Nico Dragano Arbeit, Stress und krankheitsbedingte Frührenten
Nico Dragano
Arbeit, Stress und krankheitsbedingte Frü...
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Nico Dragano Arbeit, Stress und krankheitsbedingte Frührenten
Nico Dragano
Arbeit, Stress und krankheitsbedingte Frührenten Zusammenhänge aus theoretischer und empirischer Sicht
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 61 Dieses Werk ist unter dem Titel ,Psychosoziale Arbeitsbelastungen und krankheitsbedingte Frührenten’ als Inaugural-Dissertation an der Universität Düsseldorf angenommen worden.
1. Auflage Februar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15304-9
Inhaltsverzeichnis
Vorwort............................................................................................................... 9 1 2
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Einleitung .................................................................................................. 11 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand............. 17 2.1 Die Organisation der Invaliditätsrente in Deutschland ................... 19 2.1.1 Rentenarten bis 2001: Berufs- und Erwerbsunfähigkeit ............ 22 2.1.2 Renten wegen Erwerbsminderung ............................................. 24 2.1.3 Das Rentenverfahren : Frührente = Krankheit? ......................... 27 2.1.4 Bewertung: Wofür steht die krankheitsbedingte Frührente?...... 31 2.1.5 Regelungen im Europäischen Ausland ...................................... 34 2.2 Das große Ganze: Alterssicherung und demographischer Wandel. 36 2.2.1 Anzahl und Kosten krankheitsbedingter Frührenten.................. 37 2.2.2 Folgen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt .................................... 42 2.2.3 Individuelle Auswirkungen........................................................ 45 2.3 Fazit ................................................................................................ 49 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente ................................... 53 3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell ...... 56 3.1.1 Einflüsse auf den Berentungsprozess......................................... 59 3.1.2 Bekannte Risikofaktoren der krankheitsbedingten Frührente .... 61 3.2 Fazit ................................................................................................ 67 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen .................................. 69 4.1 Die Definition von Stress................................................................ 70 4.2 Auslöser der Stressreaktion: Stressoren.......................................... 74 4.3 Stressoren im Berufsleben .............................................................. 75 4.4 Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen............................ 79 4.4.1 Modellspezifikation und empirische Ergebnisse........................ 80 4.5 Fazit ................................................................................................ 88 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand . 89 5.1 Studienüberblick ............................................................................. 95 5.2 Studienergebnisse ........................................................................... 97 5.3 Zusammenfassung .......................................................................... 99 5.4 Forschungsbedarf und Forschungsfragen ..................................... 100
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Inhaltsverzeichnis
Empirischer Teil – Studiendesign ......................................................... 103 6.1 Studientelegramm ......................................................................... 105 6.2 Fälle und Kontrollen: die Studienpopulation ................................ 108 6.3 Grundlagen der Belastungsmessung ............................................. 113 6.3.1 Job-Exposure-Matrizen (JEM): Methode ................................ 114 6.3.2 JEM und psychosoziale Arbeitsbelastungen ............................ 116 6.3.3 Von der JEM zum Analysedatensatz ....................................... 119 7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung ............................. 123 7.1 Geschichte und Idee der BIBB/IAB-Erhebungen......................... 123 7.2 Erhebungsmethoden ..................................................................... 125 7.2.1 Die Bewertung der Verallgemeinerbarkeit .............................. 126 7.2.2 Die Datenerhebung – Eine persönlich-mündliche Befragung.. 132 7.3 Fazit: Die BIBB/IAB-Erhebungen als Grundlage der JEM.......... 134 7.4 Stichprobenbeschreibung für die Erstellung der Job-ExposureMatrizen........................................................................................ 134 8 Aufbau der Matrizen: Arbeitsplatztypisierung ................................... 139 8.1 Die Berufsklassifikation ............................................................... 140 8.2 Klassifikation der Wirtschaftszweige ........................................... 140 8.3 Bildung von Arbeitsplatztypen ..................................................... 141 8.4 Fazit .............................................................................................. 143 9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen ....................................... 145 9.1 Fragebogen zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen........... 145 9.2 Proxy-Messungen: Beispiele ........................................................ 149 9.3 Entwicklung der Messinstrumente für die JEM............................ 153 9.3.1 Itemauswahl ............................................................................. 153 9.3.2 Skalenbildung .......................................................................... 157 9.3.3 Einfügen der Belastungsdaten in die JEM ............................... 159 9.4 Qualität der Messinstrumente ....................................................... 160 9.4.1 Objektivität .............................................................................. 161 9.4.2 Reliabilität................................................................................ 162 9.4.3 Validität ................................................................................... 164 9.4.4 Zusammenfassende Bewertung der Qualität............................ 177 10 Der Analysedatensatz ............................................................................. 179 10.1 Erhebung der Berufsbiographie .................................................... 179 10.2 Zusammenfügen aller Datensätze ................................................. 181 10.2.1 Qualität der berufsbiographischen Angaben ........................ 183 10.2.2 Dauer der Belastungsmessung – Zeit unter Risiko ............. 184
Inhaltsverzeichnis
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11 Ergebnisse ............................................................................................... 187 11.1 Statistische Methoden................................................................... 188 11.2 Modellbildung .............................................................................. 191 11.2.1 Die abhängige Variable: Frühberentungsfälle...................... 191 11.2.2 Kontrollfaktoren: sozialer Status.......................................... 193 11.2.3 Kontrollfaktoren: physische Arbeitsbelastungen ................. 195 11.2.4 Weitere Kontrollfaktoren ..................................................... 199 11.2.5 Der Haupt-Risikofaktor: psychosoziale Arbeitsbelastungen 199 11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse..................... 201 11.3.1 Diagnosespezifische Auswertungen..................................... 207 11.3.2 Subgruppenanalysen ............................................................ 215 11.4 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse............................. 227 12 Diskussion................................................................................................ 229 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 241
Vorwort
„Wie hätte Hans Castorp die Arbeit nicht achten sollen? (...) Aber eine andere Frage war, ob er sie liebte: denn das konnte er nicht (...) und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm nicht bekam. Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Nerven, sie erschöpfte ihn bald, und ganz offen gab er zu, daß er eigentlich viel mehr die freie Zeit liebte.“ Thomas Mann, Der Zauberberg, 1924, S.52
Hans Castorp, der Held in Thomas Manns berühmtem Roman, hatte das Glück, dass er sich als reicher Erbe der ungeliebten, nervenzehrenden Arbeit nicht unnötig aussetzen musste. Nun ist Anstrengung und Erschöpfung noch lange nicht mit gesundheitlicher Schädigung gleichzusetzen, aber nach heutigem Wissen sind zumindest bestimmte Formen psychosozialer Arbeitsbelastungen durchaus als Gefahr anzusehen, da sie Stressreaktionen des Körpers provozieren können. Dieser Stress wiederum kann Erkrankungen auslösen. In diesem Buch wird die Verbindung zwischen Arbeitsbedingungen, Stress und Gesundheit speziell für das Phänomen der krankheitsbedingten Frühberentung betrachtet. Dies ist zum einen als Beitrag zur allgemeinen Arbeitsstressforschung gedacht. Zum anderen geht es um das Verständnis der Entstehung der krankheitsbedingten Frührente, die eine erhebliche Belastung für die betroffenen Menschen, die Unternehmen und das Sozialsystem bedeutet. Entstanden ist dieses Buch als Promotionsarbeit an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Möglich war dies nur durch die Unterstützung meiner beiden Betreuer Johannes Siegrist und Christoph Strünck, denen ich herzlich danken möchte. Auch bin ich dankbar für die freundliche Aufnahme als Kooperationspartner ins Projekt „Kosten der Frühberentung“ durch Wolfgang Bödeker und die weiteren Teammitglieder, Heiko Friedel, Christoph Röttger und Michael Friedrichs. Für Einblicke in die Geheimnise des Rentenrechts und andere fachliche Hilfe danke ich Markus Boente, Edgar Kruse, Ingo Menrath, Frank Pühlhofer, Andreas Rödel, Andreas Stang, Pablo Verde, Morten Wahrendorf, Simone Weyers und Susanne Wrenger-Küfen. Olaf von dem Knesebeck hat sich mit dieser Arbeit in besonderem Maße beschäftigt und sich Zeit für Diskussionen genommen. Prof. Alexandre Marius Dees de Sterio bin ich für seine inspirierende Einstellung zur Wissenschaft dankbar. Geduld, Unterstützung und Korrekturhinweise bekam ich von Edda und Marlene Dammmüller und Karin und Giovanni Dragano danke ich für die Idee mit dem Dottore.
1 Einleitung 1.1 Einleitung
Wer mehr als 60 Jahre alt ist und noch einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgeht, gehört heutzutage einer Minderheit an. Die Mehrzahl der Menschen ist in diesem Alter bereits berentet: 2004 gingen gesetzlich versicherte Beschäftigte in Deutschland im Schnitt mit 60,8 Jahren in den Ruhestand (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 2005, S.65). Nun ist es erklärter Wille der seit November 2005 amtierenden Bundesregierung, das Renteneintrittsalter anzuheben. Erreicht werden soll dies durch die Heraufsetzung der gesetzlichen Altersgrenze für die reguläre Altersrente, die laut der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, CSU und SPD von 2012 an schrittweise von 65 auf 67 Jahre erhöht werden soll (2005, S.96f.). Mit dieser Maßnahme wird eine Politik fortgeschrieben, die seit den 1990er Jahren von allen deutschen Regierungen verfolgt wurde und die darauf setzt, durch gesetzliche Regelungen das mittlere Rentenzugangsalter nach oben zu verschieben, wobei man sich bisher vor allem die Abschaffung von Vorruhestandsregelungen zur Aufgabe gemacht hat. Im europäischen Rahmen steht Deutschland mit diesen Bestrebungen keineswegs allein. So haben sich die in der Europäischen Kommission vertretenen Mitgliedsländer der Europäischen Union in den Ratsbeschlüssen von Lissabon 2000 und Stockholm 2001 explizit die Steigerung der Beschäftigungsquote Älterer und die Anhebung des durchschnittlichen Austrittsalters aus dem Erwerbsleben auf die Fahnen geschrieben (Rat der Europäischen Union 2002), wenn auch die politischen Eingriffe zum Erreichen der Vorgaben von Staat zu Staat sehr verschieden sind. Hinter all diesen Initiativen steht aber die Absicht, die Rentenbezugsdauer zu verkürzen, indem Versicherte erst später in die Rente wechseln, um auf diese Weise die Rentenkassen zu entlasten. Begründet wird dies mit den sich abzeichnenden Folgen des demographischen Wandels für die Finanzierung der Sozialsysteme. Zur Zeit sind fundamentale Umwälzungen in der Bevölkerungsstruktur vieler entwickelter Industrieländer im Gange, die im Kern dadurch zu beschreiben sind, dass der Anteil der älteren Bevölkerung immer größer wird, während der der jüngeren Bevölkerung sinkt. In die Sprache der Rentenversicherung übersetzt heißt das, dass immer mehr Leistungsempfängern immer weniger Leistungserbringer gegenüberstehen. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob das genannte Ziel durch ein gesetzliches Anheben von Altersgrenzen erreicht werden kann (Naegele 2001a). Ganz
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1 Einleitung
abgesehen davon, dass die derzeitige Altersarbeitslosigkeit und die Personalpolitik vieler Betriebe befürchten lassen, dass zumindest in den nächsten Jahren ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt weiterhin schlechte Chancen haben werden (Koller 2001 ; OECD 2005a, S.3f.), muss kritisch beurteilt werden, ob im Moment überhaupt die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass Menschen bis ins hohe Alter arbeiten können. Ein entscheidender Parameter hierbei ist die Gesundheit. Chronische und akute Erkrankungen nehmen mit steigendem Alter zu, und sie führen nicht selten zu einer völligen Erwerbsunfähigkeit, deren Konsequenz dann der Ausstieg aus dem Erwerbsleben in Form einer krankheitsbedingten Frühberentung ist. Diese spezielle Rente, die in Deutschland unter dem Titel ‚Rente wegen Erwerbsminderung’, firmiert, soll Personen ein Auskommen sichern, die aufgrund einer schweren Erkrankung nicht mehr oder nur noch in geringem Umfang am Arbeitsleben teilhaben können. Aktuell machen Renten wegen Erwerbsunfähigkeit ungefähr ein Fünftel aller Neurenten aus, und sie treffen vor allem Männer und Frauen im Alter zwischen 45 und 60 Jahren (VDR 2005, S.121f.). Damit trägt diese Rentenform substantiell zur Senkung des durchschnittlichen Renteneintrittsalters bei. Ein Gegensteuern mittels rentenrechtlicher Eingriffe ist hier aber schwierig, denn wenn die Zugangsbarrieren zu hoch liegen, ist die Sicherungsfunktion dieser Rente in Gefahr. Eine Anhebung der Lebensarbeitszeit wird daher ohne flankierende Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit der Beschäftigen nur begrenzt möglich sein (Morschhäuser 2002, S.7 ; Salonen, Arola, Nygard, Huhtala, Koivisto 2003). Es müssen also zusätzliche Wege gefunden werden, um eine vorzeitige Berentung aus Krankheitsgründen zu verhindern. Dies ist selbstverständlich nicht nur im Interesse des solidarisch finanzierten Rentensystems, sondern hat auch eine hohe Public Health Relevanz, da es letztlich um die Vermeidung von Krankheit und Behinderung und um Betroffene geht, die in ihrer Lebensgestaltung erheblich beeinträchtigt sind. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, denn nach heutigem Wissen tritt ein wesentlicher Teil der krankheitsbedingten Frührenten nicht schicksalhaft auf, sondern wird durch arbeitsbedingte Gefährdungen mit verursacht (Blekesaune & Solem 2005; Krause et al. 1997; Krokstad & Westin 2004; Stattin 2005). Bisher sind von der Forschung vor allem physische Belastungen, wie beispielsweise körperliche Fehlbeanspruchungen, Lärm oder Kontakt zu giftigen Substanzen, als Risikofaktoren identifiziert worden. Relativ wenig ist dagegen darüber bekannt, ob auch gesundheitsgefährdender Stress, der durch ein ungünstiges psychosoziales Arbeitsumfeld ausgelöst wird, zu den Ursachen der krankheitsbedingten Frührente gezählt werden kann. Diese Arbeit beschäftigt sich mit dieser Frage.
1.1 Einleitung
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Antworten erscheinen hier wichtiger denn je, denn Studien zur Verbreitung von psychosozialen Arbeitsbelastungen zeigen, dass ihnen immer mehr Erwerbstätige gleich welcher Altersstufe ausgesetzt sind. Die „Europäische Umfrage über die Arbeitsbedingungen“, die seit 1990 in fünfjährigen Abständen als Befragung der Erwerbsbevölkerung in den EU-Mitgliedsländern durchgeführt wird, fand beispielsweise, dass im Jahr 2000 56% der Beschäftigten angaben, mindestens ein Viertel ihrer Arbeitszeit ein sehr hohes Arbeitstempo vorlegen zu müssen und dass 60% mindestens ein Viertel ihrer Zeit unter hohem Termindruck standen (Merllié & Paoli 2002a, S.16). Bei der Befragung zehn Jahre zuvor lagen die entsprechenden Anteile noch bei 47% und 49%. Als Folge gaben in der 2000er Erhebung 69% der Personen, deren Arbeit durch Zeitdruck geprägt war, an, dass sie ihre Gesundheit dadurch gefährdet sehen (ebd. S.15). Es ist naheliegend, dass die weite Verbreitung und der mögliche Anstieg psychosozialer Belastungen im Zeitverlauf eng mit der übergeordneten wirtschaftlichen Entwicklung verbunden ist. Die wirtschaftlichen Zusammenhänge sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend komplexer geworden, da sich Finanz-, Waren- und Arbeitsmärkte immer globaler organisieren und weniger kalkulierbar geworden sind (vgl. Sauter, Brightwell, Colligan, et al. 2002). Für viele Unternehmen ergeben sich daraus durchaus Chancen, gleichzeitig steigen aber die Risiken, da der nationale und internationale Konkurrenzdruck zunimmt (Burke & Cooper 2000 ; Westerlund 2005, S.15ff.). Diese Entwicklung ist bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Arbeitsplätze zu spüren. Hierzu gehört eben auch, dass bestimmte psychosoziale Arbeitsbelastungen, von denen bekannt ist, dass sie Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden haben, durch den aktuellen Wandel verstärkt werden. Die wichtigen äußeren Quellen solcher Belastungen lassen sich anhand von vier Stichworten kurz beschreiben: Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitsanforderungen, Arbeitsinhalte und Karriereaussichten. Das erste Stichwort ist die Arbeitplatzunsicherheit, die infolge des um sich greifenden Personalabbaus, der entweder als Mittel der Gewinnmaximierung oder als Reaktion auf wirtschaftliche Schwierigkeiten erfolgt, für viele abhängig Beschäftigte zunimmt (Sverke, Hellgren, Näswall 2005). Verstärkt wird die Unsicherheit noch dadurch, dass aufgrund der angespannten Arbeitsmarktlage in vielen Ländern kaum Aussicht auf eine schnelle Wiederbeschäftigung besteht, sollte der eigene Arbeitsplatz tatsächlich verloren gehen. Die nächste Ebene ist die der quantitativen Arbeitsanforderungen. Hier scheint die Belastung ebenfalls eher zuzunehmen (Benach, Muntaner, Benavides, Amable, Jodar 2002 ; Rantanen 1999). Grund sind u.a. Rationalisierungs- und Technisierungstendenzen von Arbeitsabläufen, die darin münden, dass an zahlreichen Arbeitsplätzen mehr und schneller gearbeitet werden muss (European Foundation for the Improvement of Living and Working
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Conditions 2005). Auch die Arbeitsinhalte verändern sich. Infolge der sektoralen Verschiebung werden Arbeitsplätze, an denen hauptsächlich körperliche Tätigkeit anfällt, seltener und Berufe mit eher sozioemotionaler Beanspruchung häufiger (Jansen & Müller 2000). Das letzte Stichwort sind die Karrierechancen. Berufskarrieren verlaufen heute nicht mehr so gradlinig wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Häufiger Arbeitsplatzwechsel, Arbeitslosigkeitsperioden und die Arbeit in Berufen, die nicht der eigenen Qualifikation entsprechen, sind gängige Erfahrungen geworden (Benach et al. 2002). Hierzu zählt auch die Tendenz, dass unbefristete Vollzeitstellen zugunsten befristeter und flexibler Arbeitsverträge umgewidmet werden (European Agency for Safety and Health at Work 2002b). Zu den Karrierechancen gehört zudem die finanzielle Seite. So lassen sich zumindest in einigen Industrieländern sinkende oder stagnierende Reallöhne beobachten, die im Zusammenspiel mit den oben erwähnten Faktoren dazu führen, dass aus mehr Arbeit bei höherer Unsicherheit weniger monetärer Nutzen resultiert. Aus der Arbeitsstressforschung ist bekannt, dass all diese Bedingungen prädestiniert sind, chronischen Stress auszulösen. Stress wiederum kann die psychische und physische Gesundheit nachhaltig schädigen, wobei aber anzumerken ist, dass die individuellen Reaktionen auf Arbeitsbedingungen unterschiedlich ausfallen, und dass es vor allem ganz bestimmte Konstellationen ungünstiger Arbeitsbedingungen sind, die die Gefahr chronischer Stressreaktionen erhöhen. Nichtsdestotrotz scheint nach heutigem Wissen das psychosoziale Belastungspotential in modernen kapitalistischen Wirtschaftssystemen hoch zu sein, und somit liegt es durchaus im Rahmen des Möglichen, dass ein gewisser Teil des krankheitsbedingten Frühberentungsgeschehens auf diese Form der Arbeitsbelastung zurückzuführen ist. Der positive Aspekt dieser Vermutung ist, dass sich damit neue Möglichkeiten für die Prävention der Frührente ergeben, von deren Erfolg die Beschäftigten, die Arbeitgeber und die Solidargemeinschaft gleichermaßen profitieren würden. Zunächst muss aber getestet werden, ob die Hypothese, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen ein Risikofaktor für die krankheitsbedingte Frührente sind, einer empirischen Prüfung standhält. Bisher sind Untersuchungen hierzu rar, da die Erforschung der Zusammenhänge nur mit relativ aufwändigen Methoden zu leisten ist. In diesem Buch soll eine neue Studie zur Thematik vorgestellt (Kapitel 6-11) und zugleich ein systematischer Überblick über den bisherigen Forschungsstand gegeben werden (Kapitel 2-5). Der theoretische Teil beginnt mit der Definition der krankheitsbedingten Frührente. In Kapitel 2 werden zunächst die rechtlichen Grundlagen beschrieben. Dabei geht es auch um den medizinischen Gehalt und um die Sicherheit, mit der die im Rentenverfahren gestellten Diagnosen als Indiz für eine tatsächlich vorhandene Erkrankung gewertet werden
1.1 Einleitung
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können. Es klang bereits an, dass die Aktualität des Themas mit der derzeitigen demographischen Entwicklung zusammen hängt. Welche Bedeutung der krankheitsbedingten Frührente für die Rentenversicherung und ihre Finanzierung zukommt, wird ebenfalls in Kapitel 2 behandelt. Ausgedehnt wird diese Betrachtung zudem auf die Perspektive der von einer Frührente betroffenen Personen sowie auf die Perspektive der Wirtschaft. Kapitel 3 widmet sich dann den möglichen Entstehungswegen der krankheitsbedingten Frührente. Es wird ein Prozessmodell vorgestellt, das die Vorgänge, die zur Berentung führen, beschreiben soll und das mögliche Wirkungspunkte für Risikofaktoren benennt. Diese Schilderung wird auch genutzt, um einige bekannte Risikofaktoren der krankheitsbedingten Frührente, wie den sozialen Status oder physische Arbeitbelastungen, vorzustellen. Psychosoziale Arbeitsbelastungen kommen dann im Kapitel 4 ins Spiel. In einem ersten Schritt werden der Begriff Stress näher definiert und die biophysiologischen und psychologischen Grundlagen der gesundheitsschädigenden Stressreaktionen beschrieben. Darauf folgt eine Betrachtung der Rolle der Arbeitswelt bei der Entstehung von Stress. Hier wird mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen auch ein theoretisches Modell zum Zusammenhang zwischen den psychosozialen Bedingungen der Arbeit, Stressreaktionen und Erkrankung vorgestellt, das in der empirischen Untersuchung zur Messung von Arbeitsbelastungen eingesetzt wurde. Kapitel 5 gibt dann einen Überblick über die bisherigen Studien, die sich direkt mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob psychosoziale Arbeitsbelastungen ein Berentungsrisiko darstellen. Aus diesem Vorwissen werden dann Forschungsfragen für die empirische Untersuchung abgeleitet. Damit endet die theoretische Betrachtung, die in dieser auf das konkrete Ereignis der krankheitsbedingten Frührente bezogenen Form in der Literatur bisher nicht vorlag. In den Kapiteln 6 bis 10 wird dann zunächst die Methode der Studie ausführlich dargelegt. Es handelt sich um eine eigene Teiluntersuchung innerhalb eines übergeordneten Projekts mit dem Titel „Kosten der Frühberentung – Abschätzung des Anteils der Arbeitswelt an der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit und der Folgekosten“. Gefördert wurde das Projekt, durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), die Durchführung lag beim ‚Team Gesundheit - Gesellschaft für Gesundheitsmanagement mbH’, einer Einrichtung u.a. des BKK Bundesverbandes. Die Studie ist als retrospektive Fall-KontrollUntersuchung angelegt, bei der die Arbeitsbelastungen mittels eines indirekten Zuordnungsverfahrens gemessen wurden. Solch ein Design kommt in der empirischen Sozialforschung eher selten zum Einsatz, insofern wird der methodischen Darstellung viel Raum gewidmet. In Kapitel 6 werden zunächst allgemeine Charakteristika der Studie, in der 29.852 Neurentner wegen Erwerbsunfähigkeit aus dem Jahr 1999 mit 268.668 nicht berenteten Kontrollenpersonen verglichen
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1 Einleitung
wurden, geschildert. Neben der Vorstellung der Studienpopulation aus Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Methode der Belastungsmessung enthält das Kapitel auch eine Kurzbeschreibung des Designs für eilige oder an methodischen Fragen nur mäßig interessierte Leser. Psychosoziale Belastungen wurden in der Studie indirekt über eine sogenannte Job-ExposureMatrize erfasst und den Studienpersonen retrospektiv über einen Zeitraum von 24 Jahren zugeordnet. Die Matrizen enthalten Durchschnittswerte für berufsbezogene Belastungen, die aus vier großen Erhebungen der deutschen Erwerbsbevölkerung stammen. Eine Beschreibung dieser Erhebungen, die vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchgeführt wurden, findet sich in Kapitel 7. Das kurze Kapitel 8 widmet sich der Berufsstruktur der Job-Exposure-Matrizen. Darauf folgt mit Kapitel 9 eine Schilderung der Messung psychosozialer Belastungen mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Das Kapitel ist umfangreich und enthält eine genaue Beschreibung des Messverfahrens und einen ‚kleinen Ergebnisteil’ zur Teststatistik der Instrumente. Für die Untersuchung wurden verschiedene Datenquellen der Rentenversicherungsträger, der Sozialversicherung und der BIBB/IAB-Erhebungen kombiniert. Wie die Daten zum endgültigen Auswertungsdatensatz zusammengeführt worden sind, verrät Kapitel 10. Die mit diesem Datensatz gewonnenen Ergebnisse sind in Kapitel 11 dargestellt. Das sind zuvorderst die Resultate der statistischen Analysen zur Hauptfragestellung, ob die Arbeit in Berufen mit einem hohen psychosozialen Belastungspotential mit dem Risiko einher geht, ein krankheitsbedingter Frühberentungsfall zu werden. Darüber hinaus werden diagnosespezifische Auswertungen und verschiedene Subgruppenanalysen gezeigt. Die Diskussion der Ergebnisse und der bei der Interpretation zu berücksichtigenden methodischen Besonderheiten machen den Hauptteil des letzten Kapitels 12 aus. Den Schlusspunkt setzen dann Überlegungen, welche Bedeutung die Ergebnisse für die Prävention der krankheitsbedingten Frührente haben können.
2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
Die Invaliditätsrente ist ein wichtiges Element der sozialen Sicherung in Wohlfahrtsstaaten, denn sie ermöglicht die Existenzsicherung in einer schweren Notlage, wenn der Lebensunterhalt nicht mehr durch die eigene Arbeitskraft erworben werden kann. In der Geschichte des Sozialstaates ist daher der Schutz gegen Verarmung infolge von Krankheit seit jeher ein zentraler Aspekt und bereits antike Kulturen kannten staatlich organisierte Formen der Unterstützung von arbeitsunfähigen Mitgliedern der Gemeinschaft (Lampert & Althammer 2004, S.3ff.). Heute besitzen alle entwickelten Industrienationen und zahlreiche Schwellenländer ausgereifte Systeme der Invaliditätsrente, die sich zwar in der Finanzierungsform, der rechtlichen Ausgestaltung und in der Reichweite der davon profitierenden Personengruppen stark unterscheiden, im Kern aber alle denselben Zweck erfüllen sollen, nämlich ein aufgrund von Krankheit oder Behinderung ausfallendes Erwerbseinkommen durch Zahlungen einer Rentenkasse auszugleichen oder gar ganz zu ersetzen (Stattin 2005 ; VDR 2003a). Derzeit wird die Invaliditätsrente von der Wissenschaft vor allem im Hinblick auf ihre sozialpolitische, rechtliche und volkswirtschaftliche Bedeutung betrachtet. Die Herausforderung, welche die fortschreitende Alterung der Bevölkerung vieler Länder für die zukünftige Finanzierbarkeit der Rentensysteme bedeutet, ist dabei der Motor des Interesses. Auch wenn diese übergeordnete Problemlage nicht ausgeblendet wird, ist die Perspektive dieser medizinsoziologischen Arbeit dennoch eine andere. Ihr Gegenstand ist die Suche nach Einflussfaktoren auf das Berentungsrisiko und der spezielle Ort der Suche sind die psychosozialen Bedingungen, unter denen Erwerbstätige ihrer Arbeit nachgehen. Psychosoziale Arbeitsbedingungen können sich unter bestimmten Voraussetzungen negativ auf die Gesundheit auswirken, was letztlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine manifeste Krankheit auftritt. Diese wiederum kann die berufliche Leistungsfähigkeit soweit einschränken, dass nur noch der Ausweg in die Invaliditätsrente bleibt. Invaliditätsrente wird also vor allem als ein Maß für das Krankheitsgeschehen in der arbeitenden Bevölkerung interpretiert. Diese Sichtweise muss begründet werden, denn wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird, hat die krank-
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2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
heitsbedingte Frührente weit mehr Facetten, als ihr Name vermuten ließe. Vor Diskussion und Analyse möglicher Belastungsfaktoren steht also die genaue Definition der Zielgröße krankheitsbedingte Frührente, so wie sie in modernen Sozialsystemen verstanden wird. Zuvorderst muss die Frage beantwortet werden, ob die Gewährung einer Invaliditätsrente einen sicheren Rückschluss darauf erlaubt, dass die Person tatsächlich aufgrund einer neu aufgetretenen Krankheit ihre Arbeit nicht mehr weiterführen kann oder ob die Gesundheit vielleicht gar keine entscheidende Rolle spielt. Letzteres wäre z.B. der Fall, wenn Erwerbstätige bereits mit leichten Erkrankungen in die Rente ausweichen könnten, etwa weil sich ihr Arbeitgeber kostengünstig älterer Mitarbeiter entledigen will oder weil in einer Situation drohender bzw. eingetretener Arbeitslosigkeit eine Reaktion nötig ist1. Für eine wissenschaftliche Betrachtung der Ursachen der krankheitsbedingte Frührente ist es wichtig zu wissen, welche Option zumindest überwiegend zutrifft, da ihnen jeweils verschiedene Verursachungswege vorausgehen. Daran schließen sich methodische Überlegungen an, denn die Erhebung der Zielgröße krankheitsbedingte Frührente erfolgt ja nicht durch die Wissenschaftler, sondern in der Regel durch amtliche Stellen, die in einem Rentenverfahren klären, ob eine Rente gewährt wird oder nicht. Die Organisation und die zugrundeliegenden Prinzipien dieses Verfahrens geben vor, wie verlässlich die gestellten Diagnosen sind und welche Zugangsvoraussetzungen ein Antragsteller oder eine Antragstellerin2 erfüllen muss. Um zu einer klaren Aussage über den Forschungsgegenstand dieser Arbeit zu kommen, wird im Folgenden detailliert auf die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen und auf das Verfahren zur Prüfung der Anspruchsberechtigung eingegangen. Anschließend soll definiert werden, was unter der Kategorie krankheitsbedingte Frührente zu verstehen ist und welche Aussagen sich mit Frühberentungsdaten treffen lassen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den speziellen deutschen Verhältnissen, denn im empirischen Teil werden Berechnungen vorgestellt, die auf Daten der deutschen Rentenversicherung beruhen. Da die Forschung zu den Ursachen der Frührente aber international ist, kommen in einem kurzen Exkurs auch die institutionellen Regelungen in anderen europäischen Ländern zur Sprache. Am Ende des Kapitels wird die Frührente im Kontext der aktuellen Diskussion über die demographische Alterung betrachtet. Es 1
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Die Diskussion mag denjenigen bekannt vorkommen, die sich mit der Arbeitsunfähigkeit (AU) als Forschungsgegenstand beschäftigt haben. Insbesondere kurzzeitige Krankschreibungen gelten als problematische Indikatoren für das tatsächliche Krankheitsgeschehen, da die Diagnosestellung nicht immer eindeutig ist und die AU teilweise mehr das subjektive Wohlbefinden und die allgemeine Motivation als eine manifeste Erkrankung wiederspiegelt (Friedel 2002). Männer und Frauen sind gleichermaßen von der krankheitsbedingten Frührente betroffen. Soweit es im Text nicht explizit erwähnt wird, sind daher immer beide Geschlechter angesprochen, auch wenn aus Gründen der Lesbarkeit nicht immer beide Formen verwendet werden.
2.1 Die Organisation der Invaliditätsrente in Deutschland
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werden zeitliche Trends dargestellt und die Folgen der Frührente aus der Sicht der Betroffenen, der Wirtschaft und des sozialen Sicherungssystems beschrieben. Insgesamt wird das Phänomen ‚krankheitsbedingte Frührente’ aus verschieden Perspektiven betrachtet, da eine genaue Definition die Vorbedingung für das Verständnis der Zusammenhänge zwischen der Berentung und ihrer Ursachen ist3. Ein solch breit angelegter aktueller Überblick, der rechtliche, soziale, wirtschaftliche und medizinische Themen umfasst, fehlt derzeit bzw. haben sich gegenüber früheren Arbeiten, die dies zum Gegenstand hatten, die Rahmenbedingungen stark geändert. Die vielen einzelnen Quellen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammen zu bringen, ist das Hauptanliegen dieses Kapitels. Dabei sollte auch deutlich werden, dass sich die Auseinandersetzung mit der krankheitsbedingten Frührente lohnt. Im Jahr 2004 mussten in Deutschland 169.460 gesetzlich Versicherte ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen ganz oder teilweise aufgeben (s.u.). Angesichts des sich hinter dieser Zahl verbergenden persönlichen Leids und der individuellen sowie kollektiven Kosten, die durch Arbeitsausfall und Rentenzahlungen entstehen, ist eine Erforschung der Hintergründe dringend geboten, denn erst eine wissenschaftliche Aufklärung der Zusammenhänge erlaubt es, wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung berufsbedingter Invalidität zu begründen, zu planen und durchzuführen.
2.1 Die Organisation der Invaliditätsrente in Deutschland Seit der Wiedervereinigung ist die Rente Gegenstand zahlreicher, teils weitreichender politischer Reformen gewesen und die Invaliditätsrente blieb nicht ausgespart. Michaelis und Thiede kommen angesichts der Veränderungsfreude sogar zu der optimistischen Einschätzung, dass von dem „viel beschworenen Reformstau im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung keinesfalls die Rede sein kann“ (Michaelis & Thiede 2000). Für die Invaliditätsrente war besonders das am 01.01.2001 in Kraft getretene Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (EM-Reformgesetz) bedeutsam, mit dem das alte 3
Terminologie: Der Begriff ‚Rente’ kann unterschiedliche Bedeutungen haben und für einen rechtlichen Status, eine ganze Lebensphase, eine Geldanlage, eine Finanzierungsquelle oder für ein Ereignis stehen (Kohli & Rein 1991). In dieser Arbeit ist sie vor allem als Ereignis von Interesse, nämlich als der Moment des Übergangs von der Erwerbstätigkeit zum Bezug einer Rente aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit. Als Sammelbegriff hierfür wird der im internationalen Sprachgebrauch übliche Begriff ‚krankheitsbedingte Frührente’ (disability retirement) oder alternativ ‚Invaliditätsrente’ verwendet. Nur wo es um konkrete, rechtlich genau definierte Rentenarten in bestimmten Ländern geht, werden diese beim Namen genannt (z.B. die deutsche „Rente wegen Erwerbsminderung“).
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2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
System der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten abgeschafft und durch eine neue Form der Invaliditätsrente ersetzt wurde4. Abgesehen von der politischen Dimension hat dies auch Auswirkungen auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Berentungsursachen, da sich in einem kurzen Zeitraum der rechtliche Rahmen, ob nun eine Erkrankung als berentungswürdig gilt oder nicht, verändert hat. Aus diesem Grund werden im Folgenden die entscheidenden rechtlichen Grundlagen vor und nach den Reformen vorgestellt5. Neben der Betrachtung der konkreten Gesetze wird auch auf den politischen Reformprozess selbst eingegangen, da sich in den Hauptlinien der Debatte einige interessante Eigenarten des deutschen Systems hinsichtlich der medizinischen Grundlagen der Berentung wiederspiegeln. Als Einstieg in die Thematik bietet es sich an, zunächst die krankheitsbedingte Frührente ganz allgemein im Gefüge des deutschen Sozialsystems zu verorten. In Deutschland ist das Netz der sozialen Sicherung zu großen Teilen nach dem Versicherungsprinzip angelegt: Als Mitglied zahlt man kontinuierlich Beiträge und wenn der Versicherungsfall eintritt, sei es nun Arbeitslosigkeit, ein bestimmtes Lebensalter oder eine Erkrankung, übernimmt die zuständige Versicherung die daraus resultierenden Kosten, d.h. sie zahlt beispielsweise das Arbeitslosengeld, die Rente oder die medizinische Behandlung. Die Absicherung gegen Invalidität ist Teil der gesetzlichen Rentenversicherung, die wiederum eine der Hauptsäulen der Sozialversicherung ist. Die praktische Organisation der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), die im wesentlichen auf den rechtlichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB) VI – ‚Gesetzliche Rentenversicherung’ basiert (i. f. zitiert nach: VDR 2003b), ist einem Zusammenschluss verschiedener Träger, der sogenannten „Deutschen Rentenversicherung“, übergeben worden6. Dieser ist für die Gewährung zahlreicher Leistungen zuständig, 4
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Die Invaliditätsrente hat in Deutschland eine Tradition, die bis in die Gründerjahre der Sozialversicherung in den 1880er Jahren zurückreicht (Lampert et al. 2004, S. 64ff.) und Kernelemente des ersten Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung vom 22. Juli 1889 haben sich trotz zahlreicher Reformen bis heute erhalten. Für das moderne Rentenrecht der Bundesrepublik Deutschland war das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 23.02.1957 konstituierend, mit dem auch die duale Verfahrensweise mit Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten geschaffen wurde (s.u.) (Voges 1994, S. 36f.). Im Kontext dieser Arbeit sind die alten Regelungen auch insofern von Belang, als die Analysen, die im empirischen Teil vorgestellt werden, auf Daten von Frühberentungsfällen des Jahres 1999 basieren, die zu diesem Zeitpunkt noch nach der alten Gesetzgebung behandelt wurden. Die „Deutsche Rentenversicherung“ existiert erst seit Oktober 2005. Bis dahin gab es drei getrennte Zweige: a) die Arbeiterrentenversicherung, die sich aus 22 regionalen Landesversicherungsanstalten (LVA), der Seekasse und der Bahnversicherungsanstalt zusammensetzte; b) die Angestelltenrentenversicherung, die von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) getragen wurde und c) die von der Bundesknappschaft organisierte knappschaftliche Rentenversicherung (KnRV) für Versicherte im Bergbau. Als Dachverband der Träger fungierte der Verband Deutscher Rentenversicherer (VDR), der nun ebenfalls in der Deutschen Rentenversiche-
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vor allem aber für Renten wegen Alter, Invalidität und Tod sowie für Rehabilitationsleistungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (Stahl 2003). Die wichtigste dieser Leistungen ist die Regelaltersrente, die Versicherte dann beantragen können, wenn sie die vorgeschriebene Altersgrenze von 65 Jahren überschritten haben und eine allgemeine Wartezeit7 von mindestens 5 Jahren nachweisen können (§§ 35, 50 SGB VI). Diese Rentenform ist vom Gesetzgeber als der Normalfall der Alterssicherung vorgesehen, was aber, wie weiter unten thematisiert wird, inzwischen nur noch eingeschränkt zutrifft, da es zahlreiche Möglichkeiten gibt, frühzeitig, d.h. vor dem Erreichen der regulären Altersgrenze, eine Rente zu beziehen. Finanziert werden die Leistungen der gesetzliche Rentenversicherung im Umlageverfahren, d.h. die Ausgaben werden im Wesentlichen durch die an das Bruttoeinkommen gekoppelten Beiträge der noch aktiven Versicherten und ihrer Arbeitgeber (je zur Hälfte) gedeckt. Im Gegenzug erwerben die einzahlenden Versicherten Ansprüche auf zukünftige Leistungen, sollte in der Zukunft der Versicherungsfall eintreten (Lampert et al. 2004, S.280ff.). Ergänzt wird die Beitragsfinanzierung aber noch durch regelmäßige Zuschüsse des Bundes (BfA 2003b, S. 67ff.). Die gesetzliche Rentenversicherung steht im Prinzip allen potentiellen Beitragszahlern offen, doch tatsächlich bleibt dem größten Teil der Mitglieder keine Wahl, denn alle gegen Arbeitsentgelt beschäftigen Personen sind verpflichtet, sich in der GRV zu versichern (Lampert et al. 2004, S.266). Aber auch ohne ein Arbeitsentgelt zu beziehen, gehören weitere Personengruppen zum Kreis der Pflichtversicherten. Zuvorderst sind hier Eltern während der Kindererziehungszeiten, private Pflegepersonen, Wehr- oder Zivildienstleistende und Empfänger von Arbeitslosengeld zu nennen (Stahl 2003). Nicht versicherungspflichtig sind dagegen Beamte, geringfügig Beschäftigte, Schüler, sowie der überwiegende Teil der Selbständigen, da für diese Gruppen besondere rechtliche Regelungen gelten (VDR 2004, S. 17ff.)8. Neben diesen Ausnahmen ist die Mehrheit aller
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rung aufgegangen ist. Die Rechtsform der Träger war und ist die von Körperschaften des öffentlichen Rechts, mit den Prinzipien der Selbstverwaltung sowie der staatlichen Rechtskontrolle (VDR 2004, S.67ff.). Die Wartezeit ist die Zeit, in der ein Versicherter entweder Pflichtbeiträge in die GRV einbezahlt oder sogenannte Anrechnungszeiten gesammelt hat, in denen zwar keine Beiträge gezahlt wurden, die aber auf der Grundlage von Sonderregelungen zur Wartezeit beitragen (z.B. Kindererziehungszeiten) (SGB VI § 54-61). Zu den pflichtversicherten Selbständigen zählen nur wenige Gruppen, z.B. Hebammen oder Seelotsen. Selbständige können sich von der Versicherungspflicht befreien und in berufsgenossenschaftlichen Versorgungseinrichtungen versichern lassen. Beamte werden dagegen in der Regel über die steuerfinanzierte Beamtenversorgung abgesichert. Zwar haben auch versicherungsfreie Personen Möglichkeiten, in die GRV einzuzahlen (freiwillige Versicherung), dies wird aber nur von einer Minderheit in Anspruch genommen.
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Erwerbstätigen in Deutschland in der GRV versichert (ca. 82%; Stahl 2003, S.59) und wird daher im Falle der Invalidität durch sie alimentiert9.
2.1.1 Rentenarten bis 2001: Berufs- und Erwerbsunfähigkeit Zusammen mit der am Bruttolohn orientierten Altersrente führte der Gesetzgeber 1957 die Rente wegen gesundheitlich verminderter Erwerbsfähigkeit ein, die über einen Zeitraum von 44 Jahren die Absicherung für den Invaliditätsfall in Deutschland war. Genaugenommen handelte es sich um zwei verschiedene Rentenarten, die Berufsunfähigkeitsrente (BU-Rente) und die Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente). Berufsunfähigkeitsrente: Um eine solche Rente zu beziehen, musste die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung derart eingeschränkt sein, dass der oder die Versicherte in einem zumutbaren Beruf nur noch die Hälfte von dem hätte verdienen können, was ein hinsichtlich der Qualifikation vergleichbarer, aber ansonsten gesunder Mensch, in diesem Beruf hätte erreichen können (BfA 2003a, S. 23). Das Lebensalter war für diesen Rententyp nicht relevant, allerdings mussten Versicherte in den fünf Jahren vor Eintritt der Berufsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge10 gezahlt und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben. Welcher bei der Prüfung der BU als zumutbarer Beruf galt, musste jeweils im Einzelfall beurteilt werden. Berücksichtigt wurden dabei das verbliebene Leistungsvermögen des Versicherten sowie dessen berufliche Qualifikation (VDR 2001b, S.17). Es war aber nicht möglich, jeden beliebigen Arbeitsplatz als Alternative anzubieten, da die Versicherten in gewissem Umfang Berufsschutz genossen11 (VDR 1997, S.11 ; Zimmermann 1992). Allerdings galt jede Tätigkeit als zumutbar, für die der oder die Betroffene durch Leistungen der beruflichen Rehabilitation erfolgreich ausgebildet oder umgeschult werden konnte. Die Höhe der BU-Rente richtete sich nach dem eventuell noch erworbenen Hinzu9
Die folgenden Informationen zur Invaliditätsrente beschränken sich auf Rentenformen in der GRV. Die Praxis der Invaliditätsberentung in der Beamtenversorgung oder in den Berufsgenossenschaften ist aber trotz Unterschieden im Detail, vergleichbar (Lampert et al. 2004, S.294). Ein Ausflug in diese Sonderformen kann auch deswegen unterbleiben, weil im empirischen Teil dieses Buches nur Pflichtversicherte betrachtet werden. 10 Als Pflichtbeitragszeiten zählen Zeiten, in denen Beiträge aus einer versicherten Beschäftigung oder einer Transferleistung, dem Arbeitslosen- oder Krankengeld, einbezahlt wurden (BfA 2003a, S.7ff., 38). Anrechnungszeiten werden nicht dazu gerechnet (siehe oben: Wartezeit). 11 Die BU-Rente wurde auch ‚Prestigerente’ genannt, denn sie war für höher Qualifizierte leichter in Anspruch zu nehmen, da für sie viele niedrigqualifizierte Berufe als nicht zumutbar galten (Stichnoth & Wiechmann 2001).
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verdienst. Der war sogar explizit gewünscht, da die BU-Rente nur eine gesundheitsbedingte Minderung des Einkommens ausgleichen, es aber nicht vollständig ersetzen sollte (BfA 2003a, S.24). Je nach Umfang dieses Verdienstes wurden BU-Renten als Vollrenten, zu zwei Drittel oder zu einem Drittel gezahlt, wobei die volle BU-Rente zwei Drittel einer vollen Erwerbsunfähigkeitsrente betrug. Erwerbsunfähigkeitsrente: EU-Renten unterlagen hinsichtlich der Wartezeiten den gleichen Bedingungen wie BU-Renten. Der Unterschied lag im Grad der gesundheitlichen Beeinträchtigung: Erwerbsunfähigkeit stellte ein stärkeres Kriterium als Berufsunfähigkeit dar. Sie lag dann vor, wenn infolge einer Krankheit oder einer Behinderung in absehbarer Zeit keine Erwerbsarbeit mehr regelmäßig ausgeübt oder wenn zwar eine Tätigkeit ausgeübt, damit aber nur noch ein Einkommen von einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße12 erzielt werden konnte (§ 44 Abs. 2 SGB VI i.d.F. bis 31.12.2000). Da in einem solchen Fall die Rente das Einkommen ganz ersetzen musste, war ihre Höhe entsprechend angesetzt und orientierte sich in etwa an der der regulären Altersrente, wobei aber auch hier Abschläge auf eventuell erworbenen Hinzuverdienst fällig wurden (BfA 2003a, S.24f.). Vergleicht man die beiden Rentenarten hinsichtlich der Bedeutung der gesundheitlichen Schädigung, so ist der Anteil der zugrundeliegenden Erkrankung bei der BU geringer. Dies lag vor allem am Berufsschutz, der verhinderte, dass ein Versicherter mit einer Erkrankung, die ihn nur in seinem speziellen Tätigkeitsgebiet beeinträchtigte, auf einen anderen Beruf verwiesen werden konnte, für den die Erkrankung ohne Belang gewesen wäre. Allerdings – und dies leitet bereits zur Reformdiskussion über – war auch die EU nicht ausschließlich gesundheitlich bedingt. Der Grund war eine Sonderform der EU, die Rente bei verschlossenem Arbeitsmarkt, auch ‚Arbeitsmarktrente’ genannt, die erst nachträglich als Reaktion auf Urteile des Bundessozialgerichts von 1969 und 1976 eingeführt wurde (Voges 1994, S.35f.). Eine Arbeitsmarktrente bedeutete, dass Versicherte, die nur die gesundheitlichen Kriterien für eine BU erfüllten, ein volle EU-Rente beziehen konnten, wenn es mit vereinten Kräften des Rentenversicherers und der Arbeitsvermittlung innerhalb eines Jahres nicht gelang, einen leistungsgerechten Teilzeitarbeitsplatz für die Person zu finden (Stichnoth et al. 2001). Mit dieser Regelung wurde der bis dahin geltende Grundsatz, dass allein der Gesundheitszustand für die Beurteilung ausschlaggebend sein sollte, teilweise 12 Die Bezugsgröße ist ein zentraler Begriff der Sozialversicherung. Sie ist das Durchschnittsentgelt der gesetzlich Rentenversicherten des vorvergangenen Jahres (z.B. für 2004 aus 2002). Sie betrug 2004 in Westdeutschland 28.980 Euro und in Ostdeutschland 24.360 Euro (Lampert et al. 2004, S.265).
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aufgegeben und in bestimmten Fällen die realen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt als Entscheidungskriterium hinzugezogen (sog. „konkrete Betrachtungsweise“). Diese Sonderregelung stand bereits bei ihrer Einführung in der Kritik, da gemutmaßt wurde, dass diese Arbeitsmarktrenten in Zeiten großer Arbeitslosigkeit deutlich häufiger in Anspruch genommen werden würden, weil ein Teilzeitarbeitsmarkt für gesundheitlich eingeschränkte Personen schlichtweg nicht vorhanden sei, eine Einschätzung, die sich in der Praxis dann auch bestätigte (vgl. Voges 1994 ; Zimmermann 1992). Als Folge wurde die Invaliditätssicherung gewissermaßen konjunkturabhängig, was sich durch die kontinuierlich steigenden Arbeitslosenzahlen zunehmend zu einem Problem entwickelte. Waren 1988 noch 41.000 Arbeitsmarktrenten gewährt worden, so betrug die Zahl 1995 bereits 90.000, was in diesem Jahr 32,1% aller Erwerbsminderungsrenten ausmachte (von der Heide 1997). Entsprechend lauter wurden die Stimmen nach Reformen.
2.1.2 Renten wegen Erwerbsminderung Zusammen mit dem gesamten Rentenversicherungssystem kamen während der Reformdebatten der 90er Jahre auch die Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit auf den Prüfstand13. Zur Vorbereitung einer umfassenden Rentenreform setzte die damalige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP am 12.06.1996 eine Kommission zur „Fortentwicklung der Rentenversicherung“ ein, die aus Vertretern der Politik, der Wissenschaft, den Verbänden und den Rentenversicherern bestand und die den BU-/EU-Renten schlicht eine mangelnde Zukunftsfähigkeit attestierte (Michaelis 1998). Nach Meinung der Experten führte die konkrete Betrachtungsweise in erheblichem Umfang zu einer Belastung der Rentenversicherung durch Leistungen, die eigentlich von der Arbeitslosenversicherung hätten getragen werden müssen14 (Zimmermann 1992). Beispielsweise wurde 1999 fast ein Drittel aller EU-Renten aus arbeitsmarktbedingten Gründen 13 Die Neuregelung der krankheitsbedingten Frührenten war nur ein Aspekt unter vielen. Von Bedeutung war vor allem die stufenweise Heraufsetzung der vorzeitigen und flexiblen Altersgrenzen für die reguläre Alterrente auf einheitlich 65 Jahre (Bank, Brachmann, Kreikebohm, Schmidt 1990, S. 155ff.). Nach der damals geltenden Rechtslage war es für viele Versicherte möglich, bereits Jahre vor dem regulären Rentenalter von 65 Jahren eine vorzeitige Altersrente zu beziehen, z.B. als ‚Altersrente für Frauen’. Solche Möglichkeiten führten zu einer Senkung des durchschnittlichen Rentenalters und höheren Rentenkosten. Derzeit werden diese Formen der Frührente schrittweise abgeschafft und in Zukunft wird es nur noch in bestimmten Ausnahmen und in der Regel unter finanziellen Abschlägen auf die Rentenhöhe möglich sein, frühzeitig eine Altersrente zu beziehen (vgl. VDR 2004). 14 Auch der Bundesrechnungshof und der Bundesrat teilten diese Einschätzung, somit hatte das Reformvorhaben eine starke politische und administrative Rückendeckung (Michaelis 1998).
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bewilligt (VDR 2001b, S.5). Die Kommission empfahl daher eine Abkehr von der konkreten hin zur sogenannten „abstrakten Betrachtungsweise“, bei der die Feststellung der Erwerbsfähigkeit allein auf dem Gesundheitszustand beruht (Michaelis 1998). Diese Vorschläge der Kommission fanden relativ unverändert Eingang in das Rentenreformgesetz 1999, das neben der Invaliditätsrente noch zahlreiche andere, die Rente betreffende Änderungen, zum Gegenstand hatte (vgl. VDR 1997). Das Gesetz, das am 01.01.2000 hätte in Kraft treten sollen, wurde aber durch die im September 1998 neu gewählte Bundesregierung zunächst gestoppt. Die Neuregelung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wurde daraufhin aus dem Gesamtpaket herausgelöst und in ein eigenes Gesetz gefasst (EM-Reformgesetz). Es wurde am 20.12.2000 verabschiedet und ist seit dem 01.01.2001 rechtskräftig (Michaelis 1998, S.8ff. ; Michaelis et al. 2000 ; VDR 1997). Kern des Gesetzes ist die Abschaffung der BU- und EU-Renten15 und die Einführung einer gestaffelten Erwerbsminderungsrente. Prinzipiell orientiert sich die neue Erwerbsminderungsrente an den bisherigen Erwerbsunfähigkeitsrenten und deren rentenrechtlichen Grundlagen (Stichnoth et al. 2001). Erstens konnten so bereits etablierte Verfahren und Rechtspraktiken weiter angewandt werden, und zweitens entsprach das Prinzip der Erwerbsunfähigkeit (ohne Beteiligung des Arbeitsmarktes) bereits weit mehr der eingeforderten abstrakten Betrachtungsweise, als die Berufsunfähigkeit. Zunächst einmal gilt auch für diese Renten, dass sie erst in Anspruch genommen werden können, wenn die allgemeine Wartezeit erfüllt und in den fünf Jahren vor Rentenbeginn mindestens 3 Jahre Pflichtbeiträge geleistet wurden. Diese Bedingungen sind ebenso wie die nun folgenden allgemeinen Prinzipien in § 43 SGB VI niedergelegt. Die neuen abgestuften Erwerbsminderungsrenten werden als teilweise oder als volle Erwerbsminderungsrente ausbezahlt, wobei für die Einstufung der Grad der gesundheitlichen Einschränkung ausschlaggebend ist. Einschränkungen werden in Form der täglichen Arbeitsstunden (im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche) quantifiziert:
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Abschaffung meint, dass diese Renten seit der Reform von 2001 nicht mehr neu beantragt werden können. Artikel 302b SGB VI garantiert aber, dass Versicherte, die vor dem 01.01.2001 BU- oder EU-Rentner geworden sind, von der Neuregelung nicht betroffen sind, solange die Bedingungen für die Rente weiter vorliegt. Entsprechend gibt es derzeit noch zahlreiche Bezieher dieser Rentenformen. Als weiteres Zugeständnis an den Vertrauensschutz ist es für die Geburtsjahrgänge vor dem 02.011961 möglich, eine Sonderform der alten BU-Rente auch heute noch neu zu beantragen (§ 240 Abs. 2 SGB VI).
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Wenn ein Versicherter oder eine Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes wegen Krankheit oder Behinderung
nur noch weniger als 3 Stunden täglich arbeiten kann, liegt eine volle Erwerbsminderung vor, wenn die Arbeitskraft dagegen soweit eingeschränkt ist, dass noch 3 bis unter 6 Stunden geleistet werden können, dann spricht das Gesetz von einer teilweisen Erwerbsminderung. Wer mehr als 6 Stunden regulär arbeiten kann, gilt generell als nicht erwerbsgemindert.
Die Sechs-Stunden-Grenze wurde gewählt, um sicherzustellen, dass nicht bereits jede ärztlich feststellbare Funktionseinschränkung zu einem Rentenanspruch führt (Stichnoth et al. 2001). So konkret die Stundengrenze formuliert ist, so unbestimmt erscheint zunächst der Begriff der „üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“. Gemeint ist aber in der Tat jede Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht – beispielsweise auch diejenige, die der Versicherte derzeit ausübt. Allerdings heißt dies auch, dass bei der Prüfung keine Berufe berücksichtigt werden dürfen, für die es für den Versicherten, z.B. aufgrund fehlender Qualifikation, gar keinen offenen Arbeitsmarkt gibt. Im Gegensatz zu den früheren EU-Renten werden Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich befristet gewährt (§ 102 Abs. 2 SGB VI). Spätestens drei Jahre nach dem Rentenbeginn muss neu geprüft werden, ob die Voraussetzungen für die Rente noch gegeben sind, und nur wenn dies der Fall ist, erfolgt eine Verlängerung (VDR 2001b, S.7). Allerdings gibt es zwei Möglichkeiten, unter denen die Befristung aufgehoben wird: 1.) wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann und 2.) wenn nach neun Jahren befristeter Rente die Erwerbsminderung weiter besteht (Stichnoth et al. 2001 ; VDR 2004, S.39). Gleichgültig ob befristet oder unbefristet, endet die EM-Rente, wie auch die BU- oder EU-Renten, mit Vollendung des 65. Lebensjahres und dem Übergang in die reguläre Altersrente (VDR 2001b, S.19). Die Höhe der Erwerbsminderungsrente ist davon abhängig, ob es sich um eine volle oder eine teilweise Erwerbsminderung handelt und ob neben der Rente noch ein Hinzuverdienst erworben wird. Dem Sinn nach soll eine volle Erwerbsminderungsrente das Arbeitseinkommen komplett ersetzen, daher entspricht ihre Höhe, wie schon bei der EU-Rente, in etwa der einer regulären Altersrente (Stichnoth et al. 2001). Die teilweise Erwerbsminderungsrente beträgt die Hälfte der vollen Rente - und damit ca. ¼ weniger als die frühere BU-Rente (BfA 2003a, S.12ff.). Wenn Hinzuverdienst erworben wird, werden sowohl auf volle als auch teilweise EM-Renten Abschläge fällig.
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Während im Rentenreformgesetz 1999 noch geplant war, als konsequente Umsetzung der abstrakten Sichtweise den Arbeitsmarkt gänzlich auszublenden, werden durch die Regelungen des EM-Reformgesetzes doch Möglichkeiten eröffnet, auch weiterhin arbeitsmarktbedingte Gründe geltend zu machen (VDR 2001b, S.14). Gesundheitlich eingeschränkte Versicherte, die noch zwischen 3 und 6 Stunden am Tag arbeiten können, haben demnach Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente, wenn sie arbeitslos sind16. Die Arbeitslosigkeit wird als Beleg dafür gewertet, dass eine Teilzeitarbeit auf dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht vorhanden ist. Ob Arbeitslosigkeit vorliegt, wird im Zweifelsfall von den Rentenversicherern geprüft. Voraussetzung ist aber, dass die Person bei Antragstellung aktiv nach Arbeit sucht (BfA 2003a, S.4 ; Stichnoth et al. 2001). Auch nach der neuen Rechtslage ist es also wichtig, genau zwischen den einzelnen Rentenformen zu differenzieren, um angeben zu können, welchen Anteil der Gesundheitszustand eines Neurentners auf die Entscheidung zur Gewährung einer Rente gehabt hat. Ausreichend ist dies allerdings noch nicht, denn neben der rechtlichen muss auch die praktische Seite des Rentenverfahrens gesehen werden. Das Gesetz gibt den Rahmen vor, bleibt aber notwendigerweise im Detail abstrakt, so dass die Frage, wie in der Praxis überhaupt beurteilt werden soll, ob a) eine Krankheit vorliegt und b) ob sie zu objektiv feststellbaren Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit führt, allein mit Hilfe der Paragraphen schwer zu beantworten wäre. Da eine Antwort für eine Definition der Invaliditätsrente als Gesundheitsmaß jedoch unerlässlich ist, wird im nächsten Abschnitt die Praxis des Rentenverfahrens und die ihm zugrundeliegenden Prinzipien erläutert, sofern sie für das hier behandelte Thema relevant sind.
2.1.3 Das Rentenverfahren : Frührente = Krankheit? Ein Rentenverfahren wird grundsätzlich auf Antrag des Versicherten eröffnet. Adressat ist der zuständige Rentenversicherungsträger, dessen Verwaltung prüft, ob die Voraussetzungen für die beantragte Leistung erfüllt sind und dann eine Entscheidung für oder gegen den Antrag trifft. Im Zuge eines solchen Verfahrens muss die rechtlich-abstrakte Größe der durch Krankheit geminderten Erwerbsfähigkeit objektiviert und der Grad der Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit quantifiziert werden. Aus der Art und Weise, wie diese Aufgabe gelöst wird, können wichtige Hinweise darauf gewonnen werden, wie präzise Diagnosen gestellt werden, wie die Diagnosen mit einer Einschränkung von beruflichen
16 Eine weitere Ausnahmeregelung existiert für Bergleute in der KnRV, die, wenn sie im Bergbau vermindert berufsfähig sind, eine volle Rente für Bergleute beziehen können (§ 45 SGB IV).
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Fähigkeiten in Verbindung gesetzt werden und ab wann krankheitsbedingte Einschränkungen tatsächlich als Invalidität gelten. Wie bereits erwähnt, liegt die Hoheit über das Rentenverfahren bei den Rentenversicherern bzw. bei den damit betrauten Fachabteilungen. Ihre erste Aufgabe ist es, alle benötigten Informationen zusammenzutragen. Dabei können sie sich zunächst auf den Rentenantrag selber konzentrieren, denn dort finden sich Angaben des Versicherten über die Art der Gesundheitsschädigung, die in vielen Fällen noch durch beigelegte ärztliche Untersuchungsbefunde oder Gutachten ergänzt werden. Auf dieser Basis kann bereits eine Entscheidung gefällt werden, was aber in der Praxis eher die Ausnahme ist17. Nur in besonders eindeutigen Fällen, etwa bei schweren Krebserkrankungen, begnügen sich die Versicherer mit diesen Informationen. In der Regel wird eine weitergehende sozialmedizinische Sachaufklärung durchgeführt, indem zusätzliche unabhängige Gutachten eingeholt werden18 (Schneider 2003 ; VDR 2001a). Mit der Erstellung von Gutachten werden entweder der trägereigene medizinische Dienst oder externe medizinische Sachverständige betraut, wobei die Voraussetzung für diese Aufgabe eine ärztliche und sozialmedizinische Ausbildung ist (Hemmrich, Pottins, Karsukewitz 2004). Der Ablauf der Begutachtung ist weitgehend standardisiert und in verschiedenen Richtlinien festgelegt (siehe hierzu: VDR 2001a ; VDR 2003c). Da die Vorgaben im Wesentlichen auch bei der Bearbeitung von Rentenanträgen, die alleine aufgrund des Antrags entschieden werden, gelten (s.o.), kann man anhand des sozialmedizinischen Gutachtens das gesamte Verfahren exemplarisch schildern. Das Leitmotiv bei der gutachterlichen Bewertung der Erwerbsminderung (oder der Berufs- / Erwerbsunfähigkeit) ist ein umfassendes Verständnis von Krankheit und Invalidität: es zählt nicht nur die Feststellung der organischen oder psychischen Erkrankung, sondern auch die möglichst objektive Einschätzung ihrer Auswirkungen auf die alltägliche berufliche Leistungsfähigkeit19. Es 17 In der BfA werden beispielsweise nur ca. 20% der Anträge allein auf Grundlage des Antrags und der beigebrachten Unterlagen („nach Aktenlage“) entschieden (Auskunft BfA-Website). 18 Gutachter sind nicht weisungsgebunden und arbeiten eigenverantwortlich (VDR 2001a, S.17). Allerdings sind diese Gutachten für die bearbeitende Verwaltung nicht bindend, auch wenn den darin formulierten Empfehlungen in der Regel gefolgt wird (Hackhausen 2003, S.177). 19 In diesem Zusammenhang muss die von der WHO entwickelte „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, ICF“ erwähnt werden (WHO/DIMDI 2004). Sie ist als Ergänzung einer rein auf die medizinische Diagnose abzielenden Interpretation von Gesundheit und Krankheit gedacht und soll insbesondere die ICD flankieren. In der ICF wird versucht, Gesundheitsstörungen in ihrer biopsychosozialen Gesamtheit, also mit somatischen, psychischen und sozialen Komponenten zu erfassen. Das bedeutet, dass nach den konkreten Auswirkungen einer organischen Störung auf a) das funktionelle Aktivitätspotential der Person und b) den Möglichkeiten zur Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Leben gefragt wird. Die ICF und ihre Grundkonzeption finden zunehmend Eingang in die sozialmedizinische Begutach-
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geht also um mehr als eine eindimensionale biomedizinisch orientierte Diagnostik. Nichtsdestotrotz stellt die medizinische Diagnosestellung immer den ersten Schritt dar. Hierzu können die Sachverständigen zum einen auf die Angaben des Versicherten zurückgreifen und zum anderen eigene Untersuchungen anstellen oder in Auftrag geben (Hackhausen 2003, S23ff.). Zur Validierung einer Diagnose können alle aus ärztlicher Sicht notwendigen und wirtschaftlich vertretbaren Mittel, vom Anamnesegespräch bis hin zu apparativen Messverfahren, eingesetzt werden (Hemmrich et al. 2004). Der oder die antragstellende Versicherte unterliegt dabei einer Mitwirkungspflicht bei allen zumutbaren Untersuchungen. Am Ende des Prozesses sollte eine weitgehend gesicherte Diagnose stehen, die mit der weltweit zur standardisierten Erfassung von Erkrankungen eingesetzten „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD) in der jeweils aktuellen Revision (derzeit die 10.) verschlüsselt wird (Cibis & Schuntermann 2003). Falls mehrere Erkrankungen vorliegen, werden auch diese aufgelistet, wobei die aus sozialmedizinischer Sicht wichtigste Diagnose als Hauptdiagnose an erster Stelle steht und auch als solche in die Rentenstatistik eingeht (Hackhausen 2003). Anamnese, klinische Untersuchungsbefunde und die endgültige Diagnose werden im schriftlichen Gutachten dokumentiert und in einer Epikrise des Falles zusammengefasst (Cibis & Hüller 2003). Die Epikrise ist dann die Grundlage für die sozialmedizinische Leistungsbegutachtung, bei der das verbleibende berufliche Fähigkeitsprofil des Versicherten beschrieben wird und in Beziehung zu den Anforderungen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit bzw. den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gesetzt wird (vgl. VDR 2001a, S.27). Weniger amtlich ausgedrückt geht es darum, zu beurteilen, wie stark der Erkrankte in der Ausübung seines Berufs gehandicapt ist. Die Stärke der Beeinträchtigung wird in rentenrechtlichen Kategorien erfasst, im Falle der Erwerbsminderungsrenten beispielsweise als Zahl der Arbeitsstunden die täglich noch erbracht werden können. Diese Bewertung wird aus dem im Gutachten ermittelten individuellen Leistungsbild hergeleitet. Ins Bild gehört sowohl das negative (was kann der Versicherte nicht mehr leisten?) als auch das positive Leistungsvermögen (was kann der Versicherte noch leisten?). Die Einstufung des positiven Leistungsbildes erfolgt in drei Bereichen, der körperlichen Arbeitsschwere, der Arbeitshaltung und der Arbeitsorganisation. Das negative Leistungsbild bezieht sich auf Einschränkungen in den Bereichen tungspraxis der deutschen Sozialversicherung. Am weitesten geht ihre Anwendung im Bereich der Rehabilitation, wo bereits Grundsätze der ICF in handlungsleitende Gesetze (SGB IX) eingeflossen sind, ihr Einfluss dehnt sich aber auch auf Bereich der Invaliditätsrenten aus (Hemmrich et al. 2004). Im Kapitel 3 wird noch näher auf die ICF eingegangen.
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der geistig/psychischen Belastbarkeit, der Sinnesorgane, des Bewegungs/Haltungsapparates und der Resistenz gegenüber Gefährdungs- und Belastungsfaktoren, wie beispielsweise Lärm, Unfallgefahr oder Schichtarbeit. Alle diese negativen und positiven Punkte müssen sich direkt aus den medizinischen Fakten ergeben, so dass in die sozialmedizinische Begutachtung per se immer beide Aspekte, die Erkrankung und ihre praktischen Folgen eingehen. Zur Illustration dieses Verhältnisses ist ein Beispiel aus einer vom Verband der Rentenversicherer herausgegebenen sozialmedizinischen Beurteilungsleitlinie hilfreich. Dort heißt es etwa zur sozialmedizinischen Beurteilung von Augenerkrankungen: „Eine einseitige Sehschwäche bzw. Einäugigkeit schließt die berufliche Verwendungsfähigkeit im Verkehrswesen (Luftfahrt, Schifffahrt, Kraftfahrzeuge) sowie in handwerklichen Berufen aus [...]. Weniger bedeutsam ist ein eingeschränktes Sehvermögen in Berufsbereichen als Bäcker, Koch, Krankengymnast, Verwaltungsangestellter oder Haushaltshilfe“ (Hagenau & Hagenau 2003, S.466). Das Beispiel zeigt, wie spezifisch die Einschätzung sein muss und wie unterschiedlich die Auswirkungen ein und derselben Erkrankung bei Angehörigen verschiedener Berufe sein kann. Sind die Diagnosen gestellt und das Leistungsvermögen eingestuft, kann entschieden werden, ob dem Antrag stattgegeben wird. An dieser Stelle gibt es nun aber einen Ausweg aus dem Verfahren, der sich aus der Regel „Reha vor Rente“ ergibt. In § 9 SGB IV ist explizit niedergelegt, dass Leistungen zur Teilhabe (oder Rehabilitationsleistungen) Vorrang vor Rentenleistungen haben. Daraus resultiert, dass bei jedem Antrag auf Erwerbsminderungsrente bzw. EU- oder BU-Rente zugleich geprüft werden muss, ob der Rentenfall nicht durch geeignete Rehabilitationsmaßnahmen abgewendet werden kann (BfA 2003a, S.4f. ; Roth & Seidel 2003). Bei der Prüfung, die sich auf die Informationen der oben beschriebenen sozialmedizinischen Sachaufklärung stützt, spielen drei Kriterien einer Rolle, die Rehabedürftigkeit, die Rehafähigkeit und die Reha-Erfolgsprognose (Cibis et al. 2003 ; Hemmrich et al. 2004 ; VDR 2001a, S.8ff.). Erstere ist dann gegeben, wenn die Sachaufklärung zu der Ansicht kommt, dass die Erwerbsfähigkeit bereits erheblich gemindert oder zumindest stark gefährdet ist. Der zweite Punkt, die Rehabilitationsfähigkeit, bezieht sich auf die Frage, ob die körperliche und psychische Verfassung des Versicherten überhaupt die Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme zulässt. Das dritte und letzte Kriterium ist die Reha-Erfolgsprognose. Hier ist es nötig die Entwicklung der Erwerbsminderung vorherzusagen, denn nur wenn eine drohende oder bereits eingetretene Minderung voraussichtlich abgewendet bzw. behoben werden kann, sind die Voraussetzungen für die Rehabilitation erfüllt (Cibis et al. 2003). An diesem Punkt des Begutachtungsprozesses kann es also dazu kommen, dass ein erkrankter Versicherter zwar als stark beeinträchtigt eingestuft wird, aber eben nicht
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unmittelbar zum Invaliditätsrentner wird, sondern zunächst ins Rehabilitationssystem überwiesen wird, damit dort Krankheitsfolgen gemildert werden (Hemmrich et al. 2004). In der Regel sind die Rentenversicherungsträger für die Finanzierung und Durchführung der Rehabilitation von Versicherten mit drohender Invalidität zuständig. Sie bedienen sich hierzu zweier Maßnahmengruppen (Bengel & Maurischat 2002 ; Roth et al. 2003): 1. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die medizinische Behandlungen umfassen, welche die Gesundheit wiederherstellen sollen, um die Erwerbsfähigkeit zu garantieren. Die Bandbreite der Maßnahmen reicht von der stationären Unterbringung in einer Reha-Klinik bis hin zur Verschreibung von Hilfsmitteln wie Rollstühlen. 2. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, die ganz konkret auf die Wiedereingliederung ins Berufsleben abzielen. Dazu gehören z.B. berufliche Trainingsmaßnahmen, Vermittlungshilfen, Weiterbildung, aber auch Zuschüsse an Arbeitgeber, etwa die Kostenerstattung für eine befristete Probebeschäftigung. Eine eingehende Beschäftigung mit der Rehabilitation in Deutschland muss hier aus Platzgründen unterbleiben, es sei aber angemerkt, dass das System als eines der weltweit am besten organisierten gilt (Bengel et al. 2002), so dass davon auszugehen ist, dass zahlreiche potentielle Invaliditätsrentner davon profitieren und einer Rente entgehen. Im Erfolgsfall tritt der Endpunkt Frührente somit gar nicht auf. Allerdings kommt es bei einem Misserfolg der Rehabilitation zu einer Wiederaufnahme des Rentenverfahrens20.
