympathischen Teils des autonomen Nervensystems - Anhaltender Stressor; Widerstand gegen weitere schwächende Effekte - Erhöhte Anfälligkeit für Stress
- Vergrößerung/Fehlfunktion der Lymphstrukturen - Anstieg der Hormonspiegel - Erschöpfung der adaptiven Hormone - Sinkende Fähigkeit, ursprünglichen oder neuen Stressoren zu begegnen - Affektives Erleben oft Depression - Erkrankung - Tod
(falls anhaltend, treten die langsameren Komponenten von Phase 2 in Aktion)
(wenn starker Stress anhält, erschöpfen sich die Hormonreserven, Ermüdung tritt ein und das Individuum betritt Phase 3)
⊡ Abb. 5.3. Das allgemeine Adaptionssyndrom (mod. nach Zimbardo u. Gerrig 2004)
67 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
Es läuft als stereotyp-hormonelles Muster, scheinbar unabhängig von der Art des Stressors, bei jeder intensiven Stresseinwirkung ab. Der Organismus versucht, durch physiologische Veränderungen seine normale Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Die Alarmreaktionsphase stellt eine kurze Zeit der erhöhten körperlichen Erregung dar. Der Körper liefert zusätzliche Energie, um durch eine angepasste Reaktion auf den Stressor die Unversehrtheit des Organismus zu gewährleisten (»Fight-or-Flight-Syndrom«). Das Herz schlägt beispielsweise schneller, und es wird vermehrt Glukose aus der Leber in den Blutkreislauf abgegeben (Zimbardo u. Gerrig 2004). Obwohl die belastende Situation andauert, entwickelt sich während der Widerstandsphase durch gesteigerte Hormonausschüttungen (adrenokortikotropes Hormon, ACTH, Kortisol) eine Resistenz gegen den Stressor, und die körperlichen Symptome der Alarmreaktionsphase klingen ab. Infolge der Konzentration auf die Bekämpfung des wichtigsten Stressors ist die Resistenz gegenüber anderen Stressoren reduziert. In dieser Situation kann somit selbst ein schwacher Stressor eine heftige Reaktion hervorrufen. Nach einem gelungenen Anpassungsversuch hat der Körper die Gelegenheit zur Regeneration. Sollte aber eine Bewältigung nicht möglich sein, kommt es zu Überforderung und bei deren längerem Fortbestehen zur Erschöpfungsphase (Zimbardo u. Gerrig, 1999). Krankheiten können durch mangelnde oder übermäßige Adaption entstehen. Im ersten Fall kommt es zu einer physischen Schädigung (z. B. Stressulkus) sowie zu Engpässen bei der Energieversorgung: die Wachstums-, Fortpflanzungs- und Immunabwehrprozesse sind eingeschränkt, Depressionen oder Burnout können auftreten (Schwarzer u. Schulz 2001). Im zweiten Fall kommt es zur Schädigung durch überschießende Adaptionsreaktionen selbst (z. B. Hypertonie). In der psychobiologischen Forschung wird nicht mehr grundsätzlich von der Unspezifität der körperlichen Stressreaktion ausgegangen, sondern vielmehr von individuellen geschlechts-, situations- oder emotionsspezifischen Reaktionen (Kaluza 2004).
Soziologische Stressmodelle Im Zentrum soziologischer Stressmodelle steht der Stressor, weswegen sie gelegentlich auch als reizzentriert klassifiziert werden (Schwarzer u. Schulz 2001). Diesen Modellen liegt die Annahme zugrunde, dass jeder Stressor spezifische Stressreaktionen hervorruft und jeweils unterschiedliche Verhaltensweisen zu seiner Bearbeitung erfordert. Grundsätzlich können Stressoren sowohl positive (z. B. gute sportliche Leistung aufgrund von erhöhter Energiebereitstellung) als auch negative Folgen (z. B. Krankheit) hervorrufen, eine Ressource sein oder eine Belastung darstellen (z. B. soziale Beziehungen).
Nach den soziologischen Stressmodellen wird Stress durch die beobachtete Reiz-Reaktions-Beziehung definiert, nicht durch den Reiz oder die Reaktion allein. Es stellt sich die Frage, welche Eigenschaft eines bestimmten Stressors eine bestimmte Stressreaktion hervorruft (Lazarus 1984). So lassen sich Situationsmerkmale definieren, aufgrund derer mit großer Wahrscheinlichkeit Stressreaktionen auftreten. »Neue, unvertraute Situationen sowie Situationen, die von dem Betroffenen nicht beeinflusst werden können oder nicht vorhersehbar oder schwer zu durchschauen sind und subjektiv bedeutsame Lebensbereiche betreffen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Stressreaktionen beantwortet« (Kaluza 2004, S. 28). Infobox
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Drei Ebenen von Stressoren lassen sich unterscheiden (Anderson 1991): ▬ Stressoren der Ebene I: chronische Stressoren, die sich aus sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen ergeben, z. B. Wohndichte, Lärm, Rassismus, wirtschaftliche Not, ▬ Stressoren der Ebene II: wichtige Lebensereignisse (»major life events«), z. B. Heirat, Scheidung, Geburt eines Kindes, Schulabschluss, ▬ Stressoren der Ebene III: tägliche Ereignisse bzw. Stressoren auf der Mikroebene (»daily hassles«) wie ständige Unterbrechungen, unfreundliche Vorgesetzte oder Verkehrsbeeinträchtigungen.
Chronische Stressoren der Ebene I können sich negativ auf die Gesundheit auswirken. So kann wirtschaftliche Not mit Stress oder dem Risiko einer psychiatrischen Erkrankung verbunden sein (zusammengefasst in Davison u. Neale 1998). Die höhere Rate an Herzerkrankungen unter Afroamerikanern im Gegensatz zu weißen Amerikanern wird weniger auf genetische Unterschiede als vielmehr auf vermehrten chronischen Stress (schlechtere Bildungschancen, geringere Einstellungschancen) zurückgeführt (zusammengefasst in Zimbardo u. Gerrig 2004). Stressoren der Ebene II lassen sich mittels der Social Readjustment Rating Scale (SRRS; Holmes u. Rahe 1967) erfassen; einer Liste potentiell Stress auslösender kritischer Lebensereignisse (»major life events«) zur Feststellung des individuellen Life Change Unit Score (LCU, Wert für die Veränderung der Lebensumstände, ⊡ Tabelle 5.2). Dabei wird angenommen, dass die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von kritischen Lebensereignissen innerhalb eines bestimmten Zeitraums für die betreffende Person eine starke Belastung bedeutet, die zu Krankheiten führt bzw. diese verstärken kann. So ließ sich zwischen entsprechend hohen LCU-Werten und dem Auftreten bestimmter Erkrankungen (z. B. Erkältungen) ein positiver Zusammenhang feststellen (Davison u. Neale 1998).
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Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
⊡ Tabelle 5.2. Kritische Lebensereignisse und ihre Stresswerte (Holmes u. Rahe 1967, nach Davison u. Neale 1998) Rang
Ereignis
Mittlerer Wert
Rang
Ereignis
Mittlerer Wert
1
Tod des Ehegatten
100
23
Sohn oder Tochter verlässt Familie
29
2
Scheidung
73
24
Schwierigkeiten mit Verwandten des Ehemanns bzw. der Ehefrau
29
3
Trennung ohne Scheidung
65
25
Außergewöhnliche persönliche Leistung
28
4
Gefängnisstrafe
63
26
Ehefrau fängt mit einer Arbeit an oder hört mit ihr auf
26
5
Tod eines nahen Familienmitgliedes
63
27
Schulbeginn oder -abschluss
26
6
Verletzung oder Krankheit
53
28
Veränderungen in den Lebensumständen
25
7
Hochzeit
50*
29
Aufgabe persönlicher Gewohnheiten
24
8
Entlassenwerden
47
30
Schwierigkeiten mit dem Chef
23
9
Wiederversöhnung nach Streit mit Ehegatten
45
31
Veränderung in den Arbeitszeiten oder -bedingungen
20
10
Pensionierung
45
32
Umzug
20
11
Erkrankung eines Familienmitgliedes
44
33
Schulwechsel
20
12
Schwangerschaft
40
34
Veränderungen im Freizeitbereich
19
13
Sexuelle Schwierigkeiten
39
35
Veränderungen in den kirchlichen Aktivitäten
19
14
Vergrößerung der Familie
39
36
Veränderungen in den sozialen Aktivitäten
18
15
Berufliche Veränderungen
39
37
Aufnahme einer Hypothek oder eines Darlehens unter 10.000 Dollar
17
16
Veränderungen im finanziellen Bereich
38
38
Veränderung in den Schlafgewohnheiten
16
17
Tod eines nahen Freundes
37
39
Veränderung in der Anzahl der Familienzusammenkünfte
15
18
Wechsel an einen Arbeitsplatz mit ungewohnter Tätigkeit
36
40
Veränderungen in den Essgewohnheiten
15
19
Veränderung in der Anzahl der Auseinandersetzungen mit dem Ehegatten
35
41
Ferien
13
20
Aufnahme einer Hypothek über 10.000 Dollar
31
42
Weihnachten
12
21
Verfallen einer Hypothek oder eines Darlehns
30
43
Kleinere Gesetzesverstöße
11
22
Veränderungen in den beruflichen Aufgaben
29
5
* Der Hochzeit wurde willkürlich ein Stresswert von 500 zugeordnet; kein Ereignis wurde mehr als zweimal so belastend eingestuft. Die hier angegebenen Werte sind proportional verringert und reichen bis zu 100.
69 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
Wir müssen zur Prävention von Stress noch wissen: » Wodurch wird eine unter Umständen »positive« Belastung zu einem sich negativ auswirkenden Stressor? Welche Menschen reagieren besonders anfällig auf Stress? Dies könnten z. B. sehr gewissenhaft und zwanghaft strukturierte sowie konfliktvermeidende Menschen sein. Dr. Detlef Dietrich, Medizinische Hochschule Hannover
«
Nach Kaluza (2004) sind eher die subjektive Wahrnehmung, Bewertung und Verarbeitung eines kritischen Lebensereignisses dafür verantwortlich, ob es zu einer gesundheitlichen Schädigung kommt, als das Eintreten des Ereignisses an sich. So kann beispielsweise ein Schulwechsel oder ein Umzug als Bedrohung oder Verlust, aber auch als Herausforderung oder Chance verstanden werden. Die jeweiligen individuellen Sichtweisen von Ereignissen sind mit ausschlaggebend dafür, inwieweit sie als Stressor erlebt werden und wie stark physische und psychische Stressreaktionen auftreten (s. auch psychologische Stressmodelle). Neben kritischen Lebensereignissen sind Widrigkeiten des Alltags, so genannte »daily hassles« (Ebene III) als Stressoren von Bedeutung. Zu Belastungen im Alltag zählen z. B. die Erfüllung von Aufgaben in Beruf, Familie, Haushalt und Freizeit, die zu hohe Anforderungen beinhalten, sowie Unzufriedenheit mit der alltäglichen Arbeit, psychosoziale Konflikte und Spannungen, u. a. ausgelöst durch einen Mangel an Anerkennung, empfundener Zurückweisung oder geringem sozialen Rückhalt sowie durch die gedankliche Beschäftigung mit erlebten negativen Ereignissen bzw. die Vorstellung zukünftiger negativer Situationen. Verschiedene Untersuchungen (zusammengefasst in Davison u. Neale 1998) konnten zeigen, dass Mikrostressoren ein guter Prädiktor für Krankheitssymptome sind und chronische Alltagsbelastungen einen stärkeren Einfluss auf die Gesundheit haben als akute kritische Lebensereignisse. So nehmen besonders chronische, ständig wiederkehrende oder lang andauernde Alltagsbelastungen einen Einfluss auf das Immunsystem (Kanner et al. 1981, zitiert nach Kaluza 2004). Allerdings können »daily hassles« und »major life events« oftmals nicht voneinander isoliert betrachtet werden. Vielmehr manifestieren sich kritische Lebensereignisse in einer Fülle »kleiner Widrigkeiten« und werden häufig erst über diese erfahrbar (Filipp 1995).
pretation des Reizes entscheidet, ob er als Stress auslösend empfunden wird. Der wichtigste Vertreter kognitiver Stressmodelle, Richard Lazarus, berücksichtigt in seinem transaktionalen Stressmodell darüber hinaus (Schwarzer u. Schulz 2001) Folgendes: ▬ die reziproke Interaktion einer Person mit ihrer Umwelt, ▬ die ständige Veränderung des Stresserlebens und ▬ den Einfluss eines Kontextes auf die Bedeutung einer ausgeführten Handlung. Nach der kognitiven Stresstheorie von Lazarus u. Folkman (1984) »ist psychologischer Stress eine besondere Beziehung zwischen der Person und der Umwelt, die vom Individuum als etwas bewertet wird, was seine Ressourcen beansprucht oder überfordert und sein Wohlbefinden gefährdet« (S. 19, eigene Übersetzung). Stress kann somit nicht objektiv definiert werden, sondern die Art und Weise, wie jemand die Umwelt wahrnimmt und die jeweilige Situation bewertet, ist entscheidend. Interindividuelle Differenzen werden in diesem Ansatz explizit berücksichtigt. Die Basis jeder Situationsbewertung sind persönliche »Sollwerte«. Diese sind die individuell unterschiedlich stark ausgeprägten Grundbedürfnisse, wie z. B. das Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit, nach Autonomie und Selbstverwirklichung oder Erwartungshaltungen sich selbst gegenüber, wie Ansprüche an das eigene Leistungs- und Sozialverhalten (Kaluza 2004). Stress entsteht, wenn das persönliche Wohlbefinden durch eine zu starke Abweichung von den individuellen Sollwerten gefährdet erscheint (Lazarus u. Folkman 1984). Wir müssen zur Prävention von Stress noch wissen: » Welche Bedeutung haben frühe Stress- und Bindungserfahrungen und deren neurobiologische Korrelate für Stressreagibilität und Stresstoleranz im Erwachsenenalter? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus ggf. für eine differentielle Indikation von Interventionsstrategien zur Stressprävention? Prof. Dr. Gert Kaluza, GKM-Institut für Gesundheitspsychologie, Marburg
«
Die Situationsbeurteilung wird, wie in ⊡ Abbildung 5.4 dargestellt, in drei Stadien unterteilt: 1. primäre Bewertung, 2. sekundäre Bewertung und 3. Neubewertung.
Psychologische Stressmodelle Innerhalb der psychologischen Stressforschung nehmen kognitive Stressmodelle eine zentrale Stellung ein. Sie befassen sich u. a. mit der Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Problemlösung von Reizen. Ein Reiz ist nach kognitionspsychologischer Sichtweise nicht (wie bei Selye) per se ein Stressauslöser, sobald er eine bestimmte Intensität überschreitet, sondern erst die subjektive Inter-
Trotz der Bezeichnung als primär und sekundär wird im transaktionalen Stressmodell weder eine Unterscheidung der Relevanz noch der zeitlichen Folge der Stadien angenommen (Lazarus u. Folkman 1984). Auch sind die Bewertungsprozesse nicht unbedingt bewusste Denkvorgänge, sondern laufen mehr oder weniger automatisiert ab. Sie sind aber einer bewussten Reflexion immer zugänglich.
5
70
Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
5
⊡ Abb. 5.4. Das transaktionale Stressmodell
Primäre Bewertung (»primary appraisal«) Bei der primären Bewertung wird ein Reiz entweder als neutral, positiv oder als stresshaft wahrgenommen. Wird er als stresshaft erlebt, erfolgt die Einordnung in die Kategorie Schaden bzw. Verlust, Bedrohung oder Herausforderung (Lazarus u. Folkman 1984).
Sekundäre Bewertung (»secondary appraisal«) Zunächst wird versucht, einem Stressor durch routinemäßiges Verhalten zu begegnen, um ein vorheriges Gleichgewicht wiederherzustellen. Gelingt dies nicht, werden mögliche negative Folgen auf physischer, psychologischer und psychosozialer Ebene antizipiert. Darüber hinaus werden weitere Bewältigungsformen erwogen. Dies können Reaktionen wie Flucht oder Angriff sein, aber auch Situationsveränderungen oder Realitätsverleugnungen. In die Bewertung fließt ein, welche Bewältigungsstrategien generell zur Verfügung stehen (»outcome expectancy«, Ergebniserwartung), wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Bewältigungsmöglichkeit zielführend ist, und ob sich der Betroffene in der Lage sieht, diese einzusetzen (»efficacy expectation«, Selbstwirksamkeitserwartung) (Bandura 1977). Sollte der Betroffene seine Möglichkeiten als zu gering einschätzen, um eine spezifische Anforderung zu bewältigen, kommt es sekundär zu einer Stress auslösenden Bewertung.
Neubewertung (»reappraisal«) Die Neubewertung ist eine Änderung der ursprünglichen Bewertung aufgrund neuer Informationen aus der
Umwelt. Das folgende Zitat verdeutlicht den transaktionalen Charakter der Theorie von Lazarus: »Eine Neubewertung ist einfach eine Bewertung, die einer früheren Bewertung derselben Situation folgt und sie modifiziert« (Lazarus u. Folkman 1984, S. 34, eigene Übersetzung). Allerdings kann es auch zu einer pathologischen Anpassung kommen. Ergibt die erneute Situationsbewertung, dass eine Rückkehr zur ursprünglichen individuellen Ausgangslage trotz bisheriger Anpassungsbemühungen nicht möglich ist, stellt sich ein neues Gleichgewicht auf einem angepassten Niveau ein, beispielsweise verringern sich die Ansprüche an das eigene Leistungsverhalten. Neben der Situationsbewertung ist im Stressmodell von Lazarus das Coping von zentraler Bedeutung (⊡ Abb. 5.4). Stroebe und Jonas (2002) definieren Coping als »die kognitiven und verhaltensbezogenen Strategien, die Individuen einsetzen, um sowohl mit einer belastenden Situation als auch mit den negativen emotionalen Reaktionen, die durch dieses Ereignis ausgelöst werden, umzugehen« (S. 608). Nach Lazarus und Folkman (1984) werden die problemzentrierte (»problem-focused coping«) und die emotionszentrierte (»emotion-focused coping«) Bewältigung unterschieden. Problemorientiertes Coping richtet sich an das Umfeld oder beinhaltet intrapersonale Strategien. Es umfasst die Definition von Problemen, alternativen Lösungsmöglichkeiten, Abwägen alternativer Handlungsstrategien in Bezug auf Kosten und Nutzen sowie die Entscheidung für eine alternative, problemlösende Handlungsstrategie. Emotionsorientiertes Coping beinhaltet kognitive Prozesse, die darauf abzielen, durch Vermeidung, Distanzierung, selektive Aufmerksamkeit oder das Bemühen, einer
71 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
negativen Situation etwas Positives abzugewinnen, das Niveau an erlebtem Stress zu verringern. Dabei können emotionsbezogene Coping-Strategien zunächst mit einer Erhöhung des Distress einhergehen: »Some individuals need to feel worse before they can feel better« (Lazarus u. Folkman 1984, S. 150). Verhaltensweisen wie sportliche Betätigung oder Meditation können ebenso als Formen des emotionsorientierten Copings betrachtet werden. Auch wenn problemorientierte Coping-Strategien zumeist als angemessener als emotionsorientierte Strategien betrachtet werden, kommt es in erster Linie auf den flexiblen Einsatz verschiedener, situationsangemessener Verhaltensmuster an (Bengel et al. 2001). Nach einer Metaanalyse von Suls u. Fletcher (1985, zitiert nach Becker u. Polenz 1997) sind Vermeidungsstrategien eher kurzfristig wirksam, wohingegen konfrontative Strategien langfristig von größerem Vorteil hinsichtlich der Stressbewältigung sind. Inwieweit unterschiedliche emotionszentrierte Bewältigungsstrategien einen Einfluss auf die Gesundheit haben, untersuchten u. a. Stroebe und Jonas (2002). Danach ist ihre Wirksamkeit zur Minderung von gesundheitsschädlichen Stressfolgen nicht hinreichend bewiesen. Der chronische Einsatz vermeidender Bewältigungsstrategien (z. B. Verleugnung, Distanzierung) scheint zu einer schlechteren Anpassung zu führen als der Einsatz emotionszentrierter Strategien, bei denen sich die Personen ihren Emotionen stellen. Stroebe und Jonas (2002) kommen zu dem Schluss, dass vermeidende Strategien in frühen Stadien traumatischer Erlebnisse zur Bewältigung wirksam sein können, sie jedoch bei regelmäßiger Anwendung zu negativen gesundheitlichen Folgen führen können.
Salutogenetische Perspektive Mit Antonovsky (1987) verbunden ist der Paradigmenwechsel von einem pathogenetischen Verständnis (»Was macht uns krank?«) zu einer salutogenetischen Sichtweise (»Was erhält uns gesund?«). Gesundheit und Krankheit werden nicht als grundsätzlich unterschiedliche Zustände, sondern als zwei Endpunkte eines Kontinuums betrachtet. Antonovskys salutogenetisches Modell (⊡ Abb. 5.5) zielt vor allem auf die Identifikation protektiver Faktoren und auf die Stärkung von Ressourcen anstatt auf die Beseitigung von potentiell krank machenden Störgrößen ab. In Anlehnung an Lazarus entwickelte Antonovsky (1987, deutsch 1997) ein Stresskonzept, das Stressoren als Stimuli betrachtet, die einen Zustand der noch nicht gerichteten Anspannung auslösen und damit nicht unbedingt zur Stressentstehung führen müssen. Antonovsky verwarf die Vorstellung einer spezifischen Wirkung von Stressoren. Stattdessen geht er von einer individuellen dispositionellen Vulnerabilität aus, die entscheidend für Gesundheit oder Krankheit ist. Stressoren definiert Antonovsky als »eine von innen oder außen kommende Anforderung an den Organismus, die sein Gleichgewicht stört und die zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes eine nicht automatische und nicht unmittelbar verfügbare, energieverbrauchende Handlung erfordert« (Antonovsky 1979 zitiert nach Bengel et al. 2001, S. 32). Allerdings bleiben die Vorgänge, die zu einer pathogenen Stressreaktion führen, unklar. Prävention von Stress müssten wir noch genau» erZurerfahren, was unseren Stress eigentlich ausmacht und worin die verschiedenen Arten des Umgangs mit Belastungen gründen. Ministerin Ursula von der Leyen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
«
Ressourcenfokussierte Stressmodelle Inwieweit eine Situation als Stress empfunden wird und ein Individuum die damit verbundenen Anforderungen erfolgreich überwindet, hängt laut der im Folgenden dargestellten Stressmodelle auch von vorhandenen Ressourcen ab. Diese werden in den ressourcenfokussierten Stressmodellen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Lazarus und Folkman (1984) unterscheiden zwischen Ressourcen, die den Eigenschaften eines Individuums zugeschrieben werden (intrapersonale Ressourcen), und zwischen Ressourcen, die Bestandteile der Lebensumwelt sind (extrapersonale Ressourcen). Die intrapersonalen Ressourcen können sich auf körperliche Ressourcen (z. B. gute physiologische Verfassung), psychologische Ressourcen (z. B. Optimismus, positives Selbstkonzept) und Kompetenzen (z. B. soziale Fähigkeiten) beziehen. Finanzielle Absicherung und soziale Unterstützung werden als extrapersonale Ressourcen oder auch als Umweltressourcen bezeichnet.
Zentrales Konstrukt der Salutogenese ist der Kohärenzsinn (»sense of coherence«, SOC). Lamprecht und Sack (1994) betonen nachdrücklich, dass das Kohärenzgefühl keine spezielle Copingstrategie darstellt, sondern »... eine übergreifende Fähigkeit, potentiellen Stressoren zu begegnen, [so] daß es zu einer neutralen oder salutogenen Entwicklung kommt« (Lamprecht u. Sack 1994, S. 172). Der Kohärenzsinn setzt sich aus drei Komponenten zusammen (Antonovsky 1997, S. 34f.): ▬ Verstehbarkeit (»comprehensibility«): »... das Ausmaß, in welchem interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrgenommen werden, als geordnete, konsistente, strukturierte und klare Information und nicht als Rauschen.« ▬ Handhabbarkeit (»manageability«): »... das Ausmaß, in dem man wahrnimmt, daß man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen.«
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Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
▬ Sinnhaftigkeit/Bedeutsamkeit (»sense of meaningfulness«): »... das Ausmaß, in dem man das Leben emotional als sinnvoll empfindet: daß wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, dass man Energie in sie investiert ... .« Daraus ergibt sich eine umfassende Definition des Kohärenzgefühls (Antonovsky 1997, S. 36).
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»Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens dazu hat, ▬ daß die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; ▬ daß einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; ▬ daß diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.«
Antonovskys Erklärung für die Entstehung des Kohärenzsinnes ist an Piagets (1969, nach Piaget 1986) Vorstellungen von Akkomodation und Assimilation angelehnt. Äußere Veränderungen beeinflussen und verändern innere Einstellungen (Akkomodation), wobei aufgrund
bestehender Überzeugungen bevorzugt Informationen oder Umgebungen aufgesucht werden, die genau diese Überzeugungen bestätigen (Assimilation). Über die Zeit (erst im Alter von ca. 30 Jahren ist der Kohärenzsinn voll ausgebildet) entwickelt sich so der Kohärenzsinn als ein den jeweiligen Coping-Stilen zugrunde liegendes Steuerungsmuster. Zur Messung des Kohärenzsinnniveaus entwickelte Antonovsky einen Fragebogen zur Lebensorientierung, die SOC-Skala (Antonovsky 1997). Nach einer Expertise der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Bengel et al. 2001) scheint das Kohärenzgefühl sowohl Einfluss auf die Stresswahrnehmung als auch auf die Stressbewältigung zu nehmen (⊡ Abb. 5.5). Alle Faktoren, die die Spannungsbewältigung erleichtern, nennt Antonovsky »generalisierte Widerstandsressourcen«. Dazu zählt er körperliche und materielle Ressourcen, aber auch Intelligenz. Stressoren versteht Antonovsky in diesem Sinn entsprechend als »generalisierte Widerstandsdefizite«. Auch wenn sich Antonovsky selbst kaum zu dem Zusammenhang zwischen SOC-Niveau und psychischer Gesundheit äußerte, zeigt sich empirisch eine engere korrelative Verbindung zwischen dem Kohärenzsinn und psychischer Gesundheit als zwischen dem Kohärenzsinn und physischer Gesundheit (zusammengefasst in Bengel et al. 2001). Allerdings lässt sich auf Grundlage der vorhandenen Studien zum »sense of coherence« die für die Prävention
Stressoren
Quellen von generalisierten Widerstandsressourcen
Generalisierte Widerstandsressourcen
Lebenserfahrungen
Spannungszustand
Kohärenzgefühl (SOC)
Spannungsbewältigung
erfolgreich
gesund krank GesundheitsKrankheitsKontinuum ⊡ Abb. 5.5. Das salutogenetische Modell (mod. nach Bengel et al. 2001)
erfolglos
Stresszustand
73 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
entscheidende Frage, ob das Kohärenzgefühl Auswirkungen auf konkrete Gesundheits- oder Risikoverhaltensweisen hat, wegen der widersprüchlichen Studienlage nicht eindeutig beantworten (Bengel et al. 2001).
Theorie der Ressourcenerhaltung Hobfoll (1998) teilt Ressourcen in Gegenstände (z. B. Haus), Bedingungen (z. B. Familienstand, Beamtenstatus), Persönlichkeitsmerkmale (z. B. persönliche Überzeugungen) und Energien (z. B. Geld, Zeit, Wissen) ein. Stress tritt auf, wenn persönliche oder materielle Ressourcen bedroht werden, ein Ressourcenverlust vorliegt oder Ressourcen falsch eingesetzt werden, d. h. wenn nach dem Einsatz von Ressourcen keine Gewinne eintreten. Verlusterfahrungen und Erfolge können auf die Entwicklung der Persönlichkeit Einfluss nehmen, wenn Menschen durch ihre Erfahrungen spezielle Verwundbarkeiten oder auch ausgeprägte Widerstandskräfte entwickeln. Hobfoll sieht in der Verlusterfahrung das zentrale Stresskennzeichen, nicht in den von Lazarus beschriebenen Komponenten Herausforderung, Bedrohung oder Schädigung. Anders als Selye, dem Vertreter einer biologischen Stresstheorie, geht Hobfoll nicht von einem Gleichgewichtszustand, sondern von der Annahme aus, dass Menschen nach Wachstum streben und dieses durch den Aufbau, den Schutz oder die Wiederherstellung von Ressourcen erreichen. Nach Hobfolls Modell kommt es im Hinblick auf den Umgang mit Stress vor allem auf die Wechselwirkungen zwischen Ressourcen, Bedürfnissen, Belastungen, Werten, Zeit und Wahrnehmung an, woraus sich jeweils eine mehr oder minder gelungene Passung zwischen Umweltbedingungen und den individuellen Reaktionen ergibt (Schwarzer 2000).
Anforderungs-Ressourcen-Modell Beckers Anforderungs-Ressourcen-Modell entstand im Zusammenhang mit der von Antonovsky aufgeworfenen Frage, »ob bestimmte psychische Eigenschaften einer Person deren Widerstandskraft gegenüber Erkrankungen erhöhen oder schwächen« (Becker u. Polenz 1997, S. 6). Unter seelischer Gesundheit versteht Becker sowohl die Fähigkeit zur Bewältigung interner und externer Anforderungen als auch eine personale Ressource. Der aktuelle Gesundheitszustand hängt davon ab, wie es einer Person gelingt oder bisher gelungen ist, bestimmte Anforde-
rungen zu bewältigen. Innere und äußere Anforderungen werden dabei ebenso unterschieden wie interne und externe Ressourcen. Zu den inneren Anforderungen zählen zur Person gehörende psychische und physische Sollwerte, z. B. die verinnerlichten Werte und Normen oder die primären körperlichen Bedürfnisse. Externe Anforderungen lassen sich nur durch eine Interaktion mit der psychosozialen und/oder physischen Umwelt bewältigen. Dazu gehören beispielsweise schulische und berufliche Anforderungen oder Krankheitserreger. Interne Ressourcen sind unter anderem eine gute körperliche Verfassung, ein gesundheitsförderliches habituelles Gesundheitsverhalten, ein hoher SOC-Wert oder »seelische Gesundheit als Eigenschaft« (Becker u. Polenz 1997). Externe Ressourcen können sowohl psychosozialer als auch physischer Art sein und umfassen günstige familiäre Bedingungen, intakte nachbarschaftliche Beziehungen oder eine gesunde Umwelt. Optimismus als eine intrapersonale Ressource scheint bei Stresserleben aufgrund des damit verbundenen Einsatzes aktiver statt vermeidender Bewältigungsstrategien zu einer größeren Widerstandskraft gegen Stress zu führen und damit einen positiven Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden auszuüben. Auch der extrapersonalen Ressource soziale Unterstützung wird ein positiver Effekt auf die Gesundheit zugeschrieben. So zeigen Studien einen Zusammenhang zwischen geringer sozialer Unterstützung und einem höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko auf (zusammengefasst in Stroebe u. Jonas 2002).
Arbeitsweltbezogene Stressmodelle Mehrere Modelle haben sich spezifisch mit Stress in der Arbeitswelt befasst. Arbeitsstress wird definiert als Beanspruchung, die als unangenehmer Spannungszustand erlebt wird. Als Stressoren am Arbeitsplatz werden u. a. Umgebungsbelastungen, Zeitdruck, Auseinandersetzungen mit Kollegen und Vorgesetzten, Schichtarbeit und Mehrfachbelastungen sowie ständige Handlungsunterbrechungen genannt (Greif 1994). In Karaseks u. Theorells (1990) Anforderungs-Kontroll-Modell, das sich auf Arbeitsplatzgegebenheiten beschränkt, spielt das Verhältnis von hoher/geringer Kontrolle zu hoher/geringer psychischer Anforderung eine zentrale Rolle (⊡ Tabelle 5.3).
⊡ Tabelle 5.3. Komponenten des Anforderungs-Kontroll-Modells (nach Karasek u. Theorell 1990) geringe psychische Anforderung
hohe psychische Anforderung
hohe Kontrolle
wenig Anspannung
aktiv
geringe Kontrolle
passiv
hohe Anspannung
5
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Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
Letztlich müssen wir bei der Prävention von Stress » sowohl darauf achten, dass die auslösende Ebene, also die Stressoren, aber auch die Reaktionsebene, also die Symptomatik, verändert werden. Dabei entsteht »Stress« nicht nur durch permanente Überforderung, sondern Stressreaktionen und im weiteren Verlauf daraus resultierende z. B. depressive Erkrankungen können auch unter permanenter Unterforderung (etwa bei Arbeitslosen) entstehen. Prof. Dr. Rolf Meermann, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
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Förderlich sind demnach Arbeitsbedingungen, die Lernund Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen sowie Kontrolle und Einfluss zulassen. Gesundheitsschädlich wirken sich dagegen Bedingungen aus, unter denen quantitativ hohe Anforderungen mit einem niedrigen Kontroll- und Entscheidungsspielraum sowie hoher Monotonie der Tätigkeit einhergehen: »Unterstellt wird damit ein Interaktionseffekt von Anforderung und Kontrolle auf chronischen Distress und dessen langfristige physische und psychische Krankheitsfolgen« (Siegrist u. Möller-Leimkühler 2003, S. 129). Ergänzt wurde mittlerweile die Dimension »sozialer Rückhalt am Arbeitsplatz«, wonach sozial isolierte Beschäftigte mit hohen Anforderungen und niedriger Entscheidungsfreiheit am meisten belastet sind. Das Anforderungs-Kontroll-Modell vernachlässigt das Copingverhalten und ist an einer Vollzeiterwerbsbiographie orientiert. Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen von Siegrist (1996) ist ein Ansatz, der diese Kritikpunkte aufgreift und neben situativen Bedingungen das persönliche Bewältigungsverhalten beinhaltet. Eine Situation, in der einer hohen Verausgabung keine angemessene Entschädigung (Gratifikation) entgegensteht, erzeugt erhöhten Distress. Besonders betroffen sind Personen mit beruflicher Verausgabungsneigung. Chronischer Stress wird durch eine Verknüpfung von arbeitsplatz- und arbeitsmarktbezogenen Belastungen erfasst, womit das neuere Modell beruflicher Gratifikationskrisen die aktuelle Situation angemessener berücksichtigt als das auf Vollzeitbeschäftigung bezogene Anforderungs-Kontroll-Modell (Siegrist u. Möller-Leimkühler 2003).
Biopsychosoziale Sichtweise An der Vielfalt der Stresstheorien wird deutlich, dass sich das komplexe Stressgeschehen durch die Beschränkung auf nur eine Sichtweise kaum beschreiben lässt. Das biopsychosoziale Modell (Adler et al. 2003; Engel 1977) entstand aus einer Kritik am vorherrschenden biomedizinischen Modell unter Rückgriff auf die allgemeine Systemtheorie (Bertalaffny 1968). Es versucht, die verschiedenen Perspektiven zu verbinden, indem es sowohl die biologische (körperliche Gesundheit) als auch die psychologische
(seelischer Zustand) und die soziale (Umwelt) Systemebene sowie die Interaktionen zwischen diesen drei Ebenen berücksichtigt (Zimbardo u. Gerrig 2004). Krankheit wird nicht als isolierte Störung eines Organs aufgefasst, sondern als Störung des Gleichgewichts zwischen den Ebenen. Diese Perspektive wird auch in offiziellen Dokumenten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertreten. Im Weltgesundheitsbericht des Jahres 2001 wird die künstliche Trennung biologischer, psychischer und sozialer Faktoren als Hinderungsgrund für ein tiefer gehendes Verständnis psychischer Störungen kritisiert. Als Alternative wird ein integrierter Public-Health-Ansatz gefordert, woraus sich auch für die Prävention eine auf multidimensionale Ressourcen und Risikofaktoren bezogene ganzheitliche Herangehensweise ergibt. Im Bericht der WHO (2004) zur Prävention psychischer Störungen wird eine expli-
Beispiel
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Am Beispiel von Kopfschmerzen lassen sich die Vorteile des biopsychosozialen Modells verdeutlichen. In der biologischen Sichtweise wird nach körperlichen Ursachen wie einer Verspannung oder einer Durchblutungsstörung gesucht. Auf der psychischen Ebene könnte der Kopfschmerz sich über die Jahre aufgrund eines bestimmten Kognitionsmusters verstärkt haben (»Ich hatte schon immer Kopfschmerzen, werde immer Kopfschmerzen haben und kann darauf keinen Einfluss nehmen« – externale Kontrollüberzeugung) oder auch ein Symptom einer weiter reichenden psychischen Störung wie einer Depression sein. Die soziale Perspektive untersucht, welches Kommunikationsverhalten sich hinter dem Schmerz verbirgt (Bitte um Zuwendung, Kommunikationsabbruch, Wunsch nach Ruhe). Die biopsychosoziale Sichtweise ermöglicht eine Integration dieser drei Herangehensweisen. Ein anfänglicher Kopfschmerz aufgrund einer Durchblutungsstörung verfestigt sich, da dieser Schmerz zu gesteigerter Aufmerksamkeit der sozialen Umwelt geführt hat. Aufgrund der Wahrnehmung des sich verstärkenden Schmerzes verfestigt sich die Überzeugung der Unkontrollierbarkeit. Entstehen in dieser Situation interpersonelle Konflikte, die eine Muskelverspannung begünstigen, kann der Kopfschmerz sich noch weiter intensivieren. Körperliche Entspannungsübungen können Individuen mit ausgeprägter externaler Kontrollüberzeugung ermöglichen, einen Einfluss auf ihre Schmerzen zu nehmen. Auf der sozialen Ebene wäre es unter präventiven Gesichtspunkten sinnvoll, andere Arten der Bitte um Zuwendung oder Distanz zu erlernen. So nehmen sowohl bei der Entstehung als auch bei der Prävention psychischer Krankheiten die einzelnen Systemebenen wechselseitig aufeinander Einfluss.
75 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
zit biopsychosoziale Sichtweise vertreten: »Psychische Gesundheitsförderung umfasst die Herstellung individueller, sozialer und Umgebungsbedingungen, die eine optimale psychische und psychophysiologische Entwicklung ermöglichen« (WHO 2004, S. 16, eigene Übersetzung). Besonders für die Beschreibung psychosomatischer Krankheiten ist die biopsychosoziale Sichtweise angemessen, denn für diese durch Stress mitverursachten psychischen, aber körperlich in Erscheinung tretenden Störungen reicht eine Perspektive zu ihrer Erklärung nicht aus. Das Gleiche gilt für reaktive psychische Störungen, die durch Umweltereignisse hervorgerufen werden, sich aber interindividuell unterschiedlich ausprägen, je nach psychischer Vulnerabilität (Verletzbarkeit).
Zusammenfassung und Folgerungen für die Prävention Das Kapitel zeigt anhand zentraler stresstheoretischer Modelle auf, wie diese das Stressgeschehen mit seinen Ursachen und Auswirkungen jeweils aus ihrer spezifi-
schen Perspektive erklären. Die wissenschaftliche Diskussion zum Stressverständnis kann allerdings noch nicht als abgeschlossen gelten, zukünftig sind erweiterte Stresstheorien zu erwarten. Deutlich werden die Entwicklungen der Theorien über die Zeit, die gesellschaftliche Veränderungen aufgreifen und diese wiederum mit ihren Ausführungen zum Stressverständnis beeinflussen. Je nach Perspektive der stresstheoretischen Modelle lassen sich unterschiedliche Annahmen für die Prävention ableiten, die im Folgenden aufgezeigt werden (⊡ Tabelle 5.4). Nach der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten biologischen Sichtweise von Stress, mit den wichtigsten Vertretern Cannon und Selye, wird Stress durch externe oder interne Stressoren ausgelöst. In der Folge wird das Gleichgewicht des Organismus gestört, worauf dieser mit spezifischen und unspezifischen Reaktionen antwortet. Wird das biologische Stressverständnis zugrunde gelegt, sind Präventionsmaßnahmen zur Unterstützung des physiologischen Regulationssystems wie z. B. körperliche Aktivität, aber auch Yoga, zur Reduktion der körperlichen Stressreaktion geeignet.
⊡ Tabelle 5.4. Stressmodelle und Ansätze der Prävention Modelle
Wesentliche Vertreter
Fokus
Ansätze der Prävention
Biologische Stressmodelle
Cannon (1929) Selye (1956)
Reaktionsorientierung, körperliche Reaktionen
Reduktion der körperlichen Stressreaktion durch Sport, Yoga, Meditation, Biofeedback
Soziologische Stressmodelle
Holmes u. Rahe (1967) Anderson (1991)
Reizzentrierung, chronische Stressoren (Lärm, Armut), kritische Lebensereignisse, tägliche Ärgernisse
Reduktion der Stressoren durch Verhältnisprävention (z. B. Reduktion von Lärm), Vorbereitungskurse auf kritische Lebensereignisse, Selbsthilfegruppen, Kurse zu Zeitmanagement und Alltagsorganisation, Krisenintervention
Psychologische Stressmodelle
Lazarus u. Folkman (1984)
Transaktionales Modell, subjektive Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewältigungsversuche
Reduktion der erlebten Überforderung, z. B. durch Information über Copingmethoden und Problemlösungsstrategien, Stressmanagementkurse, Krisenintervention, Einstellungsänderungen, Psychotherapie
Ressourcenfokussierte Stressmodelle
Becker u. Polenz (1997) Hobfoll (1998)
Tatsächlicher oder antizipierter Ressourcenverlust
Sicherung oder Erweiterung der Ressourcen, z. B. durch die Pflege sozialer Beziehungen (soziale Ressourcen), Geldanlage, Altersvorsorge (materielle Ressourcen), Bildungserwerb, Selbsterfahrung (persönliche Ressourcen)
Antonovsky (1987)
Salutogenetische Perspektive, Erhalt der Gesundheit
Erhalt der Gesundheit, z. B. durch Gesundheitsförderung, Stärkung protektiver Faktoren, Finden von Sinnhaftigkeit
Karasek u. Theorell (1990)
Anforderung und Kontrolle
Siegrist (1996)
Aufwandsentschädigung (Gratifikation)
Veränderung in Arbeitsstrukturen und Verantwortlichkeiten, z. B. erhöhte Kontrolle bei der Arbeit, variable Tätigkeitsabläufe, Möglichkeiten zu sozialem Kontakt, Teamarbeit, eine wertschätzende Unternehmenskultur, Gesundheitszirkel, angemessene Bezahlung
Engel (1977) Adler et al. (2003)
Systemischer Ansatz, der die Interaktion von Körper, Psyche und Umwelt einbezieht
Interventionen bezogen auf körperliche Gesundheit, psychisches Wohlbefinden und gesundheitsfördernde Umweltbedingungen
Arbeitsweltbezogene Stressmodelle
Biopsychosoziale Modelle
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Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
Die soziologisch geprägten Wissenschaftler Holmes und Rahe vertreten Mitte des 20. Jahrhunderts die Theorie, dass jeder Stressor spezifische Stressreaktionen auslöst und unterschiedliche Verhaltensweisen zu seiner Bearbeitung erfordert. Diese Sichtweise setzt an verschiedenen Punkten an: ▬ Reduktion sozial und gesellschaftlich bedingter Stressoren, z. B. durch eine gesundheitsförderliche Gestaltung des Wohnumfeldes mit ausreichenden Erholungsflächen und Maßnahmen zum Lärmschutz. ▬ Interventionen sollten auch täglichen Stressoren auf Mikroebene präventiv begegnen wie der Verringerung häufiger Störungen am Arbeitsplatz durch organisatorische Änderungen. ▬ Zur stressfreieren Bewältigung anstehender kritischer Lebensabschnitte können Informationen sowie die Antizipation möglicher Änderungen wie das Kennenlernen angemessener Verhaltensstrategien z. B. in Kursen zur Geburtsvorbereitung und zur Vorbereitung auf den Ruhestand förderlich sein. Lazarus und Folkman stehen für ein psychologisches Stressmodell in den 1980er Jahren, nach dem ein Stressor erst dann zu einer Stressreaktion führt, wenn er subjektiv als stressvoll interpretiert wird. Präventionsansätze sollten auf der Grundlage psychologischer Stressmodelle bei der erlebten Überforderung ansetzen und versuchen, diese zu minimieren. Hierzu zählen Informationen über Coping-Methoden und Problemlösungsstrategien sowie ihre Einübung z. B. in Stressmanagementkursen. Ziel ist es, eine veränderte Sichtweise bzgl. Stressoren und damit Fähigkeiten zum veränderten Umgang mit Stress zu erreichen. Ein Vertreter der ressourcenorientierten Stressmodelle ist Antonovsky mit seiner von ihm geprägten salutogenetischen Perspektive in den 1980er Jahren. Diese wurde insbesondere von der Gesundheitsförderung zum Erhalt und zur Stärkung der Gesundheit und des Wohlbefindens aufgenommen. Hierzu müssen insbesondere protektive Faktoren identifiziert und Ressourcen gestärkt werden. Im Fokus stehen die Sicherung und Erweiterung der sozialen, persönlichen sowie materiellen Ressourcen, z. B. durch Aufnahme und Aufrechterhaltung von Freundschaften, aber auch Selbsterfahrung, Bildungserwerb und Vermögensbildung. Dieses setzt ein förderliches Umfeld voraus. Arbeitsweltbezogene Stressmodelle, als deren wichtige Vertreter Karasek und Theorell sowie Siegrist Anfang bzw. Mitte der 1990er Jahre angesehen werden, befassen sich insbesondere mit Belastungen am Arbeitsplatz. Stressinterventionen am Arbeitsplatz sollten bei Veränderungen in den Arbeitsstrukturen und Verantwortlichkeiten wie z. B. eine erhöhte Kontrolle bei der Arbeit, variable Tätigkeitsabläufe und angemessene Bezahlung ansetzen. Zudem gilt es, Gesundheitszirkel einzuführen bzw. auszu-
weiten und kollegiale Zusammenarbeit sowie eine wertschätzende Unternehmenskultur zu fördern. Eine detaillierte Darstellung präventiver Ansätze am Arbeitsplatz liefert das Kap. 7. Das biopsychosoziale Modell versucht, unterschiedliche wissenschaftliche Anschauungen zu integrieren, sodass Stressreaktionen als die Interaktion biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren gesehen werden. Präventive Interventionen müssen nach dieser Sichtweise die körperliche Gesundheit, das psychische Wohlbefinden und die gesundheitsfördernden Umweltbedingungen berücksichtigen und damit multimodal und multidisziplinär sein.
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77 Kapitel 5 · Stresstheoretische Modelle
Lazarus RS, Folkman S (1984) Stress, appraisal, and coping. Springer Publishing Company, New York Piaget J (1986) Das Weltbild des Kindes. Deutscher Taschenbuch Verlag, München Schwarzer R (2000) Stress, Angst und Handlungsregulation. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Schwarzer R, Schulz U (2001) The role of stressful life events. http://userpage.fu-berlin.de/~health/materials/lifeevents.pdf [10.05.2005] Selye H (1956) The stress of life. McGraw-Hill, New York Selye H (1974) Stress. Bewältigung und Lebensgewinn. Piper, München Zürich Siegrist J (1996) Soziale Krisen und Gesundheit. Hogrefe, Göttingen Siegrist J, Möller-Leimkühler AM (2003) Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit. In: Schwartz FW, Badura B, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch: Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Fischer, München Wien Baltimore, S 125–138 Stroebe W, Jonas K (2002) Gesundheitspsychologie – Eine sozialpsychologische Perspektive. In: Stroebe W, Jonas K, Hewstone M (Hrsg) Sozialpsychologie. Eine Einführung. Springer, Berlin Heidelberg, S 579–622 Taylor SE, Gruenewald TL, Updegraff JA, Lewis BP, Gurung RA, Cousinoo Klein L (2002) Sex differences in biobehavioral responses to threat: Reply to Geary and Flinn. Psychol Rev 104: 751–753 Taylor SE, Klein LC, Lewis BP, Gruenewald TL, Gurung RA, Updegraff JA (2000) Biobehavioral responses to stress in females: tend-andbefriend, not fight-or-flight. Psychol Rev 107:411–429 World Health Organisation (2001): The World Health Report 2001. Mental Health: New Understanding. New Hope, Genf World Health Organisation (2004) Prevention of Mental Disorders. Effective Interventions and Policy Options. Summary Report. WHO, Genf Zimbardo PG, Gerrig RJ (1999) Psychologie. 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Zimbardo PG, Gerrig RJ (2004) Psychologie. 16. Aufl. Pearson Education, München Boston San Francisco
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6 Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Das folgende Kapitel zeigt Stressoren bei Kindern und Jugendlichen sowie Ansätze ihrer Prävention in verschiedenen Lebenswelten auf. Die Beiträge stellen wissenschaftliche Studienergebnisse und praktische Erfahrungen dar. Sie verdeutlichen jedoch auch Wissenslücken hinsichtlich einer zielgruppenorientierten Konzeption und wirksamen Implementation von Präventionsmaßnahmen zur Stressbelastung und Suchtprävention. Das Kapitel versucht u. a. Antworten auf folgende Fragen zu geben: ▬ Wo können präventive Maßnahmen innerhalb der Familie wirksam ansetzen? Wie sollten diese gestaltet sein? ( Kap. 6.1, 6.2) ▬ Welche Ansätze zur Suchtprävention gibt es für Kinder und Jugendliche? Welche haben sich als effektiv erwiesen? ( Kap. 6.3) ▬ Wie können im Setting Schule Belastungen durch Stress reduziert werden? Welche gesundheitsförderlichen Maßnahmen lassen sich im Alltag umsetzen? ( Kap. 6.4) ▬ Welche Strategien eignen sich für bereits auffällig gewordene Jugendliche außerhalb des Settings Schule? Wie können ihre Ressourcen gestärkt werden? ( Kap. 6.5) ▬ Welche Ansätze und Herausforderungen stellen sich für Wissenschaft und Praxis hinsichtlich lebensweltbezogener Prävention? ( Kap. 6.6)
6.1
Lebensweltbezogene Risiken und Ressourcen Martina Plaumann, Anja Busse, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit ihren verschiedenen Dimensionen der körperlichen Verfassung, des psychischen Befindens, der sozialen Beziehungen und der Fähigkeit, den Anforderungen des Alltags gerecht zu werden, stellt eine wesentliche Basis für die Gesundheit im Erwachsenenalter dar. Zudem bildet sie eine wichtige Ressource für den Wohlstand einer Gesellschaft (Oldehinkel et al. 1999; Fombonne et al. 2001a,b). Seit einigen Jahren wird jedoch eine Zunahme von Entwicklungs- und Gesundheitsrisiken bei Kindern und Jugendlichen beobachtet (Ravens-Sieberer et al. 2003); psychosozial bedingte (Befindlichkeits-)Störungen und Verhaltensauffälligkeiten werden vermehrt diagnostiziert und behandelt. Hierzu zählen Depression, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, aber auch übermäßiger Alkoholkonsum. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den so genannten Routinedaten der KKH wider. So zeigen Auswertungen der vergangenen vier Jahre ( Kap. 4), dass bereits Kinder und Jugendliche Stressbelastungen ausgesetzt sind, die in der Folge zu psychischen Störungen sowie Alkoholproblemen führen können. Dabei weisen Jungen und männliche Jugendliche im Vergleich zu ihrer weiblichen Altersgruppe einen höheren Anteil an psychischen Störungen auf. Hervorzuheben ist die Altersgruppe der 10- bis unter 15-Jährigen, die eine auffallend häufige Verordnung von Psychopharmaka, insbesondere zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verzeichnet. ADHS ist das am
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
häufigsten diagnostizierte Störungsbild des Kindes- und Jugendalters in allen westlichen Industrienationen einschließlich Deutschland (Huss u. Lehmkuhl 2005). Ein weiteres Problem stellt der Alkoholkonsum insbesondere bei weiblichen Jugendlichen im Alter von 15 bis unter 20 Jahren dar. Die Analyse der Routinedaten der Kaufmännischen verdeutlicht die Zunahme der diesbezüglichen stationären Behandlungen. Die skizzierte Entwicklung wirft mehrere Fragen auf: ▬ Worauf ist die Zunahme dieser Gesundheitsrisiken zurückzuführen? ▬ Welchen Belastungen sind Kinder und Jugendliche ausgesetzt? ▬ Welche gesundheitlichen Folgen ergeben sich hieraus? ▬ Welche Schutzfaktoren gibt es? ▬ Wie können diese gestärkt werden? ▬ In welchen Lebensbereichen können präventive Maßnahmen sinnvoll ansetzen?
Stress: Ursachen und Folgen Lebenssituationen, die mit deutlich erhöhtem Distress verbunden sind, können bereits bei Kindern und Jugendlichen die Entwicklung und Ausprägung somatischer und psychischer Störungen bzw. Krankheiten begünstigen. Dies zeigt eine Studie von Lohaus et al. (2004) zum Einfluss des Stresserlebens auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Danach bestehen deutliche Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß des Stresserlebens und der Häufigkeit psychosomatischer Symptome wie Kopfund Bauchschmerzen, Ein- und Durchschlafstörungen, Erschöpfungszustände sowie psychischer Symptome wie Beeinträchtigung des kognitiven Leistungsvermögens, Lust- und Antriebslosigkeit, Auftreten negativer Gefühle wie Angst, Wut und Ärger. Nach Lohaus et al. (2004) sind die angegebenen Symptomatiken zumindest zum Teil Ausdruck eines Stresserlebens. Empfundener Stress kann bei Kindern und Jugendlichen gesundheitsschädliche Bewältigungsstrategien wie übermäßigen Konsum von Tabak und Alkohol fördern (Breinbauer u. Maddaleno 2005). Nach dem Köln-SiegenSurvey, in dem 840 Schüler und Schülerinnen zwischen 12 und 16 Jahren befragt wurden (Eickhoff u. Zinnecker 2000), sind Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern schätzen und sich bei ihnen wohlfühlen, weniger anfällig für Zigaretten, Alkohol sowie weiche und harte Drogen. Kinder und Jugendliche, die eine geringe Wertschätzung gegenüber ihren Eltern haben und ihr Elternhaus als stressvoll erleben, sind dagegen anfälliger für den Konsum von Tabak und Alkohol. Zu einer besonders stressvollen Lebensphase zählt die Adoleszenz. In dieser müssen sich die Jugendlichen zahlreichen normativen Veränderungen und gesteigerten Erwartungen an ein »erwachsenes Verhalten«
anpassen (Kaplan 2004). Im Idealfall entwickeln sie ein ausgeprägteres Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zu einer realistischeren Selbstbeurteilung sowie zur Reflexion von Fremdeinschätzungen ihrer Person. Jugendliche erfahren zudem biologische Veränderungen ihres Körpers, Veränderungen im Umgang mit Gleichaltrigen des eigenen und anderen Geschlechts sowie eine größere Selbständigkeit und Verantwortung. Die zentralen Lebensbereiche und sozialen Umfelder – Familie, Schule und Freunde/Gleichaltrigengruppe (Peer Group) – beeinflussen wesentlich das Wohlbefinden der Jugendlichen. Stresssituationen entstehen häufig gerade in diesen (sich teilweise gegenseitig bedingenden) Bereichen, insbesondere bei Konflikten mit Eltern und Lehrern. Als kritische Lebensereignisse werden von Jugendlichen im deutschen Jugendgesundheitssurvey am häufigsten schulische Überforderung, Probleme mit den Eltern, Trennung von Freund oder Freundin und Tod einer nahe stehenden Person genannt (Ravens-Sieberer et al. 2003). Schulbezogene Stressoren beinhalten Prüfungen, Noten, den Umgang mit als unfair oder unfreundlich wahrgenommenen Lehrern und Gefühle des Gehetztseins. Stressoren, die sich auf zuhause bzw. die Familie beziehen, sind zumeist gesundheitliche Probleme eines Eltern- oder Geschwisterteils, generelle Konflikte mit den Eltern, Konflikte zwischen den Eltern und die Trennung der Eltern (Breinbauer u. Maddaleno 2005). Stressprävention für Kinder und Jugendliche muss » Die natürlich zuerst in Familie, Kindergarten und Grundschule ansetzen. Allgemeine Entspannungstechniken und Meditationsphasen für die einzelnen Schüler und im Gruppenverband klare Zeit- und Sozialstrukturen scheinen mir am wichtigsten. Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld
«
Einen Überblick über Ursachen und Folgen von Stress bei Kindern und Jugendlichen gibt ⊡ Abb. 6.1.
Lebensbereich Familie Der Familie und insbesondere den elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen wird eine zentrale Bedeutung für eine gesunde psychosoziale Entwicklung im Kindes- und Jugendalter zugeschrieben ( Kap. 6.2; Walper 2005; Donald u. Dower 2002). Folgende Faktoren werden für die psychosoziale Entwicklung von Kindern als relevant erachtet: ▬ sozioökonomische Bedingungen (Klocke u. Becker 2003), ▬ Modelllernen in der Familie von frühester Kindheit an (Meltzoff u. Moore 1989), ▬ Interaktion, Kommunikation in der Familie (Hale u. Rasmussen 1998; Hauser et al. 1991; Grotevant u. Cooper 1985, 1986; Clarke-Stewart 1978),
81 6.1 · Lebensweltbezogene Risiken und Ressourcen
▬ Bindungsqualität und soziale Kompetenz des Kindes (Aviezer et al. 1999; Wartner et al. 1994), ▬ Qualität der Elternbeziehung und die Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Familie bzw. das prosoziale Verhalten des Kindes (Walper 2005; Erel u. Burman 1995; Cummings u. Davies 1994; Cowan u. Cowan 1992; Grych u. Fincham 1990; Emery 1988), ▬ Erziehungsstil (Walper 2005; Steinberg et al. 1994), ▬ Auswirkungen einer Trennung/Scheidung der Eltern (Schmidt-Denter 1999; Schmidt-Denter u. Schmitz 1999; Zill 1994; Camara u. Resnick 1988; Peterson u. Zill 1986; Grotevant u. Cooper 1985), ▬ emotionale Kompetenz in der Familie (Petermann u. Wiedebusch 2003; Eisenberg et al. 2002). Diese Faktoren wirken direkt auf das Potential von Kindern, psychisch gesund zu sein und zu bleiben (Eickhoff u. Zinnecker 2000). Bei entsprechender Ausprägung bzw. bei einem Fehlen können sie allerdings auch als Risikofaktor wirken. Insofern bedeutet die Förderung des Wohlergehens von Familien auch immer eine Förderung der gesunden Entwicklung von Kindern und eine Prävention psychosozialer Störungen (Lösel et al. 2004). Inwieweit sich psychosoziale Belastungsfaktoren in Kindheit und Jugend langfristig auf die (psychische) Gesundheit auswirken, untersuchten Egle et al. (1997) anhand von Längs- und Querschnittsstudien. Neben den Risikofaktoren analysierten sie die kompensatorischen
Infobox
Symptome und Folgen von Stress
Familiäre Belastungen, z.B.
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Trennung der Eltern Tod eines Elternteils ständige Familienkonflikte krankes Elternteil oder Geschwisterkind
tzfaktoren Schu
Belastungen in der Schule, z.B. - Prüfungen - Notendruck - als unfair oder unfreundlich wahrgenommene Lehrer
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Schutzfaktoren und identifizierten die als wissenschaftlich gesichert geltenden Faktoren (s. folgende Infoboxen). Noch weitgehend unklar ist die Gewichtung der einzelnen Belastungsfaktoren. Für die Entwicklung von Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) bzw. Vulnerabilität (Verletzbarkeit) ist die spezifische Wechselwirkung zwischen genetischen und biologischen Faktoren
Ursachen von Stress
-
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Erlangen-Nürnberger Studie Ansätze zur Prävention zeigt das erste vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte deutsche Modellprojekt einer kombinierten Entwicklungs- und Präventionsstudie auf, die Erlangen-Nürnberger Studie. Sie weist darauf hin, dass bereits im Vorschulalter Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung bzw. Verminderung kindlicher Verhaltensprobleme eingesetzt werden sollten, da bestehende Schwierigkeiten ohne ein gezieltes Trainingsprogramm nicht von alleine abklingen. Das kindliche Problemverhalten entsteht aus einem komplexen Bedingungsgefüge heraus, zu dem das elterliche Erziehungsverhalten, die soziokulturellen Gegebenheiten und medizinisch-biologische Ursachen beitragen. Präventive Maßnahmen sollten dies berücksichtigen und besonders bei Kindern mit erhöhtem Risiko in verschiedenen Bereichen ansetzen (s. unten).
Kinder/ Jugendliche
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Problemverhalten Niedergeschlagenheit Ängste Depressionen übermäßiger Konsum von Tabak und Alkohol sozialer Rückzug Leistungsbeeinträchtigungen Entwicklungsnachteile Ausgrenzung Beeinträchtigung im sozialen, emotionalen und gesundheitlichen Bereich
Freundeskreis Ökonomische Belastungen, z.B. - Arbeitslosigkeit der Eltern / eines Elternteils ⊡ Abb. 6.1. Ursachen und Auswirkungen von Stress bei Kindern und Jugendlichen (in Anlehnung an Walper (s. Kap. 6.2); Breinbauer u. Maddaleno 2005)
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Infobox
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Risikofaktoren für die Entstehung psychischer und psychosomatischer Störungen (nach Egle et al. 1997) ▬ niedriger sozioökonomischer Status, ▬ mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr, ▬ geringe Schulbildung der Eltern, ▬ große Familien bei sehr wenig Wohnraum, ▬ Altersabstand zum nächsten Geschwisterkind kleiner als 18 Monate, ▬ allein erziehende Mutter, ▬ autoritäres väterliches Verhalten, ▬ Verlust der Mutter, ▬ chronische Disharmonie/Beziehungspathologie in der Familie, ▬ Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils, ▬ psychische oder physische Erkrankung eines Elternteils, ▬ mangelnde Kontakte zu Gleichaltrigen, ▬ hohe Belastungen.
Infobox
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Schutzfaktoren im Hinblick auf die Entstehung psychischer und psychosomatischer Störungen (nach Egle et al. 1997) ▬ dauerhafte, gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson, ▬ Großfamilie/kompensatorische Elternbeziehung/ Entlastung der Mutter, ▬ gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust, ▬ soziale Förderung (z. B. Jugendgruppen, Schule, Kirche), ▬ sicheres Bindungsverhalten, ▬ überdurchschnittliche Intelligenz, ▬ robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament, ▬ verlässlich unterstützende Bezugsperson/en im Erwachsenenalter, ▬ geringe Belastungen.
einerseits und psychosozialen Faktoren andererseits ebenfalls ungeklärt. Widersprüchliche Aussagen bestehen zur geschlechtsspezifischen Ausprägung. Während nach der obigen Studie (Egle et al. 1997) Mädchen eine geringere Vulnerabilität aufweisen als Jungen, haben nach dem Jugendgesundheitssurvey Mädchen im späten Jugendalter eine höhere Gesamtrate psychischer Auffälligkeiten als Jungen. Externalisierende (nach außen gerichtete) Störungen (hyperkinetische, dissoziale Störungen) scheinen mehr bei Jungen, internalisierende (nach innen gerichtete) Störungen (psychosomatische Störungen) hingegen tendenziell häufiger bei Mädchen vorzukommen (Ravens-
Sieberer et al. 2003). Jugendliche mit einem niedrigen sozialen Status berichten zudem häufiger über psychosomatische Beschwerden und psychische Auffälligkeiten. Außerdem ist ihr psychisches Wohlbefinden bzw. ihre mentale Gesundheit im Vergleich zu Jugendlichen aus höheren sozialen Schichten schlechter.
Lebensbereich Schule Neben dem Lebensbereich der Familie ist die Schule durch stressvolle Erlebnisse für Kinder und Jugendliche geprägt. Nach den Studienergebnissen von Lohaus et al. (2004) nehmen das Stresserleben sowie die psychische Symptomatik mit steigender Klassenstufe zu. Mädchen berichten mehr psychische und somatische Symptome und geben ein höheres Stresserleben an als Jungen. Inwieweit die Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf eine höhere Bereitschaft der Mädchen, Stresserlebnisse und Symptomatiken mitzuteilen, zurückzuführen sind, bleibt offen. Die Studienergebnisse verdeutlichen die Relevanz von präventiven Maßnahmen zur Stressreduktion im Schulalter. Als sinnvoll erachten die Autoren z. B. altersgerechte Stressmanagementprogramme für Kinder und Jugendliche zur Vermittlung von Stressbewältigungskompetenzen. Stressreduzierend kann auch die Umgebung wirken, wenn sie so gestaltet ist, dass für die Schüler der Umgang mit stresserzeugenden Situationen erleichtert wird. Dabei sollten auch Eltern, Lehrer bzw. Verantwortliche aus der sozialen Umwelt einbezogen werden. zur Stressprävention in der Schule und » Programme eine Qualifizierung von Stressbewältigungsprogrammen in der medizinischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen wären sinnvolle bildungspolitische und gesundheitspolitische Maßnahmen. Prof. Dr. Manfred Zielke, Wissenschaftsrat der Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG (AHG)
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Beispielhaft zur Förderung der psychischen Gesundheit an Sekundarschulen in Deutschland ist das »MindMattersProjekt« (www.mindmatters-schule.de). Es wurde Mitte der 1990er Jahre von drei australischen Universitäten entwickelt, in einem Modellversuch evaluiert und erfolgreich an australischen Schulen umgesetzt (Hunter Institute of Mental Health 2005). Derzeit laufen Modellversuche an 32 Schulen der Sekundarstufe I in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und der Schweiz (Paulus et al. 2002). Die Ziele von »MindMatters« sind die Förderung der psychischen Gesundheit und Prävention psychischer Krankheiten aller Schulmitglieder, die Förderung der Bewältigungskompetenz und genereller Schutzfaktoren, die Förderung des Selbstwertgefühls und des Optimismus sowie die Suizidprävention. Das »MindMatters-Projekt« bietet Schulen umfangreiches Material für die Schulentwicklung und den Unterricht. Es richtet sich gleichermaßen an
83 6.1 · Lebensweltbezogene Risiken und Ressourcen
Schulleiter, Schüler, Lehrer, Eltern, nichtunterrichtendes Personal und an das schulische Umfeld. Die Lebenswelten Familie und Schule werden von Kindern und Jugendlichen sowie von Wissenschaftlern als die zentralen Bereiche genannt, in denen Kinder und Jugendliche Stress und psychische Belastungen erfahren. Insofern sind beide Settings wichtige Ansatzbereiche für Prävention, wobei nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Eltern, Lehrer und weitere soziale Verantwortliche in präventive Maßnahmen einbezogen werden sollten. Darüber hinaus ist der außerschulische Freizeitbereich relevant, der ebenfalls Raum für Kontakte und Austausch mit Gleichaltrigen bietet.
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
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Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie Deutschland: 1999–2002 Schwerpunkt ▬ Entwicklungsstudie: Verhaltensprobleme im Kindergartenalter. ▬ Präventionsstudie: Maßnahmen zur Verbesserung der elterlichen Erziehungskompetenz und der sozialen Kompetenz der Kinder.
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Ziele ▬ Erforschung des Zusammenhanges zwischen kindlichen Erlebens- und Verhaltensproblemen (Aggression, Hyperaktivität, Delinquenz, Angst, Depression, Essstörungen, Drogenmissbrauch) und verschiedenen Einflüssen der kindlichen Lebenswelt (soziodemographische Bedingungen, elterlicher Erziehungsstil, biologisch-medizinische Faktoren). ▬ Evaluation eines Interventionsprogramms zur Verringerung der Erlebens- und Verhaltensprobleme. Zielgruppe ▬ Kernstichprobe: 675 Kinder aus 609 Familien der Region Nürnberg-Erlangen ▬ Interventionsstichprobe Kindertraining: 178 Kinder ▬ Interventionsstichprobe Elterntraining: 163 Mütter, 48 Väter Studiendesign: Interventionsstudie (universeller Präventionsansatz) Es wurden drei Erhebungen im Abstand von einem Jahr durchgeführt. Zur Datenerhebung fand ein Hausbesuch mit Elterninterview und Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion statt. Im Kindergarten wurden psychometrische Tests und physiologische Messungen mit den Kindern vorgenommen. Darüber hinaus wurden die Untersuchungsergebnisse aus den Vorsorgeheften der Kinder einbezogen. Bei einem Teil der Stichprobe fand zwischen der ersten und der zweiten Befragung eine Intervention (Kindertraining, Elterntraining oder eine Kombination) statt. Das Kindertraining war auf die Förderung der sozialen Kompetenz, das Elterntraining auf Erziehungskompetenz ausgerichtet. Wesentliche Ergebnisse Entwicklungsstudie ▬ Verhaltensprobleme blieben über die drei Untersuchungszeitpunkte hinweg stabil: Kinder, die in der ersten Erhebung durch Verhaltensprobleme aufgefallen waren, gehörten auch in der dritten Erhebung mit großer Wahrscheinlichkeit zu dieser Gruppe.