2.1.4 Bewertung: Wofür steht die krankheitsbedingte Frührente? Das Rentenverfahren ist ein stark regulierter Vorgang, bei dem nach sozialrechtlichen Standards eine individuelle Prüfung der Zugangsberechtigung erfolgt. Es liegt im Interesse der Versicherer, eindeutige Standards zu formulieren und zu verhindern, dass Versicherte vermeintlich unberechtigt von einer Rente profitieren (VDR 2001a). Entsprechend hoch sind auch die Ablehnungsquoten, die, wie in Tabelle 1 am Beispiel der BfA zu sehen ist, von 2000 bis 2002 zwischen 38,6 und 46,7 % lagen. Im gleichen Zeitraum wurden dagegen bei allen restlichen Rentenarten lediglich zwischen 4,9 und 3,7 Prozent der Anträge negativ beschieden. 20 Dies gilt auch für Personen, die lediglich einen Antrag auf Rehabilitation gestellt haben. Zeigt sich, dass die gesundheitlichen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit schwerwiegend sind und durch die Reha nicht aufgehoben oder kompensiert werden können, so kann ein Rehabilitationsantrag in einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente umgedeutet werden (Roth et al. 2003).
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2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
Tabelle 1: Ablehnung von Neuanträgen auf Erwerbsminderungsrente in der BfA 2000 bis 2002 (Quelle: Moll & Stichnoth 2003, S.6) 2000
2001
2002
149.960
131.577
121.209
Ablehnungen
59.607
61.503
46.761
Ablehnungsquote in %
39,8%
46,7%
38,6%
4,9%
4,2%
3,7%
Anzahl der Neuanträge
Ablehnungsquote bei allen restlichen Rentenarten, z.B. Altersrente in %
Auf der anderen Seite stehen die Rentenversicherer in der Verantwortung für das Wohl des Antragstellers, für den die Renten-Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen verbunden ist. Die Rentenversicherungsträger sichern sich in dieser schwierigen Situation ab, indem sie versuchen, das Verfahren so standardisiert und so transparent wie möglich ablaufen zu lassen. Fehler und Fehlinterpretationen sind selbstverständlich dadurch nicht ausgeschlossen; die Wahrscheinlichkeit, dass im großen Stil Invaliditätsrenten gewährt werden, ohne dass eine Krankheit oder Leistungseinschränkung vorliegt, erscheint aber als gering. Diese Vermutung wird durch eine Reihe von Fakten gestützt.
Von hoher Bedeutung ist die ausführliche Validierung der Diagnosen, die sich auf die medizinische Expertise erstens der behandelnden Ärzte und zweitens der begutachtenden Mediziner stützt. Daher gelten die im Rahmen des Berentungsverfahrens getroffenen Diagnosen auch als relativ zuverlässig (Rothenbacher et al. 1998 ; Voges 1994, S.122). Problematisch sind aber Fälle, mit mehreren Erkrankungen. Hier muss zwischen Haupt- und Nebendiagnosen unterschieden werden, auch wenn eine solche Einstufung unter Umständen gar nicht sinnvoll ist, da alle Krankheiten gemeinsam zur Leistungseinschränkung beitragen (Voges 1994, S.122). Positiv ist wiederum, dass die der Berentung zugrundeliegende Erkrankung nach einem gängigen, standardisierten Diagnoseschlüssel erfasst wird, was eine leichte Verarbeitung für statistische Zwecke ermöglicht und krankheitsspezifische Analysen mit Rentendaten vereinfacht. Die sozialmedizinische Sachaufklärung und damit auch die gestellten Diagnosen müssen gerichtsfest sein (Cibis et al. 2003 ; VDR 2001a), da der Versicherte gegen einen abgelehnten Antrag vor dem Sozialgericht klagen kann. Eine vorsätzliche Manipulation eines Gutachtens, z.B. die Stellung einer Diagnose wider besseren Wissens, stellt einen Straftatbestand dar (VDR 2001a).
2.1 Die Organisation der Invaliditätsrente in Deutschland
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Das gesetzlich verankerte Prinzip „Reha vor Rente“ stellt sicher, dass eine professionelle und gezielte Kraftanstrengung unternommen werden muss, um eine Invalidität zu verhindern. Das bedeutet implizit, dass eine Person, der eine Rente aufgrund gesundheitlicher Gründe gewährt wird, so schwerwiegend beeinträchtigt sein muss, dass eine Rehabilitation von Beginn an keine Aussicht auf Erfolg hat oder dass bereits Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt wurden, diese aber die Situation nicht nachhaltig verbessern konnten21. Insofern kann das Faktum, dass trotzdem eine Berentung erfolgt, mit hoher Wahrscheinlichkeit als Indikator für eine zugrundeliegende schwere Erkrankung mit begrenzten Heilungs- und Kontrollchancen gewertet werden.
Ungeachtet all dieser Argumente, darf die Invaliditätsrente aus der Perspektive der Ursachenforschung dennoch nicht als ein lupenreines Erkrankungsmaß, wie z.B. die registrierten Fälle in einem Krebsregister, interpretiert werden. Dafür sorgt das Gewicht, dass der Aspekt der funktionellen Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit im Rentenverfahren spielt. Wer mit welcher Krankheit frühberentet wird, hängt immer auch von den individuellen beruflichen Umständen und von zahlreichen weiteren nicht-medizinischen Faktoren ab (vgl. Cibis et al. 2003). Außerdem muss angemerkt werden, dass funktionelle Einschränkungen weniger objektivierbar sind als etwa ein organischer Befund (Zimmermann 1992). Somit bildet das Invaliditätsgeschehen die Inzidenz einer Erkrankung zumindest im klassischen Sinne22 auch nur bedingt ab, da davon auszugehen ist, dass ein Teil der Erkrankten aufgrund ihres individuellen Leistungsbildes keine Rente beziehen wird, also auch nicht als erkrankt klassifiziert wird. Obgleich aufgrund fehlender Daten ein Nachweis schwer ist, kann vermutet werden, dass mit der Ernsthaftigkeit der Erkrankung auch die Erfassung in die Kategorie Frührente vollständiger wird, da Personen mit einer schweren Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in ihrer Leistungsfähigkeit deutlich beeinträchtig sein
21 Es ist schwer zu beziffern, bei wie vielen Fällen im Vorfeld eine Reha durchgeführt wird und wie viele der Rehabilitanden anschließend in den Beruf zurückkehren, da offizielle Angaben m.W. nicht vorliegen. Einen Anhaltspunkt geben die Daten, die im empirischen Teil dieser Arbeit verwendet werden. Hier hatten von den 29.852 Frührentenfällen im Jahr 1999 50,4% vor der Berentung an einer wie auch immer gearteten Reha teilgenommen. Diese Zahl deckt sich mit Angaben aus einer kleineren Fall-Kontroll-Studie von Biefang et al. (1998). 22 Die Inzidenz bezieht sich auf neu aufgetretene Erkrankungsfälle. Diesem Konzept wird die Invaliditätsrente insofern nur begrenzt gerecht, als das Datum, an dem eine Rente gewährt wird, keinen exakten Rückschluss darauf erlaubt, wann die zugrundeliegende Krankheit ausgebrochen ist (Roth et al. 2003). Sie kann ohne weiteres schon lange vor dem Rentenantrag bestanden haben, aber zunächst das Leistungsvermögen nicht tangiert haben. Insofern sind Krankheit und Leistungsvermögen auch an dieser Stelle nicht voneinander zu trennen.
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2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
dürften23. Weitergedacht bedeutet dies, dass der rein medizinische Anteil an der ‚Diagnose’ krankheitsbedingte Frührente umso größer ist, je restriktiver die Zugangsbeschränkungen für denn jeweiligen Rententyp sind, z.B. ist die zugrundeliegende Erkrankung bei einer Erwerbsunfähigkeitsrente (nach altem Recht) wahrscheinlich schwerer als bei einer Berufsunfähigkeitsrente, bei der die Leistungsfähigkeit durch die Krankheit nur halbiert zu sein brauchte. Mit dem Verweis auf sozialrechtlichen Bestimmungen schließt sich der Kreis wieder. Auf dem Weg vom abstrakten Rentenrecht hin zu seiner praktische Umsetzung finden sich zahlreiche Besonderheiten mit direkter Bedeutung für die Aussagekraft des Rentengeschehens als Zielgröße wissenschaftlicher Analysen. Sie können in zwei zentralen Schlussfolgerungen zusammengefasst werden: 1. Je nach Rechtsform der Invaliditätsrente kommt der ursächlichen Erkrankung mal mehr mal weniger Bedeutung zu; 2. Invaliditätsrente ist kein reines Erkrankungsmaß, sondern ein Ereignis mit medizinischen, berufsbezogenen und individuellen Dimensionen. Der letztgenannte Punkt kann durchaus positiv aufgefasst werden, denn damit kommt der Indikator einer modernen biopsychosozialen Vorstellung von Krankheit, wie sie die beispielsweise von Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertreten wird, näher, als eine reine Diagnosefixierung. Am Ende der Ausführungen zur Validität steht ein Blick über die Grenzen Deutschlands hinweg auf andere europäische Länder, aus denen zahlreiche der in den folgenden Kapiteln zitierten Forschungsergebnisse stammen. Weil die Kategorien zur Beurteilung bereits anhand der Deutschen Verhältnisse eingeführt wurden, kann der Exkurs zu anderen Formen der Invaliditätsrente aber kurz ausfallen.
2.1.5 Regelungen im Europäischen Ausland Die Sozialverwaltung der Vereinigten Staaten von Amerika hat im Jahr 2002 einen Report vorgelegt, in dem die Sozialsysteme von 44 west- und osteuropäischen Länder beschrieben werden und der zeigt, dass sich alle diese Länder eine im Rentensystem verankerte Invaliditätsrente zur Absicherung im Falle einer dauerhaften krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit leisten (U.S.Social Security Administration 2002, S.16f.). In der konkreten Ausgestaltung dieser Rentenform zeigen sich zwar viele Unterschiede, es sind aber auch viele Gemeinsamkeiten zu erkennen, insbesondere wenn man nur die Staaten der europäischen Gemeinschaft betrachtet. Weitgehende Einigkeit besteht in der Auffassung von Invalidität als einem Zustand, in dem die Erwerbsfähigkeit aufgrund von gesundheitli23 Hier ist aber die Sterblichkeit zu bedenken. Alle Erkrankten, die vor der Berentung versterben, werden von der Invaliditätsrente nicht erfasst, so dass die wahre Inzidenz unterschätzt wird.
2.1 Die Organisation der Invaliditätsrente in Deutschland
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chen und damit medizinisch quantifizierbaren Gründen eingeschränkt ist (vgl. auch Devetzi 2003). Die oben für Deutschland geschilderten Maßnahmen zur Entkoppelung der Invaliditätsrente von der Lage auf dem Arbeitsmarkt sind ebenfalls weit verbreitet, so dass die abstrakte Sichtweise als das dominierende Prinzip gelten kann (Devetzi 2003). In einigen Ländern, wie z.B. Österreich oder Großbritannien, wird diese Sichtweise aber durch einen Berufsschutz relativiert, d.h. bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit dürfen nicht die Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zugrundegelegt werden, sondern nur die im aktuellen Beruf geltenden. Ein weiterer wichtiger Unterschied betrifft das Mindestmaß der gesundheitlichen Einschränkung, ab der die Rente gewährt wird. In manchen Systemen ist der Zugang einfacher, beispielsweise in den Niederlanden, wo z.T. bereits eine 15%ige Minderung der Erwerbsfähigkeit zum Bezug einer Invaliditätsrente berechtigt, während in anderen Ländern (z.B. in Großbritannien) erst nach einem fast vollständigen Ausfall der Erwerbsfähigkeit eine Rente gewährt wird (U.S.Social Security Administration 2002). Abweichende Prinzipien zeigen sich auch bei der Bedeutung der Rehabilitation, die in einigen Ländern gar nicht institutionalisiert ist, in anderen dagegen ähnlich organisiert ist wie in Deutschland (Stattin 2005). Die Verschiedenheiten bei der Berücksichtigung des Arbeitsmarktes, der Festlegung von Zugangsgrenzen und der Einsatz von Rehabilitationsmaßnahmen bedeuten, dass die Rentenfälle hinsichtlich der Bedeutung der gesundheitlichen Schädigung zwischen Ländern mit unterschiedlichen Regelungen nur bedingt vergleichbar sind. Über die allgemeine Zuverlässigkeit der medizinischen Feststellung der gesundheitlichen Beeinträchtigung in den Rentenverfahren kann aus Mangel an vergleichenden Untersuchungen für Europa nur spekuliert werden. Anhaltspunkte bieten lediglich punktuelle Einschätzungen in Veröffentlichungen aus Studien über Ursachen der Invaliditätsrente. Die Aussagen sind überwiegend länderbezogen, im Einzelnen auf Finnland (Karpansalo et al. 2002), Dänemark (Hagen, Tambs, Bjerkedal 2002), Großbritannien (Rodgers 1998) und Norwegen (Holte, Tambs, Bjerkedal 2000), nur eine allgemein gehaltene Übersichtsarbeit wagt sich an eine systemübergreifende Bewertung (Stattin 2005). Die Verlässlichkeit der Diagnosestellung wird aber in allen Artikeln übereinstimmend als hoch eingestuft, da die Gewährung der Invaliditätsrente stets an eine ausführliche medizinische Expertenbegutachtung gekoppelt ist, so dass die Autoren davon ausgehen, dass die Invaliditätsrente ein guter Indikator für eine Erkrankung ist, sofern natürlich die rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Einfluss auf die Gewichtung des Krankheitsaspektes bedacht werden.
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2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
2.2 Das große Ganze: Alterssicherung und demographischer Wandel Moderne umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme wie das deutsche beruhen auf bestimmten Grundvoraussetzungen. Besonders wichtig sind eine stabile wirtschaftliche Entwicklung, die ein gleichbleibendes Steuer- bzw. Beitragsvolumen sichert und ein relatives quantitatives Gleichgewicht zwischen Leistungsempfängern und Leistungserbringern. Beide Punkte stehen in einem diffizilen Verhältnis zueinander, ein Ungleichgewicht in einem Bereich zieht daher oft ein Ungleichgewicht in dem anderen nach sich. Wirtschaftliche Schwierigkeiten verringern beispielsweise die Höhe der Einzahlungen, umgekehrt kann ein Anstieg der Leistungsempfänger etwa durch eine zunehmende Alterung der Gesellschaft wirtschaftliche Schwierigkeiten auslösen (BMGS 2003, S.5ff.;61ff.). Beide Beispiele treffen zumindest teilweise auf die aktuelle Lage in Deutschland zu und es zeichnet sich ab, dass es in der Zukunft zu einer Krisensituation der Alterssicherung in ihrer althergebrachten, in den Zeiten des Wirtschaftswunders konzipierten Form kommen könnte (BMGS 2003 ; Schimany 2003, S.391ff. ; Siddiqui 1997 ; Stahl 2003). Eine gewisse Rolle spielt dabei die derzeitige wirtschaftliche Schwäche, bedeutsam ist aber auch ein massiver Wandel in der Altersstruktur der Gesellschaft, der wohl ohne Untertreibung als revolutionär bezeichnet werden kann. Die Hauptlinien der Entwicklung sind inzwischen allgemein bekannt, denn die gesellschaftliche Debatte über den demographischen Wandel ist in vollem Gange (Kaufmann 2005, S.11). Sie brauchen also hier nur kurz skizziert zu werden. Der erste wichtige Trend ist, dass in allen Industrieländern und in vielen Schwellenländern die Lebenserwartung stetig steigt. Beispielsweise hat sie sich in Deutschland im letzten Jahrhundert fast verdoppelt und liegt derzeit bei ca. 74 Jahren für Männer und ca. 80 Jahren für Frauen (Birg & Flöthmann 2002 ; Wiesner 2001). Die zweite und wahrscheinlich entscheidende Entwicklung ist aber ein dauerhafter Rückgang der Geburtenraten, der zwischen 1965 und 1975 eingesetzt hat (Kaufmann 2005, S.10;38ff.). Beide Bewegungen zusammengenommen führen dazu, dass einer wachsenden Zahl von älteren Bürgerinnen und Bürgern immer weniger Junge gegenüber stehen und zugleich die Bevölkerungszahl auf lange Sicht sinkt24. Einen Eindruck dieses Effekts der demographischen Alterung vermittelt der Altersquotient, der die Anzahl der über 60jährigen angibt, die statistisch gesehen auf 100 Personen im Alter von 20 bis 59 Jahren kommen. Im Jahr 2000 lag der Quotient bei ca. 40. Bis 2020 wird er sich voraussichtlich auf 60 erhöhen und bei 24
Weltweit gesehen, kann diese Aussage nicht verallgemeinert werden, sie trifft v.a. auf die entwickelten Industrienationen zu. Ein großer Teil der Welt hat dagegen mit einem rapiden Bevölkerungswachstum und dessen dramatischen Folgen zu kämpfen (Schimany 2003).
2.2 Das große Ganze: Alterssicherung und demographischer Wandel
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einer weiterhin niedrigen Geburtenrate werden 2040 auf 100 Personen der jüngeren Jahrgänge 80 Personen kommen, die 60 Jahre und älter sind (Birg et al. 2002). Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Folgen dieser Verschiebung weitreichend sein dürften, auch wenn bisher nur die ersten Vorboten wahrnehmbar sind, da die geburtenstarken Jahrgänge, die vor dem dauerhaften Einbruch der Geburtenrate in den frühen 1970er Jahren geboren wurden, noch aktiv im Erwerbsleben stehen (vgl.: Irle & Winnefeld 2004 ; Kaufmann 2005). Voraussichtlich wird das gesamte politische, ökonomische und gesellschaftliche Gefüge betroffen sein, die Alterssicherung steht aber mit einiger Sicherheit im Zentrum des Sturms. Ihre Finanzierung wird schwieriger werden, wenn immer mehr Leistungsempfänger von immer weniger erwerbstätigen Beitragszahlern versorgt werden müssen (Michaelis et al. 2000). Dabei wird die Intensität der Belastung durch den demographischen Wandel stark von der jeweiligen Organisation des Alterssicherungssystems abhängen und daher sind in den meisten Wohlfahrtsstaaten, darunter auch Deutschland, entweder bereits Veränderungen im Gange oder zumindest in der Diskussion (Börsch-Supan 1999). Die Strategien, um die Alterssicherung für die Herausforderungen der Zukunft zu wappnen, sind vielfältig und berühren von der Familien- über die Zuwanderungs- bis hin zur Rentenpolitik fast alle Politikbereiche25. Die Invaliditätsrente ist also nur ein Schauplatz unter vielen, aber keinesfalls ein unwichtiger, wie die folgenden Ausführungen zu ihrer Bedeutung im Kontext der allgemeinen Entwicklung der Alterssicherung, der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes zeigen.
2.2.1 Anzahl und Kosten krankheitsbedingter Frührenten Im Jahr 2004 traten 977.861 Versicherte der GRV eine neue Rente an. 169.460 davon, das waren 17,3% aller Neurentner, taten dies aus gesundheitlichen Gründen als Bezieher einer Erwerbsminderungsrente, wobei 72.860 Renten auf Frauen und 96.600 auf Männer entfielen (VDR 2005). Damit nimmt diese Rentenform nach der Regelaltersrente und der Rente für Frauen den dritten Platz bei den Zugängen ein. Abbildung 1 in der die Entwicklung im Zeitraum von 1993 bis 2004 dargestellt ist, zeigt aber, dass es in dieser Zeit einige Veränderungen 25 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, einen vollständigen Überblick über die komplizierten Zusammenhänge zwischen dem demographischen Wandel und den verschiedenen politischen Reaktionen darauf zu geben. An weiterführender Literatur herrscht aber kein Mangel (z.B.: Binstock & George 2001 ; Börsch-Supan 1999 ; Kaufmann 2005 ; Schimany 2003), was ein weiter Beleg für die Wichtigkeit ist, die dem Thema derzeit beigemessen wird.
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gegeben hat, da die ausgewählte Periode die Jahre der großen Rentenreformen umfasst.
Abbildung 1:
Anzahl neue Versicherungsrenten in Tsd. nach Rentenarten; 1993-2004 (Quellen: VDR 2005a ; VDR 2005b- verschiedene Jahrgänge)
Es ist gut zu erkennen, wie sich die politischen Eingriffe auf das Berentungsverhalten ausgewirkt haben, denn wie die Veränderung im Verhältnis der einzelnen Rentenformen erkennen lässt, scheint die Absicht aufgegangen zu sein, durch die Einschränkung von Frühberentungsmöglichkeiten wieder mehr Personen bis zur regulären Altersrente im Erwerbsleben zu halten. An dieser Stelle ist es angebracht, kurz auf die in der Graphik ersichtliche Unterscheidung zwischen vorgezogenen Altersrenten und der krankheitsbedingten Frührente bzw. der Erwerbsminderungsrente einzugehen. Derzeit gibt es in Deutschland verschiedene Möglichkeiten, auch ohne Vorliegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung vorzeitig, d.h. vor Vollendung des 65. Lebensjahrs und ohne finanzielle Abschläge, eine Altersrente zu beziehen. Im Einzelnen sind dies die Altersrente für Frauen, die Altersrente für langjährig Versicherte, die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit, die Altersrente für Schwerbehinderte und die Ren-
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te für Bergleute26. Diese Regelungsvielfalt ist ein Erbe der alten Gesetzgebung, sie wird aber spätestens im Jahr 2012 reduziert sein, da die Altersrente für Frauen und die Rente wegen Arbeitslosigkeit bis zu diesem Zeitpunkt schrittweise abgeschafft werden und die anderen Frührenten dann nur noch unter merklichen Abschlägen auf die Rentenhöhe in Anspruch genommen werden können (VDR 2004, S.13f.). Ziel dieser Einschränkungen, die beginnend mit dem Rentenreformgesetz 1992 in mehreren Gesetzeswerken festgeschrieben sind, ist es, langfristig das durchschnittliche Rentenzugangsalter zu erhöhen, um dadurch die Rentenkassen zu entlasten und einen Missbrauch der vorgezogenen Renten als Vehikel für betrieblichen Personalabbau zu unterbinden (Bank et al. 1990, S.155ff. ; Becker 2001 ; Schimany 2003, S.393 ; von der Heide 1997). Der in Abbildung 1 zu sehende Rückgang der vorgezogenen Altersrenten dürfte das Resultat dieser politischen Eingriffe sein. Bei der Erwerbsminderungsrente ist ebenfalls ein Rückgang zu verzeichnen. Die Abnahme ab 2001 kann mit dem oben ausführlich geschilderten Wechsel von der konkreten zur abstrakten Sichtweise einfach erklärt werden kann (Moll et al. 2003). Schwieriger zu interpretieren ist aber, dass sowohl die absolute Zahl als auch der relative Beitrag der Renten wegen Erwerbsminderung bereits vor dem Inkrafttreten des EM-Reformgesetztes am 01.01.2001 stetig gesunken ist: ihr Prozentanteil am gesamten Rentengeschehen ist von 25,6 % im Jahr 1993 auf 19,6 % im Jahr 2000 zurück gegangen. Über die Gründe liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, es kann aber spekuliert werden, dass ein gewisser Teil der gesundheitlich beeinträchtigten Erwerbstätigen noch vor dem Eintritt einer rentenrechtlich relevanten Invalidität eine der vorgezogenen Altersrentenarten in Anspruch genommen hat. Für diese Argumentation spricht vor allem der langfristige Rückblick. Seit 1980 ist die Zahl der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit laut der Rentenzugangsstatistik immer weiter gesunken (VDR 2005b). In der gleichen Zeit hat die Bedeutung der vorgezogenen Altersrenten rapide zugenommen, beispielsweise hat sich zwischen 1984 und 1994 die Zahl der Renten wegen Arbeitslosigkeit fast verdreifacht. Somit erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass ein Teil der Invalidität durch andere Rentenformen maskiert worden ist. Möglich ist aber auch, dass die beobachteten Trends zum Teil mit Entwicklungen im Rentenverfahren zusammen hängen. Denkbar wären Veränderungen in den internen Beurteilungsstandards der Rentenversicherer, eine verbesserte sozialmedizinische Ausbildung der Gutachter oder der verstärkte Einsatz von technisch-diagnostischen Verfahren zur sicheren Diagnosestellung (Wasilewski 1984). 26 Die im Detail recht komplizierten rechtlichen Regelungen zu den aufgeführten Rentenarten können in dieser Arbeit nicht weiter erläutert werden. Gut aufbereitete Informationen finden sich z.B. in einer Publikation des Verbands der Deutschen Rentenversicherer (VDR 2004).
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Eine Erklärung, die außerhalb des Rentenrechts liegt, ist die allgemeine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung (Krokstad et al. 2004 ; Stattin 2005 ; Vahtera et al. 2005b). Allein in den drei Jahren von 2000 bis 2002 ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation die mittlere Zahl der Lebensjahre, die in guter Gesundheit verlebt werden können [„healthy life expectancy at birth“], in Deutschland von 70,1 auf 71,8 Jahre gestiegen (WHO 2005). Diese Veränderung, die auf zahlreiche Ursachen zurückzuführen ist, kann sich durchaus auch auf die Entwicklung der Invalidität niedergeschlagen haben. Dagegen spricht aber, dass in den meisten anderen europäischen Ländern mit vergleichbaren gesundheitlichen Fortschritten die Invaliditätsrente in den letzten 25 Jahren eher häufiger geworden ist (Gjesdal, Ringdal, Haug, Maeland 2004 ; Krokstad et al. 2004 ; Stattin 2005). Die gegenläufige Bewegung könnte ein Hinweis darauf sein, dass Eigenarten des deutschen Rentensystems – und hier insbesondere die Praxis der vorgezogenen Altersrenten – für sinkenden Zugangszahlen in die Invaliditätsrente verantwortlich sind. Der quantitative Rückgang der krankheitsbedingten Frührenten darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sie mit einem Anteil von 17,3% an allen Neurenten im Jahr 2004 nach wie vor eine relevante Größe darstellen. Außerdem muss im Auge behalten werden, dass das Invaliditätsrisiko über die Berufsgruppen unterschiedlich verteilt ist (Siebert, Rothenbacher, Daniel, Brenner 2001). Dies kann mit einem Beispiel aus der Rentenzugangsstatistik 2004 illustriert werden: Während bei den Groß- und Einzelhandelskaufleuten 15,8% der Neurenten bei den Männern und 26% bei den Frauen aus gesundheitlichen Gründen erfolgten, waren es bei den Hilfsarbeitern 59,7% und bei den Hilfsarbeiterinnen 36% (VDR 2005). Die beiden ausgewählten Berufsgruppen stehen exemplarisch für den allgemeinen Trend, dass Invaliditätsrenten bei Arbeitern häufiger vorkommen als bei Angestellten. Im Jahr 2004 machten Erwerbsminderungsrenten in der Arbeiterrentenversicherung 20,8% aller Renten aus, in der Angestelltenversicherung lag der Anteil bei nur 13,3%. Ein weiterer Unterschied besteht zwischen den Geschlechtern. Bei Männern betrug der Anteil der Invaliditätsrenten 20,0% und bei Frauen 14,7%, ein Umstand, der damit zusammenhängen kann, dass Männer häufiger in risikoreichen manuellen Beschäftigungen arbeiten (Morschhäuser 2002). Aber auch die vorzeitige Rente für Frauen kann hier eine Rolle spielen, da sie Frauen einen vorzeitigen Altersrentenbezug erlaubt und gesundheitlich beeinträchtigte Versicherte in diese Rentenform ausgewichen sein könnten. Von der zahlenmäßigen Entwicklung der Frührente ist es nicht weit zu Fragen ihrer Finanzierung, da die Anzahl unmittelbar die Kosten bestimmt, welche der Rentenversicherung durch die Invaliditätsrente entstehen. In Abbildung 2 findet sich eine Annäherung an die monatlichen Rentenzahlungen für das Jahr
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2004, berechnet aus Daten der Rentenstatistik des VDR. Links ist der Rentenbestand nach Rentenformen getrennt dargestellt. Die rechte Graphik zeigt die ungefähren Gesamtkosten als Ergebnis der Multiplikation des Rentenbestands – also der Zahl der Renten - mit dem durchschnittlichen monatlichen Rentenzahlbetrag für die entsprechende Rentenform, was einen ungefähren Eindruck von der Gesamtsumme gibt, die Monat für Monat von der Rentenversicherung gezahlt wird.
Abbildung 2:
Monatlicher Rentenzahlbetrag für Altersrenten und für Renten wegen Erwerbsminderung (Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Rentenstatistik des VDR [2005 ; 2005c])
Insgesamt wurden monatlich ca. 13,3 Mrd. Euro Versichertenrenten ausbezahlt. Der größte Teil dieser Summe ging dabei an männliche Altersrentner, die zwar ungefähr 2 Millionen Personen weniger zählen als weibliche Altersrentner, deren monatliche Durchschnittsrente aber mit annähernd 1000 Euro ungefähr doppelt so hoch veranschlagt ist wie die der Frauen. Neun Prozent des Gesamtbetrages entfielen auf Erwerbsminderungsrenten, davon 504 Mio. Euro an Frauen und 725 Mio. Euro an Männer27. Umgerechnet auf das gesamte Jahr 2004 zahlte die Rentenkasse demnach ca. 15 Mrd. Euro an Invaliditätsrenten. Obwohl diese Zahlen nur eine aus bereits aggregierten Daten ermittelte Annäherung an die 27 Der Anteil der Invaliditätsrentner am Rentenbestand ist sichtbar kleiner als ihr Anteil an den Rentenneuzugängen. Dies ist damit zu erklären, dass Invaliditätsrentner eine kürzere Verweildauer in ihrer Rente haben als Altersrentner, da sie nach Erreichen der Altersgrenze automatisch in die Altersrente wechseln. Somit ist der Bestand der Altersrentner überproportional hoch, da sie im Schnitt mehr Jahre in dieser Rentenform verweilen. Finanziell fällt aber ins Gewicht, dass der Großteil der EM-Renten wegen voller Erwerbsminderung gewährt werden (ca. 95% in der BfA) und daher die Rentenhöhe ca. so hoch liegt wie die der Regelaltersrente (Moll et al. 2003).
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tatsächlichen Kosten sind, machen sie deutlich, welche finanzielle Bedeutung die Invaliditätsrente für die Rentenversicherung28 und damit für die Volkswirtschaft insgesamt hat.
2.2.2 Folgen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt Da die Kosten der Invaliditätsrente überwiegend von der Sozialversicherung getragen werden und diese wiederum über die Lohnzusatzkosten von den Arbeitgebern mitfinanziert werden, sind die finanziellen Auswirkungen der Invalidität auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sehr direkt spürbar. Erwerbsminderungsrenten stellen eine erhebliche Größe innerhalb der Gesamtausgaben der Rentenversicherung dar und haben somit einen Einfluss auf die Höhe des Beitragssatzes. Dieser schlägt sich über den Arbeitsgeberanteil unmittelbar auf die Lohnkosten nieder, was Konsequenzen für die Personal-, Preis- und Wettbewerbspolitik der Unternehmen hat. Die spezifische Wirkung auf den Arbeitsmarkt ist zwar nur sehr schwer in Zahlen auszudrücken, es kann aber realistisch davon ausgegangen werden, dass die Lohnnebenkosten ein Einflussfaktor auf die Entwicklung der Beschäftigung in Deutschland sind (Lampert et al. 2004). Insofern muss man die Reform der Frührenten 2001 auch im Kontext der Kontrolle der Lohnnebenkosten sehen. Neben den direkten Auswirkungen verursacht Invalidität auch indirekte Kosten für die Wirtschaft, da ein krankheitsbedingter Frühberentungsfall den Verlust eines – oft erfahrenen – Mitarbeiters bedeutet. Invalidität trifft am häufigsten Arbeitnehmer im mittleren und höheren Erwerbsalter: im Durchschnitt liegt das derzeitige Eintrittsalter ca. 51 Jahre bei Männern und 49 bei Frauen (VDR 2005). Bei ihrem Ausscheiden hat die Mehrzahl also bereits ein längeres Berufsleben hinter sich und somit ist es wahrscheinlich, dass viele Betroffene eine gewisse Berufserfahrung gesammelt haben und somit potentiell noch über mehrere Jahre hinweg eine hohe Produktivität entfalten könnten, wären sie nicht gezwungen, aus gesundheitlichen Gründen ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben (Irle et al. 2004 ; Naegele 2001b). Qualifikation und Erfahrung der Belegschaft sind zwei wichtige Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg in vielen Branchen, 28 Zu den direkten Kosten, die durch Transferleistungen entstehen, werden verschiedentlich auch noch indirekte Kosten für die Versicherer addiert, da die betroffenen Personen nicht nur Rente beziehen, sondern zugleich auch keine Beiträge mehr in die Rentenkasse entrichten (Clouth 2004). Hiergegen ist aber einzuwenden, dass dieser zusätzliche Verlust nur dann stattfindet, wenn der Arbeitsplatz des Invaliditätsrentners nicht neu besetzt wird, ansonsten wird die nachfolgende junge Person die Beiträge ausgleichen. Kosten, die in anderen Bereichen des Sozialsystems (vor allem in der Krankenversicherung) entstehen, sind ebenfalls nur schwer zu quantifizieren, daher wird hier auch darauf verzichtet.
2.2 Das große Ganze: Alterssicherung und demographischer Wandel
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so dass aus der Sicht der Unternehmen die Invaliditätsrente eines Mitarbeiters ein unerwünschtes Ereignis sein sollte. Allerdings scheint es, dass diese Sichtweise in der Realität nicht immer dominiert, denn zum einen sind gerade niedrig qualifizierte Erwerbstätige überproportional häufig von Invalidität betroffen und zum anderen ist es bis heute weit verbreitet, Belegschaften allein um des Prinzips willen zu verjüngen, ohne sich dabei von Werten wie Erfahrung beeindrucken zu lassen (Bäcker & Naegele 1995 ; Behrens, Horbach, Solbrig 2002 ; Jacobs, Kohli, Rein 1991). Dieser letzte Punkt leitet über zu einer weiteren wichtigen Verbindung zwischen der Invaliditätsrente und dem Arbeitsmarkt, eine Verbindung allerdings, die bisher noch kaum sichtbar ist, wie die kommenden Ausführungen zeigen werden. Gemeint ist der sich abzeichnende steigende Bedarf nach qualifizierten älteren Arbeitskräften. Ein Blick auf die bereits angedeuteten Gepflogenheiten auf dem Arbeitsmarkt lässt diese Aussage zunächst erstaunlich erscheinen, denn ältere Arbeitnehmer wurden und werden in großem Umfang als Manövriermasse für Personalabbau oder –umschichtung verwendet (Bäcker et al. 1995 ; Irle et al. 2004 ; Kohli et al. 1991 ; Koller 2001). Betrachtet man nur die heutige Lage, so ist die „Altersverschrottung“ (von der Heide 1997, S.305), wie sie vom ehemaligen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm überspitzt bezeichnet wurde, auch einfach erklärbar. Der Bedarf an Arbeitskräften ist niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch, hier bringt Frühberentung eine gewisse Entlastung, da Ältere relativ gesichert aussteigen und Jüngere nachrücken können29 (Bäcker et al. 1995 ; Jacobs et al. 1991 ; Naegele 1999 ; von der Heide 1997). Daher haben Politik, Arbeitgeber, Experten, Gewerkschaften und nicht zuletzt die älteren Arbeitgeber selber diese Praxis in einer „großen Frühberentungs-Koalition“ (Naegele 1999, S.84) aktiv mitgetragen. Als Folge ist die Erwerbsbeteiligung der oberen Altersstufen in Deutschland gering. Zwischen 1994 und 2004 ist der Anteil der Erwerbstätigen an der Altersgruppe von 55 bis 64 Jahren zwar um 3,5% gestiegen, er bleibt aber mit 44,2% auf einem niedrigen Niveau verglichen mit der Erwerbsbeteiligung der 25- bis 54 Jährigen, die 2004 bei 87,7% lag (OECD 2005b). Die daraus resultierenden Probleme für die Finanzierung der Renten 29 Die hauptschuldige Rentenform war in der Vergangenheit die inzwischen auslaufende Rente wegen Arbeitslosigkeit und Arbeitsteilzeit (Kohli et al. 1991, S.14 ; von der Heide 1997). Diese Rentenform erlaubte es Versicherten, abschlagsfrei mit dem 60. Lebensjahr in die Altersrente zu gehen, wenn sie zuvor 52 Wochen arbeitslos gewesen waren oder 24 Monate eine Altersteilzeitbeschäftigung ausgeübt hatten (VDR 1997, S.15ff.). Die Strategie war nun, älteren Arbeitnehmern mit großzügigen Abfindungen oder Ausgleichszahlungen zum Arbeitslosengeld den Ausstieg aus dem Unternehmen schmackhaft zu machen (Voges 1994, S.38 ; von der Heide 1997). Die Berufsunfähigkeitsrente und/oder die Arbeitsmarktrente waren in diesem Zusammenhang sicherlich weniger von Bedeutung, gänzlich unbedeutend für die geschilderte Form der strategischen Berentung waren sie aber wohl auch nicht (Behrens et al. 2002).
44
2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
wurden bereits angesprochen, und auch, dass inzwischen vom Gesetzgeber verschiedene Maßnahmen ergriffen wurden, um eine vorzeitige Berentung als Methode der Personalpolitik zu erschweren. Neben dem Finanzierungsaspekt ist eine niedrige Alterserwerbstätigkeit aber noch in anderer Hinsicht problematisch, denn die aktuell schwierige Lage ist die eine Sache, eine andere ist die zukünftige Situation der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Schreibt man nämlich die derzeitige demographische Entwicklung fort, so zeichnet sich ab, dass die Zahl der Personen im Erwerbsalter (15 bis 65 Jahre) ab ca. 2010-2015 zurückgehen wird, da zu diesem Zeitpunkt die geburtenstarken Jahrgänge mehrheitlich die Altersgrenze von 65 überschritten haben werden und durch die folgenden geburtenschwachen Jahrgänge kein Ausgleich mehr erfolgt (Buck 2003 ; Irle et al. 2004). Orientiert man sich an den Modellrechnungen der Expertenkommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme („Rürup-Kommission“), die auf Daten des Statistischen Bundesamtes beruhen, dann droht in der Zeitspanne zwischen 2010 und 2030 ein Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter von 54,7 auf 48,8 Mio. (BMGS 2003, S.55). Obwohl der dadurch entstehende Personalmangel wahrscheinlich nicht alle wirtschaftlichen Bereiche gleichermaßen treffen wird, zeichnen sich bereits jetzt Engpässe in vielen Tätigkeitsfeldern und Qualifikationen ab (Kistler & Hilpert 2001). Hinzu kommt, dass dem Arbeitsmarkt nicht nur insgesamt viel weniger Menschen im Erwerbsalter zur Verfügung stehen, sondern die verfügbaren Personen im Durchschnitt auch älter sein werden (OECD 2005a, S.6).
Abbildung 3:
Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials (Quelle: BMGS 2003, S.58)
2.2 Das große Ganze: Alterssicherung und demographischer Wandel
45
In Abbildung 3 ist das Erwerbspersonenpotenzial als Prozentanteil den die aktuell Erwerbstätigen und Erwerbsfähigen (Arbeitssuchende und Stille Reserve) an der jeweiligen Altersgruppe ausmachen aufgeführt. Während das Potenzial bei jüngeren Männern und Frauen durch lange Ausbildungszeiten und eine schrumpfende Gesamtzahl relativ konstant bleibt, werden die Altersgruppen ab 50 Jahren aufgrund ihres steigenden relativen Anteils und nicht zuletzt auch aufgrund der ab 2012 wegfallenden Frühberentungsmöglichkeiten bis 2030 deutlich an Gewicht gewinnen (BMGS 2003, S.56ff. ; Naegele 1999). Dieser Trend ist natürlich nicht auf Deutschland beschränkt, er wird in ähnlicher Weise die meisten Industriestaaten weltweit betreffen (Karpansalo et al. 2002 ; Kistler et al. 2001 ; Krause et al. 1997 ; OECD 2005a ; Stattin 2005). Wenn die Wirtschaft das schrumpfende Angebot an Arbeitskräften kompensieren will, so muss sie also ab spätestens 2015 viel stärker als heute auf die Leistung von Menschen jenseits der 50 zurückgreifen (Irle et al. 2004 ; Koller 2001 ; Naegele 2001b). Sollte sich diese Einschätzung bestätigen, so wie es die Mehrheit der Arbeitsmarktexperten inzwischen vermutet (Naegele 2001a), kann es aber als Reaktion nicht ausreichen, durch legislative Eingriffe, wie etwa die Abschaffung von vorgezogenen Ruhestandsregelungen, das Rentenalter kraft Gesetz anzuheben. Es muss den arbeitenden Menschen auch möglich sein, ihre gesamte Lebensarbeitszeit über leistungsfähig zu bleiben. Ob dies gelingt, wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt, die von der politischen Förderung der Integration älterer Arbeitnehmer in den Arbeitmarkt, über die Bereitschaft von Unternehmen, Ältere zu beschäftigen und in deren Qualifikation zu investieren, bis hin zu individuellen Einstellungen gegenüber Arbeit und Ruhestand reichen (Buck 2002 ; Kistler et al. 2001). Die Gesundheit ist hierbei zwar nur ein Puzzlestein unter vielen, allerdings stellt sie eine entscheidende Grundvoraussetzung für die Beschäftigungsfähigkeit dar. Insofern wird die Invaliditätsrente in Zukunft ein noch größeres Problem werden, als sie es heute bereits ist, einfach weil qualifizierte und leistungsfähige Erwerbstätige durch das verknappte Angebot ‚kostbarer’ sein werden.
2.2.3 Individuelle Auswirkungen Die Antwort auf die Frage, mit welchen individuellen Konsequenzen eine Invaliditätsrente verbunden ist, wird durch die Grundbedingung für diese Rentenform vorgegeben: die betroffenen Personen sind krank und durch die Krankheit zumindest soweit eingeschränkt, dass sie gar nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang arbeiten können. Betrachtet man die Diagnosen, die zur Frührente führen, wird deutlich, dass es nicht um Bagatellerkrankungen geht, sondern haupt-
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2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
sächlich um chronische Zustände, die mit einem erheblichen Maß an Schmerzen, Einschränkung der körperlichen sowie der geistigen Bewegungsfreiheit und zum Teil mit einer akuten Lebensbedrohung einhergehen (de Croon et al. 2004). In Tabelle 2 sind die zehn wichtigsten Diagnosegruppen der Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente im Jahr 2004 in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit aufgeführt. Angeführt wird die Liste durch psychische Störungen und Verhaltensstörungen, gefolgt von Muskel-Skelett-Krankheiten, Neubildungen (v.A. Krebserkrankungen) und Krankheiten des Kreislaufsystems. Wenn eine Person also eine Invaliditätsrente bezieht, ist davon auszugehen, dass sie einer erheblichen körperlichen Beeinträchtigung unterliegt. Natürlich wäre es falsch zu behaupten, dass eine Erkrankung automatisch mit Funktionseinbußen oder einem Verlust an Lebensqualität einhergeht, allerdings bedeutet sie eben doch häufig eine Belastung für die seelische Verfassung und die Möglichkeiten der Teilhabe am sozialen Leben (Siegrist 2005a, 32ff.). Tabelle 2: Erwerbsminderungsrentenzugänge 2004 – Anzahl in einzelnen Diagnosegruppen nach ICD 10 (Quelle: VDR 2005) Männer
Frauen
Gesamt
Psychische- und Verhaltens-Störungen
25.551
27.117
52.668
Krankheiten des Muskel-SkelettSystems
18.333
13.332
31.665
Neubildungen
13.205
11.631
24.836
Krankheiten des Kreislaufsystems
14.459
4.846
19.305
Krankheiten des Nervensystems
5.460
4.882
10.342
Krankheiten der Atmungssystems
2.822
1.426
4.248
Verletzungen und Vergiftungen
3.050
1.187
4.237
Krankheiten des Verdauungssystems
2.607
1.322
3.929
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
2.493
1.311
3.804
Krankheiten des Urogenitalsystems
1.075
641
1.716
Sonstige Diagnosen
7.545
5.165
12.710
96.600
72.860
169.460
Alle
An vorderster Stelle der Auswirkungen steht die akute medizinische Bedrohung durch die Krankheit. Untersuchungen zeigen, dass Invaliditätsrentner ein höheres
2.2 Das große Ganze: Alterssicherung und demographischer Wandel
47
Sterblichkeitsrisiko haben als die gleichaltrige Allgemeinbevölkerung: „Der frühzeitigen Ausgliederung aus dem Erwerbsleben folgt bei den gesundheitlich beeinträchtigten Frührentnern häufig der frühe Tod: Ein fünfzigjähriger Frührentner hat z.B. gegenüber dem Durchschnitt der männlichen deutschen Bevölkerung gleichen Alters eine um acht Jahre verkürzte Lebenserwartung“ (Voges 1994, S.19). Aus internationalen
Studien wurden ebenfalls erhöhte Sterblichkeitsrisiken für Invaliditätsrentner berichtet. Beispielsweise fanden Vaherta und seine Arbeitsgruppe (2005) in einer finnischen Langzeituntersuchung mit ca. 20.000 Teilnehmern, dass die Sterblichkeit bei Invaliditätsrentnern 18fach höher war als bei nicht berenteten Kontrollpersonen. Ein anderes Beispiel ist eine Analyse von Zensusdaten der 60- bis 70jährigen Bevölkerung Dänemarks. Sie ergab, dass die Gruppe der Invaliditätsrentner die höchste 10-Jahres-Sterblichkeit im Vergleich zu allen anderen Gruppen, wie Altersrentnern oder Erwerbstätigen, aufwies (Quaade, Engholm, Johansen, Möller 2002). Angesichts des Sterblichkeitsrisikos ist es kaum verwunderlich, dass auch die Lebenszeit der Betroffenen durch die Invalidität geprägt wird. Da es sich bei den Berentungsdiagnosen meist um chronische Zustände handelt, führt die Beendigung des Erwerbslebens nicht automatisch auch zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes (Scharf 1980). Dies lässt sich gut an der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen ablesen. Studien über die ärztliche Versorgung von Invaliditätsrentnern zeigen, dass sie auch noch Jahre nach dem eigentlichen Berentungsereignis häufiger als andere Personen niedergelassene Ärzte sowie ambulante und stationäre Einrichtungen aufsuchen müssen (Gerdle, Bjork, Henriksson, Begtsson 2004 ; Wallman, Burel, Kullman, Svardsudd 2004). Weiterhin ist der Umstand, wegen einer Krankheit das Erwerbsleben verlassen zu müssen, noch mit anderen, nicht-medizinischen Problemen verbunden. Da schon über die Kosten der Invaliditätsrente für die sozialen Sicherungssysteme und die Wirtschaft berichtet wurde, machen die Kosten für die Betroffenen nun auch den Auftakt der Schilderung. Eine Berentung bedeutet häufig den Verlust von Einkommen, da die Nettorentenhöhe auch bei einer vollen Erwerbsminderungsrente noch ca. 30% unter dem durchschnittlichen Nettoarbeitslohn liegt (Stahl 2003). Dies trifft zwar auch auf die Altersrente zu, Invaliditätsrentner tragen aber in mehrerlei Hinsicht besondere finanzielle Risiken, da sie im Durchschnitt bereits früh aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Daraus resultiert, dass sie a.
länger auf die – niedrigere – Rente angewiesen sind als Altersrentner, die im günstigsten Fall bis zum 65. Lebensjahr Lohn oder Gehalt beziehen können;
48 b.
2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
zum Zeitpunkt der Berentung oft weniger Beitragszeit gesammelt haben als Altersrentner, was sich ebenfalls ungünstig auf die Rentenhöhe auswirken kann; c. aufgrund des frühen und häufig überraschenden Renteneintritts weniger Gelegenheit haben, durch Vorsorge während des Erwerbslebens die gesetzliche Rente aufzubessern; d. Abschläge auf ihre Rentenhöhe in Kauf nehmen müssen, wenn die Invalidität vor Vollendung des 63. Lebensjahrs auftritt (BfA 2003a ; Kaldybajewa 2004 ; Scharf 1980 ; Stichnoth et al. 2001 ; VDR 1997, S.28f.). Da die Rente individuell berechnet wird, treffen die aufgezählten Punkte nicht auf jeden Invaliditätsrentner zu, es ist aber davon auszugehen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl im Vergleich zu ihrem Berufsleben als Rentner finanziell schlechter gestellt ist. Schmerzhaft dürfte ein Einkommensverlust vor allem für diejenigen sein, die bereits im Beruf zu den Niedrigverdienern zählten und deren Rentenniveau daher besonders tief liegt (Naegele 2001b). Der Verlust der Erwerbstätigkeit kann aber auch noch aus einem anderen als dem finanziellen Blickwinkel aus gesehen werden, nämlich als sozialer Verlust. Die Arbeit hat einen zentralen Stellenwert in modernen Gesellschaften, der über ihre materielle Bedeutung hinausgeht. Über den Beruf vermittelt sich ein Teil des sozialen Status, die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, der Zugang zu Macht und alltäglichen Tätigkeitsstrukturen (Mikl-Horke 1997, S.96ff.;198ff. ; Sing 2001). Erwerbstätigkeit wird so für viele Menschen zu einem entscheidenden Feld ihrer biographischen Entwicklung in der mittleren Lebensspanne, also von der Adoleszenz bis zum Erreichen der Altersrente (Kohli et al. 1991, S.18ff.). Indem sich Personen in diesem Schema bewegen, erfüllen sie die Erwartungen der Gesellschaft, was wiederum positiv sanktioniert wird, eben durch Faktoren wie materielle oder soziale Anreize. Fällt nun die Erwerbsrolle weg, wird für viele Personen eine Neuorientierung nötig (BMFSFJ 2001, S.19). Derzeit wird die Debatte über die Gestaltung des ‚dritten Lebensalters’, mit dem die Zeit zwischen Berentung und Hochaltrigkeit bezeichnet wird, in Politik, Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit mit Hochdruck geführt: Bücher zum Thema finden sich in den Bestsellerlisten, Regierungskommissionen tagen, Talkrunden im Fernsehen beschäftigen sich mit der demographische Alterung und der verklärte Idealtyp des aktiven, gesunden und kaufkräftigen Rentners ist ein immer häufiger von der Werbeindustrie kolportiertes Leitbild. Der Diskurs um die Rolle der modernen Generation älterer Menschen in der Gesellschaft ist ein Produkt der demographischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Durch den Lebensverlängerungsprozess ist die im fraglichen Lebensabschnitt verbrache Zeitspanne stetig länger geworden und sie wird im Durchschnitt auch bei guter Gesundheit verlebt (BMFSFJ 2001, S.18).
2.3 Fazit
49
Zugleich ist dies eine historisch einmalige Situation, so dass Gestaltungsvorbilder bisher fehlen. Daher macht es Sinn, gesellschaftliche Strukturen zu befördern, die es den ‚jungen Alten’ ermöglichen, aktiv ihren Alltag zu gestalten und zwar nicht nur zum eigenen Vergnügen, sondern auch in gesellschaftlich tragenden nachberuflichen Rollen, wie z.B. bei ehrenamtlicher Arbeit, in der Betreuung von Enkeln oder als Senior-Ratgeber in Betrieben (Schimany 2003, S.317f. ; Sing 2001). Invaliditätsrentner sind früher als Altersrentner mit dem Zwang zur Neuorientierung konfrontiert, da sie in der Mehrzahl bereits im mittleren Erwachsenenalter die Erfahrung machen, das die Erwerbsrolle wegbricht und sich im Anschluss möglicherweise der soziale Status verringert, soziale Kontakte zu Kollegen abreißen und das alltägliche Leben an die neue Situation angepasst werden muss (de Croon et al. 2004 ; Scharf 1980). Hinzu kommen besondere Schwierigkeiten bei einer Neupositionierung, denn die Startvoraussetzungen sind nicht gut. Eine eingeschränkte Gesundheit und teilweise auch geringe finanzielle Ressourcen bilden starke Hindernisse für eine positive Anpassung an die veränderte Lebenssituation. Konzepte für aktives Altern und soziale Produktivität im Alter blenden dieses Problem häufig aus, indem sie nur die gesunden Alten zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen machen. Insofern fehlt es bisher an breit angelegten Strategien, um gesundheitlich eingeschränkten Personen im mittleren und höherem Erwachsenenalter die Teilhabe an relevanten gesellschaftlichen Aufgaben und Aktivitäten jenseits des Erwerbslebens zu ermöglichen. Einige Autoren sehen die Gefahr, dass die Invaliditätsrente in manchen Fällen zu einem Instrument der Marginalisierung von Kranken wird, nämlich dann, wenn sie gegen ihren Willen aus dem Erwerbsleben gedrängt und als unproduktiv stigmatisiert werden (Krokstad et al. 2004 ; Scharf 1980 ; Upmark, Lundberg, Sadigh, Allebeck, Bigert 1999). Eine fehlende Einbindung in gesellschaftliche Strukturen nach der Berentung wäre in diesem Sinne eine Fortsetzung der Marginalisierung dieser Menschen.
2.3 Fazit Die Invaliditätsrente ist kein Forschungsgegenstand, der sich einfach erschließt. In ihr vermengen sich politisch-rechtliche, ökonomische, kulturelle und medizinische Konzepte, die zunächst einmal voneinander abgegrenzt werden müssen, bevor es auf die Suche nach den einzelnen Einflussfaktoren auf das Berentungsrisiko gehen kann. Es ist der Sinn dieses Kapitels, eine solche Abgrenzung vorzunehmen. Dafür wurde zunächst das übergeordnete System der sozialen Sicherung, deren Teil die Invaliditätsrente in Deutschland und anderen Wohlfahrts-
50
2 Die krankheitsbedingte Frührente als Forschungsgegenstand
staaten ist, betrachtet, um dann tiefer in die konkrete rentenrechtliche Ausgestaltung einzelner Rentenmodelle einzusteigen. Eine Schlussfolgerung, die aus dieser Analyse gezogen werden kann ist, dass der zentrale Bewertungsmaßstab für unterschiedliche Formen der Invaliditätsrente der Stellenwert ist, der der medizinischen Diagnose im Rentenverfahren beigemessen wird. Dieser Stellenwert kann, wie die jüngsten Rentenreformen in Deutschland zeigen, durchaus sehr unterschiedlich sein. Mit der Abschaffung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten und der Schaffung der neuen Erwerbsminderungsrente wurden beispielsweise die gesundheitlichen Zugangshürden für die Invaliditätsrente kürzlich höher gelegt und andere, nicht-medizinische Elemente der Berentungsentscheidung, wie die Berücksichtigung der konkreten Arbeitsmarktchancen zurückgedrängt. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, bei der Betrachtung von Zusammenhängen zwischen der Invaliditätsrente und möglichen Einflussfaktoren zu wissen, um welche spezielle Form der Rente es sich handelt und nach welchen Vorgaben das Rentenverfahren abläuft. Der letztgenannte Punkt ist für die Beurteilung der Invaliditätsrente als medizinisches Ereignis von hoher Bedeutung. Im Zuge des Rentenverfahrens werden die eigentlichen diagnostischen Entscheidungen getroffen. Wie oben dargestellt, kann man behaupten, dass die ärztliche Prüfung der medizinischen Voraussetzungen für die Erwerbsminderungs- bzw. EU- und BU-Renten, in der Regel qualifiziert und gründlich erfolgt. Insofern erscheinen die gestellten Diagnosen hinreichend valide und reliabel, um als aussagekräftige Gesundheitsindikatoren in eine wissenschaftliche Analyse einzugehen. Dabei muss natürlich im Auge behalten werden, dass der medizinische Status nicht das einzige Kriterium für die Beurteilung der Rentenberechtigung ist. Die funktionellen Folgen der Erkrankung für das alltägliche Leistungsvermögen spielen ebenso eine Rolle, erst wenn eine Erkrankung diese Leistungsfähigkeit bis zu einem bestimmten, rentenrechtlich definierten Ausmaß einschränkt, sind die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Aber gerade dieser Umstand macht die krankheitsbedingte Frührente zu einem sehr praxisnahen Forschungsgegenstand, eben weil ihr ein modernes Verständnis von Krankheit zugrunde liegt, bei dem nicht nur die somatische Seite der Erkrankung, sondern auch ihre funktionellen Auswirkungen auf das alltägliche Leben berücksichtigt werden. Praxisnah ist sie aber auch deshalb, weil die Invaliditätsrente ein wichtiges Element im Gefüge der sozialen Sicherungssysteme ist. Zunächst einmal kostet sie Geld, und da Invalidität im Durchschnitt relativ junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen trifft, die dann eine lange Zeit ihres Lebens von der Frührente und später dann von der Altersrente abhängig sind, ist es nicht wenig, was die Rentenkasse aufbringen muss. Hinzu kommt ein weiteres Problem, nämlich die zunehmende Alterung der Erwerbsbevölkerung, die in absehbarer Zukunft dazu
2.3 Fazit
51
führen kann, dass die Wirtschaft verstärkt leistungsfähige Arbeitskräfte jenseits der 50. nachfragen wird, um ihren Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Die Möglichkeiten der Einflussnahme sind aber begrenzt. Die gesetzliche Einführung von Altersgrenzen oder eine starke Verschärfung der Zugangskriterien für die Invaliditätsrente verbieten sich von selbst, da die Rente dann ihre Funktion der Absicherung im Krankheitsfall nicht mehr erfüllen könnte (Rodgers 1998). Was bleibt ist der Versuch, den Rentenfall zu vermeiden und möglichst vielen Erwerbstätigen Krankheit und Behinderung zu ersparen, indem Gesundheit und Leistungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung durch geeignete präventive Maßnahmen gestärkt werden, und indem bereits erkrankten Personen vermehrt Chancen eröffnet werden weiter am Arbeitsleben teilzunehmen (Blekesaune et al. 2005 ; Irle et al. 2004 ; Minnik 2000 ; Naegele 2001b). Eine der Vorbedingungen für die Entwicklung erfolgreicher Präventionsstrategien ist die Kenntnis der Gründe, welche die Entstehung von krankheitsbedingten Leistungseinschränkungen und damit die Invaliditätsrente begünstigen. Hier kann die medizinsoziologisch und epidemiologisch orientierte Ursachenforschung einen Beitrag leisten, indem sie ihre Methoden einsetzt, um mögliche Zusammenhänge aufzudecken und empirisch abzusichern. So können den Stellen, die Prävention betreiben, Informationen über mögliche Wirkungszusammenhänge an die Hand gegeben werden, die es erleichtern zielgerichtete und um Breitenwirkung bemühte Konzepte zu entwickeln (de Boer, van Beek, Verbeek, van Dijk 2004 ; Kilbom 1999). Dies ist das Szenario, in das die in dieser Arbeit vorgestellte Analyse zur Bedeutung von psychosozialen Arbeitsbelastungen als erklärender Faktor für die Entstehung der krankheitsbedingten Frührente einzuordnen ist.
3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente 3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
Bis in die 1970er Jahre wurde die Invaliditätsrenten häufig mit der natürlichen Alterung und ihren Folgen erklärt. Die Gleichung dieses ‚Defizitmodells’ war einfach: Alter wurde gleichgesetzt mit einem unaufhaltsamen biologisch bedingtem Verlust physischer und psychischer Leistungsfähigkeit (Voges 1994, 59ff.). Frühverrentung wäre in dieser Logik als eine Art Schicksalsschlag anzusehen, weil die Alterung bei den Betroffenen aus welchen Gründen auch immer besonders schnell fortgeschritten war. Das Defizitmodell gilt inzwischen als weitgehend überholt. Betrachtet man nur die Altersspanne des Erwerbslebens, die mit dem 65. Lebensjahr endet, so sind natürliche Alterungsprozesse und ihre Auswirkungen auf die gesundheitliche Leistungsfähigkeit zwar vorhanden, aber in so geringem Maße, dass sie als Erklärung für das Krankheitsgeschehen in diesen Altersgruppen bei weitem nicht ausreichen (BMFSFJ 2001 ; Huber 2002 ; Kohli et al. 1991, S.15). Es muss also andere Faktoren geben, die das Berentungsrisiko beeinflussen. Es liegt nahe, bei der Suche nach diesen Faktoren die Arbeitswelt selbst ins Visier zu nehmen, schließlich handelt es sich bei der Invaliditätsrente um ein Ereignis, welches unmittelbar mit der Ausübung von Arbeit in Beziehung steht. Zudem ist der Zusammenhang zwischen ungünstigen Arbeitsbedingungen und zahlreichen Erkrankungen inzwischen gut belegt. Trotz der zu vermutenden Beziehung ist das Wissen darüber, welche Charakteristika der Arbeit im einzelnen zum Frühberentungsgeschehen beitragen und in welcher Größenordnung dieser Beitrag liegt, aber weit davon, entfernt vollständig zu sein, und es gibt bisher nur wenige Studien zu diesem Thema. Um zu erklären, warum sich der Zusammenhang einer einfachen Deutung entzieht, kann aus medizinischer Sicht angeführt werden, dass sich hinter der Oberkategorie krankheitsbedingte Frührente ein sehr heterogenes Krankheitsgeschehen verbirgt: Bandscheibenvorfälle, Herzinfarkte, abgetrennte Gliedmaßen, Schizophrenie, die Liste der Beispiele für Grundleiden ließe sich problemlos erweitern. Gilt nun das Interesse den Risikofaktoren30, die eine schwerwiegende Erkrankung auszulösen im Stande sind, so 30 Mit dem Begriff Risikofaktor wird in der medizinsoziologischen und epidemiologischen Forschung ein Faktor bezeichnet, bei dessen Auftreten sich die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöht (Last 2001, S.161). Ein bekanntes Beispiel ist das Rauchen, das als Risikofaktor gleich für eine Vielzahl von Krankheiten gilt. Das Gegenstück zum Risikofaktor ist der Schutz- oder
54
3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
wird diese Aufzählung nicht minder lang, da bei der Entstehung jeder einzelnen Erkrankung spezielle Mechanismen wirksam sind. Hinzu kommt, dass die häufigsten Grundleiden der Frühberentung – Muskel-Skelett-, psychische und HerzKreislauf-Erkrankungen – zu den chronisch-degenerativen Erkrankungsformen zählen, die typischerweise eine multikausale31 und lange Entstehungsgeschichte haben. Nimmt man beispielsweise den akuten Myokardinfarkt, so sind mittlerweile weit über ein Dutzend wichtiger Risikofaktoren (Rauchen, Cholesterin, Übergewicht, Bewegungsmangel, Arbeitsstress etc.) bekannt und finden Eingang in die klinische Praxis und Prävention. Zu allem Überfluss stehen den Risiken dann auch noch verschiedene Schutzfaktoren (Hormonstatus, soziale Unterstützung etc.) gegenüber (Schaefer 2000). Es ist also insgesamt von einem komplexen Zusammenwirken verschiedenster Einflüsse auszugehen, zu denen zwar auch arbeitsbedingte Risiken zählen, aber eben nur als Teil einer weitaus umfassenderen Wirkungskette. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass krankheitsbedingte Frühberentung nicht alleine als medizinisches Phänomen gesehen werden darf. Es gibt keinen Automatismus etwa dergestalt, das jede Person, die mit einer bestimmten Schwere erkrankt, auch eine Invaliditätsrente beziehen wird, vielmehr sind die individuellen Konsequenzen verschieden und hängen wiederum von einer Reihe von Bedingungen und Einflüssen ab. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die bisherigen Ergebnisse der Ursachenforschung auf die so einfache wie uneindeutige Formel zu bringen sind: Die Vorgeschichte einer krankheitsbedingten Frührente muss als ein multikausales, also durch eine Vielzahl von Einflüssen bestimmtes Geschehen begriffen werden (Biefang et al. 1998 ; Blekesaune et al. 2005 ; Hagen et al. 2002 ; Holte et al. 2000 ; Karpansalo, Manninen, Kauhanen, Lakka, Salonen 2004 ; Krause et al. 1997 ; Krokstad et al. 2004 ; Lund, Iversen, Poulsen 2001). Das Szenario einer multikausalen und vielfach verwobenen Wirkungskette verlangt zum einen nach Beschränkung auf klar eingegrenzte Fragestellungen bei der Erforschung der Risikofaktoren und zum anderen nach übergeordneten Modellen, die es erlauben, die einzelnen Betrachtungen in einen größeren Kontext zu stellen32. Dem Zwang zur Beschränkung wird in dieser Arbeit gerne nachgeProtektivfaktor, der Krankheitsrisiken vermindert. Im Folgenden werden die Begriffe Risikofaktor, Einflussfaktor und Determinanten synonym verwendet. 31 Die moderne Vorstellung von den kausalen Mechanismen bei der Entstehung von Krankheiten ist eng mit dem Gedanken der Multikausalität verknüpft (Gordis 2001 ; Maldonado & Greenland 2002 ; Rothman & Greenland 1998b). Er besagt, dass bei der Entstehung vieler Erkrankungen diverse Faktoren auf eine jeweils ganz bestimmte Weise zusammenwirken müssen. 32 An dieser Stelle muss betont werden, dass sich die folgenden Ausführungen auf wissenschaftliche Ergebnisse zur krankheitsbedingten Frührente beziehen. Analysen zu nicht krankheitsbedingten Frührentenarten (insbesondere der vorgezogenen Altersrente), sind damit bis auf wenige Ausnahmen ausgeblendet. Zwar sind für diese Form der Rente ähnliche Risikofaktoren
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
55
geben, indem psychosoziale Arbeitsbelastungen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden. Bereits in frühen Arbeiten zur Frühberentungsthematik wird der Einfluss von psychosozialen Belastungen33 diskutiert. Die Annahme, dass es hier einen Zusammenhang geben könnte, speiste sich damals aus der Beobachtung, dass die Häufigkeit von Invaliditätsrenten, die aufgrund psychischer Krankheiten gewährt wurden, zunahm und dass es daher wahrscheinlich wäre, dass hier soziale und psychologische Arbeitsbelastungen eine auslösende Rolle haben könnten (Kentner, Hop, Weltle, Valentin 1983 ; Taylor 1979). Wie später in diesem Kapitel noch zu zeigen sein wird, haben sich die Indizien für einen kausalen Anteil psychosozialer Arbeitsbelastungen an Krankheiten im Allgemeinen und an krankheitsbedingter Frührente im Speziellen inzwischen verdichtet und zwar nicht nur für psychische Erkrankungen, sondern auch für Herz-Kreislauf-Krankheiten und muskulo-skelettale Beschwerden. Hinzu kommt, dass als Folge veränderter allgemeiner Arbeitsbedingungen eine wachsende Zahl von Erwerbstätigen in westlichen Industrieländern mit psychosozialen Belastungen konfrontiert ist. Die quantitative Bedeutung des Problems wird also mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmen, so dass Forschung auf diesem Gebiet einen Beitrag für die künftige Entwicklung von Präventionsansätzen für großen Gruppen der erwerbstätigen Bevölkerung leisten kann (European Agency for Safety and Health at Work 2002b ; European Agency for Safety and Health at Work 2002a ; Resch 2003). Während damit die primär interessierende Größe benannt ist, steht ihrer Einordnung in ein übergeordnetes Modell zu Einflussfaktoren auf die krankheitsbedingten Frührente entgegen, dass es ein solches nach Wissens des Autors nicht gibt. Zwar sind zur Darstellung der Einflüsse auf die Entscheidung, wann eine frühzeitige Altersrente angetreten wird, verschiedene Modelle entwickelt worden (z.B.: Palmore, George, Fillenbaum 1982 ; Taylor et al. 1995), sie sind aber nicht 1:1 auf die Situation bei der krankheitsbedingten Frührente übertragbar. Ein Modell, oder besser eine Synthese mehrerer theoretischer Modelle34, das sich direkt auf die krankheitsbedingte Frührente bezieht, hat Wolfgang Voges entwickelt (1994). Allerdings stehen bei Voges Aspekte der Rentengesetzgebung identifiziert worden, beispielsweise zeigen Untersuchungen, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen einen Einfluss auf die Entscheidung haben, eine Altersrente anzutreten (Blekesaune et al. 2005 ; Mein et al. 2000), ihre relative Bedeutung unterscheidet sich aber, da bei der normalen Frührente rentenrechtliche und –finanzielle Gründe, sowie persönliche Einstellungen gegenüber Rente und Freizeit bedeutsamer sind, als bei der Invaliditätsrente. Die Ursachen für die gesundheits- und die nicht gesundheitsbedingte Rente können also nicht ohne weiteres verglichen werden (Hayward, Friedman, Chen 1998 ; Taylor & McFarlane Shore 1995). 33 Eine ausführliche Definition psychosozialer Arbeitsbelastungen wird in Kapitel 4 gegeben. 34 Voges führt verschiedene Theorien für die Erklärung des Berentungsverhaltens an, z.B. die „Disengagement-Theorie“, humankapital- und segmentationstheoretische Ansätze.
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
und Einflüsse des Arbeitsmarktes im Vordergrund, da er sich auf die spezielle deutsche Situation in den 1970er Jahren bezieht. Damals wurde die Bedeutung der Arbeitsmarktchancen eines Versicherten für die Begutachtung der Erwerbsfähigkeit durch Einführung der konkreten Sichtweise erhöht (siehe Kap. 2). Die eigentliche gesundheitliche Schädigung wurde weniger entscheidend, so dass die Gefahr gesehen wurde, das Versicherte „auch aufgrund von Kleinstbeschwerden als Frühinvalide verrentet“ (Voges 1994, S.41) werden konnten. Unter solchen Bedingungen spielen Charakteristika des Arbeitsmarktes, aber auch persönliche Präferenzen und Merkmale (z.B. Qualifikation) eine besondere Rolle, wenn auch, wie Voges anhand empirischer Daten zeigen konnte, bei weitem nicht in dem befürchteten Ausmaß. Da in dieser Arbeit aber die rein gesundheitsbezogene Frühberentung im Mittelpunkt steht und somit der Einfluss institutioneller Regelungen nur am Rande von Bedeutung ist, kann auch das Modell von Voges nicht ohne weiteres übernommen werden. Daher wird zunächst versucht, ein Modell zu entwickeln, das die Wirkung verschiedener Faktoren auf den Prozess der krankheitsbedingten Frühberentung beschreibt. Damit verbindet sich die Hoffnung, das verworrene Beziehungsgeflecht ein wenig entknoten zu können und auf diese Weise anschaulich zu machen, welche Position psychosoziale Arbeitsbelastungen und andere Einflussfaktoren im Entstehungsprozess haben könnten. Angesichts der oben angesprochenen Probleme des heterogenen Krankheitsspektrums und der Multikausalität kann das Modell aber keinesfalls einen umfassenden Anspruch erheben und es ist weit mehr deskriptiv als theoretisch angelegt. Es verbleibt somit notwendigerweise auf der Ebene einer schematischen Darstellung, die einerseits der Orientierung dient und andererseits einen Rahmen für die Interpretation der vorhandenen Evidenz bietet. Angesichts des nach wie vor unzureichenden empirisch gestützten Wissens über die Determinanten der Invaliditätsrente erscheint eine solche Beschränkung auch angeraten.
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell Die Grundidee des Modells ist, dass der Weg von der Grunderkrankung zur krankheitsbedingten Frührente nicht gradlinig verläuft, sondern dass es verschiedene Abzweigungen und Auswege gibt und dass äußere Einflüsse, wie psychosoziale Arbeitsbelastungen, nicht nur als Ursachen für die Grunderkrankung eine Rolle spielen, sondern während des gesamten Prozesses von Bedeutung sind. Diese Idee basiert auf der von der WHO in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF“ formulierten Vorstellung der Determinanten von Krankheitsfolgen (WHO/DIMDI 2004). Ein
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
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Rückgriff auf diese Klassifikation und ihre Prinzipien bietet sich auch deswegen an, weil sie zunehmend Eingang in die Praxis der Krankheitsdefinition in der Sozialversicherung, u.a. auch bei der Rehabilitation und der Feststellung der Erwerbsminderung findet (Hemmrich et al. 2004; siehe auch Kap. 2). Grob gesagt wird in der ICF eine Systematik entwickelt, die über die Klassifikation von medizinischen Diagnosen hinaus die Auswirkungen einer Erkrankung beschreibt. Dies geschieht in zwei „Domänen“, die eng aufeinander bezogen sind, 1. der Domäne der „Körperfunktionen und –strukturen“ und 2. der Domäne der „Aktivitäten und Partizipation“. Erstere bezeichnet körperliche Krankheitsfolgen, wie z.B. die eingeschränkte Beweglichkeit einer Hand als Folge eines Unfalls, und letztere Krankheitsfolgen im sozialen Bereich, z.B. die aus den Unfallfolgen resultierende Unfähigkeit, den eigenen Beruf wie bisher auszuüben. Weiter wird davon ausgegangen, dass Krankheitsfolgen im Allgemeinen nicht alleine vom Schweregrad der zugrundeliegenden Gesundheitsstörung, sondern auch von Kontextfaktoren der Umwelt und der Person abhängen. Bezogen auf die krankheitsbedingte Frührente bedeutet dies, dass eine Erkrankung nicht notwendigerweise zur Aufgabe der Arbeit führen muss, vielmehr spielen hierbei weitere Faktoren eine Rolle, wie rechtliche Regelungen, der soziale Hintergrund, Möglichkeiten der Rehabilitation oder Charakteristika des Berufs. Das aus den in der ICF formulierten Vorstellungen abgeleitete und im Folgenden erweiterte Modell zur Entstehung der krankheitsbedingten Frühberentung ist, zunächst noch ohne mögliche Einflussfaktoren, in Abbildung 4 dargestellt. Startpunkt ist die Grunderkrankung. Nun sind in der Folge verschiedene Szenarien denkbar, die davon abhängen, ob der oder die Betroffene einen Antrag auf Gewährung einer Rente stellt oder nicht.
Abbildung 4:
Der Prozess der krankheitsbedingten Frühberentung
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
Diejenigen, die auf eine Antragstellung verzichten, haben im Wesentlichen vier Alternativen. Ein Teil der Erkrankten wird im Beruf verbleiben, auch wenn dies unter Umständen mit längeren Arbeitsunfähigkeitsperioden verbunden ist (z.B.: Gjesdal & Bratberg 2002 ; Siebert et al. 2001). Ein weiterer Teil wird den Arbeitsplatz wechseln, vorzugsweise in einen Beruf, der sich mit der Erkrankung besser vereinbaren lässt (z.B.: Blanc et al. 1999 ; Lund et al. 2001 ; Siebert et al. 2001 ; Tuomi et al. 1991) oder, falls dieser Ausweg nicht zur Verfügung steht, freiwillig oder gezwungenermaßen in die Arbeitslosigkeit ausweichen (z.B.: Grobe & Schwartz 2003, S.17ff. ; Riphahn 1997). Die letzte Option ist das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben durch Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente, also eine attraktive Alternative für erkrankte Arbeitnehmer, da die Altersrente in der Regel finanziell über der Erwerbsunfähigkeitsrente liegt (Siddiqui 1997). Dieser Ausweg steht allerdings nur Personen offen, welche die entsprechenden rentenrechtlichen Bedingungen erfüllen. Die ersten drei Möglichkeiten bedeuten, dass der oder die Betroffene zunächst im Arbeitsleben verbleibt, in der Zukunft aber mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Neubewertung der Situation erforderlich ist, vor allem dann, wenn es sich bei der Grunderkrankung um einen chronischen Zustand handelt. Im besten Fall verlässt eine Person den Zirkel, beispielsweise weil die Erkrankung erfolgreich geheilt oder eine Arbeit gefunden wird, die trotz der Krankheit ausgeübt werden kann (Stattin 2005). Im weniger günstigen Fall, etwa wenn sich der Gesundheitszustand weiter verschlechtert oder sich die Rahmenbedingungen für eine Weiterbeschäftigung ändern, wird der Entscheidungszyklus mit all seinen Optionen nochmals durchschritten. Ein anderer Weg tut sich auf, wenn sich der oder die Versicherte entschließt, einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätsrente zu stellen. Im Zuge des Genehmigungsverfahrens bzw. schon vor Eröffnung des Verfahrens, wird zunächst festgestellt, ob eine Rehabilitationsmaßnahme in Frage kommt oder ob die Grunderkrankung als so schwer und irreversibel erscheint, dass sofort die Rente gewährt wird35. Von denjenigen Personen, die eine Rehabilitation durchlaufen, wird ein Teil unmittelbar im Anschluss in die krankheitsbedingte Frührente wechseln, da kein Erfolg erkennbar und voraussichtlich auch nicht durch weitere Maßnahmen herbeizuführen ist (Roth et al. 2003, S.23). Der andere Teil der Rehabilitanden wird dagegen in den oben beschriebenen Zyklus zurückkehren, etwa weil die Arbeitsfähigkeit im alten Beruf wiederhergestellt ist oder eine 35 Diese Beschreibung bezieht sich auf Länder, in denen der Rente eine Rehabilitation obligatorisch vorangestellt ist („Reha vor Rente“). Dazu gehören z.B. Deutschland oder Schweden. In Ländern, in denen dies nicht der Fall ist, wird in der Regel ebenfalls Rehabilitation zur Vermeidung von Invalidität eingesetzt, die Zuweisungsmechanismen sind aber weniger institutionalisiert. Entsprechend kann der Prozess an dieser Stelle abweichend verlaufen.
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
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berufliche Alternative gefunden wird (Stattin 2005). Die letzte Möglichkeit der Rückkehr in den Prozess, ist eine Ablehnung des Rentenantrags.
3.1.1 Einflüsse auf den Berentungsprozess An verschiedenen Stellen beeinflussen nun äußere Faktoren den Verlauf des Prozesses und bestimmen mit, ob an seinem Ende eine krankheitsbedingte Frührente steht. Der wohl wichtigste Ansatzpunkt liegt bei der Entstehung der Grunderkrankung selbst. Hierunter fallen alle Aspekte der Ätiologie von Erkrankungen und der daran beteiligten Einflussfaktoren. Durch die Grunderkrankung wird auch der weitere Weg bestimmt: die Entscheidung für oder gegen die Beantragung einer Rente, der zweite Ansatzpunkt, hängt von der Art und Schwere der Erkrankung und ihren Auswirkungen auf die individuelle Arbeitsfähigkeit ab (Yelin 1986). Beispielsweise werden Personen nach einem schweren Schlaganfall mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Antrag auf krankheitsbedingte Frührente stellen, als Personen mit einem chronischen Rückenleiden. Falls aber die Krankheit nicht zwangsläufig zur Invalidität führt – und dies ist beim Krankheitsspektrum der krankheitsbedingten Frührente nicht selten der Fall – , verbleibt ein Spielraum für die Entscheidung für oder gegen eine Rente und auch diese Entscheidung wird, wie verschiedene Studien zeigen, von zahlreichen Einflüssen mitbestimmt (Borg, Hensing, Alexanderson 2001 ; Crimmins & Hayward 2004 ; de Boer et al. 2004 ; de Croon et al. 2004 ; Krokstad, Johnsen, Westin 2002 ; Krokstad et al. 2004 ; Reisine, Fifield, Walsh, Feinn 2001 ; Voges 1994). Aus den Gründen herauszuheben sind physische und psychosoziale Arbeitsbedingungen, die in starkem Maße mitbestimmen, ob die Erkrankung mit der Arbeit vereinbar erscheint oder nicht. Die nächste Stelle, an der äußere Faktoren auf den Prozess wirken, ist die Rehabilitation, bei der sich entscheidet, ob die betroffene Person wieder in den Beruf zurückkehren kann. Der Gesundheitszustand und die damit einhergehende berufliche Leistungsfähigkeit spielen bei der Prognose für einen RehabilitationsErfolg selbstverständlich eine entscheidende Rolle (Küpper-Nybelen, Rothenbacher, Jacobi, Brenner 2003), dennoch wurden in verschiedenen Untersuchungen auch gesundheitsunabhängige Einflussfaktoren für den Erhalt der Erwerbsfähigkeit gefunden (Bengel et al. 2002 ; Biefang et al. 1998 ; Mittag et al. 2003 ; Slesina, Buchmann, Weber, Leicht, Wolter 2003). Die soziale Schicht oder die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit sind Beispiele hierfür. Ein letzter möglicher Ansatzpunkt ist die Neubewertung der Situation bei Personen, die trotz Erkrankung noch oder wieder am Erwerbsleben teilnehmen. Es ist denkbar, dass auch an diesem Punkt des Prozesses nicht allein der Ge-
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
sundheitszustand darüber entscheidet, ob und mit welchem Ergebnis eine Neubewertung vorgenommen wird. Allerdings sind Studien, mit denen diese These belegt werden kann, rar. Die wenigen Untersuchungen, in denen das Berentungsrisiko von bereits erkrankten, aber noch im Erwerbsleben befindlichen Personen betrachtet wird, zeigen aber, dass äußere Faktoren unabhängig von der Erkrankung das Berentungsrisiko beeinflussen (Blanc et al. 1999 ; Borg et al. 2001 ; Gjesdal et al. 2002 ; Gjesdal et al. 2004 ; Härkäpää 1992 ; Ward & Kuzis 2001).
Abbildung 5:
Der Prozess der krankheitsbedingten Frühberentung und Ansatzpunkte für den Einfluss von Risikofaktoren
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
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Abbildung 5 zeigt nun das um die vier Ansatzpunkte für äußere Einflüsse erweiterte Prozessmodell. Zusätzlich sind sechs Bereiche von Einflussfaktoren benannt, für die Studienergebnisse zum Zusammenhang mit krankheitsbedingter Frührente vorliegen: Gesundheit, Einstellungen & Präferenzen, Lebensstil, sozialer Status, soziale Einbindung und Arbeit. Sie sind bewusst gleichberechtigt nebeneinander gestellt, denn mit der vorhandenen Evidenz ist es kaum möglich, den relativen Beitrag der einzelnen Bereiche sicher einzuschätzen, zumal je nach Grunderkrankung unterschiedliche Risiken mit einer unterschiedlichen Intensität an verschiedenen Stellen des Prozesses wirken. Genaugenommen müsste das Modell also für jede Grunderkrankung neu angepasst werden. Um das zu tun, würden aber weit mehr Forschungsergebnisse benötigt, als sie derzeit zur Verfügung stehen. Verschiedene Autoren jüngerer Untersuchungen zu den Ursachen der krankheitsbedingten Frührente beklagen denn auch den Mangel an Forschung. So ziehen beispielsweise Allebeck und Mastekaasa (2004) in einem kürzlich erschienenen Übersichtsartikel, für den sie lediglich achtzehn qualitativ hochwertige Studien zu Ursachen für die Invaliditätsrente identifizieren konnten, das Fazit, dass „aufgrund der Bedeutung der krankheitsbedingten Frührente für das Individuum und für die Gesellschaft im Allgemeinen, mehr Forschung auf diesem Gebiet dringend benötigt wird“ (S.65; eigene Übersetzung). Somit kann das Modell lediglich als Anhaltspunkt für die Einordnung der vorhandenen Evidenz dienen. Welche Risikofaktoren sich im Einzelnen hinter den sechs Bereichen verbergen und welche Wirkungsweisen dahinter vermutet werden, soll im Folgenden vorgestellt werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf psychosozialen Arbeitsbelastungen, aber es wäre aufgrund der erwähnten multikausalen Zusammenhänge problematisch sich ausschließlich darauf zu konzentrieren. Daher sollen zunächst nur diejenigen Risikofaktoren für die Invaliditätsrente aufgeführt werden, die zwar nicht unmittelbar Teil der hier verfolgten Fragestellung nichtsdestotrotz aber wichtig für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs sind.
3.1.2 Bekannte Risikofaktoren der krankheitsbedingten Frührente In Abbildung 5 sind Gruppen von Einflussfaktoren36 benannt worden. Was sich genau hinter diesen Oberkategorien verbirgt, ist der Tabelle 3 zu entnehmen.
36 In der Aufzählung fehlt der Faktor Alter, obwohl natürlich das Risiko der Invaliditätsrente – wie das Erkrankungsrisiko insgesamt – mit dem Alter zunimmt (z.B.: Gjesdal et al. 2004). Dabei kann das Alter als Sammelbegriff für eine ganze Summe aus Einflüssen und Belastungen interpretiert werden (Voges 1994, S.59ff.). In allen Studien, die im Folgenden zitiert werden, wurde
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
Tabelle 3: Risikofaktoren der krankheitsbedingten Frührente und ausgewählte Literatur Bereich
Risikofaktor
Zusammenhang
Gesundheitszustand
Muskulo-skelettale Vorerkrankungen Kardiovaskuläre Vorerkrankungen Psychische Vorerkrankungen Andere Vorerkrankungen
Gjesdal et al. (2004) Rothenbacher et al. (1997) Biefang et al. (1998) Siebert et al. (2001) Härkäpää (1992) Upmark et al. (1999) Krause et al. (1997) Siebert et al. (2001) Küpper et al. (2003) Kivimäki et al. (2004) Karpansalo et al. (2004) Mansson et al. (2001)
Arbeitsunfähigkeit Subjektive Gesundheit Lebensstil
Rauchen
Übergewicht Sozio-ökonomischer Status
Niedriges Einkommen Niedrige Bildung Niedriger beruflicher Status Benachteiligung in Kindheit/Jugend
Biering et al. (1999) Hagen et al. (2002) Mansson et al. (1996) Hagen et al. (2002) Blekesaune et al. (2005) Biefang et al. (1998) Krokstad et al. (2002) Hagen et al. (2000) Krokstad et al. (2004) Mansson et al. (1998) Upmark et al. (2002)
Einstellungen & Präferenzen Soziale Einbindung
Biering et al. (1999) Krause et al. (1997) Krause et al. (1997) Siebert et al. (2001)
Rothenbacher et al. (1998) Hagen et al. (2002)
Alkohol Bewegungsmangel
kein Zusammenhang
Mansson et al. (1999) Hagen et al. (2002) Krause et al. (1997) Lund et al. (2003) Krause et al. (1997) Krause et al. (1997)
Yelin (1986) Sozialer Rückhalt Familienstand
Hagen et al. (2002) Upmark et al. (1999) Blekesaune et al. (2005)
Gjesdal et al. (2002)
daher der Einfluss des Alters statistisch kontrolliert, so dass die Ergebnisse unabhängig vom Alter zu interpretieren sind.
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
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Tabelle 3 (Fortsetzung): Risikofaktoren der krankheitsbedingten Frührente und ausgewählte Literatur – Fortsetzung Physische Arbeitsbelastung
Physische Arbeitsbelastungen allgemein
Heben schwerer Lasten Ungünstige Arbeitshaltung Belastung mit Dämpfen, Gasen, Staub, Rauch Passiv Rauchen am Arbeitsplatz Einseitige Beanspruchung einzelner Körperpartien
Astrand et al.(1988) Hagen et al. (2002) Karpansalo et al. (2002) Krokstad et al. (2002) Blekesaune et al. (2005) Holte et al. (2000) Krokstad et al. (2002) Lund et al. (2003) Karpansalo et al. (2002) Lund et al. (2003) Blanc et al. (1999)
Salonen et al. (2003) Biering et al. (1999)
Lund et al. (2001) Lund et al. (2001)
Blanc et al. (1999) Vingard et al. (1992) Krause et al. (1997)
Dort sind einzelne Faktoren aufgeführt und mit ausgewählten Zitaten belegt. Alle Zitate beziehen sich auf Artikel, in denen Ergebnisse aus Langzeitstudien mit hoher kausaler Aussagekraft präsentiert werden. Die Studien sind in zwei Gruppen sortiert, in solche, in denen ein Zusammenhang zwischen dem untersuchten Faktor und der Frühberentungswahrscheinlichkeit gefunden wurde und in solche, in denen kein Zusammenhang nachweisbar war. Der erste Bereich ist der des allgemeinen Gesundheitszustandes bzw. der Vorerkrankungen, über den im Vergleich zu allen anderen Bereichen die meisten Ergebnisse vorliegen, da die Mehrzahl der Studien zu den Ursachen der Invaliditätsrente, auch wenn sie explizit nichtmedizinische Einflüsse in den Vordergrund stellen, den Gesundheitszustand zu Beginn der Untersuchung berücksichtigen. Die inhaltliche Spanne der getesteten gesundheitlichen Einschränkungen ist weit, sie reicht von manifesten Erkrankungen und Arbeitsunfähigkeit bis hin zu Indikatoren der subjektiven Gesundheit. Häufig erlauben solche Gesundheitsmaße eine gute Voraussage einer späteren Invaliditätsrente, wobei der prädiktive Wert der einzelnen Faktoren aber stark schwankt und teilweise auch gar keine Zusammenhänge beobachtbar waren (Biering-Sorensen et al. 1999 ; Krause et al. 1997 ; Siebert et al. 2001). Hervorzuheben sind muskulo-skelettale Vorerkrankungen, die in der Regel mit einem hohen Risiko für eine zukünftige krankheitsbedingte Frührente einher gehen (Gjesdal et al. 2004). Das insgesamt etwas uneindeutige Bild kann verschiedene Ursachen haben. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass die negativen Ergebnisse in einigen Studien weniger gegen die Bedeu-
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
tung von Krankheiten für die Frühberentung sprechen, als vielmehr methodische Probleme der Messung von Vorerkrankungen wiederspiegeln. Häufig arbeiten Studien mit Sekundärdaten, in denen keine validen Informationen über den Gesundheitszustand zu Beginn des Untersuchungszeitraumes vorliegen. Eine genaue medizinische Erfassung ist eher unüblich. Der Lebensstil, als zweiter Bereich in der Liste, prägt die Gesundheit in besonderem Maße. Beispielsweise schätzt die Weltgesundheitsorganisation, dass mindestens ein Drittel aller Krankheiten in den Industrienationen durch verhaltensbezogene Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht und Alkoholkonsum ausgelöst werden (WHO 2002, S.8). Es liegt also nahe, dass diese Faktoren einen Teil der krankheitsbedingten Frührente mit verursachen, sei es, indem sie die Grunderkrankung auslösen oder indem sie die Prognose bei bereits aufgetretener Krankheit verschlechtern. Zu vier wichtigsten Lebensstilfaktoren liegen Studien vor, zu Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und Übergewicht. Die eindeutigsten Ergebnisse gibt es für das Rauchen, die meisten Studien berichten deutlich höhere Invaliditätsrisiken für Raucher. Bei den Faktoren Bewegungsmangel und Übergewicht sind die Befunde dagegen uneinheitlich, in einem Teil der Studien zeigten sich Zusammenhänge, in anderen nicht. Unerwartete Ergebnisse liegen für Alkoholkonsum vor. Es ist nicht nur so, dass in den meisten Studien keine Zusammenhänge mit dem Berentungsrisiko zu erkennen waren, teilweise gingen die Effekte sogar in die entgegengesetzte Richtung. Beispielsweise berichten Mansson und Mitarbeiter (1999) aus einer großen Kohortenstudie in Schweden, dass Abstinenzler im Vergleich zu Personen mit moderatem Alkoholkonsum ein 1,8fach höheres Risiko für eine Invaliditätsrente haben. Relativ eindeutig sind die Studienergebnisse zum dritten Bereich, dem sozio-ökonomischen Status. Die Mehrzahl der Studien weist eine deutliche Ungleichverteilung von Berentungsrisiken in Abhängigkeit vom sozialen Status nach: Je niedriger die individuelle Bildung, der Berufsstatus oder das Einkommen, desto höher das Risiko eines krankheitsbedingten frühzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben. Alles andere als ein solches Ergebnis wäre eine handfeste Überraschung, den die soziale Ungleichverteilung von Krankheit und Sterblichkeit gehört zu den mit am besten belegten Befunden der medizinsoziologischen und sozialepidemiologischen Forschung überhaupt37 (Übersicht: Kunst 1997 ; Mackenbach & Bakker 2003 ; Marmot & Wilkinson 1999 ; Mielk 2000). Somit kann die krankheitsbedingte Frührente als ein weiterer Indikator für die 37 Das gehäufte Auftreten von Krankheiten in unteren sozialen Schichten wird mit einer Vielzahl von Gründen in Verbindung gebracht, dazu gehören beispielsweise eine allgemeine materielle Benachteiligung, schlechtere gesundheitliche Versorgung, gesundheitsschädliche Verhaltensweisen, psychosoziale Belastungen und auch schlechtere Arbeitsbedingungen (z.B.: Schrijvers, Mehn, Stronks, Mackenbach 1998 ; Siegrist & Marmot 2004 ; Steinkamp 1999 ; WHO 2004).
3.1 Wege in die krankheitsbedingte Frührente: ein Prozessmodell
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soziale Ungleichheit von Gesundheitsrisiken verstanden werden, denn wenn Angehörige unterer sozialer Schichten häufiger krank werden als solche aus oberen Schichten, dann werden sie auch häufiger eine Invaliditätsrente in Anspruch nehmen müssen. Erwähnenswert ist noch der Befund, dass in mehreren Studien ein niedriges Einkommen mit einem höheren Berentungsrisiko einherging. Dies bestätigt indirekt die oben geäußerte These, dass finanzielle Aspekte, und hier vor allem die erwartete Rentenhöhe, bei der krankheitsbedingten Frührente keine so große Rolle spielen wie bei frühzeitigen Altersrenten, denn ansonsten müssten Personen mit niedrigen Einkommen seltener und später in die Rente wechseln, um über die weitergezahlten Beiträge die Höhe ihrer zukünftigen Rente positiv zu beeinflussen. Dies scheint nicht der Fall zu sein und die wahrscheinlichste Begründung ist, dass erkrankte Personen häufig aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht die Möglichkeit haben, den Rentenbeginn entscheidend hinauszuzögern. Einen Bezug zum Einkommen hat auch der Bereich der Einstellungen und Präferenzen. Im Zusammenhang mit der Altersrente wurden theoretische Modelle entwickelt, die nachvollziehbar machen sollen, warum sich eine Person zu einem bestimmten Zeitraum entschließt, eine Rente zu beantragen. In der Forschung dominiert bisher ein ökonomischer bzw. humankapitaltheoretischer Erklärungsansatz (Stattin 2005). Demnach schwankt die Entscheidung zwischen zwei Polen, den Präferenzen/Einstellungen der Person (also der Nutzenerwartung) und den Kosten, die zur Erfüllung dieser Präferenzen aufgewendet werden müssen (vgl. Voges 1994). Laut Theorie wird die Person eine rationale Kalkulation durchführen und sobald der Nutzen der Frühberentung38, gesehen im Licht der eigenen Präferenzen für Freizeit und Einkommen, die Kosten für eine Weiterbeschäftigung übersteigt, die Berentung wählen. Kosten sind in diesem Fall die Vor- und Nachteile – beispielsweise für die Gesundheit oder das Einkommen – einer weiteren Beschäftigung. Diese These ist verschiedentlich in Bezug auf die normale und die vorgezogene Altersrente getestet worden (Taylor et al. 1995), für die krankheitsbedingte Frührente fehlen aber Ergebnisse. Die einzige Arbeit, die zu diesem Thema identifiziert werden konnte, stammt von Yelin (1986). Kosten und Nutzen wurden in dieser Untersuchung rein finanziell als Quotient aus dem aktuellen Verdienst und der erwarteten Rentenhöhe definiert. Zusammenhänge zwischen dem Quotienten und der Berentungswahrscheinlichkeit waren nicht nachweisbar. Yelin weist zudem darauf hin, dass die Theorie implizit ein „victim blaming“ enthält, indem Erwerbstätigen vorgeworfen wird, sich Leistungen zu erschleichen, um den persönlichen Nutzen zu maximieren. 38 Der Nutzen ergibt sich aus der erwarteten Rentenhöhe, den Zugangskriterien (wie einfach ist es, als Rentner anerkannt zu werden?) und den individuellen Präferenzen, z.B. bezüglich Freizeit und Einkommen. Diese Faktoren werden auch als „Pull“-Faktoren bezeichnet (Stattin 2005).
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
Für die Mehrzahl ist die Invaliditätsrente aber keine freiwillige, profitmaximierende Entscheidung, sondern ein unfreiwilliges Ereignis (Jensen 2004 ; Stattin 2005). Unter dem Oberbegriff soziale Einbindung sind zwei Faktoren zusammengefasst. Der erste ist der soziale Rückhalt. Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass sozialer Rückhalt, etwa in Form von emotionaler Unterstützung durch Freunde und Familie, eine positive Wirkung auf die Gesundheit hat, indem er die Wirkung von anderen Risikofaktoren abschwächt (Stansfeld 1999). Umgekehrt kann fehlender Rückhalt selbst zu einer Belastung werden und Krankheiten auslösen (Berkman & Glass 2000). Nur wenige Untersuchungen haben diese Wirkungen in Zusammenhang mit der Frührente getestet, sie konnten aber alle einen positiven Effekt von Rückhalt auf die Rentenwahrscheinlichkeit nachweisen. Unklarer ist die Lage beim zweiten Faktor, dem Familienstand. Hier lautet die These, dass Personen mit Partner einfacher und früher die Frührente beantragen, weil sie durch ihren Partner zusätzliche ökonomische Sicherheit genießen (Appelberg, Romanov, Heikkila, Honkasalo, Koskenvuo 1996). Die bisherigen Ergebnisse bestätigen dies nur bedingt. Größtenteils zeigt sich kein Einfluss und wenn, dann ausschließlich bei Frauen. Die für Tabelle 3 ausgewählten Publikation von Blekesaune et al. ist hierfür ein gutes Beispiel, da dort keine Zusammenhänge für Männer und schwache für Frauen gefunden wurden. Mit dem letzten Bereich, den physischen Arbeitsbelastungen, rückt nun die Arbeitswelt als Quelle von Risiken in den Blickpunkt. Unter diesen Bereich fallen zahlreiche Formen ungünstiger körperlicher oder physikalisch-chemischer Arbeitsbedingungen, etwa das Heben schwerer Lasten, Arbeiten unter hoher Unfallgefahr oder der Umgang mit krebserregenden Stoffen. Aufgrund der offensichtlichen Bedeutung für das Krankheitsgeschehen in der berufstätigen Bevölkerung hat sich die arbeitsepidemiologische Forschung bereits früh mit diesen Faktoren beschäftigt und eine beeindruckende Fülle von Ergebnissen geliefert (Übersicht: McDonald 2000). Allgemein bekannte Beispiele sind der Nachweis eines Zusammenhangs zwischen der Arbeit mit Asbest und dem Auftreten von Lungenkrebs, zwischen dem Kontakt mit Benzol und Leukämie oder zwischen chronischer Lärmexposition am Arbeitsplatz und Hörverlust (Verma, Purdham, Roels 2002). Trotz verbessertem Arbeitsschutz und trotz der stetigen Abnahme von Arbeitsplätzen im industriellen Sektor sind diese Risikofaktoren in den westlichen Industrienationen weit verbreitet. So zeigt etwa die Europäische Umfrage über die Arbeitsbedingungen, dass hinsichtlich körperlich/chemischer Belastungen von 1990 bis 2000 keine nennenswerte Verringerung der Verbreitung erreicht wurde: Beispielsweise berichteten 1990 14% der Erwerbstätigen in der EU zumindest gelegentlich Kontakt zu gefährlichen Substanzen, während es 10 Jahre später 16% waren. Weiterhin klagten 1990 43% über gelegentliche Arbeit in
3.2 Fazit
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schmerzhafter Körperhaltung, 2000 waren es bereits 47% (Merllié & Paoli 2002b, S.11). Somit kommt dieser Bereich als potentieller Einfluss auf das Frühberentungsrisiko unbedingt in Frage. Erste Indizien wurden schon früh gesammelt, indem gezeigt wurde, dass die Inzidenz der Invaliditätsrente bei manuellen Berufen höher ist als bei nicht manuellen Berufen. Für Deutschland etwa berichteten Blomke und Reimer bereits 1980, dass Arbeiter häufiger eine Erwerbsunfähigkeitsrente antreten als Angestellte (Blomke & Reimer 1980). Dieses Ergebnis konnte inzwischen in anderen, internationalen Untersuchungen repliziert werden (z.B.: Holte et al. 2000 ; Krokstad et al. 2002). Spätere Studien untersuchten dann die Wirkung einzelner Belastungsformen direkt. Eine Auswahl der dabei untersuchten Risikofaktoren findet sich in Tabelle 3. Die im Vergleich zu den anderen Bereichen große Anzahl an Faktoren dokumentiert das große Interesse der Forschung an diesem Thema, das vermutlich daher rührt, dass aus den Ergebnissen sehr direkte Möglichkeiten für präventive Maßnahmen des Arbeitsschutzes abgeleitet werden können. In der Mehrzahl der Untersuchungen wird physisch belastende Arbeit aber sehr allgemein gemessen, meistens indem die Studienteilnehmer gefragt werden, ob sie selbst ihre Arbeit als physisch anstrengend bezeichnen würden. Spezifischere Analysen gehen darüber hinaus, indem einzelne Fehlbelastungen wie die einseitige Beanspruchung bestimmter Körperpartien oder eine ungünstige Arbeitshaltung betrachtet werden. Es fällt aber auf, dass sich die meisten Untersuchungen auf Risiken beziehen, die auf das muskulo-skelettale System wirken. Dies schlägt sich darin nieder, dass bei vielen Studien physische Arbeitsbelastungen nur mit einer Frührente aufgrund von Diagnosen aus der Gruppe der Muskel-Skelett-Erkrankungen assoziiert war. Für die für das Frühberentungsgeschehen wichtigen Diagnosegruppen der HerzKreislauf- und psychischen Erkrankungen ist die Erklärungskraft also eher gering.
3.2 Fazit Die verwirrende Fülle von Einflüssen macht es nicht leicht, ein klares Bild von den Vorgängen bei der Entstehung der krankheitsbedingten Frührente zu zeichnen. Ein weitere Erschwernis ist die Abhängigkeit der Faktoren voneinander. Der soziale Status wird etwa durch den Beruf mit bestimmt, z.B. arbeiten Personen mit niedrigem Status häufiger in manuellen Berufen mit hohem physischen Belastungspotential. Ein anderes Beispiel ist, dass Arbeitsbelastungen einerseits eine Erkrankung verursachen können und es andererseits einer bereits erkrankten Person, die harte körperliche Arbeit leisten muss, deutlich schwerer fallen kann,
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3 Entstehung der krankheitsbedingten Frührente
diese Arbeit zu bewältigen, als es mit der selben Erkrankung in einem Büroberuf der Fall wäre (Crimmins et al. 2004). Von diesen Interdependenzen könnten noch Dutzende weitere genannt werden, was mit dem Verweis unterbleiben kann, dass die eingangs in diesem Kapitel formulierte Hypothese, dass der Entstehungsweg der krankheitsbedingten Frührente multikausal und komplex ist, sehr plausibel erscheint und dass das Wissen über die genauen Zusammenhänge, insbesondere was die Interaktion verschiedener Faktoren angeht, nach wie vor begrenzt ist. Die Frage, ob Merkmale der Arbeit in den Kanon der Einflussfaktoren gehören, wurde teilweise schon beantwortet: Physische Belastungen waren in zahlreichen Untersuchungen ein Risikofaktor für eine Invaliditätsrente. Aber gibt es über das Heben schwerer Lasten oder das Einatmen giftiger Dämpfe hinaus ein Gefährdungspotential der Arbeit? Hier kommen nun Belastungen ins Spiel, die aus dem psychosozialen Arbeitsumfeld resultieren. Im nächsten Kapitel wird diese Belastungsform näher definiert und die Natur ihrer Beziehung zur menschlichen Gesundheit beschrieben.
4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen „Ist Angina Pectoris in der Bevölkerung häufiger geworden? Fördert das Hochdruckleben dieser modernen Zeiten die Krankheit?“ William Osler, Lancet 1910, S. 697 Das „Hochdruckleben“, welches der englische Arzt William Osler 1910 meinte, war das durch viel Arbeit und hektisches Gewinnstreben geprägte Leben der Londoner Geschäftswelt. Osler stellte damit als einer der ersten Wissenschaftler die These auf, dass „Stress und Belastung“ (ebd. S. 698), die aus der Arbeit resultieren, eine Ursache für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Angina Pectoris ist ein Krankheitssymptom hierfür - sein könnten und begründete dies mit zahlreichen Beobachtungen, die er in seiner täglichen Praxis gemacht hatte. Heute, fast 100 Jahre nach Oslers Bericht, spricht vieles dafür, dass seine Einschätzung richtig war. Arbeitsbedingte psychosoziale Belastungen sind in jahrzehntelanger Forschung als wichtiger Risikofaktor für die Entstehung von Herzkrankheiten identifiziert worden (Tennant 2000). Dabei betrifft das Problem schon lange nicht mehr nur die Geschäftsleute, als deren Krankheit Herzinfarkte lange Zeit galten (Infarkt als ‚Managerkrankheit’). Heutzutage sind Herz-KreislaufErkrankungen weit verbreitete Volkskrankheiten, die häufiger in unteren und mittleren sozialen Schichten auftreten als in oberen (Kunst, Groenhof, Mackenbach 1998 ; Mackenbach et al. 2003). Ein Grund für deren epidemisches Ansteigen könnte eben sein, dass das „Hochdruckleben“ inzwischen alle Schichten der Gesellschaft prägt. Der negative Einfluss psychosozialer Arbeitsbelastungen auf die Gesundheit beschränkt sich außerdem nicht auf Herzkrankheiten, es gibt inzwischen zahlreiche Hinweise darauf, dass auch die psychische Gesundheit, das muskuloskeletale System und weitere Körperfunktionen betroffen sind. Man kann diese Befunde als indirekten Beleg für eine Bedeutung von psychosozialen Arbeitsbelastungen bei der Entstehung der krankheitsbedingten Frührente werten, da sie Risikofaktoren für Krankheiten sind, die in der Konsequenz häufig die Berentung zur Folge haben. Um diese Vermutung zu untermauern, werden zunächst die biophysiologischen Grundlagen der Verbindung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Gesundheit erläutert. Dreh- und Angelpunkt ist die Stressforschung, die Erklärungen anbietet, wie Belastungen, die der sozialen und psychischen Domäne entstammen‚ unter die Haut gehen’. Aus den Erkenntnissen der Stressphysiologie lassen sich dann die Bedingungen ableiten, unter denen gesundheitsschädigender Stress im Berufsleben auftritt.
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4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
4.1 Die Definition von Stress Die Bedeutung des Begriffes Stress in seiner umgangssprachlichen Verwendung ist diffus. Er wird recht wahllos in Situationen verwendet, die als in irgend einer Weise belastend oder unangenehm empfunden werden. Häufig wird Stress dabei mit bloßem Zeitdruck gleichgesetzt; ‚ich hab` gerade Stress’ gehört zu den oft gehörten Antworten auf die Frage nach dem Wohlbefinden von Kollegen. Die wissenschaftliche Definition ist weniger universell einsetzbar: Unter Stress wird eine Reaktion des Organismus auf ein Reizereignis verstanden, welches sein körperliches und/oder seelisches Gleichgewicht bedroht (McEwen 2000). Damit hat Stress zwei zentrale Dimensionen, die der Stressreaktion und die des Reizereignisses – auch Stressor genannt. Im Verhältnis dieser Elemente gründet die Verbindung zwischen einer sozialen bzw. psychischen Erfahrung und einer körperlichen Schädigung. Allerdings sind die Abläufe vielschichtig und die Varianz in diesem bisher nur sehr einfach geschilderten Schema ist hoch - nicht jeder Organismus reagiert auf jeden Stressor gleich, der selbe Organismus reagiert auf verschiedene Stressoren unterschiedlich und nicht jede Stressreaktion hat gesundheitliche Auswirkungen. Mitunter kann eine Stressreaktion sogar gesundheitsförderlich sein, nämlich dann, wenn sie ganz im Sinne ihrer evolutionsbiologischen Bestimmung als Reaktion auf eine unmittelbare Bedrohung erfolgt. In einem solchen Fall ist der Organismus in kürzester Zeit in der Lage, wichtige Systeme wie das HerzKreislauf-System oder den Stoffwechsel auf höchste Leistungsfähigkeit zu bringen, um so durch eine schnelle Flucht oder einen siegreichen Kampf sein Leben zu retten (Nesse & Young 2000). Schädlich wird diese notwendige Anpassungsreaktion auf eine Bedrohung erst dann, wenn es nicht gelingt, die Aktivierung wieder auf das ursprüngliche Maß zurück zu pendeln oder die Intensität der Reaktion so hoch ist, dass sie die Bewältigungskapazitäten übersteigt (Magiakou & Chrousos 2005 ; McEwen 2000 ; Selye 1946). Vergleichbar mit einem überdosierten Medikament wendet sich der Prozess dann gegen den Köper, den er eigentlich schützen soll. Der menschliche Organismus39 hat verschiedene adaptive Systeme, die auf Reize reagieren und die sich durch eine hohe Flexibilität auszeichnen. Diese auch als „allostatische Systeme“ bezeichneten Reaktionsmuster erlauben uns die Anpassung an verschiedene äußere und innere Zustände, die von der WachSchlaf-Regulation über die Ausführung von Bewegungen bis hin zum Umgang mit Hunger oder Gefahren reichen. Das Ziel ist es, das Gesamtgleichgewicht – die „Homöostase“ – der Körperfunktionen aufrecht zu erhalten (Magiakou et al. 39 Die Stressreaktion ist nicht auf den Menschen beschränkt, sie findet sich in vergleichbarer Form bei vielen höheren Lebewesen der Tierwelt (siehe: Fink 2000).
4.1 Die Definition von Stress
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2005 ; McEwen 1998). Die variablen Reaktionen sind notwendig, um in einer sich ständig ändernden Umwelt überlebensfähig zu sein. Bezogen auf den engeren Rahmen der Stressreaktion sind vor allem zwei allostatische Systeme beteiligt, das sympathische Nervensystem und seine Verbindung zum Nebennierenmark (SNN-Achse) und die Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse (HHN-Achse). Das sympathische Nervensystem ist Teil des autonomen Nervensystems und ist bereits in den Anfängen der Stressforschung – beispielsweise in den Arbeiten von Walter B. Cannon - als wichtiger Vermittler adaptiver Regulation identifiziert worden (Bremner, Krystal, Southwick, Charney 1996 ; Chrousos & Gold 1992 ; Goldstein 1995). Seine übergeordneten Komponenten sind im Hirnstamm lokalisiert, es ist aber prinzipiell mit allen Organen, Muskeln und Gefäßen verbunden (innerviert). Wird es aktiviert, kommt es zu einer Ausschüttung von Stresshormonen, zunächst von Noradrenalin im gesamten Gehirnareal und dann, über die Verbindung zum Nebennierenmark40, auch von Adrenalin. Diese hormonelle Aktivierung, die innerhalb von Sekundenbruchteilen anlaufen kann, bewirkt zahlreiche Veränderungen, die vor allem darauf hinauslaufen, dass die Energieversorgung des Herzens und der Muskulatur sowie der Lunge und des Gehirns zugunsten anderer Systeme, z.B. des Verdauungssystems, erhöht wird. Neben der Ausschüttung von Hormonen wird aber auch das Nervensystem selber stimuliert, was sich u.a. in einer erhöhten Herzschlagfrequenz und einer erhöhten allgemeinen Aufmerksamkeit niederschlägt. Der zweite wichtige Teil der Stressantwort erfolgt durch die HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Man kann sie sich im Zusammenhang mit Stress als eine Art Befehlskette vorstellen. Am Anfang steht der Hypothalamus, eine Hirnregion, in der der stressauslösende Stimulus verarbeitet und die Reaktion ausgelöst wird, indem das Stresshormon CRH – „corticotropinreleasing hormone“ – freigesetzt wird (Herman, Prewitt, Cullinan 1996 ; Magiakou et al. 2005). Der CRH-Alarm wird dann über die Hypophyse, die Hirnanhangdrüse, weitergegeben, indem wiederum Botenstoffe ausgeschüttet werden (Zilles & Rehkämper 1998). Bedeutsam ist hier vor allem das Hormon Adrenocorticotropin (ACTH), das über den Transportweg Blutkreislauf den entscheidenden Schritt, nämlich die Bildung von Glukokortikoiden in der Nebennierenrinde einleitet (Magiakou et al. 2005). Unter Glukokortikoiden werden verschiedene Hormone gefasst, im Stress-Szenario ist aber Cortisol der entscheidende Akteur (Buckingham 2000). Die Energieverarbeitung von Muskeln und Organen wird auf die konsumierende, aber schneller mobilisierende katabole Stoffwechsellage umgestellt, indem beispielsweise die Leber von Zuckerspeicherung auf 40 Das Nebennierenmark ist ein Bereich der Nebenniere, die ein an die Niere angehangenes endokrines Organ ist.
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4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
Zuckerabgabe umschaltet. Das Immunsystem wird stimuliert, Fresszellen zu bilden und zugleich werden entzündungshemmende Prozesse ausgelöst. Die zwei Stressachsen funktionieren nicht unabhängig voneinander, sondern interagieren auf verschiedenen Ebenen. Wichtigste Verbindung ist die direkte Rückkopplung, bei der die eine Achse, wird sie einmal aktiviert, auch die andere Stressachse auslöst (Elenkov, Wilder, Chrousos, Vizi 2000). Das heißt aber nicht, dass beide Systeme stets im gleichen Ausmaß an der Stressreaktion beteiligt sein müssen. Es konnte sogar gezeigt werden, dass in Abhängigkeit von der Art des Stressors, mal das eine, mal das andere System aktiver ist; die SNNAchse ist empfindlicher für Reize, die eine aktive Bewältigung erfordern (Kampf oder Flucht), die HNN-Achse für Stressoren, die passive Duldung erzwingen (Henry 1992). Auf diesen wenigen Seiten ist es nicht möglich, die ganze Komplexität der biologischen Zusammenhänge, soweit sie die Stressforschung bisher entschlüsselt hat, erschöpfend zu beschreiben41. Zusammenfassend kann aber festgehalten werden, dass die Stressreaktion ein hochpotentes Anpassungssystem ist, welches in die Regulation von zentralen emotionellen, kognitiven, funktionellen und verhaltenssteuernden Vorgängen eingreift und seinen Einfluss sogar bis hinein in reproduktive und immunologische Funktionen entfaltet (Magiakou et al. 2005). Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine natürliche Reaktion, die unter normalen Umständen vom Körper problemlos toleriert wird. Dies liegt vor allem daran, dass sie in der Regel zeitlich befristet ist und gestoppt wird, sobald der akute Stressor bewältigt ist. Scheitert diese Demobilisierung aber, wird die Stressreaktion also nicht wieder zurückgefahren, dann beginnt sie zu einer Gefahr für den Organismus zu werden. Der bekannte Stressforscher Bruce McEwen hat für eine solche Situation, in der der Organismus einer zu hohen bzw. zu lange verabreichten Dosis stressphysiologischer Aktivierung ausgesetzt ist, den Begriff der „allostatischen Last“ eingeführt (McEwen 1998). Er unterscheidet vier Formen der allostatischen Last, die alle zu einer Schädigung von Körpersystemen führen können: 1. plötzlicher und starker Stress, der beispielsweise akute Ereignisse wie einen Myokardinfarkt auslösen kann; 2. eine lang andauernde Aktivierung des Stresssystems als Antwort auf einen dauerhaft wirkenden Stressor (auf diese Weise kann auch eine schwache, u.U. auch unbewusst ablaufende Belastung Schaden anrichten wenn sie lange genug andauert); 3. eine Dysregulation, die sich darin äußert, dass trotz Beseitigung des Stressors, die Stressreaktion nicht wieder beendet werden kann und 4. eine Unterfunktion einzelner Elemente der Stressreaktion, die dazu führt, dass andere Teile einspringen und auf Dauer dadurch überlastet werden. Von besondere Bedeutung ist der 41 Eine umfassende Darstellung des aktuellen Forschungsstandes bietet die dreibändige „Enzyclopaedia of Stress“ von Fink (2000).
4.1 Die Definition von Stress
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Gedanke der Chronizität: Eine Stressreaktion wird vor allem dann gefährlich, wenn sie zu lange andauert und nicht kompensiert werden kann. Die Folge kann eine anhaltende Fehlregulation des gesamten Stresssystems sein, die sich sowohl in Über- als auch in Unterfunktionen (z.B. durch Erschöpfung) niederschlägt (Magiakou et al. 2005). Durch die enge Verbindung der Stressreaktion mit zahlreichen Funktionen des Körpers können sich Schädigungen durch eine allostatische Last die toxisches Niveau erreicht, in vielerlei Erkrankungen manifestieren. Besonders gut nachgewiesen sind negative Folgen für das Herz-Kreislauf-System (Stansfeld & Marmot 2002). Bluthochdruck, Hypercholesterinämie und arterielle Verkalkung stehen, wie in einer großen Zahl von Studien gezeigt wurde, in direktem Zusammenhang mit einer misslungenen Stressantwort (Steptoe & Willemsen 2002). Hinzu kommen weitere Risiken, die wiederum das Herz-Kreislauf-System in Mitleidenschaft ziehen. Beispielsweise birgt eine chronische Stressreaktion die Gefahr, dass sich durch die Umstellung des Stoffwechsels und die Drosselung der Zuckeraufnahmefähigkeit der Körperzellen Diabetes Melitus entwickelt. Aber auch zahlreiche psychische und verhaltensbedingte Funktionsstörungen können die Folge sein, da die Stressreaktion, wie oben geschildert wurde, direkt mit neuronalen und emotionalen Prozessen verknüpft ist. Ein interessantes Beispiel hierfür ist die Beobachtung, dass eine chronische Stressaktivierung zu starken Schwankungen der natürlichen Dopaminkonzentration im Gehirn führt (Moghaddam & Jackson 2004). Dies ist bemerkenswert, da ein zu hoher Dopaminspiegel mit Psychosen, ein zu niedriger mit einer erhöhten Suchtmittelanfälligkeit und Depression in Verbindung gebracht wird. Tabelle 4: Auswahl von Erkrankungen und funktionellen Störungen, die mit einer erhöhten Stresslast assoziiert sind (modifiziert nach: Chrousos et al. 1992)
Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Hypertonie, Hypercholesterinämie, Atherosklerose, Infarkt...) Depression Panikstörungen Chronische Erschöpfung Schilddrüsenfehlfunktion Fehlernährung Anorexia Nerosa
Diabetes Mellitus Übergewichtigkeit Sexuelle Funktionsstörungen Alkoholismus Anfälligkeit für Entzündungserkrankungen Rheumatische Arthritis Fibromyalgie Cushing`s Syndrom
Auf die zahlreichen Verbindungen zwischen einer zu hohen allostatischen Stresslast und Schädigungen von Körper und Psyche soll hier nicht in allen Ein-
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4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
zelheiten eingegangen werden, statt dessen bietet Tabelle 4 einen Überblick über ausgewählte stressinduzierte Krankheitsbilder. Es fällt auf, dass Erkrankungen aus den wichtigsten Diagnosegruppen der Invaliditätsrente in der Liste enthalten sind. Ein Zusammenhang zwischen berufsbedingtem Stress und Invalidität ist demnach zumindest aus physiologischer Sicht nicht unplausibel.
4.2 Auslöser der Stressreaktion: Stressoren Die Frage, die sich daran anschließt, ist die, ob sich tatsächlich wiederkehrende Situationen im Berufsleben identifizieren lassen, die geeignet sind, Stress in einem Ausmaß zu erzeugen, das ausreicht, um nachhaltige Schäden anzurichten. Um eine Antwort zu geben, muss zunächst auf eine wichtige Unterscheidung zurückgekommen werden, die bereits am Anfang des Kapitels gemacht wurde: Für ein Verständnis von Stress ist nicht nur die physiologische Stressreaktion von Bedeutung, sondern auch der sie auslösende Reiz, der Stressor. In den Anfängen der Stressforschung wurde der Natur des Stressors noch eine eher nebensächliche Bedeutung beigemessen. Das Stresskonzept von Hans Selye (1946), das er Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwickelte und das wegweisend für die moderne Stressforschung wurde, kommt noch mit einer Minimaldefinition eines Stressors aus, der ein beliebiger Reiz sein kann, der die Funktion des Organismus bedroht und daher eine Anpassungsreaktion nötig macht. Darauf kommt die Stressreaktion in Gang, die laut Selye immer relativ gleichförmig verläuft, unabhängig davon, ob es sich beim Stressor nun um ein gebrochenes Bein, eine Vergiftung oder ein Kriegstrauma handelt (das „allgemeine Adaptionssyndrom“). Nach einigen Jahrzehnten weiterer Forschung weiß man inzwischen, dass dem Stressor und seiner individuellen Verarbeitung ein massiver Einfluss auf die Form und Dauer der resultierenden Stressreaktion zukommt. Nur so ist auch zu erklären, warum Stressreaktionen höchst individuell verlaufen und unter Umständen bei zwei Personen in ein und der selben Situation völlig unterschiedliche adaptive Prozesse zu beobachten sind (Mason 1968). Der zentrale Punkt ist, dass schädlicher Stress (Distress) vor allem dann entsteht, wenn ein Stressor als Bedrohung empfunden wird und wenn es trotz Anstrengung und Mobilisierung von Ressourcen nicht gelingt, die Situation im positiven Sinne aufzulösen und zu kontrollieren. Es existieren verschiedene theoretische Zugänge, um diesen Prozess zu erklären, wobei hier nur auf die zwei wichtigsten eingegangen wird, die transaktionalen und die ressourcenorientierten Ansätze der Stresstheorie. Erstere betrachten die Entstehung von Stress im Spannungsfeld der Interaktionen zwischen der
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Umwelt und der denkenden, fühlenden und handelnden Person (Lazarus & Folkman 1984 ; Lazarus 1996 ; Starke 1999). Ist diese Person mit einer Situation konfrontiert, die eine Anpassung nötig macht, wird sie zunächst eine Bewertung vor dem Hintergrund persönlicher Charakteristika, Ziele und der zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen vornehmen. Die Intensität und Qualität der Stressreaktion hängt vom Ergebnis dieser Einschätzung ab, erst wenn diese deutlich negativ ausfällt, sie also als Bedrohung der Kontrolle in einem für wichtig erachteten Lebensbereich empfunden wird, entsteht Distress. Einen anderen Schwerpunkt legen ressourcenorientierte Ansätze (Feger 1985 ; Foa & Foa 1974 ; Hobfoll 1988 ; Starke 1999). Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen danach streben, begehrte Ressourcen zu erhalten, zu schützen und wenn möglich auch auszubauen. Ressourcen haben vielerlei Gestalt, sie können materieller, sozialer oder ideeller Natur sein, dazu zählen z.B. Geld, Freundschaften oder Wertvorstellungen. Stressphysiologisch bedeutsam sind nach diesem Ansatz Situationen, in denen entweder der Einsatz von eigenen Ressourcen nicht adäquat belohnt wird oder in denen gar der Verlust von wichtigen Ressourcen droht bzw. tatsächlich eintritt. Beide Ansätze werden durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten gestützt, inwieweit sie aber in Konkurrenz zu einander stehen oder eher als komplementär zu begreifen sind, ist noch Gegenstand von Diskussionen (vgl.: Starke 1999). Dessen ungeachtet, kann aus der Summe der vorliegenden Forschung zu Stressoren und zur Stressreaktion der Schluss gezogen werden, dass gesundheitsschädlicher Stress aus einer komplexen Interaktion der Umwelt mit kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Prozessen entsteht (Cox, Griffith, Rial-Gonzalez 2000, S.13f.).
4.3 Stressoren im Berufsleben Die Verbindung zwischen der (sozialen) Umwelt und einer organischen Schädigung sind also die Stressoren und ihre individuelle Verarbeitung. Die Arbeitswelt ist aus mehreren Gründen eine potentielle Quelle für Stressoren. Wie oben erwähnt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit Ereignisse als Stressor wirken, erstens müssen sie ein bestimmtes Bedrohungspotential besitzen und zweitens muss ihre Intensität und/oder Dauer so hoch sein, dass die individuellen Ressourcen nicht ausreichen, um noch angemessen auf die Bedrohung reagieren zu können bzw. die Anpassungsreaktion wieder auf Normalmaß zurück zu fahren. Es ist offensichtlich, dass das Bedrohungspotential einer Situation mit der individuellen Bedeutung des betroffenen Lebensbereichs ansteigt, und für einen Großteil der Bevölkerung im Erwachsenenalter ist die Erwerbsarbeit in mehrerlei
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4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
Hinsicht ein zentraler Bereich des Lebens. Zuvorderst ist sie für viele die wichtigste Möglichkeit, ein regelmäßiges Einkommen zu erwirtschaften und so elementare Bedürfnisse zu befriedigen. Darüber hinaus determiniert sie in starkem Maße die Teilhabe an gesellschaftlichen Chancen, Gütern und Macht (MiklHorke 1997, S.96ff.;198ff.). Dies äußert sich auch im sozialen Status, der in modernen Gesellschaften zu einem großen Teil direkt oder indirekt mit der Erwerbsarbeit verknüpft ist (Daheim & Schönbauer 1993, S.16ff.). Der direkte Weg meint das mit dem Beruf assoziierte gesellschaftliche Prestige und die mit dem Beruf zusammenhängende Entscheidungs- und Gestaltungsmacht, während sich der indirekte Einfluss vor allem über die Höhe des Einkommens und den damit verbundenen Möglichkeiten manifestiert. Über den sozialen Status hinaus kann die Erwerbsarbeit auch ein prägender Faktor der Identitätsbildung von Personen sein, denn sie bietet die Möglichkeit der Übernahme von sozialen Rollen außerhalb des privaten Bereiches, sie eröffnet die Teilnahme an sozialen Netzwerken und bietet Chancen für Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und der Selbstbestätigung (Siegrist 2005a, S.212). Hier macht sich zudem bemerkbar, dass die Erwerbstätigkeit in den industrialisierten Ländern ein elementares Ziel der primären und sekundären Sozialisation ist und schon von der Kindheit an berufsvorbereitendes Wissen und zentrale Werte der Arbeitsgesellschaft vermittelt werden (Daheim et al. 1993, S.18f.). Nicht zuletzt wirkt sich die Arbeit auch auf andere Lebensbereiche aus, sei es über die Prägung bestimmter Verhaltensweisen und Einstellungsmuster, oder noch direkter über die Zeit, die in die Arbeit investiert werden muss und die demnach nicht für andere Aktivitäten zur Verfügung steht. Der Aspekt der investierten Zeit verdient vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über die Bedeutung der Dauer einer Stressreaktion für ihre Gefährlichkeit besondere Aufmerksamkeit. Arbeit strukturiert den Tagesablauf während des Erwachsenenlebens in prägnanter Weise und insgesamt gesehen wird ein großer Teil dieser Lebensphase in Arbeit verbracht (Mikl-Horke 1997, S.342f.). Somit wird es wahrscheinlicher, dass ungünstige psychosoziale Arbeitsbedingungen über eine lange Zeitspanne wirken können. Aus stresstheoretischer Sicht kann also festgehalten werden, dass das Potential für chronische Stressreaktionen im Erwerbsleben unbedingt vorhanden ist. Nun gilt es konkreter zu werden und diejenigen Charakteristika der Arbeitswelt zu identifizieren, die direkt mit stressbedingten Erkrankungen assoziiert sind – das wären dann die bereits vielzitierten psychosozialen Arbeitsbelastungen42. Die Forschung beschäftig sich, wie das Zitat von Osler zu Beginn des Kapitels zeigt, 42 Die Bezeichnung ‚psychosoziale Arbeitsbelastungen’ wird dem eher allgemeinen Begriff ‚Arbeitsstress’ vorgezogen, weil sie deutlich macht, dass hiermit die Bedingungen einer Stressreaktion (bzw. die Stressoren) bezeichnet werden.
4.3 Stressoren im Berufsleben
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seit nunmehr fast 100 Jahren mit der Suche nach diesen Charakteristika. Je nach fachlichem Schwerpunkt und theoretischem Interesse der Wissenschaftler beginnen die Nachforschungen zwar an ganz unterschiedlichen Enden des Forschungsfeldes, ein weitgehend geteilter Konsens besteht aber, nämlich der, dass es, um den komplexen Abläufen bei der Entstehung von arbeitsbedingtem Stress gerecht zu werden, nicht ausreicht, einzelne Arbeitsbedingungen herauszugreifen und isoliert zu betrachten. Es hat sich herausgestellt, dass erst ein Zusammenwirken bestimmter Elemente der Arbeitsumwelt im Zusammenspiel mit ihrer individuellen Verarbeitung zu körperlichen und seelischen Schädigungen durch Stressreaktionen führt (Amick & Kasl 2000a ; Beehr 1998 ; Cox et al. 2000). Verschiedene Forschungsansätze unternehmen den Versuch, diese Elemente systematisch zu ordnen. Auf Basis der stressphysiologischen Erkenntnisse werden Konstellationen von Arbeitsbedingungen und persönlichen Reaktionsmustern benannt, die mit Stressreaktionen in Verbindung gebracht werden können. Wie ein solcher Versuch in der Praxis aussieht, kann am Beispiel des in der arbeitsepidemiologischen Forschung sehr populären Anforderungs-KontrollModells von Robert A. Karasek demonstriert werden (Karasek 1979 ; Karasek & Theorell 1990). Karasek hebt zwei Merkmale der Arbeit heraus, erstens die quantitativen psychischen Arbeitsanforderungen, die eine Person erfüllen muss, z.B. in Form von Zeitdruck, und zweitens die Kontrolle43 über die eigene Arbeit. Treten diese beiden zentralen Dimensionen in ein Spannungsverhältnis, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von negativen Stressreaktionen und stressassoziierten Erkrankungen. Die stärkste Belastung, von Karasek ‚job strain’ genannt, geht von einer Situation aus, in der die Person hohen Anforderungen ausgesetzt ist, dem aber nur eine geringe Kontrolle entgegensetzen kann. Als Beispiel für ein Tätigkeitsprofil mit hohem ‚job strain’-Potential drängt sich die klassische Fließbandarbeit auf, bei der unter hohem Zeitdruck eine fest definierte Arbeitsleistung erbracht werden muss und bei der die Arbeiter nur sehr wenig Entscheidungsfreiheit haben. Obschon das Anforderungs-Kontroll-Modell zu den bekannteren Modellen gehört, gibt es noch zahlreiche alternative Annährerungen an berufliche Stressbelastungen. Sie können grob in zwei Gruppen unterteilt werden, a) in mehr psychologisch und psychobiologisch orientierte Modelle, in denen die erlebende und handelnde Person im Mittelpunkt steht und b) in mehr sozialpsychologisch und soziologisch orientierte Modelle, in denen das Hauptaugenmerk auf interpersonellen Systemen und der sie umgebenden sozialen Struktur liegt. Einen guten Überblick über den Stand der Forschung bieten verschiedene Sammelbände z.B.
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Unter Kontrolle versteht Karasek nicht nur den Handlungs- und Entscheidungsspielraum, sondern auch Möglichkeiten, neues Wissen und Fertigkeiten zu erlernen und anzuwenden.
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von Antoniou & Cooper (2005), Dunham (2001), Cox und Kollegen (2000) und Cooper (1998). Um sich nicht im Überangebot der Ideen zu verlieren, legt diese Arbeit den Schwerpunkt auf die mehr soziologischen Aspekte des Themas, also vor allem die interpersonellen und strukturell-organisatorischen Bedingungen der Arbeit, wenngleich natürlich die Schnittstellen zu den psychologischen Bereichen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Ins Blickfeld rücken damit die Arbeitsorganisation und die politischen, kulturellen, mikro- und makroökonomischen Rahmenbedingungen, die sie prägen. Die Verbindung zwischen dem größeren sozioökonomischen Kontext und der individuellen Erlebniswelt hat gerade angesichts des fundamentalen Wandels, dem die Arbeitswelt derzeit unterworfen ist, eine sehr aktuelle Bedeutung. Übergeordnete Trends wie die anhaltende Globalisierung, Technisierung, steigender Rationalisierungsdruck und die Flexibilisierung der nationalen Ökonomien und Arbeitsmärkte haben ihre Spuren in der Organisation vieler Arbeitsplätze und den individuellen Bedingungen der Erwerbsarbeit hinterlassen (Benach et al. 2002). Betriebe und Organisationen reagieren auf den steigenden internationalen Konkurrenzdruck mit Rationalisierungsmaßnahmen wie Personalabbau, Outsourcing, neuen Produktions- und Arbeitsweisen oder einem veränderten Personalmanagement, das sich verstärkt auf flexible und kurzfristige Arbeitsverhältnisse stützt (Sauter et al. 2002). In der Folge sind immer mehr Erwerbstätige mit Problemen wie Arbeitsverdichtung und –intensivierung, Arbeitsplatzunsicherheit, Konkurrenzdruck zwischen Beschäftigten und sozialen Konflikten am Arbeitsplatz konfrontiert, die mentale Belastung nimmt also systematisch zu (European Agency for Safety and Health at Work 2002b). Trenderhebungen in der Europäischen Union zeigen etwa, dass die Anzahl der Beschäftigten, die mindestens ein Viertel ihrer Arbeitszeit unter hohem Termindruck stehen zwischen 1990 und 2000 von 49% auf 60% gestiegen ist (Merllié et al. 2002a, S.16). Unter diesen Vorzeichen soll nun ein theoretisches Modell zu psychosozialen Arbeitsbelastungen ausführlich vorgestellt werden, das ‚Modell beruflicher Gratifikationskrisen’. Es wurde von dem Schweizer Medizinsoziologen Johannes Siegrist entwickelt und bietet einen unspezifischen – d.h. über die Grenzen einzelner Berufstypen oder Branchen hinweg Gültigkeit beanspruchenden – theoretischen Rahmen für die Erklärung und Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen. Das Modell ist in der Studie, die im empirischen Teil dieser Arbeit vorgestellt wird, die Grundlage der Belastungsmessung. Die Wahl fiel gerade auf diesen Ansatz, weil er neben klassischen Aspekten der Stresstheorie (z.B. individuelle Verarbeitung, Chronizität) die aktuellen Wandlungsprozesse der modernen Arbeitswelt und ihre Folgen für das individuelle Arbeitsumfeld in seine Konzeption ausdrücklich mit einbezieht. Eine Betrachtung des Modells im Zu-
4.4 Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen
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sammenhang mit krankheitsbedingter Frührente verspricht daher auch interessante Hinweise auf die speziellen gesundheitlichen Risiken, die aus den Eigenarten der modernen, globalisierten Wirtschafts- und Arbeitswelt resultieren. Mit der Konzentration auf das Modell beruflicher Gratifikationskrisen soll aber keine Wertung der wissenschaftlichen Ansätze zur Beschreibung und Erklärung psychosozialer Arbeitsbelastungen vorgenommen werden, weder im Vergleich zum Anforderungs-Kontroll-Modell, noch zu den weiteren Modellen, die hier mit Verweis auf die oben genannte umfangreiche deutsch- und englischsprachige Literatur nicht näher vorgestellt werden. Jeder dieser Ansätze hat seinen speziellen Fokus und erlaubt einen anderen Blick auf das vielschichtige Problem des arbeitsbedingten Stresses (Kompier & Taris 2005).
4.4 Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen Es ist eine der Grundregeln wirtschaftlichen Handelns, dass für geleistete Arbeit zumeist auch eine angemessene Belohnung erwartet wird. Was aber angemessen ist, führt immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den gesellschaftlichen Akteuren, z.B. zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern oder zwischen Geschäftspartnern. Als Faustregel gilt: die Höhe des Investments (Zeit, körperlicher und geistiger Einsatz, Güter etc.) bestimmt die Höhe der erwarteten Gegenleistung. Kommt es hier zu einem Ungleichgewicht, resultieren daraus nicht selten handfeste Krisen, die sich u.a. in Streiks, Rechtsstreitigkeiten bis hin zu offenen gesellschaftlichen Konflikten Bahn brechen können. Die Gesetze des Verteilungskampfes um knappe Güter und die Prinzipien des Aushandlungsprozesses von wirtschaftlichen Kosten und dem dafür erzielten Nutzen prägen seit jeher die Gestalt von Gesellschaften und sie beschäftigen seit den frühen Wirtschafts- und Sozialtheoretikern wie John Steward Mill, Adam Smith oder Karl Marx auch die Wissenschaft. Im Modell beruflicher Gratifikationskrisen wird das Ringen um ein Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung, das bereits auf gesellschaftlicher Ebene unübersehbare Sprengkraft entfaltet, auf das Individuum bezogen und im Kontext der Stressforschung betrachtet: „Ausgangspunkt dieses Modells bildet das vertraglich gestaltete, auf der Norm sozialer Reziprozität beruhende Arbeitsverhältnis“ (Siegrist 2004a, S.160). Reziprozität oder Gegenseitigkeit meint eben jenes Verhältnis zwischen Nutzen und Kosten einer sozialen Interaktion. Sie ist ein fundamentales Ordnungsprinzip menschlicher Beziehungen und hat insbesondere im Bereich des wirtschaftlichen Handelns eine hohe Verbindlichkeit (Gouldner 1960). Dabei darf das Verhältnis aber keineswegs nur als ein einfacher Tauschhandel betrachtet werden, da es, wie oben bereits angedeutet,
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stark von gesellschaftlichen Vorstellungen von Wert und Verteilungsprinzipien abhängig ist. Die theoretische Ausleuchtung der Norm der Reziprozität hat daher auch zahlreiche Facetten und verschiedene Theoriezweige, wie etwa die Austauschtheorie oder die ‚Equity’ Theorie, beschäftigen sich eingehend mit ihr (z.B. vertreten durch George C. Homans, Peter M. Blau und John S. Adams). Aus der theoretischen Diskussion können einige Punkte hervorgehoben werden, die für das Verständnis des Reziprozitätsgedankens hilfreich sind. Erstens stellt die Aussicht auf Belohnung eine wichtige Handlungsmotivation für viele Formen der sozialen Interaktion dar, welche sich aber ins Gegenteil verkehrt, wenn entweder keine oder zu wenig Belohnung winkt bzw. wenn eine Belohnungserwartung konkret enttäuscht wird (vgl. Homans 1972). Es sind allerdings verschiedene Konstellationen denkbar, in denen die Interaktion trotz Asymmetrie erfolgt, etwa wenn eine Person zum Erreichen ihres Nutzens die Mitwirkung eines überlegenen Partners benötigt, der dann wiederum die Bedingungen der Austauschbeziehung diktieren kann (vgl. Blau 1967). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Wertzuschreibung, also die Frage, wie Kosten und Nutzen definiert werden. Zum einen erfolgt die Festsetzung relativ im Vergleich mit anderen Personen und deren Gewinn in einer vergleichbaren Situation, zum anderen bekommt ein Nutzen auch dadurch eine Bedeutung, dass er vertraglich zugesichert wird – umso stärker wirkt die Verletzung der Norm, wenn die Belohnung dann ausbleibt (Adams 1964). Nicht erfüllte Reziprozität stellt somit eine fundamentale Erfahrung von Normverletzung dar und als solche, so die Idee hinter dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen, kann sie ganz im Sinne eines Stressors zu einer Bedrohung werden (Siegrist 2004a ; von dem Knesebeck & Siegrist 2004). Bedroht wird laut Siegrist vor allem die berufliche Statuskontrolle. Die Bedeutung des Berufes in modernen Arbeitsgesellschaften wurde oben bereits hervorgehoben und es wurde gezeigt, dass Erwerbsarbeit wichtige Funktionen im Bezug auf die Lebenssicherung, die soziale Teilhabe und gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten erfüllt (zusammenfassend: ‚beruflicher Status’). Nichtreziprozität kann diesen Status in Frage stellen, ein besonders drastisches Beispiel hierfür ist der drohende Verlust des Arbeitsplatzes. Solch eine Gefahr des Statusverlustes berührt die sozioemotionale Integrität des Individuums, die Folge sind starke negative Gefühle, die sich in einer handfesten Stressreaktion niederschlagen können (Siegrist 2005b).