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▬ Jungen zeigten mehr Probleme im Bereich des Sozialverhaltens, bei den Mädchen lagen die Schwierigkeiten eher im Bereich emotionaler Probleme. Mädchen zeigten insgesamt mehr prosoziales Verhalten. Geschlechtsunterschiede existierten aus Sicht der befragten Erzieherinnen im Kindergarten deutlicher als es aus der Elternbefragung hervorging. ▬ Kinder aus sozial schwachen Familien hatten die meisten Probleme. Stärker belastet waren auch Kinder von Alleinerziehenden oder von sehr jungen Vätern, Kinder von Eltern mit Alkoholproblemen oder Kinder, deren Eltern bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. ▬ Deutliche Zusammenhänge zeigten sich zwischen dem elterlichen Erziehungsverhalten und dem kindlichen Verhalten: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten (Aggressivität, Hyperaktivität) hatten oft Eltern, die mehr bestraften, einen inkonsistenten Erziehungsstil zeigten und sich selber als weniger kompetent in der Erziehung einschätzten. ▬ Je mehr Erziehungsrisiken vorhanden waren, desto mehr zeigten sich von den Eltern wahrgenommene kindliche Verhaltensprobleme. Allerdings bestand kaum ein Zusammenhang zwischen dem elterlichen Erziehungsverhalten und dem von den Erzieherinnen wahrgenommenem Verhalten der Kinder. ▬ Erhöhte Werte des Stresshormons Cortisol fanden sich bei ängstlich-zurückgezogenen Kindern. Ein Zusammenhang zwischen Cortisolwerten und Aggressivität alleine ließ sich nicht bestätigen. Die höchsten Cortisolwerte fanden sich aber bei Jungen, die aggressiv und außerdem besonders ängstlich waren. Die niedrigsten Cortisolwerte hatten aggressive, aber nicht ängstliche Jungen. ▬ Für die soziale Entwicklung der Kinder war es förderlich, wenn es viele Gemeinsamkeiten und wenig Streit zwischen den Eltern gab. Umgekehrt fand sich ein Zusammenhang zwischen Paarproblemen und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder. Präventionsstudie Die hier dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf 227 Kinder der Interventionsgruppe. Sie selber und/oder ihre Eltern haben an einem Training (Intervention) teilgenommen. ▬ Nach Einschätzung der Erzieherinnen ergab sich ein deutlicher Rückgang an Verhaltensproblemen bei Kindern der Interventionsgruppe. Der Effekt war am ausgeprägtesten bei der kombinierten Teilnahme am Eltern- und Kindertraining. ▬ Bei den Kindern aus der Interventionsgruppe zeigte sich eine Verbesserung in unterschiedlichen Bereichen (Aggression, Hyperaktivität, emotionale Probleme,
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6.2 prosoziales Verhalten). Die stärksten Effekte ergaben sich für Hyperaktivität und für emotionale Probleme. ▬ In der Beurteilung der Eltern ließ sich diese eindeutige Verbesserung des Verhaltens der Kinder durch das Interventionsprogramm nicht bestätigen. Aus Elternsicht nahmen sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe die Verhaltensprobleme der Kinder über die Zeit ab. Es wird neben dem unterschiedlichen Bezugsrahmen der Erzieherinnen im Vergleich zu den Eltern diskutiert, ob nicht auch die Familien der Kontrollgruppe von dem Präventionsprogramm profitiert haben (ein eingeschränktes Beratungsangebot stand aus ethischen Gründen allen Familien offen). Die Autoren messen der Beurteilung durch die Erzieherinnen ein größeres Gewicht bei, da diese nicht näher über die Zuordnung der Kinder zur Interventions- und Kontrollgruppe informiert waren. ▬ Kinder mit den ausgeprägtesten Verhaltensauffälligkeiten profitierten insgesamt am stärksten von dem Präventionsprogramm. ▬ Anhand der bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse zeichnet sich ab, dass das Interventionsprogramm im Kindergarten auch noch bis in den schulischen Kontext hinein eine positive Wirkung zeigt. Literatur zum Thema Lösel F, Beelmann A, Jaursch S, Stemmler M (2004) Soziale Kompetenz für Kinder und Familien. Ergebnisse der Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg), Berlin
Belastungen in der Familie und Ansätze der Prävention Sabine Walper
Einleitung Familien als zentraler Entwicklungskontext für Kinder und Eltern stehen seit jeher im Mittelpunkt des Interesses, wenn es darum geht, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten, emotionalen Störungen und gesundheitlichen Belastungen zu erklären. Einschneidende familiäre Erfahrungen wie der Tod des Partners bzw. eines Elternteils, das Scheitern der Ehe bzw. eine Trennung der Eltern, aber auch fortgesetzte Familienkonflikte belasten Eltern wie Kinder und können sich auf unterschiedlichste Weise in Beeinträchtigungen der seelischen und körperlichen Gesundheit niederschlagen (Amato 2000; Walper 2002b). Auch wenn es der Mehrzahl der Betroffenen gelingt, solche Belastungssituationen längerfristig zu bewältigen, finden sich doch Hinweise darauf, dass solche Erfahrungen ihre Schatten für die mitbetroffenen Kinder sogar bis ins Erwachsenenalter hinein werfen können (Amato u. Keith 1991; Amato u. Sobolewski 2001). zeigen, dass schon bei Kindern und Jugend» Studien lichen ein Stresserleben auftritt. Vor diesem Hintergrund sollte Prävention von Stress frühzeitig ansetzen, und zwar in einer Kombination von individuumsorientierten und strukturzentrierten Ansätzen. Dr. Doris Pfeiffer, Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) e.V. und Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) e.V., Siegburg
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Dies sind nur einige markante Beispiele aus einer breiten Palette familialer Belastungssituationen, die für die Entwicklung und Gesundheit der Familienmitglieder relevant sind. In aller Regel ist es nicht ein einzelner isolierter Faktor, der ausschlaggebend ist, sondern die Kumulation ungünstiger Lebens- und Entwicklungsbedingungen, die sich längerfristig nachteilig auswirkt. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei der Gestaltung der familiären Beziehungen und Interaktionen zu. Im Folgenden sollen Möglichkeiten der Prävention im Familienkontext aufgezeigt und kritisch gewürdigt werden. Familienbeziehungen für alle Beteiligten befriedigend zu gestalten, ist zu einem zentralen Anliegen geworden, das mit der Eheschließung und der Geburt von Kindern verbunden ist. So zentral dieses Anliegen im Zuge der vielfältigen Wandlungstendenzen geworden ist, denen Familien unterliegen, so schwierig scheint es auch, dieses Ziel einzulösen. Obwohl fast alle Ehepaare angeben, aus Liebe zu heiraten und ökonomische Motive im Vergleich zur Versorgungsehe früherer Jahrhunderte
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6.2 prosoziales Verhalten). Die stärksten Effekte ergaben sich für Hyperaktivität und für emotionale Probleme. ▬ In der Beurteilung der Eltern ließ sich diese eindeutige Verbesserung des Verhaltens der Kinder durch das Interventionsprogramm nicht bestätigen. Aus Elternsicht nahmen sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe die Verhaltensprobleme der Kinder über die Zeit ab. Es wird neben dem unterschiedlichen Bezugsrahmen der Erzieherinnen im Vergleich zu den Eltern diskutiert, ob nicht auch die Familien der Kontrollgruppe von dem Präventionsprogramm profitiert haben (ein eingeschränktes Beratungsangebot stand aus ethischen Gründen allen Familien offen). Die Autoren messen der Beurteilung durch die Erzieherinnen ein größeres Gewicht bei, da diese nicht näher über die Zuordnung der Kinder zur Interventions- und Kontrollgruppe informiert waren. ▬ Kinder mit den ausgeprägtesten Verhaltensauffälligkeiten profitierten insgesamt am stärksten von dem Präventionsprogramm. ▬ Anhand der bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse zeichnet sich ab, dass das Interventionsprogramm im Kindergarten auch noch bis in den schulischen Kontext hinein eine positive Wirkung zeigt. Literatur zum Thema Lösel F, Beelmann A, Jaursch S, Stemmler M (2004) Soziale Kompetenz für Kinder und Familien. Ergebnisse der Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg), Berlin
Belastungen in der Familie und Ansätze der Prävention Sabine Walper
Einleitung Familien als zentraler Entwicklungskontext für Kinder und Eltern stehen seit jeher im Mittelpunkt des Interesses, wenn es darum geht, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten, emotionalen Störungen und gesundheitlichen Belastungen zu erklären. Einschneidende familiäre Erfahrungen wie der Tod des Partners bzw. eines Elternteils, das Scheitern der Ehe bzw. eine Trennung der Eltern, aber auch fortgesetzte Familienkonflikte belasten Eltern wie Kinder und können sich auf unterschiedlichste Weise in Beeinträchtigungen der seelischen und körperlichen Gesundheit niederschlagen (Amato 2000; Walper 2002b). Auch wenn es der Mehrzahl der Betroffenen gelingt, solche Belastungssituationen längerfristig zu bewältigen, finden sich doch Hinweise darauf, dass solche Erfahrungen ihre Schatten für die mitbetroffenen Kinder sogar bis ins Erwachsenenalter hinein werfen können (Amato u. Keith 1991; Amato u. Sobolewski 2001). zeigen, dass schon bei Kindern und Jugend» Studien lichen ein Stresserleben auftritt. Vor diesem Hintergrund sollte Prävention von Stress frühzeitig ansetzen, und zwar in einer Kombination von individuumsorientierten und strukturzentrierten Ansätzen. Dr. Doris Pfeiffer, Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) e.V. und Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) e.V., Siegburg
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Dies sind nur einige markante Beispiele aus einer breiten Palette familialer Belastungssituationen, die für die Entwicklung und Gesundheit der Familienmitglieder relevant sind. In aller Regel ist es nicht ein einzelner isolierter Faktor, der ausschlaggebend ist, sondern die Kumulation ungünstiger Lebens- und Entwicklungsbedingungen, die sich längerfristig nachteilig auswirkt. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei der Gestaltung der familiären Beziehungen und Interaktionen zu. Im Folgenden sollen Möglichkeiten der Prävention im Familienkontext aufgezeigt und kritisch gewürdigt werden. Familienbeziehungen für alle Beteiligten befriedigend zu gestalten, ist zu einem zentralen Anliegen geworden, das mit der Eheschließung und der Geburt von Kindern verbunden ist. So zentral dieses Anliegen im Zuge der vielfältigen Wandlungstendenzen geworden ist, denen Familien unterliegen, so schwierig scheint es auch, dieses Ziel einzulösen. Obwohl fast alle Ehepaare angeben, aus Liebe zu heiraten und ökonomische Motive im Vergleich zur Versorgungsehe früherer Jahrhunderte
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
in den Hintergrund getreten sind, endet ein Drittel der Ehen vor dem Scheidungsrichter, und in der Hälfte der Fälle sind Kinder mit betroffen (Engstler u. Menning 2003; Schwarz u. Noack 2002). Auch für die Gestaltung von Eltern-Kind-Beziehungen haben sich die Ausgangsbedingungen auf den ersten Blick deutlich verbessert, bergen aber gleichzeitig auch zahlreiche Unsicherheiten und Risiken. Ob und wann man ein Kind bekommt und damit eine Familie gründet, ist heute – mit der Verfügbarkeit vielfältiger Mittel der Familienplanung – weitaus stärker zu einem Akt bewusster Entscheidung geworden, als es noch bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war (Schneewind 1999). Damit ist jedoch auch die Verantwortung für das Gelingen des »Projekts Kind« gestiegen. Und dieses Projekt steht heute unter gewandeltem Vorzeichen, denn die Motive für Kinder haben sich verschoben – weg von instrumentellen und Versicherungsmotiven wie der ökonomischen Absicherung für das Alter hin zu psychologischen Motiven wie der Freude am Kind und der Erfüllung eines persönlichen Lebensentwurfs (Nauck 2001). So steht das Gelingen einer emotional befriedigenden Beziehung weit oben auf der Agenda, ein Ziel, dessen Einlösung angesichts vielfältiger Alltagswidrigkeiten und unausweichlicher Interessenskonflikte durchaus fraglich ist. Auch die Erziehungsziele von Eltern haben sich im Vergleich zur Nachkriegszeit merklich gewandelt (Walper 2004). Standen früher Gehorsam und Bereitschaft zur Unterordnung im Vordergrund, so nimmt heute die Förderung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Kinder eine prominente Stellung in den Erziehungszielen von Eltern ein. Wie dies zu bewerkstelligen ist, ohne andere Zielsetzungen wie die Förderung von Rücksichtnahme, Kooperationsfähigkeit und Sachkompetenzen aus dem Blick zu verlieren, scheint vielfach eine offene Frage zu sein, die zahlreiche Eltern ratlos lässt. Schon der Boom der Ratgeberliteratur lässt ahnen, dass viele Eltern verunsichert sind. Aktuelle Umfragen belegen, dass etwa ein Viertel aller Eltern über häufige Probleme und Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern klagen. Sie finden ihre Kinder schwierig und beschweren sich darüber, dass die Kinder zu viel streiten, zu viel widersprechen, zu impulsiv und unkonzentriert sind (Resch 2001). Etwa die Hälfte aller Eltern berichtet über Probleme damit, konsequent zu sein und Grenzen zu setzen (Kucklick 2002). In einer Repräsentativbefragung der Fachhochschule Freiburg bei über 1000 Eltern (n = 1140) gaben 53% der Eltern von Kindergartenkindern an, sie wünschten sich mehr Unterstützung und Beratung in Erziehungsfragen (Fröhlich-Gildhoff et al. 2005). Auch die Prävalenzraten stimmen nachdenklich: Etwa 20% der Kinder und Jugendlichen leiden unter psychischen Störungen von klinischer Relevanz (z. B. Hyperaktivität, Aggressivität, Angst- oder Essstörungen) (Petermann et al. 2000).
Häufig haben Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Störungen einen familiären Hintergrund. Genetische und prä- wie auch perinatale Risiken können durch ungünstige Lebensbedingungen der Familie, nicht zuletzt durch Belastungen der Qualität der Familienbeziehungen, potenziert werden. Damit sind oftmals ungünstige Ausgangsbedingungen für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in anderen Kontexten – etwa im Hinblick auf die Integration unter Gleichaltrigen oder die Meisterung schulischer Leistungsanforderungen – gegeben, die zu einer weiteren Verschärfung von Problemlagen beitragen. Besonders deutlich sind solche Verkettungen negativer Entwicklungen für die Entstehung und Verfestigung aggressiver Verhaltensmuster aufgezeigt worden (Loeber u. Hay 1994; Petermann 1995). Insofern kommt Präventionsangeboten, die auf eine frühzeitige Vermeidung negativer Entwicklungen abzielen und hierbei im Familienkontext ansetzen, zentrale Bedeutung zu. Im Folgenden stehen Aspekte der Erziehung und der Eltern-Kind-Interaktion im Vordergrund. Der Fokus auf elterliche Erziehungskompetenzen ist unschwer zu legitimieren: Die Verabschiedung des Gesetzes zur gewaltfreien Erziehung (§ 1631 II Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) im Jahr 2000 hat vielfältige Bemühungen initiiert, Eltern Informationen, Präventionsangebote und Unterstützung in Krisen- und Konfliktsituationen zukommen zu lassen, die die Gesetzgebung als flankierende Maßnahmen begleiten sollen (Tschöpe-Scheffler 2005). Aber auch ohne diese veränderte Gesetzeslage gibt es gute Gründe, auf Erziehung in der Familie zu fokussieren. Wie sich familienexterne und -interne Stressoren auf die Kinder auswirken, hängt in hohem Maße davon ab, inwieweit das elterliche Erziehungsverhalten unter der Belastungssituation leidet oder inwieweit es den Eltern gelingt, Resilienz (psychische Widerstandskraft) zu entwickeln (BMFSFJ, in Druck). Dies soll im dritten Abschnitt für ausgewählte Belastungssituationen anhand einschlägiger Forschungsbefunde erläutert werden. Zuvor wird aufgezeigt, wie sich auf der Basis empirischer Erkenntnisse entwicklungsförderliches Erziehungsverhalten charakterisieren lässt. Vor diesem Hintergrund wird auf ausgewählte Präventionsprogramme eingegangen. Der letzte Abschnitt verweist insbesondere auf den Bedarf an gesicherten Erkenntnissen über die Wirksamkeit solcher Programme.
Entwicklungsförderliches Erziehungsverhalten im Spiegel aktueller Forschungsbefunde Wenn es darum geht, elterliches Erziehungsverhalten zu bewerten und das eine als »richtig« bzw. förderungswürdig, anderes jedoch als »falsch« herauszustellen, steht man immer in der Gefahr, kulturell geprägte Voreingenommenheiten und ideologisch eingefärbte Positionen ins Spiel zu bringen. Umso wichtiger ist es, solche Aus-
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sagen und Entscheidungen vor dem Hintergrund einer soliden Basis empirischer Erkenntnisse zu treffen, die es erlaubt, die jeweiligen Konsequenzen des Erziehungsverhaltens abzuschätzen. Lawrence Steinberg (2001) hat in diesem Kontext betont: »We know some things«. Tatsächlich liegt mittlerweile ein breiter Fundus an Erkenntnissen zur Ausgestaltung elterlichen Erziehungsverhaltens unter diversen Lebensbedingungen, aber vor allem auch zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von den Beziehungen und Interaktionen vor, in die sie innerhalb der Familie eingebunden sind. Die zahlreichen Ausdifferenzierungen des derzeitigen Kenntnisstandes können hier kaum angemessen reflektiert werden. Weiterführende Literatur hierzu findet sich bei Bornstein (2002). Die Beeinflussung zwischen Eltern und Kindern ist jedoch keineswegs als Einbahnstraße zu begreifen, denn Kinder sind Mitgestalter ihrer Beziehungen und beeinflussen nicht zuletzt das Verhalten ihrer Eltern ihnen gegenüber (Crouter u. Booth 2003). Dies entspricht einer Sichtweise, die auch der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (BMFSFJ, in Druck) seinem Gutachten zur Stärkung familialer Beziehungs- und Erziehungskompetenzen zugrunde gelegt hat. Entwicklung wird hier vor allem als Selbstorganisationsprozess verstanden, da »menschliche Individuen nicht nur sich selbst organisierende und regulierende, sondern auch selbstreflektierende lebende Systeme sind, die sich selbst als Urheber ihres Tuns und seiner Folgen erfahren und somit im Prinzip ihr Selbst und ihre Umwelt in einem erheblichen Maße aktiv selbst gestalten können«. Hilfreich ist es zunächst, sich die Bedürfnisse von Kindern zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne unterscheidet Bornstein (2002) für die Betreuung und Erziehung von Säuglingen vier Aspekte: ▬ körperbezogene Betreuung (»nurturant caregiving«): jener Bereich elterlicher Fürsorge, der auf das körperliche Wohlergehen der Kinder bezogen ist, ▬ soziale Betreuung (»social caregiving«): der breite Bereich verbaler, emotionaler und physischer Verhaltensweisen, mit denen Eltern ihre Kinder in interpersonellen Austausch einbinden und ihre Emotionen und sozialen Handlungen regulieren, einschließlich der Beziehungen zu anderen Personen, ▬ didaktisch-anleitende Betreuung (»didactic caregiving«): gezielte Unterstützung in der Erschließung der Umwelt und Lernhilfe und ▬ materielle Fürsorge (»material caregiving«), mit der die Bereitstellung und Organisation der kindlichen Sachumwelt durch Spielzeug und Bücher etc. angesprochen ist. Wenngleich sich die Bedürfnisse von Kindern im Verlauf ihrer Entwicklung verändern, sind damit doch zentrale Bereiche angesprochen: das Bedürfnis nach körperlichem
Wohlergehen, nach sozialer Eingebundenheit, nach Kompetenz und nach angemessener Stimulation (Schneewind 2001). Hinzuzufügen ist dem vor allem im weiteren Verlauf der Entwicklung das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung (Ryan 1991), das schon im Kleinkindalter ausgeprägt zur Geltung kommt. Der Erziehung im Alltag einen angemessenen Platz einzuräumen, ist ein zentrales Anliegen von Eltern heute. Fasst man die unterschiedlichen Erziehungsziele zusammen, die Eltern angeben, so lassen sie sich unter zwei Kategorien subsummieren: ▬ Ziele, die auf die Gemeinschaftsfähigkeit der Kinder abheben und ▬ Ziele, die die Eigenverantwortung der Kinder ansprechen (BMFSFJ, in Druck). Sehr plastisch resümiert Dannenbeck (1990) die Befunde des Familiensurveys: »Nicht der egoistische Individualist, der sich in der Ellenbogengesellschaft durchzusetzen versteht, schwebt Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder heute vor, sondern ein selbstbewusster, persönlichkeitsstarker, aber gleichzeitig kooperativer Mensch, der verantwortungsbewusst von seinen Rechten Gebrauch macht und seine Pflichten erfüllt sowie Verständnis für den Mitmenschen aufzubringen vermag«. Inwieweit unterschiedliche Erziehungspraktiken dazu angetan sind, diese Ziele einzulösen, soll im Folgenden anhand ausgewählter Forschungsbefunde diskutiert werden, die jeweils unterschiedlichen theoretischen Richtungen verpflichtet sind.
Perspektive der Bindungstheorie Das Bedürfnis nach sozialer Einbindung ist zentraler Gegenstand der Bindungsforschung, die die Gestaltung enger Beziehungen mittlerweile über die gesamte Lebensspanne hinweg thematisiert (Grossmann 2000; Spangler u. Zimmermann 1997). Herausgestellt wird hierbei die biologische Verankerung und die Schutzfunktion der Bereitschaft aller Kinder, eine Bindung einzugehen, wobei die Qualität dieser Bindungsbeziehung jedoch umweltlabil ist, d. h. von den jeweiligen Erfahrungen in Interaktion mit der Bindungsperson abhängt. Zentralen Stellenwert hat hierbei die Feinfühligkeit der (primären) Bindungsperson – in aller Regel der Mutter – im Umgang mit dem Kind, d. h. ihre Fähigkeit, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und prompt sowie angemessen zu reagieren. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die mütterliche Feinfühligkeit ein guter Prädiktor einer sicheren Bindung ist (De Wolff u. van Ijzendoorn 1997). Eine sichere Bindung wiederum liefert die entscheidende Basis, um in Belastungssituationen Schutz bei der Bindungsperson zu suchen und mit ihrer Hilfe die emotionale Balance zurück zu gewinnen (Spangler 1999). Auch in der weiteren Entwicklung der Kinder erweist sich
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
eine sichere Bindung als Vorteil für die Fähigkeit, länger und konzentrierter zu spielen und konstruktiver, weniger konflikthaft mit anderen Kindern zu interagieren (Grossmann 1997). Damit mussten frühere Erziehungsleitlinien revidiert werden, die Eltern dazu anhielten, den Bedürfnissen ihrer Säuglinge nicht sofort nachzukommen, um sie nicht zu verwöhnen. Mit dem Konzept der mütterlichen Feinfühligkeit ist keineswegs nur die Sensitivität gegenüber kindlichen Bindungsbedürfnissen angesprochen. Insbesondere im weiteren Entwicklungsverlauf kommt es darauf an, in den einfühlsamen Reaktionen auf die Signale des Kindes auch dessen Autonomiebedürfnisse zu respektieren und seine Selbständigkeitsentwicklung zu unterstützen. Wenngleich die Zusammenhänge zwischen Bindungsqualität und Erziehungsverhalten in späteren Entwicklungsphasen keineswegs ausgelotet sind, finden sich doch Hinweise darauf, dass eine sichere Bindung eine wesentliche Basis für das offene Aushandeln kontroverser Standpunkte und damit auch für die Autonomieentwicklung der Kinder liefert (Kreppner u. Ullrich 2003).
Perspektive der Erziehungsstilforschung Die schon eingangs angesprochene Forschung zum Wandel von Erziehungszielen und -praktiken verweist darauf, dass die Ausrichtung auf die Eigenverantwortung der Kinder mit einer Stärkung ihrer Partizipationsmöglichkeiten einhergegangen ist (Reuband 1997). Der Wandel vom »Befehls-« zum »Verhandlungshaushalt« hat den Kindern jedoch nicht nur mehr Mitspracherechte gebracht, sondern auch Erziehungspraktiken gefördert, bei denen die elterliche Einflussnahme und Kontrolle über Gebühr zurückgenommen wird. So berichten junge Erwachsene heute weitaus häufiger als ihre eigenen Eltern, dass sie grundsätzlich nicht kontrollieren, ob ihre Anweisungen seitens der Kinder befolgt werden (Schneewind u. Ruppert 1995). Auch bei offenkundigem Fehlverhalten lassen sie ihre Kinder häufiger gewähren. Dass solche Erziehungsstrategien nicht der Entwicklung der Kinder zuträglich sind, hat vor allem die Erziehungsstilforschung dokumentiert. Zwei Dimensionen elterlichen Erziehungsverhaltens wurden hierbei als maßgeblich herausgestellt: elterliche Wärme und Zuwendung einerseits und elterliche Kontrolle andererseits (Maccoby u. Martin 1983). Aus der Kombination hoher versus geringe Wärme und hoher versus geringer Kontrolle lassen sich vier Erziehungsstile bestimmen: ▬ autoritäres Verhalten (geringe Wärme, hohe Kontrolle), ▬ Verwöhnung (hohe Wärme, geringe Kontrolle), ▬ Vernachlässigung (geringe Wärme, geringe Kontrolle) und ▬ autoritative Erziehung (hohe Wärme, eher hohe Kontrolle).
Zahlreiche Befunde haben aufgezeigt, dass autoritative Erziehung in besonderem Maße der Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen zugute kommt, ihr Selbstwertgefühl stärkt und Problemverhalten begrenzt (Baumrind 1988, 1996; Schwarz u. Silbereisen 1996; Steinberg 2001; Steinberg et al. 1994). Maßgeblich sind hierbei drei Facetten: ▬ die liebevolle Zuwendung, die Eltern ihren Kindern vermitteln, wenn sie sensibel auf kindliche Bedürfnisse eingehen und den Kindern Anerkennung vermitteln, ▬ die Orientierung an verbindlichen Verhaltenserwartungen, die sich an den Kompetenzen der Kinder orientieren, jedoch nicht einer situativen Willkür unterworfen werden und damit Regel- und Verhaltenssicherheit vermitteln, und ▬ die Gewährung psychischer Autonomie, die vor allem im Jugendalter an Bedeutung gewinnt und den Kindern in angemessenem Maße Selbstbestimmungsmöglichkeiten einräumt statt ihr Verhalten mit autoritärer Strenge oder überprotektiv-intrusiv zu kontrollieren. »Positionsorientierte« Strenge, bei der die Eltern auf ihre Entscheidungs- und Weisungsmacht verweisen, wird dem nicht gerecht und erweist sich eher als schädlich, während die elterliche »Überwachung« (Monitoring), d. h. ihre Informiertheit über die Aktivitäten und Kontakte ihres Kindes, vor allem im Jugendalter zum zentralen Element elterlicher Kontrolle wird. Neuere Studien haben allerdings aufgezeigt, dass diese Informiertheit der Eltern nicht ohne weiteres zu erlangen ist. Weder einfaches »Ausfragen« noch die direkte Beeinflussung dessen, was die Kinder tun, sind hier ausschlaggebend, sondern maßgeblich ist vor allem die Selbstöffnungsbereitschaft der Kinder (Stattin u. Kerr 2000). Damit wird allerdings deutlich, dass Monitoring durch die Eltern in einen Beziehungskontext eingebettet ist, der Vertrauen und die Kommunikationsbereitschaft der Jugendlichen fördert. So verweist eine Studie darauf, dass bei einer sicheren Bindung der Kinder an die Eltern die elterliche Informiertheit über die Kinder höher ist und die Kinder auch mehr zur Kooperation bereit sind, wenn es darum geht, ihr Verhalten zu kontrollieren (Kerns et al. 2001). Auch eine proaktive Erziehung in früheren Entwicklungsphasen, bei der potentiell kritische Situationen und damit mögliches Problemverhalten der Kinder vorzeitig vermieden wird, erweist sich als förderlich für die elterliche Informiertheit und damit deren Kontrollmöglichkeiten in späteren Phasen (Pettit u. Laird 2002).
Perspektive der Lerntheorie Effiziente Methoden der Verhaltenskontrolle zu identifizieren, ist zentrales Anliegen lerntheoretischer Konzep-
89 6.2 · Belastungen in der Familie und Ansätze der Prävention
tionen. Sie analysieren die Entstehung von Fehlverhalten zum einen vor dem Hintergrund der unerwünschten Vorbildwirkung von negativen Modellen (Bandura 1979) – zu denen auch die Eltern selbst gehören können. Zum anderen heben sie die oftmals nicht intendierten und nicht bewussten Wirkungen von Verstärkern hervor, die etwa gesetzt werden, wenn Eltern auf Problemverhalten der Kinder nachgiebig reagieren und Bedürfnissen der Kinder nachkommen, statt das Fehlverhalten angemessen zu begrenzen (Patterson 1982). So lässt sich die Herausbildung wechselseitig negativer Interaktionen zwischen Eltern und Kindern, die häufig in »Zwangsprozesse« eskalieren, im Rahmen lerntheoretischer Modelle als beiderseitiger Versuch erklären, das Verhalten des anderen durch zunehmend intensive Reaktionen zu kontrollieren, wobei nicht nur derjenige verstärkt wird, der sich letztlich durchsetzt, sondern auch derjenige, der nachgibt, erreicht er doch damit in aller Regel das Ende der aversiven Verhaltensweisen des anderen (Patterson 1982). Derartige dysfunktionale Interaktionsmuster befördern die Entwicklung und Verfestigung von antisozialem Verhalten seitens der Kinder auch in anderen Kontexten (Patterson et al. 1992). Neuere Konzeptionen stellen hierbei in stärkerem Maße auch die wechselseitigen Verhaltensinterpretationen als wesentlichen Einflussfaktor auf die Reaktionen von Eltern und Kindern heraus (Reed u. Dubow 1997). Umgekehrt wird auch der Aufbau positiver bzw. erwünschter Verhaltensweisen als Resultat entsprechender Verstärkung analysiert. Insofern stellen lerntheoretische Konzeptionen nicht nur Fragen der Begrenzung von Problemverhalten in den Vordergrund, sondern nicht minder die Reaktion der Eltern auf positives Verhalten der Kinder.
Perspektive der Emotionsforschung Wenn lerntheoretische Konzeptionen vor allem auf Aspekte elterlicher Kontrolle durch direkte Einflussnahme abheben und darauf abzielen, erwünschtes Verhalten zu verstärken und negatives Verhalten durch Strafen zu begrenzen, bleibt in aller Regel der Aspekt kindlicher Emotionen außer Acht. Fehlverhalten, wie Wutausbrüche und Angriffe, aber auch sozialer Rückzug, ist oftmals durch emotionale Belastungen seitens der Kinder bedingt, die einen eigenen Ansatzpunkt für elterliches Erziehungsverhalten bieten. Dies stellt vor allem John Gottman heraus, der betont, dass der Umgang mit Gefühlen in der Familie einer »Emotionsphilosophie« der Eltern folgt, die deren Einstellungen zu Emotionen reflektiert und sich in je spezifischen Erziehungsstilen niederschlägt (Gottman et al. 1997). Als besonders hilfreich hat er einen Stil herausgestellt, der durch den offenen, konstruktiven Umgang mit kindlichen Emotionen charakterisiert ist, wobei negative Emotionen der Kin-
der aufgegriffen und in der Eltern-Kind-Kommunikation reguliert werden (»Emotionscoaching«). Dies kommt nicht nur der Entwicklung von Selbstregulationskompetenzen der Kinder im Umgang mit negativen Emotionen zugute, sondern auch ihrer körperlicher Gesundheit und psychischen Befindlichkeit, ihren sozialen Beziehungen, etwa zu Gleichaltrigen, und sogar ihren schulischen Leistungen (Gottman et al. 1997). Die hier angesprochenen Aspekte entwicklungsförderlichen Erziehungsverhaltens unterliegen jedoch zahlreichen situativen und personalen Beschränkungen, die es mehr oder minder schwierig machen können, in der Interaktion mit dem Kind kompetent zu agieren. Einige zentrale Risikofaktoren, die auch in Interventionen aufgegriffen werden, sollen im Folgenden illustriert werden.
Ausgewählte Risikofaktoren im Familienkontext Schon eingangs wurden mit dem Hinweis auf den Verlust eines Elternteils, die Trennung oder Scheidung der Eltern und fortgesetzte Familienkonflikte einzelne Aspekte familialer Lebensbedingungen angesprochen, die elterliche Erziehungskompetenzen zumindest vorübergehend belasten können. Die Palette solcher Faktoren ist breit. Zu ihnen zählen sowohl eher chronische Stressoren, wie sie durch ein behindertes oder chronisch krankes (Geschwister-)Kind, ungünstige Wohnbedingungen oder mangelnde soziale Ressourcen der Eltern gegeben sein mögen, als auch Ereignisse, die im Sinne akuter Stressoren mehr oder minder kurzfristige Belastungen und Anpassungserfordernisse mit sich bringen mögen, wie begrenzte Zeiten der Arbeitslosigkeit oder der Einzug eines neuen Partners bei einem allein erziehenden Elternteil. Die Grenzen sind hierbei fließend, denn einzelne Ereignisse – wie eine Trennung der Eltern – können im Kontext längerfristiger Belastungsfaktoren (wie nachhaltige Zerwürfnisse zwischen den Eltern) stehen oder chronische Stressoren nach sich ziehen (z. B. dauerhafte finanzielle Probleme). Umgekehrt sind manche vermeintlich chronische Stressoren wie Armut und finanzielle Probleme in vielen Fällen nur vorübergehender Natur. Im Folgenden sind einzelne Stressoren herausgegriffen, auf die sich einige Präventionsprogramme gezielt beziehen.
Trennung und Scheidung Eine Trennung/Scheidung gehört für die Eltern wie auch für die mitbetroffenen Kinder zu den einschneidendsten Ereignissen im Familienleben, die vielschichtige Umstellungen in der Gestaltung der Familienbeziehung, der Alltagsroutinen, der Verteilung und Sicherung finanzieller Ressourcen und nicht zuletzt im Selbstverständnis der Familienmitglieder erforderlich machen. Deutlich
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wird dies insbesondere in jenen Konzeptionen, die eine Scheidung als Übergang (Transition) in der Familienentwicklung begreifen und auf typische Entwicklungsaufgaben verweisen, die im Kontext dieses Übergangs zu bewältigen sind (Fthenakis 2000; Schwarz u. Noack 2002). Dass eine Trennung der Eltern für die Entwicklung der mitbetroffenen Kinder Risiken birgt, wird durch eine Vielzahl von Befunden insbesondere aus den USA dokumentiert (Amato 2000, 2001; Hetherington u. Stanley-Hagan 1999). Vielfach belegt ist dies für ausagierendes Problemverhalten, Ängste und Depressionen, sozialen Rückzug und Leistungsbeeinträchtigungen, die bei Scheidungskindern häufiger zu beobachten sind als bei Kindern aus Kernfamilien, die bei beiden leiblichen Eltern aufwachsen. Auch deutsche Studien verweisen auf Entwicklungsnachteile von Scheidungskindern (Reis u. Meyer-Probst 1999; Schmidt-Denter 2001; Walper 1995), wenngleich die Befundlage nicht völlig einheitlich ist (Walper 2002a). Die Entwicklungsverläufe von Scheidungskindern sind jedoch heterogen. Unter den Faktoren, die für Unterschiede in der kindlichen Anpassung nach einer Trennung der Eltern ausschlaggebend sind, kommt dem elterlichen Erziehungsverhalten, insbesondere seitens desjenigen Elternteils, der mit den Kindern zusammenlebt, zentrale Bedeutung zu (Amato 1993). Wurde zu Beginn der Scheidungsforschung noch im verringerten Kontakt zum wegziehenden Elternteil der entscheidende Belastungsfaktor gesehen, so musste diese Interpretation in der Folgezeit deutlich relativiert werden. Die reine Kontakthäufigkeit hat sich als weitaus weniger bedeutsam für die Befindlichkeit und das Problemverhalten der betroffenen Kinder erwiesen als die Qualität der Beziehung zum getrennt lebenden Elternteil und insbesondere dessen Erziehungsverhalten (Amato u. Gilbreth 1999). Engagiert sich der getrennt lebende Elternteil in der Beziehung zu seinem Kind und lässt ihm in der Erziehung sowohl hohe Zuwendung als auch angemessene Kontrolle zukommen, so profitieren die Kinder deutlich. Vor allem die Befindlichkeit und Erziehungskompetenzen desjenigen Elternteils, der mit den Kindern zusammenlebt, sind für die Kinder und Jugendlichen von entscheidender Bedeutung. Allerdings sehen sich Alleinerziehende vielfach mit Belastungen konfrontiert, die ihre Erziehungskompetenzen einschränken oder zumindest zusätzliche Anstrengungen notwendig machen, um den Kindern gerecht zu werden. Gerade in der direkten Folgezeit der Trennung fällt es den Eltern angesichts ihrer emotional angespannten Situation oftmals schwer, sich intensiv um die Belange der Kinder zu kümmern. Nur selten werden die Kinder angemessen über die weiteren Pläne und vor allem die Bedeutung der familialen Ereignisse informiert; die emotionale Unterstützung, die Kin-
der gerade in dieser Situation benötigen, leidet, und Fehlverhalten wird oftmals nicht angemessen konfrontiert (Hetherington u. Stanley-Hagan 1999; Pryor u. Rodgers 2001; Schmidt-Denter et al. 1995). Mögliche Probleme in der Auseinandersetzung mit dem (ehemaligen) Partner, rechtliche Fragen, aber auch finanzielle Unsicherheiten und Belastungen, Umstrukturierungen des Freundeskreises und vieles mehr binden in dieser Phase in hohem Maße die elterliche Aufmerksamkeit, sodass für die Erziehungsaufgaben, aber auch für eine verlässliche Zuwendung und Anteilnahme an den Kindern kaum die erforderliche Energie bleibt. Der Mehrzahl Alleinerziehender gelingt in der Folgezeit eine Neuorientierung und auch das Erziehungsverhalten stabilisiert sich. Trotzdem können sich im Einzelfall Erziehungsprobleme chronifizieren, insbesondere, wenn äußere Problemlagen anhalten, etwa fortgesetzte Spannungen in der Beziehung zum anderen Elternteil oder finanzielle Knappheit, von der viele Alleinerziehende betroffen sind (Schmidt-Denter 2001; Walper u. Schwarz 2001). Zudem können Teufelskreise in der Interaktion mit den Kindern entstehen, bei denen sich negative Erwartungen und damit auch negative Reaktionsbereitschaften verfestigen (Hetherington 1993). Ausgangspunkt solcher Teufelskreise sind oftmals Disziplinierungsprobleme in der direkten Folgezeit der elterlichen Trennung, in der Eltern auf mangelnde Kooperationsbereitschaft ihrer Kinder häufig inkonsistent reagieren und zwischen Ignorieren und drastischer Disziplinierung schwanken. Entwickeln Eltern daraufhin eine negative Erwartungshaltung, so bleiben Verbesserungen der kindlichen Verhaltensentwicklung vielfach unentdeckt und das Verhalten der Eltern provoziert eher dauerhaften Widerstand. Solche Teufelskreise sind ohne äußere Einflussnahme oft kaum zu durchbrechen. Derartige Belastungen elterlicher Erziehungskompetenzen in Scheidungsfamilien sind allerdings nicht nur als Folge der Trennung zu sehen, sondern können schon Jahre zuvor bestanden haben (Block et al. 1988). Wie Längsschnittstudien mittlerweile eindrucksvoll zeigen, sind Scheidungsfamilien oft schon lange Zeit vor der elterlichen Trennung in ihren Beziehungen und Interaktionen beeinträchtigt (Block et al. 1988). Hierbei können Persönlichkeitsfaktoren wie emotionale Instabilität, Depressivität oder vermehrte Explosivität eine Rolle spielen, die sowohl die Eltern-Kind-Beziehung als auch die Partnerschaftsbeziehung belasten und längerfristig zur Trennung beitragen. Allerdings bietet eine Trennung der Eltern auch die Chance, solche Probleme zu überwinden und somit für die Kinder wieder ein förderliches Familienklima herzustellen (Hetherington 1999). Diese Chance konstruktiv aufzugreifen, ist ein zentrales Anliegen jener Programme, die z. B. als Scheidungsmediation oder Trennungs- und Scheidungsberatung gezielt an die betroffenen Familien gerichtet sind.
91 6.2 · Belastungen in der Familie und Ansätze der Prävention
Neue Partnerschaften der Eltern Nur wenig Aufmerksamkeit wurde im Kontext hiesiger Präventionsangebote der besonderen Situation von Stieffamilien geschenkt. Wenngleich man vermuten könnte, dass mit einer neuen Partnerschaft die sozialen (und ökonomischen) Ressourcen der Familie gestärkt werden, so legen doch zahlreiche Befunde nahe, dass Kinder hinsichtlich ihrer psychosozialen Entwicklung keineswegs durchgängig von neuen Partnerschaften bzw. einer Wiederheirat des allein erziehenden Elternteils profitieren (Walper u. Wild 2002). Nach einer Metaanalyse von Befunden aus den USA ähneln ihre Belastungen weitestgehend denen von Kindern aus Scheidungsfamilien (Amato 1994). Mit der Gründung einer Stieffamilie entstehen neue Anforderungen, die insbesondere die Gestaltung der Familienbeziehungen und die Erziehung der Kinder betreffen (Coleman et al. 2000; Walper u. Wild 2002). So ist die Rolle des neuen Partners bzw. der neuen Partnerin gegenüber den Kindern nur eine »abgeleitete«, die sich aus der Partnerschaft ergibt. Nicht selten sehen die Kinder den neuen Partner bzw. die neue Partnerin ihres leiblichen Elternteils als Eindringling, der eine Versöhnung der Eltern endgültig unmöglich macht und/oder zum Konkurrent um die Aufmerksamkeit und Liebe des leiblichen Elternteils wird. Die angemessene Balancierung von kindlichen Bedürfnissen nach stabiler Zuwendung einerseits und von Investitionen in den Aufbau der neuen Partnerschaft andererseits erfordert seitens des leiblichen Elternteils beträchtliche Sensibilität. Nicht minder komplex ist die Aufgabe des neuen Partners bzw. der neuen Partnerin im Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu den Kindern, zumal sich viele Stiefeltern nur schlecht auf diese Aufgabe vorbereitet fühlen und Unsicherheiten im Umgang mit den Kindern äußern (Walper u. Wild 2002). Oftmals bedarf es eines besonderen Durchhaltevermögens, wenn die Beziehungsangebote an die Kinder auf Widerstand stoßen. Eher negative Konsequenzen scheinen frühzeitige Versuche von Stiefeltern zu haben, in die Disziplinierung und Kontrolle der Kinder einzugreifen (Coleman et al. 2000; Hetherington u. Jodl 1994). Kinder erleben diese Bemühungen vermutlich weitgehend als Übergriff und entziehen sich diesen Kontrollversuchen. Auch frühzeitige Bemühungen um die Sympathie der Kinder stoßen häufig auf Ablehnung (Hetherington u. Jodl 1994). Dennoch erweist es sich als förderlich für die ElternKind-Beziehungen, wenn Stiefeltern sich dauerhaft um eine positive Beziehung zu den Kindern bemühen und ihnen Unterstützung zukommen lassen (Ganong et al. 1999). Vor allem, wenn Stiefeltern bei gemeinsamen Unternehmungen auf die Bedürfnisse ihrer Stiefkinder eingehen und Zurückhaltung mit Forderungen hinsichtlich Gehorsam und Zuneigung der Kinder an den Tag legen, ist Erfolg wahrscheinlich. So mag es nicht verwun-
dern, dass Stiefväter ihre Stiefkinder weniger intensiv überwachen als leibliche Väter dies tun (Hetherington u. Jodl 1994). Angesichts der Besonderheiten der Beziehungen in Stieffamilien, die zudem leicht in ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem getrennt lebendem leiblichen Elternteil und dem Stiefelternteil münden können, und angesichts der mangelnden sozial-kulturellen Rahmung von Beziehungen zwischen Stiefeltern und Stiefkindern sind gerade in diesem Bereich Präventionsangebote angezeigt.
Ökonomische Belastungen und Armut Auch die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Gestaltung des Familienlebens beeinflussen individuelle Entwicklungschancen. Armut und Arbeitslosigkeit stellen wesentliche Risikofaktoren dar, die Eltern wie auch Kinder mit Erfahrungen von Ausgrenzung, Hilflosigkeit und Zukunftsängsten konfrontieren können und auf diesem Wege zu Beeinträchtigungen im sozialen, emotionalen (Walper et al. 2001) und gesundheitlichen Bereich (Klocke u. Hurrelmann 1995; Mielck 2001) beitragen können. Vor allem Alleinerziehende, kinderreiche Familien, und Familien mit Migrationshintergrund sind von mangelnden finanziellen Ressourcen betroffen (Klocke u. Hurrelmann 2001) und stellen damit eine Risikogruppe dar, die in Präventionsangeboten stärker berücksichtigt werden muss. Wie die Zusammenstellung von Befunden bei Mielck (2001) verdeutlicht, ist schon das Überleben von Säuglingen in deprivierten Lagen – festgemacht an einer geringen Schulbildung der Mutter, einer niedrigen Berufsposition des Vaters oder einer hohen Armutskonzentration im Wohnbezirk – gefährdet. Mit dem schlechteren Gesundheitsverhalten der Mütter während der Schwangerschaft und der geringeren Nutzung von Vorsorgeuntersuchungen ist wohl das erhöhte Risiko von Frühgeburten hierbei ein entscheidender Faktor (Seccombe 2000). Dies wiederum steigert im Verbund mit Fehl- und Mangelernährung sowie psychosozialen Belastungen, die Armut mit sich bringen, die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder in Armut akute und chronische Krankheiten entwickeln (Bradley et al. 1994; Fund 1998). Auch die Sprachentwicklung von Kindern aus der Unterschicht hinkt derjenigen von Kindern aus höheren Schichten hinterher (Hoff-Ginsberg 2000). So überrascht es nicht, dass eine geringe Schulbildung und berufliche Position der Eltern wie auch finanzielle Mängellagen von Familien mit geringeren Schulleistungen der Kinder einhergehen (Entwisle u. Alexander 1996; Mansel 1993). Gerade in Deutschland haben die Befunde der PISAStudie gezeigt, dass der sozioökonomische Hintergrund der Familien entscheidenden Einfluss auf die schulische Kompetenzentwicklung der Kinder hat, mehr noch als in anderen Ländern (Baumert u. Schümer 2001; Baumert et
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al. 2003). Je höher die Berufsposition der Eltern ist, desto höher fallen auch die Testleistungen der untersuchten 15-Jährigen aus. Die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) bestätigt diesen Befund (Bos et al. 2003). Wurde in der Vergangenheit die finanzielle Lage der Familie nur als Teilaspekt der Schichtzugehörigkeit betrachtet – und oftmals ganz außer Acht gelassen –, so zeigt mittlerweile eine Vielzahl von Untersuchungen, dass die ökonomischen Ressourcen von Familien einen eigenständigen Einfluss auf die Erziehung und Entwicklung von Kindern haben, auch unabhängig vom Bildungsniveau der Eltern oder deren beruflicher Situation (Duncan u. Brooks-Gunn 1997). Schon Kinder im Alter von fünf Jahren neigen zu mehr Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit und Depressivität wie auch zur Zerstörung von Spielsachen und Wutausbrüchen, wenn die Familie mit unangemessen niedrigem Einkommen wirtschaften muss – unabhängig von anderen Risikofaktoren wie ethnischer Zugehörigkeit, elterlichem Bildungsniveau, der Familienkonstellation und dem Geburtsgewicht der Kinder. Dabei bestätigt sich auch ein kumulativer Belastungseffekt chronischer Armut: Kinder aus Familien, die von langfristiger Armut betroffen waren, weisen die stärksten Belastungen auf (Duncan et al. 1994). Doch selbst bei kurzfristiger Armut ist nicht zwangsläufig mit einem Erholungseffekt auf die Kinder zu rechnen, wenn sich die finanziellen Verhältnisse der Familie wieder verbessern. Finanzielle Knappheit schränkt die Möglichkeiten der Familien ein, ihren Kindern eine anregungsreiche Umgebung zu schaffen und ihnen den Zugang zu Bildungs- und Freizeitangeboten zu eröffnen oder sie mit einer statusträchtigen Ausstattung zu versehen, die Ansehen unter Gleichaltrigen verspricht. Zudem birgt sie Risiken für die Qualität der Familienbeziehungen und belastet elterliche Erziehungskompetenzen. Die negativen Auswirkungen auf die Befindlichkeit der Eltern und Kinder, auf das Familienklima und speziell auf das Erziehungsverhalten von Eltern sind vielfach dokumentiert (Walper 1999). Vor allem Väter scheinen auf finanzielle Mängellagen mit deutlichen psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen ihres Erziehungsverhaltens zu reagieren, vermutlich nicht zuletzt, weil sie sich in der Ernährerrolle in besonderem Maße verantwortlich sehen. Aber auch die Unterstützung und Zuwendung, die Kinder in ihrer Beziehung zur Mutter erfahren, leidet unter ökonomischen Belastungen. So mag es nicht verwundern, dass Eltern in ökonomischen (wie auch anderen) Belastungssituationen weniger gut über die Belange ihrer Kinder informiert sind und zwischen Nichtbeachtung, harscher Strenge und anschließender »Wiedergutmachung« durch Verwöhnen der Kinder schwanken. Speziell finanzielle Konflikte erweisen sich als Ausgangspunkt für nachhaltigere Belastungen der Familienbeziehungen, sowohl in der
Ehebeziehung, als auch in der Eltern-Kind-Interaktion, insbesondere, wenn die Kinder das Jugendalter erreichen und die Ansprüche steigen. Diese Belastungen des Familienklimas und der Eltern-Kind-Interaktion haben sich als zentraler Wirkfaktor erwiesen, der die Entwicklungschancen der Kinder beeinträchtigt (Walper 1999). Derartige Erkenntnisse haben bei der Entwicklung von Präventionsprogrammen zur Stärkung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen in unterschiedlichem Maße Eingang gefunden. Im Folgenden sollen nun ausgewählte Präventionsansätze näher charakterisiert werden.
Präventionsansätze zur Stärkung von elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen Angebote für Präventionsmaßnahmen im Familienkontext unterscheiden sich, je nachdem, ob sie breit ansetzen oder spezifische Problemlagen bzw. schon bestehende Störungen in den Blick nehmen. Angebote der universellen Prävention sind unspezifisch an breite Bevölkerungsgruppen gerichtet, ohne auf den Umgang mit spezifischen Risikofaktoren zu fokussieren. Hierzu gehören sowohl Kampagnen zur gewaltfreien Erziehung, die über Medien vermittelt werden, als auch zahlreiche Elternkurse der Familienbildung, die sich meist an alle Eltern richten. Angebote der selektiven Prävention sprechen ausgewählte Gruppen an, die ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von Entwicklungsbelastungen oder Störungen aufweisen (z. B. jugendliche Mütter, Unterschichtfamilien, Scheidungsfamilien). Beispiele hierfür wären spezielle Beratungsangebote für Stieffamilien (Jugendinstitut 1993) oder das Programm »Opstapje«, das speziell sozial benachteiligte Familien anspricht (s. unten). Schließlich wenden sich Angebote der indizierten Prävention an Personen oder Familien, die bereits die Symptome einer Störung aufweisen, ohne dass diese jedoch die Kriterien für eine klinische Diagnose erfüllen. Ein Beispiel hierfür ist das Training der mütterlichen Feinfühligkeit bei Müttern mit »schwierigen« Kindern (van den Boom 1995). Generell können Präventionsverfahren in personalisierter Form (z. B. Beratung, Training, Coaching) oder nichtpersonalisierter Form (z. B. Bücher, Broschüren, audiovisuelle Medien) angeboten werden (Munoz et al. 1996). Während nichtpersonalisierte Angebote oft besser geeignet sind, auch jene Gruppen zu erreichen, die den persönlichen Kontakt zu Beratungs- oder Familienbildungsstätten ablehnen oder zumindest nicht aktiv suchen, besteht bei personalisierten Angeboten eher die Möglichkeit, auf Besonderheiten der jeweiligen Lebenslage und der individuellen Problematik einzugehen. Auch hier bestehen jedoch beträchtliche Unterschiede, je nachdem, wie stark das jeweilige Angebot standardisiert ist.
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Im Bereich der universellen Prävention hat sich ein breiter Markt etabliert, der zahlreiche Angebote in personalisierter und nichtpersonalisierter Form umfasst. Die primäre Zielgruppe sind Eltern mit Kindern im Kindergartenalter. Diese Ausrichtung auf frühe Entwicklungsphasen ist insofern sinnvoll, als sich Interventionen vor allem dann als effektiv erwiesen haben, wenn sie frühzeitig ansetzen, bevor sich Erziehungsschwierigkeiten und kindliches Problemverhalten verfestigen (Layzer et al. 2001). Nur wenige Programme richten sich an Eltern in späteren Entwicklungsphasen, dann vorrangig an Eltern mit Kindern im frühen Jugendalter (z. B. »Starke Eltern – Starke Kinder« des Deutschen Kinderschutzbundes, »Triple P«). Mehrere Programme wenden sich auch an Eltern von Schulkindern (z. B. »Triple P«, »Familienteam«, s. unten) oder sind für diese Altersgruppe in Entwicklung (in der Nürnberger Arbeitsgruppe um Friedrich Lösel). Zu den nichtpersonalisierten Angeboten gehören neben der klassischen Ratgeberliteratur die regional an Eltern verschickten Elternbriefe. Jenseits der Print-Medien ist nunmehr auch ein Angebot verfügbar, das neue Medien nutzt. Mithilfe der interaktiven CD-ROM »Freiheit in Grenzen« (Schneewind 2003) können Eltern am Beispiel einer »ganz normalen Familie« fünf typische Konfliktsituationen reflektieren und ihr Wissen um Strategien der autoritativen Erziehung erweitern. In kurzen Filmszenen werden jeweils drei (unterschiedlich geeignete) Lösungsmöglichkeiten angeboten und kommentiert. Auf der Ebene personalisierter Angebote haben sich unterschiedliche Elternkurse etabliert, die im Bereich der Familienbildung angeboten werden (Tschöpe-Scheffler 2003). Ausgeprägte öffentliche Sichtbarkeit haben insbesondere das Programm »Starke Eltern – Starke Kinder« des Deutschen Kinderschutzbundes (HonkanenSchoberth u. Jennes-Rosenthal 2002) und das Programm »Triple P« (Positive Parenting Program) erlangt, das von Sanders in Australien entwickelt und von Kurt Hahlweg in adaptierter Form an deutsche Verhältnisse angepasst wurde (Hahlweg et al. 2001). »STEP« stellt ein weiteres Programm dar, das im Ausland (in den USA) entwickelt und auf Deutschland übertragen wurde. Daneben wurden aber auch einige hiesige Programme neu entwickelt. Die folgende Auswahl einzelner Programme soll die Bandbreite theoretischer Verankerungen und Herangehensweisen beispielhaft illustrieren.
Starke Eltern – Starke Kinder Der Elternkurs »Starke Eltern – Starke Kinder« des deutschen Kinderschutzbundes fußt auf humanistischen, kommunikationstheoretischen und familientherapeutischen Konzeptionen (Honkanen-Schoberth u. JennessRosenthal 2002). Die Gruppen umfassen bis zu zwölf Eltern und ein bis zwei Gruppenleiter/innen.
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Elternkurs »Starke Eltern – Starke Kinder« In acht bis zwölf zweistündigen Einheiten werden fünf Fragestellungen behandelt: ▬ Welche Erziehungsziele habe ich? ▬ Kenne ich mich selbst? ▬ Kann ich meinem Kind helfen? ▬ Wie drücke ich meine Bedürfnisse aus? ▬ Wie lösen wir Probleme in der Familie?
Förderliche Gesprächstechniken werden vorgestellt, z. B. »einfühlsames Zuhören« und die Verwendung von IchBotschaften, um eigene Gefühle auszudrücken und Anschuldigungen zu vermeiden. Für den konstruktiv-verstehenden Umgang mit Problemen des Kindes wird die »analysierende Befragung« angeboten. Die Inhalte werden jeweils kurz theoretisch vorgestellt, um den Eltern dann die Gelegenheit zur Selbstreflexion, zum Ausprobieren in Rollenspielen und zum Austausch mit den anderen Eltern zu geben. Hierbei werden immer wieder Erfahrungen aus der eigenen Herkunftsfamilie reflektiert. Am Ende jeder Einheit stehen Aufgaben für Zuhause, die beim nächsten Treffen ausführlich besprochen werden. Das Programm bietet nicht nur ein Angebot für Eltern jüngerer Kinder, sondern – wie erwähnt – auch einen Kurs, der sich speziell an die Eltern von Kindern im Pubertätsalter richtet und altersspezifische Themen in den Vordergrund stellt. Außerdem wurde ein Modul für Stieffamilien entwickelt, das die Besonderheiten in den Beziehungen dieser komplexen Familien anspricht. Schließlich werden diese Kurse auch speziell für Familien mit Migrationshintergrund in türkischer und russischer Sprache angeboten.
STEP Das Elternprogramm »STEP – Systematisches Training für Eltern« hat seine Wurzeln in dem Konzept der Individualpsychologie nach Alfred Adler und Rudolf Dreikurs. Es wurde in den 1970er Jahren von Dinkmeyer, McKay und Dinkmeyer Jr. entwickelt und vor kurzem ins Deutsche übertragen (Kühn et al. 2001). Zentral ist das Anliegen, Eltern zu einem neuen Verständnis von kindlichem Problemverhalten zu verhelfen und sie darin anzuleiten, ihre Kinder zu ermutigen. Kindliches Fehlverhalten wird hierbei als Reaktion auf mangelnde Zugehörigkeit bzw. eine Verletzung des Gemeinschaftsgefühls gedeutet, das als zentrales Grundbedürfnis gilt. Fehlverhalten verfolge eines von vier möglichen Zielen, die alle dazu dienen, Zugehörigkeit zu erlangen: Aufmerksamkeit erregen, Macht ausüben, Rache nehmen oder Unfähigkeit beweisen. Eltern sollen lernen, diese Ziele bzw. Motive zu erkennen, um ihnen eine positive Alternative entgegen setzen zu können. Es fällt auf, dass kindliche Autonomie- und
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Kompetenzbedürfnisse hier nicht zur Sprache kommen, obwohl das Programm dem durchaus Rechnung trägt. Infobox
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Elternprogramm »STEP« Der Kurs umfasst neun Wochen, in denen sieben Themen behandelt werden: ▬ Wir lernen, uns und unsere Kinder besser zu verstehen. ▬ Wir lernen unsere persönlichen Wertvorstellungen, Überzeugungen und Gefühle kennen. ▬ Wir ermutigen unsere Kinder und uns selbst. ▬ Wir hören unseren Kindern zu und reden mit ihnen. ▬ Wir helfen unseren Kindern zu kooperieren. ▬ Sinnvolle Disziplin ▬ Was machen wir wenn ...?
Die Inhalte des Elternprogramms können auch ohne Kursteilnahme anhand eines Buches und eines Videos erarbeitet werden. Zu Beginn werden drei Erziehungsstile vorgestellt, deren Unterscheidung und Benennung dem Forschungsstand der 1970er Jahre entspricht: autoritärer Erziehungsstil, antiautoritärer Erziehungsstil und – als positive Alternative – demokratischer Erziehungsstil. Positive Kommunikationsstrategien wie »aktives Zuhören« und »Ich-Botschaften« werden beschrieben und die Eltern erhalten die Aufgabe, dies zwischen den Sitzungen zu üben. Kritisch setzt sich das Programm mit elterlichem Lob auseinander und orientiert Eltern darauf, ihre Kinder stattdessen zu ermutigen, eine Haltung, die die kindliche Eigenständigkeit stärken soll. Zentrale Erziehungsprinzipien sind: Das Kind ermutigen, Bestrafung und Belohnung vermeiden, natürliche und logische Konsequenzen anwenden, das Kind achten, nicht zu sehr beschützen.
Anschluss daran vier zwanzigminütige individuelle Telefonkontakte. Anhand von Vorträgen und synchronisiertem Videomaterial werden die Eltern über die Prinzipien positiver Erziehung informiert. Arbeitsblätter und Hausaufgaben dienen dazu, das Gelernte auf die eigene Situation zu übertragen und zu erproben. Im Gegensatz zum australischen Vorbild finden keine Hausbesuche statt und die Kinder werden nicht zu den Sitzungen mitgebracht. Infobox
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Präventionsprogramm »Triple P« ▬ In der ersten Sitzung werden die Prinzipien positiver Erziehung vorgestellt (»Sorgen Sie für eine sichere und interessante Umgebung«, »Regen Sie Ihr Kind zum Lernen an«, »Verhalten Sie sich konsequent«, »Erwarten Sie nicht zuviel« und »Vernachlässigen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse nicht«). Die Eltern setzen sich damit auseinander, wie sie durch ihr eigenes Verhalten zu den Verhaltensproblemen ihrer Kinder beitragen und entscheiden, welche Verhaltensweisen ihres Kindes sie fördern oder abbauen wollen. ▬ Die zweite Sitzung befasst sich mit der Förderung der kindlichen Entwicklung. Hierbei geht es darum, wie die Eltern ihrem Kind Aufmerksamkeit schenken und Zuneigung zeigen können und wie sich durch Lob bzw. den Einsatz von Punktekarten als Belohnungssystem erwünschtes Verhalten aufbauen lässt. ▬ In der dritten Sitzung steht der Abbau von kindlichem Problemverhalten im Vordergrund (durch gezieltes Ignorieren von geringfügigeren Formen des Fehlverhaltens, klare Anweisungen, »Stiller Stuhl« oder »Auszeit«). ▬ Die vierte Sitzung fokussiert darauf, wie typische Risikosituationen und damit auch resultierendes Problemverhalten durch Aktivitätspläne im Voraus vermieden werden können.
Triple P Während die vorgenannten Kurse stärker auf die Beziehung und Kommunikation zwischen Eltern und Kindern abheben, stellt »Triple P« ein lerntheoretisch ausgerichtetes Präventionsprogramm dar, das vor allem auf Techniken der Verhaltensmodifikation setzt. Es wurde in Australien als ein fünfstufiges Interventionsprogramm entwickelt, das von der Informationsvermittlung über das Fernsehen (Stufe 1) bis zu individuellem Training der Familie (im Sinne der indizierten Prävention, Stufe 5) unterschiedlich intensive Interventionsformen anbietet (s. www.triplep.net). Hauptzielgruppe für intensivere Interventionsformen sind Kinder mit ausagierendem, aggressivem Problemverhalten. Die deutsche Triple-P-Version greift vor allem eine Form mittlerer Intensität heraus (s. www.triplep.de). Sie umfasst vier zweistündige Gruppensitzungen der Eltern und im
Die Grundprinzipien des Kurses sind in hohem Maße konsensfähig, so wie auch eine Reihe der Kursinhalte hilfreich sind, nicht zuletzt die proaktive Problemvermeidung, aber auch der differenzierte Blick auf eigenes Verhalten und dessen Konsequenzen seitens der Kinder. Kontrovers diskutiert wird jedoch, dass das Programm in seiner behavioralen Ausrichtung auf der Verhaltensebene stehen bleibt und kindliches Denken oder emotionale Prozesse weitgehend ausklammert. Auch das schablonenhafte Vorgehen bei unerwünschtem Verhalten des Kindes (»Auszeit«, »Stiller Stuhl«) wird heftig kritisiert. Wenngleich die »Auszeit« dazu angetan ist, Konflikteskalationen zu vermeiden, erhalten die Kinder doch bei der Aufgabe, in der Konfliktsituation ihre Emotionen zu regulieren, keine Hilfe.
95 6.2 · Belastungen in der Familie und Ansätze der Prävention
Ein Ansatzpunkt sollte insbesondere die Unterstüt» zung von jungen Eltern (Elterntraining, z. B. Triple P) sein. Mit dem Ziel: Entlastung und Kompetenzförderung der Eltern und Prävention von (u. U. traumatisierender) Stresserfahrungen auf Seiten der Kinder. Prof. Dr. Gert Kaluza, GKM-Institut für Gesundheitspsychologie, Marburg
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Familienteam Der kompetente und entwicklungsförderliche Umgang mit kindlichen Emotionen steht im Mittelpunkt eines weiteren Elternkurses, der vor allem bindungs- und systemtheoretisch fundiert ist, aber auch zentrale kommunikationstheoretische Prinzipien aufgreift. Infobox
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Elterntraining »Familienteam – Das Miteinander stärken« Das Elterntraining (Graf u. Walper 2002) umfasst acht dreistündige Einheiten mit folgenden Inhalten: ▬ Erziehungsziele klären, Vorbild sein, ▬ Pflege der Beziehung: Aufmerksamkeit und Beachtung schenken, ▬ der einfühlsame Umgang mit negativen Gefühlen des Kindes, ▬ die kindliche Kooperation gewinnen, ▬ klare Grenzen setzen, ▬ akute Konflikte angehen, ▬ wiederkehrende Probleme langfristig lösen sowie ▬ die Kooperation der Partner in der Erziehung stärken (s. www.familienteam.org).
In der Vermittlung der Inhalte greift es intensiver als die zuvor genannten Elternprogramme auf Trainingsmethoden zurück, die in der Prävention bei Partnerschaftsbeziehungen entwickelt wurden (s. Programm EPL; Thurmaier et al. 1995). Hierbei haben die Trainer/ innen einen aktiven Part in den Rollenspielen und sind darauf ausgerichtet, den Eltern durch eine Reihe unterschiedlicher Trainerinterventionen zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen. Entsprechend klein sind die Gruppen: Acht Eltern werden von zwei Kursleitern betreut. Nach einer kurzen Einführung in das jeweilige Thema steht die Erprobung von neuen Verhaltensweisen im Rollenspiel unter Anleitung des Trainers/der Trainerin im Vordergrund. Die Übungen werden durch Arbeitsblätter vorbereitet. In der Rolle des Kindes können die Eltern dann wahrnehmen, wie ihr Verhalten beim Kind ankommt; in der Elternrolle werden sie von den Trainern darin unterstützt, förderliches Gesprächsverhalten einzuüben. Der Kurs wird in adaptierter Form auch in der Arbeit mit problembelasteten Familien als Form der indizierten Prävention verwendet.
Opstapje Schließlich sei noch ein Beispiel für ein Programm zur selektiven Prävention erwähnt, das – wie viele Programme in den USA (Magnuson u. Duncan 2004) – speziell Unterschichtfamilien anspricht. Das Programm »Opstapje« wurde vor mehr als 15 Jahren in den Niederlanden entwickelt und erst kürzlich vom Deutschen Jugendinstitut auf Deutschland übertragen (s. www.dji.de/opstapje). Ähnlich wie das Programm Head Start greift »Opstapje« als niederschwelliges Programm auf Laienhelfer zurück, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen kommen und insofern mit den Problemlagen von sozial benachteiligten Familien vertraut sind. Sie werden in ihrer Arbeit mit den Familien angeleitet und supervidiert. Angesprochen werden sozial benachteiligte Familien mit Kleinkindern ab 18 Monaten. Das Programm dient der Frühförderung und zielt darauf ab, die Eltern-KindInteraktion durch das direkte Modell der Laienhelfer zu stärken, die in die Familien kommen (»home visits«) und dort mit den Kindern ein entwicklungsförderliches Curriculum absolvieren, für das zahlreiche Materialien entwickelt wurden. Hierzu gehört das Vorlesen von Büchern, der Umgang mit unterschiedlichen Materialien und Farben etc. Diese kindbezogenen Aktivitäten werden im Verlauf des Programms zunehmend in die Hände der Mütter gelegt. Neben den Gesprächen mit den Müttern bei den Hausbesuchen gehören auch Gruppentreffen zum Programm, durch die der Austausch unter den Teilnehmer/innen gestärkt werden soll. In diesem Kontext werden gezielt einzelne Erziehungsfragen erörtert.
Zur Wirksamkeit der Präventionsansätze Die Aufgabe, den Nutzen von Präventionsangeboten nicht nur theoriebezogen-argumentativ zu unterstreichen, sondern auch empirisch nachzuweisen, ist in der jüngeren Vergangenheit zunehmend zentral geworden. Im Rahmen von Evaluationsstudien gilt es, Aufschluss über die Akzeptanz von Programmen und vor allem über die durch sie bewirkten Veränderungen seitens der Teilnehmer/innen zu gewinnen. Um schlüssige Aussagen zur Wirksamkeit von Interventionen treffen zu können, sind eine Reihe von methodischen Standards einzuhalten: ▬ Der Interventionsgruppe muss (mindestens) eine Vergleichsgruppe gegenüber gestellt werden, die im Idealfall ein anderes Angebot wahrgenommen hat. ▬ Die Zuweisung zu den Gruppen muss zufällig erfolgen, um systematische Unterschiede (etwa hinsichtlich der Teilnahmebereitschaft an entsprechenden Angeboten) zu vermeiden. ▬ Diejenigen Merkmale der Eltern-Kind-Beziehung bzw. des elterlichen Erziehungsverhaltens oder der kindlichen Entwicklung, auf die das Programm abzielt, müssen angemessen operationalisiert werden, wobei
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
im Idealfall unterschiedliche methodische Zugänge gewählt (z. B. Fragebogen- und Beobachtungsverfahren) und/oder unterschiedliche Informanten einbezogen sein sollten (z. B. Eltern und Kindergärtner/innen). ▬ Um die Nachhaltigkeit der Intervention zu prüfen, sollten Follow-up-Untersuchungen durchgeführt werden. ▬ Schließlich sollte die Studie erlauben, Aussagen zur differentiellen Wirksamkeit zu machen, etwa bei einer weitgehend unauffälligen Gruppe im Vergleich zu einer stärker problembelasteten Gruppe von Teilnehmer/innen.
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Solche Evaluationsstudien liegen in Deutschland nur in begrenztem Maße vor. »Triple P« wird derzeit in einer seit 2001 laufenden Studie in Braunschweig evaluiert (s. www. triplep.de). Erste Befunde bestätigen moderat positive Effekte des Programms zur Reduktion von aggressivem Problemverhalten. Auch der Deutsche Kinderschutzbund hat sein Programm »Starke Eltern – Starke Kinder« einer ersten Evaluation unterzogen, die auf positive Effekte verweist. Da hier nur wenige Kinder an der Evaluationsstudie beteiligt waren und die Interventionsgruppe in einigen Merkmalen (z. B. Alter der Kinder) von der Kontrollgruppe abweicht, besteht noch weiterer Forschungsbedarf. Zu dem Programm »Opstapje« liegen ebenfalls die Befunde einer Evaluationsstudie vor, die allerdings kaum größere Unterschiede im Entwicklungsverlauf der Interventionsund Kontrollgruppe aufzeigen konnte. Hierfür dürfte nicht zuletzt die sehr geringe Größe der Kontrollgruppe ausschlaggebend sein (www.dji.de/opstapje). Für die Programme »STEP« und für das »Familienteam« laufen derzeit Evaluationsstudien. Demgegenüber existiert in den USA ein reicher Fundus an Evaluationsstudien zu familienbezogenen Präventionsprogrammen. In einer Metaanalyse konnten 665 kontrollierte Studien zu 260 Präventionsprogrammen ausgemacht und herangezogen werden (Layzer et al. 2001). Die Befunde sprechen insgesamt für eher moderate Effekte: Die durchschnittlichen Effektgrößen für Merkmale der Kinder wie ihre kognitive und sozioemotionale Entwicklung sowie für elterliche Einstellungen, Erziehungswissen und Erziehungsverhalten liegen in einem Bereich von einer Viertelstandardabweichung. Allerdings findet sich auch beträchtliche Varianz. Bei kognitiv-behavioral begründeten Programmen, die sorgfältig umgesetzt und evaluiert wurden, ergeben sich deutlich höhere Effektstärken (Heinrichs et al. 2002). Nach Befunden der Metaanalyse von Layzer et al. (2001) ist auch das Alter der Kinder maßgeblich: Die durchschnittlichen Effektstärken fallen rund doppelt so hoch aus, wenn das Präventionsprogramm früh ansetzt, sich also auf jüngere Kinder bezieht. Als entscheidend hat sich auch die Professionalität der Kursleiter erwiesen. Dies mag erklären, warum die Evaluationsstudie des Programms »Opstapje« keine größeren Effekte verzeichnen konnte, denn hier haben Laienhelfer das Pro-
gramm durchgeführt. Da das Programm vor allem als niederschwelliger Einstieg gedacht ist, wäre es gerade hier wichtig zu wissen, inwieweit das Programm dazu beiträgt, dass auch andere Programm- oder Beratungsangebote seitens der Teilnehmer/innen genutzt werden. Interessanterweise sind so genannte Home-based-Programme, die im Haushalt der Teilnehmer durchgeführt werden, den Gruppenprogrammen nicht überlegen. Hier ist zu vermuten, dass die Gesprächsmöglichkeiten unter den Teilnehmer/ innen wesentlich zur Reflektion des eigenen Verhaltens und zu seiner Optimierung beigetragen haben. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die vorliegenden Ansätze zur familiären Prävention durchaus einen nützlichen Beitrag zur Stärkung von elterlichen Erziehungskompetenzen leisten. Allerdings besteht in Deutschland noch ein deutlicher Bedarf an gesicherten Erkenntnissen aus methodisch anspruchsvollen Evaluationsstudien. Die meisten Forschungsbefunde stammen aus dem angloamerikanischen Raum. Zudem besteht die Gefahr, dass sich die Initiativen zur Verbreitung von Präventionsprogrammen nur auf wenige Programme beziehen. Es dürfte sich jedoch als besonders aufschlussreich erweisen, unterschiedliche Programme mit je unterschiedlicher theoretischer Basis und methodischer Umsetzung vergleichen zu können. Ein breites Angebot dürfte auch am ehesten den unterschiedlichen Bedürfnissen von Eltern entgegen kommen.