4.4.1 Modellspezifikation und empirische Ergebnisse Aus diesen theoretischen Vorüberlegungen lassen sich einige Anforderungen an die Modellgestaltung ableiten: Es muss die persönliche Motivation berücksichti-
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gen und es muss vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kontextbedingungen relevante Nutzen- und Kosten-Parameter benennen. Zudem muss spezifiziert werden, unter welchen Umständen Nichtreziprozität ein chronischer Zustand wird. Im Modell wird die Dichotomie von Kosten und Nutzen durch zwei Dimensionen ausgedrückt, die Verausgabung auf der einen und die für diese Verausgabung erhaltene Belohnung (Gratifikation) auf der anderen Seite (vgl. Siegrist 1996). Es wird angenommen, dass die Idee der Reziprozität verletzt wird, wenn einer konstant hohen Verausgabung keine als angemessen empfundene Belohnung folgt. Verausgabung bedeutet hier vor allem quantitative psychosoziale Anforderungen, die aus der Arbeitsorganisation und den Arbeitsinhalten resultieren, wie Zeitdruck, zunehmende Arbeitslast oder der Zwang zu Überstunden. Auf Seiten der Belohnung werden drei Formen unterschieden: 1. Bezahlung und beruflicher Aufstieg 2. Belohnung durch Wertschätzung und Anerkennung und 3. Belohnung in Form von Arbeitsplatzsicherheit. Siegrist spricht hier von den drei „Transmittersystemen“ von Belohnung (Siegrist 1996, S.99). Die Berücksichtigung von Belohnungsformen, die über die reine monetäre Gratifikation hinausgehen, trägt der Idee Rechnung, dass der Nutzen der Erwerbsarbeit durch mehr als nur die reine materielle Bedürfnissicherung bestimmt wird. Zwar ist auch sie bedeutsam, allerdings hängt sie untrennbar mit weiteren Bedingungen, wie z.B. der Sicherheit der Beschäftigung zusammen. Erfahrene Wertschätzung und Anerkennung berührt dagegen die emotionale Qualität der Arbeit als Ort der Selbstbestätigung und Selbstwirksamkeit, der in modernen Gesellschaften eine große Bedeutung zukommt.
Abbildung 6:
Schematische Darstellung des Modells beruflicher Gratifikationskrisen
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4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
Die schematische Abbildung 6 zeigt die beiden Dimensionen Verausgabung und Belohnung im Ungleichgewicht, also der Konstellation, in der das Risiko für Distress am höchsten ist. Praktische Beispiele für solch ein Ungleichgewicht wären z.B. Berufe, in denen viele Überstunden geleistet werden müssen, ohne dass diese angemessen entlohnt würden; Berufe mit hoher Verantwortung, aber schlechten Aufstiegschancen, oder unqualifizierte Dienstleistungsberufe mit vielen psychisch anstrengenden Kundenkontakten, aber fehlendem Kündigungsschutz und wenig Anerkennung für die geleistete Arbeit. An diesen Beispielen lässt sich aber auch zeigen, dass die Formel Verausgabung > Belohnung = Distress keine mathematische Gleichung ist. Eine Beschäftigte, die ihrem Betrieb mehrere Monate lang durch unbezahlte Überstunden erfolgreich aus einer ökonomischen Krise hilft oder ein Angestellter, der aufgrund persönlicher Wertvorstellungen schlechte Aufstiegschancen bei hoher Verantwortung gerne in Kauf nimmt, werden die Situation entweder gar nicht oder nur temporär als Bedrohung empfinden. Die Voraussetzungen für eine chronische Stressreaktion wären nicht erfüllt. Nach den Annahmen der Austauschtheorie wäre sogar generell zu erwarten, dass Personen versuchen dem Ungleichgewicht durch Ausweichen in einen anderen Beruf oder die Reduktion der Verausgabung zu entgehen (Schönpflug & Batman 1989). Dies ist aber nicht immer möglich oder gewünscht. Das Modell formuliert drei Bedingungen, unter denen ein Ungleichgewicht auch über lange Zeit aufrecht erhalten wird (Siegrist 2001). Die erste bezieht sich auf die objektiven Möglichkeiten einer Ausweichreaktion, insbesondere durch den Wechsel des Arbeitsplatzes. Eine Verfügbarkeit von Alternativen wird beispielsweise durch niedrige Qualifikation, eingeschränkte Mobilität oder Arbeitskraft sowie durch eine insgesamt schlechte Arbeitsmarktlage eingeschränkt. Solche Zwänge sind in den modernen, durch instabile und flexible Arbeitsmärkte geprägten Ökonomien häufig. Als zweite Bedingung kommen strategische Erwägungen in Frage. Sie führen dazu, dass Gratifikationskrisen in Erwartung einer späteren Honorierung dieser Vorleistungen, beispielsweise in Form von Beförderung, über einen längeren Zeitraum hinweg freiwillig in Kauf genommen werden. Ein solches Verhalten ist häufig in frühen Phasen der Karriere oder in Berufen mit hohem Konkurrenzdruck zu beobachten. Als dritte Bedingung können Erwerbstätige eine bestimmte Form der psychischen Leistungsmotivation aufweisen, deren Besonderheit darin besteht, dass die Betroffenen die von ihnen erbrachten Leistungen und die erhaltenen Belohnungen nicht realistisch einzuschätzen im Stande sind. Diesem Punkt wird im Modell mit dem Konzept der ‚übersteigerten beruflichen Verausgabungsneigung’ Rechnung getragen, das ein kognitiv-motivationales Einstellungsmuster bezeichnet, welches durch ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Kontrolle, Erfolg und Anerkennung in beruflichen
4.4 Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen
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Anforderungssituationen und die Unfähigkeit zur Distanzierung von der eigenen Arbeit charakterisiert ist (Peter & Siegrist 1999). Dieser Modellteil wird in Abgrenzung zu den mehr situativen - oder ‚extrinsischen’ - Elementen Verausgabung und Belohnung, als ‚intrinsische’ Komponente beruflicher Gratifikationskrisen bezeichnet. Die Berücksichtigung der verschiedenen Belohnungsformen und die Spezifikation von Bedingungen für eine Chronifizierung von Belastungen schlägt eine Brücke zu den übergeordneten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Arbeit. Ob eine Person die Erfahrungen von Arbeitsplatzunsicherheit, fehlenden Karrierechancen, sozialen Konflikten oder blockierten Ausweichmöglichkeiten macht, wird wesentlich durch die Struktur der modernen Arbeitswelt mit bestimmt. Die Stärke des Modells liegt darin, dass diese Rahmenbedingungen in die Konzeption psychosozialer Arbeitsbelastungen einfließen und es somit die Realität vieler Arbeitsplätze gut wiederspiegelt.
Empirische Ergebnisse Eine theoretisch plausibel erscheinende Beziehung ist das eine, das andere ist ihre empirische Bestätigung. Inzwischen erfreut sich das GratifikationskrisenModell einer gewissen Beliebtheit bei der Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen in empirischen Untersuchungen, so dass sich ein Grundstock an Erkenntnissen über seinen Zusammenhang mit Erkrankungsrisiken und Krankheit gebildet hat. Den aktuellen Stand der Forschung geben zwei kürzlich erschienene Übersichtsarbeiten von Tsutsumi & Kawakami (2004) und von van Vegchel und Mitarbeitern (2005) wieder, die ein vielfältiges Bild an Befunden aus verschiedenen Ländern und für verschiedene Berufsgruppen wiedergeben. Die meisten veröffentlichten Ergebnisse stammen dabei aus epidemiologischen Studien mit den typischen Designs der Querschnitt-, der Längsschnitt- und der Fall-KontrollUntersuchung. Einen Eindruck der untersuchten Fragestellungen bietet Tabelle 5, in der einige ausgewählte Ergebnisse zusammenfasst sind. Bei allen Beispielen handelt es sich um prospektive Längsschnittuntersuchungen, also um Studien mit hoher methodischer Aussagekraft für die Analyse von kausalen Beziehungen (Rothman et al. 1998b). Nicht ohne Grund stehen Studien, die sich mit kardiovaskulären Erkrankungen wie dem akuten Myokardinfarkt beschäftigen, zuoberst in der Tabelle. Bei der Entstehung dieser Krankheiten scheint Stress eine wichtige Rolle zu spielen, da die physiologischen Abläufe einer chronischen Stressreaktion auf unterschiedliche Weise das kardiovaskuläre System in Mitleidenschaft ziehen, teilweise direkt, indem etwa die Herzschlagfrequenz dauerhaft erhöht wird, teilwei-
84
4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
se indirekt, indem als Folge anhaltender Aktivierung der Stressachsen funktionale Störungen wie das metabolische Syndrom auftreten können, die wiederum als Risikofaktoren für Herzkrankheiten gelten (Schnall, Belkic, Landsbergis, Baker 2000 ; Stansfeld et al. 2002). Entsprechend konnte in einer Vielzahl von Untersuchungen gezeigt werden, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen im Allgemeinen deutlich mit dem KHK-Risiko assoziiert sind (Tennant 2000). Tabelle 5: Zusammenhang zwischen beruflichen Gratifikationskrisen und der Gesundheit: Ergebnisse aus epidemiologischen Längsschnittstudien (Quelle: Siegrist 2005b) Erstautor (Erscheinungsjahr) Siegrist 1990
Stichprobengröße (% Frauen) 416 (0)
D
Studiendauer (Jahre) 6.5
Lynch 1997a
2297 (0)
FI
Bosma 1998
10308 (33)
Kuper 2002
Land
Erkrankung
Relative Risiken
Inzidenz tödlicher und nicht-tödlicher KHK
OR 4.5
8.1
Inzidenz KHK (Myokardinfarkt)
HR 2.3
GB
5.3
Inzidenz KHK inkl. Angina Pectoris
OR 2.2
10308 (33)
GB
11.0
Inzidenz KHK
HR 1.3
Kivimäki 2002
812 (32)
FI
25.6
Kardiovaskuläre Mortalität
HR 2.3
Kumari 2004
8067 (30)
GB
10.5
Inzidenz Typ II Diabetes
Männer: OR 1.6 Frauen: OR 0.9 #
Stansfeld 1999
10308 (33)
GB
5.3
Psychische Störungen (v.a. Depression)
Männer: OR 2.6 Frauen: OR 1.6
Kuper 2002
6918 (33)
GB
11.0
Schlechte gesundheitsbezogene Lebensqualität (SF36)
Physisch: OR 1.4 Mental: OR 2.3
Stansfeld 1998
10308 (33)
GB
5.3
Schlechter funktionaler Status (SF 36)
Männer Frauen Physisch: OR 1.4 Mental OR 1.8
OR 2.0 OR 2.3
Niedhammer 2004
6286 (30)
FR
1.0
Schlechte selbstberichtete Gesundheit
Männer: OR 1.8 Frauen: OR 2.2
Head 2004
8280 (31)
GB
5.3
Alkoholabhängigkeit
Männer: OR 1.9 Frauen: OR 1,2 #
* OR=odds ratio / HR=hazard ratio # Statistisch nicht signifikant Abkürzungen: D=Deutschland, FR=Frankreich, FI=Finnland, GB=Großbritannien; KHK=koronare Herzkrankheiten; SF 36=short form 36 Fragebogen
4.4 Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen
85
Hier machen Studien, in denen das Modell beruflicher Gratifikationskrisen zur Messung von Belastung eingesetzt wurden, keine Ausnahme, wie die Beispiele aus Tabelle 5 zeigen. So hatten Personen mit einem ungünstigen Verhältnis zwischen Verausgabung und Belohnung im Vergleich zu ihren unbelasteten Kolleginnen und Kollegen ein ca. 1,3fach bis 4,5fach erhöhtes Risiko, in der Langzeitbetrachtung zu erkranken oder sogar zu versterben. Auch für Herz-KreislaufRisikofaktoren sind verschiedene Zusammenhänge berichtet worden, so fanden beispielsweise Kumari und Mitarbeiter (Kumari, Head, Marmot 2004) in einer Analyse mit Daten einer britischen Kohortenstudie an der 10.308 Staatsbedienstete teilnahmen heraus, dass berufliche Gratifikationskrisen das Risiko erhöhten, im Beobachtungszeitraum an Diabetes Melitus Typ II zu erkranken. Allerdings war der Effekt auf Männer begrenzt, bei den Frauen war kein Zusammenhang zu erkennen. Es scheint sogar insgesamt so zu sein, dass zumindest bei HerzKreislauf-Erkrankungen die Folgen psychosozialer Arbeitsbelastungen bei Frauen weniger ausgeprägt sind als bei Männern44. Die zweite, häufig untersuchte Krankheitsgruppe sind psychische und psychosomatische Störungen bzw. Symptome. Die Ergebnisse sprechen für eine deutliche und konsistente Beziehung, welche sowohl in Quer- als auch in Längsschnittstudien nachgewiesen wurde: Depressionen, Erschöpfungszustände, Burnout, Schlafprobleme, Alkoholsucht und einige weitere gesundheitliche Probleme sind bei Personen, die in ihrem Beruf mit einem Ungleichgewicht zwischen hoher Verausgabung und niedriger Belohnung konfrontiert sind, häufiger zu beobachten (van Vegchel, de Jonge, Bosma, Schaufeli 2005). Auch scheinen muskulo-skeletale Beschwerden bei dieser belasteten Gruppe öfter aufzutreten, allerdings liegen hierzu bisher nur Ergebnisse aus Querschnittstudien vor, die noch einer Bestätigung im Längsschnitt bedürfen (Dragano, von dem Knesebeck, Rödel, Siegrist 2003 ; Joksimovic, Starke, von dem Knesebeck, Siegrist 2002b). Neben gesundheitsbezogenen Ereignissen werden in der Forschung immer wieder auch mehr arbeitsbezogene Größen wie Fehlzeiten, Unzufriedenheit mit der Arbeit oder mangelnde Motivation betrachtet. Für das hier vorgestellte Modell gilt dies leider nur begrenzt, interpretierbare Ergebnisse existieren bisher nur für Arbeitsunzufriedenheit, die in einigen Querschnittstudien mit beruflichen Gratifikationskrisen assoziiert war (z.B. de Jonge, Bosma, Peter, Siegrist 2000). Hier besteht also weiterer Forschungsbedarf, da es insbesondere für die betrieblichen Akteure von hohem Interesse ist, Informationen über die Auswirkungen 44 Der Geschlechterunterschied könnte damit erklärt werden, dass in den angesprochenen Studien immer arbeitende Bevölkerungen im mittleren Erwachsenenalter untersucht wurden und bei Frauen Herzkrankheiten in großer Zahl erst einige Jahre nach der Menopause auftreten, also dann, wenn viele schon aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Aufgrund fehlender empirischer Belege bleibt dieser Deutungsversuch aber Spekulation.
86
4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
von psychosozialen Arbeitsbelastungen auf die Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erhalten. Der vorangegangene Satz trifft auch auf das Thema dieses Buches zu, denn obwohl krankheitsbedingte Frühberentung ein wichtiges Ereignis mit hoher praktischer Relevanz ist, wurde sie bisher in Studien mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen nicht untersucht. Direkte Belege für eine Verbindung fehlen also. Erwähnenswert sind aber zwei aktuelle Untersuchungen, in denen mit dem subjektiv geäußerten Wunsch nach Berentung ein Indikator für die Berentungswahrscheinlichkeit analysiert wurde. Bei der ersten Studie handelt es sich um eine repräsentative Querschnittbefragung der deutschen Erwerbsbevölkerung, an der im Frühjahr 2005 rund 2000 Männer und Frauen teilnahmen (Bödeker & Dragano 2005). Sie wurden telefonisch nach Arbeitsbelastungen befragt und beantworteten u.a. Fragen zum Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht. Das Ergebnis einer logistischen Regressionsanalyse mit Kontrolle für verschiedene Drittvariablen war, dass sich Personen mit einem hohen Ungleichgewicht 1,6 mal häufiger nicht vorstellen konnten, bis zum 65. Lebensjahr zu arbeiten45, als Personen mit einer ausgeglichenen Kosten-Nutzen-Bilanz. Die zweite Analyse wurde mit einer Teilstichprobe von 6.244 Männern und Frauen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren aus einer großen europaweiten Altersstudie46 durchgeführt. Betrachtet wurde die Assoziation zwischen einer Messung beruflicher Gratifikationskrisen und dem Wunsch nach Frühberentung47 (Siegrist, Dragano, Wahrendorf 2005). Wie Abbildung 7 zeigt, ist für alle 10 Länder für die eine Auswertung gemacht wurde ein deutlicher Anstieg des Rentenwunsches mit steigender Belastung durch berufliche Gratifikationskrisen zu verzeichnen. Auch wenn die Ergebnisse interessante Hinweise auf eine Verbindung zwischen psychosozialen Arbeitsbedingungen und dem Berentungsverhalten geben, sind sie doch nur eingeschränkt interpretierbar, da es sich um Querschnittstudien handelt und der Wunsch nach Berentung kein besonders eindeutiger Indikator für das tatsächliche Berentungsverhalten ist.
45 Der Wortlaut der Frage war: „Können Sie sich vorstellen, Ihre derzeitige Arbeitstätigkeit bis zum 65. Lebensjahr auszuüben?“ 46 Die SHARE-Studie („Survey of Health, Age and Retirement“) ist eine multizentrische Studie, an der mehr als 22 000 Europäer im Alter von über 50 Jahren teilgenommen haben. Informationen zur Studie können im Internet unter der Adresse www.share-project.org abgerufen werden. 47 Hier lautete die Frage „Wenn Sie an Ihren aktuellen Beruf denken, würden sie gerne so früh wie möglich in die Rente wechseln?“
4.4 Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen
87
[Abkürzungen: ES (Spanien) / FR (Frankreich) / IT (Italien) / AT (Österreich) / GR (Griechenland) / DE (Deutschland) / SE (Schweden) / DK (Dänemark) / CH (Schweiz) / NL (Niederlande)]
Abbildung 7:
Prävalenz des Rentenwunsches und ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung in 10 europäischen Staaten (Quelle: Siegrist et al. 2005)
Die Zusammenschau veröffentlichter Studienergebnisse zeigt, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen, ausgedrückt als ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung, nach heutigem Wissensstand ein Gesundheitsrisiko für die betroffenen Personen darstellen. Daneben stehen auch nicht-medizinische Merkmale, wie die Arbeitszufriedenheit oder der Wunsch nach frühzeitiger Berentung, in Verbindung mit dieser Belastung. Dieses Fazit ist mit der gebotenen wissenschaftlichen Vorsicht zu genießen, denn trotz der wachsenden Zahl von Untersuchungen, die das Modell zur Messung von psychosozialen Arbeitsbelastungen verwenden48, ist die Evidenz noch nicht so umfangreich, wie es wünschenswert wäre. Dies liegt daran, dass das Modell in seiner jetzigen Form erst in den vergangenen Jahren ausformuliert worden ist und somit der Forschung 48 Der aktuellste Übersichtsartikel von van Vegchel und Mitarbeitern, der 2005 erschienen ist, zählt 45 Studien, aus denen Ergebnisse veröffentlicht worden sind.
88
4 Psychosoziale Arbeitsbelastungen – Grundlagen
noch nicht lange zur Verfügung steht (siehe auch Kap. 9). Studien auf diesem Gebiet sind außerdem generell aufwändig, teuer und vor allem zeitintensiv. Entsprechend sind Langzeitstudien bisher die Ausnahme und methodisch anspruchsvolle Interventionsstudien mit experimentellen Designs fehlen gänzlich. Allerdings sind für die Zukunft vermehrt Ergebnisse aus prospektiven Studien zu erwarten, da das Modell derzeit in mehreren laufenden Kohortenstudien getestet wird.
4.5 Fazit Auch wenn hier nur einige exemplarische Ergebnisse vorgestellt werden konnten, sollte deutlich geworden sein, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen in vielfacher Weise die Gesundheit von Erwerbstätigen zu prägen imstande sind. Von den individuellen Konsequenzen ganz abgesehen, sind die Folgen bis hin in den betrieblichen Alltag deutlich zu spüren, wie Studien zur Arbeitsunfähigkeit eindrucksvoll zeigen (Friedel 2002). Aber geht die Wirkung soweit, dass sie sogar beim Invaliditätsgeschehen noch statistisch nachweisbar ist? Es ist auffällig, dass die Krankheitsgruppen, die häufig zu einer krankheitsbedingten Frührente führen, auch mit Arbeitsstress in Verbindung gebracht werden können. Zu nennen sind insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Störungen. Allerdings, und dies wurde in den vorangegangenen Abschnitten auch gezeigt, ist es nicht einfach Arbeitsstress zu erfassen und den Schaden zu beziffern, der potentiell dadurch angerichtet wird. Die Zusammenhänge sind kompliziert und daher muss der Umweg über theoretische Modelle gegangen werden, um überhaupt eine Vorstellung von den Abläufen bei der Entstehung von stressbezogenen Erkrankungen am Arbeitsplatz zu bekommen. Entsprechend vorsichtig sollte man mit vorschnellen Schlüssen wie diesem sein: ‚Arbeitsbelastungen lösen Stress aus, der löst Erkrankungen aus und die führen zur Frührente’. Indirekte Evidenz ist zwar wichtig, um in einem ersten Schritt die Plausibilität einer Zusammenhangsthese zwischen Arbeitsbelastungen und Frührente zu klären, sichere Aussagen sind aber nur von direkten Tests zu erwarten. Studien, in denen die Verbindung zwischen Arbeitsbelastungen und der Invaliditätsrente direkt untersucht wurden, sind also noch nachzuliefern, was im nächsten Kapitel geschieht.
5 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand
Derzeit gibt es keine aktuelle und umfassende Darstellung der veröffentlichten Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und dem Invaliditätsrisiko. Lediglich in einem systematischen Übersichtartikel wurden Publikationen zu diesem Thema berücksichtigt, wobei die Autoren Peter Allenbeck und Arne Mastekaasa (2004) aber nur ganze drei Arbeiten in ihre Betrachtung aufnehmen. Dies mag einerseits an der restriktiven Suchstrategie der Autoren liegen, andererseits sind empirische Studien hierzu in der Tat selten (Hagen et al. 2002). Um dieses Kapitel nicht allzu kurz geraten zu lassen, wurde daher eine breit angelegte Literatursuche mit dem Ziel durchgeführt, einen möglichst vollständigen Eindruck der vorliegenden Studienergebnisse zu bekommen und erfreulicherweise blieb es nicht bei drei Veröffentlichungen. Das undeutliche Bild, das die im vorangegangenen Kapitel geschilderten indirekten Hinweise auf eine mögliche Beteiligung von psychosozialen Arbeitsbelastungen an der Entstehung der Invaliditätsrente hinterlassen, lässt sich also durch Zuhilfenahme direkter empirischer Befunde weiter schärfen. Die Identifikation der wissenschaftlichen Arbeiten erforderte eine umfangreiche datenbankgestützte Literaturrecherche, die sich an den für Metaanalysen formulierten Standards orientiert hat (siehe hierzu: Rustenbach 2003). Der Anspruch war es, möglichst viele geeignete Studien aufzuspüren und entsprechend unspezifisch war die Suchstrategie angelegt. Als Literaturdatenbanken wurden die wichtigsten nationalen und internationalen Datenbanken zu den Fachbereichen Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften ausgewählt: Pubmed (incl. Medline), PsychINFO, Psyndex und Wiso-NET (incl. WIWI; SOWI, WISO III). Unabhängig von der Sprache der Datenbank wurden jeweils nach deutschen und englischen Begriffen gesucht. Folgende, über eine „oder“-Verknüpfung verbundene Suchbegriffe kamen zur Anwendung: "early retirement", "premature retirement", "work disability", "early pensioning", "disability pension", "disability retirement", "Frührente", "Erwerbsunfähigkeit", "Berufsunfähigkeit", "Erwerbsminderung", "Frühpensionierung", "verminderte Erwerbsfähigkeit", "Frühinvalidität", "Invaliditätsrente". Eine Eingrenzung der Suche erfolgte, indem nur englisch- und deutsprachige Zeitschriftenartikel, Bücher und Buchbeiträge, die im
90
5 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand
Zeitraum zwischen dem 01.01.1990 und dem 28.02.2005 erschienen sind, einbezogen wurden. Die Entscheidung, nur die vergangenen 15 Jahre zu betrachten, hatte inhaltliche Gründe. In der Zeit vor 1990 sind zwar auch vereinzelt Studien durchgeführt und Ergebnisse veröffentlicht worden, diese früheren Untersuchungen beruhen aber in der Regel auf Daten, die bis in die 1960er Jahre zurück reichen49, d.h. dass sie unter anderen als den heute geltenden rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entstanden sind, was die Vergleichbarkeit mit neueren Studien stark einschränkt (siehe hierzu Kap. 2). Häufig sind ältere Untersuchungen auch ökologisch angelegt, was bedeutet, dass das Invaliditätsgeschehen vergleichend für mehrere Berufsgruppen betrachtet und eventuelle Unterschiede dann qualitativ mit variierenden Arbeitsbedingungen in den einzelnen Berufen erklärt wurden. Ein solcher Schluss muss aber spekulativ bleiben, da eine Interpretation im Sinne einer UrsacheWirkungsbeziehung aufgrund der fehlenden Belastungsangaben nicht möglich ist (Stattin & Järvholm 2005). Daher sind ökologische Studien unabhängig von ihrem Erscheinungsdatum generell ausgeschlossen worden. In allen Datenbanken erzielte die gewählte Suchstrategie 2.525 Treffer, eine Anzahl, die über eine Sichtung der Kurzzusammenfassungen stark reduziert werden konnte. In die Auswahl wurden nur Beiträge aufgenommen, die explizit Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen einer empirischen Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen und der krankheitsbedingten Frührente50 berichten und die die oben genannten Kriterien erfüllten. Für eine systematische Auswertung blieben letztlich 14 Arbeiten übrig, die in der Tabelle 6 vorgestellt werden.
49 Nichtsdestotrotz gibt es bereits frühe Studien, in denen die mögliche Bedeutung psychosozialer Belastungen diskutiert und analysiert wird. Nach wie vor lesenswerte Arbeiten aus Deutschland haben beispielsweise Walter Rüth (1976), Michel Kentner (1983) und Rainer Wasilewski (1984) vorgelegt. 50 Damit waren auch Studien ausgeschlossen, in denen die allgemeine Frühberentung, ohne Berücksichtigung der Berentungsgründe, als Zielgröße fungierte.
Krankheitsbedingte Frührente (KFR) Quelle: Messung KFR: Quelle
Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt gesamt und nach Diagnosegruppe (psychische, kardiovaskuläre, muskulo-skeletale Erkrankungen)
Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt
Selbstangabe: KFR im Längsschnitt
Population und Design
Anzahl, (Geschlecht), Population, Alterm Design (mittlere Beobachtungsdauer in Jahren)
6.257, (Ƃ + ƃ), 44-58 Jahre, Staatsbedienstete, LängsschnittDesign (4)
15.348, (Ƃ + ƃ), 24-64 Jahre, allgemein Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (6)
6.057, ( ƃ), 45-62 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (8)
Erstautor (Jahr), Land
Legende
Tuomi et al. (1991), Finnland
Appelberg et al. (1996), Finnland
Riphahn (1997), Deutschland
Keine Angabe zur Erhebungsform: (A) ‚Arbeitsstress’
Selbstangabe: (A) Konflikte am Arbeitsplatz (B) hektische Arbeit (C) monotone Arbeit
Selbstangabe: (A) hohe mentale Anforderungen (B) hohe Kontrolle [Protektivfaktor] (C) problematische Arbeitsorganisation
Erhebungsform: (...) Messung Belastungsfaktoren
Psychosoziale Arbeitsbelastungen
(A) n.s.
Frauen (A) HR=1,6 (1,0-2,4) (B) HR=1,4 (0,9-2,1) (C) HR=1,0 (0,7-1,2)
Männer (A) HR=1,2 (0,7-1,8) (B) HR=1,4 (0,9-2,1) (C) HR=1,6 (1,2-2,2)
KFR gesamt [Ƃ / ƃ] (A) RR=0,6 / 0,9 (B) RR=0,6 / 0,7 (C) RR=0,9 / 1,2 KFR psychische Erk. (A) RR=1,4 / 1,6 (B) RR=1,0 / 1,3 (C) RR=2,0 / 1,5 KFR kardiovaskuläre Erk. (A) RR=0,8 / 0,8 (B) RR=0,5 / 0,7 (C) RR=1,1 / 1,2 KFR Muskulo-skeletale. (A) RR= 0,5 / 0,7 (B) RR=0,5 / 0,4 (C) RR=0,7 / 1,2
OR=Odds Ratio RR=Relatives Risiko HR=Hazard Ratio (95% Konfidenzinterval falls angegeben) * = stat. sig. ohne Angabe 95% KI
Ergebnis
Über das Stichwort ‚Arbeitsstress’ hinaus werden keine Angaben zur Messung oder zum theoretischen Hintergrund gemacht.
HR kontrolliert für Alter, Soziale Schicht, Gesundheitszustand zur Basisuntersuchung
(A-C) wurden jeweils mit einer Frage gemessen. Zum theoretischen Hintergrund werden keine Angaben gemacht.
RR kontrolliert für Alter
Über die Stichworte (A-C) hinaus werden keine Angaben zur Belastungsmessung oder zu deren theoretischen Hintergrund gemacht.
Anmerkungen
Tabelle 6: Studienüberblick – Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Invaliditätsrente / Teil 1
Selbstangabe: KFR im Längsschnitt
Selbstangabe: KFR und vorgezogene Altersrenten als ein Endpunkt im Längsschnitt Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt
1.038, ( ƃ), 42-60 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (4,2)
98 Fälle / 357 Kontrollen, (Ƃ + ƃ), 40-60 Jahre, allg. Erwerbstätige, Eingebettete Fall-Kontroll Studie (ca. 17)
829, (Ƃ + ƃ) , 29-60 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (15)
2.918, (ƃ), keine Altersangabe, Bedienstete der Stadtwerke, LängsschnittDesign (2,5)
Krause et al. (1997), Finnland
Biefang et al. (1998), Deutschland
Biering-Sorensen (1999), Dänemark
Lund et al. (2001), Dänemark
Selbstangabe: KFR und Langzeitarbeitsunfähigkeit als ein Endpunkt im Längsschnitt
KFR
Population und Design
Erstautor (Jahr), Land
Selbstangabe: (A) hohe Anforderungen (B) niedriger Entscheidungsspielraum (C) fehlende Entwicklungsmöglichkeiten (D) fehlende soziale Unterstützung
Selbstangabe: (A) Probleme bei der Arbeit (B) Einfluss auf Arbeit (C) Arbeitsgeschwindigkeit (D) Arbeitszufriedenheit (E) Arbeitsstunden (Woche)
Selbstangabe: (A) hohe Monotonie (B) hohe Zufriedenheit mit Beruf (Protektivfaktor)
Selbstangabe: (A) hohe psychische Belastungen (B) hoher Zeitdruck (C) niedrige Arbeitszufriedenheit (D) hohe soziale Unterstützung Kollegen (Protektivfaktor) (E) hohe soziale Unterstützung Vorgesetzte (Protektivfaktor) (F) hohes Arbeitsaufkommen (G) enge Zeitvorgaben für die zu erledingende Arbeit
Psychosoziale Arbeitsbelastungen
RR = 1,35 (nur Ƃ) RR = 0,69 (nur ƃ)
OR=2,3 (1,1-4,6) OR=2,0 (1,0-4,2) OR=1,8 (1,0-3,2) OR=0,6 (0,3-1,3) OR=0,5 (0,2-1,1) OR=1,5 (0,8-2,7) OR=1,5 (0,9-2,6)
(A) (B) (C) (D)
Kein Zusammenhang Kein Zusammenhang OR = 2,70* Kein Zusammenhang
Chi2 Test (A) n.s. (B) n.s. (C) * (D) * (E) *
(A) (B)
(A) (B) (C) (D) (E) (F) (G)
Ergebnis
OR kontrolliert für Vorerkrankungen, physische Arbeitsbelastungen und LifestyleFaktoren (Übergewicht, Rauchen)
Für (A-D) wurden weitestgehend Originalfragen zum Anforderungs-KontrollModell verwendet.
Über die Stichworte (A-E) hinaus werden keine Angaben zur Messung oder zum theoretischen Hintergrund gemacht.
Über die Stichworte (A+B) hinaus werden keine Angaben zur Messung oder zum theoretischen Hintergrund gemacht.
Die Belastungen (A), (B) (C) und (F) wurden durch Indizes aus verschiedenen Fragen gemessen. Zu (D) (E) und (G) werden keine näheren Angaben gemacht. Zu den theoretischen Hintergründen werden keine Angaben gemacht, die Punkte (A),(B), (D) und (E) sind aber wahrscheinlich ans AnforderungsKontroll-Modell angelehnt; OR kontrolliert für Alter
Anmerkungen
Tabelle 6: Studienüberblick – Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Invaliditätsrente / Teil 2
KFR Amtliche Zensusdaten: KFR aufgrund der Diagnose Erkrankung des Rückens im Längsschnitt
Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt
Selbstangabe: KFR und Langzeitarbeitsunfähigkeit im Längsschnitt
Population und Design
34.756, (Ƃ + ƃ), 25-59 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (7)
62.369, (Ƃ + ƃ) , 20-66 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (10)
3.318, (Ƃ + ƃ), 18-64 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (2)
Erstautor (Jahr), Land
Hagen et al. (2002), Norwegen
Krokstad et al. (2002), Norwegen
Lund et al. (2003), Dänemark
Selbstangabe: (A) hohe Anforderungen (B) Skill descretion (C) Entscheidungsspielraum (D) niedrige soz. Unterstützung (E) Konflikte am Arbeitsplatz (F) niedrige Flexibilität der Arbeitsorganisation (G) traditionelles Managementkonzept (H) keine betriebliche Personalentwicklung (I) keine Weiterbildungsmöglichkeiten
Selbstangabe: (A) niedrige Kontrolle (B) hohe psychische Anforderung (C) niedrige Arbeitszufriedenheit
Selbstangabe: (A) hohe Konzentration (B) hohe Anforderungen (C) wenig Möglichkeiten die eigene Arbeit zu planen (D) niedrige Arbeitszufriedenheit
Psychosoziale Arbeitsbelastungen OR=1,4 (0,8-2,4) OR=0,6 (0,4-1,0) OR=1,4 (1,0-2,0) OR=1,5 (1,0-2,3)
Multivariate Statistiken (H) OR=2,2 (1,2-3,7) (I) OR=2,4 (1,1-5,3)
Bivariate Statistiken: es werden nur Signifikanzbereiche angegeben (A) p=0,066 (B) p=0,193 (C) p=0,141 (D) p=0,085 (E) p=0,067 (F) p=0,865 (G) p=0,008
ƃ 20-49 Jahre (A) RR=1,40 (1,0-1,9) (B + C) nicht angegeben ƃ 50-66 Jahre (A) RR=1,3 (1,1-1,6) (B) RR= 1,1 (0,9-1,3) (C) RR= 1,2 (0,9-1,4) Ƃ 20-49 Jahre (A) RR=1,3 (1,0-1,6) (B + C) nicht angegeben Ƃ 50-66 Jahre (A) RR=1,3 (1,1-1,6) (B) RR= 1,3 (1,1-1,6) (C) RR= 1,3 (0,9-1,9)
(A) (B) (C) (D)
Ergebnis
Die Messung von (A-D) orientiert sich am Anforderungs-Kontroll-Modell. (F-I) beziehen sich auf Aspekte des Managements und der Organisation. Die Messung beruht auf einem validierten Fragebogeninstrument. OR kontrolliert für Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Rauchen, Betriebsgröße, Branche, physische Arbeitsbelastungen
RR kontrolliert für Alter, Bildung, Vorerkrankungen, Beruflicher Status, Familienstand, subjektives Wohlbefinden, Isolation, subjektive Gesundheit, Sport, Rauchen
(A+B) wurden jeweils mit einer Frage gemessen. Theoretisch orientiert sich die Messung am AnforderungsKontroll-Modell. Es wurde nach Geschlecht und Alter getrennt ausgewertet.
(A-D) wurden jeweils mit einer Frage gemessen. Zu den theoretischen Hintergründen werden keine Angaben gemacht. OR kontrolliert für Alter, Geschlecht, physische Arbeitsbelastungen, jeweils die anderen Faktoren der Liste
Anmerkungen
Tabelle 6: Studienüberblick – Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Invaliditätsrente / Teil 3
Selbstangabe: KFR im Längsschnitt
Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt insgesamt und nach Diagnose (psychische, kardiovaskuläre, muskulo-skeletale und andere Erkrankungen)
Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt
126, (Ƃ + ƃ), 42-63 Jahre, Arbeiter der Nahrungsmittel-industrie, Längsschnitt-Design (11)
19.114, (Ƃ + ƃ), 60-67 Jahre, allg. Erwerbstätige, Längsschnitt-Design (3,4)
19.273, (Ƃ + ƃ), 21-54 Jahre, Staatsbedienstete, Längsschnitt-Design (4)
87.000, (ƃ), 20-64 Jahre, Arbeiter der Bauindustrie, Längsschnitt-Design (1 12)
Salonen et al. (2003), Finnland
Blekesaune (2005), Norwegen
Vahtera et al. (2005a), Finnland
Stattin et al. (2005), Schweden
Amtliche Zensusdaten: KFR im Längsschnitt
KFR
Population und Design
Erstautor (Jahr), Land
Selbstangabe: (A) Hohe Anforderungen und niedrige Kontrolle [job strain] (B) Soziale Unterstützung
Zensusdaten: Arbeit in einer Abteilung in der massive Entlassungen vorgenommen wurden (Downsizing)
Job Exposure Matrize: (A) Arbeitsstress (B) Niedrige Autonomie
Selbstangabe: (A) Arbeitsstress (B) Mentale Arbeitsbelastung (C) Stress-Symptome
Psychosoziale Arbeitsbelastungen
(A) OR=4,1 (2,9-5,8) (B) n.s.
HR=1,81 (1,2-2,7)
KFR gesamt (A) OR=1,1 (0,9-1,4) (B) OR=1,2 (1,1-1,4) KFR psychische Erk. (A) OR=1,1 (0,8-1,5) (B) OR=1,1 (0,9-1,3) KFR kardiovaskuläre Erk. (A) OR=1,1 (0,9-1,3) (B) OR=1,2 (1,0-1,3) KFR Muskulo-skeletale Erk. (A) OR= 0,9 (0,8-1,0) (B) OR=1,0 (0,9-1,0) KFR andere Erk. (A) OR=1,3 (1,0-1,5) (B) OR=1,1 (0,9-1,2)
(A) kein Zusammenhang (B) kein Zusammenhang (C) P=0.020* (Mann-Whitney test: Referenzgruppe mit normaler Altersrente)
Ergebnis
OR kontrolliert für Alter
Die Messung von (A) und (B) orientiert sich am Anforderungs-Kontroll-Modell.
HR kontrolliert für Alter, Geschlecht, berufliche Stellung, befristeter Arbeitsvertrag
Die Teilnehmer waren nach dem Prozess des Downsizing einem starken Anstieg von psychosozialen Arbeitsbelastungen ausgesetzt.
Die Autoren verwenden ein indirektes Verfahren zur Ermittlung der Belastung durch psychosoziale Arbeitsbelastungen (Job Exposure Matrize). Ein ähnlicher Ansatz wird im empirischen Teil dieser Arbeit verfolgt, daher finden sich in den Kapiteln (610) ausführliche Angaben zur Methode. Die Messung von (A) bis (D) orientiert sich am Anforderungs-Kontroll-Modell.
Über die Stichworte (A) bis (C) hinaus werden keine Angaben zur Messung oder zum theoretischen Hintergrund gemacht.
Anmerkungen
Tabelle 6: Studienüberblick – Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Invaliditätsrente / Teil 4
5.1 Studienüberblick
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5.1 Studienüberblick Designs: Der Tabelle 6 ist zu entnehmen, dass das dominierende Design die klassische Längsschnittstudie ist, bei der psychosoziale Arbeitsbelastungen zu Beginn der Untersuchung gemessen werden und die Studienpopulation dann über einen bestimmten Zeitraum hinweg beobachtet wird (‚Follow-up’), um neu auftretende Fälle von Invaliditätsrente zu erfassen. Die Messung der Belastung erfolgte in allen Studien einmalig zur Basisuntersuchung. Die nachfolgenden Beobachtungszeiträume reichen von einem Jahr bis zu siebzehn Jahren, mit einem Durchschnitt von ca. 6,5 Jahren. Abgesehen von der eingebetteten FallKontroll-Studie von Biefang und Mitarbeitern (1998) kamen keine anderen Designs zum Einsatz. Problematisch ist das Fehlen experimenteller Untersuchungen, denen die höchste Aussagekraft bei der Beantwortung kausaler Fragestellungen zugebilligt wird. Allerdings ist dieser Mangel auch verständlich, da kausale Forschung bei der hier betrachteten Belastungsform und der speziellen Zielgröße experimentell nur schwer möglich und ethisch bedenklich ist. Die Alternative zum Experiment sind quasi-experimentelle Interventionsstudien, bei denen in der Experimentalgruppe, die zumeist aus einer natürlichen Gruppe wie etwa einer Abteilung besteht, Arbeitsbedingungen systematisch variiert werden, während bei der Kontrollgruppe kein Eingriff erfolgt. Zwar gibt es Versuche, Interventionen mit dem Ziel der Verhinderung von Invalidität zu testen (z.B. de Boer et al. 2004), es existiert aber nach Kenntnis des Autors keine Studie, in der die Intervention aus der systematischen Beseitigung von Arbeitsstress bestanden hätte. Ohne weiter auf die Diskussion über den Wert der verschiedenen Studientypen bei der Ursachenforschung einzugehen51 kann aber festgehalten werden, dass die hier ausgewählten Studien alle auf verhältnismäßig aussagekräftigen Designs beruhen. Populationen: Betrachtet man die Länder, aus denen die Studien stammen, so zeigt sich ein Übergewicht skandinavischer Staaten. Bis auf zwei deutsche Untersuchungen stammen die Daten alle aus dem europäischen Norden, was durch-
51 In den vergangenen Jahren haben sich die Bestrebungen verstärkt, verbindliche Kriterien für die Bewertung von Studiendesigns im Hinblick auf ihre Aussagekraft bei der Beantwortung kausaler Fragestellungen aufzustellen. In der Medizin ist hier vor allem die Cochrane Collaboration zu nennen, die Regeln zur Evidenzbewertung erstellt und für systematische Reviews über Behandlungs-, Diagnose- und Prognoseverfahren verwendet (im Internet: www.cochrane.de). Das Äquivalent in den Sozial- und Politikwissenschaften ist die Campbell Collaboration (www.campbellcollaboration.org). Die höchste Evidenzstufe haben in allen Programmen randomisierte, kontrollierte Studien. Darauf folgen Längsschnittstudien mit der Evidenzstufe II.
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5 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand
aus von Nachteil ist, da somit die meisten Ergebnisse aus einem speziellen Kulturraum mit speziellen gesetzlichen und gesellschaftlichen Bedingungen stammen und sich die Frage der Übertragbarkeit auf andere Länder stellt (Hyde, Hagberg, Oxenstierna, Theorell, Westerlund 2004). Bei den eigentlichen Studienpopulationen gibt es etwas mehr Varianz, in neun Studien werden Stichproben der allgemeinen Erwerbsbevölkerung betrachtet, in den restlichen fünf sind es einzelne Berufsgruppen, z.B. Staatsbedienstete oder Arbeiter der Bauindustrie. Die Spannbreite der Zahl untersuchter Personen ist enorm und reicht von 126 bis 87.000, wobei erfreulich ist, dass zehn der vierzehn Populationen aus Männern und Frauen bestehen und nur vier Stichproben ausschließlich Männer umfassen. Für das Alter lassen sich zwei Gruppen bilden, eine Gruppe von Untersuchungen, bei denen das komplette Altersspektrum der arbeitenden Bevölkerung von ca. 20 bis 65 Jahren repräsentiert ist und eine Gruppe, die sich auf das mittlere Erwachsenenalter zwischen ca. 40 und 65 Jahren konzentriert. Erfassung der krankheitsbedingten Frührente: Frührente ist in allen Ländern, aus denen die Studien stammen, ein durch amtliche Stellen begutachtetes und bestätigtes Ereignis. In skandinavischen Ländern sind die Datenschutzbestimmungen liberaler als etwa in Deutschland, so dass sich einige Studien amtliche Zensusdaten zunutze gemacht haben und über eine Verbindung der Sozialversicherungsnummern der Studienpersonen mit amtlichen Registern den Endpunkt Frührente im Beobachtungszeitraum erhoben haben. Diese Vorgehensweise verspricht eine hohe Validität und Vollständigkeit der Daten. Teilweise ist sogar die Berentungsdiagnose mit erfasst worden, so dass wie in der Arbeit von Blekesaune und Solem (2005) ursachenspezifische Analysen möglich waren. Die Alternative zu Zensusdaten ist die direkte Befragung, auf die fünf Studien zurückgegriffen haben. Eine Selbstangabe der Befragten, zumeist einmalig am Ende des Beobachtungszeitraums, ist nicht grundsätzlich invalide, birgt aber Gefahren. Einerseits kann es wie in jeder Befragung zu Fehleinschätzungen kommen, wenn die Person die entsprechende Frage fehlerhaft interpretiert und anderseits drohen Selektionseffekte durch systematischen Ausfall von Studienteilnehmern im Längsschnitt. Beispielsweise fallen Personen, die zwar nach der Basiserhebung in die Invaliditätsrente wechseln, aber vor der Abschlussuntersuchung versterben, aus den Analysen heraus. Geschieht dies in größerem Ausmaß, sind Verzerrungen von Ergebnissen nicht auszuschließen. Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen: In allen Untersuchungen haben die Studienteilnehmer selbst ihre Belastung eingeschätzt, was das gängige Verfahren
5.2 Studienergebnisse
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zur Messung psychosozialer Arbeitsrisiken ist52. Damit enden aber die Gemeinsamkeiten. Wie in Tabelle 6 zu sehen ist, wurde eine bunte Auswahl von Indikatoren verwendet. In der Liste vertreten sind beispielsweise Faktoren wie Hektik, Konflikte am Arbeitsplatz, Flexibilität oder Arbeitszufriedenheit. Auffällig ist der Mangel an theoretischer Fundierung der verwendeten Messverfahren. Trotz der im vorigen Kapitel geschilderten Bedeutung theoretischer Grundlagen in der Stressforschung, beruht nur in fünf der Studien die Belastungsmessung auf einem theoretischen Modell, in allen Fällen das Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek. In einer weiteren Studie ist zu vermuten, dass das Modell die Konstruktion der Belastungsfaktoren inspiriert hat, auch wenn sich darauf im Text kein Hinweis findet (Krause et al. 1997). Bei allen anderen Untersuchungen fehlt eine theoretische Einordnung und häufig erfährt man in der Veröffentlichung über die Stichwörter hinaus gar nichts über die Messung, so dass vollkommen unklar bleibt, wie die dahinterstehende Frage lautet, ob sich hinter der Messung gar ein Index aus mehreren Fragen verbirgt und nach welchen Vorgaben die Studienpersonen in belastete und unbelastete Personen eingeteilt wurden. Auch die Studien, in denen psychosoziale Arbeitsbelastungen nach dem AnforderungsKontroll-Modell operationalisiert wurden, haben in der Mehrzahl keine vollständige Messung zur Verfügung gehabt, sondern mussten aus vorhandenen Einzelfragen sinngemäße Indizes konstruieren.
5.2 Studienergebnisse Konsistent können die Befunde der 14 Studien nicht genannt werden, was angesichts der Qualitätsunterschiede der eingesetzten Messverfahren auch kaum zu erwarten war. Im Bezug auf die allgemeine Invaliditätsrente, d.h. ohne Berücksichtigung der Diagnose, haben Ergebnisse, die einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Belastung und Frührente zeigen, aber das Übergewicht gegenüber solchen, die auf eine fehlende oder nur schwache Assoziation hindeuten. Dies gilt auch für diejenigen Studien, die sich auf das AnforderungsKontroll-Modell berufen. In fünf der sechs Untersuchungen zeigte sich ein erhöhtes Berentungsrisiko für Personen mit niedriger Kontrolle oder mit hohen Anforderungen am Arbeitsplatz. Allerdings hat nur eine Studie die theoretischen Vorgaben korrekt umgesetzt, welche besagen, dass erst von der Kombination 52 Eine Ausnahme macht lediglich die Studie von Blekesaune und Solem (2005), in der das indirekte Verfahren der Job-Exposure-Matrize verwendet wurde. Allerdings stammen die Belastungsangaben für die Matrize wiederum aus Befragungsdaten (zum Verfahren der JobExposure-Matrize siehe auch Kap. 6).
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5 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand
hoher Anforderungen und gleichzeitiger niedriger Kontrolle (= ‚job strain’) eine erhöhte Gefährdung ausgeht. Während in den anderen Fällen die beiden Dimensionen jeweils einzeln betrachtet wurden, haben Stattin und Järvholm (2005) in ihrer Untersuchung an 87.000 Arbeitern der Bauindustrie den Faktor ‚job strain’ als Kombination aus hoher Anforderung und niedriger Kontrolle betrachtet und berichten für hoch belastete Arbeiter ein im Vergleich zur unbelasteten Gruppe 4,1fach erhöhtes Invaliditätsrisiko. Unter den psychosozialen Belastungsfaktoren ohne weitere theoretische Unterfütterung, ist die Arbeitszufriedenheit hervorzuheben, da hier eine relativ große Konsistenz der Ergebnisse zu erkennen ist. In vier der fünf Studien in denen Zufriedenheit als unabhängige Variable getestet wurde, zeigten sich signifikante Zusammenhänge mit dem Berentungsrisiko. Erwähnenswert ist auch eine Form psychosozialer Belastung, die bisher zwar nur in einer Studie getestet wurde, die aber im Bezug auf das Gratifikationskrisenmodell von Interesse ist. In der Untersuchung von Lund und Csonka (2003) fanden die Autoren, dass ein traditionelles und stark hierarchisch ausgerichtetes Managementkonzept, eine fehlende Personalentwicklung oder blockierte Weiterbildungsmöglichkeiten mit der krankheitsbedingten Frührente assoziiert waren. Inhaltlich können diese Belastungen durchaus in die Nähe der Belohnungsdimension des Modells gerückt werden, und da sich tatsächlich ein erhöhtes Risiko für alle drei Faktoren zeigte, ist dies im Hinblick auf die kommenden Analysen ein ermutigender Befund Abschließend soll noch auf die zwei Untersuchungen hingewiesen werden, in denen auch diagnosespezifische Analysen durchgeführt wurden. In der finnischen Studie von Tuomi und Mitarbeitern waren (1991) psychosoziale Arbeitsbelastungen nicht mit der krankheitsbedingten Frührente assoziiert, solange alle Fälle unabhängig von der medizinischen Ursache betrachtet wurden. Nach Aufteilung der Frühberentungsfälle in Diagnosegruppen zeigten sich dann aber Zusammenhänge zwischen hohen mentalen Arbeitsbelastungen sowie einer problematischen Arbeitsorganisation mit Frührente aufgrund von psychischen Erkrankungen. Bei kardiovaskulären und muskulo-skeletalen Erkrankungen fanden die Wissenschaftler dagegen keine Effekte. In der zweiten Untersuchung haben sich, davon abweichend, statistisch signifikante Zusammenhänge sowohl für das gesamte Invaliditätsgeschehen als auch für die Diagnosegruppen kardiovaskuläre und andere Erkrankungen gezeigt (Blekesaune et al. 2005). Bei den psychischen Erkrankungen war lediglich eine Tendenz für ein erhöhtes Risiko zu erkennen und bei der Gruppe der muskulo-skelettalen Erkrankungen ließen sich wie schon bei der Untersuchung von Tuomi keine erhöhten Risiken infolge psychosozialer Arbeitsbelastungen nachweisen. Diese diagnosespezifischen Ergebnisse müssen aber zurückhaltend interpretiert werden. Erstens haben überhaupt nur zwei Studien eine Differenzierung vorgenommen und zweitens unterscheiden sich diese
5.3 Zusammenfassung
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Studien bezüglich ihrer Studienpopulation und der Messung der Arbeitsbelastungen stark voneinander, so dass die abweichenden Ergebnisse methodische Gründe haben können.
5.3 Zusammenfassung Erwerbstätige mit hohen psychosozialen Arbeitsbelastungen hatten in verschiedenen Längsschnittstudien ein erhöhtes Risiko, im Verlauf der Nachbeobachtung krankheitsbedingt frühberentet zu werden. Dem stehen Studien gegenüber, in denen psychosoziale Arbeitsbelastungen keine Rolle für das spätere Berentungsgeschehen spielten. Wie sind diese gegensätzlichen Befunde zu interpretieren? Der Hauptgrund für diese widersprüchliche Situation sind mit hoher Wahrscheinlichkeit die methodischen Unterschiede zwischen den Studien. Besonders schwer wiegt, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen häufig nur sehr ungenau gemessen wurden, während der Einsatz theoretisch begründeter und teststatistisch validierter Messverfahren die Ausnahme ist. Messverfahren mit einem hohen Fehleranteil führen aber zu verzerrten Ergebnissen, wobei die Richtung der Verzerrung von der Art des Fehlers abhängig ist (Rothman 2002, S.94ff.). Allerdings gehen die methodischen Beschränkungen nicht so weit, dass bei den positiven Befunden von reinen Zufallsfunden gesprochen werden kann, denn es sind gerade die Studien mit einer höheren Qualität der Belastungsmessung und mit größeren Kollektiven und langen Erhebungszeiträumen, in denen statistische Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und krankheitsbedingter Frührente gefunden wurden. Gemeinsam mit der indirekten Evidenz, die sich darauf stützt, dass arbeitsbedingte Stressbelastungen Erkrankungen auszulösen imstande sind, können diese direkten Nachweise als ein Plädoyer dafür begriffen werden, psychosoziale Arbeitsbelastungen als mögliche Ursachen der Invaliditätsrente ernst zu nehmen. Welche Rolle sie im Modell der krankheitsbedingten Frührente spielen, wie es in Kapitel 3 dargelegt wurde, ist aber zum jetzigen Zeitpunkt kaum zu beantworten. In einigen der in Tabelle 6 dargestellten Untersuchungen wurden konkurrierende Einflüsse (z.B. soziale Schicht, Gesundheitszustand, Lebensstil) statistisch kontrolliert, so dass der von diesen Faktoren unabhängige Beitrag der psychosozialen Arbeitsbelastungen ermittelt werden konnte. Die Ergebnisse der kontrollierten Analysen deuten darauf hin, dass die psychosozialen Charakteristika der Arbeit in der Tat ein unabhängiger Risikofaktor der Invaliditätsrente sind. Wie schon öfter in den letzten Abschnitten muss aber wieder auf die geringe Zahl der Studien und die großen methodischen Unterschiede verwiesen werden.
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5 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand
5.4 Forschungsbedarf und Forschungsfragen Der Studienüberblick lässt also erkennen, wo Forschungsbedarf besteht. Generell gab es bisher nur wenige Untersuchungen, in denen mit einem Längsschnittdesign der Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und dem Risiko der krankheitsbedingten Frührente direkt betrachtet werden konnte. Die meisten dieser Studien sind zudem in skandinavischen Ländern durchgeführt worden und es ist nicht klar, ob die Ergebnisse aufgrund der speziellen nationalen Rechtsgrundlagen ohne weiteres auch für andere Länder verallgemeinert werden können (Hyde et al. 2004). Insofern erscheint es berechtigt, eine weitere Studie zu diesem Thema mit Daten aus Deutschland durchzuführen. Ein Manko der bisherigen Forschung ist außerdem, dass nur in ca. einem Drittel der Untersuchungen psychosoziale Arbeitsbelastungen auf der Basis theoretischer Konzepte gemessen wurden. Die Verbindung zwischen der Arbeitswelt und stressbedingten Erkrankungen ist aber äußerst komplex und daher ist es wenig erhellend, wenn bei ad hoc Messungen einzelne potentiell belastende Aspekte wie Hektik oder Monotonie herausgegriffen werden, ohne dass die dahinterstehenden theoretischen Annahmen erkennbar werden. Obwohl sich auch in den Studien, in denen das Anforderungs-Kontroll-Modell zur Abbildung beruflicher Stressbelastungen verwendet wurde, keine übereinstimmenden Ergebnisse zeigten, vereinfacht es die Interpretation doch sehr, wenn zum einen klar ist, auf welchem Fundament die Messung steht, und wenn zum anderen die Ergebnisse mit denen von Studien, in denen Arbeitsbelastungen mit dem gleichen Instrument gemessen wurden, verglichen werden können. In dem in dieser Arbeit präsentierten Forschungsprojekt wurde aus diesen Gründen eine aus der Theorie hergeleitete Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen eingesetzt. Die Wahl fiel auf das Modell beruflicher Gratifikationskrisen, in dem die inhaltlichen Schwerpunkte anders gesetzt werden als im Anforderungs-Kontroll-Modell. Insbesondere die Beachtung von übergeordneten sozialen und ökonomischen Strukturen wie beispielsweise dem Belohnungssystem oder der Bedrohung durch Arbeitsplatzunsicherheit machen es für die Erforschung der arbeitsbedingten Ursachen der Frühberentung interessant. Aus dem Literaturüberblick lassen sich auch einige Anforderungen an die methodische Gestaltung des in den folgenden Kapiteln vorgestellten Projekts ableiten. Unstrittig ist, dass die Studie auf Langzeitdaten beruhen muss, da eine kausale Interpretation von Ergebnissen sonst schwierig wäre. Die zeitliche Perspektive ist aber noch in einer anderen Hinsicht beachtenswert. Es ist das Ziel der hier vorgestellten Untersuchung, Arbeitsbelastung nicht nur, wie es weitgehend üblich ist, zu einem Zeitpunkt zu erfassen, sondern eine kontinuierliche Messung über eine längere Zeitspanne durchzuführen. Mehrmalige Messungen
5.4 Forschungsbedarf und Forschungsfragen
101
kommen den Abläufen bei der Entstehung der Invalidität näher - soweit sie bisher überhaupt bekannt sind -, da die meisten arbeitsbedingten Risiken eine lange Induktions- und/oder Latenzzeit haben, d.h. sie müssen erstens eine längere Zeit auf den Organismus einwirken, bis sie ihre schädigende Wirkung entfalten (Induktionszeit) und zweitens werden bestimmte, durch Arbeitsbelastungen ausgelöste Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen erst viele Jahre nach ihrem organischen Entstehen klinisch auffällig (Latenz) und damit messbar (Davey Smith, Ben-Shlomo, Lynch 2002 ; Hallqvist, Lynch, Bartley, Lang, Blane 2004 ; Hart, Davey Smith, Blane 1998 ; Hemon et al. 1991 ; Keil, Weiland, Birk, Spelsberg 1992). Die ausgedehnte Induktionszeit kennzeichnet auch psychosoziale Arbeitsbelastungen, die, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, vor allem bei einem chronischen Auftreten ihr volles gesundheitsschädigendes Potential entfalten (Johnson, Stewart, Hall, Fredlund, Theorell 1996 ; Siegrist 1996, S.110ff.). Will man also die Folgen von arbeitsbedingtem Stress auf die Gesundheit abschätzen, erhöht es die Aussagekraft der Messung, wenn sie eine lange Zeitspanne vor dem Eintritt der manifesten Erkrankung erfasst, und nicht nur eine Momentaufnahme der aktuell zum Untersuchungszeitpunkt ausgeübten Beschäftigung herangezogen wird, um Arbeitsstress zu quantifizieren (Johnson & Stewart 1993, S.40 ; Johnson et al. 1996 ; Pensola 2004). Schließlich soll mit der Untersuchung auch ein Beitrag zum Verständnis des Zusammenwirkens verschiedener Einflussfaktoren bei der Entstehung der Invaliditätsrente geleistet werden. In Kapitel 3 ist eine ganze Reihe solcher Faktoren aufgeführt worden, wie beispielsweise physische Arbeitsbelastungen oder der soziale Status. Bei den Analysen zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und dem Berentungsrisiko sollten diese konkurrierenden Einflüsse wenn möglich kontrolliert werden, um den unabhängigen Anteil der psychosozialen Komponente zu ermitteln. Darüber hinaus ist es von Interesse, in weiteren Analyseschritten auch nach gemeinsamen Effekten zu suchen, etwa nach den speziellen Auswirkungen der Kombination von psychischen und physischen Belastungen. Um die Möglichkeiten der Auswertung ganz auszuschöpfen, sollten die wichtigsten Analysen zudem nicht nur für das Invaliditätsrisiko im Allgemeinen durchgeführt werden, sondern zusätzlich für einzelne Berentungsdiagnosen getrennt erfolgen. Eine solche Strategie verspricht tiefergehende Einsichten in die Verbindung zwischen Arbeitsstress und der Entstehung bestimmter Krankheiten.
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5 Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Invalidität: Forschungsstand
Zusammengefasst werden im empirischen Teil dieser Buches eine Haupt- und zwei Nebenfragestellungen bearbeitet: 1 1a 1b
Ist die Arbeit in Berufen mit hoher psychosozialer Belastung ein Risiko für die krankheitsbedingte Frühberentung bei Männern und Frauen? Ist ein solches Risiko bei bestimmten Diagnosegruppen stärker ausgeprägt als bei anderen? Welchen Einfluss haben andere Risikofaktoren auf die Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der krankheitsbedingten Frührente?
6 Empirischer Teil – Studiendesign
Im empirischen Teil dieser Arbeit wird mit Daten einer Fall-Kontroll-Studie geprüft, ob psychosoziale Arbeitsbelastungen als Risikofaktoren für ein frühzeitiges krankheitsbedingtes Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gewertet werden können. Diese Analyse ist im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes der ‚Team Gesundheit – Gesellschaft für Gesundheitsmanagement’ mbH, einer Einrichtung des BKK Bundesverbandes und mehrere BKK Landesverbände entstanden. Das Gesamtvorhaben mit dem Titel „Kosten der Frühberentung – Abschätzung des Anteils der Arbeitswelt an der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit und der Folgekosten“ hatte zwei aufeinander aufbauende Ziele: 1. zu berechnen, ob der Kontakt mit physischen oder psychosozialen Arbeitsbelastungen das Invaliditätsrisiko erhöht und 2. auf Grundlage dieser Risikokalkulation die direkten und indirekten Kosten der durch Arbeitsbelastungen verursachten Frühberentung zu ermitteln (Bödeker, Friedel, Friedrichs, Röttger 2006). Die Motivation, dieser Fragestellung nachzugehen, war die Aussicht darauf, über ein besseres Verständnis der Entstehung der krankheitsbedingten Frührente gezielter präventive Maßnahmen am Arbeitsplatz planen zu können. Gleichzeitig könnten diese Maßnahmen dann vorab in ein Kosten-Nutzen-Verhältnis gestellt werden, um eine rationale Verwendung der begrenzten Ressourcen für Gesundheitsförderung und Prävention zu gewährleisten. Unter der Leitung von Dr. Wolfgang Bödeker, BKK Bundesverband, und gefördert durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), wurde das Projekt am 01.09.2001 begonnen und am 29.02.2004 beendet. Am Anfang der Projektarbeit stand die Schaffung einer Datenbasis, mit der die aufgeworfenen Fragen methodisch angemessen beantwortet werden konnten. Als Mindestanforderung mussten personenbezogene Daten zum Zielkriterium krankheitsbedingte Frührente ja/nein, zu Basisvariablen wie Alter und Geschlecht und zu Arbeitsbelastungen enthalten sein. Da die Mittel zu begrenzt waren, um eine eigene Datenerhebung durchzuführen, wurden verschiedene Sekundärdatensätze akquiriert und in einem aufwändigen Verfahren zu einer Datenbank zusammengefasst. Arbeitsbelastungen wurden dabei durch neu entwickelte Job-Exposure-Matrizen gemessen, einem indirekten Verfahren der Belastungsermittlung, von dem auf den kommenden Seiten noch ausführlich die Rede sein wird.
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6 Empirischer Teil – Studiendesign
Wie diese kurze Ausführung zum Studiendesign bereits ahnen lässt, war es nötig, verschiedene Kooperationspartner zu gewinnen, um eine breite Datenbasis aufzustellen und auch auszuwerten. Seitens der Rentenversicherungsträger kooperierten der Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger (VDR) und die Landesversicherungsanstalten Braunschweig, Hamburg, Oberfranken/ Mittelfranken, Schleswig-Holstein, Westfalen sowie die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die Bundesknappschaft. Die Daten für die Erstellung der Job-Exposure-Matrizen und die Rekonstruktion der individuellen Berufsbiographie der Studienteilnehmer wurden vom Institut für Arbeitsmarktforschung und Berufsbildung und dem Bundesinstitut für Berufsbildung beigesteuert. Zudem, und dies ist wesentlich für das Zustandekommen dieser Arbeit, wurde der Verfasser als Kooperationspartner in die Studiengruppe aufgenommen, um in einer eigenen Teilstudie psychosoziale Arbeitsbelastungen nach dem Modell der beruflichen Gratifikationskrisen als eigenständigen Risikofaktor in die JobExposure-Matrize einzubauen und den von anderen Arbeitsbelastungen unabhängigen Beitrag dieses Faktors bei der Erklärung der Invaliditätsrente zu analysieren53. Die Methode und die Ergebnisse der eigenen Untersuchung innerhalb des übergeordneten Forschungsvorhabens werden in den kommenden Kapiteln ausführlich dargelegt54. Nicht enthalten, ist aber die Berechnung der direkten und indirekten Kosten von psychosozialen Arbeitsbelastungen. Zweifellos wäre eine solche ökonomische Bestimmung sinnvoll gewesen, sie war aber im Rahmen der Teilstudie nicht zu leisten, da die hierfür zusätzlich benötigten Daten zum Zeitpunkt der Projektdurchführung nicht zur Verfügung standen. Die Methodenbeschreibung umfasst die Kapitel 6 bis 10. Um am Anfang einen schnellen Überblick zu geben, beginnt die Darstellung in diesem Kapitel 6 mit einer kurzen Zusammenfassung aller wichtigen Charakteristika der Studie. Dann folgt ein ausführlicher Abschnitt, in dem die Grundlagen des Studiendesigns, die Zusammensetzung der Studienpopulation und die Grundlagen der Belastungsmessung erläutert werden. Den größten Raum nimmt der Text über 53 Der gesamte Prozess der Belastungsermittlung wurde von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet, der aus Experten der Renten- und Krankenversicherungsträger, des Arbeitsschutzes, des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit, Epidemiologen und Arbeitspsychologen bestand. Die in dieser Arbeit vorgestellte Umsetzung der Messung von psychosozialen Arbeitsbelastungen wurde dem Beirat ebenfalls vorgestellt und dort diskutiert. 54 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die im Ergebnisteil dieses Buches gezeigten statistischen Schätzer (Odds Ratios) zu psychosozialen Arbeitsbelastungen von denen im Abschlussbericht des Projekts ‚Kosten der Frühberentung’ (Bödeker et al. 2006) vorgestellten leicht abweichen. Der Grund ist, dass im übergeordneten Projekt eine vereinfachte Operationalisierung von Arbeitsstress verwendet werden musste und sich somit andere statistische Effektstärken (bei ansonsten gleichen Zusammenhangsrichtungen) ergaben. Zudem wurden in der hier vorgestellten Analyse andere statistische Modelle (insb. Drittvariablenkontrolle) verwendet.
6.1 Studientelegramm
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die Erstellung der Job-Exposure-Matrizen ein. In drei Kapiteln (7-9) werden die Datenbasis, der technische Aufbau und die Messung beruflicher Gratifikationskrisen erläutert. Der Platz wird investiert, weil die Belastungsmessung eine zentrale Aufgabe innerhalb des Studiendesigns ist. Die Entwicklung von JobExposure-Matrizen und deren Anwendung in einer Fall-Kontroll-Studie sind zudem Methoden, die in der Sozialforschung selten verwendet werden, so dass eine tiefergehende Darstellung sinnvoll erscheint, nicht zuletzt auch, um die Möglichkeiten, die dieser Ansatz bietet, deutlich zu machen und vielleicht sogar zur Nachahmung anzuregen. Um diesen Anspruch einzulösen, werden in Kapitel 9 auch verschiedene Ergebnisse zur Teststatistik der in der JEM verwendeten Instrumente vorgestellt, so dass der Methodenteil nicht unbedingt einem klassischen Aufbau folgt, sondern neben technischen Beschreibungen auch Resultate einer Instrumentenkonstruktion enthält. Den Abschluss der Schilderung der Methodik macht dann das Kapitel 10, in dem über die Zusammenführung der verschiedenen Datenquellen zum endgültigen Analysedatensatz berichtet wird. Dort kommen auch die Prinzipien der retrospektiven Betrachtungsweise bei der Messung der psychosozialen Belastungswerte in dieser Studie zur Sprache. Kapitel 11 kommt dann zum Wesentlichen: es enthält die wichtigsten Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und krankheitsbedingter Frührente.