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
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99 6.3 · Suchtprävention mit Kindern und Jugendlichen
6.3
Suchtprävention mit Kindern und Jugendlichen
und indem man gemeinsam mit anderen Menschen Probleme bespricht und nach konstruktiven und kreativen Hilfemöglichkeiten sucht. Ministerin Ursula von der Leyen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Anneke Bühler, Kathrin Heppekausen Das Jugendalter ist eine herausfordernde Lebensphase, in der Heranwachsende eine Vielzahl an körperlichen Veränderungen und psychosozialen Entwicklungsanforderungen bewältigen müssen. Zudem sind bereits Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag verschiedenen Stressoren und kritischen Lebensereignissen ausgesetzt, die von ihnen eine zusätzliche Anpassungsleistung fordern. In einer Befragung von 11-, 13- und 15-jährigen Schülern berichteten 42% von einer schulischen Überforderung, 33% von Problemen mit ihren Eltern, 21% litten unter der Trennung von einem Freund/einer Freundin und 19% unter dem Tod einer nahe stehenden Person (Hurrelmann et al. 2003). Bei einer entsprechenden Anfälligkeit können diese Anforderungen das Risiko für das Auftreten von psychischen Beschwerden bis hin zu klinisch relevanten Störungen erhöhen. Nach der Bremer Jugendstudie, in der die Auftretenshäufigkeit psychischer Probleme bei Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren erfasst wurde, wiesen 44% der Befragten – oft vorübergehende – psychische Störungen auf (Essau et al. 1998). Angststörungen und Depressionen traten bei 19% bzw. 18% der befragten Jugendlichen mindestens einmal im Leben auf und waren damit die am weitesten verbreiteten Störungsbilder, gefolgt von somatoformen Störungen bei 13%. Mädchen scheinen auf Belastungen häufiger depressiv, ängstlich und mit psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen zu reagieren als Jungen. Dagegen neigen Jungen eher zu einem gestörten Sozialverhalten, mit Stören im Unterricht, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, Schuleschwänzen, Schlägereien und Diebstahl. Mehr Vorteile verspricht ein Ansatz, der Betroffe» nen Möglichkeiten für den Umgang mit Stress aufzeigt. Solche Maßnahmen dürfen sich nicht nur auf Erwachsene, sondern müssen sich auch auf Kinder richten (Kinder waren seinerzeit z. B. Zielgruppe des Modellprojektes »Kinder stark Machen« der BZgA). Kinder und Jugendliche lernen schon früh; wie ihre Bezugspersonen mit alltäglichen Anforderungen, zu denen eben auch Stress zählt, umgehen. Legale und illegale Suchtstoffe werden z. B. vielfach konsumiert, um sich ein gutes »Feeling« zu verschaffen und die schlechte Stimmung zu vertreiben. Die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung hat viele Ursachen. Aber wir wären schon ein gutes Stück weiter, wenn vor allem auch Eltern in ihrer Erziehungsfunktion und ihrer Rolle als Vorbild zeigen würden, dass Suchtstoffe keine Problemlöser für Langeweile, Niedergeschlagenheit oder z. B. Ärger in der Schule sind, sondern dass man Stress am besten durch Aktivität bekämpft
Um die (alltäglichen) Anforderungen zu bewältigen oder Belastungen erträglicher zu machen, setzen Jugendliche auch psychoaktive Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder Drogen ein (Silbereisen u. Reese 2001). Zwar gehört das Erlernen eines verantwortlichen Umgangs mit diesen Substanzen – speziell Alkohol – in unserer Gesellschaft zum Erwachsenwerden dazu, doch setzt sich der Jugendliche damit auch einem hohen Risiko für negative körperliche, juristische und finanzielle Folgen aus. Im folgenden Kapitel soll genauer auf die Problematik des missbräuchlichen Substanzkonsums im Jugendalter sowie die Möglichkeiten zur Verhinderung dieses Risikoverhaltens eingegangen werden. Für eine Übersicht über die Präventionsansätze zu den weiteren Problembereichen im Kindes- und Jugendalter wird auf weiterführende Literatur verwiesen (Pössel u. Hautzinger 2003; Greenberg et al. 2001; Browne et al. 2004). In Deutschland erfüllen nach repräsentativer Einschätzung jeweils etwa 1,7 Millionen Personen die klinisch relevanten Diagnosekriterien für Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch (IFT 2005). Ungefähr 4,3 Millionen Menschen sind als tabakabhängig zu bezeichnen, ca. 1,9 Millionen sind abhängig von psychoaktiven Medikamenten, bei etwa 240.000 liegt eine Abhängigkeit von Cannabis und bei 175.000 Personen eine Abhängigkeit von anderen illegalen Drogen (ohne Cannabis) vor. Abhängigkeit liegt nach DSM-IV1 (Saß et al. 1998) dann vor, wenn mindestens drei der sieben folgenden Kriterien innerhalb eines Jahreszeitraumes erfüllt sind: ▬ Toleranzentwicklung, ▬ Entzugssyndrom, Substanzgebrauch länger oder in größeren Mengen als beabsichtigt, ▬ gesteigertes Verlangen, ▬ Kontrollminderung, ▬ Zentrierung des Denkens und Handelns auf Konsum, ▬ Einschränkung sozialer Aktivitäten und ▬ fortgesetzter Konsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen. Ein Missbrauch liegt vor, wenn drei der vier nachstehenden Kriterien festzustellen sind: ▬ erhebliche berufliche oder familiäre Probleme, ▬ Gebrauch in gefährlichen Situationen, ▬ Probleme mit dem Gesetz, ▬ soziale Probleme.
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Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Substanzkonsum setzt in der Mehrzahl der Fälle mit Beginn des Jugendalters ein. So wird die erste Zigarette im Durchschnitt mit 13,6 Jahren geraucht, der erste Alkoholrausch mit 15,5 Jahren erlebt und Cannabis zum ersten Mal mit 16,4 Jahren geraucht. Erste Erfahrungen mit anderen illegalen Drogen, wenn auch insgesamt sehr wenig verbreitet, werden zwischen 16 und 18 Jahren gemacht (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2004). Suchtprävention hat zum Ziel, dem Missbrauch und der Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen vorzubeugen. Entsprechend dem Einstiegsalter muss sie frühzeitig, spätestens während des Übergangs in das Jugendalter beginnen. Sie orientiert sich dabei an zahlreichen Theorien zur Entwicklung des Substanzgebrauchs und -missbrauchs (Petraitis et al. 1995). Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, versuchen suchtpräventive Maßnahmen, Risiko- und Schutzfaktoren des Substanzmissbrauchs zu beeinflussen (⊡ Abb. 6.2). Risikofaktoren sind Charakteristika der Person, ihres sozialen Umfelds oder der Gesellschaft, die die Wahrscheinlichkeit des Substanzmissbrauchs erhöhen. Bei Aussetzung eines Risikos verringern Schutzfaktoren wiederum die Wahrscheinlichkeit des Substanzmissbrauchs. So kann beispielsweise das Risiko, mit 16 Jahren – legitimiert durch das Jugendschutzgesetz – rauchen zu dürfen, durch den Schutz eines nichtrauchenden Freundeskreises abgemildert werden.
Ansätze der Suchtprävention Je nach Ansatzpunkt werden durch suchtpräventive Maßnahmen unterschiedliche Risiko- und Schutzfaktoren angegangen. Verhältnisprävention versucht, die Lebensverhältnisse präventiv zu verändern, während verhaltensbezogene Maßnahmen auf die Veränderung des Individuums, seines Wissens, seiner Einstellungen sowie seiner Fertigkeiten abzielen. Die Ansatzpunkte suchtpräventiver Maßnahmen können auch entsprechend den Lebenswelten, in denen Kinder und Jugendliche heranwachsen, geordnet werden: Familie, Schule, Freundeskreis, Medien, Gemeinde, Gesellschaft. So zeichnet die familienorientierte Prävention aus, dass sie die Erziehungsfertigkeit der Eltern (u. a. Disziplinierung, Supervision und Problemlösekom-
Risikofaktoren
Schutzfaktoren Schutzfaktoren
100
Substanzmissbrauch
⊡ Abb. 6.2. Risiko- und Schutzfaktorenmodell der Entwicklung des Substanzmissbrauchs
petenz) fördert sowie den Familienzusammenhalt und die Eltern-Kind-Bindung stärkt (kombinierte Eltern-, Kinderund Familientrainings). Präventionsmaßnahmen im schulischen Setting zielen meist auf die Kinder und Jugendlichen selbst ab. Sie streben einen kritischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen an und versuchen, dies durch Aufklärung über die Substanz, ihre Wirkweise, Gefährlichkeit und kurzfristigen Folgen sowie dem Training von Lebensfertigkeiten einschließlich Standfestigkeit zu erreichen. Diejenigen Maßnahmen, die im Freundeskreis bzw. in der Freizeit des Kindes ansetzen, streben die Ausfüllung der freien Zeit durch sinnvolle Aktivitäten als Alternative zum Substanzkonsum an, wie die Anbindung an (Sport-) Vereine und den Einsatz prosozialer Peers2 sowie die Betreuung durch erwachsene Mentoren. Über die Medien werden suchtpräventive Botschaften, z. B. durch einflussreiche Rollenmodelle, verbreitet, um Überzeugungen über normative Erwartungen zu korrigieren, die Attraktivität der Substanzen zu reduzieren, das Wissen über die Risiken des Konsums zu steigern und die substanzbezogenen Einstellungen zu verändern. Bei den Präventionsmaßnahmen, die die Gemeinde und die Gesellschaft betreffen, werden speziell die Verfügbarkeit sowie die Attraktivität der Substanzen und die öffentliche Haltung gegenüber dem Substanzkonsum angegangen. Hierzu zählen gesetzliche Maßnahmen, wie Preiserhöhung, Regulation des Verkaufs, Altersbeschränkungen für Konsum und Verkauf, Werbeeinschränkungen und -verbot sowie die Kontrolle und Überwachung von deren Einhaltung. Mittels systemübergreifender Maßnahmen (Kombination von Maßnahmen im Bereich Schule, Familie, Medien, kommunale Gesetzgebung) werden mehrere der beschriebenen Risiko- und Schutzfaktoren zeitgleich berücksichtigt.
Wirksamkeit suchtpräventiver Maßnahmen mit Kindern und Jugendlichen Nach den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen geordnet, wird im Folgenden über die Wirksamkeit von suchtpräventiven Maßnahmen berichtet. Dazu werden aktuelle Übersichtsarbeiten herangezogen. Präventive Effekte auf den Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen lassen sich im Setting Familie mit umfassenden Maßnahmen, d. h. kombinierten Eltern-, Kinder- und Familientrainings erreichen (Lochman u. van den Steenhoven 2002). Elterntraining alleine ist in seiner Wirkung weniger weitreichend und wirkt lediglich auf Risiko- und Schutzfaktoren des Konsums sowie auf das Erziehungsverhalten der Eltern oder anderem Problemverhalten der Kinder hin.
2
Gleichaltrige Jugendgruppe mit sozial angemessenem Verhalten
101 6.3 · Suchtprävention mit Kindern und Jugendlichen
Im Bereich Schule, dem am meisten und besten erforschten Setting der Suchtprävention, haben sich Programme mit interaktiven Unterrichtsmethoden als effektiv herausgestellt (Tobler et al. 2000). Interaktive Methoden fördern den Austausch und die Auseinandersetzung unter den Schülern und beschränken die Rolle des Lehrers auf die des Moderators (z. B. Rollenspiele, Paararbeit, Kleingruppenarbeit). Eng verknüpft mit der Verwendung von interaktiven Methoden sind die Konzepte der »Lebenskompetenz« und des »sozialen Einflusses«. Als ineffektiv haben sich dagegen noninteraktive Programme erwiesen, die keinen Austausch oder nur den Austausch zwischen Lehrer und Schüler vorsehen, z. B. Frontalunterricht. Beispiele für den noninteraktiven Ansatz sind Programme, die ausschließlich eine Informationsvermittlung beinhalten oder isoliert auf affektive Erziehung, Wertevermittlung und Entscheidungsbildung setzen. So bedeutsam die Freundesgruppe und damit verbunden die Freizeitgestaltung für den eigenen Substanzmissbrauch auch sind und so viele meist erlebnispädagogische Maßnahmen vor diesem Hintergrund auch durchgeführt werden, evidenzbasierte Aussagen können für diesen Bereich mangels Evaluationsstudien nicht getroffen werden (Carmona u. Stewart 1996). Massenmediale Kampagnen haben lediglich in Kombination mit anderen Komponenten, wie Schulprogramm, kommunales Projekt oder nationales Programm, präventive Effekte auf das Rauchen (Hopkins et al. 2001). Isolierte massenmediale Informationen verringern das Konsumverhalten nicht. Über systemübergreifende, kommunale Suchtpräventionsprojekte, die viele Komponenten umfassen (Schule, Familie, Medien, kommunale Gesetzgebung), lässt sich noch kein eindeutiges Urteil fällen, weil derzeit zu wenige Einzelstudien vorliegen. Die bisherige Befundlage weist zwar positive Effekte aus, allerdings scheinen sich bislang die großen Hoffnungen (noch) nicht zu erfüllen (Tobler et al. 2000; Wandersman u. Florin 2003). Durch die Forschung zur Wirksamkeit von gesetzgebenden Maßnahmen wurde festgestellt, dass Preiserhöhungen von Zigaretten zu einer Reduktion der Menge des Konsums als auch der Anzahl an jugendlichen Konsumenten führen (Hopkins et al. 2001). Das Heraufsetzen der Altersgrenze für legalen Alkoholkonsum hat sich ebenfalls als effektiv erwiesen (Wagenaar u. Toomey 2002). Dagegen scheinen Verkäuferschulungen zur Einhaltung der legalen Altersgrenze des Tabakkonsums nicht zu greifen (Fichtenberg u. Glantz 2002). Bei der Interpretation dieser Wirksamkeitsbefunde ist zu berücksichtigen, dass es sich um Überblicksartikel handelt, die den Status quo und nicht die bestmögliche Praxis, den »Durchschnitt« und nicht Einzelfälle beurteilen. Grundlage sind meist US-amerikanische Studien, deren Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse zu hinterfragen ist. Leider gibt es mit einer Ausnahme nur sehr
wenige Evaluationsstudien im deutschsprachigen Raum. Diese Ausnahme sind die schulbasierten Lebenskompetenzprogramme.
Lebenskompetenzförderung als Ansatz der Suchtprävention Einordnung des Begriffs »Lebenskompetenz« Lebenskompetent ist, wer ▬ sich selbst kennt und mag, ▬ empathisch ist, ▬ kritisch und kreativ denkt, ▬ kommunizieren und Beziehungen führen kann, ▬ durchdachte Entscheidungen trifft, ▬ erfolgreich Probleme löst sowie ▬ Gefühle und Stress bewältigen kann. So definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO 1994) die zentralen »Life skills« für unseren Kulturkreis, die als Lebenskompetenz oder Lebensfertigkeiten im deutschsprachigen Raum übersetzt werden. In Anlehnung an von Kardorff (2003) kann Lebenskompetenz verstanden werden als »Fähigkeit von Menschen [...], erworbene [Lebens-]Fertigkeiten und soziale Regeln sowie Wissensbestände sach- und situationsgerecht sowie zum richtigen Zeitpunkt zum Erreichen eines z. B. gesundheitsbezogenen Ziels einzusetzen« (S. 135). Die Lebenskompetenzförderung hat seit Beginn der 1990er Jahre eine rasche Verbreitung erfahren und stellt heute eine wichtige Strategie in der Gesundheitsförderung dar.
Einsatzbereiche von Lebenskompetenzprogrammen Lebenskompetenzprogramme verfolgen die Ziele, gesundheitsrelevante Lebensweisen zu verbessern sowie das Auftreten von Krankheiten und psychischen Störungen zu verhindern. Hierfür werden neben der Förderung der beschriebenen allgemeinen Lebenskompetenzen problemspezifische Fertigkeiten in den Programmen vermittelt. Die WHO (1996) nennt als im internationalen Sprachraum bereits verwirklichte Einsatzbereiche von Lebenskompetenzprogrammen die Prävention von Substanzmissbrauch, Suizid, Essstörungen, Gewalt und Konflikten, Fremdenfeindlichkeit, Delinquenz, AIDS sowie verfrühte Schwangerschaft. In Deutschland liegen derzeit wissenschaftlich evaluierte Lebenskompetenzprogramme für Kinder und Jugendliche für die Bereiche Substanzmissbrauch, Angst und Depression, Aggression, Impulsivität und Gewalt sowie für eine unspezifische Gesundheitsförderung vor (Bühler u. Heppekausen 2005). In einigen Programmen werden neben diesen übergeordneten Zielbereichen auch ein ungesundes Ernährungsverhalten und Suizid als Problembereiche angesprochen.
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Die Programme unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der angesprochenen problemspezifischen Inhalte als auch im Hinblick auf die Auswahl an Lebenskompetenzen, auf die im Training fokussiert wird. Die Mehrheit der existierenden Programme wendet sich an Kinder und Jugendliche. Lebenskompetenzprogramme für die Zielgruppe der Erwachsenen sind dagegen seltener.
sind für die Grundschule (1, 3) bzw. Grund- und Orientierungsstufe (2) konzipiert worden, die Mehrheit der Maßnahmen ist für ältere Schüler an weiterführenden Schulen entwickelt worden (4, 5, 6, 7, 8). Die Programme für die älteren Schülergruppen gelten dabei für alle regulären Schultypen, wie Haupt-, Real-, Mittel-, Gesamtschule und Gymnasium. Bisher fehlen eigenständige oder adaptierte Programme für Schulen mit spezieller Klientel (u. a. Lernbehinderung, Verhaltensauffälligkeiten).
Suchtpräventive Lebenskompetenzprogramme in Deutschland Inhalte suchtpräventiver Lebenskompetenzprogramme Förderung von Lebenskompetenzen In suchtspezifischen Lebenskompetenzprogrammen wird ein breiter Kanon an Lebensfertigkeiten trainiert, wie sie von der WHO definiert werden (⊡ Tabelle 6.1). Um Selbstwahrnehmung und Empathie zu fördern, wird zunächst ein
⊡ Tabelle 6.1. Deutsche suchtpräventive Lebenskompetenzprogramme Klassenstufe
Umfang/Struktur
Kompetenzen
Fit und stark fürs Leben
1–6
20 Unterrichtseinheiten (für jeweils 2 Jahrgangsstufen); Curriculum
3
Eigenständig werden
1–4 (5–6*)
42 Unterrichtseinheiten pro Schuljahr; Baukasten
4
ALF – Allgemeine Lebenskompetenzen und Fertigkeiten
5–6
Insgesamt 20 Einheiten (40 Stunden) über 2 Jahre; Curriculum
5
Erwachsen werden
5–10
73 Unterrichtsthemen; Baukasten
6
Leipziger Programm
6–8
Unterrichtsvorschläge zur Anwendung des Soester Programms und ALF; 54 Unterrichtsthemen; Baukasten
7
Soester Programm
5–13
3 Baukästen mit jeweils 3 Bausteinen; Baukasten
8
Ecstasy-Präventionsprogramm
9–11
14 Unterrichtsstunden; Curriculum
Anmerkung: * derzeit in Erprobung
Alkohol
2
Tabak
Beziehungskompetenz
Kommunikation
Gefühlsbewältigung
Bis zu 10 Unterrichtseinheiten pro Schuljahr; Curriculum
Stressbewältigung
1–4
Entscheidungen treffen
Klasse2000
Problemlösefertigkeit
1
Kreatives Denken
Kritisches Denken
spezifische
Empathie
allgemeine
Drogen
Programm/Manual
Selbstwahrnehmung
6
Im deutschsprachigen Raum liegen derzeit acht Lebenskompetenzprogramme zur Suchtprävention vor, die dem Interessierten zugänglich sind und wissenschaftlich evaluiert wurden (⊡ Tabelle 6.1). Bei diesen Programmen handelt es sich um schulische Maßnahmen, die universell ausgerichtet sind und sich entsprechend an alle Schüler in einer Klasse gleichermaßen wenden. Drei Programme
103 6.3 · Suchtprävention mit Kindern und Jugendlichen
reflektiertes Selbstkonzept erarbeitet, das vor allem eigene Stärken würdigt und Schwächen anerkennt. In Paarübungen wird sich über die eigene Persönlichkeit ausgetauscht, was die Selbstdarstellung übt und gleichzeitig das Anerkennen anderer und das Kennenlernen einer anderen Perspektive ermöglicht. Entscheidungsfähigkeit und Problemlösungsstrategie werden in einem mehrstufigen Prozess trainiert: Am Beispiel von alltagsrelevanten Situationen wird das Problem analysiert, Entscheidungs- oder Lösungsalternativen werden generiert, Konsequenzen der verschiedenen Alternativen gesammelt und abgewogen und schließlich die Entscheidung getroffen und ausprobiert. Kritisches Denken umfasst die Fertigkeiten, die nötig sind, um Informationen und Erfahrungen objektiv zu analysieren. Dies wird insbesondere bei der Generierung von Entscheidungsalternativen mittels Brainstorming gefördert. Auch in den Unterrichtsstunden, in denen es um das Aufdecken von sozialen Beeinflussungssituationen durch Freunde oder durch die Medien geht, wird zum kritischen Denken angeregt. Techniken aus dem verhaltenstherapeutischen Training der sozialen Kompetenz werden im Unterricht gelehrt, um die nonverbale und verbale Ausdrucksfähigkeit der Schüler zu erhöhen und sie mit effektiven Kommunikationsstrategien auszustatten: Es wird Selbstsicherheit beim Äußern von Wünschen, beim Einfordern von Rechten und die Überwindung von Schüchternheit in sozialen Kontakten in Rollenspielen geübt. Eng damit verknüpft ist die Förderung der interpersonalen Beziehungsfähigkeit, bei der es darum geht, enge Sozialkontakte eingehen und aufrechterhalten zu können. Hierzu wird das Konzept »Freundschaft« oder »Partnerschaft« bearbeitet. Zur Gefühls- und Stressbewältigung gehört in einem ersten Schritt die Wahrnehmung und das Erkennen eigener Gefühle. Dies wird in den Programmen u. a. durch die pantomimische Darstellung von Gefühlen oder in der Nachbesprechung von Rollenspielen thematisiert. Bewältigungsstrategien zum Umgang mit negativen Empfindungen werden identifiziert, indem die Schüler Situationen sammeln, in denen sie sich wohl fühlen. Progressive Muskelentspannung, Atemübungen und Fantasiereisen werden zum systematischen Erlernen von Entspannungstechniken regelmäßig in den Unterricht eingebaut.
Substanzspezifische Inhalte Die Mehrheit der Programme (außer 8) beinhaltet spezifische Unterrichtseinheiten zum Tabakkonsum, wobei die Programme für Grundschüler (1, 2, 3) erst ab dem 3. oder 4. Schuljahr tabakbezogene Inhalte vorsehen. Alkohol wird am zweithäufigsten thematisiert (1, 4, 5, 6, 7). Auf illegale psychoaktive Substanzen (speziell: Haschisch, Ecstasy, Opiate) gehen vier Programme (5, 6, 7, 8) ein, wobei sie sich an die älteren Schüler ab der 7. Jahrgangsstufe wenden. Von zwei Programmen (5, 7) wird zusätzlich auch der angemessene Einsatz von Medikamenten thematisiert.
Suchtspezifische Inhalte betreffen die Informationsvermittlung und Aufklärung über die Folgen sowie die Funktionen und Ursachen des Substanzkonsums, die Einstellungsbildung, das Ablehnen von Konsumangeboten sowie die Risikominimierung. bin auch der Auffassung, dass noch zu wenig » Ich beachtet wird, welche Rolle – zusätzlich zu dem empfundenen Stress – die Faktoren Rauchen, hyperkalorische Ernährung, Bewegungsmangel, erhöhter Alkoholkonsum und risikobereite Lebensweise spielen. Sind sie nun Ausdruck der persönlichen Bewältigungsstrategie oder bereits Symptom von Stress? Es erscheint mir sinnvoll, diesen Fragen nachzugehen, denn daraus gehen wiederum nicht unerhebliche Stresskomponenten hervor, die bei den Überlegungen zur Stressprävention mehr Berücksichtigung finden müssten. Andererseits kann aus Präventionsmaßnahmen, die sich auf diese klassischen Risikofaktoren richten, möglicherweise stresspräventives Potential gewonnen werden (Kinder stark machen gegen Sucht fördernde Einflüsse; Förderung von Sport, Bewegung, Spiel in der Familie und im Umfeld von Kindern und Jugendlichen wie KiTa und Schule; Förderung der gesunden Lebensweise im Erwerbs- und auch im höheren Lebensalter). Ministerin Ursula von der Leyen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
«
Informationsvermittlung und Aufklärung. Die Informa-
tionsvermittlung ist ein Inhaltsbereich aller genannten Lebenskompetenzprogramme (1–8). So wird Wissen über die Wirkungen und Konsequenzen des Substanzkonsums über Arbeitsblätter oder anschauliche physikalische Experimente weitergegeben oder durch eigene Recherchen der Schüler erarbeitet. Zur Richtigstellung von Annahmen über die Verbreitung des Konsumverhaltens in der Allgemeinbevölkerung – speziell unter Gleichaltrigen (Normbildung) – werden u. a. Umfragen im Freundes- und Familienkreis sowie im Klassenverbund genutzt. Beobachtung von eigenen Gewohnheiten, Diskussionen über Konsumerfahrungen, Interviews mit Eltern und Freunden sowie Analysen von Werbebotschaften und Fallbeispielen werden bei der Mehrheit der Programme (1, 2, 4, 5, 6, 7, 8) eingesetzt, um die verschiedenen Ursachen und Funktionen des Substanzkonsums herauszuarbeiten. Einstellungsbildung. Die Sammlung von Gründen, die gegen Substanzkonsum sprechen, sowie das Abwägen von Vor- und Nachteilen des Konsums werden in den Programmen (1, 3, 4, 5, 7) eingesetzt, um eine aufgeklärte, kritische Haltung gegenüber psychoaktiven Substanzen bei den Schülern aufzubauen. Die Schüler werden angeregt, das positive Image des Konsumenten (z. B. des
6
104
Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Rauchers) zu überdenken und zu revidieren. Diese Phase der Einstellungsbildung kann dann in einem Abstinenzvertrag münden, bei dem der Schüler sich schriftlich zu einem zeitlich befristeten Konsumverzicht verpflichtet.
gen an seine Kompetenz und sein Verständnis für Suchtprävention sowie Lebenskompetenzförderung gestellt.
Umsetzungserfahrung und Wirksamkeit Ablehnen von Konsumangeboten. In Rollenspielen wird
das Neinsagen zu Konsumangeboten sowie das Widerstehen von Gruppendruck zum Konsum trainiert (1, 2, 3, 4, 5, 6). Neben diesem so genannten Standfestigkeitstraining wird mit den Schülern geübt, durch den Einsatz überzeugender Argumente sowie Ablenkungs- und Vermeidungsstrategien mit sozialen Überredungsversuchen umzugehen.
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Risikominimierung. Die Risikominimierung und Schadensbegrenzung bei begonnenem Konsum thematisieren drei Programme für ältere Schülergruppen (6, 7, 8). Dazu wird über das Hilfesystem sowie verschiedene Beratungseinrichtungen und Zugangswege informiert, um Hemmschwellen bei der Hilfesuche abzubauen. Ebenso werden Safer-Use-Regeln oder Richtlinien für einen angemessenen Umgang mit psychoaktiven Substanzen mit den Schülern erarbeitet.
Didaktik und Struktur Untrennbar mit dem Lebenskompetenzansatz verbunden sind interaktive Methoden. Nach Tobler et al. (2000) sind interaktive Methoden dadurch gekennzeichnet, dass der Lehrer/Trainer nicht nur als Lehrender auftritt, der Informationen und Wissen durch didaktische Präsentationen im Frontalunterricht vermittelt, sondern stattdessen als Moderator von Gruppenaktivitäten fungiert, wobei er den Austausch zwischen den Teilnehmern anregt, strukturiert und begleitet. So werden in allen beschriebenen Programmen (⊡ Tabelle 6.1) interaktive Unterrichtsmethoden eingesetzt, wie z. B. Rollenspiele, Gruppendiskussionen, Kleingruppen- und Paarübungen. Bei der Umsetzung wird darauf geachtet, dass der Bezug zur eigenen Person und zum Lebensalltag der Schüler hergestellt wird. Die Inhalte werden dabei altersangemessen bearbeitet. Einige Programme sind in Form eines kontinuierlichen vorstrukturierten Curriculums aufgebaut (1, 2, 4, 8), enthalten genaue Vorgaben für die Unterrichtsplanung und -umsetzung über einen längeren Zeitraum und ermöglichen damit den systematischen schrittweisen Aufbau des erwünschten Verhaltens sowie bestimmter Fertigkeiten in mehreren aufeinander folgenden Sitzungen. Andere Programme (3, 5, 6, 7) sind demgegenüber als Baukasten angelegt und bieten dem Lehrer verschiedene Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung, die er in beliebiger Reihenfolge und gemäß dem Bedarf in der jeweiligen Schulklasse auswählen kann. Damit wird dem Lehrer eine höhere Flexibilität bei der Ausgestaltung des Unterrichts zugestanden, aber auch gleichzeitig höhere Anforderun-
Zu jedem beschriebenen Programm liegt heute mindestens eine qualitativ hochwertige Studie zur Überprüfung der Wirksamkeit vor. Bei der Mehrheit der Evaluationsstudien wurden nicht nur Daten zur Effektivität der Maßnahme, sondern auch Angaben zur Akzeptanz der Programminhalte und -materialien sowie zur Umsetzbarkeit und Praktikabilität der vorgegebenen Manuale erhoben (1, 2, 3, 4, 5, 6, 8). Die Akzeptanz suchtpräventiver Lebenskompetenzprogramme ist nach diesen Befunden unter Lehrern, Schülern und auch Eltern durchgängig als gut zu bezeichnen (Kähnert u. Hurrelmann 2003; Kraus et al. 2002; Aßhauer u. Hanewinkel 1999; Kröger et al. 1998; Kähnert 2002; Petermann u. Reißig 1998). Auch sind die Materialien und die Inhalte für die Umsetzung im Klassensetting geeignet. Ein Problem bei der Durchführung der Programme kann die Einhaltung der Zeitvorgaben bzw. die Integration der Programminhalte in den regulären Schulunterricht darstellen (Kähnert 2002). Diesem Problem kann mit sorgfältiger Planung der Umsetzung unter Einbeziehung der Schulleitung und des gesamten Lehrerkollegiums begegnet werden.
Wirksamkeit auf Lebenskompetenzen Der wissenschaftlichen Überprüfung von verhaltensnahen Lebensfertigkeiten, wie konstruktive Problemlösung oder Kommunikationsfähigkeiten, wurde bisher in zwei Evaluationsstudien nachgegangen (3, 4). Die Ergebnisse sprechen dafür, dass durch die Teilnahme an einem Lebenskompetenzprogramm die Fertigkeiten der Schüler gegenüber den Kontrollschülern zunehmen. So konnte die Teilnahme am »ALF-Programm« (4) das Wissen über Lebensfertigkeiten steigern und führte zu einem vermehrten Einsatz konstruktiver Problembewältigungsstrategien beim Umgang mit intrapersonalen sowie interpersonalen Problemen (Bühler 2004). Gemäß der ersten Evaluationsbefunde zu dem Programm »Eigenständig werden« (3) schätzen die Experimentalschüler ihre personalen und sozialen Kompetenzen (wie kooperatives, empathisches und selbstsicheres Verhalten) nach der Durchführung im ersten Schuljahr höher ein als die Kontrollschüler ohne Intervention (Wiborg u. Hanewinkel 2004). Die Untersuchung der im Programm vermittelten verhaltensnahen Fertigkeiten ist heute noch nicht weit verbreitet, was u. a. auch durch den Mangel an geeigneten Skalen begründet sein dürfte. Ein häufigeres Vorgehen besteht darin, die Programmwirkung auf Risiko- und Schutzfaktoren des Substanzkonsums zu überprüfen (2, 5, 6, 7). So belegen einige Evaluationsstudien die steigernde Wirkung der Programme auf das Selbstwertgefühl, wobei
105 6.3 · Suchtprävention mit Kindern und Jugendlichen
besonders Mädchen zu profitieren scheinen (Kähnert 2002; Roth 2002). Auch die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung scheint erhöht zu werden (Roth 2002). Die Befundlage zur Förderung der sozialen Kompetenz ist inkonsistent (Hanewinkel u. Aßhauer 2004; Kähnert 2002; Roth 2002), wobei sich ein stabiler Effekt auf die Standfestigkeit gegenüber Konsumangeboten abzeichnet.
Wirksamkeit auf Substanzkonsum Es wird übereinstimmend von kurzfristigen suchtpräventiven Effekten auf den Tabakkonsum bei der Gesamtstichprobe oder Untergruppen der Schüler berichtet. Kinder der 4. Klasse, die an dem Programm »Klasse2000« (1) teilgenommen hatten, rauchten weniger als die Kontrollschüler (Bölcskei et al. 1997). Auch das Rauchverhalten der Grundschüler, die an »Fit und stark« (2) teilgenommen hatten, konnte beeinflusst werden: Der Anteil der Schüler, die angaben, schon öfter geraucht zu haben, stieg in der Kontrollgruppe an, während die Prävalenz unter den Experimentalschülern gleich blieb (Aßhauer u. Hanewinkel 1999). Keine Unterschiede im Hinblick auf aktuelle Raucher ergaben sich zwischen Experimentalund Kontrollschülern nach der Programmdurchführung in der 5. und 6. Jahrgangsstufe (Hanewinkel u. Aßhauer 2004). Ein tendenzieller Unterschied zwischen den beiden Interventionsgruppen zeigte sich dabei aber für Probierkonsumenten. Für das »ALF-Programm« (4) ergab sich eine positive Beeinflussung des aktuellen und starken Tabakkonsums bei Haupt- und Realschülern (Kröger u. Reese 2000). Dieser Effekt ließ sich nach der 6. Klasse nicht mehr nachweisen. Eine Beeinflussung des aktuellen Tabakkonsums ergab sich auch für die Schüler, die im 5. Schuljahr mit dem Programm »Erwachsen werden« (5) begannen (Kähnert 2002). Bei denjenigen, die im 7. Schuljahr an dem Programm teilnahmen, konnte dagegen kein Interventionseffekt nachgewiesen werden. Für das Leipziger Präventionsprogramm (6) zeigte sich, dass unmittelbar im Anschluss an die Intervention der Anteil der Schüler, die in den letzten drei Monaten nicht geraucht hatten, in der Experimental- höher als in der Kontrollgruppe war (Roth 2002). Dieser Effekt war jedoch nur bei den Schülern, die in der 7. Klasse an dem präventiven Unterricht teilgenommen hatten, und nicht bei jenen, die den Unterricht in der 6. Klasse erhielten, zu beobachten. Zum Followup eineinhalb Jahre später waren keine Unterschiede im Rauchverhalten von Experimental- und Kontrollschülern mehr nachzuweisen. Das überarbeitete Soester Programm (7) ist noch nicht überprüft worden. Die Ergebnisse früherer Studien sind denen der anderen Programme ähnlich (Petermann u. Fischer 2000; Petermann et al. 1997). Suchtpräventive Effekte auf den Alkoholkonsum sind dagegen seltener festgestellt worden. Für die Hauptschüler, die am »ALF-Programm« (4) teilgenommen hatten, ergab sich eine Zunahme an Schülern, die bereits ein-
mal in ihrem Leben betrunken waren, erst nach der 7. und nicht wie in der Kontrollgruppe nach der 6. Klasse (Kröger u. Reese 2000). Durch die Teilnahme am Leipziger Präventionsprogramm (6) lag der Anteil der Alkoholabstinenten bei den Schülern, die das Programm in der 6. Schulklasse durchliefen, unmittelbar nach der Intervention sowie eineinhalb Jahre später höher als bei den Kontrollschülern (Roth 2002). Kein suchtpräventiver Effekt auf den Alkoholkonsum zeigte sich dagegen bei denjenigen Schülern, die an dem Programm in der 7. Jahrgangsstufe teilgenommen hatten. Die Beeinflussung des illegalen Drogenkonsums wird im Hinblick auf die untersuchten Altersgruppen selten in den Evaluationsstudien überprüft. Befunde zu dem Ecstasy-Präventionsprogramm (8) zeigten keine Verhaltensbeeinflussungen (Kähnert et al. 1998; Freitag 1999).
Fazit Lebenskompetenzprogramme stellen eine effektive suchtpräventive Maßnahme dar. Ihre Wirksamkeit ist in dem Sinne effektiv, dass Risiko- und Schutzfaktoren des Substanzkonsums, einschließlich des frühzeitigen Konsums, in die gewünschte Richtung beeinflusst werden können. Dies ist für die gesamte Zielgruppe eher bei Programmbeginn im jüngeren Alter (spätestens 5. bis 6. Schulklasse) und insbesondere in Hinblick auf den Tabakkonsum zu beobachten. Die Entwicklung von Substanzmissbrauch wird jedoch von vielen anderen Faktoren begünstigt, die nicht im Individuum liegen (Familie, Schule, Medien, Gesellschaft). Folglich ist das Wirksamkeitspotenzial nach Ansicht der Autoren am größten, wenn sie einen Baustein innerhalb eines breit angelegten Präventionsprojektes darstellen, das unterschiedliche Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen einschließt.
Literatur Die Nummern in eckigen Klammern beziehen sich auf die entsprechenden Programme (s. oben). Ahrens-Eipper S, Aßhauer M, Burow F, Weiglhofer H (2002) Fit und stark fürs Leben. 5. und 6. Schuljahr. Prävention des Rauchens durch Persönlichkeitsförderung. Ernst Klett Verlag, Stuttgart [2] Aßhauer M, Burow F, Hanewinkel R (1999) Fit und stark fürs Leben. 3. und 4. Schuljahr. Persönlichkeitsförderung zur Prävention von Aggression, Streß und Sucht. Ernst Klett Verlag, Stuttgart [2] Aßhauer M, Hanewinkel R (1999) Lebenskompetenzförderung und Suchtprophylaxe in der Grundschule: Entwicklung, Implementation und Evaluation primärpräventiver Unterrichtseinheiten. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 7: 158–171 Atherton C, Wiborg G, Burchardt E, Hanewinkel R (2002) Eigenständig werden. Unterrichtsprogramm für die Klassenstufen 1–6. MentorStiftung [3] Bäuerle D, Israel G, Rasel D (2001) Band I: Konzeption, fachliche Grundlagen, Rechtsaspekte. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Nordrhein-Westfalen [7]
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
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Stress dynamisch balancieren – personale und institutionelle Erfolgsvariablen für die Schule Hermann Städtler
Problem- und Zielstellung Übermäßiger Stress blockiert die natürlichen Ressourcen der Menschen, egal ob sie sich in der Eltern-, Schülerinnen-, Schüler-, Lehrerinnen- oder Lehrerrolle befinden. Stresssituationen korrelieren mit dem Gefühl des Überfordertseins und signalisieren Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit in nicht erfüllten Anforderungssituationen, die man sich selbst zugetraut hat oder deren Bewältigung von anderen Personen selbstverständlich erwartet werden. Stress kann unbearbeitet zu Krankheiten oder Sinnkrisen bei Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften führen. Deshalb muss es in der Schule zunächst darum gehen, die Wechselwirkung zwischen Individuen und dem System zu klären. Dies ist wichtig, um zu vermeiden, dass offensichtliche Stressoren durch schulische Maßnahmen vorschnell verdeckt werden, und die ursachenbezogene Auseinandersetzung ausbleibt. Ziel dieses Beitrags ist die Herausstellung von wesentlichen Variablen und Gelenkstellen für den erfolgreichen Umgang mit berufsspezifischen Belastungen. An Beispielen aus dem Schulprogramm der Fridtjof-Nansen-Schule, einer Grundschule in Hannover, wird aufgezeigt, wie es Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften gelingen kann, eigene Kräfte selbstwirksam für den Umgang mit Stress zu mobilisieren. Darüber hinaus wird die Tragfähigkeit der Institution Schule beleuchtet, die mit ihrem mehr oder weniger haltenden Rahmen entscheidend dazu beitragen kann, ob sich die in ihr arbeitenden Personen wohlfühlen und ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit erhalten können. Der Autor ist Rektor an der Grundschule.
Gesundheitsförderliche Umsetzung des Bildungs- und Erziehungsauftrages in der Schule Die Schule stellt neben der Familie die zentrale Sozialisationsinstanz für Heranwachsende dar und hat die schwierige Aufgabe, auf die Folgen der nachlassenden Erziehungskraft der Familie zu reagieren und immer mehr grundlegende Erziehungsverantwortung – auch im Bereich Gesundheit – zu übernehmen. Selbst wenn das System Schule nicht prinzipiell als gesundheitsfördernde Einrichtung zu bezeichnen ist und traditionell etliche hausgemachte Krankheitserreger in sich trägt (wie aufreibende und ineffektive Rhythmisierung; unergonomische Arbeitsplatzbedingungen, Sitzzwang; unkluge, Stress erhöhende Beteiligungsmodelle; Selek-
tionsmechanismen) hat sie den Auftrag, sich präventiv für die Gesunderhaltung ihrer Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte einzusetzen. Dies gelingt natürlich überzeugender in einer Schule, die sich um die Bearbeitung ihrer hausgemachten Krankmacher kümmert und somit durch praktisch gelebte Alltagsroutinen den authentischen Beleg für den Sinn der Gesundheitsförderung liefert. Nur so kann Schule dazu beitragen, dass Gesundheit geschaffen wird. Soll Gesundheit in die Alltagsroutine einer Schule nachhaltig integriert werden, ist es aufgrund der Erfahrungen des Autors wichtig, dass über einseitige, ausschließlich kompensatorische Eingreifprogramme zur Gesundheitsförderung deutlich hinausgegangen wird. Defizitansätze helfen in der Schule nicht weiter, weil sie auf dem Weg der Fehlersuche Menschen eher entmutigen, statt sie im Zutrauen auf ihre Stärken zu ermutigen. bedarf einer öffentlichen Unterstützung in der ge» Essamten Elternschaft von Bildungseinrichtungen, um Resonanz zu erzielen. Dann reicht die Initialfinanzierung durch einen Sponsor schon aus, um ein Projekt in Gang zu bringen. Danach ist institutionelle Verfestigung nötig. Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld
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Stärken ansprechen – Kohärenzgefühl entwickeln – Ambivalenzen pflegen Der ganzheitliche Arbeitsansatz an der Fridtjof-NansenGrundschule orientiert sich primär an den Stärken der Menschen, denn die Betonung des Könnens scheint ein wichtiger Schlüssel zur Öffnung des Stärkepotentials von Schülerinnen, Schülern, Eltern und Lehrkräften zu sein. Dies entspricht dem ressourcenorientierten Ansatz der Salutogenese (Entstehung von Gesundheit) der Weltgesundheitsorganisation, der auf einem sehr umfassenden Gesundheitsbegriff in Abgrenzung zur Pathogenese (Entstehung von Krankheit) basiert und vor allem die Fähigkeit jedes Einzelnen zur Erhaltung und Stärkung seines Wohlbefindens fördern will. Dabei ist das Kohärenzgefühl (Zuversichtssinn) mit seinen Dimensionen der Verstehbarkeit (Passung mit eigenem Erklärungsmodell der Welt), Handhabbarkeit (individuelle Bewertung der Bewältigungschance von Herausforderungen) und Sinnhaftigkeit (Wichtigkeit für das eigene Leben) die entscheidende Grundlage für die seelische und körperliche Gesundheit (Antonovsky 1997) und damit auch für die Leistungsfähigkeit ( Kap. 5). Nach Antonovsky ist Gesundheit kein verlässlich statischer Zustand, sondern ein sich stets veränderndes, dynamisches Pendeln zwischen den Polen Salutogenese und Pathogenese, was ein absichtsvolles Ausbalancieren im Spannungsfeld der Ambivalenzen notwendig macht. Dieser Zustand des Ausbalancierens kann als belastend
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
(Distress), aber auch als herausfordernd (Eustress) empfunden werden und beinhaltet die Chance für jede/n Einzelne/n, Krankheit nicht nur als schicksalhafte Erscheinung zu deuten, sondern sie auch als Folge von bestimmten (Über-)Belastungen zu sehen, die durch passende Verarbeitungsformen wieder neu in den Griff bekommen werden können. In Bezug auf Stressoren kommt es deshalb im Wesentlichen darauf an, mit ihnen konstruktiv umzugehen, sie zu bearbeiten statt sie als gegeben hinzunehmen und in der Folge krank zu werden. Die Ausprägung des Zuversichtssinns entscheidet auch darüber, ob schulische Belastungen – als Schülerinnen, Schüler oder Lehrkräfte – vorwiegend als bedrohlicher Stress oder als Herausforderung angesehen werden, die anzunehmen und zu bewältigen sind. Kohärenzgefühl entfaltet sich im Diskurs zwischen den Anforderungen des (Berufs-)Lebens und den eigenen Ressourcen. Demnach ist das Kohärenzgefühl als Basiskompetenz zur Bewältigung der auftretenden Belastungssituationen zu bewerten und wird als Gegenkraft zur Entmutigung und Demoralisierung gesehen. Kohärenzgefühl ist damit auch mitverantwortlich für die Lebensbejahung und für die Freude, in der Schule zu lehren und zu lernen (Schiffer 2001). Die Kompetenz zur kohärenten Auseinandersetzung führt nach Antonovsky zur Stärkung von gesundheitserhaltenden und -fördernden Ressourcen bei den Beteiligten, die dann bei entsprechender Übertragung auf das jeweilige Berufsfeld personale, soziale und organisatorische Veränderungen in Gang setzen und Nachhaltigkeit sichern können. Dies ist Voraussetzung zur Selbstwirksamkeit von Personen und damit auch von Systemen.
die gelebte Wertschätzungskultur einer Schule entscheidet sich letztlich, mit welcher Wirkung Widerstandressourcen im Umgang mit Störfeldern mobilisiert werden können. Den komplexen Zusammenhang zwischen Stressoren, personalen und institutionellen Ressourcen zeigt ⊡ Abbildung 6.3, die die jeweilige Rolle in diesem Prozess veranschaulicht. Stellt man sich vor, dass das Schulprogramm aus verschiedenen curricularen und schulorganisatorischen Bausteinen besteht, die aufeinandergebaut sich zu einem mehr oder weniger tragfähigen, institutionellen Sockel für die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages formieren, fällt es leicht, die zentrale Stützfunktion des institutionellen Sockels zu erkennen. Auf diesem gilt es, die schulischen Alltagsanforderungen für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte im Kontext privater und berufsspezifischer Stressoren auszubalancieren (⊡ Abb. 6.3).
Umsetzung in der Fridtjof-Nansen-Schule Grundlage der wertschätzenden Zusammenarbeit in unserer Schule ist die Präambel, an der das Kollegium über drei Jahre hinweg z. T. sehr kontrovers unter Leitung einer Psychologin gearbeitet hat. Die Präambel ist für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern und alle weiteren Mitarbeiter der Schule gleichermaßen Orientierungsgrundlage und rundet als oberster »Baustein und Balancierkuppe« unseren institutionellen Sockel ab, auf den sie sich beim Ausbalancieren der Belastungen und Herausforderungen verlassen müssen. Infobox
Mit dem Schulprogramm Widerstandsressourcen im Umgang mit Stressoren institutionalisieren: Der Schulsockel als Balancierbasis Im Schulprogramm der Fridtjof-Nansen-Schule sind die Leitideen einer Schule, Ziele für den Unterricht und die Schulorganisationsentwicklung, die Wege der Zielerreichung und die Möglichkeit zur Fremd- und/oder Selbstevaluation definiert. Ein gutes Schulprogramm ist ressourcenorientiert und achtet besonders darauf, Kräftepotentiale richtig einzuplanen und eine Selbstvergewisserung über die eigenen Leistungen als begleitenden Prozess anzulegen. Dies ist wertschätzend und wertschöpfend zugleich, weil es die unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten aller berücksichtigt und Über- oder Unterforderung vermeiden hilft. Voraussetzung ist allerdings, dass alle Kolleginnen und Kollegen an der Erstellung beteiligt werden und bei der Formulierung des Anforderungsprofils die Dimensionen der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit konsequent für sich und die Gruppe mitdenken. Darin zeigt sich, wie weit es gelingen kann, den Menschen in den Mittelpunkt des Planungsprozesses zu rücken. Über
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1. Baustein Präambel: Gegenseitige Wertschätzung Die Fridtjof-Nansen-Schule ist eine Schule für Kinder aus 24 verschiedenen Ländern. In ihr arbeiten, lernen und leben 360 Kinder und 34 Erwachsene mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Fähigkeiten und religiösen sowie kulturellen Hintergründen. Damit wir alle miteinander leben und voneinander lernen können, bemühen wir uns um Toleranz, Achtung und gegenseitiges Verständnis. Vor diesem Hintergrund erachten wir umweltbewusstes und gesundheitsförderndes Verhalten für lebenswichtig und fördern bewusste Lebensweisen in der Schule im Sinne der Agenda 21. Wir verstehen Schule als ein lernendes System in einer sich ständig verändernden Welt. Dies findet Ausdruck in unserem Schulprogramm »Bewegte Schule – Schule als lernendes System im Stadtteil«.
Die Fridtjof-Nansen-Schule (FNS) ist eine Grundschule und liegt im so genannten sozialen Brennpunkt HannoverVahrenheide. Bewegung ist in der Fridtjof-Nansen-Schule ausdrücklich erwünscht. Sie ist zentrales Element bei der
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Stressoren im schulischen Alltag (s. Pkt. 4) z. B. Zeit- und Leistungsdruck
z. B. Mobbing
z. B. Lärm, Arbeitsplatzbedingungen
z. B. Gewalt z. B. Krankheit, Sucht
z. B. soziale Krisen
Der balancierende Mensch steht im Mittelpunkt
Wertschätzung (1) Lebenszeitmanagement(5)
Schulklima (4)
Kind- und Lehrergerechte Rhythmisierung (8)
Schule als Lernund Lebensraum (11)
ÖffentlichkeitsGeben und arbeit; Öffnungs- Nehmen (SLZ) zeiten Schule (6) (14) Erfolge bilanzieren (3) Gesundheitsmanagement (10) Vernetzungsarbeit, Ressourcenbündlung (7)
Schüler stärken; Gewaltprävention (17) Supervision (16)
Professionelles Selbstverständnis im Unterrich (13)
Kraft tanken: Ruhebereich f. Erwachsene (12) Demokratische Beteiligungsmodelle Steuerungsausschuss (2) Anerkennungskultur Forum (15) Arbeitsplatz Schule, Ergonomie (9)
Schulprogramm mit Zielen und schulorganisatorischen Entscheidungen ⊡ Abb. 6.3. Der Schulsockel als Balancierbasis
Institutioneller Sockel der FNS, bestehend aus haltgebenden Bausteinen des Schulprogramms
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Gestaltung von Lernprozessen. Sie berührt und aktiviert alle Menschen, die in der Schule arbeiten, lernen und leben. Entsprechend trägt das Schulprogramm die Überschrift: »Bewegte Schule – Schule als lernendes System im Stadtteil«. Unserer Schule ist es wichtig, das elementare neugiergesteuerte Bewegungsbedürfnis der Kinder aufzugreifen, ihre gelebte Bewegungsfreude zu unterstützen, zu nutzen und ihnen ganzheitlich zu begegnen in der Absicht, dem sinnesaktiven begreifenden Lernen Vorzug vor isoliertem kopflastigen Lernen zu geben. Dieses Vorgehen ist ressourcenorientiert und geht von Stärken der Kinder statt von vermeintlichen Schwächen aus. Bewegung muss im Kopf von Verantwortlichen beginnen, damit Bewegung Schule weiterentwickeln hilft. In einer umfassend bewegten und gesundheitsfördernden Schule muss es um mehr als nur die äußerlich abzulesende Bewegung gehen. Der Begriff »Bewegte Schule« bezieht sich sowohl auf das soziale System von Schule, in das Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern mit einbezogen sind, als auch auf das Organisationssystem. Diese innere Bewegung geht äußerer Bewegung voraus. Wir definieren »Bewegte Schule« nicht als sportive Schule, sondern eher als eine innerlich bewegte, gesunde Schule, in der sich selbstverständlich die innere Beteiligung der Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler auch in ihrem bewegten Verhalten und ihrer Lernbereitschaft ablesen lässt3. Schule in Bewegung bringen heißt für uns, Schule zu verändern durch eine kind-, lehrerinnen- und lehrer- und lerngerechte Rhythmisierung des Unterrichts, durch bewegtes Lernen, durch bewegte Pausen, durch bewegende, beteiligende und damit gesundheitsfördernde Organisationsstrukturen, durch Öffnung von Schule nach außen, durch vernetztes Denken und Handeln (Abeling u. Städtler 2004). Das Schulprogramm der Fridtjof-Nansen-Schule wird über fünf, sich wechselseitig bedingende Inhaltsbereiche definiert. Dem Gesundheitsaspekt kommt dabei als übergreifende und zugleich verbindende Klammer zentrale Bedeutung zu (⊡ Abb. 6.4). Um den Kern eines jeden Schwerpunktes herum sind die Themenbereiche (Bausteine) angeordnet. Für jeden Schwerpunkt ist eine von der Gesamtkonferenz gewählte Leitung zuständig, die eigenverantwortlich mit ihrem Team die Umsetzung in die Unterrichtspraxis hinein plant und realisiert. Sie ist Mitglied im Steuerungsausschuss der Schule. Bezogen auf die Thematik dieses Beitrages werden hier ausgewählte Schulprogramm-«Bausteine« der Fridtjof-Nansen-Schule vorgestellt, die die institutionelle Serviceleistung des Schulprogramms für die Schaffung eines gesundheitsförderlichen und stressarmen Schulklimas aufzeigen.
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Ein Film über unser Schulprogramm ist auf der Multimedia CDRom »bewegte Schule online 2003« enthalten
Schwerpunkt Schule steuern und organisieren Infobox
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2. Baustein Steuerungsausschuss: Gleiche Augenhöhe – unterschiedliche Verantwortlichkeiten Wer hausgemachte »Krankmacher« im traditionellen System Schule verändern will, muss bei den Hierarchien beginnen. An der Fridtjof-Nansen-Schule bedeutete dies, dass ein gewichtiger Teil der der Schulleitung zugeordneten Verantwortlichkeiten auf einen dafür gebildeten Steuerungsausschuss übertragen wurde, der aus je einem Vertreter der fünf Schulprogrammschwerpunkte, einem Elternvertreter, einem Schulleitungsmitglied und einem Vertreter des integrierten Horts besteht. Der Ausschuss ist von der Gesamtkonferenz beauftragt, alle wesentlichen Entscheidungen der Schule in den wöchentlichen Kurzsitzungen voranzutreiben. Die zu verteilenden »Topf«-Stunden, Öffentlichkeitsarbeit, Projektmanagement, Qualitätssicherung, Sponsoring, Finanzen, interne Organisation von Arbeitsabläufen und Klärung von aktuellen Problemen liegen in den Händen der acht Entscheider. Der Steuerungsausschuss tagt wöchentlich jeweils 25 Minuten; seine Mitglieder sind im Gegenzug von einer Pausenaufsicht entlastet. Bei Entscheidungen hat jedes Mitglied eine Stimme, bei Stimmengleichheit nutzt die/der Vorsitzende die Möglichkeit einer weiteren Stimme, damit auf jeden Fall Entscheidungen getroffen werden können. Der Ausschuss hat Berichtspflicht in der Gesamtkonferenz. Entscheidungen werden zeitlich befristet gefällt und nach verabredeter Probezeit wieder auf den Prüfstand gestellt. Gesundheitsfördernd für alle Kolleginnen und Kollegen ist dabei, dass Entscheidungen für die Schule mutiger, schneller und kompetenter getroffen werden, sogar mit dem geringen Risiko, dabei auch Fehler zu machen. Diese verteilen sich dann genauso wie die Erfolge auf die Schultern vieler. 3. Baustein Qualitätssicherung: Pädagogische Erfolge bilanzieren Durch die Teilnahme an mehreren Modellversuchen konnten wir zahlreiche Evaluationsverfahren kennenlernen. Wir erfuhren aus der Zusammenstellung der Ergebnisse viel über die Wirkung unserer Aktivitäten, erkannten gelegentlich abweichende Prozessverläufe und konnten korrigieren. Diese Rückmeldungen führten in unserem Kollegium zu einem neuen Qualitätsverständnis, selbst wenn die angestrebte »OutputOrientierung« bei uns im Blick auf die aktuelle Kompetenz- und Standarddiskussion nicht unumstritten ist. Im Zuge unserer Beteiligung bei der Erprobung eines
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Gesundheits-Audits in Niedersachsen konnten wir erleben, welchen verstärkenden Effekt es haben kann, wenn Schulen sich mit Hilfe von Gesundheitssachverständigen anhand eines Qualitätskriterienkataloges im Abgleich der Selbst- und Fremdeinschätzung ohne Konkurrenz um Rangfolgen gegenseitig kollegial auditieren (Praxisbüro gesunde Schule Hannover, Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen 2005) Aufgrund der positiven (Selbst-)Evaluationserfahrungen werden zurzeit zwei Kolleginnen zu Evaluationsexpertinnen ausgebildet, deren Aufgabe es sein wird, unsere Lehrkräfte mit geeigneten Instrumenten bei der Selbstvergewisserung über die Wirkung ihrer Arbeit zu unterstützen. Dies beinhaltet neben der Rückmeldung über verbesserungswürdige Situationen genauso die Rückmeldung über die erfolgreiche Arbeit der Kollegen, die ohne geplantes Feedback kaum zustande käme. Klare Aussagen über die eigene Wirkung zu erhalten, ist eine wesentliche Variable zur Berufszufriedenheit von Lehrkräften, die in der letzten pädagogischen Erfolgsbilanz mit einem Prozentrang von 92 zurückgemeldet worden ist. 4. Baustein Schulklima: Wohlfühlen und Berufszufriedenheit Die Qualität des Schulklimas ist davon abhängig, wie weit es gelingt, Schule als Lern- und Lebensraum zu gestalten. Die klimatischen Bedingungen unserer Schule werden vor allem von der gelebten Wertschätzungskultur und der Identifikation der Lehrkräfte, der Schülerinnen und der Schüler mit ihrer Schule beeinflusst. Die Präambel gilt als Grundvereinbarung für das Zusammenleben in der Fridtjof-Nansen-Schule. Davon sind fünf Verhaltensregeln abgeleitet, die in altersunterschiedlicher Ausprägung den Orientierungsrahmen für die wertschätzende Gestaltung des Schullebens für Kinder und Erwachsene gleichermaßen vorgeben. Die Berufszufriedenheit und der Krankenstand sind Indikatoren für die Bewertung des Klimas. Selbst wenn es von allen beeinflusst wird und auch Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle spielen, ist permanente Steuerung nötig. Zuständig ist das Sozialarbeiterteam, der Personalrat und die Schulleitung in enger Verknüpfung mit dem Schwerpunkt »Sozialarbeit in der Schule«. 5. Baustein Zeitmanagement: Mit eigener und fremder Lebenszeit verantwortlich umgehen Der sorgfältige Umgang mit Zeit ist ein Qualitätsmerkmal von »bewegter und gesunder Schule«. Jede Schule hat heimliche »Zeitschlucker«, die im Zuge einer gesundheitsfördernden Rhythmisierung des Schulalltags identifiziert werden sollten.
Hilfestellung bei dieser Arbeit gibt ein internes Arbeitszeitmodell, in dem unterrichtliche und außerunterrichtliche Aktivitäten definiert und in Bezug zur Gesamtarbeitszeit gesetzt werden. Mit Zeitstress besser umzugehen, heißt für uns auch, neben der Verbesserung der Rahmenbedingungen vor allem die Selbstorganisation wirksamer durch effizientes Zeitmanagement zu gestalten. Das berührt u. a. Fragen zur Unterrichtsplanung und Methodik, zur realistischen Zeitplanung, zu selbst gesetzten Ruhepunkten im Schulalltag und im Unterricht, des Mutes, unvorhersehbare Störungen einzuplanen, der erfolgreichen Anfertigung von To-Do-Listen und der eingebauten Belohnung. 6. Baustein Öffentlichkeitsarbeit: Feedbackkultur und Öffnung von Schule »Tue Gutes und rede darüber.« Diese zuversichtliche Auffassung ist Grundlage für diesen Themenbereich und spiegelt gleichzeitig das gesellschaftliche Verständnis unseres Kollegiums wider. Die Öffentlichkeit durch geeignete Medien und Veranstaltungen über die pädagogische Arbeit, über die Erfolge, aber auch über die Schwierigkeiten der Kinder zu informieren, ist u. E. politische Notwendigkeit, sorgt für Teilhabe und nicht selten auch für die Übernahme sozialer Bildungsverantwortung durch Außenstehende. Sie führt auch dazu, dass die Institution Schule mit der Qualität ihrer Arbeit wahrgenommen wird, sie ist eine Form der Öffnung von Schule. Lehrkräfte erfahren bei ehrlicher Berichterstattung auch öffentliche Bestätigung ihrer Arbeit, was ganz im Gegensatz zur Pisa-Schelte zu ihrer Berufszufriedenheit und ihrer Gesundheit fördernd beiträgt. Öffentlichkeitsarbeit liegt in der Zuständigkeit der Schulleitung. 7. Baustein Vernetzungsarbeit mit Partnern: Ressourcenbündelung Die Öffnung von Schule und Ressourcenbündelung sind Gründe für die – relativ aufwändige – Vernetzungsarbeit mit Partnern. Wir wollen damit einerseits Ergebnisse durch die Hereinnahme von außerschulischen Kompetenzen optimieren und anderseits die Belastungen durch fachfremde Arbeit für Lehrkräfte senken. Unter dem Aspekt einer immer anzustellenden Kosten-Nutzen-Rechnung haben sich Kooperationen mit kompetenten Partnern aus gesundheitsfördernden Institutionen gelohnt, genauso wie der Einbezug von außenstehenden Experten (Psychologen, Schulprozessberater, Evaluationsexperten), die aufgrund ihrer Neutralität Schulentwicklungsprozesse besonders gut mitsteuern können. Vernetzungsentscheidungen werden wegen ihrer grundlegenden Bedeutung im Steuerungsausschuss getroffen.
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⊡ Abb. 6.4. Schulprogramm der Fridtjof-Nansen-Grundschule
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Schwerpunkt Gesundheitsförderung Infobox
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8. Baustein Kind- und lehrergerechte Rhythmisierung: Belastung, Entlastung und Effizienz Der Schulvormittag wird im rhythmischen Wechsel zwischen Belastung und Entspannung gegliedert. Das beginnt mit einem gleitenden Einstieg: Ab 7.45 Uhr ist das Schulgebäude für die Kinder geöffnet; die Lehrkräfte sind ab 8.00 Uhr in der Klasse und bis 8.20 Uhr müssen alle Kinder im Klassenraum eingetroffen sein, um den Unterricht mit einem Ritual im Sitzkreis zu beginnen. Gefrühstückt wird im Anschluss an die 25-minütige große Pause im Klassenverband. Wir haben im Laufe der Jahre gemerkt, wie wichtig, weil gesundheitsfördernd, der sorgfältige Umgang mit der eigenen Lebenszeit und mit der der anderen ist. In den Pausen haben daher dienstliche Angelegenheiten zurückzustehen. Professionelle und durchdachte Informationsweitergabe trägt zur Schonung des notwendigen Erholungsraums zwischen den Unterrichtsstunden bei. Elterngespräche in den Pausen sind nur in Notfällen zugelassen. Dafür werden Termine nach dem Unterricht verabredet. Dies sorgt für entspannte Gespräche, die von allen Beteiligten vorbereitet sind und neben einer höheren Zielorientierung auch höhere Wertschätzung erwarten lassen. Anfangs- und Schlusszeiten der Konferenzen sind verbindlich festgelegt; das sorgt für Selbstdisziplinierung und Sachbezogenheit aller Konferenzbeteiligten. Dieses neue Verständnis im Umgang mit Arbeitszeit/Lebenszeit ist in enger Verknüpfung mit dem Schwerpunkt »Schule steuern und organisieren« entstanden, in dem durch Zeitmanagement stressbedingten Überlastungssituationen entgegengesteuert werden soll. So praktizieren wir seit zwei Jahren ein Modell, in dem wöchentlich 45 Minuten außer-unterrichtliche Arbeitszeit in die Schule verlegt wird. Wir treffen uns jeweils am Dienstag nach der 5. Stunde im Plenum und arbeiten dann je nach Bedarf in Kleingruppen oder im Gesamtkollegium. Diese Rhythmisierung spart viel Konferenz- und Wegezeit und trägt deutlich zur Arbeitszufriedenheit im Kollegium bei. Außerdem gelingt es uns durch diese Organisationsform, den Informationsfluss für alle Kollegiumsmitglieder aktuell zu halten und notwendige Entscheidungen zeitnah zu treffen. Mit Beginn des neuen Schuljahres 2005/2006 werden wir versuchsweise durch die Einführung eines flexibleren Zeitmodells noch deutlicher als zuvor von einengenden Zeittakten abrücken.
9. Baustein Arbeitsplatz Schule – Ergonomie: Schulische Krankmacher entsorgen Schularbeitsplätze sollten ebenso wie Büroarbeitsplätze dem spezifischen Anforderungsprofil der Tätigkeit entsprechen. Trotzdem arbeiten über drei Viertel der Grundschüler an Schulmobiliar, das nicht einmal ergonomische Grundanforderungen erfüllt. Unsere Konsequenz daraus: Bewegende Lernangebote, die Kindern sowohl innere Entspannung als auch äußere Bewegung ermöglichen. Das fällt natürlich leichter auf ergonomisch geformten Stühlen mit Wippmechanismus, an Liegearbeitsplätzen auf Matten, an Stehtischen auf Rollen und an Einzeltischen mit schräg neigbarer Platte, die sich von Schülerhand stufenlos verstellen und auf Rollen schnell neu arrangieren lassen. Die signifikanten Ergebnisse einer von uns veranlassten wissenschaftlichen Längsschnittstudie werden im März 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt. 10. Baustein Gesundheitsmanagement: Unterstützungssystem für Schulen Gesundheitsförderung für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler ist als eine höchst anspruchsvolle Querschnittsaufgabe anzusehen, die nicht einfach nebenbei ohne spezielle Kompetenzen erledigt werden kann. Ein beantragter Modellversuch zum »Gesundheitsmanagement und Wissenstransfer in der Schule« wurde vom Kultusministerium zwar genehmigt, allerdings ohne Zuweisung der damit verknüpften Fachstelle. Bis uns die finanzielle Organisation dieser notwendigen Stelle gelingen wird, haben wir die Aufgabe des schulischen Gesundheitsmanagements dem Steuerungsausschuss kommissarisch übertragen, wohl wissend, dass sie nur ansatzweise und vorübergehend wahrgenommen werden kann. Derzeit werden deshalb die Themen Ernährung, Bewegung und Arbeitsplatzgestaltung im Schwerpunkt »Schule steuern und organisieren« ressourcenabhängig knapp bearbeitet.
Die Thematisierung von Stress bzw. der Umgang mit » Stress muss bereits im Kindergarten und in der Schule erfolgen. Dazu gehört die Förderung von Sport in Kindergärten und Schulen. Studien haben in Projektschulen die positive Wirkung von Bewegung auf den Stressabbau sowie auf den Abbau von Aggressionen bewiesen. Dr. Thomas Suermann, Präventionsbeauftragter der Ärztekammer Niedersachsen
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Schwerpunkt Bewegung schafft Raum Infobox
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11. Baustein Schul- und Freiraum als Lebensraum gestalten: Architektur als Erzieher Lebensräume werden wegen ihrer scheinbar unmerklichen Einflussnahme auf die menschliche Befindlichkeit oft unterschätzt. Dabei ist der Einfluss von Licht, Luft, Wärme, Raumklang, Farbe, Form, Ergonomie, Material und Gebrauchsästhetik sowohl für Innenräume als auch für Außenräume direkt zuständig für unser Wohlergehen und auch für die Bereitschaft, sich mit allen Sinnen neugierig auf diese Lernumgebung einzulassen. Im freien Raum können die Kinder an vielen Stellen ihre Selbstsicherheitskompetenz und Selbstverantwortung im Umgang mit Risiko und Wagnis ausbauen. Selbstverständlich gibt es auch Hügel zum Hinauf- und Hinablaufen, Gelegenheiten zum Hinunterspringen und zum Verstecken, Flächen zum Bewegen auf Rollen, aber auch Orte zum Entspannen und für Gespräche. Wir beobachten in der Praxis, dass diese herausforderungsreichen Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten dazu beitragen, sinnvolle Interaktionen zwischen Kindern anzustiften und ihre Gewaltbereitschaft zu reduzieren. Dies bedeutet für Kinder wie auch für ihre Lehrkräfte weniger Krisensituationen und damit wenig Stress im Schulalltag. 12. Baustein Ruhebereich für Erwachsene: Kraft tanken in den Pausen Was für Kinder gilt, gilt auch für Erwachsene. Räume zum Wohlfühlen und Entspannen helfen dabei, sich wohl zu fühlen und notwendige Kräfte zu mobilisieren. Wir profitieren sehr von einem selbstgeplanten Ruhebereich im Freien, der nur Erwachsenen vorbehalten ist und uns durch seine ästhetische Gestaltung immer aus dem Lehrerzimmer nach draußen lockt, sofern das Wetter mitspielt.
Schwerpunkt Lernen neu organisieren Infobox
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13. Baustein Unterrichtsentwicklung: Professionelles Selbstverständnis Selbstverständlich ist es effizient und entlastend, wenn sich Lehrkräfte auf Inhalte, Methoden und Rituale einigen können. Dies geschieht bei uns durch die für alle Klassen verbindliche Unterrichtssystematik und
weitere Qualitätskategorien der Unterrichtsentwicklung im Zuge des eigenverantwortlichen Lernens und Arbeitens nach Heinz Klippert (z. B. Klippert 1999). Die Realisierung des Ziels der nachhaltigen Umsetzung eines gemeinsamen pädagogischen und methodischen Nenners setzt in unserer Schule starke Steuerungsenergie und die immer wieder neu anzufachende Bereitschaft des Kollegiums voraus, Vertrauen in die mittelfristige Wirkung der neuen Lernstrategien zu investieren und die Durststrecke bis zum Erfolg trotz nicht unmittelbar ablesbarer Verbesserungen durchzuhalten, was vermutlich nur gelingen kann, wenn sich der Entlastungseffekt für Schüler und Lehrkräfte relativ zeitnah einstellen wird. 14. Baustein Selbstlernzentren: Geben und Nehmen In Selbstlernzentren sollen die Schülerinnen und Schüler wie kleine Forscher mit allen Sinnen entdecken, forschen und lernen können. Diese Zentren sprechen die Selbsttätigkeit der Kinder besonders an und sind so eine Ergänzung zum Unterricht in der Klasse, wo selten so viele Materialien zu speziellen Themenbereichen zur Verfügung stehen. Diese Organisation von themengebundenen Lernanlässen entlastet jede einzelne Lehrkraft in einigen Inhaltsfeldern, in denen sie sich nicht so kompetent fühlt, verlangt aber andererseits auch das Engagement bei der Erstellung von Angeboten aus dem eigenen Kompetenzbereich für andere Kolleginnen und Kollegen. Es bestehen Selbstlernzentren im Bereich Bewegung, Ernährung, Sprache, Medien und Kommunikation, Mathematik, Natur und Umwelt, die unterschiedlich gut funktionieren. Dies hinzunehmen und diese Bereiche für eine gewisse Zeit auf Sparflamme zu kochen oder sogar auf Eis zu legen und dabei kein schlechtes Gewissen zu entwickeln, ist Teil des bewussten Umgangs mit Belastungen im Schulprogramm, in dem aktuell andere Prioritätensetzungen (Umsetzung der neuen Kerncurricula) Ressourcen für 2005 bis Mitte 2006 binden. 15. Baustein Forum: Präsentation, Bestätigung und Identifikation Regelmäßige Schulvollversammlungen tragen zur Identifizierung mit der Schule bei und sind Ausdruck von praktischer Anerkennungskultur außerhalb der Zensurengebung. Alle zwei Wochen freitags treffen sich alle Schülerinnen, Schüler, Lehrkräfte, Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und interessierte Eltern, Geschwister und Verwandte zum Forum. Diese Veranstaltung wird jeweils von einem Jahrgang geplant und durchgeführt. Es geht darum zu zeigen, was in den letzten Wochen gelernt
115 6.4 · Stress dynamisch balancieren – personale und institutionelle Erfolgsvariablen für die Schule
worden ist, was die Klassen gerade beschäftigt und es wird von Klassenfahrten oder besonderen Unternehmungen berichtet. Wichtig ist, dass alle Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs eine Aufgabe bei der Präsentation auf der großen Bühne übernehmen, je nach Können und Neigung. Diesem Termin fiebern Schülerinnen und Schüler aufgeregt entgegen, geht es doch darum zu zeigen, was inzwischen Neues gekonnt wird. Ein festes Ritual hält Spannung und Entspannung in der Waage: Die Schulleitung begrüßt, nutzt die Gelegenheit, ein oder zwei wichtige Sachen des täglichen Schullebens knapp zu thematisieren und übergibt den Klassen die Bühne und die Verantwortung für den weiteren Verlauf. Am Schluss ist immer ein Mitmachteil mit Gesang und Bewegung vorgesehen, den bis zu vierhundert Zuschauer gespannt erwarten, bevor sie dann erfüllt in das Wochenende gehen.
Schwerpunkt Sozialarbeit in der Schule Infobox
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16. Baustein Supervision: Rollenverständnis professionell klären Die Möglichkeit, sich mit berufsbezogenen Alltagsbelastungen fachmoderiert in einem geschützten Raum auseinander zu setzen, nutzen etliche Kolleginnen und Kollegen sowie die Schulleitung in unregelmäßigen Abständen. Dies trägt dazu bei, mit Schwierigkeiten geordneter umzugehen, Wirkungszusammenhänge zu erkennen und die eigene Rollenklärung permanent wach zu halten und zu betreiben. Dabei helfen erwachsenenspezifische Methoden, auf die es sich einzulassen lohnt. Durch Supervision wird die Selbstwirksamkeit von Personen im personalen und berufsbezogenen Bereich gestärkt, was u. E. als wesentliche Voraussetzung zur Erhaltung der Berufszufriedenheit und Gesundheit anzusehen ist. 17. Baustein Schüler stärken: Prävention durch Stärkung Seit Jahren bewährt sich ein Präventionsprogramm zum Umgang mit Gewalt in der Schule, welches durch spezielle Interaktionsspiele und der Bearbeitung von typischen Konfliktsituationen personale Kräfte der Kinder ausbauen hilft. Die bei der Schulung erworbenen Kompetenzen helfen in Verbindung mit den Verhaltensgrundsätzen der Präambel bei der aktuellen Konfliktbewältigung und bieten für Lehrkräfte und Schüler gleichermaßen ein Interventionsraster. Dies gibt Handlungssicherheit in Notsituationen und entstresst vor allem Lehrkräfte.
Fachliche und personale Kompetenzen als individuelle Widerstandsressourcen im Umgang mit Störfeldern im Schulalltag weiterentwickeln – Professionelles Selbstverständnis der Lehrkräfte fördern Schauen wir nochmals auf die Konstruktion des institutionellen Sockels einer Schule. Die Tragfähigkeit und Verlässlichkeit entscheidet darüber, wie hoch die persönliche Balancierleistung sein muss, um den Anforderungen des Schulalltags gewachsen zu sein. Besondere Herausforderungen verursachen Stressoren (s. Stresspfeile, ⊡ Abb. 6.3). Vielgenannte typische Stressoren im Lehrerinnen- und Lehreralltag sind: überzogene Erwartungen von Eltern, enge Erlassvorgaben, geringe gesellschaftliche Anerkennung, Zeit- und Leistungsdruck, Lärm im Unterricht, Gewaltsituationen, undisziplinierte Schüler, Mobbing, Krankheit/Sucht, soziale Krisen/Konflikte und etliche andere. Diese Stressoren attackieren und bedrängen die Lehrkräfte, die, um im Bild zu bleiben, auf dem »Sockel Schule« nach Gleichgewicht suchen. Sie sorgen für permanentes Ungleichgewicht, das nur durch dynamisches Balancieren immer neu in den Griff bekommen werden kann. Pädagoginnen und Pädagogen erleben diesen Zustand oft als belastend oder spannungsreich, selbst wenn der Prozess der aktiven Gleichgewichtsgewinnung von ihnen auch als produktiv und stimulierend empfunden wird. Schon durch kleine Erfolge entsteht Lernzuwachs im Handlungsrepertoire jeder/s Einzelnen und führt somit zu einer kontinuierlichen Verbesserung des Kohärenzgefühls. Zurück zum Erklärungsmodell: Dem »Artisten« stehen beim Balancieren auf dem Sockel fachliche und personale Qualifikationen zur Verfügung, die wie eine »Kompetenz-Balancierstange« zur Steigerung der persönlichen Sicherheit führen, und mit deren Hilfe Gleichgewichtsstörungen schnell ausgeglichen werden können. Dabei ist die Wirkung von der Länge und Elastizität der »Balancierstange« abhängig, die hier sinnbildlich für vorhandene fachliche und personale Kompetenzen und für das professionelle Selbstverständnis stehen soll. Die Länge (die Kraft des Kompetenzgefüges) der persönlichen »Balancierstange« ist individuell unterschiedlich, denn sie ergibt sich aus der Anzahl der »Teilstücke« (fachliche und personale Kompetenzen), aus der die Stange »zusammengesteckt« wird. Klar ist aus physikalischer Sicht, dass mit einer längeren Balancierstange der Umgang mit der Schwerkraft erfolgreicher zu bestreiten ist. So wird schnell plausibel, warum der Umgang mit Stressoren so unterschiedlich gut gelingt (⊡ Abb. 6.5).
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116
Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Berufliche und private Stressoren
Selbstkompetenzen
petenzen e Kom sozial
6
Fachkompe t
enzen
»Kompetenz-Balancierstange« – je nach vorhandenen Voraussetzungen (länger oder kürzer) wirkungsvoll (s. Pkt. 4)
Profil der Kuppe als sichernder und bewegungsfördernder Balanciergrund (s. Pkt. 5) Wertschätzung (1) Lebenszeitmanagement(5)
Schulklima (4)
Kind- und Lehrergerechte Rhythmisierung (8)
Schule als Lernund Lebensraum (11)
ÖffentlichkeitsGeben und arbeit; Öffnungs- Nehmen (SLZ) zeiten Schule (6) (14) Erfolge bilanzieren (3) Gesundheitsmanagement (10) Vernetzungsarbeit, Ressourcenbündlung (7)
Schüler stärken; Gewaltprävention (17) Supervision (16)
Professionelles Selbstverständnis im Unterrich (13)
Kraft tanken: Ruhebereich f. Erwachsene (12) Demokratische Beteiligungsmodelle Steuerungsausschuss (2) Anerkennungskultur Forum (15) Arbeitsplatz Schule, Ergonomie (9)
Schulprogramm mit Zielen und schulorganisatorischen Entscheidungen ⊡ Abb. 6.5. Mit individuellen Ressourcen Gleichgewichtsstörungen ausbalancieren
Institutioneller Sockel (s. Pkt. 4)
117 6.5 · Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte
Aus den Teilstücken der »Kompetenz-Balancierstange« formt sich das professionelle Selbstverständnis jeder Lehrkraft. Es besteht aus: ▬ fachlichen Kompetenzen (fachspezifische Kenntnisse und die Fähigkeit, Unterricht differenziert und effizient durchzuführen), ▬ sozialen Kompetenzen (Kooperations-, Konfliktbearbeitungs-, Führungsfähigkeit), ▬ Selbstkompetenzen (Selbstreflexion, prosoziale Problemlösungsstrategien, Veränderungsbereitschaft, Kohärenzsinn, Frustrationstoleranz). Ermutigend für den Umgang mit Stress ist, dass diese Widerstandsressourcen erlernbar sind, so dass bei Gleichgewichtsstörungen an der Verlängerung und damit an der Wirkung der »Kompetenz-Balancierstange« weitergearbeitet werden kann. Beim Fehlen eines professionellen Selbstverständnisses und dem Fehlen von institutioneller Stütze helfen auch die Tipps und Tricks zum Stressabbau (z. B. mehr Lachen und Fröhlichkeit, Entschleunigung, Handy ausschalten, ausreichender guter Schlaf, Essen mit Zeit, Wellness, Fitness) allein nicht weiter, denn sie sind nur im Einklang mit diesen Bedingungen ursachenorientiert und hilfreich.
Stress bewegt balancieren – ein diskursiv angelegter Balanceakt zwischen Herausforderungen, Belastungen, individuellen Bewältigungsstrategien und institutionellen Ressourcen: Wertschätzungskultur als wichtigster Erfolgsparameter Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das System Schule durch die Ausbildung des tragenden institutionellen (Balancier-)Sockels entscheidend dazu betragen kann, dass Schüler wie auch Lehrkräfte sicheren, verlässlichen Halt beim Ausbalancieren der (Schul-)Alltagsbelastungen auf ihm finden. Verhältnisse (Verhältnisprävention, mit Verbesserung der arbeitsorganisatorischen, sozialen und technischen, ergonomischen Faktoren) haben Wirkungen auf Verhaltensweisen von Menschen (Verhaltensprävention, mit Erweiterung der personalen Kompetenzen) und Verhaltensweisen beeinflussen gleichermaßen Verhältnisse. Das jeweilige Schulprogramm verbindet durch seine »Bausteine« Verhältnis- und Verhaltensprävention zu einem fruchtbaren ganzheitlichen Wirkungsgefüge, das die Grundlage zu höherer Selbstwirkungskraft der Lehrkräfte und auch der Institution bildet. Wichtig ist, bezogen auf das Bildbeispiel, dass die Balancierfläche (s. 1. Baustein: Wertschätzung) ganz oben auf der Kuppe des Sockels durch die passende Wölbung dafür sorgt, dass der »Artist« sich nicht zu sicher fühlt (bei waagerechter oder nur leicht gewölbter Kuppe) und darüber aufhört, sich zu bewegen. Statt dessen
ist ein herausforderungsreiches Anforderungs-«Profil« der Sockelkuppe (weder zu spitz noch zu platt) notwendig, um im Zusammenspiel aller verunsichernden Faktoren gelegentlich ins Ungleichgewicht zu geraten, um im Vertrauen auf das eigene Können erneut in die Balance zu kommen. Wenn die diskursive Verknüpfung von Stressoren, von individuellen und institutionellen Kräften gelingt, steht der Entwicklung eines positiven Spannungsfelds mit hoher Schubkraft für die Schulentwicklung und für die Gesunderhaltung wenig entgegen. Dies sorgt für motivierende Spannung, erhält die individuelle Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und Arbeitszufriedenheit. »Stress bewegt balancieren« stärkt die Widerstandsressourcen und den Kohärenzsinn, ganz im Sinne der Salutogenese.
Literatur Abeling I, Städtler H (2004) Lernen mit Kopf, Herz, Hand und Fuß in der Fridtjof-Nansen-Schule Hannover. In: Zimmer R, Hunger I (Hrsg) Wahrnehmen Bewegen Lernen – Kindheit in Bewegung. Karl Hofmann Verlag, Schorndorf, S 77–82 Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dgvt, Tübingen Klippert H (1999) Methoden-Training. Beltz, Weinheim Praxisbüro Gesunde Schule Hannover, Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen (2005) Gesundheitsaudit Schiffer E (2001) Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Belz, Weinheim Basel
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
6.5
Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte: das schweizerische Forschungsprojekt supra-f Bernhard Meili
6
In der Schweiz liegt die öffentliche Gesundheit grundsätzlich im Kompetenzbereich der Kantone. Bei Problemlagen mit besonderem Handlungsbedarf kann der Bundesrat, oft auch auf politischen Druck hin, selbst aktiv werden. Dies war anfangs der 1990er Jahre der Fall, als die Auswirkungen der Drogenprobleme erhebliche Ausmaße angenommen hatten: offene Drogenszenen in Großstädten verbunden mit hoher Morbidität und Mortalität, HIV-Infektionen, Gewalt und Kriminalität. Die pragmatische Ausrichtung der nationalen Drogenpolitik auf die vier Säulen Prävention, Behandlung, Schadenminderung und Repression fand eine breite Unterstützung in Politik, Fachwelt und Bevölkerung. Besonders der Prävention wurde große Bedeutung beigemessen. Der Bund förderte die Kantone ideell und finanziell beim Auf- und Ausbau der Suchtprävention. Die landesweite Medienkampagne »Drogen nüchtern betrachtet« begleitete diese Maßnahmen und gab ihnen den nötigen Rückhalt. Mit langfristigen, zehn Jahre und länger durchgeführten nationalen Präventionsprogrammen in den Lebenswelten (»Settings«) Schule, Jugendheim, Jugend- und Sportverband, Familie und Gemeinde konnte der Informationsstand der Bevölkerung und die Akzeptanz der »VierSäulen-Politik« gefördert werden. Unzählige Bildungsangebote und Einzelprojekte stärkten die präventive Kompetenz der Erwachsenen in den genannten Lebenswelten. Diese Mobilisierungs- und Sensibilisierungsprogramme waren überall beliebt, erreichten alle Landesgegenden und zeigten auf, welche Vielfalt die Prävention bieten kann. Wird die Suchtprävention aber nach ihrem eigentlichen Auftrag beurteilt, die Entstehung von Abhängigkeit und weitere drogenbedingte Probleme zu verhindern, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Der Substanzkonsum bei Schweizer Jugendlichen entwickelt sich nach wie vor ungünstig (Narring et al. 2004; Schmid 2004; Bundesamt für Statistik 2003). Es stellt sich die Frage: Hat die Prävention etwas falsch gemacht?
Universelle, selektive und indizierte Prävention In der Fachliteratur finden sich hauptsächlich zwei Gliederungsarten von Prävention: die klassische Unterscheidung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention, die sich auf den Zeitpunkt der präventiven Intervention bezieht, und die neuere Unterscheidung nach Zielgruppen in universelle, selektive und indizierte Prävention (Institute of Medicine 1994).
▬ Universelle Prävention richtet sich an alle Mitglieder einer fest umrissenen Gemeinschaft, wie die Gesamtbevölkerung eines Landes, eines Kantons, einer Gemeinde, eines Betriebes oder einer Schulklasse. ▬ Selektive Prävention richtet sich an Teilgruppen bzw. Kontexte, die aufgrund plausibler Gründe (z. B. erhöhtes Risiko für spätere Suchtprobleme) für eine Intervention ausgewählt werden, z. B. Kinder drogenkranker Eltern, Jugendliche mit abgebrochener Berufslehre, Jugendheime oder Stadtquartiere mit hoher Kriminalität. ▬ Indizierte Prävention schließlich richtet sich an Individuen mit erkanntem Risiko. Suchtprävention in der Schweiz war bis heute überwiegend »universell« und primärpräventiv. Damit können aber offenbar die tatsächlich gefährdeten Kinder und Jugendlichen nicht oder nur ungenügend erreicht werden. Wie ein publizierter Bericht des Europäischen Zentrums für Drogenmonitoring (Burkhard 2004) zeigt, hat dieser Befund viele Länder veranlasst, konkrete Projekte für vulnerable Gruppen zu fördern. Der Bericht beschreibt über 50 solcher Projekte aus den EU-Mitgliedsländern und Norwegen.
Vorteile der selektiven und indizierten Prävention Nur ein kleiner Teil von jungen Menschen, die mit Drogen experimentieren oder einen gelegentlichen Drogenkonsum zeigen, entwickelt später im Leben ernsthafte Drogenprobleme. Die Forschung geht deshalb davon aus, dass die Vulnerabilität (Gesamtheit der Risikofaktoren) und die Resilienz (Gesamtheit der Ressourcen) einen wichtigen Einfluss auf die tatsächliche Gefährdung des adoleszenten Substanzkonsums haben. Im Unterschied zur universellen Prävention bemüht sich die selektive Prävention um eine gut begründete Einschränkung ihrer Zielgruppe. Nur diejenigen Jugendlichen sollen eine präventive Intervention erhalten, die aufgrund ihrer »Risiko-Ressourcen-Bilanz« eine erhöhte Gefährdung im Hinblick auf ihre Gesundheit und ihre soziale Integration aufweisen. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die drei Risikofaktoren psychische Probleme, Verhaltensauffälligkeiten und Substanzkonsum wichtige Prädiktoren künftiger gesundheitlicher und sozialer Probleme sind. Jugendliche, bei denen die drei Risikofaktoren gleichzeitig auftreten und die zusätzlich eine belastete soziale Ausgangslage (z. B. zerrüttete Familienverhältnisse) aufweisen, sind dabei besonders gefährdet (⊡ Abb. 6.6). Jugendliche fallen durch einen frühen oder starken Konsum von Alkohol, Tabak und anderen Drogen, durch Anpassungs- und Verhaltensprobleme in der Schule und/oder durch Ängstlichkeit, Depressionen oder Selbst-
119
6.5 · Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte
mordgedanken auf. Diese Auffälligkeiten sind oftmals in verschiedenen Kombinationen gleichzeitig oder in einer zeitlichen Abfolge miteinander verbunden. Das Gefährdungsmodell bildet die Grundlage der präventiven Intervention, bei der einerseits Risikofaktoren vermindert und andererseits Ressourcen der Jugendlichen und der Umwelt gestärkt werden (Bundesamt für Gesundheit 2005). Die selektive Prävention ermöglicht bei einem gegebenen Präventionsbudget für eine Teilgruppe eine höhere »Dosis« Prävention als für die Gesamtpopulation. So können z. B. gezielte Verhaltenstrainings für Eltern mit ErzieRisikofaktor I Psychische Probleme Soziale Ausgangslage
Risikofaktor II Verhaltensauffälligkeiten
hungsschwierigkeiten angeboten werden. Auf der anderen Seite hat die selektive Prävention aber auch ein Problem. Ihre »Treffsicherheit« bei der Auswahl der Jugendlichen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ist oft sehr beschränkt. Viele Jugendliche aus der Risikogruppe werden nie Drogenprobleme und solche außerhalb der Risikogruppe werden sehr wohl Drogenprobleme haben. Damit verbunden ist das Problem der Stigmatisierung von Jugendlichen aus Risikogruppen. Eine interessante Alternative zur selektiven Prävention bietet die indizierte Prävention, bei der nur einzelne Jugendliche in ein Präventionsprogramm aufgenommen werden. Über ein solches Modell aus der Schweiz wird im Folgenden berichtet.
Das Interventionsforschungsprogramm supra-f Künftige gesundheitliche und soziale Probleme
Risikofaktor III Substanzkonsum ⊡ Abb. 6.6. Die drei Risikofaktoren des Gefährdungsmodells (Bundesamt für Gesundheit 2005)
Mit einem Mehrzentrenansatz sollte ein mehrjähriges Lernfeld für Praxis und Forschung in der indizierten Prävention geschaffen werden. Die landesweite Ausschreibung im Jahr 1998 zur Teilnahme an supra-f (Suchtprävention und Forschung) erbrachte etwa 20 Projektgesuche, von denen 15 genehmigt wurden. Das zugrunde liegende Interventionsmodell ermöglichte eine gewisse Flexibilität innerhalb eines klaren Rahmens (⊡ Abb. 6.7).
Zielgruppe
11-20-jährige Jugendliche in erschwerten Lebenslagen mit Verhaltensauffälligkeiten wie z.B. schulischem Versagen (auch Time-Out-Schüler/-innen), Suchtmittelkonsum, Gewaltanwendung, Delinquenz, Depressivität, Ängstlichkeit oder Suizidgefährdung
Früherkennung und Zuweisung
Durch Schulen, LehrmeisterInnen, Sozialdienste, Jugendämter, Erziehungsberatungen, Vormundschaftsverwaltungen, Jugendgerichte oder auch durch die Eltern direkt
supra-f Intervention
- Eintrittsgespräch; z.T. Probezeit; Vereinbarung zwischen zuweisender Stelle, supra-f Zentrum, Eltern und dem/der Jugendlichen - Ca. 6 Monate; ambulant; je nach Problemlage 1-5 Kontakte pro Woche - Bezugspersonenarbeit und Problemanalyse mit individueller schulischer Förderung, Berufsberatung sowie Training von Sozialkompetenzen und Problemlösefertigkeiten - Vermittlung von Tagesstruktur durch praktische Tätigkeiten in Werkstatt und Haushalt und Gestaltung von Freizeitaktivitäten
Beabsichtigte Wirkung
Kurzfristig: - Integration in Schul-, Berufs-, Familien- und Gesellschaftsalltag - Weniger Substanzkonsum - Weniger gewalttätiges und delinquentes Verhalten - Verbesserung des Befindens (weniger Ängstlichkeit und Depressivität) Längerfristig: - Verhinderung von Heimeinweisungen, Arbeitslosigkeit, Fürsorgeabhängigkeit, Sucht, Suizid und Delinquenz
⊡ Abb. 6.7. Das supra-f-Interventionsmodell (Meili 2004)
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120
6
Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Letztlich konnten sich zwölf supra-f-Präventionszentren in mittleren und größeren Städten der deutschen und französischen Schweiz stabilisieren.
geführt. Einen Überblick über die Programmschritte von der Implementierung bis zur Etablierung ist der ⊡ Abbildung 6.8 zu entnehmen.
Wichtig ist vor allem der Erhalt und die Stärkung » sozialer Unterstützungssysteme und entsprechender Einrichtungen (Setting-Bezug). « Dr. Wilfried Kunstmann, Bundesärztekammer, Berlin
Die Intervention
Während der vierjährigen Forschungsphase von Anfang 2000 bis Ende 2003 erhielten die Zentren eine finanzielle Bundeshilfe von maximal 50% ihres Budgets. Die jährlichen Betriebskosten pro Zentrum belaufen sich im Durchschnitt auf rund 280.000 Euro. Bei einer Betreuung von 30 Jugendlichen macht dies rund 9000 Euro pro Person aus. Zum Vergleich: Die Jahreskosten in einem Jugendheim betragen ca. 100.000 Euro pro Jugendlichem. Seit Beginn 2004 werden erfreulicherweise alle zwölf Zentren durch kommunale, kantonale und weitere Beiträge, aber ohne Bundeshilfe weitergeführt. Die Programme werden in einem eigenen Haus oder Hausteil angeboten und teils von den Kommunen, teils von privaten Trägern
Supra-f versteht sich als indizierte Prävention für gefährdete Kinder und Jugendliche zwischen elf und 20 Jahren. Die Intervention zielt auf die Stärkung individueller Ressourcen und gleichzeitig auf die Verminderung individueller Risiken bzw. Belastungen ab (⊡ Tabelle 6.2). Die Risiken-Ressourcen-Bilanz soll somit verbessert werden. Die Intervention ist auf zwei Ebenen angesiedelt: erstens auf der Ebene der Struktur, indem ein lebendiges, interdisziplinär geführtes Zentrum mit Räumen für Schulung, Werkstatt, Gesprächsgruppen, Freizeitgestaltung, Küche u. a. angeboten wird. Zweitens auf der Ebene der persönlichen Dienstleistungen mit pädagogischen, psychologischen und schulischen Angeboten sowie Freizeitaktivitäten. Das Besondere an supra-f ist die Verknüpfung eines für die Jugendlichen attraktiven Raumes mit einem
⊡ Tabelle 6.2. Die Handlungsebenen der Prävention, Beispiele (Meili 2004) Auf das Individuum gerichtet
Auf die Umwelt gerichtet
Ressourcen stärken
Entspannungstechniken lernen
Elterngruppen einrichten zur Stärkung der Normensicherheit und der Erziehungskompetenz
Belastungen (Risiken) vermindern
Cannabiskonsum kontrollieren lernen
Kollegiumsarbeit zur Verminderung von Chaos bzgl. Regeln und Normen
Anschubfinanzierung durch den Bund - max. 50 % der Kosten - jedes Jahr weniger Präventionszentren entstehen in größeren Kommunen Begleitforschung wird aktiv Präventionszentren erproben das Interventionsmodell s. Abb. 6.7 Präventionszentren gehören zur Regelversorgung der Gemeinde ⊡ Abb. 6.8. Implementierung und Etablierung der supra-f-Präventionszentren in der Schweiz
121 6.5 · Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte
relativ klar strukturierten, verbindlichen, auf sechs Monate begrenzten Programm. wichtige Frage ist: Wie lässt sich im Bereich der » Eine individuellen Stressprävention der Transfer erlernter Strategien zur Stressbewältigung in den Alltag nachhaltig und langfristig sichern? Prof. Dr. Gert Kaluza, GKM-Institut für Gesundheitspsychologie, Marburg
«
Die Intensität der Programme variiert je nach Zentrum und Situation des Jugendlichen: Von der Schule vorübergehend freigestellte bzw. ausgeschlossene Jugendliche gehen täglich in das Programm, andere vielleicht nur am Mittwochnachmittag, wieder andere jeden Tag nach der Schule usw. Es gibt Einzel- und Gruppenaktivitäten. Zehn Präventionszentren bestehen für Jungen und Mädchen, wobei die Mädchen immer deutlich in der Minderzahl sind. Eine Stadt führt je ein Zentrum für Jungen und eines für Mädchen. Die Jugendlichen kommen in aller Regel nicht von sich aus in ein Zentrum, sondern werden meistens durch Lehrkräfte, teilweise auch durch Jugendämter und Jugendanwaltschaften zugewiesen. Erforderlich ist immer das Einverständnis der Erziehungsberechtigten und des Jugendlichen. Wichtig ist, dass sich die Projektleiter persönlich in den Schulen und bei anderen möglichen Zuweisern vorstellen und das Programm beschreiben. Für die Früherkennung der gefährdeten Jugendlichen braucht es keine besondere »Schulung«, sondern eine natürliche Achtsamkeit im Umgang mit Jugendlichen und das Wissen über ein passendes Angebot.
Der Forschungsplan Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat das Zentrum für Rehabilitations- und Gesundheitspsychologie der Universität Fribourg mit der supra-f-Forschung beauftragt. Dieses sollte folgende Fragen beantworten: Können mit der vorgesehenen präventiven Intervention tatsächlich
gefährdete Jugendliche erreicht und im Programm gehalten werden? Welcher Art sind diese Gefährdungen und welche Gefährdungsmuster sind erkennbar? Verändern sich die Jugendlichen in der gewünschten Richtung? Welche Auffälligkeiten haben eine Vorhersagekraft für spätere Probleme? Welche sind dagegen nur vorübergehender Natur? Sind die Veränderungen über die Zeit stabil? Sind die Zuweiser, wie Lehrkräfte, Jugendämter oder -anwälte, mit dem Programm zufrieden? Supra-f wurde als Multi-Zentren-Studie mit zwölf Präventionszentren und zwölf Vergleichsgruppen4 installiert. Interventions- und Kontrollgruppe bilden zusammen die supra-f-Kohorte, die insgesamt an fünf Zeitpunkten in eine Datenerhebung einbezogen wurde (⊡ Abb. 6.9).
Die supra-f-Population Die supra-f-Forschung befragte von Mitte 1999 bis April 2005 1525 Jugendliche im Alter von elf bis 20 Jahren zum ersten Messpunkt T0. Davon haben 1025 eines der zwölf supra-f-Zentren besucht, die übrigen 500 waren in der Vergleichsgruppe ohne Intervention. Die Vergleichsgruppe war bezüglich der Risiken bei der ersten Messung T0 recht ähnlich ausgestattet wie die Interventionsgruppe. Wie sich zu den späteren Messpunkten T1 und T2 zeigte, erhielten 16% der Jugendlichen in der Vergleichgruppe ebenfalls zwischenzeitlich medizinische und/oder psychosoziale Angebote. Die folgenden Zwischenergebnisse beruhen auf dem Stand von April 2004 mit 1420 Jugendlichen (Bundesamt für Gesundheit, 2004) (⊡ Tabelle 6.3). Die Mädchen in der Interventionsgruppe sind mit 21% gegenüber rund 50% in der Normalpopulation unterproportional vertreten. Supra-f scheint also eher ein Angebot für die »lauten« Auffälligkeiten der Jungen zu sein. Das
4
Gruppe mit vergleichbaren Jugendlichen ohne supra-f-Interventionen
6
122
Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Seit Mitte 1999
Eintrittserhebung T0 Interview & Fragebogen 6 Monate
Dropouts
Zwischenmessung T1
Interview & Fragebogen
12 Monate Follow-up T2
Interview & Fragebogen
Dropouts
6
Kohortenstudie 2005/2007 Fragebogen
Dropouts
Dropouts
⊡ Abb. 6.9. Der supra-f-Forschungsplan
⊡ Tabelle 6.3. Die supra-f-Population Gruppe
Männlich
Weiblich
Total
n
%
n
%
n
%
Interventionsgruppe
304
22
101
7
405
29
Vergleichsgruppe
134
9
75
5
209
14
Insgesamt
438
31
176
12
614
43
Interventionsgruppe
327
23
195
14
522
37
Vergleichsgruppe
186
13
98
7
284
20
Insgesamt
513
36
293
21
806
57
Total
951
67
469
33
1420
100
Alter 11–15 Jahre
Alter 16–20 Jahre
einzige »Nur-Mädchen-Zentrum« ist allerdings ständig voll belegt, was den Bedarf an geschlechtsspezifischen Programmen zeigt. Die erste zu überprüfende Forschungsfrage war: Wird die angestrebte Zielgruppe der gefährdeten Jugendlichen überhaupt erreicht? Nach einem Vergleich der supra-fJugendlichen mit einer Normalpopulation von Gleichaltrigen (Narring et al. 2004) ist dies recht gut der Fall. Obschon die Jugendlichen nicht primär wegen Drogenkonsum, sondern infolge anderer Verhaltensauffälligkeiten in ein supra-f-Zentrum gelangen, weisen sie einen erheblich höheren Tabak- und Cannabiskonsum als die Normalpopulation auf. Zum Beispiel konsumieren 12% der supra-f-Jugendlichen täglich Cannabis gegenüber
4% in der Normalpopulation. Von den 16-jährigen supra-f-Jugendlichen rauchen bereits 64% täglich Zigaretten gegenüber 23% in der Normalpopulation. Dies ist ein Hinweis darauf, dass der Fokus bei der Identifizierung auffälliger Jugendlicher nicht auf Substanzkonsum gelegt werden muss, um eine Gefährdung zu erkennen. Sinnvoller ist es, die allgemeine Befindlichkeit, das Sozialverhalten und das schulische Verhalten im Auge zu behalten und bei größeren Auffälligkeiten frühzeitig zu reagieren. Die nächste Frage war: Können diese auffälligen Jugendlichen in einem Präventionsprogramm von rund sechs Monaten überhaupt gehalten werden? Die Haltequote von 83% ist für ein ambulantes Programm sehr gut
123 6.5 · Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte
Gedanken = 20 % Versuch = 7 %
keine Symptome N = 952 (67 %)
Tabak = 59 % Alkohol = 53 % Cannabis = 41 %
Gedanken = 75 % Versuch = 38 %
Depression 1 & Angst hoch 2 N = 230 (16 %)
Tabak = 74 % Alkohol = 70 % Cannabis = 58 %
Suizidalität
Konsum
3
Gedanken = 56 % Versuch = 22 %
Angst hoch N = 207 (15 %)
Tabak = 67 % Alkohol = 65 % Cannabis = 48 %
Gedanken = 32 % Versuch = 10 %
Depression hoch N = 42 (3 %)
Tabak = 53 % Alkohol = 52 % Cannabis = 38 %
⊡ Abb. 6.10. Symptomgruppen und Komorbidität. 1Depression (Hautzinger u. Bailer 1983). 2Skalierung vierstufig »selten bis meistens, State-Trait-Angstinventar (Laux et al. 1981), Skalierung vierstufig »überhaupt nicht« bis »sehr«. 3Arènes et al. 1998, drei Items, Ja-/Nein-Antworten
und spricht für das jugendgerechte Klima des Programms. Dies wird auch dadurch bekräftigt, dass nie über negative Stigmatisierung berichtet wurde, was von manchen Präventionsfachleuten als Kritikpunkt gegen Frühintervention angeführt wird.
sich die Gruppe der nur depressiven Jugendlichen einzig durch eine erhöhte Suizidalität von der nicht auffälligen Gruppe unterscheidet.
Wirkungen von supra-f Morbidität und Komorbidität Das gleichzeitige Vorkommen internaler und externaler Symptome (Komorbidität) ist nicht nur bei Drogenabhängigen, sondern auch bereits bei Gefährdeten eine Realität. Da Depression und Ängstlichkeit verbreitete Symptome im Jugendalter sind, bildete die supra-f-Studie über diese Variablen vier Morbiditätsgruppen (keine Symptome, Depression und Angst hoch, nur Angst hoch, nur Depression hoch). Diese vier Gruppen unterscheiden sich mehrheitlich signifikant bezüglich ihres Substanzkonsums und ihrer Suizidalität (⊡ Abb. 6.10). Zwei Drittel der supra-f-Jugendlichen sind psychisch nicht auffällig, haben aber einen hohen Substanzkonsum (59% Raucher, 41% Cannabiskonsumenten). Die Gruppe mit hoher Depression und hoher Ängstlichkeit (16%) ist gleichzeitig die Gruppe mit dem stärksten Substanzkonsum (74% Raucher, 58% Cannabiskonsumenten) und der höchsten Suizidalität (38% Versuch, 75% daran gedacht). Die Gruppe der nur ängstlichen Jugendlichen (15%) weist ebenfalls relativ hohe Komorbiditätswerte auf, während
Die unterschiedliche Ausstattung der supra-f-Jugendlichen mit Ressourcen und Belastungen bedeutet, dass Gefährdete keine homogene Gruppe darstellen. Deshalb lassen sich Effekte nur sinnvoll über eine differenzierte Analyse untersuchen. Mittels Clusteranalyse wurden drei Gruppen gebildet, die sich in den Variablen »psychische Befindlichkeit«, »Beziehung zu den Eltern« und »Delinquenz/Suizidalität« unterscheiden. 49% gehören demnach zur Gruppe mit geringer Gefährdung, 37% haben eine mittlere und 14% eine hohe Gefährdung. Mädchen sind in der Gruppe mit hoher Gefährdung übervertreten (26%), was darauf hinweisen kann, dass »stillere« Auffälligkeiten, die für Mädchen typisch sind, später in Erscheinung treten als die mehr störenden Verhaltensweisen der Jungen. Im Selbstverständnis der zwölf supra-f-Präventionszentren steht die soziale Integration der gefährdeten Jugendlichen im Mittelpunkt. Dies ist durchaus verständlich, weil die Zuweisung der Jugendlichen häufig mit drohender oder bereits eingeleiteter sozialer Desintegration (Schulausschluss, Lehrabbruch, von zu Hause weglaufen usw.) zu tun hat. Die Zufriedenheit der Zuweiser dürfte
6
124
6
Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
also weitgehend davon abhängen, ob supra-f zur Integration beiträgt oder nicht. Bei Austritt aus dem Programm haben 72% der wenig Gefährdeten wieder einen festen Platz in der Schule, eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz (⊡ Tabelle 6.4). In der Gruppe der am meisten Gefährdeten sind es nur 60%, was zum Teil mit dem höheren Alter der Jugendlichen und dem Mangel an Lehr- und Arbeitsstellen zusammenhängen kann. Die Reduktion des delinquenten Verhaltens, ein Korrelat der sozialen Desintegration, ist den Zuweisern ebenfalls ein Anliegen. Die Veränderung des Verhaltens zeigt tatsächlich eine Verbesserung (⊡ Abb. 6.11): Je nach Gefährdungsgrad und Alter zeigt sich in der Interventionsgruppe eine Abnahme von 14–28%, was etwas größer ist als in der Vergleichsgruppe (8–18%).
⊡ Tabelle 6.4. Soziale Integration nach Gefährdungsgruppe (in Prozent) Integriert in:
Gefährdung niedrig n=699
mittel n=521
hoch n=200
Schule
49
37
27
Lehrstelle
16
22
25
Arbeitsplatz
7
10
8
Jugendheim u. a. Unterbringungen
14
18
20
Nicht integriert
14
13
20
30 28
25 22
21
20 18
15
18
17
16
Interventionsgruppe
14
Vergleichsgruppe
13 11
10 8
8
5
0 niedrig
mittel
hoch
niedrig
11 bis 15 Jahre
mittel
hoch
16 bis 20 Jahre
Gefährdung
⊡ Abb. 6.11. Jugendliche, bei denen sich das delinquente Verhalten bei Interventionsende (T1) verringert hat (in Prozent)
125 6.5 · Warum Prävention vermehrt bei gefährdeten Jugendlichen ansetzen sollte
Die Wirkung der supra-f-Intervention auf den Substanzkonsum ist gering und nicht eindeutig. Dies ist insofern nicht überraschend, als die supra-f-Zentren kaum substanzbezogene Interventionen anbieten. Bessere Wirkungen zeigen sich hingegen beim aktiven Bewältigungsverhalten, das u. a. die Problemlösungs- und Planungsfähigkeit bezogen auf individuell anstehende Aufgaben umschreibt. Hier zeigen sich Verbesserungen von 11–31% in der Interventionsgruppe gegenüber kleineren Werten von 6–22% in der Kontrollgruppe.
Zusammenfassung und Diskussion Die bisherigen Erfahrungen mit dem Interventionsprogramm supra-f sind widersprüchlich. Einerseits stieß das Programm auf breites Interesse, und alle zwölf Präventionszentren haben sich zu recht stabilen Unternehmen entwickelt, die heute ohne jede Bundesunterstützung ihre Dienste anbieten. Dies kann als Erfolg gewertet werden und ist vor allem dadurch zu erklären, dass es den supraf-Zentren gelungen ist, den durch schwierige Jugendliche oft überforderten Schulen und Jugenddiensten eine willkommene Entlastung anzubieten. Die soziale Stabilisierung und die verminderte Delinquenz der Jugendlichen sind für die Zuweiser ein Erfolg und dürften auch für die betroffenen Jugendlichen eine wichtige Etappe auf ihrem weiteren Weg des Erwachsenwerdens sein. Dass supra-f zumindest bisher beim Substanzkonsum und auch bei persönlichen Belastungen wie Depression und Ängstlichkeit keine überzeugenden Verbesserungen bewirken konnte, wird weder von den Behörden noch von den Zentren als Mangel zur Kenntnis genommen. Aus Sicht der Forschung sind folgende Erkenntnisse zentral: Gefährdete Jugendliche sind keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich stark in ihrer sozialen Ausgangslage, in ihrer sozialen Integration und ihrer Balance von Ressourcen und Belastungen. Aus diesem Grunde gibt es keine einfachen Rezepte zur Frühintervention bzw. indizierten Prävention. Was mit Sicherheit feststeht, ist die große Bedeutung einer zuverlässigen »Mehr-Ebenen«Diagnostik. Wer in der Frühintervention tätig ist, bedarf erstens einer guten Kenntnis seines Klientels. Zweitens sollten erprobte Interventionen beschrieben sein, die sich Fachleute aneignen können, um sie in der Praxis anzuwenden. Um hier einen Impuls zu geben, unterstützt das Bundesamt für Gesundheit zurzeit die Entwicklung und Erprobung eines einfachen Diagnostikinstrumentes und eines strukturierten Gruppenprogramms für Jugendliche mit Verhaltens- und emotionalen Problemen. Die rund 1500 Jugendliche, die seit 1999 in die supra-f-Intervention einbezogen wurden, wurden 2005 und werden 2007 nochmals einer Befragung unterzogen. Somit werden die Entwicklungsverläufe gefährdeter Jugendlicher hinsichtlich ihrer Gesundheit, ihres Drogenkonsums sowie
ihrer sozialen und beruflichen Integration bis ins junge Erwachsenenalter sowie evtl. Unterschiede zur Vergleichsgruppe beobachtbar (Bundesamt für Gesundheit 2005). Infobox
I
I
Das Projekt supra-f im Überblick Ziel Jugendliche werden in schwierigen Lebenssituationen dahingehend unterstützt, dass sich ihre Situation in Schule oder Berufslehre stabilisiert. Zudem werden ebenfalls eine Verbesserung des psychischen Befindens und eine Abnahme des Substanzkonsums angestrebt. Drogenkonsum, Delinquenz und Gewalt sollen reduziert und die soziale Integration sowie ein verantwortungsbewusster Lebensstil gefördert werden. Die präventive Intervention zielt somit auf eine Verbesserung der Risiko-Ressourcen-Bilanz der Jugendlichen, d. h. bestehende Belastungen sollen abgebaut und Ressourcen gestärkt werden. Zielgruppen Die Hauptzielgruppe des Programms supra-f richtet sich an Jugendliche im Alter von 11 bis 20 Jahren, deren Suchtgefährdung infolge bestehender Risikofaktoren erhöht ist. Risikofaktoren sind u. a.: ▬ frühe Verhaltensauffälligkeiten ▬ Hyperaktivität und Aggressivität ▬ Delinquenz ▬ Suizidversuch ▬ Konsum von Tabak ▬ Konsum von Alkohol ▬ Konsum von Cannabis ▬ Probleme in Schule und Berufslehre Die meisten Jugendlichen werden von der Schule zugewiesen. Jugendliche und Eltern müssen der Aufnahme in das Programm zustimmen. Intervention Die Intervention teilt sich in zwei Bereiche auf: ▬ die Strukturebene, die interdisziplinär geführte Präventionszentren u. a. mit Schulungsräumen, Werkstätten, Freizeiträumen beinhaltet, und ▬ die Ebene der persönlichen Dienstleistungen, die pädagogische, psychologische und schulische Angebote sowie Freizeitaktivitäten umfasst. Das Ausmaß der Intensität der Intervention variiert je nach der jeweiligen Situation des Jugendlichen und des Präventionszentrums (z. B. Hausaufgabenhilfe, Sprachförderung, Kommunikations- und Sozialtraining, Gruppengespräche, Einzelberatung, gemeinsames Mittagessen). Eine Begleitforschung überprüft die Wirksamkeit der Intervention. Weitere Informationen unter: www.supra-f.ch
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Literatur
6
Arènes J, Janvvrin MP, Baudier F (1998) Baromètre Santé jeunes 97/98. Editions CFES, Paris Bundesamt für Gesundheit (Hrsg) (2004) Suchtforschung des BAG 1999–2001. Prävention (2/3). BAG, Bern Bundesamt für Gesundheit (Hrsg) (2004) Frühintervention bei gefährdeten Jugendlichen; Zwischenergebnisse der supra-f-Forschung. BAG, Bern Bundesamt für Gesundheit (Hrsg) (2005) Bevor es zu spät ist. Neue Wege in der Prävention. Wirksame Unterstützung für Gemeinden. BAG, Bern Bundesamt für Statistik (2003) Schweizerische Gesundheitsbefragung 2002. BfS, Neuchâtel Burkhard G (2004) Selective prevention: First overview on the European situation. EMCDDA, Lisbon Hautzinger M, Bailer M (1983) ADS. Allgemeine Depressionsskala. Beltz, Weinheim Hüsler G (2002) supra-f ein Forschungsprogramm in der Sekundärprävention – Erste Resultate. Suchtmedizin – In Forschung und Praxis 4: 201–204 Institute of Medicine (1994) Reducing risks for mental disorders: Frontiers for preventive intervention research. National Academy Press, Washington, DC Laux L, Glanzmann P, Schaffner P, Spielberger CD (1981) Das StateTrait-Angstinventar (STAI). Beltz, Weinheim Meili B (2004) Indizierte Prävention bei gefährdeten Jugendlichen. Suchtmagazin 6: 21–25 Narring F, Tschumper A, Inderwildi Bonivento L et al. (2004) Gesundheit und Lebensstil 16- bis 20-Jähriger in der Schweiz. Raison de Santé, Lausanne Schmid H (2004) Trends im Konsum psychoaktiver Substanzen von Schülerinnen und Schülern in der Schweiz. SFA, Lausanne Uchtenhagen A, Meili B (2004) Entwicklungschancen fördern, Prävention zu Gunsten gefährdeter Kinder und Jugendlicher. Empfehlungen einer kollektiven Expertise. BAG, Bern
Bildquellennachweis für Fotos: Pressebüro Christoph Hoigné, Bern, Schweiz
6.6
Lebensweltbezogene Prävention: Ansätze und Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis Ulla Walter, Martina Plaumann (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Kinder und Jugendliche leiden vielfach unter Stress sowie psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen. Sie weisen zunehmend psychosozial bedingte (Befindlichkeits-)Störungen und Verhaltensauffälligkeiten wie Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und einen übermäßigen Alkoholkonsum auf (Ravens-Sieberer et al. 2003). Diese Entwicklung verzeichnen auch die Auswertungen der Routinedaten der KKH ( Kap. 4). Infobox
I
I
Bislang liegt in Deutschland keine bundesweit repräsentative Studie zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen vor. Mit dem derzeit vom Robert Koch-Institut durchgeführten bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (www.kiggs. de) sollen Daten aus verschiedenen gesundheitlichen Dimensionen – der körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheit – Risikofaktoren und ihre Manifestation anhand von Selbstangaben und objektiven Messwerten erhoben und miteinander verknüpft werden. Neben soziodemographischen Angaben werden körperliche Beschwerden und Befindlichkeiten, akute und chronische Krankheiten, aber auch psychische Gesundheit und Verhaltensauffälligkeiten, subjektive Gesundheit, soziale Kontakte, Unterstützungssysteme und personale Ressourcen der Kinder und Jugendlichen erfasst. Ziele sind vor allem die Beobachtung der gesundheitlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie die Identifizierung von Gesundheitsrisiken. Hierzu werden Daten von ca. 18.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 18 Jahren aus 167 Orten in Deutschland aufgenommen. Eine Primärprävention kann ich mir nur dahin gehend » vorstellen, dass wir uns nicht auf die Reduktion von stressenden Faktoren beschränken, sondern die stressprotektiven Faktoren besser herausstellen und dies auch in handlungsorientierten Präventionsempfehlungen kommunizieren. Hierzu bietet das von uns getragene Gesetz zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention eine hervorragende Möglichkeit. Es wäre sicher hilfreich, den künftig verantwortlichen Akteuren der Prävention die erforderlichen Hilfestellungen an die Hand zu geben. Ministerin Ursula von der Leyen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
Literatur
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Arènes J, Janvvrin MP, Baudier F (1998) Baromètre Santé jeunes 97/98. Editions CFES, Paris Bundesamt für Gesundheit (Hrsg) (2004) Suchtforschung des BAG 1999–2001. Prävention (2/3). BAG, Bern Bundesamt für Gesundheit (Hrsg) (2004) Frühintervention bei gefährdeten Jugendlichen; Zwischenergebnisse der supra-f-Forschung. BAG, Bern Bundesamt für Gesundheit (Hrsg) (2005) Bevor es zu spät ist. Neue Wege in der Prävention. Wirksame Unterstützung für Gemeinden. BAG, Bern Bundesamt für Statistik (2003) Schweizerische Gesundheitsbefragung 2002. BfS, Neuchâtel Burkhard G (2004) Selective prevention: First overview on the European situation. EMCDDA, Lisbon Hautzinger M, Bailer M (1983) ADS. Allgemeine Depressionsskala. Beltz, Weinheim Hüsler G (2002) supra-f ein Forschungsprogramm in der Sekundärprävention – Erste Resultate. Suchtmedizin – In Forschung und Praxis 4: 201–204 Institute of Medicine (1994) Reducing risks for mental disorders: Frontiers for preventive intervention research. National Academy Press, Washington, DC Laux L, Glanzmann P, Schaffner P, Spielberger CD (1981) Das StateTrait-Angstinventar (STAI). Beltz, Weinheim Meili B (2004) Indizierte Prävention bei gefährdeten Jugendlichen. Suchtmagazin 6: 21–25 Narring F, Tschumper A, Inderwildi Bonivento L et al. (2004) Gesundheit und Lebensstil 16- bis 20-Jähriger in der Schweiz. Raison de Santé, Lausanne Schmid H (2004) Trends im Konsum psychoaktiver Substanzen von Schülerinnen und Schülern in der Schweiz. SFA, Lausanne Uchtenhagen A, Meili B (2004) Entwicklungschancen fördern, Prävention zu Gunsten gefährdeter Kinder und Jugendlicher. Empfehlungen einer kollektiven Expertise. BAG, Bern
Bildquellennachweis für Fotos: Pressebüro Christoph Hoigné, Bern, Schweiz
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Lebensweltbezogene Prävention: Ansätze und Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis Ulla Walter, Martina Plaumann (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Kinder und Jugendliche leiden vielfach unter Stress sowie psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen. Sie weisen zunehmend psychosozial bedingte (Befindlichkeits-)Störungen und Verhaltensauffälligkeiten wie Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und einen übermäßigen Alkoholkonsum auf (Ravens-Sieberer et al. 2003). Diese Entwicklung verzeichnen auch die Auswertungen der Routinedaten der KKH ( Kap. 4). Infobox
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Bislang liegt in Deutschland keine bundesweit repräsentative Studie zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen vor. Mit dem derzeit vom Robert Koch-Institut durchgeführten bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (www.kiggs. de) sollen Daten aus verschiedenen gesundheitlichen Dimensionen – der körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheit – Risikofaktoren und ihre Manifestation anhand von Selbstangaben und objektiven Messwerten erhoben und miteinander verknüpft werden. Neben soziodemographischen Angaben werden körperliche Beschwerden und Befindlichkeiten, akute und chronische Krankheiten, aber auch psychische Gesundheit und Verhaltensauffälligkeiten, subjektive Gesundheit, soziale Kontakte, Unterstützungssysteme und personale Ressourcen der Kinder und Jugendlichen erfasst. Ziele sind vor allem die Beobachtung der gesundheitlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie die Identifizierung von Gesundheitsrisiken. Hierzu werden Daten von ca. 18.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 18 Jahren aus 167 Orten in Deutschland aufgenommen. Eine Primärprävention kann ich mir nur dahin gehend » vorstellen, dass wir uns nicht auf die Reduktion von stressenden Faktoren beschränken, sondern die stressprotektiven Faktoren besser herausstellen und dies auch in handlungsorientierten Präventionsempfehlungen kommunizieren. Hierzu bietet das von uns getragene Gesetz zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention eine hervorragende Möglichkeit. Es wäre sicher hilfreich, den künftig verantwortlichen Akteuren der Prävention die erforderlichen Hilfestellungen an die Hand zu geben. Ministerin Ursula von der Leyen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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127 6.6 · Lebensweltbezogene Prävention: Ansätze und Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis
Lebensbereiche
Familie mit den Zielgruppen Kinder/Jugendliche und Eltern
Präventionsansätze Eltern: Stärkung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen, z.B. durch kognitiv-verhaltensbezogene Programme Familie: Suchtprävention durch kombinierte ElternKinder- und Familientrainings
Kinder/Jugendliche: Lebenskompetenzprogramme zur Förderung von Selbstwahrnehmung, Empathie, Entscheidungsfähigkeit, Problemlösungsstrategien etc.
Kindergarten/Schule mit den Zielgruppen Kinder/Jugendliche, Lehrer/Erzieher, Eltern
Kinder/Jugendliche: Stressbewältigungstrainings zur Förderung von Stressbewältigungskompetenzen, Problemanalyse, Erproben und Bewerten unterschiedlicher Stressbewältigungsstrategien, Entspannungstechniken etc. Kinder/Jugendliche: Suchtprävention durch interaktive Unterrichtsmethoden Kinder/Jugendliche/Lehrer: Gesundheitsförderung, Mitbestimmung, kind- und lehrergerechte Rhythmisierung des Schulalltags, Entspannung, aktive Pause, ergonomische Möbel etc. Kinder/Jugendliche/Lehrer/Eltern: Mindmatters, Informationsmaterial über Förderung der psychischen Gesundheit etc.
Kinder/Jugendliche: Stressbewältigungstrainings zur Förderung von Stressbewältigungskompetenzen, Problemanalyse, Erproben und Bewerten unterschiedlicher Stressbewältigungsstrategien, Entspannungstechniken etc.
Außerhalb der Schule mit den Zielgruppen Kinder/Jugendliche, Eltern, (Kinder)Ärzte, Sozialpädagogen, Übungsleiter, weitere sozial Verantwortliche
verhaltensauffällige Kinder/Jugendliche: sozialpädagogische, psychologische, schulische Betreuung (Kinder-)Ärzte: Früherkennung verhaltensauffälliger Kinder z.B. bei U-Untersuchungen
⊡ Abb. 6.12. Ansätze zur Stressprävention in zentralen Lebensbereichen
Im vorliegenden Kap. 6 wurden Stressoren bei Kindern und Jugendlichen sowie Ansätze ihrer Prävention aufgezeigt. Prävention von Belastungen, die psychische und/oder physische Beeinträchtigungen hervorrufen, müssen in den zentralen Lebensbereichen ansetzen: in der Familie, in Kindergarten/Schule und außerhalb der Schule. Ansätze zur Prävention zeigt ⊡ Abb. 6.12. Die Beiträge stellen wissenschaftliche Studienergebnisse und praktische Erfahrungen dar. Sie verdeutlichen jedoch auch Wissenslücken hinsichtlich einer zielgruppenorientierten Konzeption und wirksamen Implementation von Präventionsmaßnahmen zur Stressbelastung und Suchtprävention. ⊡ Tabelle 6.5 zeigt Herausforderungen für
Wissenschaft und Praxis in den Lebensbereichen Familie, Kindergarten/Schule sowie außerhalb der Schule auf. sinnvolle primäre Prävention von Stress sollte die » Eine Umsetzung eines Konzeptes mit einem integrierten Ansatz von Bewegungsförderung, Förderung gesunder Ernährung und Konfliktbewältigung/Entspannung zum Gegenstand haben. Gleichzeitig sollte ein solcher Ansatz die Stärkung von Schutzfaktoren/Ressourcen, vor allem den Aufbau von unterstützenden sozialen Netzen umfassen. Dr. Elisabeth Pott, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln
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6
– Durchführung und Evaluierung von Stressbewältigungstrainings mit an die Entwicklung der Kinder/Jugendlichen angepassten Inhalten. – Identifikation geeigneter Interventionsorte
Außerhalb der Schule
– Sensibilisierung und Information der Kinder/Jugendliche, Eltern, Lehrer, (Kinder-)Ärzte, Sozialpädagogen, Übungsleiter, weitere sozial Verantwortliche – Entwicklung bzw. Modifikation von geeigneten Maßnahmen – Identifikation geeigneter Orte – Entwicklung und Angebot von Refresher-Angeboten zur Nachhaltigkeit – Sensibilisierung von Professionellen im Gesundheits- und Sozialbereich (z.B. Qualifizierung der Professionellen, Vernetzung geeigneter Akteure)
– Sensibilisierung und Information der Schulleitung/Lehrkräfte, Erzieher, Eltern, Kinder/Jugendliche, Verantwortlichen in Politik – Unterstützung von Lehrern – Nutzung der Erfahrungen zu anderen Themenfeldern der Gesundheitsförderung im Setting Schule – Entwicklung und Angebot von Maßnahmen zur Nachhaltigkeit
– Durchführung und Evaluierung von Stressbewältigungstrainings in unterschiedlichen Klassenstufen mit an die Entwicklung der Kinder/Jugendlichen angepassten Inhalten. – Übertragbarkeit US-amerikanischer Studien auf Deutschland und ihre Grenzen – Entwicklung und Standardisierung geeigneter Erhebungsinstrumente zu Lebenskompetenzprogrammen
Lebensbereich Kindergarten/ Schule
Für alle Lebensbereiche: – Erhebung valider Daten zur Stressbelastung und ihren Auswirkungen – Entwicklung geeigneter Erhebungsinstrumente – Frühe Identifizierung von Risikogruppen – Erreichbarkeit der Ziel-, Risikogruppe – Motivation der Ziel-, Risikogruppe – Wirksamkeit von Interventionen – Wirksamkeit von Kombinationen – Erhebung des Bedarfs gendersensibler Angebote – Nachhaltigkeit – Refresher-Kurse
– Identifikation von (Risiko-)Familien mit erhöhten Stressbelastungen – Sensibilisierung der Versicherten zu Stressbelastungen bei Kindern und Jugendlichen und Informationen zu Möglichkeiten ihrer Prävention – Entwicklung bzw. Modifikation individueller zielgruppenorientierter Maßnahmen zur Stressbelastung/Suchtprävention für Eltern und Familie – Förderung spezifischer Angebote zur Stressbelastung/ Suchtprävention für Eltern und Familie – Entwicklung von Refresher-Angeboten zur Nachhaltigkeit – Sensibilisierung von Professionellen im Gesundheitsund Sozialbereich (z.B. Qualifizierung der Professionellen, Vernetzung geeigneter Akteure)
Lebensbereich Familie
– Durchführung und Evaluierung inhaltlich abgestimmter Maßnahmen im zeitlichen Verlauf der Entwicklungsstufen der Kinder/Jugendlichen. – Durchführung und Evaluierung inhaltlich abgestimmter Maßnahmen für Kinder und Eltern. – Identifikation geeigneter Interventionsorte – Stärkung von elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen – Übertragbarkeit angloamerikanischer Forschungsergebnisse auf Deutschland und ihre Grenzen – Notwendig sind: gesicherte Erkenntnisse aus methodisch anspruchsvollen in Deutschland durchgeführten Evaluationsstudien zur Wirksamkeit von Präventionsansätzen. Dabei sollten unterschiedliche Programme mit unterschiedlicher Basis und methodischer Umsetzung verglichen werden.
Praxis (z. B. Sozialversicherungsträger)
6
Wissenschaft
⊡ Tabelle 6.5. Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis
128 Kapitel 6 · Stressbelastungen und ihre Prävention im Kindes- und Jugendalter
129 6.6 · Lebensweltbezogene Prävention: Ansätze und Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis
Herausforderungen für die Wissenschaft Familienbezogene Präventionsprogramme wie z. B. die Stärkung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen sind bislang vor allem in angloamerikanischen Studien untersucht worden. Wichtig ist hier, die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf deutsche Verhältnisse zu überprüfen. Zur Berücksichtigung der spezifischen Rahmenbedingungen sind qualitativ hochwertige Evaluationsstudien zu familienbezogenen Präventionsprogrammen in Deutschland erforderlich. Zukünftige Forschungsarbeiten sollten sich auf die Evaluation von altersgerechten Stresspräventionsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche konzentrieren, die Interventionen für Kinder und Jugendliche sowie für ihre Eltern berücksichtigen. Im Lebensbereich Kindergarten bzw. Schule sollten Stressbewältigungstrainings durchgeführt und evaluiert werden. Um Aussagen zur Wirksamkeit der Intervention treffen zu können, müssen diese in Konzeption und Forschungsdesign eine hohe Qualität aufweisen und in ihren Inhalten an die unterschiedlichen Klassenstufen angepasst sein. Bei den schulbasierten Lebenskompetenzprogrammen ist die Entwicklung standardisierter Instrumente z. B. zur Erfassung konstruktiver Problemlösung und Kommunikation erforderlich. Im außerschulischen Lebensbereich müssen vor allem geeignete Orte zur Durchführung von Präventionsprogrammen identifiziert werden. Bei allen drei Lebensbereichen ist es wichtig, fundiertes Wissen zur frühen Identifikation, Erreichbarkeit und Motivation der Ziel- bzw. Risikogruppe, zum Bedarf geschlechtersensibler Angebote sowie zur Wirksamkeit von Interventionen zu erhalten.
Herausforderungen für die Praxis Sozialversicherungsträger, insbesondere Krankenkassen, und (Kinder-)Ärzte sollten Eltern junger Kinder zu Stressbelastungen und ihren Präventionsmöglichkeiten vermehrt informieren. (Kinder-)Ärzte müssen bei Gesundheitsuntersuchungen (den so genannten U- und J-Untersuchungen) der Kinder und Jugendlichen auf Anzeichen von Stressbelastungen achten und ggf. auf präventive Angebote verweisen. Dies gilt ebenfalls für Lehrer/Erzieher, Sozialpädagogen, Übungsleiter in Freizeitvereinen und weitere sozial Verantwortliche in der Kinder-/Jugend- und Jugendsozialarbeit. Eine frühzeitige Identifikation von Familien mit Stressbelastungen kann zudem eine Aufgabe der Krankenkassen sein. Dies gilt auch für das Angebot und für die Entwicklung bzw. Modifizierung individueller zielgruppenorientierter präventiver Maßnahmen zur Stressbelastung. Für ältere Jugendliche kann dabei ggf. auf Stressbewältigungsprogramme für Erwachsene zurückgegriffen werden, da sie zumeist die kognitiven und hand-
lungsmäßigen Kompetenzen von Erwachsenen aufweisen (Klein-Heßling et al. 2003). Stressbelastungen frühzeitig präventiv zu begegnen, erfordert eine Sensibilisierung und Qualifizierung der Professionellen im Gesundheits- und Sozialwesen, die Kenntnis dieser Bezugspersonen über geeignete Angebote und die Vernetzung zentraler Akteure.
Literatur Klein-Heßling J, Lohaus A, Beyer A (2003) Gesundheitsförderung im Jugendalter: Attraktivität von Stressbewältigungstrainings. Z Gesundheitswissenschaften 11: 365–380 Ravens-Sieberer U, Thomas C, Erhart (2003): Körperliche, psychische und soziale Gesundheit von Jugendlichen. In: Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W, Ravens-Sieberer U (Hrsg) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim München, S 19–98
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7 Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Die Arbeitswelt stellt ein zentrales Setting zur Reduktion und Vermeidung stressbezogener sowie psychischer Belastungen dar. Das Kapitel »Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt« gibt einen Überblick über arbeitsbedingte psychische Belastungen und zeigt Möglichkeiten auf, ihnen präventiv zu begegnen. Dabei werden individuelle sowie organisationsbezogene Stressinterventionen berücksichtigt. Es wird mehreren Fragen nachgegangen: ▬ Welche Veränderungen sind in der Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten zu beobachten? Welche Belastungen und welche Ressourcenpotentiale ergeben sich aus diesen Entwicklungen? ( Kap. 7.1 und 7.2) ▬ Wie sieht die Forschungslage zu methodisch hochwertigen Studien zu Stressinterventionen am Arbeitsplatz aus? Welche wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse lassen sich bezüglich wirksamer individueller und organisationsbezogener Stressinterventionen ableiten? ( Kap. 7.3) ▬ Wie können psychische Belastungen am Arbeitsplatz ermittelt werden? Welche präventiven Maßnahmen bieten sich an? Wie können diese im Unternehmen und bei den Mitarbeitern ein- und umgesetzt werden? ( Kap. 7.4, Kap. 7.5). ▬ Welche Ansätze ergeben sich für Wissenschaft und Praxis? ( Kap. 7.6)
7.1
Arbeitsweltbezogene Risiken und Ressourcen Martina Plaumann, Anja Busse, Ulla Walter (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
Während bei Kindern und Jugendlichen stressvolle Situationen vor allem mit den zentralen Lebenswelten Familie und Schule verbunden sind ( Kap. 6), kommt im Erwachsenenalter der Arbeitswelt eine zentrale Bedeutung zu. Das Kap. 7 »Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt« legt daher den Fokus auf das Stressgeschehen im Arbeitsleben und zeigt Möglichkeiten der Prävention auf. Neue Herausforderungen in der Arbeitstätigkeit und -organisation wie zunehmende Bildschirmtätigkeit und zeitliche sowie örtliche Flexibilisierung ( Kap. 7.2) führen zu einem veränderten arbeitsbezogenen Belastungs- und Krankheitsspektrum. Neben weiterhin bestehenden körperlichen Belastungen und damit verbundenen Erkrankungen und Arbeitsunfällen sind in den vergangenen Jahren vor allem kognitive und psychosoziale Belastungen gestiegen. Körperliche Belastungen bestehen z. B. in Pflegeberufen, die durch Heben und Umbetten der zu Pflegenden gekennzeichnet sind. Klassische Arbeitsbelastungen wie Monotonie und strikte hierarchische Kontrolle bestehen nach Priester und Lenhardt (2005) weiterhin und können sich mit den immer häufiger auftretenden psychischen Belastungen wie Zeit- und Leistungsdruck sowie Überforderung zu gesundheitsgefährdenden Risikofaktoren verbinden.
132
Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
den gravierenden Veränderungen der Arbeitswelt » Mit sind neue Quellen für psychosoziale Stressbelastungen entstanden. Eine zunehmende Zahl von Erwerbstätigen befindet sich in prekären Arbeitsverhältnissen, die durch anhaltende Unsicherheit des Arbeitsplatzes, blockierte Karrierechancen und fragmentierte Karriereverläufe geprägt sind. All diese Faktoren können chronischen Stress und damit Erkrankungen auslösen. Eine systematische Untersuchung von Präventionsansätzen für diese Risikogruppe ist daher angezeigt. Prof. Dr. Johannes Siegrist, Universitätsklinikum Düsseldorf
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7
Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2002) versteht unter arbeitsbedingtem Stress die »emotionale, kognitive, verhaltensmäßige und physiologische Reaktion auf widrige und schädliche Aspekte des Arbeitsinhalts, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung«. Stress ist somit ein Zustand, der durch ein hohes Aktivierungs- und Belastungsniveau gekennzeichnet ist und oft mit dem Gefühl verbunden ist, die Situation nicht bewältigen zu können. Mittlerweile liegen stressassoziierte arbeitsbezogene Gesundheitsprobleme nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen an zweiter Stelle vor Lungenerkrankungen (Europäische Kommission 2002) und stellen zu 50–60% die Hauptursache für Fehlzeiten dar (WHO 2004). Stress, Depression und Angst werden inzwischen auch subjektiv als zweithäufigste arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden wahrgenommen ( Kap. 3). Diese Belastungen können zu vielfachen Störungen und Krankheiten auf der physiologisch-somatischen Ebene, der kognitiv-emotionalen Ebene sowie auf der Verhaltensebene führen. Die Analyse der Routinedaten der KKH weist auf Zielgruppen mit besonders hohem Präventionsbedarf hin ( Kap. 4). Welche spezifischen Stressbelastungen am Arbeitsplatz bestehen können, zeigt exemplarisch die internationale NEXT-Studie (s. Infobox, S. 136f.) für Pflegekräfte auf. Seitens der gesetzlichen Unfallversicherung bzw. den Berufsgenossenschaften und der gesetzlichen Krankenversicherung erfahren Belastungen durch Stress derzeit vermehrt Aufmerksamkeit. Die Mitte der 1990er Jahre erweiterten Aufgaben des Arbeitsschutzes und der gesetzlichen Unfallversicherung um die Vermeidung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren sowie die zusätzliche Verankerung der betrieblichen Gesundheitsförderung bei den Krankenkassen bieten die gesetzlichen Voraussetzungen für eine zielgerichtete Prävention von Stressbelastungen am Arbeitsplatz. In der Praxis liegen allerdings erst wenige Ansätze vor. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz ist bislang noch zu sehr auf die physischen Belastungen ausgerichtet. Dies wird u. a. an der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung deutlich, wie eine Befragung im Frühjahr 2004 von mehr als 2000 Betriebsräten
zeigt (Ahlers u. Brussig 2005). Danach fand in 50% der Betriebe seit 1996 eine Gefährdungsbeurteilung statt, die jedoch meistens nur die körperlichen Belastungen erfasste. Nur 23% der Betriebe mit durchgeführter Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen neben den physischen auch die psychischen Risiken. Ein weiteres Defizit liegt in der geringen Umsetzung von Veränderungsmaßnahmen nach der Belastungserfassung, die nur von einem Drittel der Betriebe eingeleitet werden. Die Konzeption und Umsetzung wirksamer präventiver Maßnahmen zu arbeitsplatzbedingten psychischen Belastungen stellen eine wichtige Aufgabe für Betriebe, Arbeitsschutzbehörden, Berufsgenossenschaften und Krankenkassen dar, die vor dem Hintergrund steigender psychischer Belastungen an Bedeutung gewinnen. Die dargestellte Entwicklung wirft mehrere Fragen auf, denen im Kapitel 7 nachgegangen wird: Welchen Belastungen in der Arbeitswelt begegnen Erwerbstätige tagtäglich? Welche Folgen sind durch diese Belastungen bei den Individuen, aber auch im Unternehmen zu verzeichnen? Gibt es Ressourcen, die den gesundheitsschädigenden Einfluss des Stresserlebens auf die Gesundheit der Arbeitnehmer verhindern? Wie können diese Schutzfaktoren gestärkt werden? Wo können präventive Maßnahmen in Betrieben sinnvoll ansetzen? Welche Interventionen haben sich als wirksam erwiesen?
Stressoren Stressoren in der Arbeitswelt betreffen vielfältige Bereiche des Arbeitslebens: Sie können aus der Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitstätigkeit ebenso resultieren wie aus der Qualität zwischenmenschlicher Bezüge und den organisatorischen Strukturen des Unternehmens. ⊡ Abbildung 7.1 gibt einen Überblick über mögliche Ursachen und Folgen von Stress. ▬ Zu den belastenden spezifischen Arbeitsfaktoren zählt die Exposition gegenüber physikalischen Umgebungsfaktoren wie Lärm, Hitze, Kälte, Staub, toxischen Substanzen und Strahlung. Ihre Verhinderung bzw. Reduktion sowie der Schutz der Arbeitnehmer vor diesen Stressoren ist Aufgabe des traditionellen Arbeitsschutzes. Arbeitsumgebung und Arbeitsausstattung können insbesondere dann zu Stressoren werden, wenn die für den Arbeitsprozess erforderlichen Materialien und Geräte nur eingeschränkt verfügbar oder tauglich sind, bzw. sie mangelhaft gewartet werden und somit den Arbeitsablauf erschweren. Belastende Faktoren resultieren auch aus der Art der Tätigkeit. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Tätigkeit nur wenig abwechslungsreich ist, einen kurzen Arbeitszyklus, fragmentierte oder bedeutungslose Inhalte bzw. Abläufe aufweist und die Fähigkeiten des Betreffenden nicht angemessen genutzt werden.
133 7.1 · Arbeitsweltbezogene Risiken und Ressourcen
Ursachen von Stress
Folgen von Stress
Folgen für das Individuum, z.B.