6.1 Studientelegramm Um zu testen, ob Arbeitsbelastungen einen Einfluss auf das Frühberentungsrisiko haben, wurde ein Fall-Kontroll-Design55 gewählt. Als Fälle wurden alle Männer und Frauen aufgenommen, die bei den kooperierenden Rentenversicherungsträgern im Jahr 1999 eine Erwerbsunfähigkeitsrente aufgrund ausschließlich gesundheitlicher Gründe antraten. Die Kontrollen wurden zufällig aus dem Bestand der im Jahr 1999 nicht berenteten Versicherten ausgewählt, wobei auf jeden Fall neun Kontrollen kamen. Die Zuordnung erfolgte gepaart (‚gematched’) nach Geschlecht, Zeit unter Risiko (Dauer, für die Belastungen im Berufsverlauf bestimmt werden konnten) und zuständigem Rentenversicherungsträger. Weitere Eingrenzungen des Kollektivs erfolgten durch die Beschränkung 55 Das Fall-Kontroll-Design wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Die erste moderne Fall-Kontroll-Studie wurde 1926 von Janet Lane-Claypons in England durchgeführt (Paneth, Susser, Susser 2002). Die Wissenschaftlerin untersuchte die Ursachen von Brustkrebs, indem sie 500 erkrankte und 500 nicht-erkrankten Frauen interviewte und anschließend die Ergebnisse verglich. Lane-Claypons fand heraus, dass die erkrankten Frauen weniger Kinder geboren hatten, als die nicht-erkrankten und wertete Fruchtbarkeit als einen Risikofaktor.
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6 Empirischer Teil – Studiendesign
auf die Altersspanne von 40 bis 59 Jahre und auf den Versichertenstatus eines Angestellten, Arbeiters oder im Bergbau Beschäftigen. Insgesamt konnten auf diese Weise 29.852 frühberentete Fälle und 268.668 Kontrollen in die Studie eingeschlossen werden. Das Geschlechterverhältnis war zugunsten der Männer verschoben, 55,3% waren Männer und 44,7% Frauen. Das mittlere Alter lag bei 48,9 Jahren und der Rentenversicherer mit den meisten Personen in der Stichprobe war die BfA mit 56,7%, gefolgt von den Landesversicherungsanstalten mit 31,8% und 11,6% knappschaftlich Versicherten. Berufliche Belastungen sollten über einen langen Zeitraum der Berufsbiographie erfasst werden. Dazu musste die Datenbasis erweitert werden, da der Ausgangsdatensatz der Rentenversicherer aus Datenschutzgründen lediglich Informationen über den Status der Studienteilnehmer (Fall oder Kontrolle), den medizinischen Grund für die Frühberentung bei den Fällen und soziodemographische sowie versicherungstechnische Variablen enthielt (Alter, Geschlecht, RV-Träger, höchster Ausbildungsabschluss, Einkommen). Berufliche Belastungen wurden daher durch neu entwickelte Job-Exposure-Matrizen (JEMs) erfasst. JEMs sind Instrumente, in denen für eine Reihe von Berufen durchschnittliche Werte für Arbeitsbelastungen abzulesen sind, die dann indirekt, über die Kenntnis des Berufes einer Studienperson, dieser zugeordnet werden können. Bei der Entwicklung der JEMs konnte auf vier Befragungen der deutschen Erwerbsbevölkerung zurück gegriffen werden, die in den Jahren 1979, 1985/86, 1991/92 und 1998/99 vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) gemeinsam mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchgeführt worden waren. Alle vier Studien wurden mit ähnlicher Methodik und ähnlichen Befragungsinstrumenten durchgeführt. Die dort erhobenen Informationen umfassten sowohl Angaben zum ausgeübten Beruf der Befragten als auch zu verschiedenen beruflichen Belastungen physischer und psychosozialer Natur. Um die Struktur der JEMs zu bilden, wurden die Berufe der BIBB/IABStudienteilnehmer nach einem vorgegebenen Schema sogenannten Arbeitsplatztypen (eine Kombination aus dem ausgeübten Beruf und der Branche) zugeordnet. Für diese Typen konnten im nächsten Schritt mittlere Belastungswerte berechnet werden. Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen war die theoretische Basis für die Operationalisierung psychosozialer Arbeitsbelastungen. In jeder der vier JEMs wurde eine eigens entwickelte und teststatistisch geprüfte Messung des Modells aufgenommen. Das Ergebnis waren vier JEMs, die es erlaubten, arbeitsplatzspezifische Belastungen bis zurück in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zu quantifizieren. Die Belastungswerte in den JEMs wurden nach Geschlechtern getrennt berechnet, um Unterschiede im Berufs- und Tätigkeitsspektrum zwischen Männern und Frauen zu berücksichtigen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die JEMs Informationen über Arbeitsbedingungen
6.1 Studientelegramm
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enthalten, die aus großen, repräsentativ angelegten Umfragen der deutschen Erwerbsbevölkerung stammen. Diese Informationen mussten dann noch den Studienpersonen der eigentlichen Untersuchung zugeordnet werden, was aufgrund der begrenzten Datenbasis der Rentenversicherungsträger nicht direkt möglich war. Die Lösung bestand in der Einbeziehung einer weiteren Datenquelle, der „Historikdatei“ der Bundesanstalt für Arbeit. Darin sind zurückreichend bis ins Jahr 1975 für jeden Erwerbstätigen alle ausgeübten sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten gespeichert. Die Historikdatei wurde über die Sozialversicherungsnummer mit dem Ausgangsdatensatz verbunden, so dass für jede Studienperson eine individuelle Berufsbiographie vorlag. Die Biographie wurde analog zu den JEMs in Arbeitsplatztypen kategorisiert und war der Schlüssel für das Einspielen der Belastungsdaten aus den Matrizen in den Ausgangsdatensatz der Rentenversicherungsträger. Im Schnitt ergab sich für jeden Studienteilnehmer eine Zeit unter Risiko, d.h. die Zeit für die Angaben aus Berufsbiographie und damit auch Belastungswerte vorlagen, von 16,5 Jahren in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Tabelle 7: Studientelegramm Design Auswahlpopulation
Fälle Kontrollen Verhältnis Fälle zu Kontrollen Fallzahl
Zielgröße (abhängige Variable) Nebenzielkriterien Hauptrisikofaktor (unabhängige Variable) Kontrollvariablen Datenbasis Messung von Arbeitsbelastungen
Zeitraum der Belastungsmessung
Fall-Kontroll-Studie Pflichtversicherte Männer und Frauen (Alter 40 - 59 Jahre) in der gesetzlichen Rentenversicherung = Arbeiter, Angestellte oder im Bergbau Beschäftigte (Selbständige und Beamte ausgeschlossen) Neurentner wg. Erwerbsunfähigkeit Gematchte Zufallstichprobe der nicht berenteten Versicherten 1:9 Insgesamt: 298.520 Fälle: 29.852 Kontrollen: 268.668 Neurente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne verschlossenen Arbeitsmarkt Berentungsursache (Diagnosegruppen nach ICD-9) Psychosoziale Arbeitsbelastungen nach dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen Alter / Versicherungsstatus / Zeit unter Risiko / sozialer Status / physische Arbeitsbelastungen Kombination von verschiedenen Sekundärdatenquellen Studienspezifische Job-Exposure-Matrize (vier geschlechtsstratifizierte Matrizen) Tageweise Zuordnung über den jeweils ausgeübten Beruf (Quelle der Berufsbiographie: Meldewesen zur Sozialversicherung – Historikdatei) Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen vom 01.01.1975 bis 31.12.1999
Wichtig ist, dass im Sinne des Datenschutzes in der endgültigen Auswertungsdatei keine Angaben zur persönlichen Berufsbiographie mehr vorhanden waren. Übrig blieben lediglich die über die Berufe vermittelten Belastungen, z.B. das
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6 Empirischer Teil – Studiendesign
Ausmaß von beruflichen Gratifikationskrisen, denen ein Versicherter im Laufe seines Arbeitslebens vermutlich ausgesetzt war. Die auf diese Weise gewonnenen Daten sollten es ermöglichen, auf einer robusten Basis von hohen Fallzahlen und validen Messmethoden die in dieser Arbeit gestellten Forschungsfragen zu beantworten (siehe Kap. 5)
6.2 Fälle und Kontrollen: die Studienpopulation Die Auswahlgesamtheit für die Untersuchungsstichprobe bildeten alle gesetzlich rentenversicherten Frauen und Männer im Alter von 40 bis 59 Jahren, die im Jahre 1999 in die Zuständigkeit der kooperierenden Rentenversicherungsträger fielen, weder selbständig noch verbeamtet waren und ihren Hauptwohnsitz in Westdeutschland hatten. Alle Personen aus dieser Gruppe, die im fraglichen Jahr als Neurentner eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit antraten, wurden als Fälle in die Studienpopulation aufgenommen. Es handelt sich um eine Vollerhebung aller EU-Neurentner der beteiligten Rentenversicherer. Insgesamt waren dies 29.852 Personen. Komplettiert wurde der Datensatz durch nicht-berentete Kontrollpersonen, die durch ein gepaartes Zufallsverfahren (Matching) aus dem Versichertenstamm der aktuell Erwerbstätigen ausgewählt wurden. Ein Matching erfolgte, um in der Fall- und der Kontrollgruppe gleiche Verhältnisse hinsichtlich wichtiger Drittvariablen zu erreichen und diese somit als potentielle Störgrößen „auszuschalten“ (Bhopal 2002 ; Rothman & Greenland 1998b, S. 248f.). Als Matchingvariablen wurden das Geschlecht und die Meldedauer in Jahren gewählt. Letztere ist die Zeit, für die in dieser Studie retrospektiv Arbeitsbelastungen zugeordnet werden konnten, im epidemiologischen Sinne also die ‚Zeit unter Risiko’ (siehe auch Kapitel 10). Die Zuordnung nach Geschlecht und Belastungsdauer wurde zudem getrennt nach Rentenversicherungsträger, BfA, LVA und BKn, durchgeführt, so dass auch diese Variable als Matchingkriterium zu interpretieren ist. In einer Fall-Kontroll-Studie hat die Anzahl der Kontrollen, die einem Fall zugeordnet werden, über die Fallzahl einen Einfluss auf die statistische Aussagekraft der Analysen, daher wurde das Verhältnis mit 9:1 sehr hoch angesetzt, auch wenn ab einem Verhältnis vom 5:1 die Verbesserung der statistischen Power nur noch minimal ausfällt (Kreienbrock & Schach 1997, S. 173). Das Matchingverfahren wurde individuell durchgeführt. Praktisch bedeutet das nichts anderes als die Bildung von gleichen Paaren. Beispielsweise wurde für einen Frührentner, der bei der Bundesknappschaft versichert war und für den aus 16 Jahren Bergwerksarbeit Belastungsdaten vorlagen, aus den Beständen der Bundesknapp-
6.2 Fälle und Kontrollen: die Studienpopulation
109
schaft neun Männer zufällig ausgelost, die ebenfalls 16 Jahre beschäftigt, aber nicht berentet waren. Auf diese Weise konnten den 29.852 Fällen 268.668 Kontrollen gegenüber gestellt werden. Die große Anzahl von Fällen ist eine wichtige Bedingung für die Beantwortung der gestellten Forschungsfragen, da so die Möglichkeit gegeben ist, Frühberentung auch getrennt nach der zugrundeliegenden Erkrankung auswerten zu können. In Tabelle 8 ist die Größe der Studienpopulation getrennt nach Geschlecht und Rentenversicherungsträger aufgeführt. Der Ausgangsdatensatz enthält 298.520 Personen, von denen 55,3% Männer und 44,7 % Frauen sind. Die Geschlechterzusammensetzung variiert aber deutlich in Abhängigkeit vom Versicherungsträger. Während die Arbeiterrentenversicherung und die bergmännische Versicherung mit 70,7 % und 86,4% mehr Männer als Fälle und Kontrollen beisteuerten, ist dies bei den Angestellten umgekehrt: in der BfA Stichprobe dominieren die weiblichen Versicherten mit 59,7%. Betrachtet man die Zusammensetzung der Gesamtstichprobe nach dem Versicherungstyp, stellen Versicherte der BfA mit 169.140 Personen die größte Gruppe (56,7% der Gesamtstichprobe). Es folgen die Arbeiter mit 94.890 (31,8%) und die knappschaftlich Versicherten mit 34.490 (11,6%) Personen. Tabelle 8: Studienpopulation nach Geschlecht und Rentenversicherungsträger; Anzahl (N) und %-Anteile Gesamt %*
Männer N
%*
N
Alle gesamt Fälle Kontrollen
298.520 100 29.852 100 268.668 100
165.030 55,3 16.503 55,3 148.527 55,3
133.490 44,7 13.349 44,7 120.141 44,7
LVA gesamt Fälle Kontrollen
94.890 100 9.489 100 85.401 100
67.090 70,7 6.709 70,7 60.381 70,7
27.800 29,3 2.780 29,3 25.020 29,3
BfA gesamt Fälle Kontrollen
169.140 100 16.914 100 152.226 100
68.150 40,3 6.815 40,3 61.335 40,3
100.990 59,7 10.099 59,7 90.891 59,7
BKn gesamt Fälle Kontrollen
34.490 100 3.449 100 31.041 100
29.790 86,4 2.979 86,4 26.811 86,4
4.700 13,6 470 13,6 4.230 13,6
* Prozent der Versicherten nach Geschlecht (Zeilenprozentwerte)
N
Frauen %*
RV-Träger
110
6 Empirischer Teil – Studiendesign
In den nun folgenden Abschnitten werden die Gründe für die Eingrenzung der Auswahlgesamtheit und Besonderheiten bei der Auswahl beschrieben. Fälle = Rente wegen Erwerbsunfähigkeit: Im Kapitel 2 wurde ausführlich auf die rechtlichen Aspekte der krankheitsbedingten Frühberentung eingegangen und auch die Validität der krankheitsbedingten Frührente als ein Maß für Erkrankung kritisch betrachtet. Ruft man sich die verschiedenen Formen der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nochmals in Erinnerung, wird klar, dass der Anteil, den die zugrundeliegende Erkrankung an der Entscheidung für oder gegen die Gewährung einer Rente hat, sehr unterschiedlich sein kann. Musste bei der Erwerbsunfähigkeit die Leistungsfähigkeit durch Krankheit etwa soweit herabgesetzt sein, dass überhaupt keine regelmäßige Erwerbsarbeit in nennenswertem Umfang mehr möglich war, so reichte es für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente aus, wenn die allgemeine Leistungsfähigkeit nur leicht eingeschränkt war, aber gleichzeitig kein angemessener Ausweichberuf zur Verfügung stand. Um zu garantieren, dass das Zielkriterium dieser Studie gesundheitliche und keine arbeitsmarktpolitischen Probleme abbildet, wurden ausschließlich Erwerbsunfähigkeitsrenten, bei denen der Arbeitsmarkt bei der Rentengewährung keine Rolle gespielt hat, bei der Falldefinition berücksichtigt, alle weiteren Formen der krankheitsbedingten Frührente waren ausgeschlossen. Unter Berufung auf das Fazit der Diskussion in Kapitel 2 wird die EU-Rente als ein guter Indikator für eine zugrundeliegende schwerwiegende Erkrankung angesehen und somit auch als eine valide Zielgröße für eine medizinsoziologische Analyse. Um welche Krankheit es sich im Einzelfall handelte, konnte bei den Auswertungen ebenfalls berücksichtigt werden, denn die während der sozialmedizinischen Prüfung festgestellte EU- Hauptdiagnose findet sich im Datensatz der Rentenversicherer als dreistellige Kennzahl nach ICD-9 Verschlüsselung (s.o.) wieder. Besonderheiten bei der Betrachtung des Rentenzugangs: Die Fälle stammen aus den Rentenzugangsdaten des Jahres 1999. Dieses Jahr wurde gewählt, weil zum Einen die Daten bei Projektbeginn vollständig vorlagen und zum anderen alle späteren Jahre im Zeichen der großen Rentenreform von 2001 standen. Da der Reformprozess auch Auswirkungen auf das Berentungsverhalten in diesen Jahren hatte (Moll et al. 2003), wurde entschieden, keine Neurenten nach 1999 mehr zu berücksichtigen. Neben der Grenze nach oben, gibt es auch eine nach unten. In die Statistik der Rentenversicherer sind aufgrund der Erfassungsmethode auch Versicherte eingegangen, bei denen die Erwerbsunfähigkeit bereits vor 1999 eingetreten ist. Allerdings wurde dieser Zeitraum auf die Jahre 1997 und 1998 beschränkt, da eine Berücksichtigung einer weiter zurückliegenden Rentengewährung aus Vergleichsgründen problematisch wäre. Da die rechtlichen Bedin-
6.2 Fälle und Kontrollen: die Studienpopulation
111
gungen für frühzeitige Altersrenten und krankheitsbedingte Frührenten durch das Wachstums- und Beschäftigungsgesetz vom 25. September 1996 und das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom 23. Juli 1996 geändert wurden, hätte eine Einbeziehung früherer Jahre bedeutet, dass sich die Fälle hinsichtlich der Rahmenbedingungen ihrer Rentenverfahren unterschieden hätten. Insgesamt werden durch Berücksichtung der Rentengewährung von 1997 bis 1999 aber über 97% der Rentenzugänge der beteiligten Träger im Jahr 1999 erfasst. In welchem Jahr die Fälle de facto ihre Rente antraten, wird aus Tabelle 9 ersichtlich. Bei der Mehrheit fiel der Rentenbeginn demnach in die Jahre 1998/99, nur 5,5% begannen bereits 1997 ihren Vorruhestand. Insgesamt ist also durch die Beschränkung auf die Zugangsdaten von 1999 sichergestellt, dass alle Fälle unter vergleichbaren rechtlichen Bedingungen die Frührente in Anspruch genommen haben und somit eine hohe Vergleichbarkeit gegeben ist. Tabelle 9: Jahr des tatsächlichen Rentenbeginns nach Geschlecht; Anzahl und Prozent der Fälle Gesamt N 1997
1.647
Männer
Frauen
%
N
%
N
%
5,5
776
4,7
871
6,5
1998
13.391 44,9
7.308 45,6
6.083 44,3
1999
14.814 49,6
8.419 51,0
6.395 47,9
Begrenzung auf pflichtversicherte Arbeiter und Angestellte: Die Daten für diese Studie stammen ausschließlich von Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung, Beamte waren also von vorneherein ausgeschlossen. Prinzipiell enthalten wären aber Selbständige, da bestimmte selbständige Tätigkeiten, wie beispielsweise Künstler, zumindest befristet pflichtversichert sein können. Zudem ist es Selbständigen möglich, als freiwillig Versicherte in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Von diesem Recht wird aber sehr selten Gebrauch gemacht, so waren 1999 nur ca. 0,6% der gesetzlich Rentenversicherten Selbständige (VDR 2001c), ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung machte aber im gleichen Jahr 9,9% aus (Statistisches Bundesamt 2000). Hinzu kommt, dass Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausübten, nach dem alten, bis zum 31.12.2000 geltenden Recht keinen Anspruch auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente hatten, ihnen stand lediglich die Berufsunfähigkeitsrente offen (Stichnoth et al. 2001). Für die hier verwendeten Daten resultiert daraus, dass diese Gruppe nur
112
6 Empirischer Teil – Studiendesign
sehr unvollständig erfasst wird, daher wurden auch Selbständige aus der Auswahlpopulation ausgeschlossen. Altersgrenzen und –verteilung: Die Festlegung auf Versicherte, die im Stichjahr 1999 zwischen 40 und 59 Jahre alt waren, erfolgte, um ein hinsichtlich der sozialrechtlichen Bedingungen der Frührente vergleichbares Kollektiv zu erhalten. Die obere Altersgrenze ergibt sich aus der damaligen Berentungspraxis bei EURenten. Im Rahmen der sogenannten Altersrente für Schwerbehinderte, Berufsunfähige und Erwerbsunfähige war es neuen EU-Fällen möglich, bereits mit dem Beginn des 60. Lebensjahres ohne Abschläge direkt in die reguläre Altersrente zu wechseln, wenn zugleich die allgemeine Wartezeit von 35 Jahren erfüllt war (Bank et al. 1990, S.173). Daraus folgte eine unterschiedliche Inanspruchnahme der Invaliditätsrenten ab dem 60. Lebensjahr. Versicherte, die die erforderliche Wartezeit von 35 Jahren angesammelt hatten, nahmen im Krankheitsfall häufig die Altersrente in Anspruch, Personen mit zu wenig Wartezeit wichen dagegen notgedrungen auf die Erwerbsunfähigkeitsrente aus. In den Rentenzugangsdaten, die für diese wissenschaftliche Analyse zur Verfügung gestellt wurden, war es nicht möglich, Versicherte, die zwar erwerbsunfähig geworden waren, aber direkt in die Altersrente für Schwerbehinderte, Berufsunfähige und Erwerbsunfähige einstiegen, getrennt von den regulären Altersrenten auszuweisen. Ein Teil der krankheitsbedingten Frührenten ab dem 60. Lebensjahr war so durch Altersrenten verdeckt. Die untere Altersgrenze ergibt sich weniger aus rentenrechtlichen Problemen, als vielmehr aus dem Umstand, dass der retrospektive Beobachtungszeitraum in dieser Studie bis ins Jahr 1975 zurückreicht (siehe dazu auch Kap. 10). Wären Studienpersonen 1999 jünger als 40 Jahre alt gewesen, hätten sie zu Beginn des Zeitraums als unter Sechzehnjährige mit hoher Wahrscheinlichkeit noch keine Beschäftigung ausgeübt. Um den Altersunterschied in der Belastungsdauer klein zu halten, wurde daher diese Untergrenze56 eingeführt. In welcher Altersverteilung die Begrenzungen endeten, ist in Tabelle 10 dargestellt. Das mittlere Alter in der Studienpopulation lag bei 48,9 Jahren, wobei sich Fälle und Kontrollen unterschieden. Die Fälle waren im Durchschnitt 52,8 Jahre alt und lagen somit 4,3 Jahre über dem durchschnittlichen Alter der Kontrollpersonen. Ein solches Ungleichgewicht war erwartbar, da die Fälle aufgrund des Auswahlkriteriums Erwerbsunfähigkeit in Richtung höherer Altersgruppen selektiert waren. Keine starken Unterschiede gab es zwischen den Rentenversicherungsträgern und im Vergleich der Geschlechter. 56 Da krankheitsbedingte Frühberentung mit dem Alter stark ansteigt, war der Verlust an Fällen gering: 1999 waren von allen Neuzugängen an EU-Rentnern im alten Bundesgebiet ca. 10,2 % der Männer und 12,7 % der Frauen jünger als 40 (VDR 2000, S.105f.).
6.3 Grundlagen der Belastungsmessung
113
Tabelle 10: Mittleres Alter (M) und Standardabweichung (SD) im Jahr 1999 nach Geschlecht und Rentenversicherungsträger Gesamt RV-Träger
N
M (SD)
Männer N
M (SD)
Frauen N
M (SD)
Alle gesamt Fälle Kontrollen
298.520 48,9 (6,0) 29.852 52,8 (5,4) 268.668 48,5 (5,9)
165.030 48,9 (6,0) 16.503 53,3 (5,2) 148.527 48,5 (5,9)
133.490 48,9 (5,9) 13.349 52,3 (5,5) 120.141 48,5 (5,8)
LVA gesamt Fälle Kontrollen
94.890 48,7 (6,1) 9.489 52,6 (5,5) 85.401 48,2 (6,0)
67.090 48,6 (6,1) 6.709 52,8 (5,5) 60.381 48,0 (5,9)
27.800 49,3 (6,0) 2.780 52,4 (5,5) 25.020 48,9 (6,0)
BfA gesamt Fälle Kontrollen
169.140 48,9 (5,9) 16.914 52,7 (5,4) 152.226 48,5 (5,8)
68.150 49,2 (6,0) 6.815 53,5 (5,1) 61.335 48,7 (5,8)
100.990 48,7 (5,8) 10.099 52,2 (5,5) 90.891 48,3 (5,7)
BKn gesamt Fälle Kontrollen
34.490 49,5 (6,2) 3.449 53,8 (5,1) 31.041 49,1 (6,1)
29.790 49,5 (6,2) 2.979 54,0 (5,1) 26.811 49,0 (6,1)
4.700 49,9 (5,9) 470 52,8 (5,2) 4.230 49,6 (5,9)
6.3 Grundlagen der Belastungsmessung Herzstück einer Fall-Kontroll-Studie ist die Messung der Belastung, für die untersucht werden soll, ob sie bei Fällen und Kontrollen unterschiedlich ausgeprägt und somit ein möglicher Risikofaktor für das Fallkriterium ist. Wenn das Interesse kausalen Zusammenhängen gilt, muss diese Messung retrospektiv erfolgen, um sicher zu stellen, dass der erklärende Faktor zeitlich vor der Ursache gewirkt hat, wobei die Ursache ja bereits eingetreten ist, wenn der Untersucher oder die Untersucherin zum ersten Mal Kontakt mit den Studienteilnehmern hat (Schulz & Grimes 2002). In dieser Studie sollten Arbeitsbelastungen über einen möglichst langen Zeitraum als kontinuierliche Messung erhoben werden. Bei der Auswahl der Erhebungsmethode war also zu bedenken, dass sie in der Lage sein musste, weit in der Vergangenheit liegende Arbeitsbelastungen valide zu messen. Zugleich sollten im Sinne eines umfassenden Blicks auf Zusammenhänge zwischen Arbeit und krankheitsbedingter Frührente möglichst viele verschiedene physische und psychosoziale Arbeitsbelastungen einbezogen werden. Im Wesentlichen gibt es in bevölkerungsbezogenen Fall-Kontroll-Studien zwei Methoden um eine solche
114
6 Empirischer Teil – Studiendesign
Aufgaben zu erfüllen57: 1. die direkte Befragung von Studienteilnehmern bzw. deren Angehörigen oder Kollegen nach arbeitsbedingten Risikofaktoren im Berufsverlauf; 2. eine indirekte Zuordnung von Belastungen mit Hilfe einer JobExposure-Matrize, in der für eine Reihe von Berufen mittlere Belastungswerte aufgeführt sind, die den Studienteilnehmern dann entsprechend ihres Berufes zugeordnet werden (Goldberg & Hemon 1993a ; Hemon et al. 1991 ; McGuire, Nelson, Koepsell, Checkoway, Longstreth 1998 ; Rybicki, Cole Johnson, Peterson, Kortsha, Gorell 1997). Vor diese Wahl war auch die Studiengruppe dieser Untersuchung gestellt. Der von den Rentenversicherern gestellte Ausgangsdatensatz enthielt, abgesehen von dem vor der Rente bzw. zum Zeitpunkt der Auswahl als Kontrollperson ausgeübten Beruf und einigen soziodemographischen und rententechnischen Angaben, zunächst keine Informationen zum Erwerbsleben, geschweige denn zu Arbeitsbelastungen. Diese Informationen mussten beschafft werden und die Methode der Job-Exposure-Matrizen erschien sowohl inhaltlich als auch forschungspragmatisch am ehesten geeignet, um Belastungsdaten zu ermitteln. Die Alternative, eine direkte Befragung aller Studienpersonen, wäre angesichts des Umfangs der Stichprobe unweigerlich zu einem finanziellen und zeitlichen Mammutunternehmen geraten. Abgesehen davon, dass die Ressourcen dafür nicht zur Verfügung standen, erschien es zudem fraglich, ob die Studienteilnehmer überhaupt in der Lage gewesen wären, psychosoziale und andere Arbeitsbelastungen, die sie weit in der Vergangenheit erlebt hatten, zuverlässig zu berichten (Fritschi, Siemiatycki, Richardson 1996 ; Köster, Alfredsson, Michelsen, Vingard, Kilbom 1999). Somit fiel die Befragung aus praktischen Gründen als Erhebungsmethode aus und die JEM erhielt den Vorzug. Die wichtigsten Eigenschaften der Methode werden in den folgenden Abschnitten erklärt.
6.3.1 Job-Exposure-Matrizen (JEM): Methode Die Methode der Job-Exposure-Matrize, im Folgenden mit JEM abgekürzt, ist in der Arbeitsepidemiologie entwickelt worden58. Die Grundidee ist simpel: In der 57 Die aufgeführten Methoden sind die am häufigsten eingesetzten. Auf seltenere Verfahren, wie die Erstellung von Job-Exposure-Matrizen durch ehemalige Beschäftige oder sogar industriearchäologische Ansätze, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Einen guten Überblick über solche Erhebungsmethoden bieten Goldberg und Hemon (1993a). Ebenfalls unter den Tisch fallen objektive Methoden wie Dosimetrie oder die direkte Beobachtung von Arbeitsplätzen, die in großen Studien nur unter hohem Aufwand durchzuführen sind (Correa, Stewart, Yeh, SantosBurgoa 1994 ; Hemon et al. 1991). 58 Die erste Job-Exposure-Matrixe wurde 1941 von Reed und Harcourt publiziert, allerdings noch mit einer geringen Zahl von Berufen und Belastungen (Goldberg et al. 1993b). Als die erste
6.3 Grundlagen der Belastungsmessung
115
Art einer Kreuztabelle werden für verschiedene Berufe oder Arbeitsplätze (die Zeilen der Matrize) durchschnittliche Werte für einen oder mehrere Belastungsfaktoren (die Spalten der Matrize) ermittelt, sei es durch ein Expertengremium, auf Grundlage von Befragungsdaten oder anderen Quellen (Coughlin & Chiazze 1990 ; Goldberg et al. 2002). Im Ergebnis liegt dann eine Tabelle vor, in der zu jedem dort aufgeführtem Beruf die dazugehörige durchschnittliche Belastung mit einem oder auch mehreren Risikofaktoren (z.B. Kontakt mit toxischen Stoffen, Schichtarbeit, Zeitruck, beruflichen Gratifikationskrisen usw.) abzulesen ist. Dieses Instrument kann nun als Schablone verwendet werden, um in einer Studie, bei der nur die Berufe der Teilnehmer bekannt sind, über diese Berufsinformation Arbeitsbelastungen aus der JEM zuzuordnen, wobei alle Personen, die den selben Beruf ausüben, auch den selben Belastungswert erhalten. Das Vorgehen kann an einem Beispiel aus einer der ersten publizierten JEMs illustriert werden. Shelia Hoar und Mitarbeiter (1980) entwickelten in den 1980er Jahren eine Matrize, um die Belastung von Industriearbeitern mit krebserregenden Chemikalien zu untersuchen. In der JEM findet sich etwa für Zimmerleute in der Bauindustrie eine „moderate Wahrscheinlichkeit“ für den Kontakt mit Asbest. Verwendet man nun die JEM in einer Studie, in der nur die Berufe der Studienteilnehmer bekannt sind, bekommt die Belastungsvariable „Kontakt mit Asbest“ für alle Zimmerleute die Ausprägung „moderate Wahrscheinlichkeit“. Ist darüber hinaus die ganze Berufsbiographie bekannt, so können über einen langen Zeitraum hinweg Belastungen kumulativ abgebildet und auch eventuelle Berufswechsel berücksichtigt werden. Statt Durchschnittswerte allein auf Basis des Berufs zuzuordnen, wäre es natürlich wünschenswert für jede Person individuell zu wissen, ob sie Kontakt mit dem betreffenden Stoff oder Stressor hatte, aber genau das ist in bestimmten Fällen nur schwer in Erfahrung zu bringen. Hier setzen JEMs an: Sie ermöglichen es, in großen Studien, bei denen eine persönliche Befragung der Studienteilnehmer schwierig ist, auf ökonomische Weise Arbeitsbelastungen zu quantifizieren (Kauppinen, Toikkanen, Pukkala 1998). Dies trifft insbesondere auf Studien mit Sekundärdaten wie Krebsregistern, Todesursachenstatistiken oder auch Rentenversicherungsdaten zu (Bödeker 2002 ; Plato & Steineck 1993). JEMs eignen sich daher in besonderem Maße für den Einsatz in explorativen Untersuchungen. Sie sind häufig das erste Design, das zur Anwendung kommt, wenn bisher gar nicht oder nur wenig erforschte Zusammenhänge zwischen Ar„moderne“ JEM gilt die von Hoar und Mitarbeitern (1980), der, begünstigt durch die sich rasant entwickelten Möglichkeiten computergestützter Datenerfassung, noch zu Beginn der 1980er Jahre zahlreiche weitere folgten. Heute ist die JEM eine etablierte Methode in der Arbeitsbelastungsforschung, die sich wachsender Beliebtheit in der ätiologischen Forschung und bei der Überwachung arbeitsbezogener Risiken erfreut (Goldberg & Imbernon 2002).
116
6 Empirischer Teil – Studiendesign
beitsbelastungen und Krankheiten getestet werden sollen und Daten aus aufwändigen Kohortenstudien noch nicht vorliegen (McGuire et al. 1998). So verwundert es nicht, dass JEMs in der Erforschung von bisher unbekannten oder für ungefährlich gehaltenen karzinogenen Stoffen eine große Rolle gespielt haben und noch spielen (Goldberg et al. 2002). Entsprechend häufig sind JEMs inhaltlich auf physikalisch-chemische Risiken wie zum Beispiel Strahlung, Asbest oder Schwermetalle beschränkt (Coughlin et al. 1990).
6.3.2 JEM und psychosoziale Arbeitsbelastungen Es gibt nur wenige Job-Exposure-Matrizen, die Angaben zu psychosozialen Faktoren enthalten, allerdings sind mit ihrer Hilfe einige bemerkenswerte Forschungsarbeiten entstanden, die nun vorgestellt werden sollen. Der Vortritt gebührt der Job-Exposure-Matrize von Alfredson, Karasek und Theorell (1982). Die Autoren leisteten Pionierarbeit und stellten nur zwei Jahre nach der HoarJEM eine Job-Exposure-Matrize für männliche Beschäftigte in Schweden vor, die auch psychosoziale Belastungen enthielt. Sie basiert auf Daten einer bevölkerungsbezogenen Befragung und weist für insgesamt 118 Berufsgruppen die Häufigkeit von verschiedenen, durch einzelne Fragen erfasste psychosoziale Belastungen, wie Monotonie oder Hektik, aus. Der erste Einsatz der JEM war die Verbindung mit dem amtlichen schwedischen Todesursachenregister und der amtlichen Krankenhausstatistik (Alfredsson, Karasek, Theorell 1982). In einem Fall-Kontroll-Design wurde geprüft, ob die Belastungen ein Risiko für einen tödlichen oder nichttödlichen Myokardinfarkt darstellen, was sich für die Faktoren Monotonie und Schichtarbeit bestätigte. Einige Jahre später wurde die JEM auch für Frauen berechnet und um weitere Belastungsfaktoren ergänzt (Alfredsson, Spetz, Theorell 1985). Sie konnte dann mit schwedischen Zensusdaten aus dem Jahr 1975 verbunden werden, in denen für 958.069 Personen die ausgeübten Berufe enthalten waren. In einem Langzeitdesign war es dann möglich, relative Risiken für Krankenhauseinweisungen im Jahr 1976 in Abhängigkeit von verschiedenen psychosozialen Arbeitsbelastungen zu berechnen. Neben einzelnen Risiken wurde auch die Kombination von Faktoren im Sinne des Anforderungs-Kontroll-Modells von Karasek untersucht (Karasek 1979; siehe auch Kap. 4). Es zeigte sich, dass Personen, die 1975 in einem Beruf gearbeitet hatten, in dem überdurchschnittlich häufig hektische Arbeit (Anforderung) gleichzeitig mit der eingeschränkten Möglichkeit, neue Dinge zu lernen (‚job strain’), vorkam, deutlich erhöhte Risiken für eine Krankenhauseinweisung hatten.
6.3 Grundlagen der Belastungsmessung
117
Das Design der 1982er Untersuchung wurde 1994 von Hammar und Mitarbeitern nochmals aufgegriffen, als sie in einem Fall-Kontroll-Design das Auftreten von tödlichen und nicht-tödlichen Infarkten für Männer und Frauen untersuchten. Die Berufsinformationen stammten aus Zensusdaten, die mit den erwähnten Registern verbunden wurden. Psychosoziale Belastungen aus der JEM wurden über den Berufsschlüssel (Zensus) hinzugespielt. Im Vergleich zur älteren Analyse wurden nun die einzelnen Indikatorvariablen analog zur Arbeit von Alfredsson et al. (1985) zu verschiedenen Messungen des Anforderungs-Kontroll-Modells kombiniert. Die Ergebnisse waren konsistent mit den Vorstudien, so hatten Männer in Berufen mit hohem ‚job strain’ ein bis zu 1,6fach erhöhtes Infarktrisiko, bei Frauen lag das Risiko bei 1,4. Die Autoren interpretierten diesen Befund als Beleg dafür, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen mit Herz-KreislaufErkrankungen kausal in Beziehung stehen. Weitere Publikationen mit der JEM konnten nicht ausfindig gemacht werden, aber die geschilderten Beispiele sind typisch für den Aufbau und die Verwendung von Matrizen mit psychosozialen Inhalten: Die JEM gründet auf Befragungsdaten aus großen bevölkerungsbezogenen Studien und die fertige Matrize wird mit Zensusdaten oder anderen amtlichen Quellen verbunden. Weil sich die Designs und die Ergebnisse gleichen, sollen alle weiteren JEMs mit psychosozialen Inhalten nur kurz vorgestellt werden.
Ebenfalls aus Schweden stammt eine JEM, die von Johnson und Stewart (1993) vorgestellt wurde. Mit Daten aus zwei repräsentativen Befragungen der Erwerbsbevölkerung (insgesamt 12.084 Befragte) konstruierten sie eine Matrize für 261 Berufsgruppen mit zahlreichen Informationen zu psychosozialen Arbeitsbelastungen. Den theoretischen Hintergrund lieferte wiederum das Anforderungs-Kontroll-Modell. Eine Besonderheit dieser Matrize ist, dass Methoden der Teststatistik angewandt wurden, um die Qualität der Messinstrumente zu prüfen. Die fertige JEM wurde in vier Studien mit amtlichen Zensusdaten verwendet. Es fanden sich Zusammenhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Koronarsterblichkeit (Johnson et al. 1996), Gesamtsterblichkeit (Hemström 1999), Alkoholismus (Hemmingsson & Lundberg 1998) und der Inzidenz von Myokardinfarkten (Hammar, Alfredsson, Johnson 1998) Drei Trendbefragungen des US Department of Labour (Arbeitsministerium) aus den Jahren 1969, 1972 und 1977 waren die Grundlage für eine weitere JEM (Schwartz, Pieper, Karasek 1988). Die Daten wurden zusammengefasst und mittlere Belastungen für 221 Berufsgruppen errechnet. Fragen zu psychosozialen Belastungen wurden zu Skalen im Sinne des AnforderungsKontroll-Modells zusammengefasst. Die erste Untersuchung mit diesem In-
118
6 Empirischer Teil – Studiendesign strument analysierte den Zusammenhang zwischen ‚job strain’ und Herzinfarkt (Karasek et al. 1988). Dazu wurde die JEM mit Daten einer Querschnittstudie zusammengebracht, in der Berufsinformationen und Informationen zu vorangegangenen Infarkten enthalten waren. Die Autoren fanden zwar einen Zusammenhang, das Ergebnis ist aber kaum interpretierbar, weil in diesem Fall zuerst die Erkrankung und dann erst die Belastung gemessen wurde. Ein besseres Design, aber keine Ergebnisse erbrachte die nächste Anwendung (Reed, LaCroix, Karasek, Miller, MacLean 1989). In einer großen Langzeitstudie zu Herzerkrankungen waren bei der Basisuntersuchung nur der Beruf, nicht aber Belastungen direkt abgefragt wurden. Diesem Mangel konnte durch die JEM abgeholfen werden, allerdings konnten keine Zusammenhänge zwischen ‚job strain’ und der Inzidenz von Herzerkrankungen festgestellt werden. Gleich fünf Sekundärdatensätze wurden in einer weiteren Untersuchung analysiert (Pieper, LaCroix, Karasek 1989). Bei allen handelte es sich um Querschnittsdatensätze die Angaben zum Beruf der Befragten und zum Rauchverhalten, dem Gesamtcholesterin und dem Blutdruck enthielten. Auch hier widersprachen die Ergebnisse den Erwartungen, die Kombination aus hohen Anforderungen und niedriger Kontrolle war in keinem Fall mit einem der Herz-Kreislauf-Risikofaktoren assoziiert. Lediglich die Kontroll-Skala hing für sich genommen mit den Gesundheitsmaßen zusammen. Die Bedeutung der Kontrolle bestätigte sich auch in der letzten mit dieser JEM durchgeführten Studie. Amick und Mitarbeiter (2002) fanden in einer amerikanischen Haushaltsbefragung, dass die Arbeit in Berufen mit niedriger Kontrolle das Sterblichkeitsrisiko im Beobachtungszeitraum von 22 Jahren signifikant erhöhte. Ein aktuelles Beispiel ist eine JEM aus Frankreich (Cohidon et al. 2004). Datenbasis dieser Matrize ist ein 1991 vom französischen Arbeitsministerium durchgeführter Survey mit 20.929 Beschäftigten. Für die Berufsachse kombinierten die Autoren die Berufs- und Branchencodes der durch die Befragten ausgeübten Berufe zu Berufsgruppen. Auf Seiten der psychosozialen Belastungen wurden 34 Fragen aufgenommen, die anhand von Faktorenanalysen einzelnen Bereichen wie Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, soziale Aspekte und psychokognitive Belastungen zugeordnet wurden. Bisher wurde nur der Aufbau der JEM veröffentlicht, Anwendungen liegen noch nicht vor. Den Abschluss macht eine Arbeit, die mit der Methodik der JEM den Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und krankheitsbedingter Frührente beleuchtet und daher besonders interessant ist. Die Autoren der Studie, Blekesaune und Solem (2005), standen vor einem ähnlichen Problem wie der Verfasser dieser Arbeit. Es lagen ihnen Daten über
6.3 Grundlagen der Belastungsmessung
119
19.114 norwegische Beschäftigte, inklusive Informationen über krankheitsbedingte Frührente über einen Follow-up-Zeitraum von durchschnittlich 3,4 Jahren, aber keine Angaben zu Arbeitsbelastungen vor. Auf Basis einer Bevölkerungsbefragung kalkulierten Blekesaune und Solem mittlere Belastungswerte für 270 Berufsgruppen und verbanden diese JEM mit der Originalstichprobe. Es zeigte sich, dass Beschäftigte in Berufen mit hohem Arbeitsstress ein leicht erhöhtes Berentungsrisiko hatten, während niedrige Autonomie über die Arbeitsaufgaben ein deutlicher Risikofaktor war. Diese Ergebnisse müssen aber mit Vorsicht interpretiert werden, da die Messung von Arbeitsstress und Autonomie in der JEM jeweils nur durch zwei Fragen erfolgte. Die Fragen sind zudem noch unspezifisch gestellt und nicht theoretisch unterfüttert (z.B. „Empfinden Sie Ihre alltägliche Arbeit als stressig?“). Bezogen auf die Masse der Untersuchungen zu psychosozialen Arbeitsbelastungen sind Job-Exposure-Matrizen mit Sicherheit eine exotische Methode der Belastungsmessung. Die wenigen Beispiele demonstrieren aber, dass sie eine ernstzunehmende Alternative zu gängigen Designs der Belastungsermittlung – vor allem zur direkten Befragung – darstellen, insbesondere dann, wenn es um die Verwertung großer Datensätze geht, die ansonsten nicht für die Forschung genutzt werden könnten. Damit ist auch die Ausgangslage der hier vorgestellten Untersuchung beschrieben: einem qualitativ hochwertigen Auswertungsdatensatz musste mit überschaubarem Aufwand ein Arbeitsbelastungsmessung hinzugefügt werden.
6.3.3 Von der JEM zum Analysedatensatz Die Voraussetzung für eine Belastungsermittlung durch JEMs war, dass von den Studienpersonen im Ausgangsdatensatz eine individuelle Berufsbiographie vorlag. Sie stammt aus dem amtlichen Meldedatensatz zur Sozialversicherung, der für jeden Erwerbstätigen in Deutschland tagesgenau alle sozialversicherungspflichtig ausgeübten Beschäftigungen enthält und der von der Bundesagentur für Arbeit bereitgestellt wurde. Die Angaben reichen zurück bis ins Jahr 1975, so dass der Zeitraum für die Belastungsermittlung 24 Jahre umfasste. Was nun noch fehlte, war eine passende Job-Exposure-Matrize. Zu Beginn des Projekts war klar, dass für Deutschland keine fertige JEM zur Verfügung stand, die das Berufsspektrum des Kollektivs und die interessierenden Arbeitsbelastungen enthalten hätte. Job-Exposure-Matrizen aus anderen Ländern wären zwar bezüglich des Spektrums an Belastungsformen geeigneter gewesen – abge-
120
6 Empirischer Teil – Studiendesign
sehen davon, dass bisher in keiner JEM Arbeitsstress mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen gemessen wurde – , die internationale Übertragbarkeit ist aber generell umstritten und, insbesondere was die Harmonisierung der Berufsschlüssel angeht, technisch nur schwer möglich (Benke et al. 2001 ; Goldberg et al. 2002). Es galt also, eine neue JEM zu entwickeln. Die dazu benötigten Daten stammen aus Befragungen der deutschen Erwerbsbevölkerung, die das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB, Bonn) gemeinsam mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB, Nürnberg) durchgeführt hat: die BIBB/IAB-Erhebungen. Die Teilnehmer dieser Studien waren detailliert nach unterschiedlichen Formen von Arbeitsbelastungen gefragt worden und zudem lagen standardisiert erhobene und mit dem Meldedatensatz zur Sozialversicherung vergleichbare Berufsinformationen vor, die für die Bildung von Berufs-Zeilen benutzt werden konnten. Dass es sich bei den BIBB/IAB-Erhebungen nicht um eine, sondern um insgesamt vier Trendbefragungen aus den Jahren 1979, 1985/86, 1991/92 und 1998/99 handelt, hat den angenehmen Nebeneffekt, dass so das Problem der Aktualität der Angaben in der JEM gelöst war. Es bedeutete zwar eine Mehrarbeit, dass nicht eine, sondern insgesamt vier Matrizen berechnet werden mussten, aber da jede JEM nur einen wenige Jahre umfassenden Zeitraum abzudecken hatte, waren die Werte bezogen auf den Zeitraum der Berufsbiographie der Probanden, dem sie zugeordnet werden sollten, immer relativ aktuell erhoben. Zum Beispiel konnten einer Person, die 1990 als Bäcker arbeitete, Belastungswerte zugeordnet werden, die aus der Erhebung im Jahr 1991/92 stammen. Dynamiken des Arbeitsmarktes, mikro- und makroökonomische Umwälzungen oder Veränderungen in Tätigkeitsprofilen, etwa durch Computerisierung und Rationalisierung, werden so berücksichtigt. Eine Zuordnung von Belastungen, denen ein Arbeitnehmer im Jahr 1979 in seinem Beruf ausgesetzt war, anhand von Durchschnittswerten aus dem Jahr 1998 vorzunehmen, erscheint entsprechend problematisch (Johnson et al. 1996). Dieser Nachteil einer retrospektiven Expositionserfassung durch eine JEM wird durch das spezielle Studiendesign also zumindest gemildert. Diese kurze Zusammenfassung der Vorgehensweise soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ausführliche Darstellung immerhin die kommenden vier Kapitel füllt. Eine gewisse Detailgenauigkeit war aber aufgrund der Komplexität des Designs nicht zu vermeiden. Um vor dem Hintergrund der methodischen Besonderheiten (und Schwierigkeiten) die eigentlichen Ergebnisse der FallKontroll-Studie interpretieren zu können, kann es daher hilfreich sein, die genannten und in Abbildung 8 nochmals zusammengefassten Schritte zur Bildung
6.3 Grundlagen der Belastungsmessung
121
eines kompletten Analysedatensatzes – eingeschlossen der Entwicklung der JobExposure-Matrizen – zu kennen. Aufbau der JEMs 1.
2.
3.
Die Datensätze, die den Matrizen zugrunde liegen, bestimmen die Möglichkeiten und die Qualität der JEMs. Es konnte auf vier repräsentative Erhebungen der deutschen Erwerbsbevölkerung zurückgegriffen werden. Die Zeilen der Matrizen bestehen aus Berufsgruppen. Das Ziel war es, Berufe auf Basis von amtlichen Berufsschlüsseln so zu Gruppen zusammenzufassen, dass innerhalb der Gruppen ähnliche Arbeitsbelastungsprofile herrschen. Die Spalten der Matrizen enthalten die Belastungsfaktoren. Für diese Teilstudie waren dies psychosoziale Arbeitbelastungen, die mit Hilfe des theoretischen Modells beruflicher Gratifikationskrisen operationalisiert wurden. Soweit möglich, kamen Methoden der Testtheorie zum Einsatz, um die Qualität der entwickelten Messinstrumente zu prüfen.
Zusammenfügen aller Datensätze 4. Dem Ausgangsdatensatz mussten berufsbiographische Informationen über die Studienteilnehmer zugespielt werden. Hierbei konnte auf amtliche Routinedaten zurückgegriffen werden. Entscheidend war, dass mit diesen Daten identische Berufskategorien wie in der JEM gebildet werden konnten. Im letzten Schritt mussten dann die Daten der JEM mit dem Ausgangsdatensatz zusammengebracht werden, indem über die identischen Berufskategorien der Berufsbiographie Belastungswerte aus der JEM zugeordnet wurden. Das Ergebnis war der Analysedatensatz.
Abbildung 8:
Übersicht über die Entwicklung der JEMs und die Erstellung des Analysedatensatzes
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
Für die Entwicklung der JEMs wurden Daten aus vier Befragungen der deutschen Erwerbsbevölkerung aus den Jahren 1979, 1985/86, 1991/92 und 1998/99 verwendet (Jansen 2002b). Die BIBB/IAB-Erhebungen sind große bevölkerungsbezogene Querschnittstudien, die in regelmäßigen Abständen vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchgeführt wurden. Über zwanzig Jahre ist so eine umfangreiche Datenbasis geschaffen worden, die weit über die ursprüngliche Zielsetzung, nämlich die Erforschung der Qualifikation, des Berufsverlaufs und der aktuellen beruflichen Situation der deutschen Erwerbstätigen hinaus, Möglichkeiten zur Analyse bietet. Das liegt zum einen an der Fülle der abgefragten Themenkomplexe, die von einer detailreichen Erfassung der ausgeübten Berufe bis hin zu den hier behandelten Fragen von Arbeitsbelastungen reicht. Zum anderen überzeugt die methodische Gestaltung, die dadurch charakterisiert ist, dass in einem Trenddesign mit vergleichbaren Instrumenten eine jeweils 0,1%Stichprobe der deutschen Erwerbsbevölkerung durch professionelle Marktforschungsinstitute in persönlich-mündlichen Interviews mit geschultem Personal befragt wurde (Dostal & Jansen 2002). Insgesamt liegen für alle Jahre zusammen Informationen über 123.963 Männer und Frauen vor. Da die Daten aus den Erhebungen die Grundlage für die Berechnung der Arbeitsbelastungen sind, ist das Wissen um ihre Qualität ein zentrales Kriterium für die Bewertung der inhaltlichen Aussagekraft der daraus entstandenen JEM (Johnson et al. 1993). Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel der wissenschaftliche Hintergrund und die Erhebungsmethodik der Erhebungen vorgestellt. Besondere Beachtung wird dabei der Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Stichproben geschenkt.
7.1 Geschichte und Idee der BIBB/IAB-Erhebungen Ausgangspunkt war in den 1970er Jahren ein Mangel an empirischen Daten über Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzprofile, Qualifikationsstrukturen und Mobilitätsprozesse in Deutschland, der durch die Beschränkung der amtlichen Statistik auf wenige Indikatoren zustande kam (Dostal et al. 2002). Dem gegenüber stand
124
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
ein wachsender Bedarf der politischen Entscheidungsträger nach anwendungsbezogener Forschung zur Unterstützung einer rationalen und flexiblen politischen Steuerung des Arbeits- und Ausbildungsmarktes (Alex 2000). Um Angebot und Nachfrage wieder zusammenzubringen, wurde beschlossen, ein Forschungsprogramm zur Berufs- und Bildungsforschung zu starten. Diese Aufgabe wurde zwei Instituten übertragen: dem BIBB, ein dem damaligen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft angegliedertes Bundesinstitut und dem IAB als Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Ersteres hatte und hat die Hauptaufgabe, eine auf die aktuelle Wirtschafts-, Qualifikations- und Arbeitsmarktlage abgestimmte Berufsbildungsplanung zu gewährleisten, letzteres hat seinen Schwerpunkt in der Beobachtung und Analyse von Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Da man der Meinung war, dass Qualifikation und Arbeitsmarktdynamik inhaltlich eng verbunden sind, lag es nahe, die Kompetenzen zu bündeln (Alex 2000, S.3f.). Als Ergebnis der Zusammenarbeit wurde 1978 zunächst eine Voruntersuchung mit ca. 2000 Erwerbstätigen (v.Henninges 1979) und im Jahr darauf die erste BIBB/IAB-Erhebung durchgeführt. Die als Trenduntersuchung angelegte Forschung wurde dann mit Surveys in den Jahren 1985/86, 1991/92 und 1998/99 fortgesetzt. Alle Erhebungen hatten unterschiedliche thematische Schwerpunkte. 1979 sollten Daten zur beruflichen Mobilität gewonnen werden, 1985/86 standen die Verbreitung computergestützter neuer Technologien und deren Auswirkungen im Mittelpunkt. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung konzentrierte man sich in der 1991/92er Erhebung auf den Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland, während die vorläufig letzte Erhebung den strukturellen Wandel der Arbeitswelt und dessen Folgen für Arbeitsbedingungen, -belastungen und die berufliche Mobilität zum Gegenstand hatte (Parmentier & Dostal 2002). Neben diesen Schwerpunktsetzungen gibt es einen Stamm von Fragen der zu allen Zeitpunkten vergleichbar erhoben wurde und das Kerninteresse der beteiligten Institutionen abdeckt. Dies sind beispielsweise Fragen zur Qualifikation oder zu allgemeinen Arbeitsbedingungen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die gewonnenen Daten nicht nur wissenschaftlich ausgewertet werden, sondern unmittelbar in die Beratungspraxis der Arbeitsvermittlung eingehen (Parmentier et al. 2002). Die größte Zahl der aus den Erhebungen entstandenen Publikationen widmet sich dann auch der Berufs- und Bildungsforschung. Gute Einblicke in Analysen aus diesem Themenkomplex finden sich in BIBB/IAB (1981), BIBB/IAB (1987), Jansen & Stoss (1993) und Jansen (2002a); ausführliche Literaturlisten finden sich bei Jansen & Stooß (1993 S.149-158), Jansen (2002a, S.190-193) oder Dostal et al. (2002, S. 250-253). Allerdings wurden wiederholt auch Analysen zur Verbreitung von physischen und psychischen beruflichen Belastungen durchgeführt und publiziert (Hecker &
7.2 Erhebungsmethoden
125
Jansen 2000 ; Jansen & von Henninges 1987 ; Jansen 1993 ; Jansen 1999 ; Marstedt, Müller, Jansen 2002 ; von Henninges 1981).
7.2 Erhebungsmethoden Methodisch wurden alle Untersuchungen ähnlich durchgeführt, wobei die Planung und Auswertung Sache von BIBB und IAB war, die eigentliche Feldarbeit aber an kommerzielle Umfrageinstitute übertragen wurde. Um die Erhebungszeit kurz zu halten und durch einen Vergleich der Stichproben ein Instrument der Qualitätskontrolle zu erhalten, wurden stets mindestens zwei Institute beauftragt. Tabelle 11: Übersicht über die BIBB/IAB-Erhebungen (nach Jansen 2002b, S.87) Population
Gesamt N
Ausschöpfung*
Institute
1979
Erwerbstätige, Arbeitslose
28.828
74%
GFK, Nürnberg Marplan, Offenbach
1985 / 1986
Erwerbstätige
26.515
80%
Getas, Bremen Emnid, Bielefeld Infratest, München
1991 / 1992
West: Erwerbstätige Ost: Erwerbstätige, Arbeitslose, Umschüler
34.277 Nur Dt. West: 24.090
62%
Infratest, München Marplan, Offenbach Infratest Burke, Berlin EMMAG, Berlin
1998 / 1999
Erwerbstätige
34.343 Nur Dt. West: 27.634
61%
Infratest Burke, München Infas, Bonn
* Persönliche Auskunft Anja Hall, BIBB, Email vom 01.04.2004
Eine Übersicht über die wichtigsten Charakteristika der Surveys findet sich in Tabelle 11. Die Grundgesamtheit war in allen Jahren die erwerbstätige Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Alter über 15 Jahren, wobei Auszubildende und Wehr-/Zivildienstleistende ausgeschlossen waren. Kleine Abweichungen zwischen den Jahren betreffen überschaubare Teilpopulationen, wie beispielsweise Arbeitslose, die nur 1979 und 1991/92 einbezogen wurden (Jansen 2002b). Aus dieser Grundgesamtheit wurde mit dem Ziel einer repräsentativen Auswahl eine 0,1% Stichprobe gezogen. Aufgrund der praktischen Schwierigkeiten, eine
126
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
bevölkerungsbezogene reine Zufallsauswahl durchzuführen59, kam ein Verfahren auf Basis ADM-Mastersamples (Arbeitskreis Deutscher Marktforschungsinstitute) zur Anwendung. Diese Vorgehensweise ist in der Markt- und Sozialforschung in Deutschland weit verbreitet und beruht auf einer dreistufig geschichteten Zufallstichprobe mit Gebietsauswahl (Diekmann 2001, S.334f). Zunächst erfolgt eine nach Einwohnerzahl gewichtete Auswahl von Wahlbezirken, den sogenannten „Samplepoints“. Im nächsten Schritt erfolgt innerhalb der Samplepoints eine Auswahl einzelner Haushalte durch die „Random-Route“-Methode, bei der die Interviewer ausgehend von zufällig definierten Ausgangsadressen nach vorher festgelegten Regeln Privathaushalte abgehen. Innerhalb der Haushalte wird dann über einen weiteren für die Haushaltsgröße gewichteten Zufallsschlüssel – den sogenannten Schwedenschlüssel – eine Person ausgewählt, vorausgesetzt, es gibt überhaupt Haushaltsmitglieder, die die Einschlusskriterien erfüllen. War der oder die Interviewerin bis hierhin erfolgreich und nimmt die gewählte Person ihre Wahl auch an, kann dann die Datenerhebung in Form einer persönlich-mündlichen Befragung erfolgen. Eine detaillierte Darstellung dieses komplexeren Verfahrens bieten Behrens und Löffler (1999) und HoffmeyerZlotnik (1997).
7.2.1 Die Bewertung der Verallgemeinerbarkeit An dieser Stelle ist es angebracht, nochmals auf die Rolle der BIBB/IABErhebungen innerhalb des Forschungsdesigns dieser Arbeit einzugehen. Auf ihnen basieren die neu entwickelten JEMs und damit die gesamte Belastungsmessung. Die Qualität der Stichprobe ist also von hoher Bedeutung, denn eine Verzerrung in der Verteilung zentraler Merkmale könnte zur Folge haben, dass die in der JEM geschätzten mittleren Belastungswerte nicht auf die eigentliche Studienstichprobe der Rentenversicherer übertragbar ist. Es ist aber elementar, dass die Population, aus der die JEM stammt, und die Population der Studie, in der die JEM dann angewendet wird, vergleichbar sind, damit erstens das Berufsspektrum gleich ist und zweitens die mittleren Belastungswerte aus der JEM der beruflichen Realität der Studienteilnehmer möglichst nahe kommen (Axelson 2000 ; Schwartz et al. 1988). Im Folgenden werden die vorhandenen Informationen zum Stichprobenverfahren, zur Ausschöpfung der Stichprobe und zur Methode der Datenerhebung vorgestellt und die Qualität bewertet. Im Blickpunkt
59 Die für eine reine Zufallsauswahl notwendige einheitliche Liste aller zur Grundgesamtheit gehörenden Bürger existiert in Deutschland nicht, und der Umweg über die Listen einzelner Einwohnermelder wäre äußerst umständlich und zeitaufwändig.
7.2 Erhebungsmethoden
127
stehen dabei mögliche Quellen für systematische Verzerrungen oder Einschränkungen der Datenqualität.
7.2.1.1
Stichprobe
Zunächst einmal ist das Verfahren der Stichprobenziehung selbst von Bedeutung, denn das mehrstufig geschichtete Auswahlverfahren des ADMMastersamples stellt keine reine Zufallsauswahl dar. Nach den Regeln der Inferenzstatistik ist aber nur ein ‚reines’ Zufallsprinzip, bei der jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Chance hat, gezogen zu werden, dazu geeignet, bei ausreichend großer Fallzahl eine repräsentative Auswahl zu treffen (Bortz & Döring 1995, S.84ff. ; Diekmann 2001, S.347ff.). Bei einer geschichteten Zufallswahl dagegen ist durch die Mehrstufigkeit eine geringere Präzision der Stichprobe zu erwarten (Guo & Zhao 2000 ; Schnell, Hill, Esser 1995, S.266f. ; von der Heyde 1999, S.40f.). Der Grund sind sogenannte Klumpen- oder Cluster-Effekte: Die Population innerhalb eines Clusters, z.B. die berufstätigen Einwohner eines Wahlbezirks, ist häufig relativ homogen. Erklärt wird dies durch die Tendenz von Menschen, sich in Nachbarschaften niederzulassen, in denen die soziale Zusammensetzung dem eigenen sozialen Hintergrund entspricht (Oakes 2004). Werden nun zwei (oder mehr) Menschen eines Clusters befragt, sind deren Antworten mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht unabhängig voneinander, da eine Ähnlichkeit hinsichtlich zentraler sozialer Merkmale besteht. Eine solche Abhängigkeit führt innerhalb des Clusters also zunächst zu einer geringeren Varianz der Messwerte. Wechselt man nun eine Stufe höher in die Gesamtstichprobe, die sich ja aus den Teilstichproben der einzelnen Cluster zusammensetzt, kann es im Mittel zu einer größeren Streuung der Merkmale kommen, da zwischen zwei oder mehr homogenen Clustern eine größere mittlere Abweichung entsteht, als dies bei völliger Unabhängigkeit der Stichprobenelemente der Fall wäre (Kish 1965, S.161ff. ; Oakes 2004). Beispielsweise wird sich eine Stichprobe aus einem ländlichen Wahlbezirk, der hauptsächlich von Oberschichtangehörigen bewohnt wird, von der aus einem städtischen ArbeiterWahlbezirk mit hoher Wahrscheinlichkeit unterscheiden und dies wird sich ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die gemessenen Daten, z.B. zur Einkommens- oder Arbeitssituation, auswirken. Unabhängige Beobachtungen sind aber eine der Hauptbedingungen für zahlreiche statistische Verfahren und so führt die Verletzung dieser Annahme zu verzerrten Schätzern, die eine Gefahr für die Interpretierbarkeit von Studienergebnissen darstellen (Diez-Roux 2000 ; Duncan, Jones, Moon 1998).
128
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
Ob eine solche Verzerrung auch die Berechnungen zur Ermittlung von Belastungsprofilen mit den BIBB/IAB-Erhebungen betrifft, wäre in letzter Konsequenz nur durch eine Analyse der Daten mit Methoden der Multilevel-Analyse, bei der die Abhängigkeit der Cluster-Elemente berücksichtigt wird, zu klären. Da dieses Verfahren aufwändig ist, ist es leichter zu verschmerzen, dass in den hier verwendeten Datensätzen keine Informationen zu Wahlkreisen (den Clustern) enthalten waren und somit eine direkte Überprüfung unmöglich war. Zwei Umstände sprechen aber gegen eine Verzerrung. 1.
2.
Zunächst ist die Anzahl der Cluster beim ADM-Verfahren sehr hoch, bei der 1998/99 Erhebung etwa waren über 3000 Samplepoints zufällig aus den deutschen Wahlbezirken ausgewählt worden (Jansen 2002b, S.88). Die hohe Zahl der Cluster bedeutet gleichzeitig eine Reduktion der Zahl der Personen, die pro Cluster erhoben werden und damit auch des statistischen Einflusses der einzelnen Cluster auf die Gesamtvarianz. Hinzu kommt, dass die Auswahl innerhalb der Cluster ebenfalls nach dem Zufallsprinzip erfolgt und somit Homogenität weiter reduziert wird (Schnell et al. 1995, S.266f). Für Deutschland wird bei einer geschichteten Auswahl im Mittel eine Vergrößerung der Standardabweichung um ca. 40% angenommen, umgerechnet auf die Stichprobengröße bedeutet das, dass eine geschichtete Auswahl ungefähr doppelt so viele Fälle benötigt wie eine reine Zufallsauswahl, um die gleiche Präzision zu erreichen (von der Heyde 1999, S.44f). Die Fallzahl der BIBB/IAB-Erhebungen mit jeweils weit über 20.000 Befragten ist groß genug, um durch mögliche Ungenauigkeiten nicht zu sehr an statistischer Aussagekraft zu verlieren.
7.2.1.2
Ausschöpfung
Ist in einer Studie die Hürde der Stichprobenziehung mit einer möglichst geringen Verzerrung genommen, warten neue Probleme, wenn die ausgewählten Personen davon überzeugt werden müssen, an der Studie teilzunehmen. Ein Teil wird unter den gezogenen Adressen erst gar nicht angetroffen (Nichterreichbarkeit) und ein weiterer Teil wird zwar erreicht, weigert sich aber, an der Studie teilzunehmen (Verweigerung). Diese unter dem Begriff Nichtteilnahme bzw. dem englischen „nonresponse“ subsumierten Phänomene können zu einer ernsthaften Gefahr für die Verallgemeinerbarkeit einer empirischen Untersuchung werden. Wenn die Nichtteilnahme nämlich einem Muster folgt, z.B. wenn junge, mobile Leute seltener erreicht werden, wird sich die Zusammensetzung der untersuchten Stichprobe von der der nicht untersuchten Stichprobe - und damit
7.2 Erhebungsmethoden
129
wahrscheinlich auch von der Grundgesamtheit - unterscheiden. Häufig sind dann in solchen Stichproben Prävalenzen oder Mittelwerte verzerrt (response-bias). Ein Beispiel: wollte man Aussagen über die mittlere Stressbelastung in einzelnen Berufen machen, kann die bevölkerungsrepräsentative BIBB/IABErhebung als Datenbasis genommen werden. So käme man vielleicht zu dem Ergebnis, dass Nachtschwestern in Krankenhäusern einen niedrigen Belastungswert aufweisen und daher präventive Maßnahmen für diese Berufsgruppe nicht vordringlich sind. Diese Interpretation könnte sich aber als Trugschluss erweisen, wenn gerade diejenigen Nachtschwestern mit hoher Belastung das Interview verweigert haben, weil sie ihre knappe Regenerationszeit nicht mit einer Befragung verbringen wollen. Wenig Belastete sind somit überrepräsentiert, der Mittelwert wäre nach unten verzerrt. Wiederum lässt sich die Frage, ob in den BIBB/IAB-Befragungen ein response-bias zum Tragen gekommen ist und wie stark der Einfluss auf die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit ist, nur indirekt beantworten, denn es liegen keine veröffentlichten Auswertungen hierzu vor. Als Indiz können aber die Ausschöpfungsquoten60 dienen, die zwischen 61 und 80% liegen (siehe Tabelle 11). Die höchsten Quoten wurden in den frühen Erhebungen und die niedrigsten bei den in den 1990er Jahren durchgeführten Surveys erzielt. Damit liegt die Ausschöpfung für die jeweiligen Jahre im oberen Mittelfeld der in Deutschland in allgemeinen Bevölkerungsumfragen durchschnittlich erreichten Quoten von 50 bis 70% (Schnell 1997, S.45ff.). Einen guten Vergleich bietet die allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS. Diese Repräsentativerhebung wird seit 1980 in zweijährigem Abstand unter der Leitung des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen durchgeführt und ist von der Durchführung her den BIBB/IAB-Erhebungen ähnlich. Es wird ebenfalls ein ADMStichprobensystem verwendet und eine persönlich-mündliche Befragung durchgeführt. Aber nicht nur deswegen eignet sich der ALLBUS als Referenz, sondern auch, weil er aufgrund seiner methodischen Gründlichkeit und der zahlreichen damit durchgeführten Methodenexperimente als Standard für Befragungen in den Sozialwissenschaften dienen kann (Koch 2002). Der erste ALLBUS erreichte eine Ausschöpfung von 69,5%, der 1986 durchgeführte eine von 58,6%, der 1991er Survey eine von 52,7% und der 1998er eine von 55,4% (ZUMA 2004). Somit liegen die Raten der BIBB/IAB-Surveys in den jeweiligen Jahren jeweils leicht über denen des ALLBUS, was für eine zufriedenstellende Ausschöpfung spricht. Bemerkenswert an beiden Stichproben ist der Rückgang der Kooperati60 Ausschöpfungsquote ist der %-Anteil der Teilnehmer an der gesamten bereinigten Bruttostichprobe. Bereinigt heißt, dass alle stichprobenneutralen Ausfälle, wie etwa Personen, die gar nicht zur Grundgesamtheit gehören oder falsche Adressen, abgezogen werden (Stang, Ahrens, Jöckel 1999 ; The American Association for Public Opinion Research 2004).