Spezifische Arbeitscharakteristika
Erhöhter Blutdruck Reizbarkeit, Angst, Nervosität Anspannung, Ermüdung Konzentrationsschwierigkeiten Erhöhter Alkoholkonsum
Arbeitsbeziehungen
tzfaktoren Schu
Rolle in dem Unternehmen
Individuum
Karriereentwicklung
Organisatorische Struktur und Klima
Schnittstelle Arbeit-Privatleben
Herz-Kreislauf-Erkrankungen Magen-Darm-Erkrankungen Kopfschmerzen Muskel-Skelett-Erkrankungen Schlafstörungen Depression, Burnout
Folgen für das Unternehmen, z.B. Hohe Abwesenheitsquote Hohe Personalfluktuation Industrielle Beziehungsschwierigkeiten Geringe Qualitätskontrolle
⊡ Abb. 7.1. Die Dynamik von Arbeitsstress (erweitert nach Cooper und Marshall 1976, zitiert nach Cox et al. 2000)
Arbeitsbelastung und Arbeitstempo werden sowohl bei Arbeitsüberlastung, als auch bei Arbeitsunterbelastung als stressvoll erlebt, ebenso eine geringe Kontrolle des Arbeitstempos, ein hoher Zeitdruck und häufige Störungen. Die Arbeitszeit wird vor allem bei Schichtarbeit, unflexiblen Arbeitszeiten, unvorhersehbaren, langen oder mit dem sozialen Leben nur schwer zu vereinbarenden Arbeitszeiten zum Stressor. Pflegekräfte geben beispielsweise an, dass ungünstige Arbeitszeiten, vor allem Unregelmäßigkeit der Dienstzeiten und Überstunden, zu den größten Belastungsfaktoren zählen (s. Infobox, S. 136f.: NEXT-Studie). ▬ Die Rolle, die ein Arbeitnehmer in einem Unternehmen einnimmt bzw. die ihm zugewiesen wird, kann ebenfalls einen psychosozialen Risikofaktor darstellen. Besteht Unkenntnis des Beschäftigten hinsichtlich der an ihn gestellten Ziele, Aufgaben und Erwartungen oder liegt ein mangelndes Bewusstsein bezüglich der Verantwortlichkeiten seiner Arbeit vor (Rollenambi-
guität), kann dies u. a. zu geringer Motivation, geringer Arbeitszufriedenheit bis hin zur Kündigung führen. Zudem können mit Stress verbundene Rollenkonflikte entstehen, wenn die Anforderungen an den Betreffenden mit seinen Werten nicht zu vereinbaren sind oder widersprüchliche Rollenerwartungen an ihn herangetragen werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Tätigkeit Gläubiger an religiösen, arbeitsfreien Feiertagen. ▬ Es gibt viele Hinweise darauf, dass wertschätzende zwischenmenschliche Arbeitsbeziehungen wesentlich für die individuelle Gesundheit und die unternehmerische Prosperität sind. Die in Großbritannien durchgeführte Whitehall-II-Studie (s. Infobox, S. 140) zeigt auf, dass sich eine soziale oder räumliche Isolation, ein geringer Kontakt zu den Vorgesetzten, zwischenmenschliche Konflikte am Arbeitsplatz sowie eine geringe soziale Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte negativ auf die psychische Gesundheit auswirken können.
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Einerseits besteht die Möglichkeit, stress- und krank» heitsfördernde Arbeits- und Umweltbedingungen zu verändern. Dabei können sich solche Maßnahmen nicht nur auf physikalische Stressoren, wie Lärm, Hitze, Reizüberflutung etc. beschränken, sondern können auch die Veränderung von Kommunikationsstrukturen etwa innerhalb von Unternehmen berücksichtigen. Andererseits kann Prävention von Stress dem Individuum kurzfristige Bewältigungsfertigkeiten an die Hand geben wie Sport, Entspannungsverfahren, mentale Übungen, Problemlösefertigkeiten. Zusätzlich können dem Individuum auch langfristige Fertigkeiten (so genannte Copingstrategien) vermittelt werden, die daraufhin zielen, langfristig den Lebensstil gesundheitsfördernder und stressreduzierender zu gestalten. Prof. Dr. Rolf Meermann, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
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▬ Auch Aspekte, die sich auf die Entwicklung der Karriere beziehen, können zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Hierzu zählen z. B. die Stagnation der Karriere oder die Ungewissheit über deren zukünftige Entwicklung, eine geringe, aber auch eine zu starke Förderung, existierende Arbeitsunsicherheit, eine geringe Wertschätzung der Arbeit und eine geringe Bezahlung. Siegrist und Mitarbeiter (2004) wiesen bei unterschiedlichen Berufsgruppen nach, dass eine Arbeitssituation, in der einer hohen Verausgabung keine angemessene Entschädigung (Gratifikation) entgegensteht, hohen Distress erzeugt und bei den Arbeitnehmern höhere stressinduzierte Erkrankungsrisiken hervorruft (Modell beruflicher Gratifikationskrisen, Kap. 5). Dabei arbeiten Frauen zumeist in weniger hohen Positionen als Männer und erfahren zudem eine geringere Anerkennung durch Position und Einkommen (Rensing et al. 2006). ▬ Weitere Stressoren können die betrieblichen Strukturen und das Arbeitsklima darstellen, wie eine mangelnde Kommunikation, geringe Unterstützung bei Problemlösungen und persönlicher Entwicklung sowie unklare oder fehlende Unternehmensziele. Eine geringe Partizipation an Entscheidungen und eine geringe Kontrolle über die Arbeit können ebenfalls belastend wirken (Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek u. Theorell 1990, Kap. 5; Whitehall-IIStudie s. Infobox, S. 140). ▬ An der Schnittstelle von Arbeit und Privatleben ergeben sich gesundheitliche Belastungen aufgrund konflikterzeugender Anforderungen der beiden Lebensbereiche. Kindererziehung und Berufstätigkeit sind besonders in Deutschland immer noch schwer vereinbar. Besonders für Frauen ist die Doppelbelastung von Beruf und Familie ein häufiger psychosozialer Stressor.
Folgen Zahlreiche Studien, so auch die AIDA-Studie (s. Infobox, S. 138f.), zeigen, dass sich arbeitsbedingte Belastungen negativ auf das körperliche und psychische Befinden auswirken (Dunckel u. Resch 2004). Die kurzfristigen kognitiv-emotionalen Reaktionen als Antwort auf die zuvor beschriebenen Stressoren in der Arbeitswelt reichen von Enttäuschung, Besorgnis und Gereiztheit über Neid und Eifersucht bis hin zu Angst, Ärger und Betrübnis. Langfristige kognitiv-emotionale Stressbelastungen können zu Depression und Burnout führen (u. a. Bamberg et al. 2004; Buunk et al. 1998). Chronisch wirksame Stressoren können zudem mittel- und langfristig psychosomatische Störungen wie Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Magen-Darm-Beschwerden hervorrufen und zu Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen ( Kap. 2). Stressvolle Situationen können ebenso Veränderungen im Verhalten bewirken z. B. zu einem gesundheitsschädigenden Bewältigungsverhalten in Form eines erhöhten Tabakund Alkoholkonsums führen sowie zu einer Einschränkung von Freizeitaktivitäten bis zur sozialen Isolierung beitragen (Myers 2005).
Ressourcen Ressourcen bzw. Schutzfaktoren können die negativen Auswirkungen von Stress verhindern oder zumindest verringern, während Risikofaktoren gesundheitsschädliche Folgen von Stress fördern. Ressourcen können in externe (situative) und individuelle (personale) Ressourcen unterteilt werden ( Kap. 2 und Kap. 7.2). Als mögliche individuelle Ressourcen sind zu nennen (u. a. Myers 2005): ▬ die persönliche Bewertung der Stresssituation, ▬ die vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten, ▬ die Lebenseinstellung, die bestimmte Situationen als sinnhaft, zu bewältigen und als herausfordernd ansieht (Kohärenzgefühl), ▬ die Widerstandsfähigkeit, die trotz kritischer Lebensereignisse keine langfristigen Beeinträchtigungen bewirkt, ▬ die Kontrollüberzeugung, dass Situationen zu beeinflussen sind, ▬ der Optimismus und die Selbstwirksamkeitserwartung, eine bestimmte Leistung vollbringen oder ein Verhalten ausüben zu können. Bestimmte Charaktereigenschaften treten hingegen als Risikofaktoren auf und können die Entstehung einer Gesundheitsstörung bzw. einer Krankheit begünstigen. Bis vor kurzem wurde das Typ-A-Verhalten, das ein komplexes Muster von Verhaltensweisen und Emotionen bezeichnet,
135 7.1 · Arbeitsweltbezogene Risiken und Ressourcen
als eigenständiger Risikofaktor für koronare Herzkrankheiten angesehen. Typ-A-Individuen haben eine starke Bindung an ihre Arbeit und zeichnen sich zudem durch ein ausgeprägtes Konkurrenzverhalten, Ehrgeiz, Aggressivität, Ungeduld, Hast und Feindseligkeit aus. Individuen dagegen, die auf stressvolle Situationen gelassener und entspannter reagieren und somit persönliche Ressourcen aufweisen, werden Typ-B-Individuen genannt (Friedman u. Rosenman 1974 zitiert nach Zimbardo u. Gerrig 1999). Zu den arbeitsbedingten externen Ressourcen zählen: ▬ ein den Fähigkeiten angepasster Tätigkeits- und Handlungsspielraum, ▬ hinreichende Unterstützung, insbesondere die soziale Unterstützung durch Vorgesetzte (Whitehall-II-Studie: s. Infobox, S. 140), ▬ Möglichkeiten der Partizipation ( Kap. 7.2). Auf die Notwendigkeit der Ausschöpfung der arbeitsbedingten situativen Ressourcen als ein wirksamer Ansatz zur Prävention von Stressbelastungen weist die AIDAStudie hin (s. Infobox, S. 138). Primärpräventive Maßnahmen auf Organisationsebene sind für die Autoren wichtiger als individuelle Stressmanagementkurse, die nur die Symptome mindern, anstatt die Ursachen zu beheben (Leitner u. Resch 2005). Aus den Ergebnissen der AIDA-Studie ergeben sich folgende Empfehlungen für die betriebliche Gesundheitsförderung: ▬ geistige Anforderung entsprechend der Qualifikation der Beschäftigten anpassen sowie Spielräume für eigenständiges Handeln erhöhen, ▬ Arbeitsmittel und Arbeitsumgebung optimieren, z. B. durch neue Technik und bessere Wartung sowie durch Qualifizierung in deren Umgang, ▬ ausreichend Zeit zum Umgang mit Störfaktoren bei der Arbeit wie Unterbrechungen und fehlerhafte Technik, ▬ bestimmte Tätigkeiten sinnvoll delegieren, ▬ regelmäßige Arbeitsbesprechungen durchführen.
Literatur Ahlers E, Brussig M (2005) Gefährdungsbeurteilung in der betrieblichen Praxis. WSI-Mitteilungen 9: 517–523 Bamberg E, Ducki A, Greiner B (2004) Betriebliche Gesundheitsförderung: Theorie und Praxis, Anspruch und Realität. In: Steffgen G (Hrsg) Betriebliche Gesundheitsförderung. Hogrefe, Göttingen, S 11–35 Buunk BP, De Jonge J, Ybema JF, De Wolff CJ (1998) Psychosocial aspects of occupational stress. In: Thierry H, Drenth P (eds) Handbook of work and organizational. Taylor & Francis, Hove, pp 145–182 Cox T, Griffiths A, Rial-González E (2000) Research on work-related stress. Luxembourg Dunckel H, Resch MG (2004) Arbeitsbezogene psychische Belastungen. Die AIDA-Studie. In: Steffgen G (Hrsg) Betriebliche Gesundheitsförderung. Hogrefe, Göttingen, S 38–61 Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2002) Stress lass nach! Bewusster Umgang mit Stress. Luxemburg Europäische Kommission (2002) Europäische Sozialstatistik – Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden. Daten 1994–2000. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg Karasek RA, Theorell T (1990) Healthy Work: Stress, productivity and the restriction of working life. Basic Books, New York Leitner K, Resch MG (2005) Do the effects of job stressors on health persist over time? A longitudinal study with observational stressor measures. J Occup Health Psychol 10: 18–30 Myers DG (2005) Stress und Gesundheit. In: Myers DG (Hrsg) Psychologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 668–711 Priester K, Lenhardt U (2005) Flexibilisierung – Intensivierung – Entgrenzung: Wandel der Arbeitsbedingungen und Gesundheit. WSI-Mitteilungen 9: 491–497 Rensing L, Koch M, Rippe B, Rippe V (2006) Mensch im Stress. Psyche, Körper, Moleküle. Elsevier, München Siegrist J, von dem Knesebeck O (2004) Prävention chronischer Stressbelastung. In: Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J (Hrsg) Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Huber, Bern, S 121–129 WHO (2004) Pressemitteilung EURO/14/14/04 Zimbardo PG, Gerrig RJ (1999) Emotion, Streß und Gesundheit. In: Zimbardo PG, Gerrig RJ (Hrsg) Psychologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 359–408
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
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NEXT-Studie (Nurses Early Exit Study) Internationale Studie (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Polen, Slowakei): 2002–2005
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Schwerpunkt Stressbelastung bei Pflegekräften, die zum vorzeitigen Berufsausstieg beitragen kann
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Ziele ▬ Untersuchung der soziokulturellen, individuellen und arbeitsbezogenen Gründe eines vorzeitigen Berufsausstiegs und der Konsequenzen für Pflegeeinrichtungen und Berufsaussteiger ▬ Schaffung einer Grundlage für gezielte betriebliche Gesundheitsförderung in der Pflege Zielgruppe 39.898 Pflegekräfte in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Polen und der Slowakei haben an der Basisbefragung 2002/2003 teilgenommen. In Deutschland wurden 3565 Pflegekräfte aus 75 Einrichtungen einbezogen. Das Durchschnittsalter der deutschen Stichprobe lag bei 39,2 Jahren, der Anteil männlicher Pflegekräfte betrug 16,5%. Studiendesign: Kohortenstudie Die Studie wurde in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen sowie im Bereich der ambulanten Pflege durchgeführt. Für jede Einrichtung wurde anhand einer Checkliste (wirtschaftliche Entwicklung, Personalweiterbildung, Umstrukturierung, interne Weiterbildungen) eine Organisationsanalyse durchgeführt. Die Datenerhebung erfolgte zu vier Erhebungszeitpunkten mittels standardisierter Fragebogen. Die Basisbefragung (2002/2003) bezog alle Studienteilnehmer ein und beinhaltete Fragen zum Arbeits- und Privatleben sowie zur Zukunftsperspektive. Die erste Nachbefragung war nur an diejenigen Studienteilnehmer gerichtet, die ihre Einrichtung im Jahr nach der ersten Basisbefragung verlassen haben. Im Unterschied dazu wandte sich die zweite Basisbefragung (2003/2004) an die Studienteilnehmer, die weiterhin in ihrer ursprünglichen Einrichtung arbeiteten. Die abschließende Befragung richtete sich erneut an die Berufsaussteiger. Erste Ergebnisse Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf drei unterschiedliche Ausschnitte der Studienpopulation. Dies ist jeweils durch eine Ziffer (1, 2 oder 3) kenntlich gemacht:
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Examinierte europäische Pflegekräfte (n=26.007) in Krankenhäusern mit einer mindestens dreijährigen Ausbildung, davon 2524 Pflegekräfte aus 16 Krankenhäusern in Deutschland (Hasselhorn u. Müller 2005) Teilnehmer der europäischen Basiserhebung 2002/ 2003, keine Unterscheidung nach beruflicher Qualifikation, n=39.898 (Hasselhorn et al. 2005) Ergebnisse der deutschen Basiserhebung 2002/2003 in 75 deutschen Einrichtungen, n=3565 (Simon et al. 2005)
Merkmale der Einrichtung Neben den allgemeinen Rahmenbedingungen haben die Institutionen selbst erheblichen Einfluss auf die Arbeitssituation der Pflegenden. In attraktiven Einrichtungen ist das Pflegepersonal über einen längeren Zeitraum beschäftigt. Dies kann die Qualität der Arbeit erhöhen sowie Kosten senken. Mit zunehmender Einrichtungsgröße steigt die Spannung zwischen Pflege- und Leitungspersonal, die Bindung an die Einrichtung nimmt ebenso wie die soziale Unterstützung durch den Vorgesetzten ab (3). Arbeitszeiten ▬ Einer der größten Belastungsfaktoren in der Pflege sind die ungünstigen Arbeitszeiten, vor allem die Unregelmäßigkeit der Dienstzeiten und die Überstunden. Die niedrigste Zufriedenheit bezogen auf die Arbeitszeiten zeigt sich in Polen, Italien, der Slowakei und in Deutschland (1). ▬ Die geringste Zufriedenheit geben die Pflegekräfte an, die sowohl Tag- als auch Nachtschichten leisten müssen. Pflegekräfte, die nur Nachtschichten absolvieren, sind dagegen zu 70% zufrieden, und Pflegekräfte, die nur im Tagdienst tätig sind, zu 89% (1). ▬ Die Zufriedenheit bezüglich der Arbeitszeiten steigt mit der Anzahl der zu Hause zu versorgenden Kinder. Das gilt auch für Deutschland, wo aber der Anteil von Pflegekräften mit Kindern insgesamt eher gering ist (1). Burnout ▬ Burnout wird in der NEXT-Studie als persönliche Erschöpfung konzipiert. Die geringsten Werte finden sich in Norwegen und den Niederlanden, hohe Burnout-Werte finden sich in Frankreich, der Slowakei, Belgien und Großbritannien. Die durchschnittlichen Burnout-Werte unter examinierten europäischen Pflegekräften sind eher niedrig, wobei eine mittlere Antwortkategorie bereits auf eine beträchtliche Be-
137 7.1 · Arbeitsweltbezogene Risiken und Ressourcen
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anspruchung (das Symptom »Ich kann nicht mehr« oder »sich ausgelaugt fühlen« tritt ein- bis zweimal die Woche auf ) hinweist (1). Unplanbarkeit und Unregelmäßigkeiten in der Arbeitsorganisation sowie geringe Möglichkeiten der Einflussnahme stehen in Zusammenhang mit einem erhöhten Burnout-Risiko (3). Hohe quantitative Anforderungen (Arbeit pro Zeitabschnitt), besonders in Alten- und Pflegeheimen, erhöhen das Risiko von Burnout. Im internationalen Vergleich sind die quantitativen Belastungen in Deutschland besonders hoch (3). Hohe emotionale Anforderungen, besonders in Alten- und Pflegeheimen sowie auf psychiatrischen Stationen, tragen zum Burnout-Risiko des Pflegepersonals bei (3). Für Deutschland zeigt sich ein mit dem Alter kontinuierlich sinkendes Burnout-Niveau der examinierten Pflegekräfte. Dies kann mit einem ausgeprägten vorzeitigen Berufsausstieg zusammenhängen (1). In Krankenhäusern und Pflegeheimen tritt Burnout über alle beruflichen Qualifikationen hinweg häufiger als im ambulanten Pflegedienst auf (2). In allen Ländern haben weibliche Pflegekräfte höhere Werte auf der Erschöpfungsskala als männliche Pflegekräfte (2). Es finden sich anteilig besonders hohe Burnout-Werte, wenn Pflegekräfte über Probleme mit den Arbeitsinhalten berichten, und speziell bei einer wahrgenommenen Einschränkung der Möglichkeiten, eine angemessene Pflege durchzuführen (2). Für Deutschland gilt, dass Burnout mit der Absicht, den Beruf zu verlassen, assoziiert ist, was sich besonders bei qualifiziertem Pflegepersonal zeigt. Pflegekräfte mit fehlender Ausbildung denken trotz hoher Burnout-Werte seltener daran, ihren Beruf aufzugeben (2).
Typen von Berufsaussteigern ▬ Es lassen sich resignierte und motivierte Berufsaussteiger unterscheiden (2). ▬ Die resignierten Aussteiger haben eine schlechtere Gesundheit, eine geringere Arbeitsfähigkeit und höhere Burnout-Werte (2). ▬ Motivierte Aussteiger dagegen sind jung, gut gebildet und verlassen den Pflegeberuf oft, um sich weiterzubilden (2).
Arbeitsfähigkeit ▬ Arbeitsfähigkeit bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Gesamtheit aller Faktoren, die eine Person befähigen, eine Aufgabe mit Erfolg zu bewältigen. Der Begriff umfasst individuelle Ressourcen (z. B. Ausbildung oder körperliche Voraussetzungen) und Bedingungen des Arbeitsumfeldes wie psychische oder physische Anforderungen (1). ▬ Die durchschnittliche Arbeitsfähigkeit ist in Norwegen und in den Niederlanden am höchsten, was sich nur teilweise durch den geringeren Altersdurchschnitt erklären lässt. Über die Altersgruppen hinweg zeigen polnische, französische und deutsche Teilnehmer die geringste Arbeitsfähigkeit (1). ▬ Eine niedrige Arbeitsfähigkeit ist deutlich mit dem Wunsch nach einem vorzeitigen Berufsausstieg verbunden (1). Gratifikation ▬ Die wahrgenommene Anstrengung ist in Deutschland sehr hoch, die wahrgenommene Gratifikation jedoch eher niedrig. Der daraus entstehende Quotient fällt für deutsches Pflegepersonal entsprechend ungünstig aus. Gleiches gilt auch für das pflegerische Personal in Polen, Italien und der Slowakei (2). ▬ Unter Berücksichtigung von Siegrists (1996) Modell beruflicher Gratifikationskrisen ( Kap. 5) tragen die Pflegekräfte dieser Länder ein höheres Stressrisiko (2).
Literatur zum Thema Hasselhorn HM, Müller BH (2005) Arbeitsbelastung und -beanspruchung bei Pflegepersonal in Europa – Ergebnisse der NEXT-Studie. In: Badura B, Schellschmidt H, Vetter C (Hrsg) Fehlzeiten Report 2004. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 21–47 Hasselhorn HM, Müller BH, Tackenberg P, Kümmerling A, Simon M (2005) Berufsausstieg bei Pflegepersonal. Arbeitsbedingungen und beabsichtigter Berufsausstieg bei Pflegepersonal in Deutschland und Europa. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg), Dortmund Berlin Dresden Siegrist J (1996) Soziale Krisen und Gesundheit. Hogrefe, Göttingen Simon M, Tackenberg P, Hasselhorn HM, Kümmerling A, Büscher A, Müller BH (2005) Auswertung der ersten Befragung der NEXT-Studie in Deutschland. Universität Wuppertal. http:// www.next.uni-wuppertal.de [15.06.2005] Tuomi K, Ilmarinen J, Jahkola A, Katajarinne L, Tulkki A (1998) Work ability Index. Finnish Institute of Occupational Health, Helsinki. www.next-study.net, [15.06.2005]
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
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AIDA-Studie (Anforderung, Belastung und psychosoziale Gesundheit in der Arbeit-Studie) Deutschland: 1990–1998 Schwerpunkt Psychische Belastung am Arbeitsplatz und psychosoziale Gesundheit Ziele ▬ Identifikation von schützenden und schädlichen Merkmalen der Büroarbeit ▬ Untersuchung des Einflusses belastender Arbeitsbedingungen auf das psychische Wohlbefinden
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Zielgruppe An der ersten Untersuchung (1990–1992) nahmen 222 Büroangestellte aus zwölf Industriebetrieben mittlerer Größe teil, davon 131 Frauen und 91 Männer zwischen 19 und 60 Jahren. An der Follow-up-Untersuchung (1998) beteiligten sich 133 der ursprünglich 222 Befragten (60%). 102 Teilnehmer waren zu diesem Zeitpunkt erwerbstätig (davon 71 am ursprünglichen und 31 an einem anderen Arbeitsplatz). 31 Studienteilnehmer waren entweder arbeitslos, in Rente oder längerfristig beurlaubt. Studiendesign: Prospektive Kohortenstudie Die AIDA-Studie umfasst eine unabhängige Arbeitsplatzanalyse zur Erfassung der psychischen Belastungen und eine anschließende schriftliche Befragung zur Erfassung subjektiver gesundheitsrelevanter Informationen. Die Arbeitsplatzanalyse wurde mittels direkter Beobachtung der Studienteilnehmer am Arbeitsplatz durchgeführt. Im Fokus standen die psychischen Belastungen des Arbeitsplatzes als Risikofaktor und die geistigen Anforderungen (Problemlösung, Vielseitigkeit) der Arbeitsaufgabe als Protektivfaktor. Psychische Belastung wurde als der Zusatzaufwand operationalisiert, der entsteht, wenn bestimmte Bedingungen oder Unterbrechungen die eigentliche Arbeit behindern (z. B. ständige Telefonanrufe, veraltete Informationen, Probleme mit der Technik). Die in dieser Studie entwickelten Fragebögen zur Gesundheit und zum Freizeitverhalten erfassten verschiedene Indikatoren psychischer Gesundheit, z. B. psychosomatische Erkrankungen. Die Arbeitsplatzanalyse und die Befragung wurden jeweils 1990 und 1991 durchgeführt. Während der Follow-up-Phase 1992 und 1998 wurden lediglich die Fragebögen eingesetzt, eine erneute Arbeitsplatzbewertung fand nicht statt.
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Wesentliche Ergebnisse Risikofaktor psychische Belastung ▬ Angestellte mit einem hohen Maß an Zusatzaufwand an ihrem Arbeitsplatz weisen mehr psychosomatische Beschwerden und negative Gefühle wie Gereiztheit auf als Untersuchungsteilnehmer mit einem vergleichsweise geringen Zusatzaufwand. ▬ Die einzelnen Unterbrechungen werden erst durch ihre Kumulation zu einer psychischen Belastung. ▬ 64% aus der Gruppe der hoch Belasteten fühlen sich häufig oder täglich gereizt, gegenüber 36% aus der Gruppe mit niedrigen Belastungen. Die hoch Belasteten geben an, häufig niedergeschlagen oder traurig zu sein und auch in der Freizeit an Probleme am Arbeitsplatz zu denken. Nur 37% der Untersuchungsteilnehmer, die am Arbeitsplatz hohen psychischen Belastungen ausgesetzt sind, verzeichnen eine große Lebenszufriedenheit. Im Vergleich dazu weisen 63% aus der Gruppe mit geringeren Belastungen eine hohe Lebenszufriedenheit auf (AIDAProjektgruppe 1993). ▬ Die gesundheitlichen Auswirkungen psychischer Belastungen treten in der Regel zeitverzögert auf und nehmen mit der Zeit zu: Personen, die zum Untersuchungszeitpunkt einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt waren, gehören im Jahr der ersten Nachbefragung mit 66% Wahrscheinlichkeit zur Gruppe mit erhöhten psychosomatischen Beschwerden. Zum zweiten Nachbefragungszeitpunkt (zwei Jahre später) litten 70% der hoch Belasteten unter psychosomatischen Beschwerden. ▬ Je größer die beobachtete psychische Belastung war, desto größer ist die gesundheitliche Beeinträchtigung. In der Gruppe der Untersuchungsteilnehmer mit hoher psychischer Belastung am Arbeitsplatz geben 62% überdurchschnittlich viele Krankheiten wie Magengeschwüre, Lebererkrankungen oder Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule an. Das trifft in der Gruppe der geringer Belasteten nur auf 38% zu. ▬ Insgesamt zeigt sich ein doppelt so hohes Risiko für psychische oder körperliche Gesundheitsbeeinträchtigungen in der Gruppe der höher Belasteten. ▬ Weitere Variablen wie Alter, Schulbildung, Dauer der Betriebszugehörigkeit oder Berufsausbildung haben keinen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen Zusatzaufwand und Gesundheitszustand. Schutzfaktor geistige Anforderungen ▬ 69% der Beschäftigten mit höheren geistigen Anforderungen verwenden auch in ihrer Freizeit überdurchschnittlich viel Zeit auf geistig anregende Tätigkeiten, z. B. Volkshochschulkurse oder spezielle
139 7.1 · Arbeitsweltbezogene Risiken und Ressourcen
Hobbies. Nur 31% der Beschäftigten mit niedrigen geistigen Anforderungen machten eine solche Angabe. Dieses Ergebnis wird nicht durch die jeweilige schulische oder berufliche Qualifikation beeinflusst. ▬ Höhere Anforderungen scheinen einen förderlichen Einfluss auf das Selbstvertrauen auszuüben, wohingegen geringe Anforderungen am Arbeitsplatz sich in Richtung einer vermehrten Ängstlichkeit auswirken können. ▬ Negative Auswirkungen hoher geistiger Anforderungen konnten nicht festgestellt werden. Ergebnisse der Follow-up-Befragung von 1998 ▬ Der Gesundheitszustand der Untersuchungsteilnehmer zum Zeitpunkt der Nachbefragung korreliert mit den gemessenen psychischen Belastungen im Jahr 1990, unabhängig davon, ob die Angestellten noch am selben Arbeitsplatz beschäftigt waren oder nicht. Dies kann entweder daran liegen, dass die neuen
Arbeitsplatzbedingungen noch nicht ihre Wirkung entfaltet haben oder dass der neue Arbeitsplatz ähnliche Stressoren aufweist. ▬ Die Verbindung zwischen Stressoren am Arbeitsplatz und gesundheitlicher Beeinträchtigung hat sich bei zwei (Depression, Lebenszufriedenheit) von sieben Indikatoren abgeschwächt. Literatur zum Thema Dunckel H, Resch MG (2004) Arbeitsbezogene psychische Belastungen. Die AIDA-Studie. Steffgen G (Hrsg) Betriebliche Gesundheitsförderung. Hogrefe, Göttingen, S 51–61 AIDA Projektgruppe (1993) Besser vorbeugen als heilen. Schutz und Förderung der Gesundheit durch Arbeitsgestaltung – Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt AIDA – Technische Universität, Institut für Humanwissenschaft in Arbeit und Ausbildung, Berlin Leitner K, Resch MG (2005) Do the effects of job stressors on health persist over time? A longitudinal study with observational stressor measures. J Occup Health Psychol 10: 18–30
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
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Whitehall-II-Studie Großbritannien: 1985–1993 Schwerpunkt Chronische Krankheiten, u. a. psychische Störungen Ziele Überprüfung des Einflusses verschiedener Faktoren wie ▬ Kontrolle am Arbeitsplatz, ▬ Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes, ▬ soziale Unterstützung am Arbeitsplatz und zu Hause auf die psychische Gesundheit und das Gesundheitsverhalten.
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Zielgruppe In die Whitehall-II-Studie wurden 10.308 männliche und weibliche Londoner Büroangestellte des öffentlichen Dienstes im Alter von 35 bis 55 Jahren einbezogen. Im Hinblick auf spezielle Fragestellungen wurden Subkohorten untersucht. Studiendesign: Prospektive Kohortenstudie In der ersten Studienphase (1985–1988) nahmen die Beteiligten an einer Screening-Untersuchung und einer schriftlichen Befragung teil. In der zweiten Studienphase (1989) fand eine postalische Befragung statt. In der abschließenden dritten Phase (1991–1993) wurde die schriftliche Befragung erneut mit einer Screening-Untersuchung kombiniert. Wesentliche Ergebnisse ▬ Geringe soziale Unterstützung am Arbeitsplatz sowie geringe Entscheidungskontrolle, hohe Arbeitsanforderungen und eine fehlende Balance zwischen Anstrengungen und Gratifikationen sind mit einem erhöhten Risiko für psychische Störungen assoziiert. ▬ Unvereinbare Arbeitsanforderungen haben einen größeren Einfluss auf die Entstehung psychischer Störungen als ein hohes Arbeitstempo (Stansfeld et al. 1999). ▬ Soziale Unterstützung und Entscheidungskontrolle am Arbeitsplatz stellen protektive Faktoren in Bezug auf psychische Störungen dar. Der protektive Effekt sozialer Unterstützung ist bei Männern größer als bei Frauen, besonders die Unterstützung durch Vorgesetzte. ▬ Negativ erlebte Aspekte sozialer Beziehungen, materielle Probleme und mangelnde soziale Unterstüt-
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zung am Arbeitsplatz sind Prädiktoren psychisch bedingter Krankschreibungen. Die Effekte fallen nach Geschlecht und Dauer der Abwesenheit unterschiedlich aus. Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen ist ein protektiver Faktor im Hinblick auf psychisch bedingte kürzere Fehlzeiten (bis zu sieben Tage). Das gilt besonders für diejenigen, deren persönliche Beziehungen im Privatleben durch ein hohes Maß an negativen Aspekten gekennzeichnet sind. Belastete persönliche Beziehungen erhöhen bei Männern das Risiko längerer psychisch bedingter Fehlzeiten. Praktische soziale Unterstützung, z. B. Hilfe im Haushalt, wirkt sich bei Männern auf niedrigere Raten längerer Krankschreibungen aus. Bei Frauen findet sich ein Zusammenhang zwischen vertrauensvoller sozialer Unterstützung im Privatleben und höheren Raten längerer Fehlzeiten (über sieben Tage). Insgesamt ist der protektive Effekt von sozialer Unterstützung am Arbeitsplatz in Bezug auf kurze Krankmeldungszeiten (bis zu sieben Tage) sehr viel größer als der protektive Effekt von sozialer Unterstützung im privaten Umfeld. Eine fehlende Anstrengungs-Gratifikations-Balance ist in der Whitehall-II-Studie mit Alkoholabhängigkeit bei Männern assoziiert. Bei Frauen ist einerseits eine niedrige Entscheidungskontrolle mit Alkoholabhängigkeit assoziiert, andererseits liegt eine negative Assoziation zwischen steigenden Dienstgraden und dem Risiko einer Alkoholabhängigkeit vor. Es findet sich kein Zusammenhang zwischen hohen Arbeitsanforderungen oder mangelnder sozialer Unterstützung und Alkoholproblemen (Head et al. 2004).
Literatur zum Thema Head J, Stansfeld SA, Siegrist J (2004) The psychosocial work environment and alcohol dependence: a prospective study. Occup Environ Med 61: 219–224 Stansfeld SA, Fuhrer R, Shipley MJ, Marmot MG (1999) Work characteristics predict psychiatric disorder: prospective results from the Whitehall II Study. Occup Environ Med 56: 302–307 Stansfeld SA, Rael EGS, Head J, Shipley MJ, Marmot MG (1997) Social support and psychiatric sickness absence: a prospective study of British civil servants. Psychol Med 27: 35–48
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Anforderungen in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit Antje Ducki
Stress betrifft mehr als 28% der Erwerbstätigen und stellt nach Rückenschmerzen das zweithäufigste arbeitsbedingte Gesundheitsproblem dar (Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen 2002). Körperliche und psychische Belastungen sind dabei von besonderer Bedeutung und bei Arbeitern weitaus häufiger als bei Angestellten (Röttger et al. 2003).
Aktuelle Entwicklungen in der Arbeitswelt Die heutige Arbeitswelt ist durch zwei zentrale gesundheitsrelevante Entwicklungen geprägt: zum einen durch den kontinuierlichen Abbau von Arbeitsplätzen und eine damit einhergehende wachsende Zahl von Arbeitslosen. Zum anderen durch eine enorme örtliche und zeitliche Flexibilisierung der Arbeit, die sehr unterschiedliche Facetten aufweist. Im März 2004 gab es 4,4 Millionen Erwerbslose in Deutschland, die Erwerbslosenquote stieg damit auf 11%. In den neuen Bundesländern ist die Erwerbslosenquote mit 19,4% doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern (8,9%). Die Mehrzahl der Erwerbslosen in Deutschland hat eine ungünstige berufliche Qualifikationsstruktur: 27% der Erwerbslosen haben keinen beruflichen Abschluss, 59% haben eine Lehre absolviert. Nur 5% der Erwerbslosen haben einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Insgesamt sank in Deutschland seit 2001 die absolute Zahl der Erwerbstätigen um 1,2 Millionen Personen (StaBa 2005). Berücksichtigt man die wachsende Neigung der deutschen Wirtschaft im Ausland zu investieren (DIHK 2004), wird sich diese Zahl vermutlich in den kommenden Jahren noch weiter erhöhen. Hinsichtlich der Flexibilisierung lassen sich verschiedene Entwicklungen aufzeigen: Traditionelle Erwerbsbiografien, d. h. die Ausübung eines erlernten Berufs innerhalb ein und derselben Firma von der Ausbildung bis zum Ruhestand, treffen heute für die Mehrzahl der Beschäftigten nicht mehr zu. Im Zeitraum April 2002 bis Mai 2003 wechselte jeder zehnte Erwerbstätige in Deutschland den Betrieb oder den Beruf (StaBa 2004). Eine der Ursachen liegt darin, dass immer weniger Arbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten. Stichworte sind hier »Freelancer« (freier Mitarbeiter) bzw. Freiberuflichkeit. Laut Statistischem Bundesamt waren 9% aller bundesdeutschen Arbeitnehmer im Jahr 2000 zeitlich befristet beschäftigt, Anfang der 90er Jahre lag die Quote bei 7,5%. Besonders häufig sind Zeitverträge bei Berufsanfängern anzutreffen: Von den Arbeitnehmern unter 30 Jahren war im Jahr 2000 jeder Fünfte befristet beschäftigt (StaBa 2001).
Neben den Berufsbiografien ändern sich die Arbeitszeiten. Die Normalarbeitszeit, die eine 35- bis 40-StundenWoche vorsieht, trifft zum jetzigen Zeitpunkt nur noch auf ein Drittel der Beschäftigten zu. 23% der Erwerbstätigen arbeiten länger als 48 Stunden in der Woche, 22% aller Arbeitnehmer stehen in Teilzeitarbeitsverhältnissen (StaBa 2003). Der Rest der Erwerbstätigen verteilt sich auf geringfügig Beschäftigte. 17,3 Millionen Erwerbstätige arbeiten ständig, regelmäßig oder gelegentlich am Wochenende, in der Nacht und/oder in Wechselschichten, wobei die Wochenendarbeit am häufigsten verbreitet ist. Ebenso nimmt der Anteil der Beschäftigten zu, die abends länger im Büro oder im Betrieb bleiben bzw. darüber hinaus zu Hause arbeiten. 51% der Erwerbstätigen geben in einer Repräsentativbefragung an, manchmal zwischen 19 und 22 Uhr zu arbeiten, und 27% arbeiten manchmal auch nach 22 Uhr (Garhammer 2004). Rahmenbedingungen sind auch Einstellungs» Wichtige hindernisse für neue Mitarbeiter, Besitzstandswahrung älterer Beschäftigter, Plünderung der Sozialkassen für fremde Leistungen und damit Verteuerung der Arbeitsplätze, mit dem Effekt der Leistungsverdichtung für die verbleibenden Mitarbeiter. Hiermit gehen enorme individuelle Stressbelastungen einher. Dr. Rolf Manz, Bundesverband der Unfallkassen, München
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Ein weiterer für die Gesundheit zu beachtender Flexibilisierungsaspekt ist die zunehmende Mobilität. Mittlerweile beschäftigen deutsche Unternehmen 2,4 Millionen Arbeitnehmer im Ausland, mit steigender Tendenz (FAZ, 22.3.2004). Gleichzeitig waren – bedingt durch die neuen Informations- und Kommunikationsmittel – die technischen Voraussetzungen noch nie so günstig, räumliche Mobilität zu reduzieren. Telearbeit nimmt an Bedeutung zu und ermöglicht eine bessere Koordination von beruflichen und außerberuflichen Lebensbereichen. Diese Entwicklungen – der Verlust von Arbeitsplätzen einerseits sowie die zeitliche und örtliche Flexibilisierung der vorhandenen Arbeit andererseits – haben nachhaltige und unterschiedliche Konsequenzen für die Gesundheit der Erwerbstätigen und der Erwerbssuchenden: Während die einen mit negativen Folgen von Arbeitslosigkeit für das Selbstwertgefühl und die psychosoziale Gesundheit zu kämpfen haben, leiden die »glücklichen Arbeitsplatzbesitzer« unter steigendem Zeit- und Verantwortungsdruck und einer immer größer werdenden Imbalance zwischen Arbeit und außerberuflichen Lebensbereichen (Stichwort Work-Life-Balance).
Stress in der Arbeitswelt Gesundheit oder Krankheit ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Belastungen und verfügbaren Bewältigungsressourcen. Ihre Bilanz beeinflusst zum einen das
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Gesundheitsverhalten, zum anderen den Gesundheitszustand direkt. Nach transaktionalen Erklärungsmodellen (Lazarus u. Launier 1981) wird die Ursache von Stress in einer Diskrepanz zwischen individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Kompetenzen sowie situativen Gegebenheiten gesehen. Stress entsteht aufgrund eines als unangenehm erlebten und nicht kontrollierbaren Ungleichgewichts zwischen persönlichen Fähigkeiten und situativen Anforderungen. Stressoren oder Belastungen sind nach diesem Konzept durch diejenigen Bedingungen gegeben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Stress auslösen. Stressoren in der Arbeitswelt können klassifiziert werden in aufgabenbezogene Stressoren (Unter- und Überforderung, Störungen und Unterbrechungen), physikalische Stressoren (Lärm, Staub, Hitze, Schmutz), zeitliche Stressoren (Nacht- und Schichtarbeit, Arbeit auf Abruf, Zeitdruck), soziale Stressoren (fehlende soziale Unterstützung, Mobbing, Rollenkonflikte, Verhalten von Vorgesetzten) und arbeitsorganisatorische Stressoren (unklare Zuständigkeiten, überflüssige Abzeichnungsregelungen). Die Wirkung von Stress auf die Gesundheit ist nach dem transaktionalen Stresskonzept von Bewertungs- und Bewältigungsprozessen (Coping) abhängig: Negative Stressfolgen sind dann zu erwarten, wenn ungeeignete Copingstrategien zum Einsatz kommen oder wenn schon im Bewertungsprozess die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten als nicht ausreichend angesehen werden, um den gestellten Anforderungen angemessen zu begegnen. Damit kommt den Ressourcen im Stressprozess eine wichtige Bedeutung zu. Frese (1994) definiert Ressourcen als »Hilfsmittel, die es dem Menschen erlauben, die eigenen Ziele trotz Schwierigkeiten anzustreben, mit den Stressbedingungen besser umzugehen und unangenehme Einflüsse zu verringern«. Unterschieden werden situative und personale Ressourcen. Zu den situativen Ressourcen zählen neben einer gesunden Umwelt, guten Wohnverhältnissen und materieller Sicherheit funktionierende familiäre und soziale Beziehungen sowie befriedigende Arbeitsbedingungen. Zu den personalen Ressourcen gehören internale Kontrollüberzeugungen, Selbstwirksamkeit, Bewältigungs- und Problemlösekompetenzen (ausführlich Antonovsky 1987). Bedeutsame situative Ressourcen in der Arbeitswelt sind ▬ hohe Handlungs- bzw. Entscheidungsspielräume, ▬ vollständige und ganzheitliche Aufgabenstrukturen, ▬ Anforderungsvielfalt, ▬ zeitliche Spielräume, ▬ Sinnhaftigkeit, ▬ Durchschaubarkeit und Transparenz der Arbeitssituation und der Arbeitsaufgaben, ▬ soziale Unterstützung. Ressourcen stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Geyer (1997) weist darauf hin, dass personale Ressourcen vor allem bei den Menschen stark ausgeprägt sind, die über viele situative (externe) Ressour-
cen wie ein hohes Bildungsniveau, hohes Einkommen, privilegierte soziale Positionen und hohe berufliche Entscheidungsspielräume verfügen. Ressourcen haben direkte und intervenierende Effekte im Stressgeschehen. Sie bestimmen zum einen Bewertungs- und Bewältigungsprozesse, zum anderen kann Stress durch Aktivierung von Ressourcen besser bewältigt werden. Der Direkteffekt wirkt sich unmittelbare positiv auf Wohlbefinden und Gesundheit aus. Ressourcen können das Selbstwertgefühl, Arbeitsfreude und das allgemeine Wohlbefinden steigern. Der intervenierende Effekt schwächt negative Belastungswirkungen wie erhöhte Gereiztheit ab. Welches Belastungs- und welches Ressourcenpotenzial ergibt sich nun aus den geschilderten Entwicklungen in der Arbeitswelt?
Steigende Erwerbslosigkeit – Belastungen für die Gesundheit Arbeit ist ein zentraler Lebensinhalt. Arbeitslosigkeit bedeutet einen Verlust von ökonomischen und psychosozialen Ressourcen der Gesundheit, vor allem aber einen Verlust bzw. eine Einschränkung an der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Arbeitslosigkeit reduziert Kooperationserfahrungen, soziale Anerkennung und Möglichkeiten der Identitätsentwicklung sowie der Kontrolle und Einflussnahme. Die Ausgrenzung aus den produktiven Lebensbezügen der Erwerbsarbeit wird von den meisten Arbeitslosen als belastend erlebt und hat in vielen Fällen negative Folgen für die Gesundheit. Ein erhöhtes Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko insbesondere für Langzeitarbeitslose gilt, trotz methodischer Mängel der zugrunde gelegten Studien, als empirisch belegt (StaBa 1998; Mohr 1997). Arbeitslosigkeit wirkt aber auch auf das Befinden der Erwerbstätigen. Stegmann (2000) berichtet, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlust die am häufigsten genannte Angst von Beschäftigten ist. Auch in einer Untersuchung zur freiberuflichen Telearbeit (Ertel 2001) gaben 49% der Freiberufler berufliche Unsicherheit als einen zentralen Belastungsfaktor an. Klandermans et al. (1991) fanden einen Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzunsicherheit, Depression und psychosomatischen Beschwerden. Wie stark sich Arbeitsplatzunsicherheit auswirkt, ist dabei von verschiedenen Ressourcen abhängig: Als situative Ressourcen werden Aspekte der Kontrolle, Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Befristung des Arbeitsverhältnisses genannt (Borg 1989; Greenhalgh u. Rosenblatt 1984). Als personale Ressourcen scheinen das Selbstbewusstsein, optimistische Zukunftserwartungen und das Kontrollbewusstsein wichtige Einflussfaktoren zu sein (Klandermans et al. 1991). Spezifische Ressourcen, die von Freiberuflern genannt werden, sind eine meist hohe Zufriedenheit mit dem Abwechslungsreichtum der Arbeit, den Lernmöglichkeiten und den positiven Herausforderungen, die sich aus der Tätigkeit ergeben (Ertel 2001).
143 7.2 · Anforderungen in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit
Steigende Flexibilisierungsanforderungen – Belastung oder Ressource? Letztlich zielt jede Restrukturierung und Flexibilisierung darauf ab, betriebliche Abläufe und Prozesse zu effizienter und rationeller zu gestalten. Für den einzelnen Beschäftigten bedeutet dies in den meisten Fällen eine deutliche Leistungsverdichtung und Intensivierung der Arbeit. Daher erstaunt nicht, dass Zeitdruck – als das Resultat von Arbeitsintensivierung durch Personalabbau – heute europaweit einer der am häufigsten genannten Belastungsfaktoren ist (Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, 2002). In einer repräsentativen Befragung in Nordrhein-Westfalen gaben 44% aller in die Untersuchung einbezogenen Erwerbstätigen eine hohe Verantwortung als einen der wichtigsten arbeitsbedingten Belastungsfaktoren an (Reusch 2001). Erwerbsbiografische Veränderungen haben unterschiedliche Auswirkungen für die Betroffenen. Eine von Individualisierung und Inkonsistenz geprägte Arbeitsbiographie kann sowohl positiv als auch negativ gewertet werden. In der Negativvariante kann ein Arbeitnehmer die Unbeständigkeit der Erwerbstätigkeit als Bruch und damit als Belastung bzw. Bedrohung empfinden, in der Positivvariante dagegen als Chance oder Vielfältigkeit. Welche der beiden Wertungen überlegen ist, hängt von den Betroffenen, ihrem Alter, dem Berufsstand, den Arbeitsbedingungen und vor allem ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt ab. Eine flexible Arbeitszeit kann durchaus Vorteile für die Beschäftigten bieten, wenn die Arbeitszeitflexibilisierung größere zeitliche Spielräume und eine bessere Verbindung verschiedener Lebens- und Interessensbereiche ermöglicht. So ist zum Beispiel der am häufigsten genannte Grund für Teilzeitarbeit, dass sie eine bessere Koordination von beruflichen und familiären Interessen ermöglicht (BMSFJ 2001). Voraussetzung ist aber, dass die Arbeitszeit nicht ausschließlich an betrieblichen Erfordernissen ausgerichtet wird, sondern auch tatsächlich individuelle Zeitbedürfnisse berücksichtigt werden. Außerdem muss sie vorhersehbar und planbar sein, um mit den Arbeitszeiten des Lebenspartners oder anderen außerbetrieblichen Erfordernissen koordiniert werden zu können (Büssing u. Seifert 1995). Bei der Abstimmung individueller Arbeitszeitwünsche und betrieblicher Erfordernisse ergeben sich im betrieblichen Alltag jedoch häufig Probleme. Dies führt besonders in großen Unternehmen dazu, dass die Arbeitszeitformen von Abteilung zu Abteilung wechseln. Eine Vielfalt von verschiedenen Arbeitsmodellen kann wiederum zu erheblichen Synchronisations- und Koordinationsproblemen von Aktivitäten und Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit führen, insbesondere dann, wenn innerhalb eines Haushalts beide Partner zeitlich flexibel arbeiten müssen (Hielscher u. Hildebrandt 1999).
Regelmäßige Überstunden, Arbeit am Wochenende und zu den abendlichen »social hours« zwischen 18 und 22 Uhr sowie unregelmäßige Arbeitszeiten sind dann mit sozialen Einschränkungen außerhalb der Erwerbsarbeit verbunden, wenn regelmäßige Treffen im Freundes- oder Familienkreis, sportliche und kulturelle Aktivitäten nicht oder nur noch eingeschränkt wahrgenommen werden können. Diese mit der Flexibilisierung einhergehende »Individualisierung der Lebensführung« betrifft zunehmend alle sozialen Schichten, wie Untersuchungen bei freiberuflichen Journalisten, bei hoch qualifizierten Computer-Fachleuten, bei Industriearbeitern, bei Verkäuferinnen und bei Beschäftigten in der Altenpflege belegen (Hielscher 2000; Jurzyck 1993). Negative gesundheitliche und soziale Folgen ergeben sich, wenn die gesamte Lebensführung dem Diktat der Arbeit und sich ständig wandelnder Arbeitsanforderungen unterworfen wird. Eine Studie von Glaser und Glaser (1995), in der Telearbeiter höher qualifizierter Tätigkeiten bei IBM befragt wurden, ergab, dass knapp ein Viertel der insgesamt 38 Befragten Schwierigkeiten hatte, nach der Arbeit abzuschalten, 18,4% der Befragten gaben an, ihre Familie und ihren Partner zu vernachlässigen, 24% der Untersuchten vernachlässigten private Kontakte und Hobbys. Auch die Ergebnisse zur eingeschränkten Erholungsfähigkeit freiberuflicher Telearbeiter aus der Medienbranche weist in dieselbe Richtung (Ertel 2001).
Work-Life-Balance und Selbstorganisation Für Telearbeiter steigen die Anforderungen an die Einzelperson, selbstständig und aus eigener Kraft eine Balance zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Beruf und Familie und zwischen Phasen der An- und Entspannung herzustellen. Studien zur Koordination bzw. Abgrenzung von Arbeit und Privatleben zeigen unterschiedliche Strategien. Während sich ein Teil der Telearbeiter um eine möglichst strikte raum-zeitliche Trennung der Lebenssphären Arbeit und Privat bemüht (Konradt et al. 2000), besteht eine andere Strategie in der Verschachtelung der verschiedenen Aktivitäten (Jurzyck 1993). Diese kann in einer durch externe Zeitvorgaben oder familiale Anforderungen aufgezwungenen Zerstückelung der Zeitblöcke und/oder auch aus Platzgründen in einer räumlichen Verschachtelung von Arbeit und Privatleben liegen. Bei den bevorzugten Strategien finden sich deutliche Geschlechterunterschiede. Während Männer auch unter Telearbeitsbedingungen eher ihren gewohnten Arbeitsrhythmus fortsetzen und für Hausarbeitsaufgaben nicht ansprechbar sind, verschränken Frauen vermehrt Erwerbsarbeits- und Hausarbeitsaufgaben. Folglich sind weibliche Teleheimarbeiter auch stärker von familienbedingten Störungen betroffen als männliche. In der Studie von Treier (2001) wurden für Frauen doppelt so viele familienbedingte Störungen ermittelt wie für Männer.
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Wir müssten mehr darüber in Erfahrung bringen, wie » gesellschaftliche Veränderungen (z. B. die Unsicherheit über die zu erwartenden Lebensverläufe) mit Veränderungen der konkreten Arbeitssituation (z. B. die Verdichtung von Arbeitsprozessen, die Einengung von Handlungsspielräumen, die Zunahme von Arbeitsdruck oder die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust) und den persönlichen privaten Anforderungen und Belastungen (z. B. partnerschaftliche Krisen, individuelle Gewalterfahrungen, berufstätige Paare mit Kindern, Alleinerziehende) in Beziehung stehen. Das Individuum ist in Bezug auf den Umgang mit Belastungen und Anforderungen unteilbar. Prof. Dr. Manfred Zielke, Wissenschaftsrat der Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG (AHG)
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Zusammenfassend erfordern neue Formen der Beschäftigung von heutigen Arbeitnehmern ein immer höheres Maß an Selbstständigkeit, Organisation und hohe Kompetenzen des individuellen Biografiemanagements. Teilzeitarbeit, Selbstständigkeit oder individuelle Arbeitszeitkonzepte wie Gleitzeit und Job-Sharing geben den Beschäftigten einerseits die Chance, Beruf und Privatleben besser zu vereinbaren. Gleichzeitig wächst aber in den Betrieben durch die Arbeitsintensivierung der Zeit- und Verantwortungsdruck so sehr, dass zeitliche Gestaltungsspielräume für eine bessere Koordination mit anderen Lebensinteressen nahezu unmöglich werden. Hinzu kommt die immer wichtiger werdende Sicherung der Erwerbsfähigkeit durch Weiterqualifizierung (StaBa 2002), deren Notwendigkeit besonders vor dem Hintergrund der sinkenden Halbwertszeit des Wissens steigt. Mögen diese Anforderungen an Selbstorganisation und Biografiemanagement für Hochqualifizierte noch zu managen sein, geraten die Menschen aus den unteren sozialen Schichten immer stärker in eine ausweglose Überforderung.
Sozioökonomischer Status, Geschlecht und Gesundheit International und national liegen zahlreiche empirische Ergebnisse zur gesundheitlichen sozialen Ungleichheit vor (Marmot et al. 1991; Elkeles u. Mielck 1993; Helmert et al. 1993; Mielck 1993; Mielck u. Bloomfield 2001). Sie alle belegen, dass Angehörige unterer sozialer Schichten einer erheblich höheren Mortalität und Morbidität ausgesetzt sind als Angehörige der oberen sozialen Schicht, was sich auch in den Zahlen des bundesdeutschen Gesundheitsberichtes widerspiegelt (StaBA 1998). Die klassischen Indikatoren der sozialen Ungleichheit sind (Aus-)Bildung, Einkommen und Beruf. Die Indikatoren hängen eng zusammen bzw. bedingen sich untereinander: Während die Schulbildung in erster Linie
geistige Flexibilität und Wissen zur Verfügung stellt, um einen effektiven Umgang mit alltäglichen Anforderungen zu gewährleisten, schafft das Einkommen die materiellen Ressourcen zur Lebenssicherung und Bedürfnisbefriedigung. Die Ausbildung hat eine zentrale Platzierungsfunktion für den später ausgeübten Beruf. Der Beruf selbst ist der relevante Indikator für arbeitsbedingte Belastungen und Ressourcen: Über ihn wird das Ausmaß an täglich wirksam werdenden Belastungen, Anforderungen und Einflusschancen bestimmt (Peter 2001). Der beruflichen Situation wird daher als Bindeglied zwischen der Makroebene sozialer Schichtindikatoren und individuellen gesundheitlichen Risiken eine besondere Bedeutung für die Gesundheit zugeschrieben. Dies gilt in besonderem Maße für sozial Benachteiligte. Unausweichlichkeit extrem ungünstiger Belastungs-/ Ressourcenkombinationen. Zu den wichtigsten Ressour-
cen am Arbeitsplatz gehören Kontrollmöglichkeiten und Handlungsspielräume (Bamberg et al. 2003). Angehörige unterer sozialer Schichten üben häufig Tätigkeiten aus, die durch eine Kombination aus geringer Kontrolle und geringem Handlungsspielraum bei gleichzeitig hohen körperlichen und psychosozialen Belastungen gekennzeichnet sind. Insbesondere die Kombination aus geringer Kontrolle und einem hohen Leistungs- und Zeitdruck hat in den letzten zehn Jahren europaweit bei gering qualifizierter Arbeit eher zu- als abgenommen (Gallie u. Paugam 2002). Diese Kombination ist deswegen so gesundheitsschädlich, weil die Möglichkeiten, Belastungen z. B. durch Tätigkeitswechsel auszuweichen bzw. diese zu kompensieren, umso geringer sind, je kleiner der Handlungs- und Kontrollspielraum ist. Das heißt, je weniger Ressourcen verfügbar sind, desto dauerhafter, unmittelbarer und intensiver können Belastungen einwirken (einen neueren Studienüberblick hierzu geben De Lange et al. 2003). Dies trifft vor allem für gering Qualifizierte bzw. für un- und angelernte Beschäftigte zu. Geringe Entwicklungschancen durch Fort- und Weiterbildung. Die Schwierigkeit, solchen ungünstigen Belas-
tungs-/Ressourcenkonstellationen auszuweichen, wird dadurch verstärkt, dass gering Qualifizierte nicht nur eine schlechte Ausgangsqualifikation besitzen, sondern dass sie zudem auch nur selten in den Genuss von Fort- und Weiterbildungen kommen, was eine zentrale Voraussetzung für den beruflichen Aufstieg darstellt: In einer Eurostat-Befragung von 2001 geben nur 18% der Un- und Angelernten, aber 68% der leitenden Angestellten an, in den letzten fünf Jahren an einer Weiterbildung teilgenommen zu haben (Gallie u. Paugam 2002). Bei weniger als einem Viertel der Un- und Angelernten erhöhten sich in den letzten fünf Jahren die Anforderungen ihres Arbeitsplatzes. Verbunden mit den anhaltenden Rationalisierungstendenzen in den Unternehmen ergibt
145 7.2 · Anforderungen in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit
sich für Un- und Angelernte eine permanent ansteigende Bedrohung durch Arbeitsplatzverlust, was europaweit durch die oben genannte Eurostat-Befragung empirisch bestätigt wird. Geringe personale Ressourcen. Erschwerend kommt hinzu, dass – meist als Folge der geringeren Zugriffsmöglichkeiten auf situative Gesundheitsressourcen – bei dieser Personengruppe häufig auch personale Ressourcen wie allgemeine Problemlösekompetenzen, Selbstvertrauen, generelle Lebenszufriedenheit und optimistische Zukunftserwartungen geringer ausgeprägt sind (Geyer 1997). Die ungleiche Verteilung von Gesundheitschancen und Risiken führt im subjektiven Erleben zu verstärkten Gratifikationskrisen (Siegrist 1996, 2002): Eingebrachte Anstrengung und Leistung sowie erhaltene Belohnung, die sich grundsätzlich äußern kann in Bezahlung, Wertschätzung, beruflichem Status, aber auch Arbeitsplatzsicherheit, werden als unausgewogen und ungerecht erlebt. In der Folge führt dies zu psychischen Stressreaktionen, wie erlernte Hilflosigkeit und erhöhte Depressivität. Neuere Überblicksstudien belegen, dass diese Stressreaktionen das Risiko für koronare Herzkrankheiten erhöhen können (Kuper et al. 2002). Längere Dauer der »Lebensarbeitszeit«. Sozial Benachteiligte haben in der Regel eine kurze oder gar keine Ausbildungsphase (keinen Schulabschluss oder Hauptschulabschluss, häufig keine berufliche Ausbildung) und daher eine vergleichsweise lange Erwerbsphase, die bei fehlender Ausbildungszeit bis zu 50 Lebensjahren dauern kann. Sozial benachteiligte Menschen sind damit den oben dargestellten arbeitsbedingten Gefahren und Risikopotentialen eine sehr viel längere Lebenszeit ausgesetzt als Menschen höherer sozialer Schichten. Dies begünstigt langfristige Chronifizierungsprozesse. Genderaspekte. In den letzten Jahren wurde in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um soziale Ungleichheit immer stärker betont, dass neben den klassischen horizontalen Ungleichheitsindikatoren Bildung, Einkommen und Beruf die vertikalen Ungleichheitsindikatoren wie das Geschlecht, stärker berücksichtigt werden müssen. So zeigt sich der soziale Gradient in Mortalität und Morbidität bei Männern und Frauen je nach herangezogenen Indikatoren in unterschiedlicher Stärke und mit unterschiedlichen, bei Frauen oftmals nicht linearen Verläufen (Babitsch 2001). Insgesamt ist die Forschungslage zu Geschlechterunterschieden in der sozialen Lage und Gesundheit inkonsistent und defizitär (MaschewskySchneider et al. 2003). Hinweise auf spezifische berufliche Belastungs-/ Ressourcenkonstellationen von Frauen gibt der Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen in Deutschland (BMSFJ 2001). Demnach finden sich gering qualifizier-
te Frauen oftmals in geringfügigen, teilweise illegalen Beschäftigungsverhältnissen und sind stärker als höher qualifizierte Frauen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt. Über verschiedene Berufsgruppen hinweg zeigen sich für Frauen extrem ungünstige Kombinationen aus hohen körperlichen und psychischen Beanspruchungen bei gleichzeitig geringen Anforderungen. Zeitbudgeterhebungen belegen, dass bedingt durch die Hauptzuständigkeit der Frauen für die Haus- und Familienarbeit ihre Erholungsmöglichkeiten am Ende eines Arbeitstages im Vergleich zu Männern deutlich niedriger sind (Blanke et al. 1996). Zusammengefasst kann davon ausgegangen werden, dass die Besonderheiten der beruflichen Situation sozial Benachteiligter, wie sie oben dargestellt wurden, für Frauen in verschärfter Weise Bedeutung haben.
Arbeitswelt als effektiver und effizienter Zugangsweg für Prävention Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Veränderbarkeit der Gesundheitschancen stellt sich die Arbeitswelt als einer der geeignetsten Interventionszugänge dar: Hier können sowohl bedingungs- als auch personenbezogene Maßnahmen initiiert und aufeinander abgestimmt werden. Insbesondere bei Großbetrieben existiert ein entwickeltes System der betrieblichen Gesundheitsförderung, das verhältnis- und verhaltensbezogene Angebote kombiniert und den herkömmlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Maßnahmen der Gesundheitsförderung vereint (Brandenburg et al. 2000; Bamberg et al. 1998). Kernelemente sind neben einer Organisationseinheit, die die Prozesssteuerung und -koordination gewährleistet (meist Steuerkreis genannt), vor allem eine sorgfältige Diagnostik, daraus abgeleitete Interventionen und eine abschließende Evaluation. Das Vorgehen fußt auf den Regeln effektiver Projektorganisation und der Organisationsentwicklung: In der Analysephase werden alle verfügbaren Daten zur gesundheitlichen Situation in einem Betrieb (z. B. Arbeitsunfähigkeitsdaten der Krankenkassen, Ergebnisse von Mitarbeiterbefragungen oder Begehungen) ermittelt und ausgewertet, um Schwachstellen in den betrieblichen Abläufen zu identifizieren, die die Gesundheit der Beschäftigten beeinträchtigen. Daraus werden Vorschläge für geeignete Interventionen abgeleitet, die möglichst genau an die jeweiligen betrieblichen und aufgabenbezogenen Besonderheiten angepasst sein sollten. Interventionen können je nach Problem entweder am Verhalten der Beschäftigten ansetzen, wie Stressmanagementkurse oder Trainings zur Verbesserung des Führungsverhaltens, oder an den Arbeitsbedingungen (z. B. Abbau von Überstunden, Aufgabengestaltung). Anzustreben, aber in der betrieblichen Praxis selten vorzufinden, ist eine Kombination aus strukturellen und personenbezogenen Interventionen (z. B.
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Rückenkurse und eine bessere ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes).
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Bisher konzentrieren sich Präventionsprogramme gegen Stress am Arbeitsplatz vor allem auf die personale Ebene. Die Betroffenen werden im Umgang mit Belastungen geschult, das Ziel ist, die Verarbeitung zu erleichtern und über diesen Weg Krankheiten zu vermeiden. Ergänzend muss verstärkt das arbeitsorganisatorische und ökonomische Umfeld in die Prävention einbezogen werden. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen die Bedeutung dieses Umfeldes für die Entstehung pathogener Stressreaktionen. Zu nennen sind Stichworte wie Führungs- und Managementverhalten, Arbeitsverdichtung durch Rationalisierung, Bedrohung der Arbeitsplatzsicherheit durch Entlassungen und verschlossene Arbeitsmärkte. Beispielsweise legen erste Untersuchungen nahe, dass alleine eine Veränderung des Führungsstils, hin zu einem partizipativen, offenen und respektvollen Umgang mit Untergebenen, Stressbelastungen reduzieren kann. Integrierte Maßnahmen auf personeller und struktureller Ebene erscheinen daher vielversprechend. Prof. Dr. Johannes Siegrist, Universitätsklinikum Düsseldorf
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Da der Partizipation in der betrieblichen Gesundheitsförderung eine zentrale Schlüsselfunktion zukommt, werden häufig Gesundheitszirkel eingesetzt, um praxisnahe Veränderungsvorschläge zu entwickeln. Gesundheitszirkel sind zeitlich begrenzte betriebliche Arbeitsgruppen, in denen Beschäftigte Belastungen und Ressourcen an ihrem Arbeitsplatz selbst ermitteln, Ursachen analysieren und Lösungsvorschläge entwickeln. Obwohl es mittlerweile zahlreiche »Models of Good Practice« und gute Erfahrungen mit dem projektorientierten Vorgehen sowie mit Gesundheitszirkeln in Großbetrieben verschiedenster Branchen und Wirtschaftsbereiche gibt, zeigen Überblicksstudien, dass in der Mehrzahl der Betriebe trotzdem kurzfristig angelegte personenbezogene Angebote wie Programme zur Bewegung und Entspannung, Verbesserung der Ernährung, Verbesserung der Stressbewältigungskompetenz sowie zur Suchtvorsorge und Ähnliches überwiegen (Bamberg et al. 2003). Zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben der betrieblichen Gesundheitsförderung gehört sicherlich die Förderung der Selbstorganisation. Beschäftigte müssen in die Lage versetzt werden, sowohl ihre berufliche Biografie als auch die Anforderungen aus der Erwerbsarbeit und aus den außerberuflichen Lebensbereichen so zu koordinieren, dass sie langfristig ihre Arbeitsfähigkeit und Gesundheit erhalten. Dies ist auch angesichts der aktuellen Diskussion um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit von herausragender Bedeutung.
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147 7.2 · Anforderungen in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit
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7
148
Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
7.3
Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche Ulla Walter, Martina Plaumann, Anja Busse, Ulrike Klippel (Redaktionsgruppe MHH, ISEG)
7
Anhand einer systematischen Literaturrecherche wird im Folgenden die derzeitige Studienlage zu Stressinterventionen am Arbeitsplatz vorgestellt. Ziel dabei ist es, wirksame präventive Maßnahmen zu eruieren, Ansätze für die Praxis zu ermitteln und weiteren Forschungsbedarf darzulegen. Zunächst werden die möglichen Interventionsebenen am Arbeitsplatz veranschaulicht, danach das methodische Vorgehen der Literaturrecherche und die Studienschwerpunkte erläutert. Die zentralen Schlussfolgerungen der Studien finden sich jeweils zu Beginn in gekennzeichneten Textstellen, bevor die Studien nachstehend detailliert dargestellt werden. Abschließend werden Herausforderungen für Wissenschaft, Unternehmen und Sozialversicherungsträger sowie Ansätze zur Prävention aufgezeigt.
⊡ Tabelle 7.1. Stressmanagementinterventionen – Interventionsebenen und Beispiele (nach DeFrank u. Cooper 1987, zitiert nach Giga et al. 2003) Ebene der Intervention
Mögliche Interventionen
Individuell
Entspannungstechniken Ausgleichssport Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten Zeitmanagement Meditation Biofeedback
Organisatorisch
Modifikation technischer und umgebungsbedingter Gegebenheiten Neugestaltung/Umstrukturierung der Arbeitstätigkeit Änderung der Hierarchiestrukturen Mitarbeiterbeteiligung
Individuell/ organisatorisch
unterstützende Peergruppen persönlich angepasstes Arbeitsumfeld/Arbeitsausstattung Lösung von Rollenkonflikten Partizipation und Autonomie
Ebenen von Stressmanagementinterventionen Stressinterventionen am Arbeitsplatz können ▬ auf der individuellen Ebene bei den einzelnen Angestellten, ▬ auf der organisatorischen Ebene im gesamten Unternehmen bzw. in Teilbereichen und ▬ an der Schnittstelle aus individueller und organisatorischer Ebene ansetzen. Ziel der Interventionen auf individueller Ebene ist es, ein größeres Bewusstsein für Stress, seine gesundheitlichen Folgen und Möglichkeiten der Prävention bei den Mitarbeitern zu erreichen. Charakteristisch für individuelle Interventionen sind Entspannungsübungen, Bewegungsprogramme, kognitive Bewältigungsstrategien sowie Anleitungen zur Änderung des Lebensstils (⊡ Tabelle 7.1). Organisatorisch geprägte Interventionen versuchen durch Modifikationen der unternehmerischen, technischen, organisatorischen und/oder der sozialen Bedingungen, die Stressbelastung der Mitarbeiter zu minimieren. Beispiele sind eine Veränderung der Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten sowie eine Umgestaltung der Arbeitstätigkeit. Interventionen an der Schnittstelle zwischen individueller und organisatorischer Ebene betreffen z. B. Rollenkonflikte, kollegiale Zusammenarbeit sowie die Beteiligung der Arbeitnehmer an Entscheidungen. Als Methoden dienen u. a. der Einsatz von Peers, die die Mitarbeiter in ihrer Arbeit unterstützen und zum beruflichen Austausch zur Verfügung stehen sowie FeedbackGespräche, in denen Rollenkonflikte angesprochen und Möglichkeiten zu ihrer Lösung gefunden werden. Die
Interventionen auf den drei Ebenen können sich ergänzen und überschneiden. Individuelle Stressinterventionen werden in der Praxis bislang häufiger durchgeführt als Maßnahmen, die sich auf die organisatorische Ebene richten. Ebenso liegen zu individuellen Maßnahmen mehr wissenschaftliche Studien vor. Diese Unterrepräsentation organisatorisch geprägter Maßnahmen ist konsistent mit der von den Autoren durchgeführten systematischen Literaturrecherche (⊡ Tabelle 7.2). Die Dominanz individueller Stressinterventionen in der Praxis und in wissenschaftlichen Evaluationen kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden (Caulfield et al. 2004; Murphy 1995): ▬ Individuelle Stressinterventionen sind leichter zu implementieren, sie lassen sich in existierende Strukturen integrieren. ▬ Individuelle Stressinterventionen haben keinen Einfluss auf grundlegende Strukturen oder funktionale Veränderungen innerhalb eines Unternehmens. ▬ Individuelle Stressinterventionen unterstützen die Sichtweise, dass Stress ein Problem der Angestellten und nicht des Managements ist. ▬ Individuelle Stressinterventionen sind leichter zu evaluieren als komplexe organisatorische Maßnahmen. ▬ Studien zu produktivitätssteigernden organisatorischen Stressinterventionen werden aufgrund von Wettbewerbsvorteilen seltener veröffentlicht. Hinzu kommt, dass das in Deutschland verbreitete Konzept der betrieblichen Gesundheitsförderung der Weltge-
149 7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche
⊡ Tabelle 7.2. Metaanalysen und Reviews Autor, Jahr
Zeitraum
Anzahl einbezogener Studien und Interventionsebenen Anzahl insgesamt
Anzahl individuell
Anzahl organisatorisch
Anzahl Kombination individuellorganisatorisch
1
Caulfield et al. 2004
1993–2003
6
5
1
–
2
Fothergill et al. 2004
1966–2000
3
3
–
–
3
Edwards u. Burnard 2003
1966–2000
8
7
1
–
4
Giga et al. 2003
1990–2001
16
7
2
7
5
Michie u. Williams 2003
1987–1999
6
5
1
–
6
Mimura u. Griffiths 2003
1991–1999
10
7
3
–
7
Proper et al. 2002
1980–2000
8
8
–
–
8
van der Klink et al. 2001
1977–1996
48
43
5
–
9
Jones u. Johnston 2000
1980–1999
36
k.A.**
k.A.**
k.A.**
10
Kompier et al. 1998
k.A.**
10
–
–
10
11
Bamberg u. Busch 1996
1983–1993
27
27
–
–
12
Johnston u. Cannon-Bowers 1996
1970–1992
37
37
–
–
13
Murphy 1996
1974–1994
64
64
–
–
14
Saunders et al. 1996
1977–1991
37
37
–
–
316*
250
13
17
Summe
Anmerkung: *davon sind 36 Studien nicht zuordenbar, **k.A. = keine Angabe
sundheitsorganisation (WHO), das sowohl individuelle als auch organisatorische/verhältnisbezogene Interventionen berücksichtigt, nicht in allen Ländern präsent ist. Häufig firmieren hierunter nur Maßnahmen auf individueller Ebene im Sinne von Gesundheitsförderung im Betrieb.
Methodik Die Literaturrecherche wurde in den Datenbanken Medline, PsyIndex und PsycInfo systematisch durchgeführt. Sie umfasst den Zeitraum von Januar 1995 bis März 2005 und bezieht Untersuchungen in englischer sowie deutscher Sprache ein. Die Suchstrategie beinhaltet definierte Schlüsselwörter aus den Bereichen Stress, Arbeit bzw. Arbeitsplatz sowie Prävention, die sowohl anhand des Freitextes als auch anhand der MeSH-Terms (verschlagwortete Begriffe) eingesetzt wurden. Die Recherche ergibt in der Datenbank Medline 214, in der Datenbank PsyIndex 18 und in der Datenbank PsycInfo 623 Treffer. Die Suchergebnisse wurden in dem Literaturverwaltungssystem Reference Manager gespeichert, Dubletten ausgeschlossen. Die identifizierten 855 Abstracts wurden durch zwei Reviewer gelesen und 74 als relevant erachtete Artikel zur näheren Ansicht ausgewählt.
Studienschwerpunkte Grundlage der folgenden Auswertung bilden die in der systematischen Literaturrecherche identifizierten 14 Metaanalysen und Reviews. Da methodisch hochwertige Studien bislang nur begrenzt durchgeführt worden sind, berücksichtigt die Analyse neben randomisierten kontrollierten Studien ebenfalls kontrollierte Studien und Studien ohne Kontrollgruppe. Der Schwerpunkt der meisten Metaanalysen und Reviews liegt auf individuellen Stressinterventionen. Einen Überblick der berücksichtigten Studien mit ihren Interventionsschwerpunkten gibt ⊡ Tabelle 7.2. Sechs Reviews beziehen nur individuell ausgerichtete Interventionsstudien in ihre Untersuchung ein, sechs Übersichtsarbeiten berücksichtigen neben individuellen auch organisatorische Maßnahmen und zwei Reviews bewerten kombinierte individuell-organisatorische Interventionen. Es wurde kein Review identifiziert, der nur organisatorische Interventionen einschließt. Die 14 Metaanalysen und Reviews schließen insgesamt 316 Studien ein. Davon werden 47 Studien in mehreren Reviews berücksichtigt. 250 Studien untersuchen individuelle, 13 Studien organisatorische Stressinterventionen und 17 Studien Kombinationen aus individuellen und organisatorischen präventiven Stressmaßnahmen. 36 Studien
7
150
Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
können mangels Angaben nicht zu den jeweiligen Interventionsarten zugeordnet werden. Die Teilnehmerzahl der in den vorliegenden Reviews bewerteten Studien schwankt zwischen zehn und 90.000. Kontrollgruppen werden nicht in allen Studien berücksichtigt, Langzeitstudien werden nur selten durchgeführt. Häufig werden als besonders stressbelastend geltende Berufsgruppen ausgewählt. liegen noch nicht für alle Bereiche der primä» Derzeit ren Prävention von Stress aussagekräftige Evaluationsstudien über die Wirksamkeit von Maßnahmen und Instrumenten vor. In diesem Bereich besteht Nachholbedarf. Dr. Doris Pfeiffer, Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. (VdAK) und Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) e.V., Siegburg
«
7
Die in den Metaanalysen bzw. Reviews einbezogenen Studien sind hinsichtlich Art und Dauer der Interventionsmaßnahme, erfasster Ergebnisparameter und verwendeter Erhebungsinstrumente sehr heterogen. Damit lassen sie sich nur schwer hinsichtlich ihrer Effektivität vergleichen. Aufgrund dieser Heterogenität und dem zahlenmäßigen Übergewicht der individuell ausgerichteten Stressinterventionen ist es derzeit nicht möglich, zu bestimmen, welche spezifischen Interventionen oder Techniken effektiv und besonders zu empfehlen sind (Edwards u. Burnard 2003). Diese Vielschichtigkeit der Stressforschung wird auch in einem Zitat von Morrison und Payne (2003, S. 128, eigene Übersetzung) deutlich, die »die wissenschaftliche Literatur zu den Ursachen und Konsequenzen von Stress als ebenso umfangreich wie verwirrend« ansehen. Dennoch geben die ausgewählten Studien wichtige Hinweise zur Prävention und ihrer Weiterentwicklung. Zunächst werden die Metaanalysen bzw. Reviews dargestellt, die individuelle Stressinterventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz befürworten. Es folgen die Studien, die sich für organisatorische bzw. eine Kombination von individuellen und organisatorischen Maßnahmen aussprechen.
Individuelle Stressinterventionen Infobox
I
I
Individuelle, insbesondere kognitiv-verhaltensbezogene Maßnahmen sind den organisatorischen Interventionen in ihrer Wirksamkeit überlegen (u. a. van der Klink et al. 2001). Positive Ansätze zu kognitiv-verhaltensbezogenen Interventionen verzeichnen auch Bamberg und Busch (1996) in ihrer Metaanalyse.
Van der Klink et al. (2001) gehen in ihrer Metaanalyse mit 48 einbezogenen Studien zur beruflichen Stressprävention von 1977 bis 1996 den Fragen der Wirk-
samkeit von Stressinterventionen und den effektivsten Interventionsformen nach. Fünf der berücksichtigten Studien untersuchen Interventionen auf der Organisationsebene, die Präventionsmaßnahmen der übrigen 43 Studien richten sich an Individuen. 18 der individuellen Maßnahmen sind kognitiv-verhaltensbezogen, in 17 wird Entspannungstraining durchgeführt und 8 verfolgen einen multimodalen Ansatz. Die Studienpopulationen werden in die Kategorien »hohe Kontrolle« und »geringe Kontrolle« über die Arbeit untergliedert. Betrachtet werden die fünf Ergebnisparameter »Qualität des Arbeitslebens«, »psychologische Ressourcen«, »physiologische Parameter«, »stressbezogene Beschwerden« und »Abwesenheit«. Bei den auf Individuen zielenden Interventionen beträgt die mittlere Beobachtungsdauer 9 Wochen, bei den organisatorischen Interventionen 38 Wochen. Eine kombinierte Analyse aller Studien ergibt insgesamt eine signifikante Effektstärke. Dabei zeigen kognitiv-verhaltensbezogene Interventionen einen größeren Effekt als multimodale Interventionen und Entspannungstechniken. Angestellte mit hoher Selbstbestimmung bei der Arbeit profitieren stärker von Stressinterventionen als Angestellte mit geringer Selbstbestimmung. Organisationsbezogene Interventionen weisen insgesamt schwächere Effekte auf. Lediglich für den Outcome-Bereich »psychologische Ressourcen« sind signifikante Effekte zu verzeichnen.
Grundsätzlich kommen van der Klink et al. (2001) zu dem Ergebnis, dass Stressinterventionen positive Auswirkungen auf die beobachteten Outcome-Variablen haben. Dabei zeigen sich individuelle Interventionen und bei diesen insbesondere kognitiv-verhaltensbezogene Maßnahmen den organisatorischen gegenüber überlegen. Die Autoren konstatieren deshalb, dass bei bereits vorliegenden stressbedingten Beschwerden, individuelle Maßnahmen die erste Wahl sein sollten. Eine Erklärung für die Unterlegenheit der organisatorischen Maßnahmen ist, dass mögliche Effekte durch einen zu kurzen Beobachtungszeitraum nicht erfasst werden. Organisatorische Interventionen zielen zumeist auf eine vermehrte Selbstbestimmung der Arbeit. Hierzu sind Kompetenzen erforderlich, die nicht selbstverständlich sind, sondern häufig zunächst in individuellen Maßnahmen erlernt werden müssen. Erst dann ist eine Reduktion des Stressniveaus möglich. Die große Effektivität kognitiv-verhaltensbezogener Maßnahmen bei Personen mit »hoher Kontrolle« bei der Arbeit lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass Angestellte am meisten von den Maßnahmen profitieren, wenn sie einer Tätigkeit nachkommen, in der sie die erlernten Stressbewältigungsfähigkeiten auch anwenden können. Dieser Hypothese kann in dem Review allerdings nicht nachgegangen werden, da nur eine kognitiv-verhaltensbezogene Intervention auf Personen abzielt, die eine »geringe Kontrolle« bei der Arbeit verzeichnet.
151 7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche
Hauptansatzpunkt muss das soziotechnische System » sein. Dabei ist zu beachten, dass einfache Formeln wie »mehr Handlungsspielraum« nicht als »Rezept ohne Nebenwirkungen« missverstanden werden. Nur im Kontext lassen sich solche Forderungen sachgerecht empfehlen, denn mehr Handlungsspielraum ohne Ressourcen und Kompetenz erhöht den individuellen Stress drastisch! Dr. Rolf Manz, Bundesverband der Unfallkassen, München
«
Bamberg und Busch (1996) beziehen 27 publizierte experimentelle und quasi-experimentelle Evaluationsstudien in ihre Metaanalyse zur Effektivität betrieblicher Stressmanagementtrainings (SMT) ein. Die Studien wurden zwischen 1983 und 1993 durchgeführt und weisen eine durchschnittliche Teilnehmerzahl von 54 Personen auf. Eingesetzt werden methodisch unterschiedliche Stressinterventionen wie Kommunikationstraining, Zeitmanagement und soziale Unterstützung. Diese Maßnahmen umfassen im Mittel zwölf Stunden (3–30 Stunden) und finden durchschnittlich in einem Zeitraum von sechs Wochen (ein Tag bis 32 Wochen) statt. Die Probanden kommen, sofern zuzuordnen, aus folgenden Bereichen: Sozialwesen und Pädagogik, Industrie, Armee, Gefängnis, Versicherung und Straßenbau. Bei der Berechnung der Effektstärken (ES) werden nur die 16 auf kognitiv-verhaltensbezogener Ebene ansetzenden Studien einbezogen, deren mittlere Effektivität 0,34 beträgt. Die Autoren unterscheiden drei Gruppen: ▬ individuumsbezogene Outcome-Parameter, z. B. Stresssymptome, Bewältigung und Kontrollkognitionen, Gesundheits- und Freizeitverhalten, ▬ Outcome-Parameter an der Schnittstelle Individuum-Organisation, z. B. Angst/Stress am Arbeitsplatz, Arbeitszufriedenheit, soziale Unterstützung, ▬ organisationsbezogene Outcome-Parameter, z. B. Abwesenheit, Kündigungsrate. Ausgeprägte Effektstärken ergeben sich nach der Metaanalyse auf der individuellen Ebene (ES 0,41). Hinsichtlich der Variablen, die der Schnittstelle Individuum-Organisation (ES 0,27) sowie der organisatorischen Ebene (ES 0,27) zuzurechnen sind, zeigen sich geringere Effekte. Infobox
I
I
Eine Reduktion der Angst nach der Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten zeigt ein systematischer Review von Murphy (1996) auf. Die konsistenten Ergebnisse ergeben sich bei einer kombinierten Intervention von Maßnahmen zur Muskelentspannung und zur Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten. Die Anwendung der Progressiven Muskelrelaxtion als alleinige Intervention führt zu positiven Effekten bei physiologischen Outcome-Parametern wie z. B. Blutdruck.
Der systematische Review von Murphy (1996) untersucht die Gesundheitseffekte von Stressmanagementinterventionen am Arbeitsplatz. Diese Stressmanagementmaßnahmen umfassen Techniken und Programme, die Angestellten helfen, ihre Bewertung bzw. Beurteilung von stressvollen Situationen zu modifizieren und/oder gesundheitsförderlicher mit ihren Stresssymptomen umzugehen. In der Regel werden entspannungsbasierte Techniken, wie z. B. progressive Muskelrelaxation, Biofeedback und Meditation eingesetzt und kognitiv-verhaltensbezogene Fähigkeiten vermittelt. Der Review ist Teil einer umfassenden Übersichtsarbeit des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zur Bedeutung von gesundheitsfördernden Programmen. Ziel der initialen Literaturrecherche des CDC ist die Identifikation aller veröffentlichten Studien zu gesundheitsförderlichen Maßnahmen am Arbeitsplatz. Ausgeschlossen werden Studien zu Fitnessprogrammen am Arbeitsplatz, Interventionen, die innerhalb großer multikomponenter Gesundheitsförderungsprogramme angeboten werden und Studien zu Modifikationen auf organisatorischer Ebene. 64 zwischen 1974 und 1994 veröffentlichte Studien werden in die Auswahl des vorliegenden Reviews von Murphy (1996) eingeschlossen, von denen die meisten (51) in den USA durchgeführt worden sind. Die übrigen Studien stammen aus Australien, China, Großbritannien, Norwegen und Schweden. Dreiviertel der Studien bieten ihre Interventionen allen Angestellten an. In den restlichen 17 Studien werden speziell Angestellte mit spezifischen Problemen wie exzessiver Stress, hoher Angstlevel und Bluthochdruck berücksichtigt. Insgesamt ist die Variabilität der eingesetzten Strategien groß. In dem Review werden die Interventionen in sechs Kategorien eingeteilt: 1. progressive Muskelrelaxation (13 Studien), 2. Meditation (6 Studien), 3. Biofeedback (4 Studien), 4. Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten (13 Studien), 5. Kombination von Techniken, meistens Muskelentspannung plus kognitiv-verhaltensbezogener Trainingsmaßnahmen (30 Studien), 6. andere Techniken (17 Studien).1 Die Trainingseinheiten umfassen in der Regel mindestens eine Stunde und werden wöchentlich angeboten. Die Dauer der Intervention reicht von einigen Tagen Training bis zu mehreren Wochen. Am häufigsten wird in Kleingruppen gearbeitet. Der Autor bewertet die Methodik der meisten Studien als gut. Fast 90% der Studien nutzen physiologische/biochemische Outcome-Parameter oder ein valides Instrument zur subjektiven Selbsteinschätzung. 75% der Studien
1
Die Anzahl der Studien ist in dieser Aufzählung größer als 64, da Studien mehr als eine Stressmanagementintervention einsetzten.
7
152
Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
verzeichnen in ihren Interventionsgruppen mindestens 20 Teilnehmer. Ein Viertel der Studien setzt keine Kontrollgruppe ein, ebenfalls ein Viertel schließt eine Kontrollgruppe ein, führt jedoch keine Randomisierung durch. Von 50 kontrollierten Studien finden 29 (58%) signifikante Effekte. Allerdings führen in zwölf Studien unspezifische Faktoren zu den erzielten Resultaten. Es stellt sich somit die Frage, ob die Effekte auf spezifischen Aspekten der Stressmanagementinterventionen oder auf unspezifischen Faktoren wie der Freistellung von der Arbeit zur Teilnahme an der Intervention beruhen. Zur Klassifizierung der in den Studien verwendeten Interventionstechniken und Outcome-Messungen bildet Murphy (1996) vier OutcomeKategorien:
7
Physiologische und biochemische Outcome-Parameter. Zu den physiologischen und biochemischen Ergebnisparametern zählt neben dem Adrenalin-, Noradrenalin- und Cholesterinspiegel der Blutdruck. Letzterer wird in 13 Studien und damit am häufigsten gemessen: Acht Interventionen umfassen eine Kombination von Techniken, vier setzen Muskelrelaxation, drei die Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten, zwei Meditation, eine Biofeedback und zwei Interventionen mit anderen Methoden ein2. Der Blutdruck wird in der Interventionsgruppe durchschnittlich um 7,8 mmHg systolisch und 5 mmHg diastolisch sowie in der Kontrollgruppe um 4,9 mmHg systolisch und 2,7 mmHg gesenkt. Die Ergebnisse zeigen, dass Stressinterventionen einen geringen Effekt auf den Blutdruck der Angestellten haben. Psychologische und kognitive Outcome-Parameter. Psychologische und kognitive Ergebnisparameter sind nicht leicht zu interpretieren, da wenige normative Daten und eine Vielzahl von Instrumenten zu unterschiedlichen Aspekten wie Angst, Depression und Reizbarkeit vorliegen. Die Ergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass ein Stressmanagementtraining Angst reduziert. Diese positive Wirkung hängt direkt vom Training ab und ist nicht Ergebnis unspezifischer Faktoren. Zu anderen psychologischen Messungen (Depression, Reizbarkeit) lassen sich aufgrund ihres seltenen Einsatzes keine Aussagen machen. Somatische Outcome-Parameter. Nur wenige der 26 einbezogenen Studien zu somatischen Beschwerden nutzen standardisierte Messinstrumente zu ihrer Bewertung. Oft wird eine Checkliste z. B. zur Erfassung von Nervosität, Schlafproblemen, Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit eingesetzt. 60% der Studien verzeichnen nach dem Einsatz von Stressmanagementinterventionen eine signifikante Reduktion somatischer Beschwerden. Allerdings berücksichtigt die Hälfte dieser Studien keine Kontrollgruppe. Sieben Studien verwenden einen standardisierten Fragebogen, von denen nur zwei signifikante Ergebnisse zur Reduktion somatischer Beschwerden anführen. Die reduzierenden Effekte des Stressmanagementtrainings auf somatische Beschwerden sind somit als zweifelhaft zu bewerten. Outcome-Parameter zu Arbeit und Organisation. 40% der Studien analysieren organisatorische Ergebnisparameter. Innerhalb der Kategorie Arbeit und Organisation wird die Arbeitszufriedenheit am häufigsten gemessen (12 Studien). Zwei Drittel der Studien verzeichnen diesbezüglich keine Veränderungen nach einem Stressmanagementtraining. Studien, die einen Anstieg der Arbeitszufriedenheit aufweisen haben eine geringere methodische Qualität.
2
Die Anzahl der Interventionen ist größer als 13, da die Studien mehr als eine Maßnahme evaluieren.
Welche Stressmanagementstrategie ist am effektivsten? Muskelentspannung. Die Studien zur Muskelentspannung (insgesamt 13) weisen teilweise signifikante physiologische Veränderungen auf. So zeigen fünf von sechs Studien, die physiologische Parameter (z. B. Blutdruck, Muskelaktivitätslevel) betrachten, signifikante Ergebnisse nach dem Training. Gegenüber psychologischen, somatischen und organisatorischen Outcome-Parametern ist die Intervention der Muskelentspannung dagegen weniger effektiv. Meditation. Sechs Studien untersuchen Meditation als vorrangige Stressmanagementintervention. Davon sind vier randomisierte kontrollierte Studien. Signifikante positive Effekte ergeben sich auf allen vier Outcome-Kategorien. Aufgrund der Heterogenität der Messungen – kein einziger Ergebnisparameter wird in allen Studien gemessen – lässt sich keine Schlussfolgerung zur Evidenz der Meditation ableiten. Biofeedback. Biofeedback wird nur in vier Studien als Hauptintervention eingesetzt. Der Einsatz von Biofeedback erfordert vergleichsweise hohe Kosten der Ausstattung und des qualifizierten Personals. Die Effekte in den einzelnen Kategorien sind nicht bemerkenswert. Die empirische Evidenz unterstützt den Einsatz von Biofeedback am Arbeitsplatz nicht. Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten. Kognitivverhaltensbezogene Fähigkeiten werden in 13 Studien als Hauptintervention vermittelt. Am konsistentesten sind die Effekte im psychologischen Bereich, speziell hinsichtlich der Reduktion von Angst. Die Intervention wirkt sich zudem positiv auf die Arbeitszufriedenheit aus. Dies kann daran liegen, dass Angestellten geholfen wird, mit unrealistischen Zielvorstellungen (»Alles was ich mache, muss perfekt sein!«) umzugehen. Allerdings sind nur zwei der fünf Studien, die arbeitsbezogene Ergebnisparameter analysieren, randomisiert kontrolliert. Kombination von Stressmanagementtechniken. 30 Studien nutzen eine Kombination von Stressmanagementtechniken. Diese Studien erzielen die konsistentesten Ergebnisse. Kombinationen verzeichnen signifikante Effekte über alle Gesundheits- sowie Arbeits- und Organisations-Parameter hinweg, wobei am häufigsten Muskelentspannung kombiniert mit der Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten eingesetzt wird.
Wird die Wirksamkeit von Stressmanagementinterventionen für jeden der vier Outcome-Bereiche separat betrachtet, ist die Muskelentspannung hinsichtlich physiologischer Outcomes und der Steigerung kognitivverhaltensbezogener Kompetenzen am effektivsten. Zur Prävention somatischer Beschwerden ist die Kombination von Stressmanagementtechniken am erfolgsversprechendsten. Murphy (1996) kategorisiert seine Bewertung zur Evidenz in beweiskräftig (»conclusive«), annehmbar (»acceptable«), hinweisend (»indicative«), andeutend (»suggestive«) und schwach (»weak«). Die in dem Review einbezogenen Interventionen beurteilt Murphy zwischen hinweisend und annehmbar, wobei sich letztere Bewertung nur auf die Kombinationsstudien von Muskelentspannung und Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogene Fähigkeiten bezieht.
153 7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche
wissen wir zur Prävention von Stress genug. » Eigentlich Das Problem besteht aber in der Übertragung der Erkenntnisse in die Praxis. Wir haben zu wenig Transferwissen. Dr. Rolf Manz, Bundesverband der Unfallkassen, München
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Eine kognitiv-verhaltensbezogene Methode von Stressmanagement ist z. B. das »Stress Inoculation Training« (Stressimpfungstraining). Dieses wirkt sich positiv auf die Reduktion von Erwartungsangst (Angst vor einer bestimmten Situation) und des generellen Angstlevels sowie auf die Steigerung der Leistung aus (Saunders et al. 1996).
Saunders et al. (1996) untersuchen in ihrer Metaanalyse die kognitiv-verhaltensbezogene Interventionsmaßnahme »Stress Inoculation Training (SIT)«. Diese wurde ursprünglich als ein klinisches Behandlungsprogramm zur Bewältigung von körperlichem Schmerz, Angst und phobischen Reaktionen entwickelt und in der Folge vielfach als umfassendes Training zum Umgang mit Stress z. B. bei Redeangst und arbeitsbedingtem Stress eingesetzt. Das Stress Inoculation Training vermittelt Fähigkeiten, die die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress erhöhen. Effektive Bewältigungsstrategien werden vor dem Auftreten realer Stressbelastungen trainiert. Ziel des Trainings ist es, Betroffene auf den Umgang mit Stress vorzubereiten und sie zu befähigen, besser auf Stressereignisse zu reagieren. Das Programm zeichnet sich durch eine dreistufige Trainingsintervention aus. Die erste Phase beinhaltet die Konzeptualisierung bzw. die Weiterbildung. Ziel dieser Initialphase ist es, den Betroffenen zu helfen, Stress und Stresseffekte besser zu verstehen. Die zweite Phase dient dem Erlernen von Fähigkeiten. Das Hauptziel dieser Phase ist die Entwicklung und Anwendung eines Repertoires von Kompetenzen zur Reduktion von Angst und zur Förderung von Fähigkeiten, auf stressvolle Situationen adäquat zu reagieren. Die letzte Phase des Stress Inoculation Trainings beinhaltet die Anwendung von Bewältigungskompetenzen unter Alltagsbedingungen.
Die Literaturrecherche basiert auf einer umfassenden Suche in PsycInfo sowie auf der Durchsicht von Referenzlisten, Büchern, Artikeln und wichtigen psychologischen Zeitschriften. Einschlusskriterien sind eine Beschreibung der Implementierung des Stress Inoculation Trainings und die Erhebung der Effektivität im Vergleich zu einer nichtbehandelten Kontrollgruppe. Wird das Stress Inoculation Training als eine Komponente innerhalb eines breit angelegten präventiven Programms angewendet, gilt dies als Ausschlusskriterium.
Die Autoren untersuchen die Effekte des Stress Inoculation Trainings bzgl. zwei primärer Ergebnisse: Reduktion von Angst und Verbesserung der Reaktionen. Ziel der Metaanalyse ist zum einen, die gesamte Signifikanz und die Wirksamkeit des Stress Inoculation Trainings zu ermitteln. Zum anderen sollen Einflüsse identifiziert werden, die die Effektivität des Trainings erhöhen oder erniedrigen. Dazu werden sechs Faktoren näher betrachtet: 1. Zielgruppe (z. B. ausgewählte Population mit einem hohen Angstlevel, nicht ausgewählte Population mit normalem Angstlevel), 2. Anzahl der Trainingseinheiten (reicht von einer einzelnen Trainingseinheit bis zu über zehn Einheiten), 3. Alltagsbelastung des Trainings (Efficacy vs. Effectiveness), 4. Art der angewandten Bewältigungspraktik (imaginative Verfahren gegenüber verhaltensbezogenen Übungen, wie z. B. Rollenspielen), 5. Größe der Gruppe (Einzeltraining vs. Gruppen mit unterschiedlicher Teilnehmerzahl), 6. Erfahrungslevel des Trainers (erfahrener vs. weniger erfahrener Trainer).
Die Analyse basiert auf 37 Studien mit 70 separaten hypothetischen Tests im Zeitraum von 1977 bis 1991 mit insgesamt 1837 Teilnehmern. Nach den Ergebnissen der Metaanalyse von Saunders et al. (1996) ist das Stress Inoculation Training eine effektive Intervention, um die Erwartungsangst und den generell ständig existierenden Angstlevel zu reduzieren sowie die Leistung unter Stress zu verbessern. Der Effekt zur Reduzierung der Erwartungsangst ist signifikant (z = 15.929, p <0,001) und von großer Stärke (r = 0,509). Der Effekt hinsichtlich der Reduzierung des generellen Angstlevels ist signifikant (z = 14.953, p <0,001) und von mittelmäßiger Stärke (r = 0,373), der Effekt von SIT hinsichtlich der Leistungssteigerung ist ebenso signifikant (z = 5602, p <0,001) und von mittelmäßiger Stärke (r = 0,296). Die Analyse der sechs Einflussfaktoren ergibt Folgendes: 1. Das Stress Inoculation Training ist eine effektive Stressintervention bei Zielgruppen mit hohem und normalem Angstlevel. Dabei ist der gesamte positive Effekt des Trainings hinsichtlich der Reduktion der Erwartungsangst bei Populationen mit einem normalen Angstlevel signifikant stärker als bei Populationen mit einem hohen Angstlevel. 2. Der Nutzen des Stress Inoculation Trainings hinsichtlich der Reduzierung der Erwartungsangst und des generellen Angstlevels steigt mit der Anzahl an Trainingseinheiten, aber auch schon eine einzige Einheit kann positive Effekte bewirken. 3. Das Stress Inoculation Training vermindert nicht nur unter »Laborbedingungen«, sondern auch im Alltag die Erwartungsangst und den generellen Angstlevel. 4. Mentale Vorstellungspraktiken eignen sich besonders zur Reduktion von Erwartungsangst, während verhaltensbezogene Praktiken besonders wirksam zur Leistungssteigerung sind. 5. Mit steigender Teilnehmerzahl in den Interventionsgruppen sinkt die Effektivität des Stress Inoculation Trainings bzgl. der Reduzierung des generellen Angstlevels und der Leistungssteigerung. Als optimal hat sich eine Gruppengröße von 5–6 bzw. 8–9 Teilnehmern erwiesen. 6. Die Wirksamkeit des Stress Inoculation Trainings ist in allen Bereichen – Reduzierung der Erwartungsangst und des generellen Angstlevels sowie der Leistungssteigerung – unabhängig von der Erfahrung des Trainers signifikant.
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
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Die Ergebnisse eines Reviews werden zum Anlass genommen, die Methode eines Stressbelastungstrainings zu etablieren und Leitlinien für ihre Durchführung aufzustellen. Zudem wird auf die Notwendigkeit von Längsschnittstudien mit größeren Populationen hingewiesen, um langfristige Effekte besser beurteilen zu können (Johnston u. Cannon-Bowers 1996).
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Großen Wert auf das methodische Design der Studien legen Johnston und Cannon-Bowers (1996) in ihrem Review. Sie gehen der Frage nach, ob ein Stressbelastungstraining Effekte auf die berufliche Leistung, das Angsterleben und die Selbstwirksamkeit hat. Einbezogen werden 37 Studien von 1970 bis 1992, in denen die drei Phasen des Stressbelastungstrainings ▬ Informationsvermittlung, ▬ (theoretisches) Einüben von (Bewältigungs-)Kompetenzen mit Feedback und ▬ Üben praktischer Bewältigungskompetenz mit echten Stressoren evaluiert werden. Die eingesetzten Übungen sind sehr unterschiedlich, sie reichen von »Annahme von Volleyballaufschlägen« bis zu »Halten einer Rede«. Gut zwei Drittel der Studien stellt signifikante positive Entwicklungen in der Leistungserbringung (Performance) fest. 19% der Studien verzeichnen eine Reduktion von ängstlichem bzw. angstbezogenem Verhalten. Alle Studien (n = 10), die die Selbstwirksamkeit messen, stellen eine Zunahme fest. Von den 29 Studien, die subjektive Ängstlichkeit und Leistung evaluieren, werden in 45% der Studien eine Reduktion des Angstlevels und eine Steigerung der Leistung konstatiert. 14 Studien haben ein Längsschnittdesign, von denen 36% eine kontinuierliche Abnahme des Angstniveaus und 14% eine Zunahme der Selbstwirksamkeit feststellen. Infobox
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Zusätzlich zu einem Mitarbeiterworkshop ist eine unterstützende Beratung notwendig, um eine Verringerung der emotionalen Erschöpfung zu erreichen. Eine Teilnahme an intensiven Stress-Reduktions-Programmen mit Follow-up-Unterstützungsgruppen führt zu geringerer emotionaler Erschöpfung und Depersonalisation. Weiterbildungsmöglichkeiten und ein beruflicher Austausch mit Peers tragen zu einer steigenden Zufriedenheit der Angestellten bei (Fothergill et al. 2004).
Ziel des systematischen Reviews von Fothergill et al. (2004) ist u. a. den aktuellen Stand der Effektivität von Stressmanagementinterventionen bei Psychiatern zu erheben. Eingeschlossen werden zwischen 1966 und
2000 in Großbritannien durchgeführte Studien, die als Interventionsteilnehmer Psychiater aufweisen. Studien anderer Länder werden als potentielle Modelle »Guter Praxis« ebenfalls untersucht. Da der Review allerdings keine Studie identifizieren kann, die Stressmanagementinterventionen speziell für Psychiater analysiert, werden drei Interventionsstudien mit Mitarbeitern aus dem Bereich »Mental Health« berücksichtigt. Nähere Angaben zum Zeithorizont der Studien, zum Studiendesign und zu statistischen Auswertungen werden nicht gemacht. Fothergill et al. (2004) berücksichtigen damit dieselben drei Studien, die bereits Edwards et al. (2002) in ihrem Review identifizieren. Die Ergebnisse einer Studie legen dar, dass die Teilnahme an einem Mitarbeiterworkshop bei Angestellten nicht zu einer Reduktion von Burnout führt. Werden zusätzlich unterstützende Beratungen in Anspruch genommen, zeigt sich ein signifikant geringes Niveau von emotionaler Erschöpfung. Das Burnout-Syndrom bezeichnet einen psychovegetativen Erschöpfungszustand, der durch eine chronische, beruflich bedingte Beanspruchungsreaktion ausgelöst wird (Burisch 1994). Das Burnout-Syndrom ist allerdings kein definiertes Krankheitsbild und wird auch in der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Classification of Diseases, ICD) nicht als eigenständige Diagnose aufgeführt. Vielmehr existieren zahlreiche Überschneidungen zwischen depressiven und psychosomatischen Störungen. Oft wird das Burnout-Syndrom weder von der betroffenen Person noch von dem Arzt, der meist wegen auftretender physischer Gesundheitsprobleme aufgesucht wird, erkannt. Das Burnout-Syndrom ist durch drei Dimensionen gekennzeichnet: 1. emotionale Erschöpfung (»emotional exhaustion«), 2. Depersonalisation, d. h. negative, gleichgültige und zynische Einstellung gegenüber den Adressaten (»depersonalization«) sowie 3. negative Selbsteinschätzung hinsichtlich der eigenen beruflichen Leistung (»reduced personal accomplishment«) (Maslach 2003).
Weibliche Angestellte mit einem Risiko für Burnout verzeichnen eine signifikant niedrigere emotionale Erschöpfung und Depersonalisation nach der Teilnahme an einem intensiven Stress-Reduktions-Programm in Form von Wochenend-Konferenzen mit Follow-up-Unterstützungsgruppen. Angestellte, die eine interdisziplinäre Weiterbildung erhalten, weisen eine steigende Zufriedenheit bei anhaltenden Weiterbildungsmöglichkeiten und mit der Anzahl an ihnen zur Verfügung stehenden Peers zum beruflichen Austausch auf.
155 7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche
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Stressinterventionen mit Bewegungsprogrammen sind zur Reduktion der Arbeitsfehlzeiten nur begrenzt wirksam. Zur Senkung des Arbeitsstresses und der Fluktuation sowie zur Steigerung der Arbeitszufriedenheit und der Arbeitsproduktivität liegt keine beweiskräftige Evidenz vor (Proper et al. 2002). Ein weiterer Review verzeichnet tendenziell positive Effekte von Stressinterventionen, die Bewegung, Musik und Entspannungstechniken verwenden (Mimura u. Griffiths 2003).
Proper et al. (2002) führen eine systematische Literaturrecherche zur Effektivität von Bewegungsprogrammen am Arbeitsplatz durch. Berücksichtigt werden arbeitsbezogene Ergebnisparameter, wie Arbeitszufriedenheit, Arbeitsstress und Fluktuation. Die Literaturrecherche basiert auf einer computergestützten Recherche in den Datenbanken Medline und PsycInfo, einbezogen werden englische, deutsche und niederländische Studien von 1980 bis 2000. Als Einschlusskriterien werden als Studientyp randomisierte kontrollierte oder kontrollierte Studien, als Interventionsgruppe die arbeitende Bevölkerung, als Intervention ein arbeitsbezogenes Programm zur Förderung der körperlichen Aktivität bzw. Fitness und als Ergebnisparameter arbeitsbezogene Outcome-Maße festgelegt. Ausschlusskriterien sind Bewegungsprogramme am Arbeitsplatz, die auf die (Sekundär-)Prävention von Gesundheitsbeschwerden abzielen, sowie übergreifende arbeitsplatzbezogene Gesundheitsprogramme, in denen die körperliche Aktivität oder Fitness lediglich eine Komponente bildet. Acht Studien wurden identifiziert, davon vier randomisierte kontrollierte und vier kontrollierte Studien. Zwei der randomisierten kontrollierten Studien und eine der kontrollierten Studien haben der Einschätzung der Autoren zufolge eine hohe methodische Qualität. Von den vier randomisierten kontrollierten Studien kombinieren drei Studien Ausdauer- und Krafttraining sowie Beweglichkeitsübungen, während eine Studie als Intervention nur Ausdauertraining anbietet. Innerhalb der vier kontrollierten Studien unterscheiden sich die Programme deutlich voneinander. So liegt in zwei Studien der Schwerpunkt auf der Entwicklung der respiratorischen Fitness, während in einer anderen Studie Krafttraining kardiovaskuläre Belastbarkeitsübungen ergänzt und eine weitere Studie aerobische und anaerobische Programme miteinander kombiniert. Die Interventionsdauer der vier randomisierten kontrollierten Studien liegt zwischen zehn Wochen und zwölf Monaten, die der kontrollierten Studien zwischen acht Wochen und sechs Monaten. Eine der randomisierten kontrollierten sowie eine der kontrollierten Studien verzeichnen eine Follow-up Untersuchung nach sechs bzw. zwölf Monaten auf. Die Studienpopulation bilden Büroangestellte, gewerbliche Angestellte und Pflegekräfte. Wesentliche Ergebnisparameter sind Fehlzeiten am Arbeitsplatz, Arbeitszufriedenheit, Arbeitsstress, Produktivität und Fluktuation.
Eine randomisierte kontrollierte Studie hoher Qualität, die 152 Bankangestellte über ein Jahr in ihre Analyse einbezieht, und eine kontrollierte Studie mit 10.806 Schulangestellten, einer Interventionsphase von zehn Wochen und einem Follow-up nach einem Jahr, verzeichnen eine signifikante Reduktion der Arbeitsabwesenheit. Eine zweite randomisierte kontrollierte Studie zeigt dagegen keine Veränderungen innerhalb der siebenmonatigen Interventionsperiode auf. Nach Proper et al. (2002) liegt eine begrenzte Evidenz für die Wirksamkeit von Bewegungsprogrammen am Arbeitsplatz zu Arbeitsfehlzeiten vor. Die Arbeitszufriedenheit wird von einer – nach Aussage der Autoren methodisch hochwertigen – randomisierten kontrollierten Studie (72 Angestellte einer Versicherung, zehnwöchige Intervention, Follow-up nach sechs Monaten), zwei methodisch minderwertigen randomisierten kontrollierten Studien und einer ebenfalls methodisch lückenhaften kontrollierten Studie untersucht. Danach besteht keine beweiskräftige Evidenz für die Effektivität von Bewegungsprogrammen am Arbeitsplatz zu Arbeitszufriedenheit. Zwei randomisierte kontrollierte Studie sowie zwei kontrollierte Studien unterschiedlicher methodischer Qualität analysieren Bewegungsprogramme am Arbeitsplatz bzgl. Stress. Die Ergebnisse der Studien verzeichnen keine beweiskräftige Evidenz. Ebenfalls wurde keine Evidenz dafür gefunden, dass körperliche Aktivitätsprogramme am Arbeitsplatz einen Effekt auf die Produktivität haben. Nur eine kontrollierte Studie untersucht Bewegungsprogramme hinsichtlich der Fluktuation. Daraus lässt sich keine beweiskräftige Evidenz schließen. Der systematische Review von Mimura und Griffiths (2003) untersucht die Effektivität von organisatorischen sowie individuellen Stressmanagementprogrammen am Arbeitsplatz von Krankenpflegerinnen. Eine Recherche in Datenbanken bezieht Studien seit 1990 in englischer und japanischer Sprache ein. Als Einschlusskriterien werden festgelegt: ▬ Teilnehmer der Studien sind Krankenpflegerinnen, ▬ es werden entweder zwei Stressmanagementinterventionen miteinander oder eine Stressmanagementintervention mit einer Placebomaßnahme bzw. einer Kontrollgruppe verglichen, ▬ die Stressmanagementintervention ist deutlich beschrieben und ▬ das durch ein standardisiertes Instrument erhobene Outcome bezieht sich auf eine Veränderung des individuellen Stress-Levels und/oder von stressbedingten Symptomen bzw. Folgekrankheiten. Die identifizierten Studien wurden zwischen 1991 und 1999 in den USA, Belgien, Taiwan, Großbritannien, Schweden und in den Niederlanden durchgeführt. Sieben randomisierte kontrollierte Studien und drei prospekti-
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
ve Kohortenstudien erfüllen die Einschlusskriterien. Die methodische Qualität der identifizierten Studien wird jedoch als bescheiden bezeichnet. Keine Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der Interventionen erlauben die drei organisatorisch ausgerichteten Studien, die Veränderungen pflegender Methoden analysieren. Unter den individuell ausgerichteten Studien untersucht eine kognitive Techniken. Diese erweisen sich als wirksam, allerdings mit einer schwachen Evidenz. Drei Studien, die Interventionen mit sportlicher Bewegung, Musik und Entspannungstechniken durchführen, sind tendenziell effektiv. Nicht eindeutig ist der Effekt einer Studie zu sozialen Unterstützungsmaßnahmen. Zwei Studien sind nach der kritischen Bewertung nicht zu beurteilen. Nach dem Review besteht mehr Evidenz für die Effektivität der individuellen Interventionsprogramme als für Managementprogramme, die zur Reduktion von Stressoren die Umgebung verändern. Limitierend für die Aussagen des Reviews sind nach den Autoren vor allem: ▬ eine zu geringe Stichprobengröße sowie eine fehlende Power Analyse, ▬ eine hohe Drop-out-Quote, die in den Analysen oft nicht berücksichtigt wird, ▬ fünf Studien nutzen eine Placebointervention; dieser Einfluss auf den Stress-Level wird nicht diskutiert; in einer Studie scheint die Placebointervention sogar eine aktive und effektive Stress-Reduktions-Maßnahme zu sein, ▬ keine Studie diskutiert die klinische Signifikanz der Veränderung des Stress-Levels, ▬ Stressmanagementprogramme sollten auf einem definierten Stress-Modell beruhen; einige Interventionen erscheinen so, als ob sie sich auf Vermutungen beziehen.
Mimura und Griffiths (2003) weisen auf die Notwendigkeit weiterer Forschung hin, bevor eindeutige Empfehlungen zum Einsatz von spezifischen Interventionen zur Reduktion von arbeitsbedingtem Stress ausgesprochen werden können.
Organisatorische Stressintervention und ihre Kombination mit individuellen Maßnahmen
bezieht 1993 bis 2003 durchgeführte Interventionsstudien mit australischen Teilnehmern ein. Die Studien werden anhand eines Kriterienschemas klassifiziert und die Evidenzkriterien definiert. Der Review identifiziert sechs Studien, von denen nur eine den höchsten Evidenzgrad erhält. Eine Studie untersucht organisatorische, die restlichen fünf Studien schwerpunktmäßig individuelle Interventionen. Die Autoren ziehen den Schluss, dass individuelle Interventionen den Arbeitsstress nicht deutlich vermindern. So zeigen die Ergebnisse, dass eine freiwillige Teilnahme an Gesundheitsprogrammen zum Erlernen von Stressmanagementfähigkeiten nicht besonders erfolgreich ist, Stress am Arbeitsplatz zu reduzieren. Die Ergebnisse der Studie, die auf organisatorische Veränderungen ausgerichtet ist, sind positiver als die Ergebnisse der Studien mit individuellen Interventionen. Danach führen bei Gefängnisangestellten verbesserte Arbeitsbedingungen, eine Umgestaltung der Arbeit, ein Monitoring von psychologischen Störungen und Risikofaktoren sowie optimierte psychologische Gesundheitsdienste zu einer signifikanten Reduzierung des Arbeitsstresses und einer vermehrten Nutzung des Personalberaters. Der Erfolg der Studie mit organisatorischem Fokus unterstützt die Ansicht der Autoren, dass Arbeitsstress einen größeren Bezug zu Arbeitsfaktoren oder Aspekten der Arbeitsumgebung aufweist als zu individuellen Faktoren. Demnach erhöhen organisatorische Interventionen wie die Umgestaltung der Arbeit und die Veränderung der organisatorischen Struktur die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Arbeitnehmer von der Intervention profitieren. Individuelle Interventionen, wie die Vermittlung von Entspannungstechniken, sind dagegen in ihrer gesamten Wirksamkeit für das Unternehmen abhängig davon, wie viele Arbeitnehmer an ihnen teilnehmen. Es ist jedoch einschränkend anzumerken, dass die Autoren ihren Standpunkt auf nur einer organisatorisch fokussierten Studie begründen. Infobox
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Organisatorische Maßnahmen zur arbeitsbedingten Stressintervention werden im Gegensatz zu individuellen Maßnahmen als wirksamer angesehen (Caulfield et al. 2004).
Erfolgreiche Maßnahmen liegen sowohl für die individuelle als auch für die organisatorische Ebene vor. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass Studien fehlen, die individuelle und organisatorische Maßnahmen kombinieren und an der Schnittstelle von Arbeits- und Privatleben ansetzen (Jones u. Johnston 2000).
Das Ziel des Reviews von Caulfield et al. (2004) ist es, die empirische Forschung zu arbeitsbedingten Stressinterventionen in Australien in den vergangenen zehn Jahren aufzuzeigen und die Effektivität der Interventionen zu überprüfen. Die systematische Literaturrecherche
Jones und Johnston (2000) beziehen 36 Studien zu Stressmanagement von 1980 bis 1999 in ihren systematischen Review ein. Bei einem Großteil der Studien konstatieren sie methodische Mängel. Die Autoren differenzieren die Interventionen einerseits nach individuellen und organi-
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157 7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche
satorischen Maßnahmen, andererseits nach den Zielgruppen »examinierte bzw. sich in der Ausbildung befindliche Krankenpflegekräfte«. Individuelle Maßnahmen beziehen Entspannungstechniken, Selbstbehauptungsübungen, Meditation sowie didaktisch aufgearbeitete Informationen zu Stress und Gruppendiskussionen ein. Organisatorische Maßnahmen beinhalten die Schulung von Führungskräften, mit dem Ziel, Stressquellen in ihren Einrichtungen zu erkennen und zugleich als Multiplikatoren zu fungieren. Dabei umfassen die Maßnahmen einerseits selbst Schulungen zur Stressbewältigung und fördern andererseits die Optimierung der Arbeitsbedingungen. Es werden zahlreiche positive Effekte individueller Stressmanagementinterventionen in beiden Zielgruppen dargestellt. Hierzu zählen z. B. eine Reduktion des wahrgenommenen Stressniveaus, eine vermehrte Durchsetzungsfähigkeit, eine verringerte Arbeitnehmerfluktuation und eine Senkung des Krankenstandes, eine erhöhte Berufszufriedenheit, eine Verminderung des systolischen Blutdrucks sowie eine Reduktion von Burnout. Organisatorische Interventionen führen zu einer verminderten Fehlmedikation und einer Abnahme gerichtlicher Folgen. Infobox
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Zur Prävention von Stress ist eine Kombination von individuellen und organisatorischen Stressinterventionen am wirksamsten. Dabei müssen zunächst die Ursachen von Stress identifiziert und anschließend spezifische Interventionen entwickelt werden. Sollen die Interventionen erfolgreich und wirksam sein, müssen die Angestellten in diesen Prozess involviert werden (Michie und Williams 2003).
Der systematische Review von Michie und Williams (2003) analysiert zum einen, welche Faktoren mit psychischen Belastungen assoziiert sind. Zum anderen untersucht der Review die Wirksamkeit von Interventionen zur Vermeidung bzw. Reduktion von psychischen Belastungen. Die Literaturrecherche erfolgte in vier elektronischen Datenbanken (Medline, PsycInfo, Embase, Cochrane) in dem Zeitraum von 1987 bis 1999. Sechs Interventionsstudien zwischen 1992 und 1997 wurden identifiziert, von denen drei randomisierte kontrollierte Studien sind. Fünf der Studien untersuchen in den Arbeitsalltag integrierte Schulungsprogramme wie Stressmanagementtraining, Kommunikationstraining und die Vermittlung von Fähigkeiten zur Förderung von Problemlösungsstrategien und sozialer Unterstützung. Eine Studie analysiert eine organisatorische Intervention. Drei der Studien wurden in den USA, eine in Großbritannien und zwei in Skandinavien durchgeführt. Zu den Schlüsselfaktoren, die mit psychischen Belastungen assoziiert sind, zählen nach Michie und Williams (2003) viele Überstunden, Arbeitsüberlastung, Arbeits-
druck, fehlende Kontrolle über die Arbeit, fehlende Partizipation bzgl. der Entscheidungsfindung, geringe soziale Unterstützung und ein nicht transparentes Management. Viele dieser arbeitsbezogenen Faktoren sind potentiell Veränderungen zugänglich. Die Intervention einer randomisierten kontrollierten Studie zielt auf das Pflegepersonal (n = 1375) von psychisch Kranken. Sie umfasst die Vermittlung von Kompetenzen zu einer vermehrten Teilnahme an Entscheidungsfindungen und zur Problemlösung (sechs Sitzungen zu vier bis fünf Stunden über zwei Monate). Die Ergebnisse zeigen, dass die Interventionsgruppe eine größere Bewältigungsfähigkeit und bessere Teamarbeit (besseres Klima, Arbeitsweise) als die Kontrollgruppe verzeichnet. Eine weitere randomisierte kontrollierte Studie vergleicht aktive Unterstützung, Beratung und Feedback durch einen Psychologen mit der passiven Gegenwart eines Psychologen bei Mitarbeiterbesprechungen in einer geriatrischen Klinik. Den 26 teilnehmenden Angestellten werden 20 Wochen lang jeweils eine Stunde Fähigkeiten zum Stressmanagement sowie Möglichkeiten vermittelt, mit über ihre Arbeit zu entscheiden und diese zu kontrollieren. Die Studie weist einen signifikanten Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe in der Reduktion des Stresshormonspiegels auf. 65 Angestellte eines psychiatrischen Krankenhauses erlernten über vier Wochen jeweils acht Stunden in einer weiteren kontrollierten Studie verbale und nonverbale kommunikative sowie empathische Fähigkeiten. Verglichen mit der Kontrollgruppe zeigt die Interventionsgruppe niedrigere – allerdings nicht statistisch signifikante – Resignationswerte und Krankschreibungen. Eine randomisierte kontrollierte Studie, die ihre Intervention (Stressmanagementtraining oder Aerobic) bei 76 körperlich inaktiven Angestellten einer Versicherung durchführt, kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach drei Sitzungen pro Woche über zehn Wochen verbessern sich durch das Stressmanagementtraining die subjektiv wahrgenommenen CopingFähigkeiten, während eine Änderung der körperlichen oder psychischen Gesundheit nicht verzeichnet werden kann. Aerobic-Übungen (sechsmal pro Woche zehn Wochen lang) führen zu einem verbesserten Wohlbefinden und reduzieren Beschwerden bzgl. Muskelschmerzen. 373 Mitarbeiter der Feuerwehr einer randomisierten nichtkontrollierten Studie erhielten innerhalb von 42 Wochen sieben verschiedene jeweils sechs Wochen dauernde Stressmanagementprogramme mit unterschiedlichem Fokus wie Vermittlung physiologischer Prozesse, Umgang mit Menschen und interpersonelle Bewusstseinsprozesse. Nach dem Programm wurde eine Reduktion bzgl. Depression, Angstlevel, psychischer Belastung und emotionaler Erschöpfung verzeichnet. Nach einem Follow-up neun bis 16 Monate nach Beendigung der Intervention zeigt sich kein weiterer Rückgang.
Nach dem Review von Michie und Williams (2003) verwenden erfolgreiche Interventionen, die das psychische Befinden verbessern und Krankschreibungen reduzieren, individuelle Schulungen und organisatorische Modifikationen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Teilnahme an Entscheidungen und Problemlösungen zu erhöhen, vermehrt Unterstützung und Feedback zu geben sowie die verbale und nonverbale Kommunikation zu verbessern. Zur Reduzierung der Ursachen sollten zukünftige Studien vor allem Unternehmenspraktiken evaluieren. Nur eine der sechs Interventionen beinhaltet eine ökonomische Evaluation. Diese sind jedoch notwendig, um Aussagen treffen zu können, ob sich Interventionen für Arbeitgeber rentieren.
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
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Stressinterventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz müssen auf mehreren Ebenen ansetzen, um effektiv zu sein: 1. Eliminierung oder zumindest Minimierung von arbeitsbedingten Stressoren. Hierzu sind Managementstrategien proaktiv und nicht reaktiv zu gestalten. Die Autoren konstatieren allerdings ein Defizit an fundiertem Wissen. Ursache ist ein Forschungsmangel zu Interventionen auf der organisatorischen Ebene. 2. Reduzierung der negativen Effekte von Stress über Managementstrategien. 3. Unterstützung der Betroffenen, die negative Effekte von Stress erfahren (Edwards u. Burnard 2003).
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Edwards und Burnard (2003) beziehen in ihren systematischen Review zu Stress und Stressmanagement bei Pflegepersonal aus dem psychologischen Bereich 77 Studien ein. Acht der Studien befassen sich mit Stressmanagementinterventionen, von denen sechs in Großbritannien, eine in den USA und eine in den Niederlanden durchgeführt worden sind. Die Letztere weist ein Interventionsdesign auf Organisationsebene auf. Hierbei handelt es sich um eine Änderung der pflegerischen Zuständigkeiten in der Grundversorgung während der ersten 24 Stunden eines Patientenaufenthalts. Änderungen des Burnout-Niveaus durch die Intervention wurden nicht festgestellt. Die übrigen Interventionen beziehen sich auf Individuen. Entspannungstechniken, Verhaltenstraining, Workshops zu Stressmanagement und eine Verbesserung der therapeutischen Qualifikation erweisen sich als wirksam, wohingegen die Effekte eines Programms zur sozialen Unterstützung in Form von Feedback nicht signifikant sind. Edwards und Burnard (2003) kommen (allerdings auf Basis anderweitiger Literaturstudien) zu dem Schluss, dass Stressmanagementstrategien, die auf mehreren Ebenen ansetzen, am effektivsten sind. Infobox
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Individuelle Stressinterventionsnahmen scheinen eher zu Verbesserungen des mentalen und emotionalen Wohlbefindens zu führen und sich weniger auf unternehmerische Verhältnisse auszuwirken als organisatorische und individuell-organisatorische Maßnahmen (Giga et al. 2003). Letztere werden mit einer Verbesserung der Gesundheit der Arbeitnehmer sowie mit einer Optimierung der unternehmerischen Ausführung, wie Arbeitszufriedenheit und Produktivität, assoziiert. Individuelle Interventionen sollten allerdings nicht außer Acht gelassen werden, sondern gezielt in stressvol-
len Situationen eingesetzt werden. Nach einigen der in den Review von Giga et al. einbezogenen Studien führt die Art der Intervention (individuell bzw. organisatorisch) zu keinem Unterschied. Vielmehr wird eine Kombination von Strategien auf die Ausrichtung der Bedürfnisse der Angestellten als zentral für den Erfolg der Maßnahmen angesehen. Der Review zeigt zudem auf, dass Interventionen, die die »Partizipation und Autonomie« der Zielgruppe fördern, wesentlich für die Umsetzung und Nachhaltigkeit der Stressprävention sind.
Der Review von Giga et al. (2003) untersucht Interventionen, die zum Ziel haben: ▬ der Entwicklung von potentiell stressigen Situationen vorzubeugen, ▬ die Intensität dieser Stressoren bzw. die Belastung durch diese Stressoren zu reduzieren, ▬ Personen mit dem Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen sowie Ressourcen auszustatten, damit diese mit stressvollen Situationen besser umgehen und sie bewältigen können. Die Literaturrecherche wurde in den Datenbanken PsycInfo und Medline durchgeführt und berücksichtigt Studien von 1990 bis 2001. Der Review untersucht 16 Studien zu Stressmanagementinterventionen in Großbritannien. 81% der untersuchten Interventionen (13 Studien mit insgesamt 20 Maßnahmen, wie kognitiv-verhaltensbezogene Intervention) zielen auf den individuellen Arbeitnehmer. Deutlich wird die Tendenz, dass sich in den letzten Jahren der Forschungsfokus vermehrt auf organisatorische Interventionen konzentriert (19% der untersuchten Maßnahmen, 3 Studien mit insgesamt 5 Interventionen). 44% der untersuchten Maßnahmen führen Interventionen auf der individuell-organisatorischen Ebene durch (7 Studien mit insgesamt 9 Maßnahmen). 43% der Studien beziehen mehr als einen Interventionslevel in ihre Strategie ein. Die häufigste Kombination verbindet Interventionen der individuellen und der individuell-organisatorischen Ebene. Keine der Studien kombiniert alle drei genannten Level – individuell, organisatorisch, individuell-organisatorisch – miteinander.
Der vorliegende Review lässt keine fundierten Schlussfolgerungen zur Effektivität der Interventionslevel zu. Diese Limitierung ist bedingt durch die geringe Anzahl an Studien, die unterschiedliche Interventionslevels vergleichen. Außerdem sind nicht alle Studien randomisiert-kontrolliert, und die meisten Studien weisen nur einen Follow-up von sechs Monaten auf. Alle einbezogenen 16 Studien kommen zu positiven Ergebnissen. Sie zeigen Auswirkungen auf der persönlichen Ebene wie Verminderung von Angst und Depression sowie auf der organisatorischen Ebene wie verbesserte Produktivität und geringere Abwesenheit. Neben diesen generellen positiven Effekten weisen die Studien zudem auf spezifische Trends hin. Danach wirken sich Maßnahmen
159 7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche
auf dem individuellen Level weniger wahrscheinlich auf unternehmerische Verhältnisse wie z. B. Arbeitszufriedenheit und Produktivität aus. Organisatorische und individuell-organisatorische Maßnahmen weisen demgegenüber eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, bei beiden Bereichen – Gesundheit der Arbeitnehmer und unternehmerische Ausführung – zu Verbesserungen zu führen. Individuelle Interventionen sind oft mit einer Steigerung des mentalen und emotionalen Wohlbefindens assoziiert. Allerdings führen einige Autoren der einbezogenen Studien einschränkend an, dass dieser Nutzen kurzfristig ist. Die individuellen Interventionen sind jedoch nicht zu vernachlässigen, können sie doch gezielt in stressigen Phasen angewendet werden. Ein Teil der Autoren stellt fest, dass organisatorische bzw. individuelle Interventionen zu keinem Unterschied führen. Stattdessen sehen sie eine Kombination von Strategien, die den Bedürfnissen der Angestellten entsprechen, als zentral für den Erfolg der Maßnahmen an. Interventionen zur »Partizipation und Autonomie« der Angestellten deuten darauf hin, dass der vorausgehende Entscheidungsfindungsprozess zum Einsatz von Stresspräventionsstrategien genauso wichtig ist wie die Umsetzung der Maßnahmen an sich. »Partizipation und Autonomie« bieten die Chance, dass Stressmanagementinterventionen regelmäßig abgestimmt und modifiziert werden – je nach geänderten Bedürfnissen der Arbeitnehmer und des Unternehmens. Die Nachhaltigkeit von Stressmanagementinterventionen kann außerdem durch »Partizipation und Autonomie« verbessert werden. Interventionen zur »Partizipation und Autonomie« unterstützen alle Bereiche eines Unternehmens durch die Möglichkeit, Wissen und Fertigkeiten zu erschließen, um Stressmanagementinterventionen zu planen, zu implementieren und zu evaluieren. Dieser Ansatz zur Stressprävention reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass arbeitsbedingter Stress nur vorübergehend für die Zeit der Programmdurchführung Aufmerksamkeit erfährt. Infobox
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Aufgrund der positiven Ergebnisse ihrer ausgewählten organisatorisch und individuell kombinierten Interventionen kommen Kompier et al. (1998) zu dem Schluss, dass diese Beispiele »Guter Praxis« darstellen. Die Autoren halten fünf Schlüsselfaktoren für die Durchführung erfolgreicher Stresspräventionsprojekte für notwendig: 1. schrittweise und systematische Herangehensweise, 2. genaue Risikoanalyse, 3. Kombination von Maßnahmen, die auf die organisatorische Arbeit sowie auf die Beschäftigten abzielen, 4. Partizipation der Beschäftigten sowie des mittleren Managements und 5. Unterstützung durch das oberste Management.
Zehn Praxisprojekte zu Stressmanagement in den Niederlanden werden in diesem Review auf ihre Eignung als Beispiele »Guter Praxis« untersucht (Kompier et al. 1998). Einbezogen werden Projekte mit 45 bis 90.000 Angestellten aus folgenden Beschäftigungsbereichen: Ministerium, Gefängnis, Zigarettenfabrik, Ölgesellschaft, Betrieb für Baugerüste, Maurergewerbe, Krankenhaus, Altenheim, Telekommunikation und Einrichtung für häusliche Pflege. Die Projekte verfolgen kombinierte, zumeist organisatorische, als auch individuenbezogene Interventionen, die je nach Beschäftigungsbereich variieren. Als Bewertungsparameter werden so genannte harte Outcome-Kriterien verwendet, unter anderem die Entwicklung von krankheitsbedingten Fehlzeiten und eine darauf basierende Kosten-Nutzen-Analyse. In neun der zehn Studien sind Daten zu Fehlzeiten verfügbar, in denen sämtlich ein Rückgang der krankheitsbedingten Fehlzeiten festgestellt wird. Von diesen ist der Rückgang in sechs Fällen signifikant. Alle sieben Projekte, in denen eine Kosten-NutzenAnalyse durchgeführt wurde, ziehen eine positive monetäre Bilanz, wobei die Beurteilungskriterien zwischen den einzelnen Projekten variieren. Alle einbezogenen Betriebe setzten ihre Praxisprojekte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen nach der hier erfolgten Evaluation fort, wohl wissend, dass die Veränderung von organisatorischen Strukturen ein zeitintensiver und andauernder Prozess ist. Die Ergebnisse des Reviews sprechen dafür, dass der Erfolg von Stresspräventionsmaßnahmen auf der Kombination von den zwei Vorgehensweisen, bottom-up (Partizipation) und top-down (Unterstützung durch das Management) abhängt. Die Autoren können jedoch keine Aussage darüber treffen, welche spezifischen Maßnahmen welche Effekte hervorrufen. Sie weisen jedoch ausdrücklich darauf hin, dass Stressinterventionen sowohl für die Angestellten als auch für das Unternehmen von Nutzen sein können.
Herausforderungen und Ansätze zur Prävention Ziel der durchgeführten systematischen Literaturrecherche ist die Darstellung der derzeitigen Studienlage zu Stressinterventionen am Arbeitsplatz sowie die Ermittlung wirksamer präventiver Maßnahmen zu arbeitsbedingtem Stress. Die Analyse von 14 Metaanalysen bzw. Reviews, die insgesamt 316 Studien3 berücksichtigen, verdeutlicht deren Heterogenität. Die Studien variieren hinsichtlich Art und Dauer der Interventionsmaßnahmen, erfasster Ergebnisparameter und verwendeter Erhebungsinstrumente; zudem besteht eine zahlenmäßige Dominanz der individuell ausgerichteten Stressinterventionen. Aufgrund
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Davon werden 47 Studien in mehreren Reviews berücksichtigt.
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
der häufig methodisch mangelnden Qualität sowie der Vielfältigkeit der Interventionen kann derzeit nicht ausreichend bestimmt werden, welche Interventionen welche Effekte bewirken und welche spezifischen Interventionen oder Techniken besonders effektiv und demnach für die Praxis zu empfehlen sind. Auf der individuellen Ebene haben sich nach den vorliegenden Studien besonders kognitiv-verhaltensbezogene Maßnahmen und ihre Kombination mit Techniken zur Muskelentspannung als wirksam erwiesen. Kognitivverhaltensbezogene Interventionen zielen auf die Modifikation von Bewertungen, Interpretationen und Verhalten von Individuen. Für organisatorisch orientierte Maßnahmen kann aufgrund weniger Studien und heterogener Effekte kein eindeutig positives Fazit gezogen werden. Durch eine häufig mangelnde Qualität des Forschungsdesigns können die erzielten Erfolge nicht genau bestimmt und somit nicht mit hinreichender Eindeutigkeit auf die Intervention zurückgeführt werden. So fällt das Gesamtfazit für die Stressprävention durch Umgestaltung der Arbeitsbedingungen zurückhaltend aus. Obwohl die Kombination von individuellen und organisatorischen Stressinterventionen bislang selten wissenschaftlich untersucht und somit keine eindeutigen Aussagen hinsichtlich der Wirksamkeit von Stresspräventionsmaßnahmen getroffen werden können, sprechen sich viele der Autoren für diese Kombinationen aus. Zentral ist die Identifikation möglicher Stressoren und die Entwicklung darauf aufbauender spezifischer Interventionen. Die Angestellten müssen in diesen Prozess einbezogen werden, um erfolgreiche und langfristig wirksame Interventionen zu sichern. erfolgversprechendsten sind grundsätzlich Set» Am ting-orientierte Ansätze, in denen struktur-, interaktions- und individuumsorientierte Interventionsstrategien kombiniert zur Anwendung kommen. Damit wird der Dialektik von Verhalten und Verhältnissen am ehesten entsprochen. Prof. Dr. Gert Kaluza, GKM-Institut für Gesundheitspsychologie, Marburg
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Aus den vorliegenden Studienergebnissen zu präventiven Stressmaßnahmen am Arbeitsplatz ergeben sich Herausforderungen für Wissenschaft, Unternehmen sowie für Sozialversicherungsträger bzw. Berufsgenossenschaften auf den unterschiedlichen Interventionsebenen (⊡ Tabelle 7.3).
Herausforderungen für die Wissenschaft Individuelle Stressinterventionen sind bislang am häufigsten auf ihre Wirksamkeit untersucht. Dennoch ist wenig bekannt zur Wirksamkeit von präventiven Stressinterventionen bei unterschiedlichen Stressbelastungen. Wichtig
ist ebenfalls, die Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen und die Förderung durch Auffrischungskurse zu untersuchen. Zukünftige Forschungsarbeiten sollten sich vor allem auf die Identifikation und Erreichbarkeit von (Hoch-)Risikogruppen und Möglichkeiten zur Erhöhung ihrer Teilnahme konzentrieren. Zudem fehlen Informationen zur Entwicklung risikogruppenspezifischer und Gender-sensibler Interventionen Studien zu organisatorischen Maßnahmen sowie Kombinationen mit individuellen Interventionen sind derzeit seltener und oft mit methodisch fragwürdiger Qualität durchgeführt worden. Anstehende Untersuchungen müssen in Konzeption und Durchführung eine hohe methodische Qualität aufweisen, um Aussagen zur Wirksamkeit dieser Interventionen treffen zu können. Klärungsbedarf besteht auch zum Einfluss der Struktur, Betriebsgröße und Branchenzugehörigkeit auf die Art, Implementation, Durchführung und Wirksamkeit der Interventionen. Zudem müssen im Betrieb existierende Barrieren identifiziert werden. Hinsichtlich der Kombination von individuellen und organisatorischen Stressinterventionsmaßnahmen müssen zusätzlich Kenntnisse zum optimalen zeitlichen Einsatz von individuellen und organisatorischen Maßnahmen in Erfahrung gebracht werden. Seiten der Forschung müssen evidenzbasierte » Von Programme zur Reduktion von arbeitsbezogenen Stress entwickelt und angeboten werden. Der Begriff Angebot ist durchaus wörtlich zu nehmen: Prävention im Betrieb muss einfach umsetzbar sein und sich sollte sich für das Unternehmen wahrnehmbar »lohnen«, z. B. in Form motivierterer, produktiverer und gesünderer Arbeitnehmer. Prof. Dr. Johannes Siegrist, Universitätsklinikum Düsseldorf
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Grundsätzlich sollte verhindert werden, dass Studien mit negativen Ergebnissen weniger oft veröffentlicht werden als Studien mit positiven Resultaten (»publication bias«). Somit kann eine mögliche Überrepräsentation von positiven Effekten vermindert werden.
Herausforderungen an Unternehmen Herausforderungen für Unternehmen bestehen in der Sensibilisierung ihrer Angestellten und Führungskräfte für arbeitsbedingten Stress und dessen Prävention. Wichtig ist es, individuelle, organisatorische und strukturelle Stressoren zu erkennen, um Interventionen am richtigen Ort und zur richtigen Zeit einsetzen zu können. Dabei kann die Identifikation von Schlüsselpersonen als Multiplikator hilfreich sein. Barrieren, wie z. B. langfristige Unterstützung des Managements und der unmittelbar Betroffenen, Berücksichtigung vielfältiger Interessen, Erzielung schneller Erfolge zur Akzeptanz, andererseits Hinarbeit
– Identifikation und Erreichbarkeit von (Hoch-)Risikogruppen – Motivation und Anreize zu Förderung ihrer Teilnahme – Entwicklung risikogruppenspezifischer und Gender-sensibler Interventionen mit Bezug zu alltäglichen Stressbelastungen – Wirksamkeit einzelner Techniken und modularer Interventionen – Wirksamkeit von Interventionen auf unterschiedliche Stressbelastungen, – sozioökonomischen Status und Gender – Kenntnisse zum Umfang, Dauer und Gestaltung der Intervention – Erfassung der Nachhaltigkeit – Wirksamkeit von Refresher-Angeboten – Messung der Wirtschaftlichkeit
– Konzeption und Durchführung von Studien mit hoher methodischer Qualität – Entwicklung und Standardisierung von Erhebungsinstrumenten zur Erfassung der Effekte – Messung der Wirksamkeit unterschiedlicher (Teil-)Interventionen sowie organisatorischer Kombinationen – Identifikation besonders wirksamer Interventionen – Messung der Wirtschaftlichkeit – Einfluss der Struktur des Unternehmens, der Betriebsgröße und Branchenzugehörigkeit auf die Art, Implementation, Durchführung und Wirksamkeit organisatorischer Interventionen – Identifikation von unternehmens-, mitarbeiter- und strukturbezogenen Barrieren und Möglichkeiten ihrer Überwindung – Erfassung der Nachhaltigkeit – Motivation und Anreize für Mitarbeiter und Führungskräfte zur Teilnahme und Möglichkeiten ihrer Förderung
– Wirksamkeit von Kombinationen – Optimaler zeitlicher Einsatz individueller und organisatorischer Interventionen
individuelle Stressinterventionen
organisatorische Stressinterventionen
zusätzliche Faktoren zu Kombinationen aus individuellen und organisatorischen Stressinterventionen
Wissenschaft
⊡ Tabelle 7.3. Herausforderungen an Wissenschaft, Unternehmen und Sozialversicherungsträger Sozialversicherungsträger/Berufsgenossenschaften – Sensibilisierung der Versicherten zum Stress in der Arbeitswelt und Möglichkeiten seiner Prävention – Sensibilisierung der Unternehmen – Identifikation von Risikogruppen, z.B. anhand Arbeitsunfähigkeitstage, Unfälle, Arbeitsbelastungsprofile – Entwicklung individueller zielgruppenorientierter Angebote zur Stressbelastung – Entwicklung von Refresher-Angeboten – Gezielte Ansprache von Risikogruppen – Nutzung der Erfahrungen zu anderen Themenfeldern der betrieblichen Gesundheitsförderung zur Prävention von Stress
Unternehmen – Sensibilisierung von Angestellten und Führungskräften für Stress am Arbeitsplatz und seiner Prävention – Identifikation von individuellen, organisatorischen und strukturellen Stressoren – Eruierung möglicher Ansätze zu ihrer Prävention – Förderung der Bereitschaft zur nachhaltigen Veränderung bei Mitarbeitern und Führungskräften – Identifikation von Schlüsselpersonen – Konzeption eines Maßnahmeplans – Integration von Interventionen in die Struktur des Unternehmens
7.3 · Prävention von Stress am Arbeitsplatz: Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche 161
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
auf langfristige Erfolge, Arbeiten unter ungünstigen Randbedingungen (wirtschaftliche Situation, Wechsel von Personal, Konflikte), müssen rechtzeitig erkannt und Lösungen zu ihrer Überwindung gefunden werden. Um eine langfristige Wirkung der Interventionen zu erreichen, ist die Motivierung von Mitarbeitern und Angestellten zu nachhaltigen Veränderungen und zur regelmäßigen Qualitätssicherung erforderlich.