130
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
onsbereitschaft mit den Jahren, ein Phänomen, das in ähnlicher Form aus zahlreichen Staaten berichtet wird (de Heer 1999 ; Steeh, Kirgis, Cannon, DeWitt 2001). Allerdings kann aus der bloßen Höhe der Ausschöpfungsquote kaum ein Rückschluss auf eine Verzerrung gezogen werden, denn entscheidender als die Quantität des Ausfalls ist die dahinterstehende Systematik. Gestützt wird diese Aussage durch einige aktuelle Forschungsarbeiten. Koch (1998) zeigte etwa, dass im Vergleich mit den amtlichen Daten des Mikrozensus61 die Daten von sechs allgemeinen Bevölkerungsumfragen zwar hinsichtlich zentraler soziodemographischer Variablen alle leicht verzerrt waren, diese Verzerrung aber eben nicht mit der Höhe der Ausschöpfung zusammenhing. Eine externe Validierung von Befragungsdaten, in diesem Fall der ALLBUS-Jahrgänge 1994,1995 und 2000 mit dem Mikrozensus des jeweiligen Jahres nahmen Schneekloth und Leven (2003) vor. Die Autoren kommen als Ergebnis ihrer Auswertungen zu dem Schluss, dass Abweichungen bei soziodemographischen Daten nicht mit der Ausschöpfungsquote variieren. Gestützt werden diese Ergebnisse aus Deutschland auch durch internationale Forschungsarbeiten wie diesem Methodenexperiment aus den USA: Keeter und Mitarbeiter (2000) führten zwei telefonische Bevölkerungsumfragen mit identischem Inhalt (91 typische Fragen aus der Meinungsforschung) durch. Bei der einen Befragung wurden response-steigernde Maßnahmen, etwa der Einsatz von kleinen Geschenken für die Teilnehmer, eingesetzt und so eine Ausschöpfung von 60,6% erreicht. Mit nur 36% schnitt die andere Befragung deutlich schlechter ab, hier war auf flankierende Maßnahmen ganz verzichtet worden. Trotz der erheblichen Unterschiede in der Quote, wichen die Ergebnisse beider Studien aber nur unwesentlich voneinander ab, ein Indiz dafür, dass in diesem Fall die Höhe des Ausfalls nicht mit der dahinterstehenden Systematik assoziiert war. Ging es in den bisher erwähnten Studien vor allem um Abweichung bei der demographischen Zusammensetzung der Stichprobe, kommt bei Studien mit gesundheitsbezogenen Fragestellungen eine weitere Problematik hinzu, nämlich die, dass der Ausfall mit dem Gesundheitsstatus assoziiert sein kann. Welches Ausmaß dieses Problem hat, ist bisher wenig erforscht, allerdings deuten die wenigen Befunde darauf hin, dass Kranke häufiger verweigern als Gesunde (Cohen & Duffy 2002 ; O`Toole, Marshal, Schureck, Dobson 1999). Da berufliche Stressbelastungen mit Gesundheit assoziiert sind, könnten die BIBB/IAB Befragungen also in Richtung gesünderer Arbeitnehmer gebiased sein, ein sogenannter „healthy worker effect“. Somit müssten die Mittelwerte für Arbeitsbelas61 Der Mirkozensus ist die jährliche amtliche Repräsentativstatistik für Deutschland. Beteiligt sind in der Regel ca. 1% der Haushalte und die Teilnahme ist nicht freiwillig, sondern verpflichtend geregelt. Damit ist der Mikrozensus die klassische Referenz, wenn es um die Verteilung sozialstruktureller Merkmale in der Allgemeinbevölkerung geht (Lüttinger & Riede 1997).
7.2 Erhebungsmethoden
131
tungen in den JEMs insgesamt niedriger ausfallen als in der Grundgesamtheit. Dieser Effekt bleibt aber zunächst hypothetisch und würde im Falle seines Auftretens dazu führen, dass Zusammenhänge zwischen Belastungen und Frühberentungsrisiken in der Fall-Kontroll-Studie unterschätzt werden.
7.2.1.3
Externe Validierung und Gewichtung
Obwohl, wie bereits erwähnt, die Angaben zur Repräsentativität der BIBB/IABErhebungen spärlich sind, gibt es doch auch empirische Belege, die zeigen, dass Probleme der Ausschöpfung und der Stichprobenziehung nicht zu wesentlichen Qualitätseinbußen geführt haben. Zum einen erfolgte für alle Erhebungen eine Überprüfung der realisierten Stichprobe mit Daten des Mikrozensus mit insgesamt zufriedenstellenden Ergebnissen für soziodemographische und berufsbezogene Variablen (Dostal et al. 2002 ; Jansen & Stooß 1993, S.8f.). Zum anderen wurde es sich zunutze gemacht, dass an jeder Erhebung mindestens zwei Umfrageinstitute beteiligt waren. Deren Stichproben wurden untereinander verglichen, um Qualitätsmängel aufdecken zu können (Dostal et al. 2002). Tabelle 12: Berufliche Strukturen der deutschen Erwerbsbevölkerung [%Anteile] in Mikrozensus und BIBB/IAB-Erhebung (nach: Parmentier 2000, S.11) Sektoren Fertigungsberufe Naturprodukte gewinnen
Mikrozensus 1991 27 4
BIBB/IAB 1991/92 29 3
Mikrozensus 1996 25 3
BIBB/IAB 1998/99 26 3
Bodenschätze abbauen
0
0
0
0
Produktionsgüter erzeugen
4
3
2
2
Konsumgüter erzeugen
4
4
3
4
Gebäude,Anlagen bauen/ warten
5
7
6
7
Maschinen bauen / warten
10
12
9
10
73 7
71 7
75 7
74 7
Verwaltungs-, Büroberufe
21
19
21
19
Dienstleistungskaufleute
11
13
12
13
Dienstleistung Personen
16
16
18
19
Dienstleistung Sachbezogene
9
10
9
10
Infrastrukturaufgaben
9
7
7
7
100
100
100
100
Dienstleistungsberufe Planungs-, Laborberufe
Insgesamt
132
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
In der zitierten Arbeit von Dostal et al. werden keine Auswertungen präsentiert, so dass auf eine andere Publikation von Parmentier (2000) zurückgegriffen werden muss. Dort werden berufliche Strukturen des Mikrozensus 1991 und 1996 mit den BIBB/IAB-Erhebungen 1991/92 und 1998/99 verglichen. Parmentier kommt zu dem Schluss, dass „ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den beruflichen Strukturen des Mikrozensus und der BIBB/IAB Erhebung“ (S. 9) besteht. In Tabelle 12 werden die Daten, die diesem Fazit zugrunde liegen, nach Wirtschaftssektoren getrennt präsentiert. Wie in bevölkerungsrepräsentativen Befragungen üblich, wurden auch für die BIBB/IAB-Datensätze Designgewichte kalkuliert. Das Ziel der Gewichtung ist die Korrektur von durch das Ziehungsverfahren und die Ausschöpfung erzeugten Verzerrungen der Stichprobe (Parmentier et al. 2002, S.36). Für die Auswertung der Daten im Hinblick auf die Erstellung der Job-Exposure-Matrize wurden aber keine Gewichtungen vorgenommen, da unklar ist, in welchem Zusammenhang die Designvariablen mit den Arbeitsplatztypen stehen und ob überhaupt Verzerrungen auf dieser Ebene stattgefunden haben. Hinzu kommt, dass der Einsatz von Filtern generell umstritten ist (Korn & Graubard 1999, S.173f. ; Rothe 1994, S.77f.). Auch innerhalb der BIBB/IAB-Studiengruppe ist der Einsatz der Gewichtungsvariablen durchaus umstritten und wurde erst nach langen, kontroversen Diskussionen beschlossen (Dostal, Jansen, Parmentier 2000). Die Stichprobenqualität der BIBB/IAB-Erhebungen kann zusammenfassend als hoch bezeichnet werden. Dafür spricht die Bewertung der angewandten Methode der Stichprobenziehung und der Teilnehmerrekrutierung im Lichte des aktuellen Forschungsstands. Eine Verallgemeinerbarkeit von Kennwerten für psychosoziale Arbeitsbelastungen auf andere Populationen der deutschen Erwerbsbevölkerung ist somit zu rechtfertigen, auch wenn die geschilderten Einschränkungen dabei bedacht werden sollten.
7.2.2 Die Datenerhebung – Eine persönlich-mündliche Befragung Neben der Methode der Stichprobenziehung und der Rekrutierung ist die Form der Datenerhebung ein weiteres Qualitätsmerkmal einer Studie und soll kurz für die BIBB/IAB-Studien dargestellt werden. Bei allen vier Erhebungen wurde auf die persönliche Befragung durch geschulte Interviewer zurückgegriffen. Diese lasen den Teilnehmern die Fragen aus einem standardisierten Fragebogen vor und notierten die größtenteils ebenfalls standardisierten Antworten. Die persönlich mündliche Befragung galt in der empirischen Sozialforschung lange als Königsweg der Datenerhebung, weil ein maximaler Einfluss des Forschers bzw.
7.2 Erhebungsmethoden
133
seiner Stellvertreter vor Ort auf die Erhebungssituation möglich ist. Dass Rückfragen direkt geklärt und Hilfestellungen gegeben werden können, hat neben weiteren Vorteilen zu diesem Image beigetragen. Inzwischen weiß man, dass auch hier Fallstricke lauern und die persönliche Befragung nicht automatisch zu validen und reliablen Ergebnissen führt. So hat sich der große Vorteil, nämlich der direkte Einfluss durch die Interviewer, gleichzeitig auch als größte Fehlerquelle entpuppt. Es wurde gezeigt, dass Befragte bei bestimmten Fragen nicht wahrheitsgemäß antworten, sondern sich von äußerlichen Merkmalen oder vom Verhalten des Interviewers beeinflussen lassen (Geyer 2003, S.44ff. + S.117ff. ; Schnell et al. 1995, S. 325ff.). Auch der Interviewer selbst kann falsche Daten provozieren, indem er Intervieweranweisungen ignoriert, die Befragten beeinflusst oder ihm einfach nur Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Diese Effekte sind inzwischen ausgiebig erforscht und es hat sich in der Umfrageforschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass persönliche Interviews einer besonders straffen Qualitätssicherung bedürfen. So hat etwa der Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V. (ADM), dem der überwiegende Teil der großen deutschen Umfrageinstitute angehört, Qualitätsnormen für die Durchführung von Befragungen (Sommer, Unholzer, Wiegand 1999) formuliert. Die an den BIBB/IAB-Erhebungen beteiligten und in Tabelle 11 aufgeführten kommerziellen Umfrageinstitute sind bis auf eine Ausnahme62 Mitglieder im ADM und teilen somit die Selbstverpflichtung zur Einhaltung der Qualitätsnormen. Diese schließen neben vielen anderen Aspekten der Studiendurchführung auch eine intensive Schulung und Supervision der Interviewer sowie eine Plausibilitätskontrolle der erhobenen Daten ein63. Bedenkt man außerdem, dass es sich um renommierte Umfrageinstitute handelt, die zudem noch von zwei in der empirischen Sozialforschung erfahrenen öffentlichen Forschungsinstitutionen beauftragt und überwacht wurden, so kann guten Gewissens angenommen werden, dass die Datenqualität insgesamt zufriedenstellend sein dürfte.
62 Gemeint ist die EMMAG (empirisch-methodische Arbeitsgruppe am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V.), welche an der 1991/92er Erhebung in Ostdeutschland beteiligt war, war zum Erhebungszeitpunkt aus ehemaligen DDRSozialforschungsinstituten neu gebildet worden. 63 Wie weit diese in den 90er Jahren entwickelten Standards auch retrospektiv auf die Erhebungen bis 1979 anzuwenden sind, ist allerdings schwer zu beurteilen, da hierzu kaum allgemein verfügbare Dokumentationen vorliegen. Da die Forschungsmethoden in diesem Bereich ständig weiterentwickelt werden, ist aber wohl von einer Qualitätszunahme über die Zeit auszugehen. Weil aber in dieser Arbeit keine Trendaussagen getroffen werden sollen, sind solche methodischen Unterschiede über die Zeit zu vernachlässigen.
134
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
7.3 Fazit: Die BIBB/IAB-Erhebungen als Grundlage der JEM Als Datengrundlage für die Erstellung von Job-Exposure-Matrizen eignen sich die BIBB/IAB-Erhebungen in besonderem Maße. Sie bieten als Trenderhebung den großen Vorteil, dass die retrospektive Modellierung arbeitsplatzbezogener Belastungen auf Daten zurückgreifen kann, die mit Abweichung von wenigen Jahren auch zum jeweiligen Zeitpunkt erhoben wurden. Ein weiterer Punkt ist die ausreichend große Fallzahl der Erhebungen, die gewährleistet, dass eine analytische Differenzierung einer Vielzahl – auch seltener – Berufe möglich ist, was eine notwendige Bedingung für den Aufbau einer Job-Exposure-Matrize ist. Insgesamt kann der BIBB/IAB Erhebung eine hohe methodische Qualität bescheinigt werden. Insbesondere die Verallgemeinerbarkeit der Daten scheint trotz der in diesem Kapitel geschilderten Einschränkungen gut zu sein. Vier Faktoren, auf die sich dieses Annahme stützt sind hervorzuheben: das ausgereifte Stichprobendesign, die relativ hohe Ausschöpfungsquote, die Methode der Datengewinnung durch persönlich mündliche Interviews und die hohe wissenschaftliche bzw. professionelle Qualität der beteiligen Forschungs- und Umfrageinstitute. Als Illustration soll ein Zitat über den Anspruch der Surveys dienen: „Die BIBB/IAB-Erhebungen waren immer als ‚kleiner’ Mikrozensus mit detaillierterer Analysemöglichkeit verstanden worden“ (Parmentier et al. 2002, S.39). Neben diesen inhaltlichen und methodischen Kriterien ist ein letzter, aber entscheidender Punkt bisher noch nicht angesprochen worden. Es ist nicht selbstverständlich, dass aufwändig gewonnene Daten in fremde Hände gegeben werden, aber sehr zum Vorteil für diese Forschungsarbeit werden alle Datensätze der BIBB/IAB-Surveys in vorbildlich aufbereiteter Weise Wissenschaftlern als ‚public use files’ für eigene Analysen zur Verfügung gestellt. Verwaltet werden die Daten vom Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (ZA) in Köln und können über das Internetangebot des ZA (www.gesis.org) bestellt werden. Als besonders hilfreich hat sich auch die persönliche Betreuung bei Fragen zu den komplexen Datensätzen oder zur Studienmethodik erwiesen64.
7.4 Stichprobenbeschreibung für die Erstellung der Job-ExposureMatrizen Für die in den kommenden zwei Kapiteln beschriebene Konstruktion der JobExposure-Matrizen wurden nur die Befragten der BIBB/IAB-Erhebungen einbezogen, die die aus der Studienpopulation für die Fall-Kontroll-Studie bekannten 64 Dafür möchte ich an dieser Stelle Herrn Horst Weinen, ZA, Werner Dostal, IAB und Frau Anja Hall vom BIBB danken.
7.4 Stichprobenbeschreibung für die Erstellung der Job-Exposure-Matrizen 135 Einschlusskriterien erfüllten. So wurde der Anforderung an den Einsatz von JEMs nachgekommen, dass die verwendete JEM aus einer ähnlichen Population stammen muss wie die Studienpopulation, um die Übertragbarkeit der Belastungen sicher zu stellen (Schwartz et al. 1988). Also waren alle Befragten der BIBB/IAB-Studien aus den neuen Bundesländern ausgeschlossen, ebenso alle Beamten und Selbständigen. Eine Ausnahme bildete die Altersgrenze. Die Fälle und Kontrollen im Ausgangsdatensatz waren 1999 zwischen 40 und 59 Jahren alt. Würde man nun die aus der BIBB/IAB Erhebung 1999 ermittelte JEM auch nur auf diese Altersgruppe stützen, müsste konsequenterweise bei den früheren Surveys eine kontinuierliche Verjüngung, bis hin zur Auswahl der 20- bis 39-jährigen Befragten im 1979er Survey erfolgen. Ein solch striktes Vorgehen hätte zu einer Verkleinerung der Datenbasis um ca. 50% geführt, mit der Folge, dass zahlreiche Berufsgruppen in der JEM aufgrund zu geringer Zellbesetzung nicht mehr hätten gebildet werden können. Das Resultat wären gröbere Berufskategorien und eine insgesamt verringerte Belastungshomogenität innerhalb der Kategorien gewesen (siehe Kap. 8). Um dieses unerwünschte Ergebnis zu vermeiden, wurde daher geprüft, ob die strikte Alterseingrenzung zu einer Verbesserung der Belastungsermittlung in der JEM geführt hätte. Eine solche Verbesserung wäre bei einer starken Altersabhängigkeit der Arbeitsbelastungen zu erwarten, was mit einem Beispiel verdeutlicht werden kann. Angenommen, 1999 hätten die unter 40jährigen Büroangestellten eine deutlich niedrigere Belastung durch berufliche Gratifikationskrisen berichtet, als die über 40jährigen Büroangestellten. Würde man diesen Altersunterschied ignorieren und beide Gruppen zur Bildung der mittleren Belastung für Büroangestellte heranziehen, wäre die Folge, dass der wahre Belastungswert für die jüngeren über- und für die älteren Büroangestellten durch die JEM unterschätzt würde. Um diese Form der Fehlklassifikation auszuschließen, wurde für die Surveydurchgänge 1985/86 und 1998/99 exemplarisch geprüft, ob Arbeitsbelastungen tatsächlich mit dem Alter assoziiert waren. Hierzu wurden SpearmanRangkorrelationen für die Gesamtpopulation und für verschiedene Teilpopulationen (Geschlecht, Stellung im Beruf und einzelne Berufe) berechnet. Für einzelne physische Belastungen, wie das Heben schwerer Lasten, zeigten sich in Subgruppen schwache Korrelationen (r=0.04-0.21). Bei psychosozialen Belastungen, gemessen mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen, zeigten sich zwar ebenfalls Unterschiede, sie waren aber so gering, dass die Altersgrenze für die Bildung der JEMs in allen vier Surveys auf 20 bis 59 Jahre festgelegt werden konnte. Welche Population nach Anwendung der genannten Einschlusskriterien noch für die Bildung der JEMs übrig blieb, zeigt Tabelle 13.
136
7 Die BIBB/IAB-Erhebungen: Studienbeschreibung
Tabelle 13: Zusammensetzung der Stichproben zur Erstellung der JEMs nach soziodemographischen und berufsbezogenen Merkmalen 1979 Befragte der BIBB/IAB Erhebung gesamt Population für die JEMErstellung (West, 20-59, ohne Beamte/Selbständig) Geschlecht Männer Frauen
1985/86
1991/92
1998/99
28.828
26.515
31.941 (West 24.090)
34.343 (West 27.634)
21.370
19.749
18.830
21.057
N %* 13.494 63,1
N %* 12.240 62,0
N %* 11.331 60,2
N %* 11.649 55,3
7876 36,9
7.509 38,0
7.499 39,8
9.408 44,7
Alter 20-29
6.724 31,5
6.744 34,1
4.886 25,9
4.131 19,6
30-39
6.088 28,5
5.536 28,0
5.514 29,3
7.475 35,5
40-49
5.202 24,3
4.657 23,6
4.386 23,3
5.871 27,9
50-59
3.356 15,7
2.812 14,2
4.044 21,5
3.580 17,0
Schulausbildung Kein Abschluss Haupt- oder Volksschule
Missing =27**
/ /
572
15.033 70,4
2,9
Missing =15
205
1,1
350
1,7
11.385 57,7
10.561 56,1
8.989 42,7
Mittlere Reife
4.691 22,0
4.763 24,2
5.093 27,0
6.318 30,0
Fachabitur und Abitur
1.641
2.947 14,9
2.803 14,9
5.089 24,2
Anderer Abschluss Stellung im Beruf Arbeiter
/
7,7 /
55
0,3
168
0,9
296
1,4
10.050 47,0
9.080 46,0
8.137 43,2
7.039 33,4
11.320 53,0
10.669 54,0
10.693 56,8
14.018 66,6
Missing=1002
Missing =489
Missing=38
Missing =255
7.010 33,7
5.704 29,6
6.201 33,0
5.409 26,0
Handwerk
3.640 17,5
3.574 18,6
3.284 17,5
3.311 15,9
Handel
2.953 14,2
2.723 14,1
2.859 15,2
3.329 16,0
Angestellte Wirtschaftsbereich Industrie
Öffentlicher Dienst Sonstiges Wochenarbeitsstunden (Mittel + Standardabw.) * **
Bei ‚Sonstiges’
3.721 19,3
3.712 19,8
4.548 21,9
6.765 32,5
3.538 18,4
2.736 14,6
4.205 20,2
Missing =271
Missing =121
41,4 + 9,4
39,4 + 8,7
Missing =8
37,7 + 9,2
Missing =58
36,3 + 10,0
Die Anzahl, Prozent- und Mittelwerte beziehen sich auf die JEM-Population. Prozentwerte = Spaltenprozentwerte. Anzahl fehlender Werte; wo keine Angabe erfolgt, waren keine Missings vorhanden
7.4 Stichprobenbeschreibung für die Erstellung der Job-Exposure-Matrizen 137 Die Tabelle lässt erkennen, dass die Zusammensetzung der einzelnen Stichproben für alle betrachteten Variablen variiert. Die Richtung der Veränderungen folgt aber im Wesentlichen den allgemeinen Trends des Arbeitsmarktes während der 1980er und 1990er Jahre. Erkennbar wird ein Anstieg des Anteils erwerbstätiger Frauen, eine Verschiebung der Altersstruktur in die mittleren und oberen Altersklassen, eine Zunahme höherer Schulabschlüsse, ein sinkender Anteil von Arbeitern, eine Verschiebung in den Wirtschaftsbereichen weg vom industriellen Sektor hin zu Handel und zu sonstigen Bereichen, unter die vor allem Betriebe der Dienstleistungsbranche fallen, sowie eine Abnahme der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit.
8 Aufbau der Matrizen: Arbeitsplatztypisierung
Derzeit unterscheidet die offizielle Berufsstatistik in Deutschland weit über 20.000 einzelne Berufe (Geis & Hoffmeyer-Zlotnik 2000). Würde man sie alle als Zeilen in eine JEM aufnehmen, bräuchte man eine sehr große Datenbasis für die Bestimmung von mittleren Belastungen, denn für jeden Beruf wird eine Mindestanzahl von Befragten benötigt. Obwohl in den BIBB/IAB-Erhebungen sehr viele Personen befragt wurden, waren es doch lange nicht genug für eine solch feine Differenzierung. Es war also nötig, Berufe sinnvoll zu Obergruppen zusammen zu fassen, um mit diesen Gruppen das Grundgerüst der Matrizen zu bilden. Der Leitgedanke war, diese Einstufung so vorzunehmen, dass ähnliche Berufe mit vergleichbaren Arbeitsaufgaben, Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen Gruppen bilden. Falls dies gelänge, könnte dann davon ausgegangen werden, dass sich auch die beruflichen Belastungen ähneln, was in der JEM eine homogenere Abbildung der Belastungen innerhalb von Berufsgruppen erlaubt und die Genauigkeit des Instruments erhöht (Bödeker 2002). Leisten sollte dies ein Verfahren, das in einem anderen Zusammenhang entwickelt und getestet wurde und für diese Studie nur noch angepasst zu werden brauchte. Es handelt sich um die Methode der Arbeitsplatztypisierung von Bödeker & Röttger (2000). Unter einem Arbeitsplatztyp wird die Kombination aus dem ausgeübten Beruf und der Branche, in der dieser Beruf ausgeübt wird, verstanden. Es werden also zwei Informationen herangezogen, um verwandte Tätigkeiten zusammenzufassen, eine Vorgehensweise, die sehr häufig bei der Konstruktion von JEMs zum Einsatz kommt und die Homogenität der Berufsgruppen erhöhen soll (z.B.: Coughlin et al. 1990 ; Hoar, Morrison, Cole, Silverman 1980 ; McGuire et al. 1998). Die Quelle für die Bildung der Arbeitsplatztypen waren die Kodierschlüssel für den zum Zeitpunkt der Befragung ausgeübten Beruf und Branche. Beide Variablen wurden in den BIBB/IAB-Surveys zunächst im Klartext erfragt und dann mit zwei gängigen Systemen aus der amtlichen Statistik codiert. Für den Beruf erfolgte die Kodierung nach der „Klassifizierung der Berufe“ (KldB) in der Version von 1988 (Bundesanstalt für Arbeit 1988). Bei der Branche kam die Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZW), ebenfalls von der Bundesanstalt für Arbeit (1973), zum Einsatz.
140
8 Aufbau der Matrizen: Arbeitsplatztypisierung
8.1 Die Berufsklassifikation Berufe werden in der KldB hierarchisch geordnet. Die Basiseinheit bilden die sogenannten Berufsordnungen, von denen 328 mit einem dreistelligen Code unterschieden werden. Darin sind 2000 Berufsklassen zusammengefasst, in denen wiederum die kleinsten Einheiten der KldB, die 24.000 Berufsbenennungen (die eigentlichen Berufe), gruppiert sind. Da Benennungen und Klassen nur in der amtlichen Berufsstatistik Verwendung finden, spielen sie bei der Arbeitsplatztypisierung keine Rolle. Relevant ist aber die Methode, wie die kleinen und kleinsten Einheiten zu Berufsordnungen zusammengefasst werden, denn entscheidend ist die Verwandtschaft hinsichtlich der ausgeübten Tätigkeit. Falls dieses Kriterium für eine Beurteilung der Ähnlichkeit von Berufen nicht ausreicht, wird auch noch die Art des verarbeiteten Materials, das Berufsmilieu und die Berufsaufgabe herangezogen, um eine hohe Homogenität zu erreichen. Dieser Systematik folgt auch die weitere Aggregation der KldB, denn die Basiseinheit kann nach diesem Schema noch nach Berufsgruppen (86), Berufsabschnitten (33) und Berufsbereichen (6) gruppiert werden. Je höher der Grad der Zusammenfassung ist, desto heterogener wird notwendigerweise das Spektrum der in der Gruppe enthaltenen Berufe, beispielsweise unterscheiden die Berufsbereiche lediglich noch Wirtschaftssektoren wie den Fertigungs- oder den Dienstleistungssektor65.
8.2 Klassifikation der Wirtschaftszweige Weniger Detailinformationen als die KldB enthält die Klassifikation der Wirtschaftszweige nach dem „Verzeichnis der Wirtschaftszweige für die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit - WZW“ (Bundesanstalt für Arbeit 1973). Ausgehend von zehn Sektoren (z.B. Verarbeitendes Gewerbe, Landwirtschaft, Handel) werden mit einem zweistelligen Code zunächst 94 Branchen unterschieden. Auf der untersten Ebene ist es möglich, zwischen 293 einzelnen Wirtschaftszweigen zu unterscheiden. Die WZW von 1973 bietet damit im Vergleich zu aktuelleren Klassifikationssystemen wie der Klassifikation der Wirtschaftszweige 2003, die auf dem europäischen Branchencode NACE beruht, nur eine relativ einfache Struktur (Statistisches Bundesamt 2002). Es war aber nötig, die Fassung von 65 Zur Illustration kann ein Beispiel dienen: Eine Röntgenassistentin (Berufsklasse) kann der Berufsordnung „Medizinlaboranten“ zugeordnet werden, die zur Berufsgruppe der „übrigen Gesundheitsberufe“ gehört. Auf der nächsten Ebene findet sich die Assistentin unter dem Berufsabschnitt „Gesundheitsdienstberufe“ wieder, der in der obersten Ebene dem Berufsbereich „Dienstleistungen“ zugeordnet ist (Bundesanstalt für Arbeit 1988, S.23).
8.3 Bildung von Arbeitsplatztypen
141
1973 zu verwenden, da nur sie in dem Datensatz enthalten war, der zur Erfassung der Berufsbiographie der Fälle und Kontrollen eingesetzt wurde und damit die Möglichkeit, eine modernere Klassifikation - die im BIBB/IAB-Datensatz durchaus zur Verfügung gestanden hätte - zu nutzen, nicht offen stand. Hinzu kommt, dass die WZW in den Surveys nur mit dem zweistelligen Branchencode erfasst worden war, so dass ein weiterer Informationsverlust entstand.
8.3 Bildung von Arbeitsplatztypen Technisch folgte die Bildung der Arbeitsplatztypen der Systematik der KldB, indem ein hierarchischer Aufbau mit vier Stufen auf Basis der Berufsordnungen, -gruppen und –Abschnitte gewählt wurde (Abbildung 9). An der Basis, wo die meiste Information vorlag, wurden Personen nach der Kombination von Berufsordnung und Branche eingeordnet, den eigentlichen Arbeitsplatztypen. Falls nicht genügend Befragte für die Bildung einer solchen Kombination vorhanden waren, wurde auf die jeweils nächsthöhere Stufe ausgewichen usw. Die Stufen 2 bis 4 beruhen ausschließlich auf den Aggregationsebenen der KldB „Berufsordnung“, „Berufsgruppe“ und „Berufsabschnitt“, Wirtschaftszweige fanden hier keine Berücksichtigung mehr, da die Verbindung von grober Wirtschafts- mit grober Berufsinformation keine Verbesserung der Präzision erwarten ließ.
Aufbau
Beispiel I
Beispiel II
4. Berufsabschnitt nach KldB 3. Berufsgruppe nach KldB 2. Berufsordnung nach KldB 1. Berufsordnung UND Branche
4. 3. 2. 1.
4. 3. 2. 1.
Abbildung 9:
Bauberufe Maurer, Betonbauer Maurer Maurer im Industrieofenbau
Bauberufe Straßen-, Tiefbauer Sprengmeister Sprengmeister im Kalisalzbergbau
Bildung der Arbeitsplatztypen für die Zeilen der JEM
142
8 Aufbau der Matrizen: Arbeitsplatztypisierung
Im Sinne einer möglichst feinen Differenzierung der Arbeitsplatztypen und damit der Bildung belastungshomogener Berufsgruppen wurde versucht, immer die unterste Stufe, bei der sowohl die Branchen- als auch die Berufskennziffer eingeht, zu wählen. Trotz der insgesamt großen Fallzahl der BIBB/IAB-Erhebung waren diesem Bestreben durch die Zellbesetzung mancher Arbeitsplatztypen Grenzen gesetzt, da nicht für alle potentiellen Kombinationen von Berufen und Branchen genügend Erwerbstätige befragt wurden. Am ehesten waren hiervon seltene Berufsbilder betroffen. Daher musste eine Mindestzellbesetzung definiert werden, die einerseits klein genug war, um auch weniger häufige Arbeitsplatztypen zuzulassen und andererseits groß genug, um keine zu hohe Variabilität der Belastungsfaktoren innerhalb der Zellen der JEM zu erzeugen66. Die Zellgröße wurde mit einer Simulationsstudie bestimmt, bei der auf Basis von Wahrscheinlichkeitsrechnungen das erwartete Ausmaß von Fehlklassifikation von Belastungen in Abhängigkeit von der Zellbesetzung errechnet wurde. Eine Mindestzellbesetzung von n=10 zeigte sich als ausreichend, um die beiden oben genannten Kriterien der homogenen Gruppen bei gleichzeitiger geringer Streuung der Belastungseinstufung zu erfüllen. Fanden sich weniger als zehn Befragte für einen Arbeitsplatztypen, wurden diese Personen dann in die nächsthöhere Stufe eingegliedert. Diesen Prinzipien folgend, wurden für alle vier BIBB/IAB-Surveys automatisiert die Arbeitsplatztypen bestimmt, wobei sich die Struktur von Erhebung zu Erhebung leicht unterscheidet. Das liegt zum einen daran, dass die Angaben zum Wirtschaftszweig einen unterschiedlichen Genauigkeitsgrad aufweisen. Hier weicht insbesondere die erste Erhebung aus dem Jahr 1979 ab, wo 96 Branchen unterschieden wurden, während 1986 nur noch 41, 1992 noch 42 und 1998 48 Branchen codiert worden waren. Der zweite Grund ist, dass es sich bei den Surveys um Zufallsstichproben der Erwerbsbevölkerung handelt und somit zufällige Abweichungen bei der Anzahl der jeweils aus einem Arbeitsplatztyp befragten Personen unvermeidlich waren. So konnten Typen, die in dem einen Survey noch problemlos gebildet werden konnten, in einem anderen Survey nicht konstruiert werden, da die Mindestzellbesetzung nicht ausreichte. Zugleich spiegelt die Variation die objektiven Veränderungen der Arbeitswelt im Laufe des betrachteten Zeitraums wieder: Einige Berufe, insbesondere im produzierenden Gewerbe, sind seltener geworden, während andere Berufsbilder häufiger geworden sind. Tabelle 14 zeigt für jede Erhebung die Anzahl der gebildeten Arbeitsplatztypen in Abhängigkeit von der Aggregationsstufe und die Zahl der Befragten aus 66 Eine zu kleine Zellbesetzung hätte zur Folge, dass Mittelwerte für die Belastungen aus den Angaben nur weniger Personen gebildet würden. Der damit einhergehende hohe Standardfehler erhöht die Gefahr von Fehlklassifikationen (Karasek et al. 1988).
8.4 Fazit
143
dem jeweiligen Survey, die pro Stufe eingeordnet werden konnten. Insgesamt wurden 69% aller Survey-Teilnehmer auf der untersten und genauesten Ebene der Berufsordnung/Branchen-Kombination kategorisiert. Weitere 26% wurden anhand ihrer Berufsordnung klassifiziert und nur bei 5% musste auf die relativ grobe Einteilung nach Berufsgruppe oder Berufsabschnitt zurückgegriffen werden. Tabelle 14: Anzahl der Arbeitsplatztypen pro Erhebung und Anteil der über die jeweilige Kombination eingestuften Personen AT*
1979 % **
1985/86 AT* % **
1991/92 AT* % **
1998/99 AT* % **
611
100
610
100
572
100
599
Berufsabschnitt
33
3,9
33
3,6
33
3,7
33
4,1
Berufsgruppe
15
1,0
11
0,9
12
1,0
10
0,7
Berufsordnung
171
31,9
166
23,9
145
23,6
155
25,9
Berufsordnung + Branche
393
63,2
400
71,6
382
71,7
401
69,3
Gesamt
* **
100
Anzahl Arbeitsplatztypen Prozentanteil der im jeweiligen Typ eingestuften Personen (Spaltenprozent)
8.4 Fazit Das Gerüst für die JEM steht durch die Kombination von Berufs- und Branchenangaben auf einer breiten Informationsbasis. Dennoch müssen Einschränkungen gemacht werden, insbesondere was die Annahme zur Belastungshomogenität angeht. Diese resultieren, wie zwei Untersuchungen zeigen, aus dem Aufbau der KldB. Sowohl Dreyer-Tümmel und Mitarbeiter (1997) als auch Schulz et al. (1997) kommen, nachdem sie das Klassifikationssystem auf seine Eignung für die Verwendung in der Gesundheitsberichterstattung untersucht haben, zu dem Fazit, dass die KldB ab der Ebene der Berufsordnungen nur bedingt belastungshomogene Gruppen erzeugt. Die Bedenken werden damit begründet, dass einige Berufsordnungen heterogene Berufsbilder umfassen, ein von der erstgenannten Autorengruppe genanntes Beispiel ist die Zusammenfassung von SozialarbeiterInnen und AltenpflegerInnen in einer Berufsordnung (ebd. S.98). Die Größe des Problems ist schwer abzuschätzen, es verringert sich aber durch die zusätzliche Verwendung des Wirtschaftszweiges zur Bildung der Arbeitsplatztypen. Grundsätzlich spricht zudem für die KldB, dass sie ein gewach-
144
8 Aufbau der Matrizen: Arbeitsplatztypisierung
senes System ist, das seit der ersten Fassung kontinuierlich weiterentwickelt wurde (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 1988 ; Statistisches Bundesamt 1992). Seit 1956 organisiert die „Arbeitsgemeinschaft für Berufsklassifizierung“, die sich aus Experten der Bundesanstalt für Arbeit, des Statistischen Bundesamtes, der Bundesregierung und wirtschaftlicher Interessenverbände zusammensetzt, diese Arbeit und greift dabei auf verschiedene Expertisen bis hin zu den berufskundlichen Archiven der Arbeitsämter zurück (Bundesanstalt für Arbeit 1988, S.16 ; Schulz, Dreyer-Tümmel, Behrens 1997, S.76). Obwohl auch vereinte Experten irren können, ist davon auszugehen, dass die Klassifikation die Realität der Berufswelt gut abbildet, auch wenn notwendige Zusammenfassungen die Homogenität der Klassifikation verringern. Insofern spricht vieles dafür, dass mit der angewandten Methode der Kombination von Berufs- und Branchenangaben eine sinnvolle und weitgehend belastungshomogene Gruppierung der Berufe möglich war.
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Nachdem die Berufsstruktur der vier Job-Exposure-Matrizen gebildet war, musste sie mit Inhalt gefüllt werden. Zur Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen wurde auf das bereits beschriebene Modell beruflicher Gratifikationskrisen zurückgegriffen. Hierzu liegt eigentlich ein standardisiertes Fragebogeninstrument vor, dieser Test67 war aber in keiner der vier BIBB/IAB-Erhebungen eingesetzt worden. Daher war es nötig, aus den in den Erhebungen vorhandenen Fragen neue Messinstrumente zu konstruieren, die als valide Stellvertreter für den in zahlreichen Studien verwendeten Originalfragebogen dienen konnten. In Ermangelung eines deutschen Fachbegriffs werden die für die Matrizen nachträglich konstruierten Instrumente als Proxy-Messung oder Proxy-Instrument bezeichnet, eine eingedeutschte Version der in der englischsprachigen Literatur verwendeten Bezeichnung ‚proxy-measure’ (z.B.: Palle, Goode, Montanes-Rodriguez, Koonin 2004 ; Peter et al. 2002). Die Entwicklungsschritte für die Proxy-Instrumente glichen denen, die auch bei der Entwicklung eines neuen Fragebogens hätten durchlaufen werden müssen. Die Vorteile gegenüber einer Neuentwicklung waren aber, dass ein geprüftes Instrument als Orientierungshilfe vorlag und ProxyMessungen des Modells bereits in anderen Studien erfolgreich verwendet wurden. Diese beiden Referenzen bildeten den Ausgangspunkt der Instrumentenentwicklung in diesem Projekt, entsprechend beginnt dieses Kapitel mit einer Beschreibung der Messung des Modells beruflicher Gratifikationskrisen. Es folgt dann die Erläuterung, wie die Proxy-Instrumente für die JEMs im Einzelnen aufgebaut sind. Komplettiert wird die Darstellung durch die Ergebnisse einer Qualitätsprüfung der Messverfahren.
9.1 Fragebogen zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen ist zuvorderst ein theoretisches Modell, das Bedingungen im Erwerbsleben spezifiziert, unter denen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit gesundheitsschädigender Stress entsteht (s. Kapitel 4). Wie 67 Die Begriffe Test, Messung, Instrument oder Messinstrument werden in dieser Arbeit synonym verwendet, da auch in der Literatur keine klare Abgrenzung vorgenommen wird.
146
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
bei vielen Theorien in der Soziologie und der Psychologie ist es eine Herausforderung ein solches Modell in eine Messung zu überführen bzw. zu operationalisieren, so dass eine empirische Prüfung möglich wird (Bortz et al. 1995, S.63). Bedenkt man, dass Theorien selbst in der Regel eine Entwicklungsgeschichte haben und im günstigen Fall auch kontinuierlich verbessert werden, wird klar, dass die Operationalisierung ein dynamischer und zeitaufwändiger Prozess ist. Beim Modell beruflicher Gratifikationskrisen kann dieser Entwicklungsprozess grob in drei Phasen unterteilt werden: I. die Anfänge der Hypothesenbildung und die Entwicklung erster Messinstrumente II. die theoretische Etablierung des Modells und der gleichzeitige Entwurf eines standardisierten Messinstruments sowie III. die Testung und der Einsatz des Fragebogeninstruments. Phase I umfasst die 1980er Jahre. In dieser Zeit wurden erste Hypothesen etwa zur Bedeutung der Statuskontrolle formuliert und empirisch im Zusammengang mit Erkrankungsrisiken getestet (z.B.: Siegrist & Weber 1983 ; Siegrist 1984 ; Siegrist, Siegrist, Weber 1986). Dabei kamen Fragebögen zum Einsatz, die noch relativ unspezifisch Aspekte von Belohnung und Verausgabung erfassten und deren Fragen noch eine konzeptionelle Nähe zu anderen Arbeitsstressmodellen, insbesondere dem Anforderungs-Kontroll-Modell verraten. Entsprechend lag der Fokus auf Aspekten industrieller Arbeit. Dagegen war die Messung der intrinsischen Komponente schnell fortgeschritten, bereits 1986 wurde unter dem Begriff „berufliche Kontrollbestrebungen“ ein validierter Fragebogen mit 45 Items68 vorgelegt (Matschinger, Siegrist, Siegrist, Dittmann 1986 ; Siegrist 1996, S.123ff.). Gestützt durch erste empirische Befunde kristallisierte sich der theoretische Kern des Arbeitsstressmodells seit Beginn der 1990er Jahre weiter heraus. Diese II. Phase war auf Seiten der Messung durch den Versuch geprägt, Aspekte von Belohnung und Verausgabung im Berufsleben präziser im Sinne der theoretischen Vorgaben zu erfassen. Belohnung wurde nun in den drei Dimensionen „Bezahlung und beruflicher Aufstieg“, „Wertschätzung & Anerkennung“ und „Arbeitsplatzsicherheit“ erfasst und ein Set an Fragen hierzu entwickelt. Gleichzeitig wurde die Messung von Verausgabung über den Horizont der klassischen Industriearbeit hinaus erweitert. Das Ergebnis war ein standardisierter Fragebogen mit siebzehn Fragen zur extrinsischen Verausgabung und Belohnung am Arbeitsplatz (Peter, Geißler, Siegrist 1998). Phase III kann als Phase der empirischen Prüfung bezeichnet werden. Das Fragebogeninstrument wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und seit 1996 in zahlreichen Studien international eingesetzt (van Vegchel et al. 2005). Daraus ergaben sich Gelegenheiten, die Güte des Instruments abzuwägen. Einen Über68 Ein Item ist der Grundbaustein eines Messinstruments (Krauth 1995, S.23). Ist das Instrument ein Fragebogen, so ist das Item die einzelne Frage bzw. die daraus gebildete Variable.
9.1 Fragebogen zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen
147
blick über den Stand der teststatistischen Modelltestung bietet eine aktuelle Arbeit von Siegrist und Mitarbeitern (2004), in der zum einen neue Analysen aus fünf großen epidemiologischen Untersuchungen präsentiert werden und zum anderen die bis dahin publizierten Informationen zur Teststatistik aus anderen Studien zusammengetragen und bewertet werden. Die Autoren kommen auf dieser Basis zu dem Schluss, dass der Fragebogen, zumindest was den extrinsischen Teil betrifft, zuverlässige (reliable) und valide Ergebnisse geliefert hat. Wiederholte Probleme zeigten sich aber beim Fragebogen zur intrinsischen Modellkomponente. In verschiedenen Studien bestätigte sich die postulierte Faktorstruktur nicht und zudem erwies sich die Anzahl der Items als zu hoch, um in großen Studien, in denen in kurzer Zeit viele Menschen befragt werden müssen, ökonomisch eingesetzt zu werden (Hanson, Schaufeli, Vrijkotte, Plomp, Godaert 2000 ; Niedhammer, Siegrist, Landre, Goldberg, Leclerc 2000 ; Siegrist et al. 2004). Auf der Basis von Reanalysen verschiedener Datensätze konnte aber eine Kurzversion mit sechs Fragen und dem Titel „übersteigerte berufliche Verausgabungsneigung“ entwickelt werden. Komponente Extrinsisch
Dimension Verausgabung
Belohnung
Fragen 1. Aufgrund des hohen Arbeitsaufkommens besteht häufig großer Zeitdruck. 2. Bei meiner Arbeit werde ich häufig unterbrochen und gestört. 3. Bei meiner Arbeit habe ich viel Verantwortung zu tragen. 4. Ich bin häufig gezwungen, Überstunden zu machen. 5. Meine Arbeit ist körperlich anstrengend. 6. Im Laufe der letzten Jahre ist meine Arbeit immer mehr geworden.
Subdimension „Bezahlung und beruflicher Aufstieg“ 1. Die Aufstiegschancen in meinem Bereich sind schlecht. 2. Wenn ich an meine Ausbildung denke, halte ich meine berufliche Stellung für angemessen. 3. Wenn ich an all die erbrachten Leistungen und Anstrengungen denke, halte ich meine persönlichen Chancen des beruflichen Fortkommens für angemessen. 4. Wenn ich an all die erbrachten Leistungen denke, halte ich mein Gehalt/ meinen Lohn für angemessen.
Subdimension „Wertschätzung & Anerkennung“ 1. Ich erhalte von meinen Vorgesetzten die Anerkennung, die ich verdiene. 2. Ich erhalte von meinen Kollegen die Anerkennung, die ich verdiene. 3. Ich erhalte in schwierigen Situationen angemessene Unterstützung. 4. Ich werde bei meiner Arbeit ungerecht behandelt. 5. Wenn ich an all die erbrachten Leistungen und Anstrengungen denke, halte ich die erfahrene Anerkennung für angemessen.
Subdimension „Arbeitsplatzsicherheit“ Intrinsisch
übersteigerte berufliche Verausgabungsneigung
1. Ich erfahre - oder erwarte - eine Verschlechterung meiner Arbeitssituation. 2. Mein eigener Arbeitsplatz ist gefährdet. 1. Beim Arbeiten komme ich leicht in Zeitdruck. 2. Es passiert mir oft, dass ich schon beim Aufwachen an Arbeitsprobleme denke. 3. Wenn ich nach Hause komme, fällt mir das Abschalten von der Arbeit leicht. 4. Diejenigen, die mir am nächsten stehen, sagen, ich opfere mich zu sehr für meinen Beruf auf. 5. Die Arbeit lässt mich selten los, das geht mir abends noch im Kopf rum. 6. Wenn ich etwas verschiebe, was ich eigentlich heute tun müsste, kann ich nachts nicht schlafen.
Abbildung 10: Der Fragebogen zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen (Quelle: Roedel et al. 2004)
148
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Im Hinblick auf die Ableitung von Proxy-Instrumenten nach dem Vorbild der Originalmessung soll der Fragebogen kurz vorgestellt werden (Abbildung 10; Stand 2005). Er besteht aus 23 Fragen, die sich auf die zwei Modellkomponenten und die zentralen Dimensionen beruflicher Gratifikationskrisen verteilen: intrinsische Belastung (6 Items), extrinsische Verausgabung (6 Items) und extrinsische Belohnung (11 Items in drei Subdimensionen) (Rödel, Siegrist, Hessel, Brähler 2004). Für die beiden Modellkomponenten kommen verschiedene Fragetypen zum Einsatz. Die siebzehn Items zur extrinsischen Komponente werden erfasst, indem die Befragten gebeten werden, anzugeben, ob die in der Frage formulierte Aussage auf ihr Berufsleben zutrifft. Ist dies der Fall, soll zudem angegeben werden, als wie stark belastend diese Situation empfunden wird. Als Beispiel dient eine Frage aus der Dimension Bezahlung und beruflicher Aufstieg: Die Aufstiegschancen in meinem Bereich sind schlecht. Nein Ja, und das belastet mich gar nicht Ja, und das belastet mich mäßig Ja, und das belastet mich stark Ja, und das belastet mich sehr stark
(1) (2) (3) (4) (5)
Die sechs intrinsischen Fragen werden auf einer vierstufigen Zustimmungsskala beantwortet:
Beim Arbeiten komme ich leicht in Zeitdruck.
Stimme gar nicht zu 1
Stimme eher nicht zu 2
Stimme eher zu
Stimme voll zu
3
4
Die Skalenbildung69 erfolgt durch Addition der den Antworten zugeordneten Werte (siehe Fragen-Beispiele). Der Verausgabungswert kann einen Bereich zwischen 6 und 30 annehmen, ein hoher Wert bedeutet eine hohe Verausgabung. Ähnlich wird mit der Belohnungsskala verfahren, die Werte zwischen 11 und 55 annehmen kann, allerdings werden die Antwortcodierungen zuvor umgekehrt, so dass ein hoher Wert für eine hohe Belohnung steht. Der Sinn dieser gegenläufigen Kodierung ist, dass die beiden Skalenwerte zu einem zusammengefasst werden: dem Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten, der auf der einfachen Formel
69 Der Begriff Skala wird in der Literatur unterschiedlich verwendet (Schnell et al. 1995, S.130), so dass eine Definition schwierig ist. In dieser Arbeit wird mit einer Skala eine Variable bezeichnet, die durch das Zusammenfassen mehrerer Variablen, z.B. durch Addition, gebildet wird (Friedrichs 1990, S.172f.).
9.2 Proxy-Messungen: Beispiele
149
Summenwert Verausgabung g Summenwert Belohnung u 6/11 basiert (der Belohnungswert wird noch mit einem Korrekturfaktor für die unterschiedliche Anzahl der Items multipliziert, um die Skalenbreite zu normieren). Hohe Werte des Quotienten stehen demnach für ein Ungleichgewicht zwischen hoher Verausgabung und niedriger Belohnung. Der Wert für die intrinsische Skala kommt dagegen mit einer einfachen Addition der Itemwerte aus. Die Methoden, um mit Hilfe der beiden kontinuierlichen Variablen Risikogruppen zu identifizieren, sind uneinheitlich. Teilweise werden der Quotient und der Summenwert für übersteigerte berufliche Verausgabungsbereitschaft als kontinuierliche Variablen in die statistischen Analysen eingeführt, andere Studien unterteilen sie in Tertile und wiederum andere definieren Personen mit einen Ratio-Wert über 1 als belastet. Eine Übersicht über diese Vorgehensweisen, die hier nicht weiter thematisiert werden sollen, findet sich bei Siegrist et al. (2004).
9.2 Proxy-Messungen: Beispiele Der Grund, sich trotz einer fehlenden Originalmessung des Modells zu bedienen und dafür eine unvollkommene Messung in Kauf zu nehmen, ist der, dass die Operationalisierung des Modells in Form eines validierten Fragebogens recht jung ist. Der internationale Bekanntheitsgrad war bis in die Mitte der 1990er Jahre nicht sehr hoch, so dass zahlreiche Untersuchungen, die vor dieser Zeit gestartet oder gar beendet waren, keine Gelegenheit hatten, eine Originalmessung zu verwenden. Mit der zunehmenden Zahl von Studienergebnissen wuchs dann das Interesse am theoretischen Konstrukt, so dass sich zahlreiche Arbeitsgruppen entschlossen, ihre vorhandenen Befragungsdaten auf die Möglichkeit hin zu prüfen, Proxy-Instrumente zu entwickeln. Darunter sind große Kohortenstudien wie die Whitehall II Studie, eine der größten epidemiologischen Kohortenstudien weltweit, aber auch Fall-Kontroll- und Querschnittsstudien. Zwischen 1996 und 2004 (inklusive) sind ca. 24 Studien publiziert worden, in denen das Gratifikationskrisenmodell mit Proxy-Maßen operationalisiert wurde70. Hier sollen vier davon vorgestellt werden, mit denen die Vorgehensweise bei der Erstellung und Verwendung von Proxies exemplarisch verdeutlicht werden kann. In Tabelle 15 sind Kurzbeschreibungen aufgeführt. Auffällig ist die 70 Die Identifikation erfolgte durch eine Datenbanksuche in Pubmed mit dem Stichtag 31.12.2004. Allerdings bleibt die Auswahl auf englisch- und deutschsprachigen Artikel begrenzt, was aber nur wenige Arbeiten, z.B. auf Chinesisch, ausschloss.
150
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Unterschiedlichkeit der Proxy-Maße, sie reichen von der alleinigen Verwendung des Einkommens als Messung der Belohnung bei Lynch und Mitarbeitern, bis zu der durch Faktoranalysen bestätigten Skalenbildung bei Kuper et al. Tabelle 15: Beispielstudien mit Proxy-Messungen Erstautor (Jahr )
Population
Design (F-U*)
Proxy-Maße
Gütekriterien der Proxy Messung
Lynch et al. (1997)
940 erwerbstätige Männer; 4260 Jahre
Prospektiv (M=4,2)
Verausgabung: 11 Items; z.B. enge Zeitvorgaben, hohe Verantwortung Belohnung: Einkommensquintile Intrinsisch: nein
Augenscheinvalidität mit Original; Verausgabung: Į=0.7
Bosma et al. (1998)
x gestestet: Progression Atherosklerose der Karotis
x Ergebnisse: Haupteffekte auf Plaquehöhe (p=.008) und Intimia-Media Dicke (p=.03).
10.308 britische Staatsbedienstete; 35-55 Jahre
Belohnung: 2 Items zu blockierten Aufstiegschancen Verausgabung (nur intrinsisch): 10 Items
Prospektiv (M=5,3)
x gestestet: Angina Pectoris Kivimäki et al. (2002)
812 MetallArbeiter; Altersspanne unklar
prospektiv (M=25,6)
x gestestet: kardiovaskuläre Mortalität Kuper et al. (2002)
10.308 britische Staatsbedienstete; 35-55 Jahre
prospektiv (M=11 Jahre)
x gestestet: A) koronare Herzkrankheit B) physische Symptome C) psychische Symptome
Augenscheinvalidität mit Original; Faktorenanalyse für Verausgabung
x Ergebnis: OR** 2.2 (1,2-4,0) Verausgabung: 9 Items; z.B. Hektik Belohnung: 16 Items; z.B. Zufriedenheit mit Einkommen Intrinsisch: nein
Augenscheinvalidität mit Original; Verausgabung: Į=0.72 Belohung: Į=0.80
x Ergebnis: HR*** 2.4 (1.3-4.4) Verausgabung: 5 Items; z.B. Arbeitstempo, Zeitmangel Belohnung: 10 Items; z.B. Unterstützung durch Vorgesetzte, Zufriedenheit mit Einkommen Intrinsisch: 1 Item; Beschäftigung mit der Arbeit nach Feierabend x Ergebnisse: A) HR*** 1.3 (1.2-1,7) B) OR** 1.5 (1,2-1,7) C) OR** 2.2 (1,9-2,7)
* Mittlerer Follow-up- oder Beobachtungszeitraum in Jahren ** Odds Ratio (in Klammern 95% Konfidenzintervall) *** Hazard Ratio (in Klammern 95% Konfidenzintervall)
Itemselektion durch Faktoranalyse; Vergleich mit einer späteren Originalmessung Verausgabung: Į=0.72 Belohung: Į=0.75
9.2 Proxy-Messungen: Beispiele
151
Die Arbeit von Lynch und Mitarbeitern, die auf Daten der Kuopio Ischemic Heart Study aus Finnland basiert, hat sich mit der Progression der Atherosklerose der Gefäßwand der Halsschlagader (Intima Media) beschäftigt. Die Basisuntersuchung fand zwischen 1984 und 1989 statt, so dass keine Messung beruflicher Gratifikationskrisen vorlag. Die Autoren wichen für die Operationalisierung von Verausgabung auf die Anforderungs-Items des Fragebogens zum Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek aus, der bei der Basiserhebung erfragt worden war. Aus den elf dichotomen Items konstruierten die Forscher einen Summenwert und klassifizierten diejenigen Probanden als belastet, die zu den 30 Prozent mit den höchsten Werten gehörten. Für Belohnung ließen sich dagegen keine Fragen finden, so dass alternativ das persönliche Einkommen verwendet wurde. Ein Einkommen, das zu den unteren 20% der Verteilung gehörte, wurde als niedrige Belohnung definiert. Schließlich wurden die beiden Maße kombiniert und zeigten trotz der einfachen Operationalisierung einen signifikanten Zusammenhang mit der Zunahme von Plaques und der maximalen Intima Media-Dicke, beides Risikofaktoren für einen Schlaganfall (Hollander et al. 2002). Das zweite Beispiel stammt aus der britischen Whitehall II Studie. Diese Untersuchung an einer Kohorte von über 10.000 Staatsbediensteten startete 1985 und dauert derzeit noch an. Sie bietet aufgrund der Länge des Zeitraums und des Umfangs der erfassten Erkrankungen zahlreiche Analysemöglichkeiten. Hans Bosma und Mitarbeiter berichteten 1998 über die Konstruktion einer ProxyMessung in der Studie. Verausgabung wurde lediglich in seiner intrinsischen Form operationalisiert. Dazu wurden Fragen aus zwei Persönlichkeitsinventaren, dem Feindseligkeits-Fragebogen von Cook und Medley (1954) und dem Framingham Typ-A-Instrument (Haynes, Levine, Scotch, Feinleib, Kannel 1978), identifiziert, die Ähnlichkeit mit der originalen Messung der intrinsischen Modellkomponente hatten. Mit Hilfe von Faktoranalysen wurden drei Skalen gebildet: Wettbewerbshaltung (3 Items), übersteigerte Verausgabungsneigung (4 Items) und Feindseligkeit (3 Items). Aus diesen zehn Items konnte dann ein Summenwert für Verausgabung gebildet werden. Die Belohnungsdimension musste mit nur zwei Items, die sich auf fehlende Aufstiegschancen bezogen, auskommen. Beide Summenwerte wurden in Tertile unterteilt und Personen im oberen Tertil als belastet eingestuft. Mit dieser Proxy-Messung konnten Bosma et al. zeigen, dass Personen mit hoher Verausgabung und niedriger Belohnung ein gegenüber unbelasteten Personen 2,2fach erhöhtes Risiko hatten, im Beobachtungszeitraum neu an Angina Pectoris zu erkranken. Auf diese Publikation folgten noch mehrere Arbeiten aus der Whithall-Arbeitsgruppe, die die Operationalisierung von Bosma nutzen. Signifikante Effekte im Längsschnitt zeigten sich für eine schlechte gesundheitsbezogene Lebensqualität (Stansfeld, Bosma, Hemingway, Marmot 1998), psychiatrische Störungen (Stansfeld, Fuhrer,
152
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Shipley, Marmot 1999), Alkoholabhängigkeit (Head, Stansfeld, Siegrist 2004) und Diabetes (Kumari et al. 2004). Die bisher vorgestellten Beispiele repräsentieren eher grobe Proxy-Maße. Näher an das Original angelehnt sind die im Folgenden beschriebenen Messungen. Die erste stammt aus einer Prospektivstudie mit 812 Angestellten und Arbeitern der Metallindustrie in Finnland (Kivimaki et al. 2002b). Diese zu Beginn der Studie gesunde Population konnte über einen Zeitraum von durchschnittlich 25,6 Jahren nachverfolgt werden, wobei als Endpunkt die kardiovaskuläre Sterblichkeit diente. Es zeigte sich, dass Personen mit einer Kombination aus hoher Verausgabung und niedriger Belohnung im Vergleich zu unbelasteten Personen ein 2,4fach erhöhtes Sterblichkeitsrisiko hatten. Zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen mussten Proxy-Maße aus dem Baseline-Fragebogen der Studie ausgewählt werden. Neun Fragen, die teilweise denen des Originalinstruments stark ähneln (z.B. Zeitdruck, physisch anstrengende Arbeit, hohes Arbeitsaufkommen) konnten der Verausgabungsdimension zugeordnet werden. Die Belohnungsdimension setzt sich aus sechzehn Fragen zusammen, beispielsweise zur Zufriedenheit mit dem Einkommen oder zur Unsicherheit des Arbeitsplatzes. Für beide Dimensionen wurden Summenwerte gebildet, und daraus der Verausgabungs-Belohnungs-Quotient kalkuliert. In Ermangelung passender Items blieb die intrinsische Komponente unberücksichtigt. Die aufwändigste Testkonstruktion findet sich im letzten Beispiel, dass wiederum aus der Whitehall II-Studie stammt. Nachdem der Fragebogen zu beruflichen Gratifikationskrisen bei der Basisuntersuchung und in den ersten Nachbefragungen nicht im Original erhoben worden war, führte die WhithallForschergruppe ihn bei der 1997-1999er Nachbefragung (Phase V) ein. Kuper und Kollegen (2002) machten sich dies zunutze, indem sie die Messung am gleichen Kollektiv als Referenz für die Konstruktion einer neuen Proxy-Messung für die Basiserhebung verwendeten. Items wurden mittels Hauptkomponentenanalyse ausgewählt und in konfirmatorischen Faktoranalysen auf Basis der Faktorstruktur der Originalmessung aus Phase V auf ihre Tauglichkeit für die Skalenbildung geprüft. Weiterhin testeten die Forscher die interne Konsistenz der gebildeten Skalen, die mit einem Cronbach’s Alpha von 0.72 für fünf Verausgabungsitems und 0.75 für zehn Belohnungsitems zufriedenstellend war. Ihre Messung setzten die Autoren ein, um den Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der Inzidenz von koronaren Herzkrankheiten sowie reduzierter physischer und mentaler Funktionsfähigkeit (SF-36) über einen Zeitraum von elf Jahren zu untersuchen. Studienteilnehmer mit beruflichen Gratifikationskrisen entwickelten häufiger eine KHK (Hazard Ratio=1,3) und wiesen eine reduzierte mentale (Odds Ratio=1,5) und physische Funktionalität (Odds Ratio=2,2) auf.
9.3 Entwicklung der Messinstrumente für die JEM
153
Das Fazit aus diesen Ergebnissen ist, dass Proxy-Messungen des Modells beruflicher Gratifikationskrisen in verschiedenen Langzeituntersuchungen gute Prädiktoren für manifeste Erkrankungen waren, was für die Verwendung solcher Stellvertreter-Instrumente spricht, wenn die Fragestellung ansonsten nicht zu bearbeiten wäre. Die Ausgangslage für die Konstruktion von Proxy-Messungen des Modells beruflicher Gratifikationskrisen in dieser Studie war demnach günstig. Es stand ein ausgiebig getestetes Messinstrument als Referenz zur Verfügung und es konnte auf die Erfahrung zahlreicher Studien zurückgegriffen werden, die die Methode der Proxy-Messung mit Erfolg angewandt hatten.
9.3 Entwicklung der Messinstrumente für die JEM 9.3.1 Itemauswahl Die erste praktische Aufgabe bei der Testentwicklung ist laut Krauth die „Anlage eines Itempools, d.h. in der Zusammenstellung aller möglichen manifesten Variablen (Reize, Aufgaben), die mit der oder den zu messenden latenten Variablen (Konstrukten) in Beziehung zu setzen sind“ (1995, S.20). Die Suche nach geeigneten Items begann mit einer Sichtung der Fragebögen der vier BIBB/IABSurveys. Dazu wurden die umfangreichen Codebücher71 auf Fragen hin durchsucht, die mindestens einer von drei vorher formulierten Anforderungen genügten: 1. Ähnlichkeit oder Übereinstimmung mit Fragenformulierungen aus dem Originalinstrument, 2. Ähnlichkeit oder Übereinstimmung mit Formulierungen, die bereits in Proxy-Instrumenten verwendet worden waren und 3. augenscheinliche Eignung als Indikator für eine der theoretischen Dimensionen des Modells. Das Ergebnis dieser Auswahl wurde in eine Matrix übertragen, in der den einzelnen Fragen des Originalinstruments die in den BIBB/IAB Erhebungen identifizierten potentiellen Proxy-Fragen für die jeweilige Erhebungswelle gegenübergestellt wurden. Eine Übersicht über die Fragenauswahl findet sich in Tabelle 16. Anhand dieser einfachen Aufstellung können aber bereits einige Grundprinzipien der Proxy-Instrumente deutlich gemacht werden. Auf alle vier Erhebungen bezogen erfüllten 43 Items die oben genannten Anforderungen, wobei die Zahl aber für die einzelnen Surveyjahrgänge deutlich schwankt. Der Trend ist eindeutig: je aktueller der Survey, desto mehr Variablen standen zu Verfügung. Dafür sind zwei Gründe anzuführen: 71 Die Codebücher 1979, 1985/86 und 1991/92 sind im Internet frei abrufbar (http://www.gesis.org/Datenservice/Themen/38Beruf.htm). Das Codebuch für die 1999 Erhebung muss gesondert bestellt werden.
154
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
1. Der Umfang der Fragebögen variierte insgesamt, da nicht jede Erhebung mit den gleichen finanziellen und personellen Mitteln ausgestattet war (Jansen 2002b, S.86f.). 2. Das Thema psychosoziale Arbeitsbelastungen spielte in den frühen Befragungen noch eine untergeordnete Rolle, ein Umstand, der der damals noch geringen Verbreitung der Forschungsergebnisse zu diesem Thema geschuldet ist. Es standen daher weniger Items zur Auswahl. Hinzu kommt, dass die enthaltenen Fragen mit psychosozialem Bezug in ihrer inhaltlichen Richtung die in den 1980er und 1990er Jahren vornehmlich beforschten Gebiete quantitativer Arbeitsanforderungen, beispielsweise Akkordarbeit und Kontrolle über den Arbeitsplatz (Monotonie etc.), wiederspiegeln. Solche Items waren für den verfolgten Zweck unbrauchbar, was sich in der in Tabelle 16 sichtbaren Diskrepanz zwischen insgesamt verfügbaren Items zu psychosozialen Arbeitsbelastungen und den ausgewählten Items niederschlägt. Erst ab der Erhebung 1991/92 wurde das Spektrum der abgefragten Belastungen vielseitiger, auch wenn immer noch ein Gutteil der Fragen nicht mit den theoretischen Vorgaben in Einklang zu bringen war. Tabelle 16: Itemauswahl (Anzahl) Erhebung 1979
1985/86
1991/92
1998/99
Variablen insgesamt
444
190
319
788
Variablen mit Bezug zu psychosozialen Arbeitsbelastungen insgesamt
38
30
36
44
Ausgewählt,
9
6
10
18
davon extrinsisch Verausgabung Belohnung
5 4
5 1
4 6
9 9
davon intrinsisch
0
0
0
0
Betrachtet man die Zahl der Items für die einzelnen Modellkomponenten und -dimensionen in Tabelle 16, fällt auf, dass es für den intrinsischen Teil des Modells keine Varianz zwischen den Erhebungen gibt, was aber kein Grund zur Freude ist, da die Anzahl immer bei Null liegt. Es ließen sich in keinem der Codebücher geeignete Variablen finden, ein Resultat der thematischen Ausrichtung der BIBB/IAB-Untersuchungen bei denen arbeitsorganisatorische Fragestellungen im Mittelpunkt standen, während psychisch-motivationale Aspekte keine Berücksichtigung fanden. Wenn also im folgenden die Proxy-Instrumente und
9.3 Entwicklung der Messinstrumente für die JEM
155
deren Verwendung in den JEMs beschrieben werden, ist stets nur der extrinsisch vermittelte Teil beruflicher Gratifikationskrisen gemeint. Obwohl diese Einschränkung kritisch gesehen werden muss, da sie letztlich eine Reduktion der prädiktiven Kraft der Messung bedeutet, ist das Fehlen der intrinsischen Komponente insofern zu verschmerzen, als in der bisherigen Forschung der Messschwerpunkt eindeutig auf der extrinsischen Komponente lag und damit stabile und replizierbare Ergebnisse zum Zusammenhang mit Krankheitsrisiken gefunden wurden (vgl. Tsutsumi & Kawakami 2004 ; van Vegchel et al. 2005). Eine weitere Einschränkung, die bereits an dieser Stelle sichtbar wird ist, dass die extrinsische Belohnungsdimension nicht weiter in ihre Subdimensionen zerlegt wird. Dies entspricht zwar der bisherigen Praxis, alle Items, ungeachtet welchen Aspekt von Belohnung sie messen, zu einem Wert zusammenzufassen, neuere Arbeiten haben aber gezeigt, dass es die Aussagekraft des Modells erhöht, wenn für jede der drei Belohnungsdimensionen ein eigener Summenwert gebildet wird (Dragano et al. 2003). Nichtsdestotrotz musste auf ein solches Vorgehen verzichtet werden, da in den BIBB/IAB-Erhebungen nicht genügend Fragen vorhanden waren, um alle Dimensionen ausreichend abzubilden. Welche Items nun im Einzelnen für die Operationalisierung von extrinsischer Verausgabung und Belohnung ausgewählt wurden, zeigt Tabelle 17, in der die Kurztitel der Fragen für die vier Surveyjahrgänge aufgeführt sind. Die hochgestellten Großbuchstaben verweisen auf das jeweilige Antwortformat der Frage. In dieser Aufstellung sind zwei weitere Charakteristika der Auswahl zu erkennen: erstens die inhaltliche Variation der Items zwischen den Surveys und zweitens die Variation der Antwortformate innerhalb und zwischen den Surveys. Variierende Items Die Gründe für diese Varianz sind bereits dargelegt worden. Angesichts der Unterschiede in der Anzahl der Items und der mit ihnen abgedeckten Inhalte muss aber nochmals daran erinnert werden, dass für jede BIBB/IAB-Erhebung eine eigenständige, von den anderen Jahrgängen unabhängige JEM entwickelt wurde. Wie in Kapitel 6 und 10 beschrieben, decken sie jeweils klar definierte Zeiträume ab, die für Fälle und Kontrollen gleichermaßen gelten. Eine wie auch immer geartete Verzerrung durch Unterschiede in der Qualität der JEMs wird sich demnach nicht systematisch auf die Studienergebnisse auswirken. Gleichwohl wird die Genauigkeit der Belastungszuordnung über die Berufsbiographie insgesamt verringert, wenn manche JEMs das Modell weniger gut erfassen (insbesondere die beiden frühen JEMs mit geringerer Itemzahl). In der Regel resultiert daraus eine unsystematische Fehlklassifikation der Belastung, die sich darin
156
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Tabelle 17: Operationalisierung von Verausgabung und Belohnung: Fragen und Antworten Erhebung
Verausgabung
Belohnung A
1998/99
-Termin- oder Leistungsdruck -hohe Konzentrationsanforderungen A -Zufriedenheit mit Arbeitsdruck C -häufige Störungen/Unterbrechungen A -kleine Fehler = finanzielle Verluste A -regelmäßige Überstunden I -an Grenze der Leistungsfähigkeit gehnA -Stress und Arbeitsdruck in den letzten 2 Jahren zugenommen J -verschiedene Arbeiten gleichzeitig A
-zufrieden mit Einkommen C -zufrieden mit Betriebsklima C -zufrieden mit AufstiegsmöglichkeitenC -zufrieden WeiterbildungsmöglichkeitenC -zufrieden mit Vorgesetzten C -Gefahr der Entlassung D -Tätigkeit auch mit geringerer Ausbildung ausführbar H -Zusammenhalt unter Kollegen in den letzen 2 Jahren abgenommen J -zu unrecht schikaniert H
1991/92
-Termin- und Leistungsdruck A -hohe Konzentrationsanforderungen A -zufrieden mit Arbeitsdruck C -auf Zusammenarbeit anderer angewiesen sein A
-zufrieden mit Einkommen C -zufrieden mit Betriebsklima C -zufrieden mit Aufstiegsmöglichkeiten C -zufrieden WeiterbildungsmöglichkeitenC -Gefahr der Entlassung D -Tätigkeit auch mit geringerer Ausbildung ausführbar G
1985/86
-Termin- und Leistungsdruck A -hohe Konzentrationsanforderungen A -Häufige Störungen/Unterbrechungen A -kleine Fehler = finanzielle Verluste A -verschiedene Arbeiten gleichzeitig A
-Bruttolohn pro Arbeitsstunde
1979
-Termindruck A -hohe Konzentrationsanforderungen A -kleine Fehler = finanzielle Verluste A -genaue Zeitvorgaben für die Arbeit A -verschiedene Arbeiten gleichzeitig A
-Bruttolohn pro Arbeitsstunde -Tätigkeit in den letzten 2 Jahren gleichförmiger und eintöniger geworden E - Gefahr der Entlassung F - Tätigkeit auch mit geringerer Ausbildung ausführbar B
Antwortformate (“Fett“ = Belastung liegt vor) A: B:
C: D: E: F: G: H: I: J:
1=“praktisch immer“ 2=“häufig“ 3=“immer mal wieder“ 4=“selten“ 5=“praktisch nie“ 1=“genannt“ 2=“nicht genannt“ 8=“nichts davon“ 9=“keine Angabe“ – Der einleitende Fragetext lautet: „Ich lese Ihnen nun eine Reihe von Arbeitsbedingungen vor. Sagen Sie mir bitte zu jedem Punkt, ob dies bei Ihrer Arbeit regelmäßig und häufig vorkommt“ 1=“sehr zufrieden“ 2=“im Grossen und Ganzen zufrieden“ 3=“eher unzufrieden“ 4=“sehr unzufrieden“ 1=“sehr hoch“ 2=“hoch“ 3=“eher gering“ 4=“besteht überhaupt keine Gefahr“ 1=“vielseitiger und interessanter“ 2=“gleichförmiger und eintöniger“ 3=“hat sich so gut wie nichts geändert“ 1=“hoch“ 2=“mittel“ 3=“niedrig“ 1=“Ja, auch mit geringerer Ausbildung“ 2=“Ja, auch mit anderer Ausbildung“ 3=“Nein“ 1=“Ja“ 2=“Nein“ 1=“regelmäßig“ 2=“gelegentlich“ 3=“nie“ 1=“zugenommen“ (Frage Arbeitsdruck) 2=“gleichgeblieben“ 3=“abgenommen“ (Frage Zusammenhalt Kollegen)
9.3 Entwicklung der Messinstrumente für die JEM
157
niederschlägt, dass Zusammenhänge zwischen Belastung und Frühberentung schwerer oder gar nicht mehr sichtbar gemacht werden können (siehe auch Kap. 12). Variierende Antwortkategorien Es findet sich eine Vielzahl verschiedener Antwortkategorien, die von likertskalierten Items bis hin zu Ja/Nein-Antworten reichen. Eine Harmonisierung der Skalen im Sinne einer mehrstufigen kategorialen Skalierung wäre daher kaum möglich gewesen. So mussten alle Items dichotomisiert werden, bevor Summenwerte gebildet werden konnten. Die Einteilung der Antwortkategorien in ‚nicht belastet’ und ‚belastet’ (gefettet) ist Tabelle 17 zu entnehmen. Als Zahlenwerte wurden für Verausgabungsitems eine 1 für „nicht belastet“ und eine 2 für „belastet“ vergeben, bei den Belohnungsitems war es genau umgekehrt, damit sich bei der späteren Skalenbildung eine niedrige Belohnung auch durch eine niedrige Zahl auf der Skala wiedergespiegelte. Eine Ausnahme im ansonsten kategorialen Variablen-Ensemble ist die Variable „Bruttolohn pro Arbeitsstunde“, die Teil der Belohnungsdimension der 1979er JEM und der 1985/86er JEM ist. Die Kategorisierung erfolgte daher verteilungsbasiert (für Männer und Frauen getrennt), indem zunächst Quintile gebildet und in Anlehnung an die von Lynch und Mitarbeitern (s.o.) entwickelte Proxy-Messung Personen in den beiden untersten Quintilen – also die unteren 40% – als durch niedrige Belohnung belastet eingestuft wurden.