Herausforderungen an Sozialversicherungsträger bzw. Berufsgenossenschaften
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Die Sensibilisierung der Versicherten sowie der Unternehmen zur Wahrnehmung von arbeitsbedingtem Stress und Möglichkeiten seiner Prävention sollte u. a. für die Sozialversicherungsträger und die Berufsgenossenschaften im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stehen. So können über Mitgliederzeitschriften alle Versicherte über Belastungen und ihre Prävention informiert werden. Über die Identifikation von Risikogruppen, z. B. anhand von Arbeitsunfähigkeitstagen, Unfällen und Arbeitsbelastungsprofilen, können gezielt Versichertengruppen angesprochen werden. Die Weiterentwicklung individueller Angebote zu Stressbelastungen und ihre zielgruppenbezogene Adressierung stellt eine wichtige zukünftige Aufgabe der Sozialversicherungsträger dar.
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163 7.4 · Psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkennen und reduzieren
7.4
Psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkennen und reduzieren
Das Arbeitsschutzsystem der Bundesrepublik Deutschland, aus dem sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für den betrieblichen Gesundheitsschutz ergeben, teilt sich in den berufsgenossenschaftlichen und den staatlichen Arbeitsschutz auf. Die nach Branchen angeordneten Berufsgenossenschaften sind Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, bei denen sich die Unternehmen pflichtversichern müssen. Die Berufsgenossenschaften haben u. a. die Aufgabe, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Grundlage bilden verbindliche Unfallverhütungsvorschriften und deren Überwachung. Das staatliche Arbeitsschutzrecht schließt eine Reihe von Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und technischen Regeln (z. B. Bundesimmissionsschutzgesetz, Bildschirmarbeitsplatzverordnung) ein. Von besonderer Bedeutung ist das »Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit« (Arbeitsschutzgesetz) von 1996, über das die Umsetzung von EU-Rahmenrichtlinien erfolgt. Es hat für alle Betriebe, unabhängig von der Anzahl der Beschäftigten und für den öffentlichen Dienst Gültigkeit. Eine der wesentlichen Neuerungen des Gesetzes ist ein erweitertes, umfassendes Gesundheitsverständnis unter Einbezug gesundheitsfördernder und psychosozialer Aspekte. Ziel ist die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren sowie eine Verbesserung des Gesundheitsschutzes. Die Aufsicht über den Arbeitsschutz obliegt den Gewerbeaufsichtsämtern der Länder. Als Aufsichts- und Genehmigungsbehörden widmen sie sich meist traditionellen Aufgabengebieten wie dem »Technischen und organisatorischen Arbeitsschutz«, »Gefahrstoffe und biologische Arbeitsstoffe« sowie der »Gesetzlichen Arbeitszeitregelung«. Zunehmend rücken jedoch auch psychische Belastungen am Arbeitsplatz in ihr Blickfeld. Diese werden in den Arbeitswissenschaften mit einer DIN-Norm definiert und beinhalten die »Gesamtheit der erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn einwirken«. Wenn es zu negativen Folgen dieser einwirkenden psychischen Belastungen kommt, werden in den Arbeitswissenschaften psychische Beeinträchtigungen durch psychische Ermüdung, psychische Sättigung, Monotonie, herabgesetzte Wachsamkeit und Stresszustände unterschieden (DIN EN ISO 10075/2000). Ein Akteur in dem Bereich psychische Belastungen in der Arbeitswelt ist auch das Gewerbeaufsichtsamt Hannover, zuständig für die Stadt und die Region Hannover sowie für die Landkreise Nienburg und Diepholz mit ca. 50.000 Betrieben. Über die klassischen Aufgabengebiete
des Arbeitsschutzes hinaus, beschäftigt sich hier seit 2004 ein eigenes Fachreferat mit dem Thema »psychische Belastungen«. Ein Fachreferent dort ist Bruno Reddehase, der im folgenden Gespräch mit der Redaktionsgruppe MHH/ISEG zur Vorgehensweise, Chancen und Grenzen der Unterstützung von Betrieben beim Abbau psychischer Belastungen am Arbeitsplatz einen Einblick in die Arbeitsweise der Gewerbeaufsicht gibt.
Interview Welchen Stellenwert hat die betriebliche Gesundheitsförderung beim Gewerbeaufsichtsamt? Inwieweit arbeiten Sie mit Krankenkassen und Unfallversicherungsträgern bzw. Berufsgenossenschaften zusammen? Wir führen betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes durch, auch im präventiven Bereich (»Wo sind Gefahrenstellen?«), aber nicht im Sinne der betrieblichen Gesundheitsförderung, bei der es um die Erhöhung der Motivation und der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter geht. Die betriebliche Gesundheitsförderung ist nicht Grundlage unserer Tätigkeit. kann nur eine klare Rahmensetzung von » Politisch Zuständigkeiten der Sozialversicherungsträger, der Betriebe und weiterer Akteure sinnvoll sein. Das bisherige System ist vollkommen überlastet, da es vor allem kurativ ausgerichtet ist. Dr. Rolf Manz, Bundesverband der Unfallkassen, München
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In Hannover gibt es einen runden Tisch für betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz (www.runder-tischhannover.de), in dem Krankenkassen und Berufsgenossenschaften vertreten sind. Dieser beschäftigt sich auch mit übergeordneten Aufgaben, die über die des Gewerbeaufsichtsamtes hinausgehen. Über solche Aktivitäten versuchen wir, das Thema betriebliche Gesundheitsförderung in die Betriebe hineinzutragen. Ansonsten ist die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen relativ gering; es gibt sehr wenig gemeinsame Berührungspunkte. Mehr oder weniger intensiv ist dagegen die Zusammenarbeit mit den Berufsgenossenschaften, die ja auch gesetzlich verpflichtend ist. Seit wann gibt es das Fachreferat »psychische Belastungen«? In dieser Funktion offiziell benannt existiert dieses Fachreferat seit 2004. Ich setze mich allerdings schon seit 2001 mit dem Thema psychischer Belastungen auseinander. Die gesetzliche Verpflichtung, sich mit diesem Thema zu beschäftigen gibt es seit 1996 mit In-KraftTreten des Arbeitsschutzgesetzes zur Prävention arbeits-
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
bedingter Gesundheitsgefahren. Wir haben hier im Hause zwei fachspeziell benannte Fachreferenten, die auch Ermittlungen psychischer Belastungen in den Betrieben durchführen. Wir versuchen, die Sachbearbeiter mit einzubeziehen, sodass wir mittlerweile fünf, sechs Leute zur Verfügung haben, die sich mit dem Thema der psychischen Belastungen auskennen. Begonnen haben wir mit einer Erhebung: Welche Modelle und Entwicklungen existieren bereits in der Arbeitsschutzverwaltung in Deutschland? Was können wir übernehmen? Für die Ermittlung psychischer Belastungen in Betrieben haben wir uns zuerst den Bereich »Call-Center« ausgewählt, da dort fast ausschließlich psychische Belastungen zu finden sind. Es gibt keine gesundheitsgefährdenden Maschinen und Stoffe; die existierende Belastung resultiert überwiegend aus der Tätigkeit des Telefonierens und aus der Organisation der Abläufe. Ermittlungen psychischer Belastungen haben wir mittlerweile in verschiedenen Betrieben und Branchen durchgeführt. Welche Verantwortung kommt Ihrer Meinung nach den Arbeitgebern, welche den Arbeitnehmern zum Erhalt der Gesundheit zu? Das Arbeitsschutzgesetz gibt eindeutig beiden Seiten Verantwortung. Der Arbeitgeber hat für gesunde Arbeitsplatzverhältnisse sowie Arbeitsplatzbedingungen zu sorgen und dies über Gefährdungsbeurteilungen zu überprüfen. Er muss entsprechende Maßnahmen durchführen und ihre Wirksamkeit kontrollieren und optimieren. Der Arbeitnehmer ist nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, einerseits seinen Arbeitgeber zu informieren, wenn er Gefahrenstellen sieht und sich andererseits aktiv in den Prozess des Arbeits- und Gesundheitsschutzes einzubringen. Das Arbeitsschutzgesetz ist unabhängig von der Betriebsgröße und gilt seit In-Kraft-Treten des Arbeitsschutzgesetzes 1996 mittlerweile auch für den öffentlichen Dienst, der bisher ausgenommen war. bei Arbeitgebern als auch bei Beschäftigten » Sowohl sollte das Bewusstsein für potentielle Stressoren und Hinweise auf manifeste Stressfolgen geschärft werden. Das heißt, Prävention sollte bei den potentiell Betroffenen sowie den potentiell auslösenden Institutionen und Vorgesetzten ansetzen. Bei betroffenen Arbeitnehmern sollte das familiäre Umfeld (Partner) mit einbezogen werden. Dr. Detlef Dietrich, Medizinische Hochschule Hannover
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Kommen die Betriebe in Fragen »psychischer Belastungen« auf Sie zu? Mittlerweile ja. Wir halten immer wieder Vorträge zu diesem Thema, hauptsächlich für Geschäftsleitungen und in Betriebsversammlungen, aber auch auf externen Veranstaltungen, beispielsweise an der Universität Hannover und auf Arbeitsschutzkongressen. Wir stellen unse-
re Vorgehensweise dar, versuchen, die Angst vor diesem Thema zu nehmen und verweisen auf Betriebe, die mit uns erfolgreich eine Ermittlung psychischer Belastungen durchgeführt haben. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat im September 2004 ein Positionspapier zur Bedeutung psychischer Belastungen bei der Arbeit herausgegeben. Darin werden acht Thesen zu Stress und psychischen Belastungen aufgezeigt. Eine These ist, dass aufgrund des Abbaus der physischen Belastungen die psychischen Belastungen zunehmend in den Blickpunkt rücken und in der Diskussion einen höheren Stellenwert einnehmen. Stimmen Sie dem zu? Aus meiner Sicht ist es in der Tat so, dass das Thema psychische Belastungen in den Vordergrund gerückt ist, nicht zuletzt wegen vieler Aktivitäten der Europäischen Union. So hat z. B. die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (http://agency.osha.eu.int) 2003 einen Bericht über die »Verhütung von psychosozialen Risiken und Stress bei der Arbeit in der Praxis« veröffentlicht. In Deutschland ist die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) gegründet worden, die sich u. a. mit dem Thema psychischer Belastungen beschäftigt. Es werden auch von Seiten des Staates und der Krankenkassen viele Aktivitäten unternommen, um dieses Thema tatsächlich zu einem Thema zu machen. Ich wehre mich allerdings dagegen, wenn behauptet wird, psychische Belastungen rücken nur deshalb in den Blickpunkt, weil die Mitarbeiter sonst keine Sorgen mehr haben. Infobox
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Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) Die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) ist ein Zusammenschluss von Sozialpartnern, gesetzlichen Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Ländern und Stiftungen, die sich mit Zukunftsfragen der Arbeitswelt auseinandersetzen und Betriebe sowie Beschäftigte bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen unterstützen. Die Förderung von Projekten hat zum Ziel, vorhandenes Wissen im Bereich Sicherheit und Gesundheit zusammenzuführen und Lösungsmodelle für die Praxis umzusetzen. Durch Beispiele »Guter Praxis« sollen u. a. sichere und gesunde Arbeitsplätze geschaffen sowie Gesundheit, Qualifikation und Kreativität der Beschäftigten gefördert werden. Zentrale Themen von INQA sind u. a. psychische Belastungen und Stress am Arbeitsplatz. So werden durch theoretische und praktische Wissensvermittlung Einzelpersonen und Unternehmen über Möglichkeiten der Verminderung und Vermeidung von psychischen Belastungen und Stress am Arbeitsplatz informiert. Weitere Informationen unter: http://www.inqa.de
165 7.4 · Psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkennen und reduzieren
Wir haben nach wie vor Probleme mit der Ergonomie, wir haben nach wie vor Probleme mit Heben und Tragen, aber es hat sich tatsächlich eine neue Qualität im Arbeitsschutz ergeben, letztlich auch durch den Wandel in der Arbeitswelt. Mittlerweile gibt es z. B. in den Betrieben viele Hebehilfen und viele weitere präventive Maßnahmen, sonst wäre 150 Jahre Arbeitsschutz auch umsonst gewesen. Die Qualitätsanforderungen, die Qualitätsüberprüfung, der Druck auf die Mitarbeiter ist dagegen mittlerweile enorm hoch. Das gilt für viele Branchen und zieht natürlich Veränderungen für die Arbeitnehmer nach sich, die überwiegend psychisch wirken. Das Thema hat sich in der Tat verstärkt. Verzeichnen Führungskräfte wie »klassische Manager« erhöhte psychische Belastungen? Unsere Aufgabe ist es, die Schutzbedürftigen zu schützen, d. h. die Arbeitnehmer, die im Grunde genommen keine große Wahl haben, ob sie einer Situation aus dem Wege gehen können oder nicht. Die Manager in den höheren Ebenen entscheiden selbst, was sie tun und wie viel Arbeit sie sich zumuten. So sind z. B. Leitende Angestellte vom Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen und stehen daher nicht unmittelbar im Fokus unseres Arbeitsbereiches. Gibt es Daten über die Entwicklung von psychischen Belastungen? Nein, die Daten können nur abgeleitet werden, wenn die Fehlzeitenstatistik als Basis genommen und nachvollzogen wird, aufgrund welcher Erkrankungen Mitarbeiter fehlen. Aussagen über die Veränderung des Erkrankungsbildes der Arbeitnehmer könnten somit getroffen werden. So rufen psychische Belastungen bei Männern oft HerzKreislauf-Erkrankungen hervor. Es müsste z. B. gezielt untersucht werden, ob Auffälligkeiten im Herz-KreislaufSystem aufgrund psychischer Belastung bestehen. Hinzu kommt, dass Mitarbeiter sich oftmals nicht äußern: Psychische Belastung, der Begriff und die Erkrankung sind nach wie vor stigmatisiert. Inwieweit werden psychische Belastungen von Seiten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wahrgenommen und thematisiert? Gibt es Unterschiede zwischen Branchen und Betriebsgrößen? Welche Möglichkeiten einer stärkeren Sensibilisierung gibt es Ihrer Meinung nach? Unsere zuständigen Sachbearbeiter versuchen, das Thema psychische Belastungen in den Betrieben bei einer Besichtigung anzusprechen. Es gibt allerdings nur wenige Unternehmen, die sich bereits mit der Problematik auseinander gesetzt und noch weniger Unternehmen, die tatsächlich Untersuchungen durchgeführt haben. Von den Mitarbeitern wird die Thematik in der letzten Zeit öfter über die Gewerkschaften oder die Betriebsräte angesprochen.
Im Grunde betrifft das Thema psychische Belastungen alle Branchen. Unterschiede hinsichtlich der Arbeitsgebiete und Betriebsgrößen haben wir bislang nicht festgestellt. Es gibt natürlich Zweige, z. B. der Pflegebereich, wo Fluktuationszeiten von fünf Jahren zu verzeichnen sind. Dort treffen eine hohe körperliche sowie eine hohe psychische Belastung mit viel Zeitdruck, Verantwortung und ständigem Umgang mit Leid zusammen. Die Notwendigkeit einer stärkeren Sensibilisierung ist auf jeden Fall gegeben. Alle an diesem Problem Interessierten müssen viel Überzeugungsarbeit leisten, um die Beteiligten für die Wichtigkeit des Themas zu gewinnen und Kooperationen zu ermöglichen. Viele Betriebe wollen z. B. nicht, dass Vertreter des Gewerbeaufsichtsamtes einen so tiefen Einblick in die Belange des Unternehmens erhalten. Eine vorsichtige Annäherung ist deshalb wichtig. Das müssen wir als Aufsichtsbehörde berücksichtigen in unserer Strategie, Betriebe zu sensibilisieren. Wie gehen Sie auf die Betriebe zu, um »psychische Belastungen« zu thematisieren? Bei der Call-Center-Aktion haben wir die Betriebe gezielt angeschrieben und ihnen unser neues Schwerpunktthema dargelegt. Wir haben erklärt, dass wir gerne eine Ermittlung psychischer Belastungen durchführen würden und um einen Terminvorschlag gebeten. Mittlerweile gehen wir anders vor. Der zuständige Kollege fragt bei Routinebesuchen nach, ob Beurteilungen psychischer Belastungen existieren. Eine Offenheit zu diesem Thema erleben wir immer dann, wenn die Betriebe registrieren, dass sie Probleme haben. Sei es aufgrund von hohen Krankenständen, von Qualitätsproblemen, von schlechtem Betriebsklima oder auch aufgrund tödlicher Unfälle. Wie gehen Sie dabei konkret vor? Wir haben dazu ein Modell entwickelt (⊡ Abb. 7.2) an dem ich unsere Vorgehensweise erläutere. Im ersten Schritt wird das Thema in einem Vortrag von ca. zwei Stunden Dauer vorgestellt. Wir beschreiben kurz die Vorgehensweise, erklären wie groß der Arbeitsaufwand ist, stellen aber auch mögliche Handlungsspielräume, die sich für das Unternehmen ergeben können dar. Außerdem reden wir über die Angelegenheiten, die die Mitarbeiter bei ihrer Arbeitsausführung behindern, stören, ärgern. Der Betrieb entscheidet letztendlich, ob, in welchem Umfang und in welchen Bereichen begonnen werden soll (⊡ Abb. 7.2, Modul 1 bis 3). Bevor wir eine Erhebung psychischer Belastungen durchführen, informieren wir die Mitarbeiter in (Informations-)Veranstaltungen (⊡ Abb. 7.2, Modul 4). Im nächsten Schritt unserer Vorgehensweise begleiten, beobachten, dokumentieren und fotografieren wir die Mitarbeiter über ganze Schichten. Oft bitten die Mitarbeiter dann um ein Vier-Augen-Gespräch und legen ihre Probleme dar, die wir miterfassen. Im nächsten Schritt werden unsere
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Modul 1: Vorgespräch Modul 10: Evaluation der Maßnahmen
Modul 9: Präsentation der getroffenen Maßnahmen
Modul 2: Fachgespräch
Modul 3: Festlegung, Vorgehensweise, Vorerhebung
Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung
Modul 8: Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen
Modul 4: Mitarbeiterinformation
7 Modul 7: Ergebnispräsentation
Modul 6: Bewertung durch moderierte MA-Gruppen
Modul 5: Belastungsermittlung, Auswertung
⊡ Abb. 7.2. Vorgehensweise des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes Hannover zur Ermittlung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz (Unterlagen Gewerbeaufsichtsamt Hannover)
Beobachtungen mit einem Erhebungsinstrument der Universität Potsdam (SPA – Screening Psychischer Arbeitsplatzbelastung) ausgewertet (Modul 5). Mit Hilfe dieses Instruments kann eine Aussage darüber getroffen werden, ob bei den überprüften Untersuchungsfeldern psychische Belastungen zu erwarten sind oder nicht. Nach der Auswertung der Daten führen wir ca. fünfstündige Mitarbeiterworkshops durch, in denen wir unsere Beobachtungen vorstellen (Modul 6). In den Workshops wollen wir ganz gezielt die subjektiven Meinungen und Empfindungen der Mitarbeiter ermitteln. Durch solche Ergänzungen und über die Moderation erreichen wir auch Belastungs- und Beanspruchungsaussagen. Das Zeigen von aufgenommenen Fotos wirkt wie ein Schlüsselreiz: Die Mitarbeiter fangen an zu reden. Sie reden über ihre Probleme untereinander, mit ihren Vorgesetzten und bei der Arbeit. Die Ergebnisse werden der Geschäftsleitung allerdings sehr überlegt präsentiert (Modul 7). Wir müssen den Führungskräften ggf. bewusst machen, dass u. a. existierende Probleme möglicherweise an ihnen liegen, müssen ihnen aber auch Handlungsspielräume eröffnen. Die Gestaltung und Umsetzung der Maßnahmen (Modul 8) sowie ihre Präsentation vor uns Referenten (Modul 9) ist Sache des Unternehmens. Über Gespräche mit der Geschäftsleitung und zukünftig vielleicht durch Mini-Workshops mit den Mitarbeitern, überprüfen wir die Wirksamkeit der eingesetzten Maßnahmen (Modul 10).
Sind die Unternehmen bereit, alle Module umzusetzen und auch das Führungsverhalten zu überdenken? Oft wird versucht, zuerst die Mitarbeiter zu verändern und nicht die Situation am Arbeitsplatz. Das Arbeitsschutzgesetz verlangt das Gegenteil. Der Arbeitgeber hat als Erstes für gesunde Arbeitsplatzverhältnisse zu sorgen, im zweiten Schritt muss der Arbeitsablauf optimiert organisiert werden und erst im letzten Schritt macht es Sinn, die Mitarbeiter hin zu einer gesunden Lebensweise zu verändern, sodass sie mit existierenden Belastungen besser umgehen können und nicht chronisch erkranken. Es wird in den Unternehmen viel unternommen, aber aus meiner Sicht zu wenig an der Quelle. Man laboriert an den Erscheinungen und nicht an den Ursachen. Wie und durch welche Instrumente können psychische Belastungen ermittelt werden? Welche Indikatoren weisen auf psychische Belastung hin? Wie kann das Vertrauen der Arbeitnehmer gewonnen werden? Ich bin mittlerweile der Meinung, dass es egal ist, welches Instrument angewendet wird; ob es ausgefeilt oder einfach gestrickt ist. Ein ganz einfaches Instrument kann eine große Hilfe sein, wenn es als Einstieg zu diesem Thema benutzt wird. Wichtig sind der Dialog mit den Mitarbeitern und die Auseinandersetzung mit dem Thema der psychischen Belastungen. Das Instrument muss so sein, dass es dem Unternehmen im Umgang eine gewisse
167 7.4 · Psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkennen und reduzieren
Sicherheit gibt und das Misstrauen nimmt. Eine ganze Reihe von Instrumenten richtet mehr Schaden an, als dass sie von Nutzen wären. Fragebögen, die an die Mitarbeiter verteilt und von ihnen ausgefüllt werden sollen, sind meiner Meinung nach eher schädlich als nützlich. Sie werden von den Mitarbeitern oftmals nicht ernst genommen und die gegebenen Antworten sind hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes zu hinterfragen. Durch den Einsatz eines Fragebogens in einem Interview mit den einzelnen Mitarbeitern, erhält er eine andere Qualität: Bei Verständnisschwierigkeiten kann direkt nachgefragt, Antworten können Bereichen und Mitarbeitern zugeordnet werden. Was charakterisiert Ihr Erhebungsinstrument? Das Erhebungsinstrument SPA – Screening Psychischer Arbeitsplatzbelastung der Universität Potsdam –, das wir einsetzen, ist auch in der Toolbox der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) enthalten und umfasst fünf Untersuchungsfelder. Nicht die Mitarbeiter füllen den Bogen aus, sondern wir. Wir begleiten die Mitarbeiter, verschaffen uns einen Eindruck und dokumentieren unsere Beobachtungen. Der Erfassungsbogen beinhaltet insgesamt 36 Items und ermöglicht jeweils eine A- und eine B-Antwort. Die A-Antwort ist immer die »nicht belastende« und die B-Antwort die »eher belastende« Einschätzung im Sinne von Fehlbelastungen. Das erste Untersuchungsfeld »Entscheidungsspielraum« enthält z. B. Angaben, ob der Mitarbeiter selbst über seine Arbeitsabläufe entscheiden kann oder nicht. Bei der Auswertung der Untersuchungsfelder, die wir selbst vornehmen, werden die B-Antworten zusammengezählt. Überschreitet die Summe einen definierten Grenzwert, wird dieses Untersuchungsfeld kritisch eingeschätzt. Natürlich sind diese Grenzwerte »weiche Werte«, die nur eine Orientierung liefern können. Das zweite Untersuchungsfeld umfasst den Bereich »Komplexität/Variabilität«, der aussagt, inwiefern ein Mitarbeiter in seiner Ganzheit gefordert ist: Wird der Mitarbeiter nur einseitig belastet, oder wird er mit all seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Möglichkeiten gefordert. Je komplexer die Arbeitsanforderung ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Fehlbelastungen. Das dritte Untersuchungsfeld »Qualifikationserfordernisse« fragt, ob der Mitarbeiter ausreichend qualifiziert ist und ob seine Tätigkeit Lernförderlichkeit beinhaltet. Die Möglichkeit von Fehlbelastungen ist deutlich niedriger, wenn eine Persönlichkeitsentwicklung möglich ist. Das vierte Untersuchungsfeld »Risikobehaftung bzw. besondere Anforderungen an Handlungszuverlässigkeit« analysiert ebenfalls zwei unterschiedliche Bereiche. Der eine Bereich umfasst die Frage: »Was passiert, wenn ich einen Fehler mache?«, der zweite: »Kann ich einen von mir gemachten Fehler selbstständig wieder einfangen?«. Das letzte Untersuchungsfeld nennt sich »sonstige belastende Ausführungsbedingungen«.
Es kommt auf die Ernsthaftigkeit des Unternehmens an, eine für sich maßgeschneiderte Lösung zu finden und daran zu arbeiten. Wichtig ist zudem, das Vertrauen der Arbeitnehmer zu gewinnen. Das kann nur durch Offenheit und Transparenz erreicht werden. Infobox
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Toolbox der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) Welches Verfahren zur Erfassung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz eingesetzt werden kann, hängt von verschiedenen Kriterien ab. Die Toolbox der BAuA zeigt Instrumente auf, die einerseits ungünstige Merkmalsausprägungen der Arbeit, wie z. B. Zeitdruck oder Informationsdefizite und andererseits positive Arbeitsmerkmale, wie soziale Unterstützung, Mitsprachemöglichkeiten, Vertrauen zu Vorgesetzten und Kollegen erfassen und bewerten. Die Toolbox bietet somit einen Überblick über die unterschiedlichen existierenden Verfahren zur Erfassung arbeitsbedingter psychischer Belastungen im deutschsprachigen Raum, die als Handlungshilfe bereitgestellt werden. Weitere Informationen unter: http://www.baua.de
Inwieweit werden in Betrieben tatsächlich aktiv präventive Maßnahmen ergriffen? Was zeichnet diese Betriebe aus? Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei der Umsetzung und wie können diese überwunden werden? Ich denke, in den Betrieben werden zusehends präventive Maßnahmen eingeführt. So werden z. B. Gesundheitszirkel, Förderprogramme, die den Mitarbeitern Fitnesskurse ermöglichen, und Ernährungsprogramme angeboten. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass Aktivitäten um der Aktivität Willen durchgeführt werden, und um diese der Außenwelt zu demonstrieren. Es ist natürlich einfacher, Mitarbeiter an einem Fitnesstraining teilnehmen zu lassen, als wirklich Vorgesetztenverhalten, Führungskultur und Organisationsabläufe zu verändern. Betriebe, die sich mit dem Thema psychische Belastungen befassen, zeichnet sicherlich eine gewisse Offenheit aus. Grundlegend ist, dass die Geschäftsleitung das Thema engagiert angeht. Wichtig ist zudem ein Promotor im Unternehmen, egal wo er sitzt. Das kann auch eine engagierte Fachkraft der Arbeitssicherheit sein. Über Betriebsräte kann versucht werden, das Thema zu forcieren, aber sie scheitern, wenn die Geschäftsleitung sich dagegen stellt. Um Betriebe für das Thema »psychische Belastungen« zu sensibilisieren, ist viel Überzeugungsarbeit sowie das Aufzeigen von Nutzen und Vorteilen nötig. Wir können nur über Nutzendarstellung versuchen, Bewusstseinsver-
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
änderungen zu erreichen, Sensibilitäten zu schaffen. Das ist ein mühseliger Weg, aber der einzige, der dauerhaft funktioniert.
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Ein neues Präventionsleitbild psychischer Belastungen am Arbeitsplatz Franz Friczewski
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Inwieweit unterstützen wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der betrieblichen Gesundheitsförderung die Wahrnehmung und Einführung von präventiven Maßnahmen? An der Universität Dresden wurde eine Doktorarbeit zur Evaluation von Maßnahmen beim Arbeits- und Gesundheitsschutz durchgeführt, die versucht, über Kenngrößen nachzuweisen, inwieweit sich Investitionen rentieren. Es konnte aufgezeigt werden, dass für jeden in den letzten drei Jahren investierten Euro im Arbeits- und Gesundheitsschutz 71,– Euro an Re-Invest entstanden sind. Wenn solche Zahlen präsentiert werden und auf den Betrieb übertragbar sind, dann können solche Studien bei der Einführung präventiver Maßnahmen helfen. Solange jedoch nicht wirklich jemand überzeugt ist, dass das Unternehmen auch einen monetären Nutzen hat, können viele Studien vorgelegt werden – das beeindruckt niemanden. Wenn Sie aber bereits auf eine gewisse Sensibilität stoßen oder mitten im Prozess stehen, können Studien Positionen und Ansichten festigen. Die derzeitige Situation in Deutschland ist gekennzeichnet von hoher Arbeitslosigkeit, einer Zunahme befristeter Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit, Lohneinbußen, der Diskussion und Einführung von Niedriglöhnen sowie insgesamt niedriger Arbeitsunfähigkeitstage. Wie bewerten Sie die Situation? In Deutschland sind die Arbeitsunfähigkeitstage auf einen durchschnittlich niedrigen Wert abgesunken. Existierende hohe Fluktuationen und Fehlzeiten sind oft Indikatoren dafür, dass in einem Betrieb Probleme bestehen. Diese müssen nicht immer psychische Belastungen sein, ein Grund ist z. B. auch Unterbezahlung. Zum Problem kann es beispielsweise kommen, wenn die Mitarbeiter den Eindruck haben, dass sie mehr leisten als sie über ihre Bezahlung ausgeglichen bekommen. Sie sind unzufrieden, weil sie das Gefühl haben, ständig unterbezahlt zu sein. An diesem Punkt versucht der Mitarbeiter im Allgemeinen, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Bleibt er bei seiner derzeitigen Arbeitsstelle, ist er ständig missgestimmt und die Gefahr psychischer Fehlbelastungen und Erkrankungen steigt an. Ständige Unzufriedenheit produziert auch Fehlzeiten, die oftmals eine versuchte Flucht aus der Situation bedeuten. Die kleineren alltäglichen Ärgernisse, die immer wiederkehren, belasten die Mitarbeiter in der Regel psychisch mehr als existentielle Bedrohungen, wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Ungewissheit, ob der Zeitvertrag verlängert wird. Vielen Dank für das Gespräch.
In einem gewissen Sinn könnte man sagen, dass Prävention letztlich darauf abzielt, Alltagssituationen »kohärenter« zu gestalten. Kohärent bedeutet zunächst so viel wie: sinnvoll zusammenhängend, geordnet. Bei Individuen bedeutet es auch: nach Vollständigkeit/Integrität strebend, dabei Synergien und Ressourcen aufbauen und sinnvoll nutzen. Für Prävention ist der Kohärenzbegriff wichtig geworden durch die Forschung des Medizinsoziologen Antonovsky (1997). Er fragte sich, was Menschen hilft, belastende und traumatische Erfahrungen gesund und innerlich heil zu überstehen. Er stieß dabei auf eine bestimmte Lebens-Orientierung, die er »Kohärenzgefühl« nannte. Sie befähigt Menschen, auch unter schwierigsten Umständen, innerlich nicht zu zerbrechen oder aufzugeben und sich ein grundlegendes Vertrauen in das Leben zu bewahren. Der Kohärenzbegriff lässt sich auch auf Organisationen und Arbeitstätigkeiten anwenden. In diesem Fall kommt er dem Flow-Begriff von Csikszentmihalyi nahe; d. h. der Ausführende geht in seiner Tätigkeit auf; er erlebt sie als Herausforderung, ohne dabei das Gefühl der Kontrolle über die Situation zu verlieren (Csikszentmihalyi 1985). Dieser Artikel befasst sich mit der Kohärenz (oder Inkohärenz) moderner Büroarbeit in Bezug auf die psychische Gesundheit der Betroffenen am Beispiel der Bildschirmarbeit. Gewöhnlich wird in der Diskussion über die Folgen von Fehlbelastungen durch Bildschirmarbeit die körperliche Seite betont (z. B. Augenbeschwerden, Nacken-, Unterarm-, Kopfschmerzen etc.). Die untrennbar damit verbundene psychische Belastung (mental ebenso wie emotional) wurde bisher eher ausgeklammert. Das ist heute immer weniger möglich, denn Bildschirmarbeit erweist sich mittlerweile als ein Vehikel für neue, psychisch stark belastende Formen der Arbeitsorganisation im Büro: Sie bietet Angriffsfläche für Monotonie, Zerstückelung und Intensivierung der Arbeit. In der CallCenter-Tätigkeit (die fast immer auch Bildschirmarbeit ist), verdichten sich diese neuen Belastungen wie unter einem Brennglas. Gerade auch vor dem Hintergrund von Globalisierung und Kostendruck ist die Versuchung für das Management oft groß, die Möglichkeiten der modernen Informationstechnologie dafür zu nutzen, Arbeit zu zerstückeln und zu vereinfachen, um so die Leistung zu verdichten und Arbeitskosten zu sparen. Gegen Kostensenken ist natürlich grundsätzlich nichts einzuwenden, solange man andererseits bedenkt, dass dabei Arbeitsplätze entstehen können, an denen Menschen hohen psychischen Anfor-
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änderungen zu erreichen, Sensibilitäten zu schaffen. Das ist ein mühseliger Weg, aber der einzige, der dauerhaft funktioniert.
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Ein neues Präventionsleitbild psychischer Belastungen am Arbeitsplatz Franz Friczewski
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Inwieweit unterstützen wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der betrieblichen Gesundheitsförderung die Wahrnehmung und Einführung von präventiven Maßnahmen? An der Universität Dresden wurde eine Doktorarbeit zur Evaluation von Maßnahmen beim Arbeits- und Gesundheitsschutz durchgeführt, die versucht, über Kenngrößen nachzuweisen, inwieweit sich Investitionen rentieren. Es konnte aufgezeigt werden, dass für jeden in den letzten drei Jahren investierten Euro im Arbeits- und Gesundheitsschutz 71,– Euro an Re-Invest entstanden sind. Wenn solche Zahlen präsentiert werden und auf den Betrieb übertragbar sind, dann können solche Studien bei der Einführung präventiver Maßnahmen helfen. Solange jedoch nicht wirklich jemand überzeugt ist, dass das Unternehmen auch einen monetären Nutzen hat, können viele Studien vorgelegt werden – das beeindruckt niemanden. Wenn Sie aber bereits auf eine gewisse Sensibilität stoßen oder mitten im Prozess stehen, können Studien Positionen und Ansichten festigen. Die derzeitige Situation in Deutschland ist gekennzeichnet von hoher Arbeitslosigkeit, einer Zunahme befristeter Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit, Lohneinbußen, der Diskussion und Einführung von Niedriglöhnen sowie insgesamt niedriger Arbeitsunfähigkeitstage. Wie bewerten Sie die Situation? In Deutschland sind die Arbeitsunfähigkeitstage auf einen durchschnittlich niedrigen Wert abgesunken. Existierende hohe Fluktuationen und Fehlzeiten sind oft Indikatoren dafür, dass in einem Betrieb Probleme bestehen. Diese müssen nicht immer psychische Belastungen sein, ein Grund ist z. B. auch Unterbezahlung. Zum Problem kann es beispielsweise kommen, wenn die Mitarbeiter den Eindruck haben, dass sie mehr leisten als sie über ihre Bezahlung ausgeglichen bekommen. Sie sind unzufrieden, weil sie das Gefühl haben, ständig unterbezahlt zu sein. An diesem Punkt versucht der Mitarbeiter im Allgemeinen, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Bleibt er bei seiner derzeitigen Arbeitsstelle, ist er ständig missgestimmt und die Gefahr psychischer Fehlbelastungen und Erkrankungen steigt an. Ständige Unzufriedenheit produziert auch Fehlzeiten, die oftmals eine versuchte Flucht aus der Situation bedeuten. Die kleineren alltäglichen Ärgernisse, die immer wiederkehren, belasten die Mitarbeiter in der Regel psychisch mehr als existentielle Bedrohungen, wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Ungewissheit, ob der Zeitvertrag verlängert wird. Vielen Dank für das Gespräch.
In einem gewissen Sinn könnte man sagen, dass Prävention letztlich darauf abzielt, Alltagssituationen »kohärenter« zu gestalten. Kohärent bedeutet zunächst so viel wie: sinnvoll zusammenhängend, geordnet. Bei Individuen bedeutet es auch: nach Vollständigkeit/Integrität strebend, dabei Synergien und Ressourcen aufbauen und sinnvoll nutzen. Für Prävention ist der Kohärenzbegriff wichtig geworden durch die Forschung des Medizinsoziologen Antonovsky (1997). Er fragte sich, was Menschen hilft, belastende und traumatische Erfahrungen gesund und innerlich heil zu überstehen. Er stieß dabei auf eine bestimmte Lebens-Orientierung, die er »Kohärenzgefühl« nannte. Sie befähigt Menschen, auch unter schwierigsten Umständen, innerlich nicht zu zerbrechen oder aufzugeben und sich ein grundlegendes Vertrauen in das Leben zu bewahren. Der Kohärenzbegriff lässt sich auch auf Organisationen und Arbeitstätigkeiten anwenden. In diesem Fall kommt er dem Flow-Begriff von Csikszentmihalyi nahe; d. h. der Ausführende geht in seiner Tätigkeit auf; er erlebt sie als Herausforderung, ohne dabei das Gefühl der Kontrolle über die Situation zu verlieren (Csikszentmihalyi 1985). Dieser Artikel befasst sich mit der Kohärenz (oder Inkohärenz) moderner Büroarbeit in Bezug auf die psychische Gesundheit der Betroffenen am Beispiel der Bildschirmarbeit. Gewöhnlich wird in der Diskussion über die Folgen von Fehlbelastungen durch Bildschirmarbeit die körperliche Seite betont (z. B. Augenbeschwerden, Nacken-, Unterarm-, Kopfschmerzen etc.). Die untrennbar damit verbundene psychische Belastung (mental ebenso wie emotional) wurde bisher eher ausgeklammert. Das ist heute immer weniger möglich, denn Bildschirmarbeit erweist sich mittlerweile als ein Vehikel für neue, psychisch stark belastende Formen der Arbeitsorganisation im Büro: Sie bietet Angriffsfläche für Monotonie, Zerstückelung und Intensivierung der Arbeit. In der CallCenter-Tätigkeit (die fast immer auch Bildschirmarbeit ist), verdichten sich diese neuen Belastungen wie unter einem Brennglas. Gerade auch vor dem Hintergrund von Globalisierung und Kostendruck ist die Versuchung für das Management oft groß, die Möglichkeiten der modernen Informationstechnologie dafür zu nutzen, Arbeit zu zerstückeln und zu vereinfachen, um so die Leistung zu verdichten und Arbeitskosten zu sparen. Gegen Kostensenken ist natürlich grundsätzlich nichts einzuwenden, solange man andererseits bedenkt, dass dabei Arbeitsplätze entstehen können, an denen Menschen hohen psychischen Anfor-
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derungen wie Zeitdruck und Arbeitsanfall ausgesetzt sind, zugleich aber wenig Kontrolle über ihre Tätigkeit haben. Gemäß der vielfach empirisch überprüften Anforderungs-Kontroll-These Karaseks (1979) bergen solche Arbeitsplätze ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Die Call Center Studie der Verwaltungsberufsgenossenschaft 2002 (CCall Report 11) hat ergeben, dass insbesondere jüngere Beschäftigte nach einem Jahr Tätigkeit in einem Call Center eine signifikante Zunahme emotionaler Erschöpfungszustände mit erhöhten psychosomatischen Beschwerden (besonders im Muskel-Skelett-Bereich) aufweisen. Die Studie hat zugleich gezeigt, dass Call-Center-Tätigkeit nicht zwangsläufig mit solchen Belastungen einhergehen muss, dass Prävention also durchaus Aussichten auf Erfolg hat.
Zwei unterschiedliche Paradigmen Das klassische Paradigma für die Analyse psychischer Arbeitsbelastungen ist das so genannte Belastungs-Beanspruchungs-Paradigma: Man versucht »krank machende Faktoren« oder »Stressoren« zu identifizieren. Prävention bedeutet dann, diese »Faktoren« zu eliminieren und/oder Menschen zu befähigen, mit ihnen in gesunder Weise umzugehen. Diese Sichtweise reicht heute allein nicht mehr aus, um die »neuen« Belastungen der Büroarbeit angemessen zu verstehen und ihnen präventiv zu begegnen. Sie sollte vielmehr ergänzt werden um eine weitere, die im Folgenden die zirkulär-kohärente Sichtweise genannt wird. Es geht um eine Sichtweise, ▬ die die Dinge »aus ihrer Mitte heraus« betrachtet, d. h. aus der Perspektive ihrer Selbstorganisation; die ihnen also keine »objektiven«, beobachterunabhängigen Merkmale unterstellt (z. B. »XY ‚ist’ ein Stressor«), sondern sie aus ihrem – sich selbst generierenden – Zusammenhang heraus zu verstehen versucht;4 und die dabei ▬ im Sinne des Salutogenese-Ansatzes Antonovskys (1997) von der Frage ausgeht: »Was erhält Menschen (und Organisationen) gesund?« Merkmal des klassischen Belastungs-BeanspruchungsKonzepts ist seine lineare Sichtweise: Sie trennt die Belastungen, die auf den menschlichen Organismus »einwirken« von der Beanspruchung, zu der diese Belastungen »führen«. Modifiziert werden kann die Beanspruchung durch individuelle Ressourcen (wie durch ein geeignetes Bewältigungsverhalten). So könnte aus dieser Sicht z. B. gesagt werden: »Durch Bildschirmarbeit werden die
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Dies ist der Gedanke der Autopoiesis oder Selbstorganisation des Lebens (Maturana 1982), der mittlerweile auch auf psychosoziale Prozesse angewendet wird.
Augenmuskeln bzw. das Nervensystem informatorisch überlastet und das führt zu Augenbeschwerden bzw. zu psychischer Erschöpfung. Regelmäßige Pausen, Augentrainings- und Entspannungsübungen können die Bewältigungsfähigkeit verbessern und so diese Fehlbelastungen ausgleichen.« Beide Belastungsarten – die psychische und die somatische – werden dabei additiv nebeneinander gestellt. Diese lineare Betrachtungsweise folgt dem Denkraster des Alltagsverstands. Man blickt quasi von außen auf Objekte, denen beobachterunabhängige Merkmale und Funktionen und daher auch bestimmte (z. B. pathogene) Wirkungen zugeschrieben werden. Die Kohärenz von Arbeit – d. h. ihre »Stimmigkeit«, etwa gesundheitliche Zuträglichkeit – muss dann ebenso von außen (»linear«) an die Arbeitssituation herangetragen werden, etwa abgeleitet aus so genannten »gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen« (z. B. die Empfehlung: »In Call Centern abwechslungsreiche Tätigkeiten schaffen, um langfristig Burnout zu vermeiden«). Gegen diese Denkweise ist nichts zu sagen, im Gegenteil, sie ist und bleibt wichtiger Bestandteil jeder präventiven Alltagspraxis. Sie hat jedoch ihre Grenzen und die werden erst dann sichtbar, wenn eine nichtlineare, zirkulär-kohärente Betrachtungsweise eingenommen wird, die dem Alltagsdenken allerdings erst einmal eher ungewohnt und fremd ist: Diese Sichtweise versucht, ihre Gegenstände (z. B. Belastungen aus Bildschirmarbeit) quasi von innen heraus zu verstehen. Das heißt, sie schreibt den Funktionen und Merkmalen der Dinge (z. B. des Auges, der Finger, aber auch des Bildschirms, der Tastatur ...) keine objektive, beobachterunabhängige Existenz zu, sondern fragt danach, wie sie sich in zirkulärer Kausalität gegenseitig bedingen. Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass Menschen die Welt, in der sie sich bewegen (z. B. den Computer, an dem sie arbeiten, aber auch ihren Körper) in jedem Moment – als subjektive Beobachter – selbst konstruieren. Sie tun dies nicht passiv wie eine Kamera, sondern aktiv, indem sie ihre Bewegungen (z. B. der Augen, des Rumpfes, der Finger) zu den von ihnen verursachten Veränderungen der Sinneswahrnehmung in Beziehung setzen (von Foerster 2000; vgl. ⊡ Abb. 7.3). Trotz der rein subjektiven Konstruktion ist das Resultat nicht willkürlich, sondern »stimmig«, d. h. es ist mit den Anforderungen der Umwelt, z. B. des Arbeitsplatzes, und mit der eigenen Gesundheit zumindest prinzipiell verträglich. Das gründet sich in der Fähigkeit des Organismus zur Selbstregulation; genauer: in der Fähigkeit insbesondere des vegetativen Nervensystems, Sensorik und Motorik immer wieder so miteinander zu verknüpfen, dass Synergien sinnvoll genutzt und innere und äußere Ressourcen nicht vernichtet, sondern aufgebaut und bewahrt werden. Im Optimalfall eines gesunden Organismus und funktionsfähigen Nervensystems entsteht so eine Welt, in der die Dinge sich zwanglos und von selbst
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Wahrnehmen
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äkoh te s re n
Nervensystem Autopoiesis
t je k Ob
Bewegen
Computer
⊡ Abb. 7.3. Mittels der Korrelation von Wahrnehmen und Bewegen konstruiert sich der Organismus kohärente Objekte, z. B. Computer
»kohärent« ineinander fügen und man quasi in seiner Tätigkeit »aufgeht«. Csikszentmihalyi (1985) hat das als »Flow« beschrieben. Eine Call-Center-Mitarbeiterin berichtete dem Autor in einem Interview, dass sie zu Beginn ihrer Tätigkeit glaubte, »verrückt zu werden«; es gelang ihr nicht, die heterogenen Anforderungen (Bildschirmsignale, Telefon, Umgebungslärm, Leistungsdruck) mit einer kohärenten Handlung zu beantworten. Irgendwann einmal aber glückte es ihr, und von da an begann die Arbeit ihr (zumindest ansatzweise) auch Spaß zu machen. Aus zirkulär-kohärenter Sicht erscheint Bildschirmarbeit – wie jede andere Arbeit auch – als eine kreisförmige Verkettung unterschiedlichster Bewegungs- und Wahrnehmungsfunktionen mit einer immanenten Tendenz zu Stimmigkeit/Kohärenz. Dafür, dass diese Kohärenz sich nicht zu einer rigiden (gesundheitsschädlichen), sondern (wie in dem eben geschilderten Fall) zu einer offenen (salutogenen, gesundheitsförderlichen) Kohärenz entwickelt, braucht es allerdings das feine, ungehinderte Zusammenspiel auch kleiner und kleinster Elemente. Alle Elemente des Kreislaufs von Wahrnehmen und Bewegen produzieren dann in ihrer Interaktion einen so genannten eutonischen oder Flow-Zustand des Organismus: Gelassenheit und Konzentration gleichzeitig. Und dieser eutonische Zustand wirkt wiederum zurück auf die Bewegung der einzelnen Elemente. Einige Beispiele hierfür: ▬ Augenbewegungen: Das Auge ist, anders als eine Kamera, nicht starr auf ein Objekt gerichtet; vielmehr tastet es mit kleinen Bewegungen (Sakkaden) mehrmals in der Sekunde seinen Gegenstand ab, um ein Bild zu erzeugen. Vermutlich leisten diese Minibe-
wegungen nicht nur einen Beitrag zur Regeneration des Auges selbst, sondern auch für eine eutonische Kopfmuskulatur – und umgekehrt. Somit erleichtert eine eutonische Kopfmuskulatur die Regeneration des Auges. Beide sind wechselseitig miteinander verknüpft. Ähnliches gilt dann weiter für die ganze Kette: Nacken – Schulter – Arme – Finger. All diesen Bewegungen können, so winzig sie auch sein mögen, bei der Beurteilung der Stimmigkeit (Gesundheitsförderlichkeit) einer Tätigkeit nicht vernachlässigt werden, weil sie wichtige Funktionen im gesamten Kreislauf von Wahrnehmen und Bewegen übernehmen; wenn eines von ihnen wegfällt, ist der gesamte Kreislauf beeinträchtigt. ▬ Gefühle: Die gesamte Gefühlspalette von Lust und Wohlbefinden bis hin zu Unlust und Ärger ist kein überflüssiger Luxus, sondern nötig, z. B. für die optimale Koordination von Bewegungen und für die Ausbildung eines Gespürs für Anspannung/Entspannung und eines gesunden Arbeitsrhythmus. Wenn sie verarmt, leidet darunter die gesamte Arbeitstätigkeit.
Sind Computer »Attraktoren« für ungesundes Arbeitsverhalten? Es ist die Selbstregulationsfähigkeit des Organismus (insbesondere das vegetative Nervensystem), die diese feinen Abstimmungen und den eutonischen Zustand möglich macht. Es sind aber auch umgekehrt diese feinen Abstimmungen, die die Selbstregulationsfähigkeit des Nervensystems anregen und regenerieren. Anders ausgedrückt: Eine Tätigkeit, die Spaß macht, die leicht von der Hand geht
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(»Flow«), ist gesundheitsförderlicher als eine Tätigkeit, die den lebendigen Fluss von Wahrnehmen und Bewegen immer wieder linear partialisiert und zerhackt. Genau diese Gefahr besteht aber bei der Bildschirmarbeit, denn die Konstruktion von Computern folgt einer durch und durch linearen Logik. Unter bestimmten Bedingungen besteht hier die Tendenz, dass der menschliche Organismus sich dieser Logik unterwirft und so seine eigenen Ressourcen untergräbt. So ist beispielsweise das von einem Computer erzeugte Bild ein virtuelles, nur scheinbar geschlossenes, da es sich in jedem Moment aus Tausenden von Punkten neu zusammensetzt. Die Sakkaden finden keine Anhaltspunkte mehr und erlahmen. Der lebendige Funktionskreis von Wahrnehmen und Bewegen (Gegenstand → Augen → Hals → Schultern → Arme → Finger → Gegenstand → ...) ist an dieser Stelle unterbrochen und beeinträchtigt. Menschen, die längere Zeit am Bildschirm sitzen, bekommen nicht nur einen starren Blick und eine starre Mimik, sie spannen auch die Schulter- und Rückenmuskulatur an und ihr Atem wird flach. Auch Gefühle finden in der Logik des Computers kein Echo, sie werden funktionslos und verarmen, je mehr der Arbeitende sich auf diese lineare Logik einlässt. Dafür einzelne, isolierbare Ursachen in der Ergonomie des Bildschirmarbeitsplatzes zu suchen, käme zwar dem linearen Denken (also dem Wunsch nach »eindeutigen« Ursachen) entgegen, würde aber nicht wirklich weiterhelfen. Die zirkuläre Betrachtung dringt tiefer. Sie zeigt, dass hier einzelne Momente sich gegenseitig zu einem negativen Regelkreis (»Teufelskreis«) hochschaukeln. So entsteht ein »Sog«, ein sich selbst erzeugender suchtartiger Druck, ohne Pause immer weiter zu machen, dem Rhythmus des Geräts zu folgen statt dem des eigenen Körpers. Das beginnt bei den unscheinbaren, aber wichtigen Mini-Erholungspausen, wie dem Blick aus dem Fenster oder dem Scherz mit dem Kollegen, die tendenziell unterbleiben, je mehr die Betroffenen sich diesem Sog hingeben bzw. je weniger sie ihm bewussten Widerstand entgegensetzen. Dieser »Sog« hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Flow-Erlebnis, weil man ja auch in seiner Tätigkeit aufgeht. Aber die Ähnlichkeit täuscht: Das Flow-Erlebnis »nährt« den Organismus; auch nach angestrengter Arbeit fühlt man sich »rund und gut«. Der »Sog« dagegen powert aus; die Fähigkeit des Organismus zur Selbstregulation wird durch die Arbeit nicht mehr angeregt, sondern tendenziell beeinträchtigt. Auf Dauer gesehen treibt man damit Raubbau an den eigenen Ressourcen und bereitet den Nährboden für (psychosomatische) Erkrankung und Burnout. Sind Computer also »Attraktoren« für ungesundes Arbeitsverhalten? Sie können es nur in dem Maße sein, wie Menschen ihre Körpersignale missachten und dem »Sog« nicht bewusst entgegensteuern. Mehr noch, wenn dieses Verhalten zum Alltag wird und sich habitualisiert.
Diese Gefahr ist heute leider nicht zu unterschätzen. Denn die lineare Logik der Informations- und Kommunikationstechnologie passt sehr gut zu der Versuchung moderner Organisationen, sich selbst nach der Logik trivialer Maschinen zu begreifen, das heißt: Menschen tendenziell einseitig nur noch als ein beliebig steuerbares »Etwas« zu sehen und nicht mehr auch als ein »Jemand« (mit eigenständigen Ideen, Wünschen, Plänen). Konkret bietet sich diese Technologie geradezu dafür an, Büroarbeit in traditioneller tayloristischer Manier zu zerstückeln, zu vereinfachen und zu standardisieren – in der Absicht, sie dadurch zu intensivieren und produktiver zu machen, ohne dabei an die gesundheitlichen Kosten zu denken. In Call Centern kann man dies gut beobachten. Der Wirkmechanismus des erwähnten »Sogs« wird hier ergänzt durch die latente Angst der Call-Center-Mitarbeiter, die Vorgaben nicht zu erreichen. Mitarbeiter von Call Centern berichten von einem latenten Prüfungsstress, unter dem sie stünden, an den man sich aber gewöhne, sodass man ihn meist kaum noch wahrnehme. Die von der erwähnten Call-Center-Studie erarbeiteten Präventionsvorschläge sind daher auch unmittelbar einsichtig: Größere Handlungsspielräume bei der Aufgabengestaltung; eine angemessene Mischung von Telefonund Sachbearbeitungstätigkeiten; ein System regelmäßiger Kurzpausen von fünf Minuten pro Arbeitsstunde und Vermittlung von Stressbewältigungskompetenz. Dort, wo diese oder ähnliche Vorschläge umgesetzt werden, lässt sich in der Tat ein signifikanter Rückgang von BurnoutErfahrungen feststellen (Verwaltungsgesellschaft 2002; S. 105). Dafür, dass diese positiven Ansätze der Arbeitsplatzgestaltung auch nachhaltig sind; und vor allem, dass sie – anders als bisher – eher zur Regel als zur Ausnahme werden, dafür also braucht es ein anderes Präventionsparadigma.
Ein neues Leitbild der Prävention Der entscheidende Schwachpunkt bei der Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen ist nicht so sehr, dass nicht bekannt ist, was zu tun ist. Entscheidend ist vielmehr das Wie, die Denkweise oder das Leitbild, mit der die Beteiligten an das Thema Prävention herangehen. Das klassische lineare Leitbild von Prävention glaubt an die Machbarkeit von Gesundheit in dem Sinn, dass das, was »krank macht«, »objektiv« ermittelt und eins zu eins (beobachterunabhängig) kommuniziert werden könnte. Von der »Problemanalyse« über die »Ableitung von Maßnahmen« bzw. ihre »Umsetzung« bis zur »Überprüfung des Erfolgs« lässt sich alles (zumindest im Prinzip) rational planen und abwickeln. Wenn man ausschließlich mit dieser Vorstellung an die Prävention psychischer Arbeitsbelastungen herangeht, dann bewegt man sich – auch wenn man das nicht bewusst gewählt hat – in
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einer dualistischen Welt von »richtig«/«falsch«. Es gibt das »richtige« (dynamische) Sitzverhalten am Computer; den »richtigen« Augenabstand zum Bildschirm. Es gibt dann Menschen, die Bescheid wissen und solche, die belehrt werden müssen. Die einen »wissen« z. B., dass gesundes Arbeiten zwar wünschenswert ist, sich aber mit Wirtschaftlichkeit nur schlecht verträgt; die anderen »wissen« umgekehrt, dass sich gesunde Arbeitsbedingungen »rechnen«. Resultat ist der Versuch, andere zu »überzeugen« bzw. auf der anderen Seite ein schlechtes Gewissen zu haben (weil man nicht »dynamisch« sitzt; weil man Gesundheit – die eigene wie die der Mitarbeiter – der Ökonomie opfert etc.). Zu dieser dualistischen Welt gehören: ▬ Instrumente der Gesundheitsförderung, wie ergonomische Checklisten (»Handlungshilfe Bildschirm«), die gut gemeint und arbeitswissenschaftlich korrekt sind, die in dieser Form jedoch oft keine Verbesserung hervorrufen, ▬ Mitarbeiter, die in ihrer Hilflosigkeit nach eben solchen Checklisten verlangen, ▬ Führungskräfte, die überzeugt sind, dass gesunde und motivierte Mitarbeiter die wichtigste betriebliche Ressource sind, die aber dennoch niemals aufhören, den endgültigen »wissenschaftlichen Beweis« zu verlangen, dass sich betriebliche Prävention rechnet, ▬ Experten, Arbeitskreise, Zirkel etc., die ebenfalls gute und »richtige« Maßnahmen planen und die das zwar im Auftrag, aber ohne das Commitment (die innere Verpflichtung) des leitenden Managements machen. Mit einer solchen Herangehensweise laufen die Beteiligten den Problemen letztlich nur hinterher. Zu der Kultur des Hinnehmens ungesunder Arbeitsbedingungen, die sie zu bekämpfen glauben, tragen sie damit ungewollt immer wieder mit bei. Wenn Prävention dagegen eine zirkulär-kohärente Sicht einnimmt, dann betrachtet sie die Dinge »aus ihrer Mitte« heraus, d. h. aus jener Perspektive, aus der sie wechselseitig in salutogener (gesundheitsförderlicher) Weise zusammenstimmen. Wer aus dieser Sicht nun ein durchschnittliches Call Center betrachtet, dem scheint hier aber erst einmal nicht viel »zusammenzustimmen«: Da sieht er ein Management, das seine Organisation ständig an die dynamischen Marktbedingungen anpassen muss, das unter Erfolgsdruck steht und das daher dazu tendiert, die Prozesse mit Kontrollstrukturen in den Griff zu bekommen. Er sieht ferner überforderte mittlere Führungskräfte und Teamleiter, die nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren und für ihre eigentliche Aufgabe, Menschenführung, keine Zeit mehr finden. Er sieht Mitarbeiter, die unter quantitativem Leistungsdruck stehen, die daher die Qualität der Gespräche nicht mehr sichern können, die darunter leiden und bei denen sich Burnout-Syndrom und Fehlzeiten bemerkbar machen.
Und er sieht, wie Management und Führungskräfte genau dadurch sich veranlasst sehen, die Kontrollschraube weiter anzuziehen. Aus schlechtem Gewissen heraus lässt sich das Management vielleicht noch auf ein Präventionsprojekt ein; nachdem aber die Fehlzeiten dadurch nicht sinken, lässt man das Experiment wieder einschlafen. Was also stimmt hier zusammen? Aus Sicht der Beteiligten ist ihr Verhalten durchaus kohärent; sie haben jeweils ihre guten Gründe, genau das zu tun, was sie tun, und es ist gut, diese Gründe ernst zu nehmen, wenn man erfolgreich Prävention betreiben möchte. Der entscheidende Unterschied, der einen Prozess, in Richtung auf mehr Möglichkeiten und mehr Gesundheit anstößt, ist dann allerdings die veränderte Sichtweise zirkulärer Kohärenz. Diese lässt sich in vier Prinzipien zusammenfassen:
Erstes und grundlegendes Prinzip Die zirkulär-kohärente Sichtweise von Prävention geht davon aus, dass die in einer Organisation tätigen Menschen – vom leitenden Management über die mittleren Führungskräfte und die Gesundheitsexperten bis hin zu den Mitarbeitern auf der operativen Ebene – selbst alle Ressourcen haben oder entwickeln können, die sie brauchen, um ihre Zusammenarbeit gesundheitsgerecht zu gestalten und dabei zugleich wirtschaftlich vital und effizient zu sein. Sie geht davon aus, dass Menschen keine Belehrung durch Experten brauchen, dass sie vielmehr grundsätzlich ein »Kohärenzgefühl« besitzen, ein Gespür für das, was »stimmt«, entwickeln. Auch die oben geschilderte Call-Center-Konstellation ist aus dieser Sicht durchaus kohärent – wenngleich sich die Logik dieser Kohärenz bei näherer Betrachtung als eine rigide herausstellt, als eine, die körperliches und psychisches Leiden verursacht und Möglichkeiten vernichtet, und zwar wiederum bei allen Beteiligten, also nicht nur bei den Mitarbeitern. Aber die einzigen, die diese rigide Logik hinterfragen und wieder neu öffnen können, sind die Betroffenen selbst, im Austausch über ihre Erfahrungen und durch eine Veränderung ihrer Sichtweise. In dem Moment, in dem die Beteiligten sie einnehmen, verwandelt sich ihre Welt: von einer defizitären, potentiell bedrohlichen in eine unterstützende voller Synergien. Da es aber nicht ganz einfach ist, sich quasi wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, kann professionelle Unterstützung durch unbeteiligte Dritte sehr hilfreich sein.
Zweites Prinzip: Prävention als ein ganzheitlich angelegter Lernprozess aller Beteiligten Prävention kann nur dann funktionieren, wenn die »BeTeiligten« lernen, sich selbst als Teil des Prozesses zu sehen, der die Probleme hervorbringt, um die es geht (seien es nun psychische Belastungen oder ineffiziente,
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unökonomische Arbeitsweisen). Und das können sie nur, wenn sie die Kosten, die ihr Verhalten mit sich bringt, buchstäblich »am eigenen Leib« spüren; denn erst dann beginnen sie, die Logik zu hinterfragen, nach der sie ihre eigene Arbeit (und die anderer!) organisieren. Es geht dabei nicht so sehr um die ökonomischen Kosten (z. B. von krankheitsbedingten Fehlzeiten etc., obwohl die wichtig sind), sondern zunächst erst einmal nur um die Erfahrung der Leiden, die man mit dieser Logik dem eigenen Körper und der Psyche zufügt. Ob sich der Zugang zu diesen Erfahrungen über Bildschirm-Augentrainings oder Entspannungsübungen eröffnet, ist dabei nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass man sich der Folgen seines eigenen Tuns (der »Kosten«) unmittelbar bewusst wird. Körperbezogene Übungen, Trainings usw. sollten dabei nicht isoliert für sich stehen – auch wenn dies leider immer noch die übliche Praxis ist. Sie sollten besser in ein Setting eingebettet sein, das zugleich auch die kollektive Thematisierung belastender Arbeitsstrukturen möglich macht, z. B. in einem Gruppen-Coaching oder in einem Gesundheitszirkel nach dem Berliner Modell (Friczewski 1994).
Drittes Prinzip: Top-Down Eine Veränderung der (Präventions-)Kultur einer Organisation kann nur »ganz oben« beginnen; das ist heute mehr oder weniger unstrittig. Aber was ist der Sattelpunkt für diese Veränderung? Die klassische Argumentation »Prävention rechnet sich« allein kann es nicht sein. In dieser Form bestätigt sie nur die traditionelle Defizitorientierung von Prävention, die letztlich noch nie einen Unterschied gemacht hat. Hinzukommen muss die persönliche Betroffenheit des leitenden Managements selbst: Mit Menschen arbeiten zu müssen, die demotiviert sind, die man permanent kontrollieren und antreiben muss, die Burnout-gefährdet sind, macht nicht unbedingt Spaß. Der Druck, den man auf andere ausübt, wird unversehens zu dem Druck, unter den man sich selbst setzt; der Burnout des Mitarbeiters wird schließlich immer mehr zum eigenen Burnout. Manager sind eher bereit, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen, wenn sie den Nutzen dieser veränderten Logik einmal bewusst »am eigenen Leib« erfahren haben, z. B. in einem speziellen Workshop (Basis-Workshop Prävention), der vorwiegend aus den oben erwähnten körperbasierten Coaching-Modulen besteht. Dadurch erhalten sie die Möglichkeit, eigene Belastungen und den damit verbundenen Ärger, vielleicht auch die damit verbundenen Ängste, artikulieren und in einer verantwortlichen Weise zum Thema machen zu können. In diesem Moment wird ein Mitarbeiter, der bisher für einen vielleicht nur ein »Funktionsträger« war und den man glaubte, kontrollieren oder belehren zu müssen, plötzlich ein »Jemand«, dem man zutraut, dass er eigenverantwortlich denkt und handelt.
Entsprechendes gilt dann auch für die mittleren Führungskräfte und Teamleiter: Sie haben für eine funktionierende Präventionskultur sogar eine Art Schlüsselstellung inne. Dazu braucht es aber die Bereitschaft des Managements, diese Gruppe ernst zu nehmen und ihr den Rücken zu stärken. Nur so wächst das Selbstorganisationspotential einer Organisation, sozusagen ihre »Kohärenz«; und das ist die beste Prävention psychischer Belastungen und Erkrankungen, die man sich vorstellen kann.
Viertes Prinzip: Die ganze Organisation in den Blick nehmen In den 90er Jahren arbeitete man in der Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen teamorientiert (z. B. Gesundheitszirkel, Arbeitskreise etc.) und konnte so immerhin das klassische Expertendenken überwinden. Der Nachteil: Wenige planten für alle und der Blick war eher auf Defizite (»Krankmacher«) gerichtet. Das Engagement der großen Masse der Mitarbeiter war dementsprechend eher begrenzt, ebenso das Commitment des leitenden Managements, das meist andere Prioritäten hatte. Betriebliche Prävention wird künftig organisationsorientiert sein müssen; d. h. sie wird ihren Blick primär auf die Organisation als Ganzes richten müssen, auf ihr Selbstorganisationspotential; statt auf die Eliminierung von Defiziten und »Krankmachern« auf verborgene Ressourcen und auf Lösungen. Hier bieten sich Großgruppeninterventionen an wie z. B. Open Space oder Appreciative Inquiry (ein- bis dreitägige Workshops mit minimalen Strukturvorgaben und einem Höchstmaß an Selbstorganisation).
Literatur Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dgvt, Tübingen Csikszentmihalyi M (1985) Das Flow-Erlebnis. Klett, Stuttgart Friczewski F (1994) Gesundheitszirkel als Organisations- und Personalentwicklung: Der »Berliner Ansatz«. In: Westermayer G, Bähr B (Hrsg) Betriebliche Gesundheitszirkel. Hogrefe, Göttingen Friczewski F (2004) Wie Menschen und Organisationen ein Gefühl dafür entwickeln, was »stimmt«. LO Lernende Organisation 22: 36–45 Karasek RA (1979) Job demands, job decision attitude and mental strain: implications for job redesign. Administrative Sciencs Quarterly 24: 285–308 Maturana HR (1982) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Braunschweig Wiesbaden Verwaltungsberufsgenossenschaft (2002) CCall Report 11. Call Center auf dem arbeitspsychologischen Prüfstand. Hamburg von Foerster H (2000): Entdecken oder Erfinden. Wie lässt sich Verstehen verstehen? In: Gumin H, Meier H (Hrsg) Einführung in den Konstruktivismus. Piper, München
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
7.6
Arbeitsweltbezogene Prävention: Ansätze für Wissenschaft und Praxis Ulla Walter, Martina Plaumann (Redaktionsgruppe MHH/ISEG)
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Erwerbstätige sind in der Arbeitswelt veränderten Stressoren und steigenden Belastungen ausgesetzt ( Kap. 7.1, Kap. 7.2). In den vergangenen Jahren haben besonders kognitive und psychosoziale Belastungen zugenommen, die in der Folge zu Gesundheitsbeeinträchtigungen auf der physiologisch-somatischen Ebene, der kognitiv-emotionalen Ebene sowie auf der Verhaltensebene führen können. Nach subjektiven Angaben von Erwerbstätigen stellen Stress, Depression und Angst in Europa die zweithäufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsbeschwerden dar und führen zu hohen Arbeitsausfällen ( Kap. 3). Die Auswertung der Routinedaten der KKH zeigt, dass Versicherte im erwerbsfähigen Alter von 35 bis maximal unter 60 Jahre deutlich häufiger eine psychische Störung verzeichnen als die jüngeren und älteren Versicherten ( Kap. 4). Dabei sind die Berufsgruppen »Bürofach-/hilfskräfte« und »Warenkaufleute« – sowie zusätzlich bei weiblichen KKH-Versicherten die Berufsgruppen »Übrige Gesundheitsberufe« und »Sozialpflegerische Berufe« – am meisten betroffen und weisen die höchsten anteiligen kassenseitigen Ausgaben auf. Infobox
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Aufgrund des hohen Handlungsbedarfs zu arbeitsbedingten Belastungen, die zu Gesundheitsbeeinträchtigungen führen, erweitert die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA, www.baua.de) in Kooperation mit der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA, www.inqa.de) ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet: Ein spezielles Internetportal zum Thema »Arbeit – Stress – Gesundheit« ist in Entwicklung. Das Internetportal soll die Vielzahl an Einzelinitiativen zusammenfassen und als Plattform für die unterschiedlichen Akteure auf dem Feld des Arbeits- und Gesundheitsschutzes dienen. Ziele sind u. a. die zielgruppenspezifische Bereitstellung aktueller Informationen zu »Stress am Arbeitsplatz«, die adressatengerechte Darstellung wissenschaftlicher Stresskonzepte, Informationen zu laufenden und abgeschlossenen Projekten, die Vorstellung von erprobten und für den betrieblichen Einsatz geeigneten Analyse- und Umsetzungsinstrumenten sowie die Vermittlung von Erfahrungen bei der Umsetzung betrieblicher Konzepte zur Vermeidung psychischer Fehlbelastungen (BAuA 2005).
Präventionsmaßnahmen im Betrieb können auf der individuellen Ebene bei den einzelnen Angestellten (z. B.
Stressmanagementkurse, Vermittlung kognitiv-verhaltensbezogener Fähigkeiten), auf der organisatorischen Ebene im gesamten Unternehmen bzw. in Teilbereichen (z. B. Änderung der Aufgabengestaltung, Abbau von Überstunden, Umstrukturierung der Arbeitsorganisationen, flexiblere Pausengestaltung) und an der Schnittstelle zwischen der individuellen und organisatorischen Ebene ansetzen (z. B. Lösung von Rollenkonflikten, Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Kollegen, Beteiligung der Arbeitnehmer an Entscheidungen) ( Kap. 7.3). individuumsbezogene Stressbewältigungstechni» Für ken können einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden, in denen kurz- und langfristige Stressbewältigungsfertigkeiten vermittelt und eingeübt werden. Diese können sowohl über Institutionen der Erwachsenenbildung als auch auf betrieblicher Ebene angeboten werden (vielleicht auch in Form eines betrieblichen Coaching-Angebots). Zusätzlich können Institutionen und Betriebe beraten werden, wie Arbeitsumgebung und die Unternehmensorganisation stressreduzierend verändert werden können. Für entsprechende aufklärerische Maßnahmen müssen natürlich entsprechende finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Prof. Dr. Rolf Meermann, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
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Derzeit überwiegen kurzzeitig angelegte personenbezogene Angebote wie Bewegungs- und Entspannungsprogramme, während organisatorisch ausgerichtete Maßnahmen und Kombinationen von individuellen und organisatorischen Stressinterventionen weniger eingesetzt werden ( Kap. 7.3). Infolgedessen sind diese komplexeren Interventionsebenen bislang weniger wissenschaftlich untersucht, eine eindeutige Aussage zu ihrer präventiven Wirksamkeit kann bislang nicht erfolgen. Herausforderungen an Wissenschaft, Unternehmen und Sozialversicherungsträger zeigt Kap. 7.3 zu individuellen und organisatorischen Interventionen sowie zu Kombinationen von individuell und organisatorisch fokussierten Maßnahmen am Arbeitsplatz auf. Nach der vorliegenden Studienlage erweisen sich individuelle Stressinterventionen, insbesondere kognitivverhaltensbezogene Maßnahmen und ihre Kombination mit Techniken zur Muskelentspannung, als wirksam ( Kap. 7.3). Viele Autoren (s. auch Ducki in Kap. 7.2) sprechen sich trotz bislang nicht hinreichender wissenschaftlicher Grundlagen für eine Kombination von personen- und bedingungsbezogenen präventiven Interventionen im Betrieb aus. Diese sollten mit den Maßnahmen des klassischen Arbeits- und Gesundheitsschutzes abgestimmt sein, auf ihnen aufbauen und sie erweitern. Zur Durchführung der Interventionen ist eine Organisationseinheit, z. B. im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung,
175 7.6 · Arbeitsweltbezogene Prävention: Ansätze für Wissenschaft und Praxis
erforderlich, die die Prozesse steuert und koordiniert. Zunächst müssen die Belastungen im Betrieb durch die Analyse von Arbeitsunfähigkeitsdaten der Krankenkassen, durch Vor-Ort-Begehungen und Mitarbeiterbefragungen ermittelt werden ( Kap. 7.2 und Kap. 7.4). Eine derzeitige Ursachenanalyse stellt die Grundlage für die Entwicklung zielgruppenspezifischer Interventionen – je nach Anlass individuell und/oder organisatorisch – dar. Erstrebenswert ist die Partizipation der Arbeitnehmer (Ahlers u. Brussig 2005). Hierbei kann auf die Erfahrungen der Betriebe zur Gesundheitsförderung zurückgegriffen werden, z. B. die Einführung von Gesundheitszir-
Präventionsansätze
Ursachen von Stress
Spezifische Arbeitscharakteristika
Rolle in dem Unternehmen
keln. Gesundheitszirkel sind zeitlich begrenzte betriebliche Arbeitsgruppen, in denen Beschäftigte Belastungen und Ressourcen an ihrem Arbeitsplatz selbst ermitteln, Ursachen analysieren und Lösungsvorschläge entwickeln. Somit sind praxisnahe Veränderungsvorschläge möglich. Mögliche Ursachen von arbeitsbezogenem Stress und seine Folgen werden in Kap. 7.1 näher erläutert, Ansätze zur Prävention stellt ⊡ Abb. 7.4 dar. ▬ Spezifischen gesundheitsbeeinträchtigenden Arbeitseigenschaften wie Lärm, Hitze und Staub kann durch eine Verhinderung oder Reduzierung ihrer Exposition begegnet werden. Um einen reibungslosen
- Verhinderung der Exposition gegenüber gesundheitsschädlichen Umgebungsfaktoren - Verbesserung der Arbeitsumgebung und Arbeitsausstattung - Einführung abwechslungsreicher Tätigkeit, z. B. durch Mitarbeiterrotationssystem - Vermeidung von Arbeitsüberlastung bzw. Arbeitsunterbelastung z. B. durch Zeitpläne
- Eindeutig definierte und an Veränderungen angepasste Tätigkeitsbeschreibung - Regelmäßige Personalgespräche, in denen Ziele und Erwartungen beider Seiten besprochen werden
Arbeitsbeziehungen
- Regelmäßige Personalgespräche, in denen Ziele und Erwartungen beider Seiten besprochen und festgelegt werden - Vermeidung räumlicher und sozialer Isolation, z. B. durch Mitarbeiterrotationssystem, Arbeitsgruppen, gemeinsame Aktivitäten - regelmäßige Trainings für Führungskräfte zu Mitarbeiterführung - Anerkennung seitens der Vorgesetzten - Soziale Unterstützung
Karriereentwicklung
- Regelmäßige Personalgespräche, in denen Ziele und Erwartungen beider Seiten besprochen und festgelegt werden - Ggf. Teilnahme an Fortbildungskursen ermöglichen - Angemessene Gratifikation
Organisatorische Struktur und Klima
- Regelmäßige Mitarbeitersitzungen - Förderung der Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, zwischen den Mitarbeitern und zwischen inhaltlich angrenzenden Abteilungen - Transparenz der Unternehmensziele, -entwicklungen und -entscheidungen - Regelmäßige Trainings für Führungskräfte zu Mitarbeiterführung - Hilfestellung seitens der Vorgesetzten bei Problemlösungen - Zunehmende Partizipation der Mitarbeiter z. B. durch Arbeitsgruppen/ Gesundheitszirkel - Steigerung der Kontrolle über die Arbeit, höherer Handlungsspielraum
Schnittstelle Arbeit-Privatleben
- Flexiblere Arbeitszeiten - Förderung der Heimarbeit - Betriebseigene zeitlich flexible Kinderbetreuung
⊡ Abb. 7.4. Ursachen von Stress und Präventionsansätze
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Kapitel 7 · Stressbelastungen und ihre Prävention in der Arbeitswelt
Arbeitsablauf zu gewährleisten und stressvolle Situationen zu vermeiden, sollten Materialien und Geräte in ausreichender Anzahl und im gebrauchsfähigen Zustand vorliegen. Eruiert werden sollte, inwieweit monotone Arbeitsabläufe durch ein Rotationssystem der Mitarbeiter variiert werden können. Gemeinsam festgelegte und auf ihre Realisierung hin regelmäßig überprüfte Zeitpläne helfen; mögliche Arbeitsüberbzw. Arbeitsunterbelastungen der Mitarbeiter transparent zu machen. Aufgaben überlasteter Mitarbeiter können im begrenzten Umfang Kollegen übertragen werden, die noch Arbeitskapazitäten aufweisen. ▬ Eine geringe Motivation und eine geringe Arbeitszufriedenheit können aus nicht transparenten Aufgaben, Zielen und Erwartungen, die an einen Beschäftigten gestellt werden und ihm seine Rolle im Unternehmen zuweisen, resultieren. Eindeutig definierte Tätigkeitsbeschreibungen dienen der Transparenz und zeigen die Verantwortlichkeiten des Mitarbeiters auf. Personalgespräche in definierten regelmäßigen Abständen, in denen Ziele und Erwartungen des Vorgesetzten und des Mitarbeiters besprochen und festgelegt werden, tragen dazu bei, dass die Tätigkeitsbeschreibung den aktuellen Veränderungen angepasst wird. ▬ Wertschätzende zwischenmenschliche Arbeitsbeziehungen sind wesentlich für die individuelle Gesundheit der Beschäftigten. Führungskräften kommt hierbei eine besondere Aufgabe zu. Der Kontakt zu den Mitarbeitern, ihre Förderung und Unterstützung sowie die Anerkennung ihrer Arbeitsleistungen tragen zu einer wertschätzenden und stressreduzierenden Arbeitsbeziehung bei. In Trainings zur Mitarbeiterführung sollten Führungskräfte diese notwendigen Kompetenzen ebenso wie Strategien zum Konfliktmanagement erwerben. Die Vermeidung räumlicher und sozialer Isolation z. B. durch die Einführung von Mitarbeiterrotationssystemen, Arbeitsgruppen und gelegentlichen außerberuflichen gemeinsamen Aktivitäten, erhöht den Kontakt zwischen den Mitarbeitern und kann zur Förderung der sozialen Unterstützung beitragen. Als prioritäre Handlungsfelder sehe ich zurzeit vor » allem die Arbeitswelt und hier insbesondere die Sensibilisierung für und das Training von (Nachwuchs-)Führungskräften in Strategien gesundheitsgerechter Mitarbeiterführung insbesondere auch im Kontext von Veränderungsprozessen (Change Management) sowie in der Umsetzung von betrieblichen und gesellschaftspolitischen Strategien zur Vereinbarbarkeit von Familie und Beruf (Stichworte: »Work-lifebalance«; »family-friendly enterprise«). Prof. Dr. Gert Kaluza, GKM – Institut für Gesundheitspsychologie, Marburg
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▬ Eine Stagnation der Karriere oder Ungewissheit über ihre zukünftige Entwicklung, zu geringe, aber auch
zu hohe Anforderungen und eine nicht angemessene Gratifikation der Arbeit können bei den Beschäftigten Distress erzeugen. Regelmäßige Personalgespräche, in denen Ziele und Erwartungen des Vorgesetzten und des Mitarbeiters besprochen und festgelegt werden, können einer Unzufriedenheit des Mitarbeiters zuvorkommen oder diese vermindern. Vorgesetzte sollten ihre Mitarbeiter nach deren vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen fördern und ihnen regelmäßig die Teilnahme an Fortbildungskursen ermöglichen. Eine Gratifikation der Arbeit durch angemessenen Lohn, Achtung und Wertschätzung sowie beruflichen Aufstieg bzw. Arbeitsplatzsicherheit beugt ebenfalls stressinduzierten Erkrankungen vor. ▬ Stressoren in der Arbeitswelt sind zudem oftmals auf die organisatorische Struktur und das Arbeitsklima im Unternehmen zurückzuführen. Dadurch entstehenden Belastungen kann durch eine Transparenz der unternehmensbezogenen Ziele und durch eine Beteiligung der Beschäftigten an Entscheidungen begegnet werden. Regelmäßige gut strukturierte Mitarbeitersitzungen fördern die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern sowie untereinander. Wichtig ist auch der Austausch mit inhaltlich angrenzenden Abteilungen. Den Mitarbeitern sollten Unternehmensziele, -entwicklungen und -entscheidungen mitgeteilt und, wenn möglich, diese an Entscheidungen beteiligt werden. Die Partizipation der Mitarbeiter kann z. B. über Arbeitsgruppen erfolgen. Zudem sollten den Mitarbeitern soweit möglich die Kontrolle über ihre Arbeit gegeben und ein hoher Handlungsspielraum ermöglicht werden. Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter durch Hilfestellung bei Problemlösungen unterstützen. ▬ Aufgrund der hohen Anforderungen an Mobilität und Arbeitseinsatz stellt für viele Erwerbstätige die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein großes Problem dar. Strategien zur Work-life-Balance rücken deshalb in den vergangenen Jahren stärker in das Blickfeld. Nach wie vor bestehen in Deutschland betriebsseitig wenige Unterstützungssysteme, z. B. durch eine zeitlich flexible Kinderzeitbetreuung. Inwieweit sich Arbeitszeitkonten als förderlich erweisen, muss sich in Zukunft zeigen. Prävention im Betrieb stößt – insbesondere bei Unternehmen kleinerer und mittlerer Größe – seitens der Arbeitgeber bislang vergleichsweise auf wenig Akzeptanz. Dies gilt insbesondere für die Stressbewältigung. Sollen Stressinterventionen am Arbeitsplatz erfolgreich implementiert werden und nachhaltig wirken, müssen sie die Unterstützung durch das mittlere und obere Management erhalten (u. a. Semmer u. Zapf 2004). Zudem muss die Partizipation der Mitarbeiter gewährleistet sein. Für schwer erreichbare Gruppen, meist weniger gut ausgebildete Mitarbeiter,
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sollten die Zugangsschwellen zu präventiven Angeboten möglichst niedrig gehalten werden. Dies kann u. a. durch die Durchführung der Maßnahmen während der Arbeitszeit erreicht werden. Ist dies nicht möglich, sollten die Maßnahmen nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen und innerhalb kurzer Wege zu erreichen sein. Die Durchführung der Interventionen durch professionelles Personal wie qualifizierte Kursleiter bei individuellen Angeboten und Moderatoren bei organisatorischen Interventionen erhöhen die Wirksamkeit der Maßnahme. Ein Qualitätsmanagement sollte die Interventionen regelmäßig überprüfen, um Änderungsprozesse schnell einzuleiten.
Literatur Ahlers E, Brussig M (2005) Gefährdungsbeurteilung in der betrieblichen Praxis. WSI-Mitteilungen 9: 517–523 BAuA (2005) BAuA Aktuell. Amtliche Mitteilungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 4: 2–3 Semmer NK, Zapf D (2004) Gesundheitsbezogene Interventionen in Organisationen. In: Schuler H (Hrsg) Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Serie III, Band 4 Organisationspsychologie: 773–843
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8 Prävention von Stress: Ansätze und Umsetzung in Deutschland
Interview mit den Gesprächsteilnehmern ▬ Prof. Dr. Dr. Uwe Koch, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie ▬ Prof. Dr. Friedhelm Lamprecht, Medizinische Hochschule Hannover, Abt. Psychosomatik und Psychotherapie ▬ Prof. Dr. Rolf Meermann, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont ▬ Dr. Elisabeth Pott, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln Das Interview führte Prof. Dr. Ulla Walter, Medizinische Hochschule Hannover, Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung, Stiftungslehrstuhl.
Prof. Walter: Psychische Belastungen und Stress haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Hinsichtlich der versorgungsbezogenen Ausgaben der Krankenkassen stehen psychische und Verhaltensstörungen inzwischen an dritter Stelle hinter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Neubildungen, eine weitere Zunahme wird prognostiziert. Sind wir für diese Herausforderung genügend gerüstet? Prof. Koch: Auf der einen Seite wissen wir schon viel über psychische Erkrankungen. Wir können ihre wachsende Bedeutung einschätzen, Engpässe der Versorgung prognostizieren und die Wirksamkeit präventiver und psychotherapeutischer Ansätze nachweisen. Wir können auch Aussagen über die Gestaltung geeigneter Patientenschulungen oder Maßnahmen der Gesundheitsförderung machen. Auf der anderen Seite fehlen aber übergreifende,
differenziertere Bestandsaufnahmen zur Bedarfsabschätzung und Versorgungssteuerung. Es fehlen auch Erkenntnisse, wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien und gute Behandlungsmaßnahmen flächendeckend in der Praxis umgesetzt werden können. Die Versorgungsforschung sollte eine Bestandsaufnahme erstellen und die Bedingungen der Implementation untersuchen. Zugleich sollte eine kontinuierliche Weiterentwicklung zur Optimierung von Prävention und Behandlung erfolgen. Die Kassen sind wahrscheinlich gut beraten, eine bessere Ausfinanzierung der Versorgung in diesem Bereich ins Auge zu fassen, denn Fehl- oder Unterversorgung psychischer Erkrankungen führt zu langfristigen Zusatzkosten für psychosomatische Beschwerden. Aus all diesen Gründen sollten die Anstrengungen in der Forschung entsprechend der Wichtigkeit dieses Indikationsbereichs zunehmen. Gleichzeitig sollte die Forschung auch besser vernetzt und auf gemeinsame Ergebnisse und Synergien hin gebündelt werden. Prof. Walter: Eine Zunahme von Erkrankungen bzw.
Gesundheitsstörungen kann – neben einem tatsächlichen Anstieg – auch auf andere Faktoren zurückzuführen sein. Dazu könnten eine vermehrte professionelle Wahrnehmung und/oder öffentliche Aufmerksamkeit sowie eine gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz zählen, die auch ein verändertes Diagnoseverhalten zur Folge haben. Ebenso denkbar ist eine verstärkte Professionalisierung bestimmter Berufsgruppen verbunden mit der Ausübung von Definitionsmacht. Wie bewerten Sie diese oder weitere »Bias« bei der Beurteilung der Zunahme von Versorgungsleistungen im Bereich psychischer und Verhaltensstörungen? Prof. Koch: Es gibt bewährte Methoden, solche Zuschreibungseffekte empirisch in den Griff zu bekommen, bei-
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Kapitel 8 · Prävention von Stress: Ansätze und Umsetzung in Deutschland
spielsweise Praxisstudien an Diagnoseinstrumenten. Aus dem verfügbaren Forschungsstand ist aber eher eine Unter- als eine Überschätzung abzuleiten: Der Bedarf ist erheblich größer, als öffentlich gesehen wird. Das hat mehrere Gründe: Psychische Erkrankungen sind noch immer teilweise tabuisiert, sie werden von Erkrankten, von den Familien und vom Umfeld bedeckt gehalten. Sie sind noch nicht überall im Fachwissen des Versorgungssystems verankert. Diagnosestudien zeigen etwa erschreckend viele Fehldiagnosen für eine so zentrale Erkrankung wie Depression. Weiter haben wir ein erhebliches Graufeld der krank machenden, Abhängigkeit schaffenden Selbstmedikation durch Alkohol und Medikamente; und die sind durch Internet-Angebote inzwischen immer leichter zugänglich. Das Problem der Verdeckung kann also wachsen, die Erkrankten bleiben aber lange Zeit unauffällig. Auch hierzu fehlen uns vertiefte, weiterführende nationale Bestandsaufnahmen. Und schließlich wird die Leistung guter psychosozialer Interventionen noch immer sehr unterschätzt: Sie mindern Schmerzen, Symptome, Medikamentierungsbedarf, stationäre Verweilzeiten und Belastungen für Patienten und Angehörige. Angemessene psychosoziale Begleitung muss daher routinemäßig in die somatische Regelversorgung integriert werden. Prof. Walter: Wir sprechen heute viel von Stress, psychischen
Belastungen und Störungen. Was kennzeichnet umgekehrt psychische Gesundheit? Prof. Lamprecht: Hans Selye, der den Begriff Stress
geprägt hat, hat in seinem Buch »Stress without Distress« darauf hingewiesen, dass Stress sozusagen das Gewürz des Lebens ist und wir ohne Stress bereits tot, zumindest aber scheintot wären. Es wird also immer darauf ankommen, Stressfaktoren im Sinne von Herausforderungen zu interpretieren, für die es sich lohnt, sich zu engagieren. Zur psychischen Gesundheit gehört eine hohe Flexibilität und Anpassungsbereitschaft sowie ein ausreichender Spannungsbogen (Ich-Stärke) und ein gutes Maß an Selbstfürsorge. Es gibt sowohl einen krankheitsfördernden Umgang mit Gesundheit beim Nichterkennen der eigenen Grenzen (Selbstüberschätzung oder mangelnde Selbstfürsorge) als auch einen gesundheitsfördernden Umgang mit Krankheit, nämlich trotz der durch die Krankheit auferlegten Begrenzungen sich im Leben zu engagieren und Sinn zu erfahren. Gesundheit in diesem Sinne ist nicht mehr die Abwesenheit von Störungen biologischer, psychischer und sozialer Art, sondern die Fähigkeit und der Mut, sie anzugehen, mit ihnen zu leben und darin einen Sinn zu erfahren. Man kann sich der Frage nach der psychischen Gesundheit nur deskriptiv nähern, oder man kommt mit Nietzsche1 zu der Auffassung: »Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht. Alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläg-
lich missraten. Es kommt auf deine Ziele, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe«. Damit erweist sich der Begriff der Normalgesundheit als nicht praktikabel, weil es jeweils um eine individuelle Passung geht. Prof. Walter: Ist Stress – aus Ihrer Sicht – ein medizinisches
oder eher ein gesellschaftliches Problem? Wer sollte in der Versorgung zuständig sein und wie sollte diese aussehen? Prof. Lamprecht: Wenn man sich heute die Veränderungen in der Privatwirtschaft und auch in öffentlichen Einrichtungen anschaut, wird deutlich: Die, die Arbeit haben, müssen immer mehr tun bei gleichzeitig gehobenen Qualitätsstandards. Dies führt dann häufig zu einem kritischen Punkt, wo das individuelle Anpassungspotential überfordert ist und es zum Ausbruch einer Krankheit kommt. Dann wird Stress zu einem medizinischen Problem. Es stellt sich dann auch die Frage, ob eine erhöhte individuelle Stressreaktion vorliegt und eventuell Stressbewältigungsprogramme hilfreich seien können, oder ob es sich um ein so genanntes krank machendes Milieu handelt, also um ein gesellschaftliches Problem. Maßnahmen zur Stressbewältigung sollten deshalb über das Individuum hinausgehend auch die systemimmanenten Schwachstellen zumindest ansprechen und verdeutlichen. Prof. Walter: In der Bevölkerung scheint ein weitgehend einheitliches Verständnis von Stress zu bestehen. Die Wissenschaft hat ihrerseits in den vergangenen Jahrzehnten fundierte Konzepte entwickelt, um Ursachen und Auswirkungen von Stress zu erklären. Dennoch erscheint Stress medizinisch schwer fassbar, als schwierig gestaltet sich die »Übersetzung« in den ICD-Code. Inwieweit erschwert dies die rechtzeitige Versorgung? Gibt es Lösungsansätze? Prof. Lamprecht: Die Stressreaktion setzt eine Fülle von
physiologischen, endokrinologischen und immunologischen Prozessen in Gang, die ja heute im Detail sehr genau beschrieben sind und auch auf den Verlauf von sog. Autoimmunkrankheiten einen deutlichen Einfluss haben. Diese finden in der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases = Internationale Definition der Krankheiten) oder dem Kap. F43 – »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« – deutliche Berücksichtigung. Diese Anpassungsstörungen können auch als Zusatzdiagnosen bei ernsten körperlichen Krankheiten auftreten und zusätzlich kodiert werden. Die Kodierungsmöglichkeiten sind also vorhanden, werden aber von den primär organisch orientierten Fachdiszipli-
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In: »Die fröhliche Wissenschaft – Gesundheit der Seele«
181 Kapitel 8 · Prävention von Stress: Ansätze und Umsetzung in Deutschland
nen nur unzulänglich genutzt. Es bleibt zu hoffen, dass die Einbindung der psychosomatischen Grundversorgung in den einzelnen Fachdisziplinen zu einer erhöhten Sensibilisierung führt. Bis jetzt ist es aber noch so, dass Patienten erst mit erheblicher Verzögerung von sechs bis sieben Jahren in eine Einrichtung kommen, wo sich dieser Symptomatik fachspezifisch angenommen wird. Prof. Walter: In der öffentlichen Wahrnehmung wird zwar
die Zunahme psychischer Belastungen und gesundheitlicher Störungen gesehen, dennoch bestehen insbesondere bei Männern Vorbehalte bezüglich der Inanspruchnahme unterstützender Leistungen. Inwieweit hat dies Auswirkungen auf die Versorgung? Welche Folgerungen ergeben sich für die Prävention? Prof. Meermann: Männer haben meiner Meinung nach vor allem Angst davor, als psychisch krank stigmatisiert zu werden. Deshalb ist es bei Männern wahrscheinlich angezeigt, diese eher auf einer Ebene anzusprechen, die die Aspekte des Ressourcenschaffens und der Ressourcenaktivierung betont. Das ressourcenschaffende Vorgehen, z. B. durch den Erwerb von Selbstmotivationstechniken, eine Verbesserung der körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit durch Ausgleichssport sowie eine prozessorientierte und nicht zielorientierte Freizeitgestaltung zur Erhöhung der Lebenszufriedenheit beugt Risikofaktoren, insbesondere im Stressbereich vor, ist aber andererseits vom Image her nicht primär krankheitsverhindernd oder therapeutisch orientiert. Prof. Walter: Die gesetzlichen Krankenkassen haben psychosoziale Belastungen und Stress als eines ihrer Handlungsfelder für die Prävention definiert. Wie beurteilen Sie diese Ausrichtung der Krankenkassen? Was raten Sie ihnen für zukünftige Maßnahmen zur Prävention? Prof. Koch: Die Krankenkassen sind auf dem richtigen
Weg. Denn Prävention rechnet sich kurz- und mittelfristig. Schmerzen und Symptome werden besser bewältigt, die Lebensqualität nimmt zu. Ein erhöhtes Bewusstsein für den Umgang mit dem eigenen Körper führt zu einem verbesserten Umgang mit Belastungen und Risiken. Man mag Zweifel aufwerfen, ob dies langfristig die Kosten erhöht, weil die Bevölkerung durch erfolgreiche Prävention noch älter wird, aber das ist nicht nur ein zynisches Argument, sondern gesundheitsökonomisch fehlerhaft. Die Menschen werden ja älter, weil sie besser für ihre Gesundheit zu sorgen gelernt haben, und das entlastet die Sozialkassen. Ein bloß quantitativer Ausbau von Prävention und Gesundheitsförderung genügt aber meines Erachtens nicht. Es gibt mehrere Probleme bei der Feldentwicklung: Prävention dient häufig auch als Werbeträger. Die Qualitätskriterien zur Auswahl der Programme werden
immer besser, werden aber nicht einheitlich eingesetzt. Im Feld herrscht auch mancherorts noch der Aberglaube, man könne die Wirksamkeit von Prävention und Gesundheitsförderung nicht messen. Dahinter steht oft die Angst vor Mittelstreichung und externer Kontrolle. Gerade bei kleineren Maßnahmen kann man aber nicht immer auf Effektnachweise warten, sondern muss die Kriterien schon früher abprüfen. Es wäre keine Lösung, nur noch standardisierte Programme durchzuführen. Bei unseren Erhebungen über die Versorgung von übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen wurde z. B. deutlich, dass standardisierte Schulungen für Risikogruppen und Patienten oft wenig Platz für die besonderen Erwartungen und soziokulturellen Problemlagen einzelner Zielgruppen und Settings lassen. In diesem Bereich gibt es z. B. praktisch keine Setting-Projekte und auch kaum Projekte für sozial benachteiligte Gruppen. Gerade bei diesen Gruppen kumulieren sowohl die Belastungen als auch die Fehlversorgungen. An diesen Punkten sehe ich einen Bedarf an mehr Qualitätssicherung, Evaluation und Fortbildung. Prof. Walter: Arbeitslose sind besonders von psychischen Beeinträchtigungen betroffen. Dem steht entgegen, dass es präventive Maßnahmen für Arbeitslose bislang nicht gibt. Prinzipiell wären Ansätze über die – im vorgesehenen Präventionsgesetz nicht mehr eingebundene – Bundesagentur für Arbeit denkbar oder auch eine systematische Berücksichtigung gesundheitsbezogener Aspekte insbesondere bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Wird hier eine gesellschaftliche Chance vertan? Welche Rolle sollten und können die Krankenkassen übernehmen? Prof. Koch: Zielgruppe und Setting sind auf jeden Fall ganz wichtig. Viele Langzeitarbeitslose sind ältere, geringer gebildete Männer, tragen also zusätzliche Risikofaktoren und gehören zu schlechter versorgten Gruppen mit lückenhaftem Inanspruchnahmeverhalten. Allerdings sind deshalb zielgruppenspezifische Ansätze besonders wichtig: Man darf Arbeitslose nicht verkranken und ihre Belastungen nicht individualisieren! Das wäre kontraproduktiv, es würde den Stress steigern. Grundsätzlich ist es aber außerdem eine gesundheitspolitische Schieflage, dass die Krankenkassen für alle sozialen Probleme zuständig werden, weil diese immer zu gesundheitlichen Belastungen führen. Es könnte lohnen, Modelle zu suchen, um die anderen Stakeholder der Arbeitswelt besser einzubeziehen. Präventionsbedarf für Arbeitslose beginnt schon mit der Angst vor Entlassung und erreicht eine wichtige Phase in der Zeit der ersten großen Enttäuschung, wenn nicht bald ein neuer Job greifbar wird. Auch die Betriebe haben ein Interesse daran, hier neue Ansätze zur Stressverminderung zu entwickeln. Eine Stiftung Prävention, wie sie geplant ist, könnte hier neue Ansatzpunkte fördern.
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Kapitel 8 · Prävention von Stress: Ansätze und Umsetzung in Deutschland
Prof. Walter: Inwieweit steht die hohe Wertschätzung von
Leistungsfähigkeit in unserer Gesellschaft und die Ausrichtung von Lebenskonzepten auf den Beruf einer rechtzeitigen Prävention von Stress und psychosozialen Belastungen entgegen? Besteht eine Gefahr, dass Präventionsmaßnahmen instrumentalisiert werden, um noch weitere Leistungsreserven zu mobilisieren? Prof. Koch: Wenn ein ins Extreme getriebenes Leis-
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tungsprinzip gesundheitliche Ressourcen wie etwa soziale Netze und Zeit zur Regeneration zerstört, muss die betriebliche Gesundheitsförderung hier ansetzen. Wenn Menschen durch Gesundheitsförderung hingegen wirkliche Leistungsreserven zurückgewinnen oder erschließen, ist das nicht prinzipiell verwerflich. Gerade in der schulischen Gesundheitsförderung wird beides eng verbunden diskutiert, nicht nur bei den Schülern: Die Arbeitswelt Schule treibt Lehrer mit durchschnittlich 54 Jahren in die Pensionierung. Burnout, Depression und der Verlust von Selbstwirksamkeitserwartung sind eine extreme individuelle Belastung, aber auch ganz schlicht ein Kostenfaktor. Eine gute Prävention arbeitet hier an einer win-win-Situation für alle, indem sie Verhaltens- und Verhältnisprävention integriert. Gleichwohl gibt es Felder, wo gesundheitliche Versorgung durch die Rahmenbedingungen letztlich konterkariert wird. Was geschieht psychisch mit einem dank guter Patientenschulungen erfolgreich gesundheitlich Rehabilitierten, der sogleich in die Langzeitarbeitslosigkeit geht? Hier brauchen wir neue Ansätze zur Verzahnung von beruflicher und gesundheitlicher Rehabilitation, aber auch möglicherweise eine gesellschaftliche Diskussion über Arbeitsformen, Arbeitsverteilung und »work-life balance«. Hier liegen die Grenzen der Prävention. Prof. Walter: Herr Prof. Lamprecht, Sie vertreten das Kon-
zept der Salutogenese. Wie setzen Sie die Ressourcenorientierung konkret in Ihrem Klinikalltag mit psychosomatisch erkrankten Patienten um? Prof. Lamprecht: Das Konzept der Salutogenese von Antonovsky geht von einem Kontinuum zwischen dem Krankheitspol und dem Gesundheitspol aus. Die salutogenetische Orientierung hilft den Blick zu schärfen für eine Betrachtung der gesunden und entwicklungsfähigen Seiten der zu behandelnden Personen. Salutogene Prinzipien und Faktoren sind Ressourcen der Krankheitsbewältigung, der Krankheitsvorbeugung oder, noch allgemeiner, kreative Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit unserer Lebenswelt. Die Ressourcenaktivierung stellt heute ein fundamentales Ziel jeder Psychotherapie dar. Dazu gehören insbesondere auch die Sozialkompetenz und die Konfliktfähigkeit, Hobbys und gesellschaftliches Engagement in Gruppen, Sport, Musik, Kirche oder Kommunalpolitik. Von diesen Ressourcen hängt es ganz ent-
scheidend ab, ob sich ein Patient als chronisch krank oder als bedingt gesund erlebt. Prof. Walter: Für wie notwendig und für wie realistisch hal-
ten Sie eine vermehrte präventive Ausrichtung im medizinischen System? Welcher spezifische Unterstützungsbedarf besteht hierbei in der Versorgungspraxis? Prof. Lamprecht: Eine vermehrte präventive Ausrichtung ist sicherlich von großer gesundheitspolitischer Relevanz. In der Primärprävention ergibt sich die Schwierigkeit, dass Menschen, die noch keine Krankheit haben, nur unter dem Druck, dass sie ein erhöhtes Risiko tragen, sehr schwer zu motivieren sind. Zudem gibt es für präventive Maßnahmen nur sehr unzureichende Abrechnungsmöglichkeiten. Aber hier verhält sich die Gesundheitspolitik nicht anders als der individuelle Patient. Die öffentliche Hand tut sich schwer, bei noch nicht eingetretenen Krankheiten in deren Vorbeugung zu investieren. Prof. Meermann: Ich bin skeptisch, ob der augenblickliche
Weg der Prävention tatsächlich in allen Varianten der richtige ist. Ich kann mich noch gut an die Zeit vor etwa 20 Jahren erinnern, als Primärprävention schon einmal von einigen Krankenkassen forciert wurde. Dieses primär, möglicherweise sekundärpräventive Ansinnen ist dann jedoch relativ schnell in ein reines Sponsoring von Fitness- und Sportstudiokursen mutiert. Hier stellt sich mir die Frage, ob auch wirklich die Risikopatienten erreicht werden, die tatsächlich präventiver Ansätze bedürfen, oder ob nicht einfach Menschen, die sowieso gerne Sport treiben wollen, eine Finanzierung dieser Sportmöglichkeiten zu Lasten der Allgemeinheit in Anspruch nehmen. Konsequenterweise wurde ja genau dieser Ansatz der Prävention zwischenzeitlich aus dem gesetzlichen Leistungskatalog wieder herausgenommen, um sich – nach meinem Eindruck – jetzt wieder als alter Wein in neuen Schläuchen zu positionieren. Prof. Walter: Gerade im psychosomatischen Bereich setzt die Versorgung, aber auch die Rehabilitation oft sehr spät an. Welche Chancen sehen Sie, frühzeitiger Personen mit einem erhöhten Risiko zu identifizieren und auch für präventive bzw. frührehabilitative Maßnahmen zu gewinnen? Prof. Meermann: Ich persönlich glaube nicht, dass sich gefährdete Personen mit einem erhöhten Risiko tatsächlich primär- und sekundärpräventiv erreichen lassen. Meines Erachtens müssten präventive Maßnahmen bereits im Kindes- und Jugendalter ansetzen, da hier für die Zukunft die größten Gesundheitsschäden zu erwarten sind. Ein weiterer Punkt wäre, ggf. Betriebe zu motivieren, präventive Angebote für ihre Mitarbeiter bereitzuhalten. Warum nicht auch nicht mit finanzieller betrieblicher Unterstüt-
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zung? Hauptproblem dürfte sein, Zuwendungsmotivation bei Menschen mit gesundheitlichem Risikoverhalten zu wecken, hier müssen möglichst kurze Wege geschaffen werden, um diese für gesundheitsbewusstes Verhalten und das Aufsuchen entsprechender Maßnahmen zu gewinnen. Prof. Walter: Inwieweit lassen sich bei Aufrechterhaltung
der Tätigkeit erneute psychosoziale Beeinträchtigungen und Burnout vermeiden? Können Sie Aussagen zur Nachhaltigkeit der Rehabilitation machen? Prof. Meermann: Insbesondere stationäre verhaltenstherapeutische Rehabilitation ist mehrfach abschließend untersucht worden. Gerade hat sich in einer unserer Studien unter Beteiligung der Psychosomatischen Fachkliniken in Berus, Bad Dürkheim und Bad Pyrmont dies noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Untersucht wurden hier Parameter wie Krankengeld, Arbeitsausfallzeiten, Medikamenteninanspruchnahme, Aufsuchen von Ärzten vor und nach einer stationären verhaltenstherapeutischen Rehabilitation. Ganz verkürzt gesagt, erspart ein in die Rehabilitation investierter Euro vier Euro an Ausgaben für das Sozialversicherungssystem.
Prof. Walter: In der Prävention stehen wir im Hinblick auf
(evidenzbasierte) zielgruppenorientierte Ausweitung von Maßnahmen noch ganz am Anfang. Was erhoffen Sie sich in den nächsten Jahren? Prof. Koch: Eine ganz wichtige Orientierung können wir aus den Forschungen über Akut-, Reha- und Pflegeleistungen gewinnen: Die übermäßige Verfeinerung und Ausdifferenzierung von Leitlinien überfordert die Aufnahmefähigkeit der eigentlichen Anwender, schon aus Zeitgründen. Sie unterstützt zudem eine für die Versorgungsqualität nicht immer günstige Spezialisierung. Wenn wir für alle Indikationen, Settings und Zielgruppen spezifische Maßnahmen nach spezifischen Kriterien gestalten wollen, fördern wir ein kleinteiliges Nebeneinander statt der erforderlichen, ohnehin meist defizitären Vernetzung. Wo dann wirklich ganz spezifische Interventionen und Gestaltungsprinzipien erforderlich sind, ist eine empirische Frage. Wir müssen bei der Feldentwicklung deshalb zwei Ebenen im Blick behalten und immer wieder in der Empirie integrieren: Die generische Ebene der allgemein wirkungsvollen Strategien und Qualitätsmerkmale von Prävention und Gesundheitsförderung einerseits und die spezifische Ebene mit Einzelkriterien andererseits.
Prof. Walter: In den vergangenen Jahren wurde, z. B. in der Suchtprävention, versucht, das Angebot stärker auszuweiten. Halten Sie das vorhandene Spektrum für ausreichend oder brauchen wir in der Rehabilitation psychischer Belastungen eine noch stärkere inhaltliche Variabilität der Maßnahmen, ihrer Dauer und Intensität sowie Organisationsform? Was wissen wir über die erforderliche Gestaltung der Angebote?
Prof. Walter: Empfohlen wird, die verschiedenen Lebensbe-
Prof. Meermann: Im Prinzip halte ich das aktuelle Angebot für ausreichend. Es gibt allerdings deutliche Probleme insbesondere an der Schnittstelle zwischen stationärer Behandlung und ambulanter Weiterbehandlung, wenn Patienten noch nicht nervenärztlich oder psychotherapeutisch angebunden sind. Hier besteht immer wieder die Gefahr, dass gute Erfolge der stationären Behandlung im häuslichen Umfeld nicht stabilisiert werden können, da bis zum Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung mehrmonatige Wartezeiten bestehen. Vielleicht bringt es in der Zukunft Vorteile, neue Formen der Nachbetreuung oder Betreuung von psychisch belasteten Menschen zu erproben. In Bad Pyrmont führen wir jetzt z. B. ein Projekt durch, in dem stationär behandelte Bulimiepatientinnen für einige Monate mit kurzen Mitteilungen über Mobiltelefon (SMS) nachbetreut werden. Dies soll nicht als Ersatz für eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung dienen, sondern ein zusätzliches motivierendes Angebot sein, das in einer Vorstudie schon deutlich stabilisierende Effekte gezeigt hat.
Prof. Lamprecht: Ich halte den angedeuteten Ansatz für sehr unterstützenswert, denn ich mache die Erfahrung – gerade bei erfolgreichen Managern – dass sie zunehmend einseitig werden, zum Teil sogar zu emotionalen Analphabeten, die sozial sehr unbeholfen sind und manchmal auch nicht mehr zwischen Berufs- und Privatleben trennen. Hier gibt es dann wenig Kompensationsmöglichkeiten, wenn beruflich etwas schief läuft.
reiche auszubalancieren, Arbeit, Familie, soziale Kontakte und Freizeit in ein Gleichgewicht zu bringen. Dies zeigt sich auch in der expliziten Forderung von Zielformulierungen in der neueren Managementliteratur für den emotionalen und sozialen Bereich neben den üblichen arbeitsbezogenen Zielen. Halten Sie diesen Ansatz unter den hohen Arbeitsanforderungen für umsetzbar?
Prof. Pott: Die Empfehlung des Ausbalancierens der ver-
schiedenen Lebensbereiche geht grundsätzlich in die richtige Richtung. Es geht dabei vor allem um die Bereiche Familie, Schule oder Arbeit, Freizeit und soziale Kontakte. Allerdings bedeutet das nicht automatisch einen Anteil von 25% für jeden Bereich. Die innere Balance kann bei Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen durchaus auch erreicht werden, wenn bestimmte Bereiche in bestimmten Lebensabschnitten ein deutlich höheres Gewicht bekommen. So ist z. B. für viele Menschen die Zeit des Berufsbeginns eine Zeit, in der für die weiteren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten die Weichen
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Kapitel 8 · Prävention von Stress: Ansätze und Umsetzung in Deutschland
gestellt werden. Deshalb kann hier für einen bestimmten Zeitraum z. B. ein deutlich größeres Gewicht auf beruflichen Aktivitäten liegen, ohne dass jemand aus dem Gleichgewicht gerät. Es kann also durchaus vorkommen, dass jemand seine innere Balance findet, ohne dass die äußerlich sichtbaren Lebensbereiche immer zu gleichen Anteilen verteilt sind.
dem Hintergrund des in der sozialwissenschaftlichen Forschung beschriebenen Zerfalls von Familien- und Nachbarschaftsstrukturen, von Orientierungslosigkeit, von Vereinzelung, von schulischen Belastungen bei Jugendlichen werden heute die Begriffe Schulstress, Familienstress und Freizeitstress breit diskutiert. Prof. Walter: Halten Sie prinzipiell eine bevölkerungsweite
Prof. Walter: Stress und psychosoziale Belastungen treten
bereits im Kindes- und Jugendalter auf, einer zentralen Zielgruppe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Inwieweit berücksichtigen Sie diesen Bereich in Ihren Maßnahmen? Wo sehen Sie weiteren Bedarf?
8
Prof. Pott: Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigt, dass Kinder und Jugendliche heute bereits eine Reihe von psychosomatischen Störungen haben, die auf ein hohes Stressniveau und mangelnde Bewältigungsstrategien hindeuten. Bei stressbelasteten Kindern fehlt es oft an sozialer Unterstützung, persönlicher Nähe, Zuwendung, einfühlsamen Gesprächen über Probleme in der Familie bzw. mit weiteren Betreuungs- und Bezugspersonen. Auch wird oft nicht rechtzeitig erkannt, wann in entsprechenden Situationen ggf. professionelle Beratungsangebote genutzt werden sollten. Die BZgA fördert deshalb in der Kampagne »Kinder stark machen« mit dem so genannten »Lebenskompetenzansatz« die Fähigkeiten von Kindern, mit Konflikten umzugehen, gewinnen und verlieren zu lernen, Eigenaktivität zu entwickeln, eigene Fähigkeiten und Grenzen kennen zu lernen, Selbstvertrauen und Selbständigkeit zu entwickeln. Dieser Ansatz wendet sich an alle Erwachsenen, die Verantwortung für Kinder tragen. Darüber hinaus geht die BZgA von einem integrierten Ansatz der Gesundheitsförderung bei Kindern aus, der die Wechselwirkungen zwischen Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung berücksichtigt. Die BZgA hat in einem Wirkmodell die Wechselwirkungen dieser Bereiche verdeutlicht. Die Jugendforschung zeigt, dass Kinder und Jugendliche keine isolierten Probleme mit Ernährung, Stress oder ihrem Bewegungsverhalten haben. Prof. Walter: Die AIDS-Prävention in Deutschland ist nicht nur national erfolgreich, sondern auch international Beispiel gebend. Heute wird häufig nur auf die scheinbar einfache Präventionsmaßnahme – Kondombenutzung – geschaut und vielfach übersehen, dass bei ihrer Einführung in den 1980er Jahren ein Tabu thematisiert und aufgebrochen werden musste. Sehen Sie vergleichbare Hindernisse beim Thema Stress und psychosoziale Belastungen? Prof. Pott: Ich sehe keine vergleichbare allgemeine Tabu-
isierung. Allerdings ist in bestimmten Zielgruppen eine hohe Belastbarkeit und Stressresistenz Teil eines Erfolgsimages, z. B. in höheren Managementfunktionen. Vor
Kampagne zur Prävention von Stress bzw. psychosozialen Belastungen für sinnvoll? Wie könnte diese gestaltet sein? Prof. Pott: Da Stress, neben Rauchen, Bewegungsmangel, Fehl- und Überernährung, ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung und Verschlimmerung einer Reihe von chronischen Krankheiten ist, sollte eine nationale Präventionskampagne, die der Prävention chronischer Krankheiten in der Bevölkerung dient, Stress unbedingt mit einbeziehen. Ein integrierter Ansatz erscheint nach dem derzeitigen Erkenntnisstand über die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Risiken der Erfolg versprechendste Weg zu sein. Deshalb muss eine Kampagnenstruktur gewählt werden, die die einzelnen Risikofaktoren angemessen berücksichtigt, aber eine Veränderung des Lebensstils insgesamt zum Ziel hat. Die Gestaltung einer solchen Kampagne muss die verschiedenen Altersgruppen, Lebenssituationen, die sozialen und geschlechtsspezifischen Besonderheiten berücksichtigen. Dabei ist unter Kampagne eine Strategie von systematisch aufeinander abgestimmten unterschiedlichen Maßnahmen aus den Bereichen der personalen Kommunikation und der Massenkommunikation zu verstehen, die individuelle Ansätze und Settingansätze einbezieht. Ziel sind sowohl Verhaltensänderungen als auch Strukturänderungen. Prof. Walter: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
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Infobox
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I Prof. Dr. med. Dr. phil. Uwe Koch
ist seit 1993 Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie und seit 2002 Stellvertretender Ärztlicher Leiter des Zentrums Psychosoziale Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Versorgungsforschung, der Präventions- und Rehabilitationsforschung, der Psychologie der chronischen Erkrankungen, der Psychoonkologie und der Psychotherapieforschung.
Prof. Dr. med. Friedhelm Lamprecht ist Nervenarzt, Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie, Sozialmedizin und Psychoanalyse und seit 1993 Lehrstuhlinhaber für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Prof. Lamprecht ist Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Fachgesellschaften.
Prof. Dr. med. Rolf Meermann ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und seit 1987 Chefarzt der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont. Er ist Gründungspräsident der Deutschen Ärztlichen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DÄVT), Geschäftsführer des gemeinnützigen Verhaltenstherapie Institutes Bad Pyrmont (VIBP) sowie Gutachter für Verhaltenstherapie und von der Ärztekammer Niedersachsen in Psychiatrie und Psychotherapie weiterbildungsermächtigt. Prof. Meermann ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie der Bundesärztekammer und Mitglied im Wehrmedizinischen Beirat des Bundesministeriums der Verteidigung, Bonn.
I
I Dr. med. Elisabeth Pott
ist seit 1985 Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln. Wesentliche Schwerpunkte der BZgA sind die AIDS- und Suchtprävention, insbesondere hinsichtlich Tabak und Alkohol. Frau Dr. Pott ist Ärztin für das öffentliche Gesundheitswesen und war Referentin im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sowie Referatsleiterin im Niedersächsischen Sozialministerium (Gesundheitsvorsorge).
Prof. Dr. phil. Ulla Walter ist seit August 2004 Leiterin des Stiftungslehrstuhls »Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung« an der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Die Schwerpunkte des Stiftungslehrstuhls liegen in der Forschung und Qualifizierung (Lehre) sowie in der regionalen und bundesweiten Strukturentwicklung und der Stärkung der Relevanz von Prävention und Rehabilitation in der öffentlichen Wahrnehmung. Die wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die Identifikation von Risikogruppen, Zugangswegen, Zielgruppenorientierung, Nachhaltigkeit und die Analyse und Optimierung von Einflussgrößen.
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9 Ausblick
Im vorliegenden Weißbuch »Stress? Ursachen, Erklärungsmodelle und präventive Ansätze« erfolgt eine Bestandsaufnahme der Stresspotentiale im Kindes- und Jugendalter sowie im Arbeitsleben aus Sicht der Wissenschaft und der Präventionspraxis. Fazit des aktuellen Weißbuches ist es, dass zwar noch viel Forschungsbedarf besteht, gute Ansätze aber bereits zu sehen sind. Alle Akteure – vom Einzelnen, über die Institutionen des Gesundheitswesens bis zur Gesellschaft – sind bereits heute zum Handeln aufgefordert.
Angesichts der sich wandelnden Lebensbedingungen in Deutschland, dem Umbau der sozialen Sicherungssysteme und der damit verbundenen Zunahme an finanziellen Belastungen und Eigenverantwortung für die Bürger bei gleichzeitig steigendem Risiko des Arbeitsplatzverlustes, erhöht sich der wirtschaftliche und psychische Druck auf den Einzelnen. Zeitgleich geraten soziale Bindungen immer mehr ins Wanken. Kinder und Jugendliche erfahren erhöhte Leistungsanforderungen in Schule und Gesellschaft sowie in ihren Familien Belastungen aufgrund wiederkehrender Konflikte, beispielsweise durch die Arbeitslosigkeit oder die Trennung der Eltern. Gemeinsam ist vielen Menschen eine tiefgreifende Verunsicherung, die sich aus unterschiedlichen Quellen speist und oftmals mit einem ungesunden Stresserleben einhergeht. Der Einfluss der Krankenkassen auf diese gesellschaftlichen, beruflichen und familiären Bedingungsfaktoren für die Gesundheit ist begrenzt. Hier sind alle gesellschaftlichen Akteure gefragt, zur Schaffung von gesundheitsgerechten Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen beizutragen und den Einzelnen angesichts der vielfältigen Herausforderungen zu stärken. Dafür bedarf es einer Bündelung der Kräfte aller Akteure, konzertierter
Aktionen und Vorhaben, ausgerichtet auf abgestimmte (nationale) Gesundheitsziele, sowie eines ressortübergreifenden Handelns der Politik. Gesundheit ist in allen Belangen mitzubedenken, ist sie doch wichtiges Indiz für die Ungleichheit in einer Gesellschaft. Das Weißbuch liefert hierfür wichtige Impulse und regt den Dialog zwischen den Fachdisziplinen aus Wissenschaft, Politik und Praxis an. Die Lebenswelten der Menschen selbst müssen noch stärker in den Mittelpunkt gesundheitsorientierter Betrachtungen rücken. So bedarf es beispielsweise der Förderung der Erziehungskompetenz der Eltern und der Gestaltung gesundheitsförderlicher Lern- und Arbeitswelten in Schule und Beruf durch entsprechend qualifizierte Fach- und Führungskräfte. Wie das Weißbuch einmal mehr als deutlich zeigt, ist es wichtig zu berücksichtigen, dass sozial Benachteiligte im Vergleich zur übrigen Bevölkerung schlechtere Gesundheitschancen haben. Somit sind komplexe Handlungsansätze erforderlich, damit Kinder und Jugendliche gesund aufwachsen und Erwachsene trotz der vielfältigen Belastungen eine Balance zwischen Entspannung und Anspannung in Beruf, Familie und Freizeit finden können. Auch die KKH und die anderen Krankenkassen sind zum Handeln aufgefordert. Das Weißbuch liefert hierfür vielfältige Ansatzpunkte zur Auswahl und Weiterentwicklung von Maßnahmen in der Verhaltens- und Verhältnisprävention. Die KKH unterstützt bereits heute ihre Versicherten dabei, Ressourcen gegen die steigende Stressbelastung aufzubauen, z. B. durch Entspannungsmethoden wie Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung oder Yoga. Diese gelten als sinnvolle Maßnahmen, um Stress zu reduzieren und somit Gesundheit zu fördern. In diesem Zusammenhang gilt die klare Forderung an die Politik, dass die Krankenkassen weiterhin ihre Handlungskompetenz und ihr Engagement im Bereich der Individualprävention ausbauen dürfen. Die
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9
Kapitel 9 · Ausblick
Auswertung der Routinedaten zeigt, dass Präventionsangebote noch mehr auf Zielgruppen zugeschnitten und deren spezifische Bedürfnisse noch stärker bei der Kurskonzeptentwicklung berücksichtigt werden müssen. So verdeutlicht die Datenauswertung, dass es geschlechtsspezifische und regionale Unterschiede bei der Krankheitsausprägung und -häufigkeit gibt. Frauen sind zwar häufiger von psychischen Problemen mit Krankheitswert betroffen als Männer, jedoch dominieren bei Männern Einzeldiagnosen, denen im Vorfeld mit entsprechenden Präventionsmaßnahmen entgegen gewirkt werden könnte. Neue zielgruppenorientierte Ansätze geschlechtsspezifischer Interventionen und präventive Konzepte zum gesundheitsgerechten Umgang mit Stressbelastungen sind vor diesem Hintergrund zu erproben, wobei eine Verzahnung mit den Handlungsfeldern Bewegung, Ernährung und Suchtprävention anzustreben ist. Gerade bei den Gruppen der männlichen und der jugendlichen Versicherten ist darüber hinaus der Suchtprävention, hier verdient vor allem die Vermeidung eines erhöhten Alkoholkonsums besondere Aufmerksamkeit, und der Entwicklung wirksamer, lebensweltbezogener Ansätze ein höheres Gewicht beizumessen. Neben der zielgruppengerechten Ausgestaltung der verhaltensbezogenen Maßnahmen sieht sich die KKH gefordert, zukünftig noch weitreichender ihr Engagement auf die Settings Schule, Unternehmen und Gemeinde zu richten und ihr fachliches Know-how auszubauen. In diesem Sinne gibt das Weißbuch 2005/2006 allen Beteiligten an der gesundheitspolitischen Debatte vielfältige Impulse für die systematische Weiterentwicklung vorhandener Maßnahmen und die Entwicklung neuer Konzepte für den Bereich der Stressprävention.
KKH – Die Kaufmännische
Glossar
Affektive Störungen
Coping
Störungen, die in einer Veränderung der Stimmungslage zum Ausdruck kommen. Betroffene sind entweder übermäßig freudig erregt (euphorisch, manisch), übermäßig niedergeschlagen (depressiv) oder beides abwechselnd (bipolar gestört).
Unterschiedliche Arten der Stressbewältigung. Problemorientiertes Coping versucht z. B. Stress durch Veränderung der stressauslösenden Situation zu bewältigen, emotionsorientiertes Coping setzt an der Beeinflussung der eigenen Stressreaktionen und Gefühlen an.
Akute Infektionen der oberen Atemwege
Delinquenz
Unter diese Diagnosegruppe sind Krankheiten wie Erkältungsschnupfen sowie akute Entzündungen der Nasennebenhöhlen, des Halses, der Mandeln, des Kehlkopfs und der Luftröhre gefasst.
Straffälligkeit
Antioxidanzien
Leicht oxidierbare Stoffe, die durch ihr niedriges Redoxpotential andere Stoffe (z. B. in Lebensmitteln) vor unerwünschter Oxidation schützen. Natürliche Antioxidanzien sind z. B. Tocopherole (Vitamin E) und Ascorbinsäure (Vitamin C). Zu den synthetischen Antioxidanzien zählt z. B. Schwefeldioxid. Antioxidanzien können infolge ihrer antioxidativen Wirkung unter Umständen die Entstehung von freien Radikalen (chemisch sehr reaktionsfreudige Moleküle, die Körperzellen und Gefäße schädigen können) verhindern und wirken damit präventiv hinsichtlich bestimmter Erkrankungen.
Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
Unspezifisches, hirnorganisches Krankheitsbild, das durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität und des Schlaf-Wach-Rhythmus charakterisiert ist. Demenz
Krankheitsbild, das als Folge einer zumeist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns auftritt und mit Störungen des Gedächtnisses, des Denkens, der Orientierung, der Auffassungsgabe, der Lernfähigkeit, des Rechnens, der Sprache und des Urteilsvermögens einhergeht.
Burnout-Syndrom
Depressive Episode
Psychovegetativer Erschöpfungszustand, der durch eine chronische, beruflich bedingte Beanspruchungsreaktion ausgelöst wird. Das Burnout-Syndrom ist durch drei Dimensionen gekennzeichnet: (1) emotionale Erschöpfung (emotional exhaustion), (2) Depersonalisation, d. h. negative, gleichgültige und zynische Einstellung gegenüber den Adressaten (depersonalization) sowie (3) negative Selbsteinschätzung hinsichtlich der eigenen beruflichen Leistung (reduced personal accomplishment).
Störung mit den Hauptsymptomen gedrückte Stimmung, gehemmter Antrieb, verminderte Aktivität und Konzentrationsfähigkeit, Interessen- und Freudlosigkeit, Appetitverlust, Schlafstörungen und ausgeprägte Müdigkeit sowie gestörtes Selbstwertgefühl. Effectiveness
Wirksamkeit von Interventionen unter Alltagsbedingungen, vgl. Efficacy.
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Glossar
Effektstärke
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
Statistische Aussage über das Ausmaß des Zusammenhangs zweier Variablen.
Bei länger anhaltender Belastung wird im Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns) der Corticotropin-ReleasingFaktor (CRF) freigesetzt. Dies ist ein Hormon, das in der Hypophyse (Hirnanhangdrüse) die Ausschüttung des adrenokortikotropen Hormons (ACTH) bewirkt. Durch den Blutkreislauf gelangt ACTH zur Nebennierenrinde, wo es die vermehrte Freisetzung von Kortisol anregt, das unter anderem eine Wirkung auf die vermehrte Bereitstellung von Blutzucker hat. Die Kortisolkonzentration im Blut wird über einen negativen Rückkoppelungsmechanismus an Hypothalamus und Hypophyse zurückgemeldet. Bei hoher Kortisolkonzentration im Blut wird die weitere Freisetzung von CRF und ACTH gehemmt, sodass diese hormonelle Stressreaktion sich normalerweise selbst begrenzt; vgl. Sympathikus-Nebennierenmark-Achse.
Efficacy
Wirksamkeit von Interventionen unter idealen Studienbedingungen; vgl. Effectiveness. Evidenz
Engl. »evidence« = »Beweis«; bezieht sich auf die Qualität der Informationen aus Studien, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen. Die U.S. Preventive Services Task Force bewertet z. B. die Qualität der Evidenz in drei Stufen. (1) Gute Evidenz: Die Evidenz basiert auf konsistenten Ergebnissen methodisch guter Studien in repräsentativen Populationen; direkte Effekte auf gesundheitliche Outcomes liegen vor. (2) Hinreichende Evidenz: Die Evidenz ist ausreichend, um Effekte auf gesundheitliche Outcomes zu bestimmen, aber die Stärke der Evidenz ist durch die Anzahl, die Qualität und/oder die Konsistenz der einzelnen Studien begrenzt. (3) Geringe Evidenz: Die Evidenz ist nicht ausreichend, um einen Effekt auf gesundheitliche Outcomes zu bestimmen. Ursachen können sowohl in der methodischen Qualität der Studien begründet sein als auch in der begrenzt vorliegenden Anzahl an Studien.
Intervention
Gezielter, auf die Stabilisierung oder Wiederherstellung der Gesundheit oder eine Verhaltensänderung gerichteter Eingriff. Interventionsgruppe
siehe Interventionsstudie Interventionsstudie
Experimentelle Studien
Experimentelle Studien vergleichen zufällig zusammengesetzte Stichproben miteinander. Es werden gezielt definierte Bedingungen hergestellt und in ihren Auswirkungen auf ausgewählt abhängige Variablen beobachtet; vgl. quasi-experimentelle Studien. Gefährdungsbeurteilung
Nach dem Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit vom 7. August 1996 hat der Arbeitgeber durch eine Beurteilung zu ermitteln, welche arbeitsbedingten Gefährdungen für die Beschäftigten bestehen und welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Die Gefährdungsbeurteilung zielt auf physisch und psychisch arbeitsbedingte Belastungen. Hierzu zählen: physikalische, chemische und biologische Einwirkungen, Gestaltung, Auswahl und Einsatz von Arbeitsmitteln sowie Arbeitsabläufe, Arbeitszeit, Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten.
Epidemiologischer Studientyp, bei dem eine Bevölkerungsgruppe einer Intervention unterzogen wird (Interventionsgruppe). Die Folgen der Intervention werden im zeitlichen Verlauf beobachtet. Inzidenz
Anzahl der Neuerkrankungsfälle einer bestimmten Erkrankung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes; epidemiologisches Maß zur Charakterisierung des Krankheitsgeschehens in einer bestimmten Population, vgl. Prävalenz. Kognitiv-verhaltensbezogene Intervention
Maßnahmen, die auf die Modifikation von Bewertungen, Interpretationen und Verhalten von Individuen abzielen. Komorbidität
Bezeichnet das gleichzeitige Vorkommen von mehreren diagnostisch unterschiedlichen und eigenständigen Krankheits- oder Störungsbildern bei einem Patienten. Dabei müssen diese nicht unbedingt in einem ursächlich gemeinsamen Zusammenhang stehen; vgl. Morbidität.
Heterogenität
Besteht beispielsweise, wenn Studien hinsichtlich ihrer Interventionen, zeitlichen Dauer, Zielgruppen, Erhebungsinstrumenten oder Ergebnisparameter uneinheitliche Ausführungen aufweisen.
Kontrollgruppe
Bevölkerungsgruppe, die innerhalb einer Studie entweder keiner Intervention unterzogen wird, ein Placebo erhält oder nicht an der zu untersuchenden Krankheit leidet.
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Kontrollierte Studie
Proliferation
Epidemiologischer Studientyp, der eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe miteinander vergleicht. Die Zuweisung in eine Interventions- bzw. Kontrollgruppe sollte über eine Randomisierung erfolgen.
Zellvermehrung Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
Studientyp, der die statistische Auswertung mehrerer Analyseergebnisse aus Primärstudien umfasst. Die Ergebnisse der Einzelstudien werden quantitativ zusammengefasst, mit dem Ziel, die Präzision der Outcome-Parameter zu erhöhen. Metaanalysen setzen einen vollständigen systematischen Review voraus; vgl. Review (systematisch).
Unter dieser Diagnosegruppe ist eine Vielzahl von Störungen unterschiedlichen Schweregrades und mit verschiedenen klinischen Erscheinungsbildern gefasst, deren Gemeinsamkeit im Gebrauch psychotroper Substanzen (von außen zugeführte Stoffe, die Veränderungen der Psyche und des Bewusstseins zur Folge haben) – wie z. B. Alkohol, Opioide, Cannabinoide, Sedativa oder Hypnotika, Kokain, Halluzinogene – besteht.
Morbidität
Quasi-experimentelle Studien
Krankheitshäufigkeit innerhalb einer Population. Sie wird in bestimmten Größen (z. B. Prävalenz, Inzidenz) ausgedrückt; vgl. Komorbidität.
Quasi-experimentelle Studien vergleichen natürlich gewachsene Gruppen mit ihren spezifischen Besonderheiten (z. B. Klassenverbände); vgl. experimentelle Studien.
Motilität
Randomisierung
Bewegungsvermögen von Organen, deren Bewegungen reflektorisch oder vegetativ reguliert werden, z. B. Peristaltik.
Zufällige Einteilung in eine Interventions- oder Kontrollgruppe. Bei guter Randomisierung unterscheiden sich die beiden Gruppen nur bezüglich der Intervention selbst. Alle anderen Charakteristika wie Alter, Geschlecht, Sozialstatus sind in beiden Gruppen nahezu gleich verteilt. Randomisierte kontrollierte Studien gelten als Goldstandard, sind in der Versorgungsforschung unter Alltagsbedingungen aber oft nicht möglich.
Metaanalyse
Multimodale Interventionen
Maßnahmen, die Interventionen in verschiedenen Bereichen wie Bewegung, Ernährung, Kognition miteinander kombinieren. Zudem können sie Wissensvermittlung mit praktischen Übungen koppeln und zielen damit über die Verknüpfung von Lernen und Anwendung auf den Erwerb neuer Fertigkeiten. Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
Unter diese Diagnosegruppe sind u. a. phobische Störungen (Störungen, bei der Angst durch eindeutig definierte, eigentlich ungefährliche, Situationen hervorgerufen wird) und andere Angststörungen, Zwangsstörungen, Störungen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung bzw. auf ein außergewöhnliches Ereignis, somatoforme Störungen (körperliche Beschwerden, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen) und andere neurotische Störungen gefasst. Peers
Gruppe mit gleichen Merkmalen, z. B. Alter, berufliche Stellung, soziales Umfeld.
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
Störungen, die ursächlich auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung, ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis oder eine entscheidende Lebensveränderung zurückgeführt werden können und die eine Belastungsreaktion oder Anpassungsstörungen hervorrufen. Reliabilität
Zuverlässigkeit einer Messung bzw. Maß für die Wiederholbarkeit eines Testes mit identischen Ergebnissen; vgl. Validität. Resilienz
Psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungskrisen; vgl. Vulnerabilität. Ressourcen
Prävalenz
Anzahl der Erkrankungsfälle einer bestimmten Erkrankung bzw. Häufigkeit eines bestimmten Merkmals zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Zeitperiode. Sie ist epidemiologisches Maß zur Charakterisierung des Krankheitsgeschehens in einer bestimmten Population, vgl. Inzidenz.
Faktoren, die trotz Risiken und Belastungen zur Gesunderhaltung oder Gesundung einer Person beitragen. Ressourcen können u. a. in intrapersonale (Eigenschaften eines Individuums wie gute physiologische Verfassung, Optimismus, kommunikative und integrative soziale Fähigkeiten) und extrapersonale Ressourcen (Bereiche der Lebensumwelt wie gute Wohnverhältnisse, funktio-
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Glossar
nierende familiäre und soziale Beziehungen, befriedigende Arbeitsbedingungen, finanzielle Absicherung) eingeteilt werden; vgl. Stressoren.
Standardisierung
Rezidivierende depressive Störung
Bei Vergleichen zwischen Bundesländern und Berufsgruppen ist zu berücksichtigen, dass sich die Geschlechtsverteilung und Altersstruktur in den einzelnen Bundesländern bzw. Berufsgruppen unter Umständen deutlich unterscheidet. Durch ein geeignetes Standardisierungsverfahren muss ausgeschlossen werden, dass Unterschiede z. B. im Ausmaß psychischer Störungen in den einzelnen Bundesländern und Berufsgruppen durch derartige Differenzen in der Geschlechts- und Altersstruktur bedingt sind. Mit Hilfe der Methode der direkten Standardisierung wird daher allen Teilpopulationen rechnerisch die gleiche Geschlechts- und Altersstruktur unterlegt. Im vorliegenden Weißbuch Prävention wird dabei jeweils die Geschlechts- und Altersverteilung der Bevölkerung in Deutschland (Stand Ende 1993) als Referenz für die Standardisierung unterlegt.
Störung, die durch wiederholte depressive Episoden charakterisiert ist.
Stress
Review (systematisch)
Synonym zu: systematische Übersicht; Sekundärforschung, bei der zu einer eindeutig formulierten Frage alle verfügbaren Primärstudien systematisch und nach expliziten Methoden identifiziert, ausgewählt und kritisch bewertet werden. Die Ergebnisse werden extrahiert und deskriptiv oder mit statistischen Methoden quantitativ (z. B. Metaanalyse) zusammengefasst. Aufgabe des systematischen Reviews ist es, die bestehende Evidenz als Grundlage für klinische und politische Entscheidungen zu sichern und zu bewerten, vgl. Metaanalyse.
Schizophrenie
Schizophrene Störungen sind gekennzeichnet durch grundlegende und charakteristische Veränderungen des Denkens, Fühlens, Handelns und Ich-Erlebens sowie durch inadäquate oder verflachte Stimmungszustände. Wichtige Phänomene sind z. B. Gedankeneingebung, Wahnwahrnehmungen und -vorstellungen, Kontrollwahn und Beeinflussungswahn.
Je nach Disziplin und theoretischem Ansatz wird Stress unterschiedlich definiert. Gemein ist den unterschiedlichen Perspektiven und Definitionen die Vorstellung, dass die umweltbedingten Anforderungen die adaptive Kapazität eines Organismus belastet oder übersteigt und zu psychologischen und biologischen Veränderungen führt, die die Personen dem Risiko einer Krankheit aussetzen können. Stressmanagementinterventionen
Seelische Gesundheit
Seelische Gesundheit als Persönlichkeitskonstrukt setzt sich nach Becker und Polenz (1997, siehe Kap. 5) aus den Komponenten »seelische Gesundheit als Eigenschaft« und »seelische Gesundheit als Zustand« zusammen und wird von Wohlbefinden als mittlerem Maß seelischer Gesundheit abgegrenzt. »Seelische Gesundheit als Eigenschaft« bewirkt ein effizienteres Bewältigungsverhalten, ein weniger von negativen Emotionen belastetes emotionales Verhalten und ein verbessertes Gesundheitsverhalten. Selbstwirksamkeit
Individuell unterschiedlich ausgeprägte Überzeugung, in einer bestimmten Situation eine angemessene Leistung zu erbringen. Dieses Gefühl einer Person bezüglich ihrer Fähigkeiten beeinflusst Wahrnehmung, Motivation und Leistung in vielfältiger Weise. Einschätzungen der eigenen Selbstwirksamkeit haben einen Einfluss auf den Umgang mit belastenden und herausfordernden Lebenssituationen. Sehr guter Prädiktor für präventives Verhalten. Setting-Ansatz
Kernstrategie mehrerer WHO-Programme zur Gesundheitsförderung. Im Zentrum stehen alltägliche Lebensbereiche wie Familie, Schule oder Betrieb mit ihren spezifischen sozialen Gefügen und Organisationsstrukturen.
Maßnahmen zur Bewältigung von Stress. In der Arbeitswelt können sie auf verschiedenen Ebenen (individuell, organisatorisch, Schnittstelle individuell-organisatorisch) ansetzen, verschiedene Maßnahmen sowie Kombinationen von Maßnahmen enthalten. Stressoren
Bedingungen und Situationen, die individuell unterschiedliche Reaktionen beim Individuum hervorrufen. Sie können sich positiv als auch negativ auswirken, meistens wird ein Stressor jedoch mit negativen Reaktionen assoziiert. Stressoren können unterschiedlich klassifiziert werden und hängen auch von dem jeweiligen Lebensabschnitt ab; vgl. Ressourcen. Sympathikus-Nebennierenmark-Achse
Das im Locus coeruleus (Teil des Stammhirns) freigesetzte Noradrenalin aktiviert bei akuter Gefahr oder Belastung den Sympathikus, einen Nervenstrang, der alle peripheren Organe und Gefäße innerviert. Dies bewirkt eine vermehrte Noradrenalinausschüttung an den Nervenenden des Sympathikus, somit direkt in den Organen. Durch die Stimulierung des Nebennierenmarkes kommt es zu vermehrter Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin, welches eine wichtige Rolle bei den körperlichen Stressreaktionen wie Pulsbeschleunigung und Blutdruckerhö-
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hung spielt; vgl. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Validität
Gültigkeit einer Messung. Sie ist Gütekriterium für Testverfahren, das beschreibt, wie geeignet ein Verfahren zur Abbildung eines zu messenden Sachverhaltes ist; vgl. Reliabilität. Variabilität
Unter anderem Einteilung in interindividuelle und intraindividuelle Variabilität. Bei interindividueller Variabilität erhält man bei mehreren Beobachtungseinheiten beim Messen einer Größe unterschiedliche Ergebnisse. Bei intraindividueller Variabilität ergeben sich bei einer Beobachtungseinheit beim Messen einer Größe unter denselben Bedingungen unterschiedliche Werte. Vaskuläre Demenz
Krankheit des höheren Lebensalters, entsteht in der Regel durch kleine Hirninfarkte (Schlaganfälle) als Folge einer Hirngefäßkrankheit. Versicherungsjahre
Eine übliche Vorgehensweise bei Routinedarstellungen zu Daten von Krankenkassen, die veränderlichen Populationen im zeitlichen Verlauf adäquat Rechnung trägt, ist die Angabe in Bezug auf Versicherungszeiten (z. B. je 1, je 100 oder je 1000 Versicherungsjahre). Durch diesen rechnerischen Bezug auf Versicherungsjahre können auch Personen mit nur zeitweiliger Versicherung innerhalb eines Kalenderjahres angemessen berücksichtigt werden. Vulnerabilität
Verletzbarkeit, (psychologische) Bezeichnung für die durch genetische, organische, biochemische, psychische und soziale Faktoren bedingte individuelle Disposition, auf Belastungen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Verwirrung bis hin zu psychotischen Dekompensationen zu reagieren. Wesentlich für die Vulnerabilität scheint eine reduzierte affektiv-kognitive Belastbarkeit i. S. einer Störung der Fähigkeit zu adäquater Informationsverarbeitung zu sein; vgl. Resilienz. Yerkes-Dodson-Gesetz
Das Gesetz besagt, dass die Leistungsfähigkeit eines Menschen von seinem allgemeinen Erregungsniveau und der Aufgabenschwierigkeit abhängt. Bei einfachen Aufgaben führt ein hohes Erregungsniveau zu einer effektiveren Leistung, bei schwierigen Aufgaben ist hingegen ein geringeres Erregungsniveau optimal. Bei einem extrem niedrigen bzw. einem extrem hohen Erregungsniveau ist die Leistungsfähigkeit am schlechtesten.
Bildquellennachweise Kolumnentitel: Kap. 2 bis 5 und Kap. 7 bis 9: www.photos.com Kap. 6: Pressebüro Christoph Hoigné, Bern, Schweiz
Fotos Kap. 6.5: Pressebüro Christoph Hoigné, Bern, Schweiz