9.3.2 Skalenbildung Die Messwerte für die beiden Dimensionen Verausgabung und Belohnung sind durch Addition aller Items der entsprechenden Skala gebildet worden. Diese beiden Skalenwerte wurden dann zu einem Wert für berufliche Gratifikationskrisen zusammengefasst72. Dazu ist der Verausgabungswert durch den mit einem 72 Bei der Bildung von Skalen aus mehreren Variablen stellt sich die Frage, wie mit fehlenden Werten (Item-Nonresponse) umgegangen werden soll, da bereits eine fehlende Antwort dazu führt, dass für die betroffene Person kein Skalenwert berechnet werden kann. Auch in den BIBB/IAB-Erhebungen traten solche Ausfälle auf. Es wurde aber entschieden, für die Berechnung der JEM-Belastungswerte nur Personen mit vollständigen Werten zu berücksichtigen und keine Maßnahmen zur Ersetzung fehlender Werte zu ergreifen. Der Ausschluss von Personen mit Item-Nonresponse wurde durch umfangreiche Analysen abgesichert, bei denen zunächst nach einer möglichen Systematik des Ausfalls gesucht wurde und anschließend in einem von Hemmingsson und Lundberg (1998) vorgeschlagenen Simulationsverfahren, welches im Wesentlichen auf der mathematischen Ersetzung fehlender Antworten basiert, getestet wurde, mit welchen verzerrenden Konsequenzen durch Nonresponse gerechnet werden muss. Die Ergebnis-
158
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Korrekturfaktor für abweichende Itemzahlen (Anzahl Verausgabungsitems/Anzahl Belohnungsitems) multiplizierten Belohnungswert geteilt worden. Der mit dieser Prozedur für jeden Teilnehmer der BIBB/IAB-Erhebungen ermittelte Verausgabungs-Belohnungs-Quotient ist die zentrale Belastungsmessung in dieser Untersuchung und Grundlage der Erstellung der JEMs. Der Wertebereich des Quotienten liegt zwischen 0,5 und 2. Als Folge der unterschiedlichen Poolung der Skalen steht ein hoher Quotient für ein hohes VerausgabungsBelohnungs-Ungleichgewicht und ist ein Indikator für das Vorliegen einer beruflichen Gratifikationskrise. Die Mittelwerte des Quotienten und seiner Subskalen Verausgabung und Belohnung sind in Tabelle 18 aufgeführt. Angesichts der unterschiedlichen Itemzahl der beiden Subskalen in den vier Erhebungswellen wird nicht der absolute Summenwert gezeigt, sondern der durch die Anzahl der Items geteilte Wert, der standardisiert zwischen 1 (niedrige Verausgabung bzw. niedrige Belohnung) und 2 (hohe Verausgabung bzw. hohe Belohnung) liegt. Dennoch können Mittelwerte und Standardabweichungen der verschiedenen Jahre nur eingeschränkt verglichen werden, da sie nach wie vor von der Anzahl, dem Inhalt und der Antwortverteilung der verwendeten Items abhängen. Deskriptive Trendaussagen sind also nur eingeschränkt möglich. Auffällige Abweichungen zeigen sich für die 1985/86er und die 1998/99er Erhebung. Der Quotient ist in der ersteren vergleichsweise hoch, was durch niedrige Belohnungswerte erklärt wird, die wiederum aus der Verwendung nur eines Items resultieren. Im Vergleich zu den anderen JEMs liegt der Mittelwert des Quotienten in der jüngsten Erhebung niedriger. Verantwortlich sind im Durchschnitt kleine Werte auf der Verausgabungsskala, die aus der Einbeziehung verhältnismäßig vieler Items mit teilweise niedriger Prävalenz der Belastungskategorie resultieren. Die Verteilung der Werte nach Alter und Geschlecht ist dagegen in allen vier Erhebungsjahren sehr ähnlich: Männer haben einen höheren Quotienten als Frauen und beim Alter ist eine leicht höhere Belastung durch berufliche Gratifikationskrisen bei jüngeren Beschäftigten zu erkennen. Wenn sich die Hypothesen, die in dieser Arbeit geprüft werden, bestätigen, könnte der Alterseffekt unter anderem dadurch zustande gekommen sein, dass hoch belastete Personen eher aufgrund von Krankheit aus dem Berufsleben ausscheiden und daher bei den älteren Erwerbstätigen der Anteil von Belasteten insgesamt abnimmt, weil nur die Gesunden und Unbelasteten im Erwerbsleben verbleiben (‚healthy worker effect’).
se können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden, das Fazit der Analysen war aber, dass sich der Item-Nonresponse als unbedeutend für die Bestimmung der Belastungswerte erwies.
9.3 Entwicklung der Messinstrumente für die JEM
159
Tabelle 18: Skalen beruflicher Gratifikationskrisen nach Alter u. Geschlecht in den Stichproben zur Erstellung der JEMs – Mittel (Standardabw.) 1979 Verausgabung Gesamt
Erhebung 1985/86 1991/92
1998/99
1,41 (0,29)
1,39 (0,29)
1,52 (0,29)
1,33 (0,25)
Geschlecht
Männer Frauen
1,44 (0,29) 1,36 (0,27)
1,40 (0,29) 1,34 (0,28)
1,55 (0,29) 1,47 (0,30)
1,37 (0,26) 1,29 (0,24)
Alter
20-29 J. 30-39 J. 40-49 J. 50-59 J.
1,41 (0,28) 1,42 (0,29) 1,41 (0,29) 1,39 (0,29)
1,36 (0,28) 1,39 (0,28) 1,40 (0,29) 1,36 (0,29)
1,51 (0,29) 1,54 (0,29) 1,53 (0,30) 1,51 (0,30)
1,30 (0,24) 1,35 (0,26) 1,34 (0,25) 1,34 (0,26)
Belohnung Gesamt
1,76 (0,23)
1,60 (0,49)
1,77 (0,23)
1,78 (0,21)
Geschlecht
Männer Frauen
1,77 (0,23) 1,74 (0,24)
1,59 (0,49) 1,59 (0,49)
1,79 (0,22) 1,73 (0,23)
1,79 (0,20) 1,78 (0,20)
Alter
20-29 J. 30-39 J. 40-49 J. 50-59 J.
1,73 (0,23) 1,79 (0,22) 1,77 (0,23) 1,77 (0,22)
1,46 (0,50) 1,68 (0,46) 1,67 (0,47) 1,62 (0,49)
1,75 (0,23) 1,77 (0,22) 1,78 (0,22) 1,77 (0,23)
1,77 (0,21) 1,78 (0,21) 1,79 (0,21) 1,80 (0,20)
Quotient Gesamt
0,81 (0,20)
0,96 (0,36)
0,87 (0,22)
0,77 (0,20)
Geschlecht
Männer Frauen
0,82 (0,20) 0,80 (0,19)
0,97 (0,36) 0,93 (0,35)
0,89 (0,21) 0,87 (0,23)
0,79 (0,20) 0,74 (0,19)
Alter
20-29 J. 30-39 J. 40-49 J. 50-59 J.
0,83 (0,20) 0,81 (0,20) 0,80 (0,19) 0,79 (0,18)
1,04 (0,38) 0,91 (0,34) 0,92 (0,34) 0,93 (0,35)
0,88 (0,23) 0,89 (0,22) 0,88 (0,21) 0,87 (0,22)
0,75 (0,20) 0,78 (0,20) 0,77 (0,20) 0,76 (0,19)
9.3.3 Einfügen der Belastungsdaten in die JEM Der letzte Bauabschnitt zur fertigen JEM war das Einfügen des Quotienten in die Matrizen, wobei für jeden Arbeitsplatztyp der Median aller Befragten in diesem Typ gebildet wurde, z.B. der mediane Quotient aller Maurer, der aller Sprengmeister, der aller Ärzte usw.. Die Berechnung der Mediane erfolgte für Männer und Frauen getrennt, so dass jede JEM genaugenommen aus zwei JEMs, einer für Männer und einer für Frauen, besteht. Der Median als Belastungsmaßzahl wurde gewählt, da er bei den teilweise kleinen Fallzahlen in den einzelnen Arbeitsplatztypen weniger empfindlich gegen Ausreißer ist als der Mittelwert. Ta-
160
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
belle 19 gibt Auskunft über die Lage des Median in den vier JEMs über alle Arbeitsplatztypen. Die Abweichungen zwischen den einzelnen Erhebungszeitpunkten sind nun etwas geringer als bei den oben in Tabelle 18 gezeigten Mittelwerten. Da in der Fall-Kontroll-Studie jede JEM einen klar abgegrenzten Zeitraum abdeckt, der für alle Studienpersonen gilt, sind diese Differenzen aber unproblematisch73. Tabelle 19: Mediane des Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten in den vier Job-Exposure-Matrizen 1979
1998/99
0,80 (0,20)
0,90 (0,36)
0,87 (0,22)
0,72 (0,20)
Männer
0,80 (0,20)
0,90 (0,36)
0,87 (0,21)
0,77 (0,20)
Frauen
0,80 (0,20)
0,80 (0,35)
0,83 (0,23)
0,71 (0,19)
Gesamt* Geschlecht*
Erhebung 1985/86 1991/92
* (Standardabweichung in Klammern)
9.4 Qualität der Messinstrumente Technisch gesehen wäre die Messung nun soweit vorbereitet, um in die Struktur der JEMs eingefügt zu werden. Allerdings ist eine wichtige Frage, die bei den Ausführungen zur Testtheorie bereits anklang, bisher noch unbeantwortet geblieben, nämlich die nach der Qualität der Messung. Konkreter formuliert: sind die ausgewählten Items überhaupt eine geeignete Abbildung beruflicher Gratifikationskrisen oder sind sie eine Ansammlung von Einzelbedingungen, die außer dem Zufall nichts verbindet? Eine Bewertung kann mit Hilfe von Annahmen über die Natur der Datengewinnung in den Verhaltenswissenschaften vorgenommen werden, der sogenannten Testtheorie (vgl. Crocker & Algina 1986). Deren Grundfrage ist die nach der Beziehung zwischen dem Messinstrument und dem theoretischen Konstrukt, für das es steht (Diekmann 2001, S.228ff. ; Rost 2004, S.17ff. ; Steyer & Eid 1993, S.2ff.; 99ff.). Um zu sicherzustellen, dass die Beziehung Messung-
73 Ein verzerrender Einfluss der Differenzen auf die Ergebnisse der Fall-Kontroll-Studie ist nicht wahrscheinlich, weil ein Effekt nur dann zu erwarten wäre, wenn Fälle und Kontrollen im Laufe ihrer Erwerbsbiographie eine verschiedene berufliche Mobilität gezeigt hätten. Hierfür gab es aber keine Anzeichen.
9.4 Qualität der Messinstrumente
161
Konstrukt möglichst eng ist, hält die klassische Testtheorie74 ein umfangreiches methodisches und teststatistisches Angebot bereit, um die Güte eines Messinstruments abzuschätzen. Dabei wird in der Regel zwischen drei Aspekten der Güte unterschieden: der Objektivität, der Reliabilität und der Validität (Diekmann 2001, 216ff. ; Rost 2004, S.33ff.). Diese Hauptgütekriterien leiten sich aus einer Grundannahme der Testtheorie ab, die besagt, dass sich das Ergebnis (E) einer Messung aus dem wahren Wert (W) und einem Messfehler (M) zusammen setzt (Schnell et al. 1995, S. 140). Setzt man E=W+M voraus, folgt zunächst die ernüchternde Erkenntnis, dass der wahre Wert abgesehen von seltenen Ausnahmen nie alleine, sondern immer in mal mehr, mal weniger unangenehmer Begleitung eines Messfehlers angetroffen wird. Die Gestalt dieses Fehlers, der die Abweichung des beobachteten vom (unbekannten) wahren Wert angibt, ist demnach ausschlaggebend für die Qualität der Messung. Diese Gestalt kann mit den bereits erwähnten Einschränkungen, die aus der Verwendung von Sekundärdaten resultieren, für die Proxy-Messungen beschrieben werden.
9.4.1 Objektivität Das Gütekriterium Objektivität zielt auf die Unabhängigkeit der Messung von störenden Umgebungseinflüssen wie dem Untersucher selbst, der Form in der ein Testinstrument präsentiert wird (z.B. Interview, Fragebogen) oder der Auswertungsmethode. Entsprechend werden drei Formen der Objektivität unterschieden, die Durchführungs-, die Auswertungs- und die Interpretationsobjektivität (Geyer 2003, S.38f. ; Lienert et al. 1994, S.7f.). Die beiden letztgenannten bezeichnen ähnliche Probleme, sie sind aber eher im Kontext von Beobachtungen, Leistungstests oder diagnostischen Verfahren von Bedeutung, wo das Testergebnis nachträglich ermittelt wird. Die Daten dieser Untersuchung stammen aber aus einer standardisierten Befragung, bei der sowohl Fragen als auch Antworten und 74 Neben der klassischen Testtheorie hat sich inzwischen eine „moderne“ Testtheorie (auch itemresponse-oder probabilistische Testtheorie genannt) etabliert. Sie ist der klassischen aber nicht diametral entgegengesetzt, vielmehr ist der moderne Ansatz eine Weiterentwicklung und Ergänzung dessen. Auf die Darstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten wird hier mit Verweis auf eine umfangreiche Literatur verzichtet (Crocker et al. 1986 ; Hambleton & Swaminathan 1985 ; Kline 1998 ; Rust & Golombock 1989 ; Hays, Morales, Reise 2000). In dieser Arbeit kamen zudem nur Methoden der klassischen Testtheorie zur Anwendung, da sie a) nach wie vor die Basis für die meisten Fragebogeninstrumente in den Sozialwissenschaften bilden (Lienert & Ratz 1994, S.5) und b) geringere Voraussetzungen an den Umfang und die Qualität der einer Testentwicklung zugrundeliegenden Datenbasis stellen als die komplexen Verfahren der probabilistischen Testtheorie (Hays et al. 2000). Der letzte Punkt war von besonderer Bedeutung, da bekanntlich auf vorhandene Daten zurückgegriffen werden musste, die nicht zum Zweck der Testkonstruktion erhoben worden waren.
162
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
deren Codierung in Messwerte (Zahlen) vorgeben wurden. Abgesehen von möglichen Fehlern bei der Erfassung der Daten kann demnach die Auswertungs- und Interpretationsobjektivität als erfüllt angesehen werden (vgl. Schelten 1980, S.126). Anders verhält es sich mit der Durchführungsobjektivität, die bei mündlichen Befragungen nicht unbedingt gegeben ist, da zahlreiche situative Einflüsse auf das Antwortverhalten bekannt sind (Sudman, Bradburn, Schwarz 1996 ; Tourangeau, Rips, Rasinski 2000). Um eine Verzerrung der Messung durch die Methode ihrer Durchführung zu vermeiden, muss daher ein möglichst hoher Grad an Standardisierung erreicht werden. Diese Bedingung war in den BIBB/IAB-Studien erfüllt, die Durchführung der standardisierten Interviews wurde zu allen vier Zeitpunkten durch erfahrende Umfrageinstitute mit geschulten und supervisierten Interviewern realisiert (ausführlich dazu Kap. 7).
9.4.2 Reliabilität Wenn ein Messinstrument eine hohe Genauigkeit hat, kann es als reliabel (zuverlässig) bezeichnet werden. Diese Fähigkeit äußert sich vor allem darin, dass Messergebnisse reproduzierbar sind, d.h. dass bei ansonsten unveränderten Bedingungen der Test bei einer Wiederholung ein vergleichbares Ergebnis liefert. Bezogen auf das E=W+M Modell bedeutet dies, dass ein reliabler Test einen kleinen Fehleranteil M aufweist (Friedenberg 1995, S.181 ; Steyer et al. 1993, S.104). Dabei ist es zunächst ohne Belang, ob der Test auch inhaltlich das misst, was er laut Theorie erfassen soll, solange er das, was er misst, genau und reproduzierbar misst. Die Reliabilität kann mit verschiedenen Methoden geprüft werden, von denen hier nur eine, die Methode der Testhalbierung zur Ermittlung der internen Konsistenz, angewendet werden konnte. Eine kurze Beschreibung der nicht berücksichtigten Methoden zeigt, warum diese Beschränkung nicht zu vermeiden war. Die zahlreichen Reliabilitätstests, die in der Literatur angeboten werden, lassen sich zwei grundlegenden Prinzipien zuordnen (Kaplan & Saccuzzo 2001, S.105ff.): 1. Retest-Reliabilität: Sie wird geprüft, indem ein Test an der selben Person wiederholt wird. Eine hohe Korrelation von Test und Retest spricht für eine hohe Zuverlässigkeit. 2. Die Paralleltest-Reliabilität: Hier werden den Versuchspersonen zum gleichen Zeitpunkt zwei vergleichbare Tests (Parallelformen) vorgelegt und die Ergebnisse korreliert. Beide Ansätze hätten Daten verlangt, die nicht zur Verfügung standen. Daher blieb nur die Prüfung der inneren Konsistenz. Dieser Ansatz fußt auf der Grund-
9.4 Qualität der Messinstrumente
163
idee der Paralleltest-Reliabilität und besagt, dass die Items einer Skala als Ansammlung äquivalenter Tests aufgefasst werden können und daher entsprechend korrelieren sollten (Friedenberg 1995, S.194). Tun sie dies, ist die innere Konsistenz der Skala hoch und man erhält auch ohne Vergleichsmessung einen Anhaltspunkt für die Reliabilität. Das verbreitetste Gütemaß für diese Korrelation ist das Cronbach´s Alpha, das auf den Interkorrelationen aller Items beruht (Kaplan et al. 2001). Da sich die interne Konsistenz immer nur auf eine Dimension bezieht, wurde sie für die Verausgabungs- und die Belohnungsdimension getrennt ermittelt. Tabelle 20 zeigt die Koeffizienten, die zum Teil deutliche Schwankungen zwischen den vier Surveys aufweisen, was aber erwartet werden konnte, da der Alphakoeffizient stark von der Länge des Tests, d.h. von der Gesamtzahl der Items abhängt (Schelten 1980, S.117f.). Dieckmann (2001, S.220ff.) demonstriert etwa für eine hypothetische Skala mit fünf Items und einer Reliabilität von 0,62 bei Aufstockung um zehn Items einen Anstieg des Cronbach’s Alpha auf 0,83. Unterschiede zwischen den Alphawerten sind daher zum Teil durch die unterschiedliche Itemanzahl zu erklären. Die Beurteilung der inneren Konsistenz fällt entsprechend gemischt aus. Legt man das in der Literatur angegebene Maximalkriterium an, dass nur Werte > 0,7 als zufriedenstellend gelten können, so verfehlen alle Skalen bis auf die 1998/99er Verausgabungsskala das Gütekriterium (z.B. Bland & Altman 1997 ; Kline 1998, S.31). Allerdings ignoriert diese starre Grenzsetzung die Varianz des Koeffizienten in Abhängigkeit von der Itemanzahl. Weil sie sich außerdem auf getestete psychometrische Instrumente bezieht, ist zu fragen, wie strikt die Auslegung in dieser Situation, in der es sich um Proxy-Messungen mit wenigen Variablen und mit nachträglich dichotomisierten Antwortformaten dreht, zu sein hat. Dichotome Variablen erzeugen allgemein niedrigere Korrelationen als polytome oder metrische Variablen und es ist wahrscheinlich, dass die präsentierten Alphawerte die tatsächliche interne Konsistenz unterschätzen (Kim & Mueller 1978, S74f.). Hinzu kommt, dass das Cronbach´s Alpha nur die untere Grenze der Reliabilität angibt, so dass auch bei niedrigen Werten eine hohe innere Konsistenz bestehen kann (Kaplan et al. 2001, S.110). Angesichts der genannten Einschränkungen erscheinen die Werte, abgesehen von denen der Belohnungsskala in der ältesten BIBB/IAB-Erhebung75, insgesamt akzeptabel. Positiv ist zu vermerken, dass die Unterschiede zwischen
75 Die Item-Skalen-Korrelation (nicht gezeigt) der vier Items war lediglich für das Item „Tätigkeit in den letzten 2 Jahren eintöniger geworden“ klein, so dass seine Streichung zu einer Verbesserung der Reliabilität geführt hätte (Männer 0,30 / Frauen 0,35). Angesichts dieser marginalen Verbesserung wurde das Item beibehalten, um den Vorteil bei der Reliabilität nicht mit potentiellen Nachteilen bei der inhaltlichen Validität zu erkaufen.
164
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Männern und Frauen insgesamt gering sind, was für Vergleichbarkeit der geschlechtsstratifizierten JEMs hinsichtlich der Reliabilität spricht. Tabelle 20: Alpha (Į)-Koeffizienten für die verschiedenen JEM Jahrgänge Erhebung 1998/99 1991/92 1985/86 1979
Dimension (Items)
Gesamt Į
Männer Į
Frauen Į
Verausgabung (9)
0,72
0,71
0,71
Belohnung (9)
0,66
0,67
0,66
Verausgabung (4)
0,49
0,45
0,51
Belohnung (6)
0,57
0,57
0,56
Verausgabung (5)
0,56
0,57
0,55
Belohnung (1)
/ (nur 1 Item)
/
/
Verausgabung (5) Belohnung (4)
0,55 0,28
0,56 0,28
0,52 0,28
9.4.3 Validität Von den drei Gütekriterien ist die Validität (oder Gültigkeit) das wichtigste, denn sie gibt an, ob ein Messinstrument inhaltlich das misst, was es messen soll. Ein Instrument kann objektiv und reliabel einen Messwert produzieren, der kein valider Indikator für das zugrundeliegende Konstrukt ist. Beispielsweise könnte ein Fragebogen zu psychosozialen Arbeitsbelastungen bei den Befragten etwas anderes auslösen als das, was der Forscher intendiert hat. Vielleicht berichtet der Befragte statt des Ausmaßes an Arbeitsbelastungen eine negative Stimmung oder sein persönliches Bewältigungsverhalten in einer Stresssituation. Somit wäre der Test keine valide Messung für psychosoziale Arbeitsbelastungen. Wie bei der Reliabilität unterscheidet die Literatur zahlreiche Aspekte der Validität und bietet entsprechend viele Prüfmethoden an. Dabei variiert die Begriffsverwendung ebenso wie die Bedeutung, die den einzelnen Aspekten zugemessen wird, so dass für die Darstellung eine Auswahl getroffen werden musste. Um die Validität der Proxy-Messungen zu beschreiben, wurde daher auf Vokabular und Systematik der deutschen sozialwissenschaftlichen Methodenliteratur zurückgegriffen, die im Wesentlichen drei übergeordnete Dimensionen der Validität unterscheidet, die Inhalts-, die Kriteriums- und die Konstruktvalidität (vgl. Bortz et al. 1995 ; Diekmann 2001 ; Schnell et al. 1995).
9.4 Qualität der Messinstrumente 9.4.3.1
165
Inhaltsvalidität
Die Bedeutung der Inhaltsvalidität (oder Augenscheinvalidität) kann anhand eines Beispiels beschrieben werden: Ein Fragebogen, der den Anspruch hat, Belohnung im Sinne des Modells beruflicher Gratifikationskrisen zu erfassen, aber nur Fragen zur Anerkennung eigener Leistungen durch Vorgesetzte und Kollegen enthält, wäre inhaltlich nur eingeschränkt valide, weil er nicht alle theoretischen Dimensionen des Konstrukts wie monetäre Belohnung oder Arbeitsplatzsicherheit berücksichtigt. Diekmann spricht in diesem Zusammenhang von einem „hypothetischen Universum von Items“ (2001, S.224), das die ganze inhaltliche Breite eines Konstrukts umfasst. Inhaltsvalidität meint, dass sich alle theoretischen Dimensionen des Konstrukts in der Messung wiederfinden müssen, das hypothetische Universum also - frei nach Stephen Hawking - in die Nussschale passt. Das oben gewählte Beispiel problematisiert bereits die Konstruktion der Messinstrumente in dieser Studie, insbesondere im Vergleich zwischen den JEMs. Die zur Verfügung stehenden Items erlaubten es nicht, das durch die Modellvorgaben umrissene Spektrum in allen vier Surveys gleichmäßig abzudecken. In der 1985/85er Erhebung wird beispielsweise die Belohnungsdimension nur durch ein Item (Bruttolohn) repräsentiert, während in den 1991/92er und 1998/99er Erhebungen für alle drei Belohnungsdimensionen Fragen enthalten sind. Diese Varianz, die in diesem Kapitel bereits unter dem Stichwort „variierende Items“ diskutiert wurde, muss, wie schon das Fehlen der intrinsischen Modellkomponente, als Schwachpunkt verbucht werden. Positiv ist dagegen anzumerken, dass in der Mehrzahl der JEMs trotz insgesamt geringer Itemanzahl eine gewisse inhaltliche Vielfalt erreicht werden konnte. Ein statistischer Beleg sowohl für die negativen als auch die positiven Indizien ist aber nicht möglich, da es für die Höhe der Inhaltsvalidität keine Kennziffer gibt (Bortz et al. 1995, S.185). Die Beurteilung muss unter Kenntnis der theoretischen Grundlagen und der vorhandenen Messinstrumente rein subjektiv erfolgen (Lienert et al. 1994, S.12f.).
9.4.3.2
Kriteriumsvalidität
Diese Form der Validität liegt vor, wenn die Messung des latenten Konstrukts mit anderen, inhaltlich bedeutsamen Kriterien korreliert. Unter Kriterien werden Variablen verstanden, die nach den theoretischen Vorgaben mit der Messung assoziiert sein müssten, beispielsweise sollte eine Messung für gesundheitsschädlichen Arbeitsstress mit der Erkrankungswahrscheinlichkeit korrelieren.
166
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
In Abhängigkeit vom gewählten Kriterium wird zwischen der prädiktiven Validität und der Übereinstimmungsvalidität differenziert (Bortz et al. 1995, S.186 ; Kaplan et al. 2001, S.135f.). Die prädiktive Validität wird mit einem Kriterium geprüft, das von der Messung im Längsschnitt vorhergesagt werden soll, zum Beispiel eine spätere Erkrankung. Die Übereinstimmungsvalidität wird dagegen durch die Korrelation mit einem Kriterium geprüft, welches zum selben Zeitpunkt wie die zu validierende Messung erhoben wird. Die prädiktive Validität der Proxy-Maße ist nicht direkt quantifizierbar, da alle vier BIBB/IAB-Studien Querschnittserhebungen sind. Daher blieb die Prüfung der Übereinstimmungsvalidität, obwohl auch hier wieder Abstriche bei der Verfügbarkeit von Außenkriterien gemacht werden mussten. Der Gesundheitszustand, zweifellos das Kriterium für die Validität einer Messung beruflicher Belastungen schlechthin, wurde nur in der 1998/99 Erhebung erfasst. Entsprechende Analysen werden im nächsten Abschnitt vorgestellt. Dann folgen weitere Ergebnisse für die anderen Erhebungsjahrgänge. Hierbei handelt sich um Resultate einer Validitätsprüfung mit der Technik der bekannten Gruppen (oder Gruppenvalidität), bei der man Skalenwerte für verschiedene Gruppen vergleicht und dann bewertet, ob die Unterschiede den theoretischen Erwartungen entsprechen (Bortz et al. 1995, S.186).
Psychosoziale Arbeitsbelastungen und gesundheitliche Symptome Stimmen die zugrundeliegenden Hypothesen und ist die Operationalisierung gelungen, sollte das Ausmaß der psychosozialen Belastung unmittelbar mit gesundheitlichen Einschränkungen zusammenhängen. In der 1998/99er Erhebung lag in Form einer Symptomliste ein Gesundheitsmaß vor, mit dem entsprechende Tests vorgenommen werden konnten. Die Liste ist von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin entwickelt worden, um damit einen Überblick über körperliche und psychische Symptome, die während oder unmittelbar nach der Arbeit häufig auftreten, in der BIBB/IAB-Erhebung, zu gewinnen (Jansen 2002b). Enthalten sind verschiedene Symptomgruppen, die sich grob in die Komplexe muskulo-skelettales System (z.B. Rückenschmerzen), psychosomatische Beschwerden (z.B. Schlafstörungen oder Niedergeschlagenheit), pektanginöse Beschwerden (z.B. Herzschmerzen oder Atemnot) und sonstige Symptome (z.B. Hautreizungen oder Hörverschlechterung) gliedern lassen. Für die Analysen wurden alle zwanzig Symptomfragen, die jeweils mit den Antwortmöglichkeiten 0=„nein, Symptom kommt nicht vor“ und 1=„ja, Symptom kommt vor“ abgefragt worden waren, zu einem Summenwert zusammengefasst. Tabelle 21 zeigt,
9.4 Qualität der Messinstrumente
167
dass nur 32,2% der Frauen und 35,6% der Männer symptomfrei waren. Im Mittel beantworteten Männer 2,00 der Fragen mit Ja und lagen damit etwas niedriger als Frauen mit 2,08 Fragen. Tabelle 21: Anzahl und Anteile von Befragten in den Symptomgruppen sowie die mittlere Symptomzahl Frauen N %*
Männer N %*
Gesamt N %*
0
Symptome
3071 33,1
4163 36,4
7234 35,0
1-2
Symptome
3245 35,0
3823 33,4
7068 34,2
>3
Symptome
2948 31,8
3446 30,1
6395 30,9
Mittelwert Symptome (Standardabweichung)
2,08 (2,46)
2,00 (2,51)
2,03 (2,49)
*Spaltenprozent
Die Assoziation zwischen der Symptombelastung und psychosozialen Arbeitsbelastungen wurde zunächst bivariat durch eine Korrelation des Symptomscores mit dem Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten untersucht. Beiden Werten wurde ordinales Datenniveau unterstellt und entsprechend der Pearson Rangkorrelationskoeffizienten bestimmt (Howell 2002, S.306ff.). Sowohl für Männer (rs=0,390 / p<0.000) als auch für Frauen (rs.=0,414 / p<0.000) war die Korrelation stark: je höher der Quotient und damit die psychosoziale Arbeitsbelastung, desto mehr Symptome. Um diesen Befund gegen den Einfluss von Drittvariablen abzusichern, wurde ein multivariates Verfahren angewandt. Die Wahl fiel auf die logistische Regressionsanalyse, die im Ergebnisteil dieser Arbeit noch genauer beschrieben wird. Sie erfordert eine dichotome abhängige Variable, so dass zunächst der Symptomwert kategorisiert werden musste. In Ermangelung eines natürlichen Grenzwerts diente die Verteilung des Wertes in der vorliegenden Stichprobe als Referenz. Die Wahl fiel auf die Grenze von drei (und mehr) Symptomen, die von ca. 1/3 der Befragten überschritten wird. Der Verausgabungs-BelohnungsQuotient wurde ebenfalls mit Hilfe der Tertilgrenzen kategorisiert. Eine Dichotomisierung der unabhängigen Variablen ist in der logistischen Regression nicht nötig, so dass die Variable mit allen drei Ausprägungen 1=niedriger Quotient (Referenzkategorie/niedrigstes Tertil), 2=mittlerer Quotient und 3=hoher Quotient in die Regressionsmodelle aufgenommen wurde.
168
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
Als mögliche Einflüsse auf die Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Symptomen kam neben dem Alter, eine Reihe weiterer Variablen in Frage. Der soziale Status als bekannter Einflussfaktor auf die Gesundheit wurde mit zwei Variablen gemessen, dem höchsten Schulabschluss (kein Abschuss – Hauptschule – Mittlere Reife – Fachabitur/Abitur) und der Stellung im Beruf (Arbeiter – Angestellte). Bei den Arbeitsplatzbedingungen bot es sich an, klassische Arbeitsbelastungen wie körperlich anstrengende Arbeit oder physikalisch-chemische Gefahren zu berücksichtigen, da bekannt ist, dass sie eine starkes gesundheitsgefährdendes Potential haben (Rantanen 1999 ; Verma et al. 2002). Bei der Auswahl konnte auf Variablen zurückgegriffen werden, die für die Verwendung in der JEM bereits aufbereitet worden waren und die in den Auswertungen zu Frühberentungsrisiken ebenfalls als Kontrollvariablen dienten. Es handelt sich um zwei Skalen und eine Einzelvariable. Die erste Skala ist ein Summenwert aus vier Fragen zu körperlichen Anstrengungen, beispielsweise zum Heben schwerer Lasten, die zweite Skala fasst zwei Variablen zur Schichtarbeit zusammen. Als Indikator für physikalisch-chemische Gefahren wurde weiterhin die Arbeit unter Rauch, Staub, Gas oder Dampf als Einzelvariable kontrolliert (Details zur Messung finden sich in Kapitel 11). Tabelle 22: Logistische Regression – Zusammenhang zwischen beruflichen Gratifikationskrisen (Verausgabungs-Belohnungs-Quotient) und mehr als drei arbeitsbezogenen Symptomen (Odds Ratio, [95% Konfidenzintervall]) Modell I
Modell II
Modell III
Quotient Männer (n=9616) Niedrig
1
1
1
Mittel
1,94 [1,72-2,20]
2,11 [1,86-2,40]
1,98 [1,74-2,25]
Hoch
5,17 [4,60-5,81]
5,72 [5,08-6,46]
4,97 [4,39-5,62]
Quotient Frauen (n=7465) Niedrig
1
1
1
Mittel
2,22 [1,93-2,55]
2,27 [1,97-2,61]
2,07 [1,80-2,39]
6,71 [5,85-7,70]
5,58 [4,84-6,43]
Hoch Modelle kontrolliert für x
6,42 [5,60-7,35] Alter
x
+ Schulbildung, x + körperliche AnStellung im Beruf strengungen, Arbeit unter Rauch, Staub etc., Schichtarbeit
Das Hauptergebnis der Regressionsanalysen ist, dass der VerausgabungsBelohnungs-Quotient unabhängig von verschiedenen Drittvariablen mit dem
9.4 Qualität der Messinstrumente
169
Auftreten von drei und mehr Symptomen assoziiert ist (Tabelle 22). Männliche Beschäftigte mit hoher Arbeitsbelastung haben im Vergleich zu niedrig Belasteten ein ca. fünffach erhöhtes Risiko, in die Gruppe mit erhöhter Symptomlast zu fallen. Bei den Frauen zeigt sich ein ähnliches Ergebnis mit einem leicht höherem Odds Ratio. Weiterhin ist für beide Geschlechter gleichermaßen zu beobachten, dass bereits eine mittlere Belastung mit einer höheren Symptomlast assoziiert ist. Dass der Zusammenhang zwischen der Proxy-Messung für berufliche Gratifikationskrisen und dem Symptomwert deutlich ausgeprägt ist, spricht für die Kriteriumsvalidität der Messung. Diese optimistische Interpretation unterliegt aber Einschränkungen. Erstens handelt es sich um eine Querschnittsanalyse, die keine Aussage über die Richtung der Beziehung erlaubt. Zweitens sind die unabhängigen und die abhängige Variable Eigenangaben der Befragten. Die gefundenen Zusammenhänge könnten daher auf einem methodischen Artefakt, beispielsweise ausgelöst durch Antworttendenzen aufgrund von negativer Affektivität, beruhen (Judge, Erez, Thoresen 2000 ; Spector, Zapf, Chen, Frese 2000). Untersuchungen mit dem Originalinstrument haben zwar gezeigt, dass die Verzerrung in solchen Fällen gering ist, dies muss aber für diese Auswertung nicht unbedingt auch zutreffen (Dragano et al. 2003).
Gruppenunterschiede Die Forschung kennt zahlreiche Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, ob und in welchem Ausmaß Personen psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz erleben (Benach et al. 2002 ; Stadler & Spieß 2003). Wenn die Operationalisierung valide ist, müsste der Messwert des Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten mit diesen Faktoren assoziiert sein. Dies wurde für die BIBB/IAB-Datensätze mit dem Geschlecht, dem Alter, dem sozialen Status und Schichtarbeit getestet, alles Merkmale, von denen bekannt ist, dass sie die Verteilung beruflicher Gratifikationskrisen in der Bevölkerung beeinflussen (Bosma, Peter, Siegrist, Marmot 1998 ; Peter, Alfredsson, Knutsson, Siegrist, Westerholm 1999 ; Niedhammer et al. 2000 ; Kuper, Singh-Manoux, Siegrist, Marmot 2002 ; Siegrist et al. 2004). Die Verteilung der Skalenwerte nach Alter und Geschlecht wurde bereits in Tabelle 18 gezeigt. Männer hatten in allen vier Erhebungen einen höheren Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten als Frauen. Auch die Mittelwerte der Subskalen Belohnung und Verausgabung liegen über denen der Frauen. Mit steigendem Alter ist zunächst eine Zunahme der Verausgabung, der Belohnung und des Quotienten zu verzeichnen, wobei sich diese Bewegung dann in den oberen Altersstufen wieder umkehrt. Diese Alters- und Geschlechterunterschiede decken
170
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
sich mit den in der Literatur berichteten Trends (vgl. Siegrist et al. 2004), eine systematischer Versuch zur Deutung dieser Abweichungen fehlt aber bisher76. Die Hypothese, dass Angehörige unterer sozialer Schichten häufiger psychosozialen Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind, wird in letzter Zeit vermehrt diskutiert. Hintergrund ist die Suche nach Ursachen für das Ansteigen der Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken mit sinkender sozialer Schicht in modernen Gesellschaften (Mackenbach et al. 1999 ; Mackenbach et al. 2003). Arbeitsbelastungen könnten in diesem Kontext ein erklärender Faktor sein, wenn sie sich mitsamt ihren negativen Gesundheitsfolgen in den sozial benachteiligten Schichten häufen, etwa weil deren Arbeitsplätze durch Unsicherheit oder niedrige Belohnung gekennzeichnet sind (Marmot, Theorell, Siegrist 2002 ; Schrijvers et al. 1998 ; Warren, Hoonakker, Carayon, Brand 2004). Die bisherigen Befunde sind aber inkonsistent. Einige Studien bestätigten vermehrten arbeitsbedingten Stress in unteren sozialen Schichten (Bosma et al. 1998 ; Marmot et al. 1999 ; Niedhammer et al. 2000 ; Robert & House 2000), während in einer aktuellen Übersichtsarbeit mit Daten aus fünf großen epidemiologischen Untersuchungen keine Schichtunterschiede in die erwartete Richtung gefunden wurden (Siegrist et al. 2004). Insofern war die Prüfung der gruppenbezogenen Validität anhand sozialer Merkmale (hier: höchster Schulabschluss) von vorneherein erschwert, da keine eindeutige Hypothese formuliert werden konnte. Die in Abbildung 11 gezeigten Ergebnisse zur Verteilung der Skalenwerte sprechen daher nicht gegen die Konstruktvalidität der JEMs, auch wenn die höchste Belastung nicht in allen Erhebungen in den unteren Bildungsgruppen zu finden ist. In den vier BIBB/IAB-Erhebungen zeigt sich für die Verausgabungsund die Belohnungsskala eine sehr ähnliche Verteilung: Personen mit Hauptoder Volksschulabschlüssen berichten eine niedrige psychische Verausgabung und zugleich eine niedrige Belohnung. Diese Befunde stimmen weitgehend mit denen aus der oben zitierten Überblicksarbeit überein. Ein etwas anderes Bild bietet sich für den Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten. In der 1985/86er Erhebung findet sich das höchste Ungleichgewicht bei Männern und Frauen in der Gruppe der Haupt- und Volksschüler, während die Bildungsunterschiede in den drei anderen Erhebungen gering sind und teilweise in die entgegengesetzte Richtung verlaufen. Eine Bewertung dieses Befunds ist nicht einfach.
76 Eine denkbare Erklärung für günstigere Werte bei Frauen könnte die höhere Teilzeitquote und die damit verbundene niedrigere Verausgabung sein. Beim Alter ist der Anstieg bis zum ca. 55. Lebensjahr wohl auf den natürlichen Verlauf des Karriereweges zurückzuführen, der häufig durch steigende Verausgabung, aber eben bei manchen Erwerbstätigen nicht unbedingt von einer steigenden Belohnung geprägt ist. In den Altersgruppen über 55 Jahren könnte dagegen ein verstärktes frühzeitiges Ausscheiden von hoch belasteten Erwerbstätigen aus dem Beruf in ein messbares Absinken der durchschnittlichen Belastung gemündet sein.
9.4 Qualität der Messinstrumente
171
Abbildung 11: Mittelwerte der Dimensionen Verausgabung, Belohnung und des Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten nach Schulbildung in den vier BIBB/IAB Erhebungen Neben der von Erhebung zu Erhebung verschiedenen Skalenbildung ist vor allem die zeitliche Veränderung in der Bedeutung von Schulabschlüssen im betrachteten Zeitraum problematisch. Diese „Bildungsexpansion“ war in Deutschland von einem Rückgang der Zahl von Hauptschulabsolventen und einem steigenden Anteil von Personen mit mittleren und oberen Schulabschlüs-
172
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
sen gekennzeichnet (Hradil 1999, S.157). Somit ist die Vergleichbarkeit der Bedeutung von Schulabschlüssen im Längsschnitt eingeschränkt. Ein zweites Problem ist die Statusinkonsistenz, die ein Missverhältnis zwischen verschiedenen Indikatoren des sozialen Status bezeichnet (Hradil 1999 ; Geyer & Peter 2000). Beispielsweise üben zahlreiche Hauptschüler gut bezahlte und mit hohem Prestige verbundene Berufe aus, somit kann die Klassifikation nur über den Schulabschluss den wahren Status verschleiern. Um diese Mängel auszugleichen, wurde noch für einen weiteren Indikator des sozialen Status, nämlich die Stellung im Beruf, die Gruppenvalidität getestet. Zusammengefasst haben Arbeiter und Arbeiterinnen eine etwas niedrigere psychosoziale Verausgabung bei gleichzeitig deutlich niedrigerer Belohnung. Dies führt aber nur in den ersten beiden Surveys zu einem signifikant höheren Quotienten bei den Arbeitern, 1991/92 und 1998/99 unterscheidet sich der mittlere Quotient in den beiden Gruppen nicht mehr. Bei den Arbeiterinnen ist die Angleichung ebenfalls zu beobachten, sie tritt aber erst in der 1998/99er Befragung zutage. Dieser Befund ist damit weitgehend konsistent mit dem für Schulbildung. Als letztes Gruppenmerkmal wurde noch Schichtarbeit getestet. Peter und Mitarbeiter (1999) fanden in einer großen schwedischen Studie erhöhte Werte für berufliche Gratifikationskrisen (Quotient) bei Schichtarbeitern, so dass ein ähnliches Ergebnis auch in den BIBB/IAB-Daten zu erwarten gewesen wäre. Dies war tatsächlich für beide Geschlechter in allen vier Erhebungen der Fall, so dass eine Übereinstimmung mit dem Vorbefund attestiert werden kann.
9.4.3.3
Konstruktvalidität
Die dritte und letzte Form der Validität ist die Konstruktvalidität. Sie bezeichnet die Eigenschaft eines Messinstruments, sich zu alternativen theoretischen Konstrukten bzw. deren Messung, so zu verhalten, wie es nach der Theorie zu erwarten wäre. Zentrale Begriffe sind hier die konvergente und diskriminante Validität (Bortz et al. 1995, S.187ff. ; Friedenberg 1995, S.254ff.). Erstere ist gegeben, wenn ein Messinstrument mit einem Instrument, das ein ähnliches oder sogar gleiches Konstrukt messen soll, korreliert. In diesem Fall könnte dies die Korrelation mit einer anderen Operationalisierung von psychosozialem Arbeitsstress, z.B. dem Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek et al. 1990), sein. Für den Originalfragebogen zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen wurde eine solche Korrelation bereits verschiedentlich nachgewiesen (Bosma et al. 1998 ; Calnan, Wainwright, Almond 2000 ; Ostry, Kelly, Demers, Mustard, Hertzman 2003 ; Peter et al. 2002).
9.4 Qualität der Messinstrumente
173
Allerdings ist das Schwert der konvergenten Validität zweischneidig. Denn wenn ein neues Instrument mit einer etablierten Messung hoch korreliert, stellt sich die Frage, wozu man das neue überhaupt benötigt. Hier setzt die diskriminante Validität ein, die besagt, dass ein Instrument mit nicht verwandten Messungen nicht korrelieren darf. Zugleich sollte die Korrelation mit einer verwandten Messung nicht zu hoch sein, um dem Vorwurf der Redundanz zu entgehen. Eine etablierter Grenzwert existiert allerdings nicht, so wie es auch keinen Einzeltest zur Prüfung der konvergenten Validität gibt (Friedenberg 1995, S.253). Fest steht aber, dass für die Bewertung der Konstruktvalidität eine Vielzahl von Untersuchungen bis hin zu eigenen Validierungsstudien nötig ist (Bortz et al. 1995, S.187 ; Campbell & Fiske 1959). Für einen neuen psychometrischen Test, der der Forschung zur Verfügung gestellt werden soll, sind solche Untersuchungen sinnvoll, für die Proxy-Messungen in dieser Studie wäre es aber zu viel der Ehre gewesen. In keiner der BIBB/IAB-Studien waren validierte Konstruktmessungen vorhanden, anhand derer eine Prüfung hätte vorgenommen werden können und der Aufwand einer eigenen Validierungsstudie erschien viel zu hoch. Indirekte Hinweise können aber aus den bereits angesprochenen Ergebnissen zur Konstruktvalidität des Originalinstruments gewonnen werden, die sich bisher als hoch erwiesen hat (Siegrist et al. 2004). Wenn es gelungen ist – und dafür sprechen die vorangegangenen Reliabilitäts- und Validitätsprüfungen –, mit den Proxy-Instrumenten nahe an der ursprünglichen Messung zu bleiben, so können solche Ergebnisse auch für die Bewertung der Validität der Proxy-Maße herangezogen werden. Manche Autoren schlagen vor, die Faktorstruktur eines Instruments zu untersuchen und daraus Schlüsse für die Konstruktvalidität zu ziehen (z.B.: Crocker et al. 1986 ; Schnell et al. 1995). Faktoranalytische Verfahren ermöglichen es, aus einer Menge von Einzelvariablen übergeordnete Faktorengruppen (verwandte Gruppen von Variablen) zu errechnen. Prinzipiell basiert die Kalkulation auf der Interkorrelation der Variablen, die für die Variablen eines Faktors hoch sein muss, während sie zugleich mit den Items anderer Faktoren nur schwach ausgeprägt sein darf (Backhaus, Erichson, Plinke, Weiber 2003, S.264ff.). Für den Originalfragebogen zur Messung extrinsischer beruflicher Gratifikationskrisen heißt das etwa, dass in einer Faktorenanalyse die sechs Variablen, welche die Verausgabungsdimension messen, in der Faktorenanalyse einen Faktor bilden sollten, während die elf Variablen zur Belohnung ebenfalls einen eigenständigen Faktor eröffnen. Begreift man nun die einzelnen Faktoren als eigenständige theoretischen Konstrukte, so wird verständlich, warum die faktorielle Validität auch zur Prüfung der Konstruktvalidität herangezogen wird. Die Variablen, die eine Skala bilden, könnten nämlich als konvergente Konstrukte aufgefasst und die einzelnen, voneinander abgrenzbaren Faktoren als diskriminante Konstrukte
174
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
verstanden werden (Schnell et al. 1995, S.153). Ob diese Logik der Idee der Konstruktvalidität angemessen ist, kann kritisch gesehen werden. Statt das Verhältnis des gesamten theoriegeleiteten Messinstruments mit einem anderen, ebenfalls theoriegeleiteten Instrument zu prüfen, vergleicht man es bei der faktoriellen Validität mit sich selbst, denn auch wenn es mehrere Dimensionen gibt, so gehören die Dimensionen doch alle zu ein und derselben Messung und die kann auch mit einer guten Faktorstruktur gänzlich invalide sein. Dennoch sind Faktoranalysen nützlich, um nachzuvollziehen, ob sich die ausgewählten Variablen in die theoretisch vorgegebene Struktur fügen. Ohne eingehend auf die statistischen Grundlagen einzugehen77, werden im folgenden einige Ergebnisse zur Faktorstruktur der Proxy-Instrumente vorgestellt. Den Anfang machen explorative Faktoranalysen, die mit dem Statistikpaket SPSS 12.0.1D durchgeführt wurden. Ziel der explorativen Analyse ist es, eine ideale Faktorstruktur der Daten zu identifizieren. Für die 1998/99er Erhebung konnten drei Faktoren bestimmt werden, einer mit Verausgabungsvariablen und zwei mit Belohnungsvariablen. Die zwei Belohnungsfaktoren entsprechen dabei den Subdimensionen „Wertschätzung“ und „Bezahlung und beruflicher Aufstieg“. Für die Subdimension „Arbeitsplatzsicherheit“ war nur eine einzelne Frage (Gefahr der Entlassung) in der Erhebung vorhanden, so dass kein eigener Faktor für diese Dimension gebildet werden konnte. Die Variable lässt sich aber den BezahlungsFragen zuordnen. In Tabelle 23 sind die entsprechenden Faktorladungen für Männer und Frauen aufgeführt, sofern sie den Grenzwert von .3 überschritten. Die Faktorladungen geben an, wie stark ein Item mit einem Faktor assoziiert ist. Wie schon bei der Reliabilität muss bedacht werden, dass es sich um dichotome Variablen handelt und deshalb die Ladungswerte niedriger ausfallen als bei kategorialen Formaten (Kim et al. 1978, S.74f.). Da es nur wenige Doppelladungen gibt, z.B. die negative Ladung der Frage nach der Zufriedenheit mit der Arbeitsbelastung auf den zweiten Faktor, und die Ladungswerte insgesamt annehmbar sind, kann man dem Instrument eine zufriedenstellende Strukturtreue bescheinigen. Auf eine Darstellung der Ergebnisse für die Erhebungen 1991/92 und 1979 wird hier verzichtet. In beiden Jahren erwies sich aber für Männer und Frauen eine zweifaktorielle ‚Verausgabungs-Belohnungs-Lösung’ als die beste Variante. Nichts zu berichten gibt es zum 1985/86er Survey. Das bekannte Problem, dass die Belohnungsdimension nur durch eine Frage repräsentiert wird, machte ein Faktorenanalyse wenig aussagekräftig, es konnte lediglich die Eindimensionalität der Verausgabungsskala bestätigt werden.
77 Gute Einführungen in die statistischen Grundlagen finden sich bei Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber (2003), Bortz (1999) und Kim et al. (1978).
9.4 Qualität der Messinstrumente
175
Tabelle 23: Ergebnisse der exploratorischen Hauptkomponentenanalyse für Männer und Frauen in der 1998/99er Erhebung Faktorladungen Männer Faktor 1
Faktor 2
Faktor 3
Faktorladungen Frauen Faktor 1
Variablen Verausgabung Termindruck
,604
Konzentration
,606
zufrieden mit Arbeitsbel.
,332
häufige Störungen
,539
,561
kleine Fehler = großer Verlust
,595
,497
Überstunden
,413
,460
Grenze der Leistungsfähigkeit
,536
Druck zugenommen
,487
verschiedene Arbeiten gleichzeitig
,667
Faktor 2
Faktor 3
,638 ,556 -,439
,385
-,344
,548 -,334
,531 ,640
Variablen Belohnung Dimension „Wertschätzung“ zufrieden mit Betriebsklima
,751
,786
zufrieden mit Vorgesetzten
,665
,682
Zusammenhalt abgenommen
,634
,649
Schikane
,539
,654
Dimension „Bezahlung und Aufstieg“ / „Arbeitsplatzsicherheit“ zufrieden mit Einkommen
,634
,644
zufrieden mit Aufstiegsmögl.
,749
,784
Gefahr der Entlassung
,397
,310
Tätigkeit auch mit geringerer Ausbildung
,368
,359
zufrieden mit Weiterbildung erklärte Gesamtvarianz (%)
,695 18,4
12,7
6,7
,736 18,5
12,6
7,2
Explorative Faktorenanalysen lassen stets einen weiten Interpretationsspielraum zu, denn das Verfahren bietet keine zusammenfassenden statistischen Prüfgrößen an, die die Anpassung der Variablen an die theoretische Struktur beschreiben. Hier kommen konfirmatorische Faktorenanalysen (KFA) ins Spiel, bei denen im Vorfeld festgelegt wird, welche Faktoren die Variablen nach Maßgabe ihrer theoretischen Zuordnung bilden sollen und dann verschiedene Maße der Anpas-
176
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
sungsgüte der gemessenen Werte an das theoretische Modell bestimmt werden78. Ausgenommen aus den Analysen war wieder das Modell der 1985/86er Erhebung, für die anderen drei Jahrgänge wurde eine konfirmatorische Faktorenanalyse erster Ordnung mit dem Programm SPSS AMOS (Analyses of Moment Structure) 4.0.1 (Byrne 2001) durchgeführt. Getestet wurden dieselben Variablen wie schon in der explorativen Analyse, mit dem Unterschied, dass nun die Faktoren vorab definiert waren (Faktor 1=Verausgabung / Faktor 2=Belohnung). Um die Anpassungsgüte zu bestimmen, kam das Verfahren der „ungewichteten kleinsten Quadrate (ULS: unweighted least square) zum Einsatz, da es von allen möglichen Alternativen, z.B. der häufig angewandten Maximum-Likelihood Schätzung, die geringsten Voraussetzungen an das Messniveau der Ausgangsvariablen stellt (Kelloway 1998, S.32 ; Long 1983, S.57ff. ; Pfeifer & Schmidt 1987, S.32). Dennoch bleibt die Verwendung dichotomer Variablen ein Problem, da die statistischen Modelle der KFA für kontinuierliche Variablen entwickelt wurden und nur bedingt auf kategoriale Daten anwendbar sind (Byrne 2001, S.71f. ; Muthen 1993, S.204ff.). Aus diesem Grund sollten die unten präsentierten Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert und eher als Dreingabe zu den anderen Validitätsanalysen verstanden werden. In Tabelle 24 sind die wichtigsten Kennwerte für die Anpassungsgüte (Modell-Fit) aufgeführt. Der GFI („goodness of fit index”) ist ein Maß für die durch das Modell erklärten beobachteten Varianzen und Kovarianzen, der AGFI („adjusted goodness of fit index”) ist zusätzlich für die Zahl der Freiheitsgrade angepasst (Backhaus et al. 2003, S.374). Sowohl GFI als auch AGFI können Werte von 0 bis 1 annehmen, als zufriedenstellend gelten für beide Parameter Werte >0,9 (Rödel et al. 2004). Der RMR weist die mittlere Residualkovarianz („root mean square residual“) aus und sollte unterhalb des Grenzwertes von 0,05 liegen (Pfeifer et al. 1987, S.37). Tabelle 24: Kennwerte der Modellanpassung in der konfirmatorischen Faktorenanalyse Erhebung >
1979 Männer
Frauen
1991/92 Männer
Frauen
1998/99 Männer
Frauen
GFI
0,982
0,970
0,964
0,956
0,953
0,946
AGFI
0,969
0,948
0,942
0,929
0,940
0,931
RMR
0,010
0,012
0,012
0,015
0,012
0,012
78 Einführungen in die Grundlagen der konfirmatorischen Faktorenanalyse finden sich im Sammelband von Bollen und Long (1993), bei Kelloway (1998) und in der Arbeit von Byrne (2001), die zudem eine Einführung in das hier verwendete Programm AMOS gibt.
9.4 Qualität der Messinstrumente
177
Insgesamt zeigen sich für alle Maße des Modell-fit klare Ergebnisse zugunsten der faktoriellen Validität der Proxy-Instrumente. Sie sind offensichtlich in der Lage, die durch das theoretische Modell vorgegebene Struktur abzubilden. 9.4.4 Zusammenfassende Bewertung der Qualität Für vier Job-Exposure-Matrizen mussten psychosoziale Arbeitsbelastungen operationalisiert werden, und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen bildete hierzu die theoretische Grundlage. Die praktische Auswahl der Variablen, die Bildung der Skalen und die Überprüfung der Testgüte orientierte sich am standardisierten und umfangreich getesteten Originalinstrument und an einer ganzen Reihe von Proxy-Messungen des Modells aus internationalen Studien. In allen BIBB/IAB-Erhebungen waren Fragen enthalten, die in die Vorgaben passten, wenn auch in unterschiedlicher Anzahl und Qualität. Generell war es so, dass mit zunehmendem Alter der Surveys die Schwierigkeit, geeignete Fragen zu finden, zunahm. Einschränkend muss auch erwähnt werden, das lediglich die extrinsische Komponente beruflicher Gratifikationskrisen abgebildet werden konnte, für die intrinsische Skala „übersteigerte berufliche Verausgabungsneigung“ waren in den Fragebögen keine passenden Variablen enthalten. Das Ergebnis der Variablenauswahl war die Bildung von zwei Skalen in jedem der Datensätze, einer Verausgabungs- und einer Belohnungsskala. Daraus konnte dann mit dem Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten die zentrale Belastungsmessung in dieser Studie berechnet werden. Die Berechnung erfolgte jeweils für Männer und Frauen getrennt, was auch für die Prüfung der Güte der Proxy-Instrumente gilt, die nun ebenfalls zusammengefasst werden soll. Obwohl es sich nur um Proxy-Instrumente handelte, die für die alleinige Verwendung in diesem speziellen Design neu zu konstruieren waren, wurde versucht, die Qualität der Messung so zu prüfen, als würde die Testung eines ‚echten’ psychometrischen Instruments auf der Tagesordnung stehen. Die angewandten Methoden stammten aus dem Repertoire der klassischen Testtheorie zur Ermittlung der Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität. Da es sich bei den Studien, die der Erstellung der JEM zugrunde lagen, um standardisierte persönlich-mündliche Befragungen handelte, wird die Objektivität, also die Unabhängigkeit der Messung von Umgebungseinflüssen, als hoch eingestuft. Als schwierig erwies sich die Prüfung der Reliabiliät, da aufgrund fehlender Daten die beiden aussagekräftigsten Methoden, die Test-Retest- und die Paralleltestreliabilität, nicht zur Anwendung kommen konnten. Übrig blieb die Bestimmung der Cronbach’s Alpha- Koeffizienten als Maß für die innere Konsistenz der gebildeten Skalen. Die Werte können mit wenigen Ausnahmen als zufriedenstellend bezeichnet werden. Das stärkste Argument für oder gegen ein Messinstru-
178
9 Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen
ment ist seine Fähigkeit, auch das zu messen, was es zu messen vorgibt (Validität). Diskutiert und wenn möglich auch statistisch geprüft wurden die inhaltliche, die kriteriumsbezogene und die konstruktbezogene Validitität. Die Bewertung der inhaltlichen Validität, die angibt, bis zu welchem Grad die theoretischen Dimensionen durch entsprechende Fragen repräsentiert werden, fällt gemischt aus. Als negative Punkte sind die niedrige Zahl an Variablen in der 1985/86er Erhebung und die fehlende Berücksichtigung der intrinsischen Modellkomponente zu nennen. Positiv ist die inhaltliche Nähe der Fragen der beiden jüngeren Erhebungen zum Originalinstrument. Die Kriteriumsvalidität konnte in den meisten Tests bestätigt werden. Dabei wurden Außenkriterien wie Alter, Geschlecht, der soziale Status und Schichtarbeit verwendet. Besonders hervorzuheben sind die Analysen zum Zusammenhang zwischen der Messung beruflicher Gratifikationskrisen und gesundheitlichen Symptomen in der 1998/99er Erhebung, der auch nach Kontrolle zahlreicher Drittvariablen in einem logistischen Regressionsmodell substantiell erhalten blieb. Durchwachsener fällt die Bilanz bei der Prüfung der Konstruktvalidität aus, da es nur möglich war, die faktorielle Validität zu prüfen, ein recht schwacher Indikator für Konstruktvalidität. Die Faktorstruktur der Instrumente erwies sich in explorativen und konfirmatorischen Analysen aber meist als übereinstimmend mit den theoretischen Vorgaben. Letztlich darf die Qualität der Instrumente nicht zu überschwänglich, aber auch nicht zu negativ beurteilt werden. Im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten sind sie wohl das Maximum dessen, was mit Sekundärdaten, die über fast 20 Jahre für einen anderen Zweck gesammelt wurden, erreichbar war. Ein gewisses Maß an Ungenauigkeit ist zudem tolerierbar denn Fehlklassifikation kann geradezu als Markenzeichen der Methode der Job-Exposure-Matrizen gelten (Coughlin et al. 1990 ; Goldberg et al. 2002; siehe hierzu auch die Diskussion in Kap. 12). Es spricht aber einiges dafür, dass die Proxy-Messungen einen mindestens mittleren Qualitätsstandard erreichen, so dass die Belastungsermittlung von psychozialen Arbeitsbelastungen in den Job-Exposure-Matrizen aussagekräftig ist und damit die Anwendung in der Fall-Kontroll-Studie ihre Berechtigung hat.
10 Der Analysedatensatz
10.1 Erhebung der Berufsbiographie Im Ausgangsdatensatz der Rentenversicherer fehlten zunächst Informationen zur Berufsbiographie der Versicherten, so dass die Belastungswerte aus den fertigen JEMs den Studienpersonen zunächst gar nicht zugeordnet werden konnten. Die fehlenden Angaben zur Berufstätigkeit mussten also nachträglich beschafft werden. Für den Zweck der möglichst lückenlosen Dokumentation des Erwerbsverlaufs über einen langen Zeitraum eignete sich ein Datensatz der Bundesagentur für Arbeit (BA) in besonderer Weise. Gemeint ist die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verwaltete „Historikdatei“, in der im Rahmen des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung kontinuierliche Angaben zum ausgeübten Beruf von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten personenbezogen erfasst sind. Grundlage dieser Datensammlung ist die „Verordnung über die Erfassung und die Übermittlung der Daten für die Träger der Sozialversicherung“ (Datenerfassungs- und Übermittlungsverordnung - DEÜV)79, in der das integrierte Meldewesen der deutschen Sozialversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit geregelt ist (Krämer 1998). Durch die DEÜV werden die Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, auf standardisierten Meldebögen den Beginn, das Ende und die Unterbrechung von Beschäftigungsverhältnissen in ihrem Betrieb an die zuständige Krankenkasse zeitnah zu übermitteln (Berning 2000, S.13ff.). Eine sofortige Meldung hat auch dann zu erfolgen, wenn für einen Beschäftigen innerhalb eines Betriebes eine Änderung im Beschäftigungs- oder Versicherungsverhältnis eintritt. Als „Inventurfunktion“ (Bender, Hilzendegen, Rohwer, Rudolph 1996, S.5) müssen zudem für jeden Beschäftigten Jahresmeldungen erfolgen, die es erlau79 Die DEÜV-Verordnung ist eine seit dem 01.01.1999 geltende Aktualisierung der „Zweiten Verordnung über die Erfassung der Daten für die Träger der Sozialversicherung und für die Bundesanstalt für Arbeit (2. DEVO)“ und der „Zweiten Verordnung über die Übermittlung auf maschinell verwertbaren Datenträgern im Bereich der Sozialversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit (2. DÜVO)“. Alle Verordnungen haben die amtliche Datensammlung innerhalb des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung zum Gegenstand und daher wird im Folgenden die aktuelle Verordnung zitiert, zumal mit der DEUV lediglich Verwaltungsabläufe optimiert wurden (Krämer 1998). Eingeführt wurde das Meldeverfahren am 01.01.1973.
180
10 Der Analysedatensatz
ben, den jeweiligen Status zu erkennen, auch wenn keine Änderungen des Versichertenstatus eingetreten ist. Die Krankenkassen als die für die Erfassung zuständigen Stellen leiten die gesammelten Daten dann an die Renten- und Arbeitslosenversicherung weiter, da die DEÜV-Meldungen die zentrale Quelle für die Kalkulation von Beiträgen und deren kontinuierliche Dokumentation in Versichertenkonten für die gesamte deutsche Sozialversicherung darstellen (Wermter & Cramer 1988). Eingeschlossen in die Meldepflicht sind alle Beschäftigten und Auszubildenden, die unter die Versicherungspflicht für mindestens eine der genannten Versicherungen fallen, was auf einen Großteil aller abhängig Beschäftigten in Deutschland zutrifft (Berning 2000, S.54f. ; Wermter et al. 1988). Im Umkehrschluss sind damit nicht versicherungspflichtige Personen ausgeschlossen, was in der Hauptsache Selbständige, Beamte und geringfügig Beschäftigte betrifft. Ebenfalls nicht erfasst werden auch die meisten Bezieher von Lohnersatzleistungen, beispielsweise Arbeitslose (Bender et al. 1996, S.9). Vorausgesetzt, dass überhaupt eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt wurde, liegt somit für den derart eingegrenzten Personenkreis eine auf gesetzlichen Bestimmungen beruhende Berufsbiographie vor, in der für alle meldepflichtigen Perioden tageweise der ausgeübte Beruf (und weitere Angaben) ablesbar ist. Dass solche umfassenden Verlaufsdaten von hohem Interesse für die Forschung sind, liegt auf der Hand und in der Tat finden sie Verwendung in der routinemäßigen Berufsstatistik der Bundesagentur für Arbeit, die auf das gesamte DEÜV-Meldesystem zurückgreifen kann. Zu diesem Zweck unterhält das IAB als Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit eine Datenbank aller Meldungen, eben jene „Historikdatei“ (Bender et al. 1996, S.19ff. ; Wermter et al. 1988). Im Rahmen der Kooperation mit dem IAB war es möglich, diese Datei zu nutzen, um für Fälle und Kontrollen individuelle berufsbiographische Angaben in den Ausgangsdatensatz einzuspielen. Über die Sozialversicherungsnummer, die sowohl im Ausgangsdatensatz der Rentenversicherer als auch in der Historikdatei enthalten war, konnten die Datensätze personenbezogen verbunden werden. Da die Berufs- und Branchenangaben der Historikdatei ebenfalls nach der Klassifikation der Berufe und dem Verzeichnis der Wirtschaftszweige kodiert sind (Bender et al. 1996, S.5f.), war es im nächsten Schritt möglich, die aus der Historikdatei entnommenen Berufsbiographine so umzukodieren, dass Arbeitsplatztypen analog zu denen der JEMs entstanden, über die dann die JEMBelastungsdaten automatisiert in den Datensatz eingefügt werden konnten.
10.2 Zusammenfügen aller Datensätze
181
10.2 Zusammenfügen aller Datensätze Der Schlüssel, um die Belastungswerte aus den fertigen JEMs mit dem Ausgangsdatensatz zusammenzubringen war der Arbeitsplatztyp, also die Kombination aus Beruf und Branche. Die Zeiteinheit für die Zuordnung von Belastungen aus der JEM war ein Meldetag: Praktisch bedeutete dies, dass ein Versicherter für einen Tag in einem Arbeitsplatztyp die entsprechenden Belastungswerte für diesen Typ aus der JEM „gut geschrieben“ bekam. Durch Addition aller Tageswerte ergab sich dann die persönliche kumulierte Arbeitsbelastung. Falls eine Person zu einem Zeitpunkt gleichzeitig mehrere Beschäftigungsverhältnisse hatte, wurde für die Ermittlung der Belastung immer die Haupttätigkeit, definiert als die Tätigkeit mit dem höchsten Entgelt, herangezogen. Zudem wurden die Belastungen für das Beschäftigungsverhältnis gewichtet: Für einen Tag in einer Vollzeitbeschäftigung wurde der volle Belastungswert vergeben, handelte es sich aber um eine Teilzeitbeschäftigung, kam nicht die volle Belastung zum Tragen. Bei einer Teilzeitarbeit, die weniger als die Hälfte der Vollarbeitszeit umfasste, wurden die Belastungswerte mit dem Faktor 0,5 und bei einer Teilzeitarbeit, die mehr als die Hälfte der Vollarbeitszeit umfasste, mit dem Faktor 0,75 gewichtet. Durch den ebenfalls retrospektiven Charakter der JEMs konnte bei der Zuordnung außerdem der Zeitpunkt berücksichtigt werden, zu dem ein Beruf ausgeübt wurde. Die Aktualität der Belastungsangaben wurde erreicht, indem, wie Abbildung 12 zeigt, die einzelnen JEMs nur bestimmte, nicht länger als sieben Jahre zurückliegende Zeiträume abdeckten. Beispielsweise wurde ein Meldetag im Jahr 1984 mit Belastungswerten aus der 1985/86er JEM verbunden, ein Meldetag der selben Person im Jahr 1990 dagegen mit der 1991/92 JEM usw.
Abbildung 12: Schema der Zuordnung der Belastungsinformationen im Studienverlauf Außerdem zeigt die Abbildung, dass, obwohl die Historikdatei seit dem 01.01.1973 geführt wird, der Zeitraum für die retrospektive Berufszuordnung auf die Jahre ab dem 01.01.1975 verkürzt wurde. Der Grund sind organisatorische
182
10 Der Analysedatensatz
Probleme in den beiden Anfangsjahren des Meldesystems, die zu einer unvollständigen Erfassung der Versicherten geführt haben. Daher mussten die Informationen aus den Jahren 1973 und 1974 ausgeschlossen werden.
Abbildung 13: Zusammenfügen aller Datenquellen Der gesamte Prozess der Datenzusammenführung wird in der Abbildung 13 dargestellt. Hier wird sichtbar, dass ein indirekter Weg beschritten werden musste, da es aufgrund von datenschutzrechtlichen Bestimmungen nicht möglich war, die Informationen der Historikdatei und der Ausgangsdatei der Rentenversicherer unmittelbar zusammen zu bringen (vgl. Bender et al. 1996, S.31ff.). Der gesamte Aufbau des Analysedatensatzes erfolgte durch ein anonymisiertes Verfahren, bei dem nach erfolgreicher Verbindung der Berufs-, Belastungs- und Berentungsangaben über die (kryptifizierte) Sozialversicherungsnummer alle aus der Historikdatei stammenden Daten zum individuellen Berufsverlauf wieder gelöscht wurden. Die einzigen Variablen, die aus der Historikdatei unmittelbar übernommen wurden, waren die Gesamtzahl der Meldetage, die zugleich die Dauer der Belastungsermittlung bestimmten, die Anzahl der ausgeübten Berufe und einige technische Angaben zur Datenstruktur (z.B. fehlende Meldezeiten). Zusammen mit den im Ausgangsdatensatz der Rentenversicherer enthaltenen Variablen bildeten sie den fertigen Analysedatensatz. Bevor nun Ergebnisse vorgestellt werden, soll noch kurz auf die inhaltliche Qualität und den quantitativen Umfang der aus der Historikdatei gewonnenen Meldedaten eingegangen werden. Beide Aspekte sind von einiger Bedeutung, da sie erstens einen Einfluss auf die Präzision haben, mit der die Belastungswerte aus der JEM den Studienpersonen zugeordnet werden konnten und sie zweitens
10.2 Zusammenfügen aller Datensätze
183
die Zeitdauer für die Belastungsmessung bestimmen. Begleitend dazu werden deskriptive Angaben zur mittleren Dauer der Belastungsmessung und zur beruflicher Mobilität der Studienpersonen gemacht.
10.2.1 Qualität der berufsbiographischen Angaben Die inhaltliche Qualität der von den Arbeitgebern im Meldesystem der Sozialversicherung gemachten Angaben wird im Zuge des Erhebungsverfahrens durch die Krankenkassen routinemäßig geprüft (Wermter et al. 1988). Sie gilt für alle Informationen als sehr hoch, die einen unmittelbaren Bezug zum administrativen Prozess der Kranken- und Rentenkassen haben, insbesondere wenn darauf die Berechnung und Abbuchung von Beiträgen basiert (Dreyer-Tümmel, Behrens, Schulz 1997, S. 96). Dazu zählt der Beginn einer Beschäftigung und auch deren Beendigung, sofern sie mit einem Arbeitgeberwechsel verbunden ist. Ein Berufswechsel innerhalb eines Betriebes wird dagegen nur dann valide erfasst, wenn der Versicherungsstatus berührt wird, beispielsweise wenn von einem Arbeiter- in ein Angestelltenverhältnis gewechselt wird. Alle anderen innerbetrieblichen Arbeitsplatzwechsel fallen zunächst nicht unter die Meldepflicht. Sie können zwar in den obligatorischen Jahresmeldungen angezeigt werden, in wieweit dies auch erfolgt, ist aber unklar (Dreyer-Tümmel et al. 1997, S.98f. ; Schulz et al. 1997, S.77). Dies kann zu Fehlklassifizierungen von Belastungen führen, wenn einem Beschäftigten Belastungswerte für einen Beruf zugeordnet werden, den dieser gar nicht mehr ausübt. Das Risiko einer Verzerrung der Studienergebnisse wäre hoch, wenn der Fall einträte, dass 1. Berufswechsel zwischen Fällen und Kontrollen ungleich verteilt wären und 2. Berufwechsel zugleich mit den in der JEM erfassten Arbeitsbelastungen zusammen hingen, beispielsweise weil hoch belastete Arbeitnehmer systematisch auf weniger belastete Arbeitsplätze ausweichen. Tabelle 25: Mittlere Anzahl Berufswechsel, Mittelwerte (Standardabweichung) Gesamt
Männer
Frauen
2,3 (3,2)
2,7 (3,5)
1,9 (2,6)
Kontrollen
2,4 (3,2)
2,8 (3,5)
1,9 (2,6)
Fälle
2,3 (3,0)
2,6 (3,3)
1,9 (2,5)
Gesamt
Als Indiz, dass es zwischen Fällen und Kontrollen keine nennenswerte Unterschiede in der innerbetrieblichen Mobilität gegeben hat, kann die Auswertung
184
10 Der Analysedatensatz
der Anzahl der gemeldeten (und damit in der Regel mit einem Arbeitgeberwechsel verbundenen) Berufswechsel dienen. Im Schnitt wechselten die Studienpersonen während der Beobachtungsdauer 2,3 Mal den Beruf. Tabelle 25 ist zu entnehmen, dass Fälle und Kontrollen in etwa gleich häufig einen Wechsel vornahmen. Ob aber ein Zusammenhang zwischen innerbetrieblichen Berufswechseln und den untersuchten Arbeitsbelastungen besteht kann nur indirekt beantwortet werden. Analysen, die in einem von der BKK durchgeführten Vorgängerprojekt „Kooperationsprogramm Arbeit und Gesundheit“, kurz KOPAG, (Bödeker 2000) an einem großen Sample von ca. 50.000 Beschäftigten im Einzelhandel durchgeführt wurden, zeigten, dass die betriebliche Mobilität innerhalb der Arbeitsbereiche von Betrieben, z.B. von der Wursttheke zur Käsetheke eher hoch, der zwischen Arbeitsbereichen, z.B. von der Lebensmittel- in die Haushaltswarenabteilung, aber niedrig war. Eine Veränderung von Belastungsprofilen ist daher unwahrscheinlich, so dass Fehlklassifikation aufgrund von nicht erfassten innerbetrieblichen Berufswechseln eher unbedeutend sein dürfte80.
10.2.2 Dauer der Belastungsmessung – Zeit unter Risiko Neben der Qualität der Meldedaten spielt die Quantität eine wichtige Rolle. Mit Selbständigen, Beamten und anderen Personen, die nicht unter die Versicherungspflicht fallen, werden nämlich Teile der Erwerbsbevölkerung nicht vom Meldesystem abgedeckt. Eine Schätzung, die noch auf dem alten System der DEVO/DÜVO beruhte (das weniger Beschäftigtengruppen umfasste als das aktuelle System), ging von einer ca. 80%igen Erfassung der Erwerbstätigen aus (Bender et al. 1996, S.9f.). Es existieren also Möglichkeiten, im Verlaufe des Erwerbslebens entweder gar nicht erfasst zu werden oder zumindest Lücken in der Erfassung aufzubauen. Hinzu kommt, dass für diese Zeiten keine Informationen gespeichert werden dürfen, so dass aus der Historikdatei kein Grund für eine Ausfallzeit ersichtlich wird. Zugleich ist die Anzahl der Meldetage in dieser Studie von hoher Bedeutung, da sie die Grundlage für die Zuordnung der Belastung ist und somit als „Zeit unter Risiko“ (Bhopal 2002, S.164ff.) verstanden werden kann. Sie gibt an, 80 Weitere mögliche Fehlerquellen, die aus Eigenarten der Meldedaten entstehen, sind die falsche Berufscodierung durch den Arbeitgeber, der verzögerte Eingang von Meldungen und die Unterbrechung von Beschäftigungsverhältnissen (vgl: Bender et al. 1996, S.4f.+16ff. ; Schulz et al. 1997, S.77f.). Da diese ohnehin nur selten auftretenden Fehler mit hoher Wahrscheinlichkeit zufällig über die Stichprobe verteilt sind, sollte ihr Einfluss auf die in dieser Studie gefundenen Ergebnisse minimal ausfallen.
10.2 Zusammenfügen aller Datensätze
185
für welche Zeit Belastungen gemessen wurde. Es lohnt sich also, die Verteilung dieser Variablen näher zu betrachten. In Tabelle 26 ist die mittlere Meldezeit in Jahren für Männer und Frauen aufgeführt und nach Rentenversicherungsträgern gegliedert. Tabelle 26: Mittlere Meldedauer in Jahren, (Standardabweichung) und Median nach Geschlecht und Rentenversicherungsträger RV-Träger
Gesamt
Männer
Frauen
16,5 (7,0) - 18,9
17,2 (7,0) - 20,1
15,6 (6,9) - 17,2
LVA
15,9 (7,0) - 18,0
16,9 (6,8) - 19,5
13,3 (6,9) - 13,6
BfA
17,8 (6,3) - 22,1
19,6 (5,6) - 18,5
16,6 (6,5) - 20,3
BKn
11,4 (7,7) - 7,9
12,2 (7,6) - 10,9
6,4 (6,1) - 4,6
Alle
Im Durchschnitt lagen bei einer maximal möglichen Dauer von 24 Jahren für jede Studienperson, unabhängig ob Fall oder Kontrolle (als Folge des Matching nach Meldedauer), 16,5 Jahre mit Berufsinformationen aus dem DEÜVMeldesystem vor. Frauen hatten weniger Meldetage als Männer, im Median betrachtet trennen die Geschlechter fast drei Jahre. Dieser Unterschied dürfte aus der Nichterfassung von Kindererziehungszeiten im Meldesystem resultieren. Deutliche Differenzen gibt es auch zwischen den Rentenversicherungsträgern. Spitzenreiter mit der längsten Meldedauer sind bei beiden Geschlechtern die BfA-Versicherten, die im Schnitt mehr als 6 Jahre über den bergmännisch Versicherten und ca. 2 Jahre über den Arbeitern der LVA liegen. Dies spiegelt ein verschiedenes Berentungsgesehen wieder: Bei Arbeitern und knappschaftlichen Berufen tritt die Erwerbsunfähigkeit früher auf als bei Angestellten.
186
10 Der Analysedatensatz
Abbildung 14: Histogramm der Meldedauer in Jahren – Gesamtstichprobe Einen Blick auf die Verteilung der durchschnittlich mit der Berufsbiographie abgedeckten Meldedauer bietet Abbildung 14. Das Histogramm zeigt, dass der Verlauf deutlich rechtsschief ist, nur für 9,5% der Personen liegen weniger als fünf Jahre Daten vor, während sich im Bereich zwischen 19 und 24 Jahren fast 50% der Befragten wiederfinden. Dabei unterscheiden sich die Verteilungen für Männer und Frauen kaum, so dass auf eine getrennte Darstellung verzichtet wurde. Insgesamt kann festgehalten werden, dass es offensichtlich gelungen ist, einen langen Beobachtungszeitraum abzudecken und somit eines der Ziele der Studie, nämlich die Messung von Arbeitsbelastungen über einen langen Zeitraum hinweg, erreicht worden ist. Mit dieser Information konnte nun statistische Analysen zu den Fragestellungen dieser Arbeit durchgeführt werden. Die Ergebnisse werden im nächsten Kapitel vorgestellt.
11 Ergebnisse
Das Ziel der Analyse war es, in dem aus mehreren Quellen zusammengesetzten Datensatz nach Anhaltspunkten für oder gegen einen Einfluss psychosozialer Arbeitsbelastungen auf das Risiko der krankheitsbedingten Frührente zu suchen. Die Ergebnisse werden in diesem Kapitel vorgestellt. Prinzipiell dreht es sich um einen einfachen Vergleich zwischen Fällen und Kontrollen, bei dem mit statistischen Verfahren geprüft wird, ob ein bestimmter (Risiko-) Faktor in der einen Gruppe häufiger vorkommt als in der anderen. Zeigt sich ein Unterschied, beispielsweise in der Art, dass Fälle im Durchschnitt einer höheren berufsbezogenen Belastung ausgesetzt waren als Kontrollen, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass der untersuchte Faktor einen Einfluss darauf gehabt haben kann, dass eine Person zum Fall geworden ist. Es gibt verschiedene statistische Methoden, um solch einen Vergleich durchzuführen. Auf der einfachsten Ebene reichen Häufigkeits- oder Mittelwertvergleiche aus, die noch durch gruppenspezifische Auswertung verfeinert werden können. Simple Verfahren sind in der Regel den komplizierteren vorzuziehen, es sei denn, es gibt triftige Gründe, eine erweiterte Analysestrategie anzuwenden. Solche Gründe gibt es bei der hier behandelten Fragestellung, weil davon ausgegangen werden muss, dass ein Zusammenhang zwischen der Arbeit in Berufen mit hoher psychosozialer Belastung und dem Zielkriterium Frührente noch von verschiedenen Drittvariablen beeinflusst wird. Ein Beispiel ist das Alter, welches sowohl das Ausmaß der erfahrenen Belastung als auch das Berentungsrisiko mit bestimmt. Zudem sollte explizit auch das Zusammenspiel von psychosozialem Arbeitsstress mit anderen Risikofaktoren wie etwa physischen Arbeitsbelastungen untersucht werden (siehe Kap. 5). Insofern war es unabdingbar, multivariate statistische Modelle zu berechnen in denen mehrere Faktoren wechselseitig füreinander kontrolliert werden können. Das Ergebniskapitel ist so aufgebaut, dass zunächst die eingesetzten statistischen Verfahren erläutert werden. Dann folgt die Darstellung der Variablen, die in die Analysen aufgenommen worden sind. Sofern ihre Verteilung in der Studienpopulation nicht bereits vorgestellt wurde, wird dies im Zuge dieser Darstellung nachgeholt. Dann folgen die Ergebnisse der Auswertungen zu den einzelnen Fragestellungen dieser Arbeit. Den Anfang machen Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der krankheitsbedingten Frührente ohne Berücksichtigung der zugrundeliegenden Diagnose, darauf fol-
188
11 Ergebnisse
gen Resultate für einzelne Berentungsdiagnosen. Zum Schluss werden dann Berechnungen zum Verhältnis zwischen psychosozialen Belastungen und anderen Risikofaktoren, wie physischen Arbeitsbelastungen oder der sozialen Stellung, gezeigt.
11.1 Statistische Methoden Die Auswertung wurde mit dem Statistikpaket SPSS Version 12.0.1 für Windows durchgeführt. Sämtliche Analysen sind für Männer und Frauen getrennt berechnet worden und werden im Folgenden auch getrennt aufgeführt. Einfache bivariate Zusammenhänge werden je nach Skalenniveau der Variablen als Kreuztabelle oder Mittelwertvergleich illustriert. Auf die Angabe von Signifikanzniveaus wird auf dieser Analyseebene verzichtet, denn die gängigen Verfahren, wie der Chi2-Test oder der T-Test, sind stark von der Fallzahl abhängig (Backhaus et al. 2003, S.243). Je mehr Personen untersucht werden, desto eher wird ein signifikantes Ergebnis erzielt, so dass bei großen Datensätzen selbst kleinste und womöglich unbedeutende Unterschiede als hoch signifikant eingestuft werden. Da die Fallzahl in dieser Studie außergewöhnlich groß ist, wären bivariate Signifikanztests demnach eher irreführend als aussagekräftig und werden daher, den Empfehlungen der Fachliteratur folgend, nicht gezeigt (Sörensen, Sabroe, Olsen 1996). Resultate aus multivariaten Modellen, mit denen die Effektstärken der Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen auf die abhängige Variable Frühberentung nach Kontrolle für Drittvariablen geschätzt wurden, bilden den Kern des Ergebnisteils. Als Effektschätzer dient das ‚Odds Ratio’, ein relatives Maß, bei dem die Chance der belasteten Personen (Exponierte), ein Fall zu sein, durch die entsprechende Chance in der Gruppe der nicht belasteten Personen geteilt wird (Rothman & Greenland 1998a, S.96). Der Begriff Chance mag vielleicht etwas verwundern, weil es sich hier bei der Zugehörigkeit zur Fallgruppe um ein unerfreuliches Ereignis handelt81, er leitet sich aber ganz wertfrei aus dem Berechnungsprinzip ab, das dem Odds Ratio zugrunde liegt. Wie bei der Quote bei Pferdewetten - im Englischen als Odds (Chance) bezeichnet - wird jeweils für die Gruppe der Exponierten und die Gruppe der nicht-exponierten Personen die Zahl der berenteten durch die der nicht berenteten geteilt. Die beiden GruppenQuotienten werden dann im nächsten Schritt dividiert, um zum Odds Ratio zu kommen. Abbildung 15 zeigt dieses Prinzip anhand einer 2x2-Felder-Tafel unter der idealtypischen Annahme, dass sowohl die Fall-Variable als auch die Exposi81 Obwohl das Fall-Kriterium alles Mögliche sein kein, etwa eine Erkrankung oder der Kauf eines neuen Autos, wird hier der Einfachheit halber beim Beispiel der Frühberentung geblieben.
11.1 Statistische Methoden
189
tion eine binäre Ausprägung haben. Ein Odds Ratio (OR) von 1 bedeutet, dass die Exposition keinen Einfluss auf die Berentung hat, ein Wert >1 heißt, dass die Exposition die Wahrscheinlichkeit erhöht, berentet zu sein und ein Wert <1 bedeutet, dass die Exposition vor der Invaliditätsrente schützt. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Odds Ratio von der 1 abweicht, wird durch das 95%Konfidenzintervall ausgedrückt: schließt es den Wert 1 nicht mit ein, dann deutet das Odds Ratio mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 95% darauf hin, dass zwischen Exposition und Berentung ein Zusammenhang besteht, sei es nun in die eine oder die andere Richtung.
Odds Ratio (OR) berentet (Fall)
nicht berentet (Kontrolle)
Odds Ratio = Verhältnis der ,Chancen’
exponiert
A
B
Odds 1 = A/B
Odds 1
nicht exp.
C
D
Odds 2 = C/D
Odds 2
10 5
90 95
Odds 1 = 10/90 Odds 2 = 5/95
Beispiel: exponiert nicht exp.
0,11 0,05
=
2,2
Abbildung 15: Berechnung von Odds Ratios: Prinzipien und Rechenbeispiel (nach: Gordis 2001, S.193ff.) Das Odds Ratio ist das in Fall-Kontroll-Studien am häufigsten eingesetzte Zusammenhangsmaß (Beaglehole, Bonita, Kjellström 1997, S.62 ; Schulz et al. 2002). Der Grund ist, dass in diesem Studiendesign kein Krankheitsrisiko im eigentlichen Sinne ermittelt werden kann, da ein tatsächliches Risiko im Sprachgebrauch der Epidemiologie nur als ein Verhältnis der Inzidenz, also der Neuerkrankungsrate, in den Vergleichsgruppen ausgedrückt werden kann (Kreienbrock et al. 1997, S.45). Der entsprechende Schätzer ist das sogenannte relative Risiko, nämlich der Quotient aus der Inzidenz bei Exponierten und der NichtExponierten (Kreienbrock et al. 1997, S.47ff.), der vor allem in klassischen Längsschnittstudien berechnet werden kann. Das relative Risiko kann so gelesen werden wie das Odds Ratio, mit dem Unterschied, dass es sich hierbei tatsächlich um ein Verhältnis von Erkrankungsrisiken handelt, während das Odds Ratio in einer Fall-Kontroll-Studie nur ein Chancenverhältnis ausdrückt. Diese Unterscheidung ist aufgrund der dahinterstehenden qualitativen Annahmen über die
190
11 Ergebnisse
Möglichkeiten kausaler Schlüsse bedeutsam. Allerdings kann das Odds Ratio dann als eine gute Annäherung an das relative Risiko gelten, wenn die untersuchte Krankheit selten auftritt, weil das OR und dass RR in einem solchen Fall trotz der unterschiedlichen Berechnung zu ähnlichen Ergebnissen kommen (Bhopal 2002, S.207ff. ; Gordis 2001, S.195). Diese Bedingung ist hier erfüllt, da die krankheitsbedingte Frührente mit einem Stichprobenanteil von 10% noch als relativ seltenes Kriterium angesehen werden kann. Entsprechend können die im Folgenden präsentierten Odds Ratios durchaus im Sinne eines relativen Risikos interpretiert werden82. Für die Berechnung der Odds Ratios wurde das Verfahren der binären logistischen Regression verwendet, bei dem mit einer dichotomen abhängigen Variablen (=Zielgröße) gearbeitet wird (Backhaus et al. 2003, S.418ff.). Neben dem Hauptrisikofaktor, in diesem Fall die durch den Verausgabungs-BelohnungsQuotienten gemessene psychosoziale Arbeitbelastung, können noch verschiedene andere unabhängige Variablen in die Regression aufgenommen werden. Alle im Modell enthaltenen Variablen werden dann wechselseitig füreinander kontrolliert, so dass für jede dieser Variablen der von den anderen Faktoren unabhängige Zusammenhang mit der Zielgröße Frühberentung angegeben werden kann (Bender, Ziegler, Lange 2002). Im Gegensatz zur Zielgröße müssen die unabhängigen Variablen nicht dichotom sein, sondern können kategorial oder kontinuierlich in die Analyse aufgenommen werden. Es ist empfehlenswert eine kontinuierliche Variable in ihrer ursprünglichen Form in die Regression aufzunehmen, um die ganze Breite der Information zu nutzen. Allerdings ist das so ermittelte Odds Ratio nicht sehr anschaulich, da es die Erhöhung der Chance mit jeder Erhöhung des Wertes um eine Standardeinheit angibt. Aus diesem Grund sind alle unabhängigen Variablen kategorisiert worden83. Die Odds Ratios sind dann als das mit der entsprechenden Kategorie verbundene Risiko im Vergleich zu einer Referenzkategorie zu interpretieren (zumeist die Kategorie mit der niedrigsten Belastung). Welche Variablen im Einzelnen verwendet wurden und wie bei ihrer Bildung verfahren wurde, wird in den nächsten Abschnitten erläutert.
82 Bei einer strengen Auslegung dürfte trotz des genannten Arguments nicht von einem Risiko gesprochen werden, da das Effektmaß eben immer noch ein Schätzer des Risikos ist. Angesichts der eingeführten Sprachregelung von ‚Risikofaktoren’ und ‚Berentungsrisiken’ wird der Begriff Risiko im Folgenden aber weiter verwendet. 83 Da dieses Vorgehen einen Verlust an statistischer Information bedeutet, sind die in diesem Kapitel gezeigten Regressionen auch mit den originalen kontinuierlichen Werten gerechnet worden. Die Unterschiede zu den Modellen mit kategorisierten Variablen waren unbedeutend.
11.2 Modellbildung
191
11.2 Modellbildung 11.2.1 Die abhängige Variable: Frühberentungsfälle Die krankheitsbedingte Frührente (EU-Rente) ohne Beteiligung des Arbeitsmarktes ist die abhängige Variable bei den Analysen zur Hauptfragestellung dieser Arbeit. Sie hat nur zwei Ausprägungen: 0 = nicht berentet (Kontrolle) und 1 = berentet (Fall). Wie in der Stichprobenbeschreibung bereits dargelegt wurde, standen im Analysedatensatz 148.527 männlichen Kontrollen 16.503 männliche Fälle und 120.141 weiblichen Kontrollen 13.349 weibliche Fälle gegenüber. Zusätzlich zur Betrachtung aller Rentenfälle sind die Analysen für bestimmte Diagnosegruppen wiederholt worden, indem die Kontrollpersonen mit Frühberentungsfällen aufgrund einer bestimmten Krankheit verglichen wurden. Bisher ist die Verteilung der Diagnosen im Auswertungsdatensatz noch nicht dargestellt worden, was hiermit für die Hauptdiagnosegruppen der ICD-9 nachgeholt wird (zur ICD siehe Kap. 2). Die ICD-9 unterscheidet auf der obersten Stufe siebzehn Hauptgruppen von Krankheiten84. In Tabelle 27 sind die Diagnosen, die bei den Fällen zur Erwerbsunfähigkeit geführt haben, in diese Hauptgruppen gegliedert dargestellt85. Bei beiden Geschlechtern sind psychiatrische Krankheiten die häufigste Diagnose. 22,0% der Männer und 33,5% der Frauen hatten eine Diagnose aus dieser Gruppe. An zweiter und dritter Stelle stehen bei den Frauen Neubildungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen, bei den Männern sind es HerzKreislauf-Krankheiten und Neubildungen. Einen Eindruck, wie gut die Auswahl der EU-Neurenten in dieser Studie die Neuberentung im Untersuchungsjahr in Deutschland insgesamt wiederspiegelt, vermitteln die beiden rechten Spalten der Tabelle. Dort sind alle 1999 von der Gesetzlichen Rentenversicherung gewährten Erwerbsunfähigkeitsrenten mit der entsprechenden Hauptdiagnose aufgeführt. Die Verteilungen ähneln sich bei den meisten Diagnosegruppen und auch die Geschlechterunterschiede sind ähnlich gelagert. Eine Ausnahme sind die Neubildungen, an denen nur 13,3% der EU-Rentner und 15,3% der EU-Rentnerinnen in Deutschland erkrankt waren, während es in der Studienpopulation 19,8% und 26,0% waren. 84 Der Datensatz enthielt neben den übergeordneten Diagnosegruppen der ICD-9 auch den genauen Diagnoseschlüssel (Dreistelliger ICD-Code). Insgesamt waren 598 Einzeldiagnosen in unterschiedlicher Häufigkeit für die Erwerbsunfähigkeit bei den Fällen verantwortlich. Aufgrund der Menge der Erkrankungen hätte es den Rahmen des Darstellbaren bei weitem überstiegen, in dieser feinen Unterteilung Analysen vorzunehmen, ganz abgesehen davon, dass die Anzahl der Fälle dafür bei vielen Krankheiten zu gering gewesen wäre. Daher bleiben die diagnosespezifischen Auswertungen in dieser Arbeit auf die Hauptgruppen beschränkt. 85 Es fehlen „Komplikationen in der Schwangerschaft (630-676)“, die im Datensatz nicht vorkamen.
192
11 Ergebnisse
Tabelle 27: Anzahl und Anteil der ICD-9 Hauptdiagnosegruppen bei den Fällen in der Auswertungspopulation und bei allen EU-Renten in Westdeutschland 1999 (VDR 2000, S.58-61) Diagnosegruppen (ICD-9 Schlüssel)
Auswertungspopulation
EU-Neurentner GRV 1999
Männer Anzahl %*
Frauen Anzahl %*
Männer Anzahl %*
Frauen Anzahl %*
Infektiöse und parasitäre Krankheiten (001-139)
395 2,4
128 1,0
1.800 1,6
773 1,0
Neubildungen (140-239)
3.269 19,8
3.471 26,0
14.727 13,3
11.628 15,3
Endokrin, Ernährung, Stoffwechsel (240-279)
371 2,2
173 1,3
2.869 2,5
1.612 2,1
Blutkrankh. (280-289)
21 0,1
19 0,1
145 0,1
130 0,2
Psychiatrische Krankheiten (290-319)
3.629 22,0
4.474 33,5
23.449 21,2
23.541 30,9
Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane (320-389)
1.123 6,8
949 7,1
6.831 6,2
5.362 7,1
Krankheiten des Kreislaufsystems (390-459)
3.430 20,8
22.406 20,2
7.174 9,4
Krankheiten der Atmungsorgane (460-519)
580 3,5
306 2,3
4.065 3,7
1.749 2,3
Krankheiten der Verdauungsorgane (520-579)
521 3,2
281 2,1
3.058 2,7
1.583 2,1
Harn- und Geschlechtsorgane (580-629)
158 1,0
96 0,7
1.065 1,0
665 0,9
38 0,2
36 0,3
313 0,3
222 0,3
Hautkrankh. (680-709) Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes (710-739) Angeborene Anomalien (740-759)
2.369 14,4
1.202 9,0
1.899 14,2
23.334 21,1
17.818 23,4
39 0,2
46 0,3
518 0,5
532 0,7
5 0,0
7 0,1
54 0,1
44 0,1
Symptome, schlecht bez. Affektionen (780-799)
135 0,8
73 0,5
1.834 1,7
1.400 1,8
Verletzungen, Vergiftungen (800-999)
408 2,5
185 1,4
3.752 3,3
1.354 1,8
16.503 100
13.349 100
110.837 100
76.063 100
Affektionen mit Ursprung in Perinatalzeit (760-779)
Alle * Spaltenprozentwerte
11.2 Modellbildung
193
Dafür sind die Verhältnisse bei den Muskel-Skelett-Erkrankungen umgekehrt, diese Diagnose war in der Studienstichprobe seltener als in der Gesamtpopulation. Der Grund für die Abweichung ist, dass in der Statistik für Gesamtdeutschland auch EU-Neurentner enthalten sind, die wegen eines verschlossenen Arbeitsmarktes und nicht ausschließlich wegen der zugrundeliegenden Erkrankung berentet wurden. Da Muskel-Skelett-Erkrankungen in der Regel weniger schwerwiegend sind als Neubildungen (Tumore), steht zu erwarten, dass letztere häufiger zu einer sofortigen EU-Rente führen, während bei ersteren z.T. erst ein Zusammenspiel mit fehlenden beruflichen Alternativen nötig ist, um als EURentner anerkannt zu werden (siehe hierzu Kap. 2).
11.2.2 Kontrollfaktoren: sozialer Status Um abzuschätzen, welchen sozialen Status eine Studienperson während der Untersuchung eingenommen hat, werden mit der Ausbildung und dem Einkommen zwei klassische Indikatoren der sozialen Stellung verwendet (Marmot et al. 1999). Ausbildung wird über eine Kombination aus dem höchsten Schul- und Berufsabschluss erfasst. Die Variable unterscheidet vier Bildungsklassen, mit Hochschul- und Fachhochschulabsolventen als höchster Klasse. Darauf folgen Abiturienten mit und ohne Berufsausbildung, Haupt- und Realschüler mit Berufsausbildung (Lehre und beruflich-schulische Ausbildung) und als unterste Bildungsgruppe Personen ohne jede Berufsausbildung. Zur Abwechslung stammen die Bildungsangaben nicht aus einer der JEMs, sondern aus den Ausgangsdaten der Rentenversicherer, die für ihre Versicherten– und damit auch für die Studienpersonen – diese Information routinemäßig erfassen. Allerdings stellte sich die Erfassung als nicht vollständig heraus, für 2,4% der Studienpopulation lag keine Angabe zur Bildung vor. Um diese Personen nicht für die Analyse zu verlieren, wurden sie in den Berechnungen als eigene Kategorie der Bildungsvariable geführt, die somit auf fünf Ausprägungen kommt. Alle Angaben zum Einkommen sind den berufsbiographischen Daten der Historikdatei entnommen, in der Informationen über den Bruttolohn der Personen für die erfassten Meldezeiten vorlagen. Aus Gründen des Datenschutzes sind die Einkommensangaben aber stark zusammengefasst worden. Die Variable, die in den Analysen verwendet wurde, basiert auf der Verteilung des mittleren Jahreseinkommens in der Stichprobe: orientiert an den Tertilgrenzen86 der Einkom-
86 Die Tertilgrenzen sind die Werte, welche die Einkommensverteilung in drei zahlenmäßig gleich große Gruppen teilen. Das heißt beispielsweise, dass unterhalb der ersten Tertilgrenze die 33,3% der Studienpersonen liegen, deren Gehalt niedriger ist als das der restlichen 66,6%.
194
11 Ergebnisse
mensverteilung (nach Geschlechtern getrennt ermittelt) sind drei Einkommensklassen gebildet worden, nämlich niedrige, mittlere und hohe Einkommen. Tabelle 28: Verteilung der Ausbildungsabschlüsse und des Einkommens nach Altersklassen Ausbildung >
Ausbildung unbekannt %* (N)
Keine Berufsausbildung %* (N)
Berufsausbildung %* (N)
%* (N)
Gesamt
2,4 (7.082)
10,0 (29.776)
72,4 (216.030)
5,6 (16.722)
9,7 (28.910)
Männer Altersklassen
2,2 (3.708)
8,5 (14.009)
71,7 (118.373)
5,2 ( 8.581)
12,3 (20.359)
x 40-44 Jahre
1,6 ( 817)
7,9 ( 3.957)
72,2 ( 36.393)
6,8 ( 3.447)
11,4 ( 5.765)
x 44-49 Jahre
2,0 ( 793)
7,1 ( 2.856)
71,2 ( 28.803)
5,5 ( 2.237)
14,2 ( 5.751)
x 50-54 Jahre
2,1 ( 680)
8,9 ( 2.943)
71,5 ( 23.578)
4,4 ( 1.462)
13,1 ( 4.314)
x 55-59 Jahre
3,4 (1.418)
10,3 ( 4.253)
71,8 ( 29.599)
3,5 ( 1.435)
11,0 ( 4.529)
2,5 (3.374)
11,8 (15.767)
73,2 ( 97.657)
6,1 ( 8.141)
6,4 ( 8.551)
Frauen Altersklassen
Abitur
Fachhoch- u. Hochschule %* (N)
x 40-44 Jahre
1,5 ( 606)
8,6 ( 3.373)
72,2 ( 28.439)
9,0 ( 3.552)
8,7 ( 3.421)
x 44-49 Jahre
2,3 ( 795)
10,9 ( 3.828)
73,8 ( 25.898)
5,7 ( 2.015)
7,3 ( 2.552)
x 50-54 Jahre
2,9 ( 801)
13,0 ( 3.642)
74,5 ( 20.793)
4,7 ( 1.300)
5,0 ( 1.387)
x 55-59 Jahre
3,8 (1.172)
15,9 ( 4.942)
72,4 ( 22.527)
4,1 ( 1.274)
3,8 ( 1.191)
1. Tertil (niedrig)
2. Tertil (mittel)
3. Tertil (hoch)
Einkommen in Tertilen > Gesamt
/
/
/
33,3 (54.713)
33,3 (54.714)
33,3 (54.713)
x 40-44 Jahre 39,2 (19.627)
34,8 (17.447)
26,0 (13.018)
x 44-49 Jahre 31,6 (12.689)
33,7 (13.534)
34,8 (13.983)
x 50-54 Jahre 30,0 ( 9.830)
32,5 (10.664)
37,5 (12.309)
x 55-59 Jahre 30,6 (12.567) 33,3 (44.220) Frauen Altersklassen x 40-44 Jahre 35,3 (13.848)
31,8 (13.069) 33,3 (44.220)
37,5 (15.403) 33,3 (44.220)
34,8 (13.643)
29,8 (11.688)
x 44-49 Jahre 31,0 (10.799)
34,4 (11.981)
34,7 (12.084)
x 50-54 Jahre 31,6 ( 8.760)
32,9 ( 9.118)
35,5 ( 9.844)
x 55-59 Jahre 35,0 (10.813)
30,7 ( 9.478)
34,3 (10.604)
Männer Altersklassen
* Zeilenprozentwerte: Anteile der Bildungs- oder Einkommensklassen in den Altersklassen
11.2 Modellbildung
195
Die Kennwerte der beiden sozialen Statusindikatoren sind in Tabelle 28 für Männer und Frauen getrennt aufgeführt. Zusätzlich werden die Daten noch für Altersklassen gesondert gezeigt. Alle Unterschiede der Ausbildungsabschlüsse zwischen den betrachteten Gruppen entsprechen insgesamt den Erwartungen: Männer haben im Schnitt eine höhere Ausbildung als Frauen und in den jüngeren Altersgruppen sind bei beiden Geschlechtern die Ausbildungsabschlüsse tendenziell höher, wobei die Unterschiede bei den Frauen deutlicher sind. Betrachtet man die Einkommensklassen, so steigt das Einkommen sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen mit dem Alter an. In der höchsten Altersgruppe stagnieren die Einkommen aber, bei den Frauen geht der Anteil der Personen mit hohen Einkommen sogar gegenüber der Altersgruppe der 50- bis 54jährigen zurück. Absolute Unterschiede zwischen Männern und Frauen können nicht betrachtet werden, da die Einkommensklassen auf Basis der geschlechtsspezifischen Verteilung des Einkommens gebildet wurden, so dass sich bei Männern und Frauen gesamt gesehen in jeder Einkommensklasse genau 33,3% der Studienpersonen befinden.
11.2.3 Kontrollfaktoren: physische Arbeitsbelastungen Da die JEMs eine ganze Reihe von Arbeitsbelastungen enthielten, bot sich die Chance, bei der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem psychosozialen Arbeitsumfeld und der Invalidität auch die Wirkung alternativer Risikofaktoren zu berücksichtigen. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um physische Arbeitsbelastungen. Dass solche Faktoren für eine Analyse zur Verfügung standen ist erfreulich, haben sich doch gerade physische Gefahren in der bisherigen Forschung zu den Ursachen der Frühberentung als starke Einflüsse auf das Berentungsgeschehen herausgestellt (siehe hierzu Kap. 3). Die Messung der physischen Arbeitsbelastungen erfolgte mit der Methode der Job-Exposure-Matrizen und ging im Prinzip so vonstatten wie bei der ausführlich geschilderten Erfassung beruflicher Gratifikationskrisen. In den BIBB/IAB-Erhebungen wurden zunächst passende Fragen identifiziert, für die dann arbeitsplatzbezogene Durchschnittswerte berechnet und in die JEMs eingefügt wurden. Im Einzelnen sind für die Regressionsanalysen folgende Belastungen als Kontrollvariablen ausgewählt worden: 1. Index körperliche Anstrengungen, 2. Arbeit unter Rauch/Staub/Gasen/Dämpfen und 3. Index Schichtarbeit. In Tabelle 29 sind die entsprechenden Fragen und Antwortformate in der bereits aus der Beschreibung der psychosozialen Messung bekannten Form für die vier JEMs aufgelistet.
196
11 Ergebnisse
Auch hier sind wieder Abweichungen in den Frageformulierungen und Antwortvorgaben zu erkennen. Am auffälligsten sind die Befragungslücken bei der Frage nach der Arbeit unter Vibrationen („Arbeit mit spürbaren, starken Erschütterungen, Stößen, Schwingungen“), die in den Erhebungen 1991/91 und 1979 nicht gestellt wurde. Tabelle 29: Operationalisierung von physischen Arbeitsbelastungen: Kurzfassung der Fragen und Antworten Ergebung
Rauch, Staub, Gas, Dampf
Schichtarbeit
1998/99
-Bei Rauch, Staub oder unter Gasen, Dämpfen arbeiten A
-Arbeit in Wechselschicht C -Arbeit zwischen 23.00 und 5.00 Uhr D
1991/92
-Bei Rauch, Staub oder unter Gasen, Dämpfen arbeiten B
-Arbeit in Wechselschicht B -Arbeit zwischen 23.00 und 5.00 Uhr B
1985/86
-Bei Rauch, Staub oder unter Gasen, Dämpfen arbeiten A
-Arbeit in Wechselschicht A -Nachtarbeit zwischen 23.00 und 5.00 Uhr A
1979
-Bei Rauch, Staub oder unter Gasen, Dämpfen arbeiten A
-Nacht- oder Schichtarbeit A
Ergebung
Körperliche Anstrengung
1998/99
-Lasten von mehr als 20 kg (Männer) / 10 kg (Frauen) heben und tragen A -Arbeit mit spürbaren, starken Erschütterungen, Stößen, Schwingungen A -In gebückter, hockender, knieender oder liegender Stellung, über Kopf arbeiten A -Unter Kälte, Nässe, Feuchtigkeit oder Zugluft arbeiten A
1991/92
-Lasten von mehr als 20 kg heben u. tragen B -(Befragungslücke) -In gebückter, hockender, knieender oder liegender Stellung, über Kopf arbeiten A -Unter Kälte, Nässe, Feuchtigkeit oder Zugluft arbeiten B
1985/86
-Lasten von mehr als 20 kg heben u. tragen A -Arbeit mit spürbaren, starken Erschütterungen, Stößen, Schwingungen A -In gebückter, hockender, kniender oder liegender Stellung, über Kopf arbeiten A -Unter Kälte, Nässe, Feuchtigkeit oder Zugluft arbeiten A
1979
-Lasten von mehr als 20 kg heben u. tragen A -(Befragungslücke) -In gebückter, hockender, kniender oder liegender Stellung, über Kopf arbeiten A -Unter Kälte, Nässe, Feuchtigkeit oder Zugluft arbeiten A Antwortformate (Werte = bereits ins Messformat recodiert) A: B: C: D:
4=“Praktisch immer“ 3=“Häufig“ 2=“Immer mal wieder“ 1=“selten“ 0=“praktisch nie“ 3,5=“Genannt“ 1=“Nicht genannt 3,5=“Ja“ 1=“Nein“ 3=“Regelmäßig“ 1=“Gelegentlich“ 0=“Nie“
11.2 Modellbildung
197
In beiden Fällen sind die JEMs mit den entsprechenden Informationen aus der zeitlich nachfolgenden Erhebung gefüllt worden. Wie schon bei der Messung von Gratifikationskrisen musste außerdem dass Problem der variierenden Antwortskalen gelöst werden. Als Standard diente dabei die in den BIBB/IABSurveys am häufigsten verwendete Skala ‚praktisch nie’ – ‚selten’ – ‚immer mal wieder’ – ‚häufig’ – ‚praktisch immer’. Die Antworten wurden von 0 (‚praktisch nie’) bis 4 (‚praktisch immer’) nummeriert, hohe Werte stehen also für eine hohe Belastung. Abweichende Antwortformate wurden dann so umcodiert, dass sie sich in die fünfstufige Skalierung fügten (Werte siehe Tabelle 29). Von den drei Belastungsvariablen beruhen zwei auf einem Index aus mehreren Fragen. Der Variable Schichtarbeit wurde als Mittelwert der Antworten auf zwei Fragen zur Wechselschicht und Nachtarbeit gebildet. Der andere Index, der als ‚körperliche Anstrengung’ betitelt wird, ist der Mittelwert aus vier Fragen zu Aspekten körperlich anstrengender Arbeit. Da die vier Fragen hoch korrelieren, wurde diese Index-Lösung der Verwendung von Einzelvariablen vorgezogen, um das Problem der Multikollinearität in den Regressionsrechnungen zu umgehen (Backhaus et al. 2003, S.88f.). Die interne Konsistenz der Fragen zu körperlichen Anstrengungen ist mit 0.88 bei den Männern und 0.66 bei den Frauen hoch genug, um die gemeinsame Verwendung in einem additiven Index zu rechtfertigen. Die Arbeit unter Rauch, Staub, Gas oder Dampf ist in allen Erhebungen als Einzelvariable erfragt worden. Inhaltlich soll sie als – zugegebenermaßen unspezifischer – Indikator für physikalisch-chemische Belastungen fungieren. Das Einfügen in die JEMs und die Zuordnung über die Berufsbiographie erfolgten genau wie bei der psychosozialen Messung. Es wurden MedianeBelastungswerte für alle Arbeitsplatztypen der JEM gebildet und den Studienpersonen Meldetag für Meldetag über ihren Berufsschlüssel zugeordnet. Schließlich wurde der auf diese Weise gewonnene Gesamtwert noch durch die Zahl der Meldetage geteilt, im Ergebnis lag also ein mittlerer täglicher Belastungswert vor. Die Werte bewegen sich durch die Normierung anhand der Meldetage im Bereich der ursprünglichen Skala von 0 bis 4. Beispielsweise bedeutet ein individueller Wert von 2,1 für die Variable körperliche Anstrengungen, dass die Person, über die gesamte Studiendauer betrachtet, überwiegend in Berufen gearbeitet hat, in denen im Schnitt ‚immer mal wieder’ körperlich anstrengende Tätigkeiten ausgeübt werden. Wie schon beim Einkommen wurden die kontinuierlichen Werte der drei physischen Arbeitsbelastungen kategorisiert, bevor sie in die logistischen Regressionsmodelle eingefügt wurden. Die Unterteilung erfolgte für jedes Geschlecht getrennt und orientiert an den Tertilgrenzen der Verteilung, so dass die kategoriale Variable immer drei Gruppen unterscheidet. Sie werden in Anlehnung an die ursprüngliche Skala als Häufigkeit des Auftretens der jeweiligen Arbeitsbelastung mit den Kategorien ‚selten oder nie’ ‚gelegentlich’ und
198
11 Ergebnisse
‚häufig’ bezeichnet. Für die Beschreibung der Werte in Tabelle 30 wird aber noch auf die kontinuierlichen Werte zurückgegriffen, um zu zeigen, in welcher Höhe die Belastung der Stichprobe lag. Ein erster auffälliger Unterschied ist, dass Männer weit häufiger in Berufen mit physischen Belastungen gearbeitet haben als Frauen, beim Faktor Rauch sind die Werte der Männer dreimal so hoch, bei körperlichen Anstrengungen und Schichtarbeit doppelt so hoch wie bei den Frauen. Zwischen den Geschlechtern unterscheidet sich auch die Verteilung der Werte über die Altersklassen. Bei den Männern zeichnet sich in der Tendenz eine Abnahme physischer Arbeitsbelastungen mit steigendem Alter ab. Für die Studienteilnehmerinnen ist dagegen keine Verbesserung mit dem Alter zu erkennen, im Gegenteil wird die Arbeit unter Rauch, Staub, Gas, Dampf sogar häufiger. Eine wahrscheinliche Erklärung hierfür ist, dass Frauen in den oberen Altersklassen aufgrund einer im Durchschnitt niedrigeren Ausbildung eher unqualifiziertere Tätigkeiten ausgeführt haben, als ihre jüngeren und besser ausgebildeten Kolleginnen. Tabelle 30: Verteilung der physischen Arbeitsbelastungen nach Altersklassen
11.2 Modellbildung
199
11.2.4 Weitere Kontrollfaktoren Mit dem Alter, dem Rentenversicherungsträger und der Zeit unter Risiko bzw. der Meldedauer wurden noch drei weitere Kontrollvariablen in die multivariaten Modelle aufgenommen. Eine Kontrolle für das Alter war aufgrund seiner Bedeutung für das Frühberentungsrisiko und die Verteilung der Arbeitsbelastungen unerlässlich. Die beiden anderen Variablen kamen im Verlauf der Studienbeschreibung ebenfalls schon mehrfach zur Sprache, da sie Kriterien zum Matchen der Fälle und Kontrollen waren. Der Grund, diese Faktoren dennoch als Drittvariablen in die Analyse aufzunehmen ist, dass das Matching hier als Häufigkeitsmatching interpretiert wurde, da ansonsten eine konditionale Regression hätte gerechnet werden müssen, bei der die Zuordnung der individuell gematchten Paare erhalten bleibt (Kreienbrock et al. 1997, S.237ff.). Da dieses Verfahren aufgrund der Stichprobengröße aber sehr aufwendig gewesen wäre, wurde stattdessen die einfache binär logistische Regression zur Kalkulation der Odds Ratios eingesetzt. Diese Vorgehensweise erscheint aber unproblematisch, da die konditionale und die unkonditionale Regression zu übereinstimmenden Ergebnissen führen, wenn alle Straten ausreichend besetzt sind (je mehr als 10 exponierte und nicht exponierte Personen, vgl. Rothman et al. 1998b), was im Studiendatensatz der Fall war. Um aber mögliche Verzerrungen durch eine unvollständige Kontrolle für Drittvariablen auszuschließen, wurden die Matchingkriterien so wie im Häufigkeitsmatching üblich, in den multivariaten Modellen zusätzlich kontrolliert.
11.2.5 Der Haupt-Risikofaktor: psychosoziale Arbeitsbelastungen Nach der Verbindung der Job-Exposure-Matrizen mit den persönlichen Berufsbiographien lag für jede Studienperson ein Messwert für die mittlere psychosoziale Belastung in den von ihr ausgeübten Berufen vor. Dieser Wert basiert auf der Addition der arbeitsplatzbezogenen Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten (VBQ) aus den JEMs über die gesamte Berufsbiographie. Für die Analyse wurde der derart kumulierte Quotient noch durch die Anzahl der individuellen Meldetage geteilt, um analog zu den physischen Belastungen zu einem mittleren Belastungswert pro Arbeitstag zu kommen. Man könnte den Wert auch als mittlere Tagesdosis für die Zeit der Erfassung in der Studie bezeichnen. Um die Interpretation der Ergebnisse zu erleichtern, wurde der zunächst noch kontinuierliche Quotient mit einem Wertebereich87 zwischen 0.25 und 2.00 87 Der VBQ hatte in den Matrizen einen Bereich von 0,5 bis 2 (siehe Kap. 9). Im endgültigen Auswertungsdatensatz liegt die untere Grenze bei 0,25, da beim Einspielen der JEM-
200
11 Ergebnisse
für die Darstellung in dieser Arbeit in eine kategoriale Variable umgewandelt. Die Unterteilung erfolgte verteilungsbasiert, indem - orientiert an den Tertilgrenzen des Quotienten - drei gleich große Gruppen gebildet wurden, eine mit niedriger Belastung durch berufliche Gratifikationskrisen, eine mit mittlerer und eine mit hoher Belastung. Die Gruppenbildung erfolgte für jedes Geschlecht einzeln, da alle Auswertungen für Männer und Frauen getrennt durchgeführt wurden. Statistische Kennwerte der neuen kategorialen Variable sind in Tabelle 31 aufgeführt. Dort findet sich die Anzahl der Studienpersonen in jeder der drei Belastungsgruppen sowie der Mittelwert, die Standardabweichung und der Median des kontinuierlichen arbeitsplatzbezogenen VBQ in der jeweiligen Kategorie. Interessant ist der Geschlechtervergleich. Männer haben insgesamt gesehen höhere Werte als Frauen, d.h. sie haben im Durchschnitt eher in Berufen mit einem hohen Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung gearbeitet. Dadurch, dass die kategoriale Variable für die Geschlechter getrennt bestimmt wurde, sind die absoluten Unterschiede zwischen Männern und Frauen für die folgenden Zusammenhangsanalysen aber nur noch von untergeordneter Bedeutung. Tabelle 31: Kennwerte des berufsbezogenen Verausgabungs-BelohnungsQuotienten für die kategorialen Belastungsgruppen Männer Anzahl Mittel SD Median
Frauen Anzahl Mittel SD Median
165.030 0,82
0,08
0,83
133.490 0,71
0,12
0,73
niedrige Belastung [1.Tertil] mittlere Belastung [2.Tertil]
55.009 0,75 55.011 0,83
0,08 0,01
0,78 0,83
44.496 0,58 44.497 0,73
0,09 0,03
0,60 0,73
hohe Belastung
55.010 0,89
0,04
0,88
44.497 0,83
0,06
0,81
Gesamt
[3.Tertil]
Weitere Informationen über die Verteilung der psychosozialen Arbeitsbelastungen im Analysedatensatz werden in Tabelle 32 gegeben. Bezogen auf das Alter ist bei den Männern nur ein kleiner Unterschied in der Belastung zu erkennen. In der jüngeren Gruppe ist sie etwas höher, 34,8% der Männer zwischen 40 und 44 Jahren fallen in die Kategorie hohe Belastung, während sie in den älteren Gruppen nur zwischen 32,6 und 32,8% der Personen enthält. Bei den Frauen ist die Tendenz zu einer höheren Belastung in der jüngeren Altersklasse ausgeprägter, 6,5 Prozentpunkte liegen hier die jüngste und die älteste Gruppe auseinander.
Informationen über die Historikdatei einer Teilzeitbeschäftigung nur der halbierte Belastungsscore zugewiesen worden ist.
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
201
Tabelle 32: Verteilung der kategorialen Belastungsvariable nach Altersklassen niedrige Belastung %* (N)
mittlere Belastung %* (N)
hohe Belastung %* (N)
33,3 (55.009)
33,3 (55.011)
33,3 (55.010)
x 40-44 Jahre
32,5 (16.396)
32,7 (16.462)
34,8 (17.521)
x 44-49 Jahre
34,3 (13.858)
32,9 (13.311)
32,8 (13.271)
x 50-54 Jahre
33,3 (10.967)
34,0 (11.214)
32,7 (10.796)
x 55-59 Jahre
33,4 (13.788)
34,0 (14.024)
32,6 (13.422)
Frauen Altersklassen x 40-44 Jahre
33,3 (44.496)
33,3 (44.497)
33,3 (44.497)
25,4 ( 9.990)
36,8 (14.493)
37,8 (14.908)
x 44-49 Jahre
34,3 (12.039)
34,0 (11.922)
31,7 (11.127)
Männer Altersklassen
x 50-54 Jahre
37,3 (10.405)
31,4 ( 8.771)
31,3 ( 8.729)
x 55-59 Jahre
38,8 (12.062)
29,9 ( 9.311)
31,3 ( 9.733)
* Zeilenprozentwerte: Anteile der Belastungsgruppen in den Altersklassen
Die Hypothese, die es nun zu testen gilt, ist, ob die Arbeit in Berufen, in denen laut den Daten der bevölkerungsbezogenen BIBB/IAB-Erhebungen eine hohe Verausgabung und eine niedrige Belohnung aufeinander treffen, ein Risiko für die Invaliditätsrente bedeutet.
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse Zum Auftakt der Zusammenhangsanalysen wird in Abbildung 16 in einfacher Form der Anteil der Fälle in jeder der drei gleich großen Belastungsgruppen gezeigt. Als Anhaltspunkt für den Vergleich dient die 10%-Linie, denn dadurch, dass jedem Fall neun Kontrollen zugeordnet wurden, beträgt der Anteil der Fälle in der Gesamtstichprobe genau 10%. In der Gruppe mit den höchsten Werten für berufsbezogene psychosoziale Arbeitsbelastungen ist der Anteil der Fälle bei beiden Geschlechtern höher als bei Personen mit mittleren oder niedrigen Belastungswerten. Die beiden letzteren Gruppen unterscheiden sich aber kaum voneinander.
202
11 Ergebnisse
Abbildung 16: Anteil der Berentungsfälle in den drei psychosozialen Belastungsgruppen Bei den Männern zählen 9,3% der Personen mit einer niedrigen Belastung zu den Berentungsfällen, bei den hoch Belasteten sind es 11,5%. Das entsprechende Verhältnis bei den Frauen ist 9,5% zu 10,9%. In absoluten Zahlen betrachtet sind dies bei den hoch belasteten Männern 1.207 Berentungsfälle mehr, bei den Frauen macht der Unterschied 606 Fälle aus (siehe auch Tabelle 33). Tabelle 33: Verteilung von Fällen und Kontrollen in den drei psychosozialen Belastungsgruppen
Die Unterschiede, insbesondere in den Prozentanteilen, mögen auf den ersten Blick nicht sonderlich groß erscheinen. Dieser Eindruck relativiert sich aber
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
203
angesichts der Häufigkeit des betrachteten Kriteriums, bei dem bereits ein gering erscheinender prozentualer Unterschied eine substantielle Anzahl von Betroffenen bedeutet. Zudem müssen einige methodische Besonderheiten bedacht werden. Ein Punkt ist die indirekte Zuordnung der Belastung durch die JEM, die mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu geführt hat, dass durch eine unvermeidliche Fehlklassifikation von Studienpersonen hinsichtlich der Arbeitsbelastungen die Unterschiede zwischen den Gruppen verkleinert worden sind (Armstrong 1990 ; Boyer & Hemon 1993a ; McKeown-Eyssen & Tibishirani 1994). Weil das Thema Fehlklassifikation bei dieser Methode von so hoher Bedeutung ist, wird darauf im Diskussionskapitel noch ausführlich eingegangen. Hinzu kommt ein weiterer Punkt: durch das besondere Design der Studie, insbesondere dem Matching, ist der einfache Häufigkeitsvergleich mit Vorsicht zu genießen, da eine Nichtbeachtung der maskierenden oder verstärkenden Einflüsse von Designvariablen, wie der Meldedauer, zu falschen Einschätzungen von Effektstärken führen kann. Eine Möglichkeit, auf den letzten Punkt angemessen zu reagieren, ist es, multivariate Verfahren anzuwenden und besagte Variablen statistisch zu kontrollieren. Hier wurde die logistische Regression eingesetzt, und Tabelle 34 zeigt für Männer und Frauen die Stärke des Zusammenhangs zwischen der Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen und dem Frühberentungsrisiko, wenn zugleich potentielle Störgrößen berücksichtigt werden. Tabelle 34: Psychosoziale Arbeitsbelastung und Berentung: Ergebnisse logistischer Regressionen Modell I OR [95% KI]
Modell II OR [95% KI]
Modell III OR [95% KI]
Modell IV OR [95% KI]
Belastung Männer x niedrig (Referenz)
1
1
1
1
x mittel
0,99 [0,95-1,03]
1,07 [1,02-1,12]
1,12 [1,07-1,17]
1,10 [1,05-1,15]
x hoch
1,31 [1,26-1,37]
1,41 [1,35-1,47]
1,33 [1,27-1,39]
1,29 [1,23-1,35]
Belastung Frauen x niedrig (Referenz) x mittel
1 1,16 [1,11-1,21]
1 1,19 [1,14-1,25]
1 1,23 [1,18-1,30]
1 1,13 [1,08-1,19]
x hoch
1,32 [1,27-1,39]
1,42 [1,36-1,49]
1,48 [1,41-1,55]
1,27 [1,21-1,34]
Modell kontrolliert für
x Alter
x
+ RV-Träger, x + Ausbildung, x + körperliche Meldedauer Einkommen Anstrengung, Arbeit unter Rauch etc., Schichtarbeit
204
11 Ergebnisse
Die multivariaten Regressionsmodelle sind aufsteigend nummeriert, und mit jeder steigenden Modellnummer werden den Variablen aus dem vorangegangenen Modell neue Kontrollfaktoren hinzugefügt, bis im letzten Modell alle Variablen gleichzeitig kontrolliert werden. Welche das im Einzelnen sind, ist der Tabelle zu entnehmen. Als Effektschätzer sind in der Tabelle Odds Ratios und ihre 95% Konfidenzintervalle [95% KI] angegeben. Ist das Odds Ratio größer als 1 und liegt auch die untere Grenze des Konfidenzintervalls über der 1, dann kann von einem statistisch signifikant erhöhten Odds Ratio gesprochen werden. Das OR muss immer relativ im Vergleich zu einer Referenzgruppe gesehen werden, bei diesen Auswertungen ist dies die Gruppe mit einer niedrigen psychosozialen Belastung. Um nun zur inhaltlichen Betrachtung zurück zu kehren, sei darauf hingewiesen, dass auch nach einer umfangreichen Kontrolle anderer Einflussfaktoren ein hoher psychosozialer Belastungswert mit einem erhöhten Risiko einhergeht, Invaliditätsrentner zu sein. Frauen mit einem hohen Verausgabungs-BelohnungsQuotienten haben im Vergleich zu niedrig Belasteten ein 1,27fach erhöhtes Berentungsrisiko. Eine mittlere Belastung geht noch mit einer 1,13fachen Berentungswahrscheinlichkeit einher. Beide Odds Ratios haben sehr enge Konfidenzintervalle und liegen beide mit ihren unteren Grenzen über der 1, was für einen robusten Effekt spricht88. Das Bild bei den Männern ist ähnlich. Im vollständig kontrollierten Modell IV hat die hoch belastete Gruppe ein OR von 1,29 und die der mittel Belasteten ein OR von 1,10. Unter Berücksichtigung der Konfidenzintervalle liegt die Berentungswahrscheinlichkeit demnach bei Studienpersonen mit einem besonders ungünstigen psychosozialen Arbeitsumfeld bei Männern und Frauen zwischen 21 und 35% höher als in der Referenzgruppe. Dieses Ergebnis ist statistisch für die im Modell enthaltenen konkurrierenden Risikofaktoren kontrolliert. Betrachtet man die einzelnen Stufen der Kontrolle über die vier Modelle, so fällt auf, dass die Verbindung zwischen dem Haupt-Risikofaktor und der abhängigen Variable insgesamt nur mäßig beeinflusst wird. Im Vergleich zu dem nur für das Alter kontrollierten Modell steigen die Odds Ratios nach Kontrolle für die ‚technischen’ Variablen Rentenversicherungsträger und Meldedauer sogar an. Diese zweite Modell kommt dem Brutto-Effekt der Belastungsvariable wohl am nächsten, da hier verzerrende Einflüsse des Studiendesigns ausgeglichen werden. Eine weitere Kontrolle für die beiden Faktoren Ausbildung und Einkommen führt bei den Männern in der hohen Belastungsgruppe zu einer Verringerung des Zusammenhangs, in der mittleren Gruppe verstärkt er sich dagegen 88 Die Breite der Konfidenzintervalle wird aber auch durch die Zahl der untersuchten Personen in einer Analyse bestimmt und die war in dieser Studie hoch. Die engen Grenzen sollten daher nicht überbewertet werden.
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
205
leicht. Diese Verstärkung ist bei den Frauen in beiden Belastungsstufen zu erkennen. Im letzten Modell, in dem neben allen vorgenannten Variablen auch noch die physischen Arbeitsbelastungen enthalten sind, werden die Odds Ratios bei beiden Geschlechtern wieder kleiner, sie sind aber nach wie vor erhöht. Ein Teil des Zusammenhangs zwischen der Arbeit in psychosozial belastenden Berufen und dem Rentenrisiko wird demnach durch eine gleichzeitige hohe Belastung durch physische Beanspruchungen erklärt. Damit kann bezogen auf die Hauptfragestellung dieser Arbeit bereits ein erstes Fazit gezogen werden: in den Analysen zeigt sich, dass Studienpersonen, die in Berufen mit einem hohen Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewicht gearbeitet haben, häufiger krankheitsbedingt berentet worden sind als Personen mit niedriger Belastung. Auch Personen mit nur mittlerer Belastung waren häufiger frühberentet, allerdings weniger oft als diejenigen mit hohen Belastungen, was für einen kontinuierlichen Anstieg des Frühberentungsrisikos mit steigenden psychosozialen Arbeitsbelastungen spricht. Durch die Kontrolle von Drittvariablen wird der Zusammenhang nur wenig beeinflusst, obwohl diese Variablen für sich genommen ebenfalls mit erhöhten Berentungsrisiken einhergehen. Das zeigt Tabelle 35, in der die Odds Ratios für die einzelnen Drittvariablen89 aufgeführt sind. Die Odds Ratios stammen alle aus einem für alle weiteren Variablen kontrollierten Modell. Die Variable mit dem stärksten unabhängigen Effekt ist das Alter. Mit jeder Altersstufe steigt die Berentungswahrscheinlichkeit stark an. Betroffen sind beide Geschlechter, bei Männern ist der Zusammenhang aber noch deutlicher ausgeprägt als bei den Frauen. Männliche Studienpersonen im Alter von 55 bis 59 Jahren haben beispielsweise ein 10fach höheres Risiko, zu den Erwerbsunfähigkeitsfällen zu zählen, als die jüngste Altersklasse, die als Referenz gedient hat. Dass das Alter auch unabhängig von den kontrollierten Risikofaktoren einen starken Einfluss darauf hat, ob eine Person erwerbsunfähig ist, war zu erwarten und ist aus vielen Studien bekannt (siehe Kap. 3). Die Stärke des Zusammenhangs wird aber wahrscheinlich überschätzt. Interne Analysen haben gezeigt, dass beim Matching die Kontrollen im Durchschnitt jünger waren, als die Fälle, so dass der Alterseffekt wohl zum Teil auf ein methodischen Phänomen zurückgeht. Aus der in Kapitel 3 vorgestellten Literatur ist bekannt, dass ein niedriger sozialer Status ein Risiko für die krankheitsbedingte Frührente darstellt. In dieser Studie ist es nicht anders. Im Vergleich zur höchsten Bildungs- bzw. Einkommensklasse, steigt das Risiko mit jeder niedrigeren Klasse weiter an, wobei hier ebenfalls die Odds Ratios bei den Männern höher ausfallen als bei den Frauen, auch wenn die Unterschiede nicht so deutlich sind wie beim Alter. 89 Die Ergebnisse für die beiden Designvariablen Rentenversicherungsträger und Meldedauer werden nicht gezeigt.
206
11 Ergebnisse
Tabelle 35: Verschiedene Einflussfaktoren und Berentung: Ergebnisse logistischer Regressionen
Alter x 40-44 Jahre
Frauen OR* [95% KI]
1
1
x 44-49 Jahre
2,06 [1,93-2,20]
1,75 [1,64-1,86]
x 50-54 Jahre
4,61 [4,33-4,90]
2,95 [2,77-3,15]
x 55-59 Jahre
10,0 [9,46-10,61]
5,73 [5,40-6,07]
Ausbildung x Fachhoch- u. Hochschule
1
1
x Abitur
1,53 [1,38-1,70]
1,29 [1,15-1,45]
x Berufsausbildung
1,77 [1,65-1,90]
1,35 [1,23-1,48]
x Keine Berufsausbildung
1,97 [1,79-2,15]
1,57 [1,41-1,74]
x Ausb. unbekannt
1,58 [1,39-1,80]
1,43 [1,24-1,65]
Einkommen x 3. Tertil (hoch)
1
1
x 2. Tertil (mittel)
1,59 [1,51-1,67]
1,13 [1,08-1,18]
x 1. Tertil (niedrig)
2,54 [2,40-2,67]
1,15 [1,09-1,21]
körperliche Anstrengungen x selten oder nie
1
1
x gelegentlich
0,99 [0,93-1,05]
1,12 [1,06-1,18]
x häufig
1,13 [1,05-1,22 ]
1,24 [1,17-1,31]
Arbeit unter Rauch, Staub etc. x selten oder nie
1
1
x gelegentlich
0,95 [0,90-1,01]
1,23 [1,14-1,32]
x häufig
0,96 [0,89-1,02]
1,20 [1,12-1,29]
Schichtarbeit x selten oder nie
*
Männer OR* [95% KI]
1
1
x gelegentlich
1,27 [1,22-1,33]
1,08 [1,00-1,16]
x häufig
1,19 [1,13-1,25]
1,19 [1,11-1,27]
Alle Odds Ratios sind für die jeweils anderen Variablen in der Tabelle und für psychosoziale Belastungen adjustiert. Der Wert 1 bedeutet, dass die Gruppe als Referenz gedient hat mit der die anderen Kategorien der Variablen hinsichtlich der Berentungswahrscheinlichkeit verglichen wurden.
Die drei physischen Arbeitsbelastungen sind bei den Frauen alle signifikant mit dem Rentenereignis assoziiert. Den stärksten negativen Effekt haben körperliche
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
207
Anstrengungen, gefolgt von der Arbeit unter Rauch, Staub, Gasen und Dämpfen und Schichtarbeit. Die Resultate für die männlichen Studienpersonen sind weniger eindeutig. Während Schichtarbeit klar mit der Zielvariable zusammen hängt, zeigt sich für die Arbeit unter Rauch etc. kein Unterschied zwischen den Belastungsgruppen. Erstaunlich ist, dass körperliche Anstrengungen und Berentung nur schwach und nur in der oberen Belastungsstufe assoziiert sind. Obwohl man die absolute Höhe der OR nicht überbewerten darf, weil Odds Ratios bei der Anwendung einer Job-Exposure-Matrize in der Regel durch Fehlklassifikation in Richtung eines Nichtzusammenhangs verzerrt werden (siehe Diskussion), stellt sich die Frage nach einer Erklärung. Gerade körperliche Schwerstarbeit ist als Risiko für die vorzeitige Berentung bekannt, da sie vor allem das MuskelSkelett-System in Mitleidenschaft zieht, was wiederum eine der häufigsten Ursachen der krankheitsbedingten Frühberentung in Deutschland ist. Wie weiter oben im Abschnitt 11.2.1 bereits aufgeführt, sind Muskel-Skelett-Erkrankungen aber in der hier analysierten Stichprobe unterrepräsentiert und nur ca. 14% der männlichen Erwerbsunfähigkeitsfälle fallen unter diese Diagnosegruppe. Da die Arbeit in körperlich anstrengenden Berufen für andere Diagnosen aber eher unbedeutend ist, verliert sich der Zusammenhang mit den Muskel-SkelettErkrankungen, wenn man alle Fälle unabhängig von der Berentungsdiagnose betrachtet. Die Ergebnisse krankheitsspezifischer Auswertungen bestätigen diese Vermutung: während die Variable körperliche Anstrengungen mit der Rente aufgrund von muskulo-skelettalen Krankheiten stark assoziiert ist (OR=1,58 für den Vergleich häufig vs. selten oder nie), ist der Zusammenhang mit den anderen Diagnosen eher schwach. Da physische Belastungsformen aber nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, werden die Ergebnisse der diagnosespezifischen Analysen im Folgenden nur für die psychosozialen Arbeitsbelastungen ausführlicher vorgestellt.
11.3.1 Diagnosespezifische Auswertungen Wie das Beispiel der körperlichen Anstrengungen zeigt, können Zusammenhänge übersehen werden, wenn in der Analyse alle Rentenfälle ohne Rücksicht auf die Berentungsdiagnose betrachtet werden. Auch für die psychosozialen Arbeitsbelastungen ist es unwahrscheinlich, dass sie bei allen Krankheitsbildern gleichermaßen ein Rolle spielen. Ein starker Zusammenhang ist am ehesten für Herz-Kreislauf-Krankheiten, psychische Störungen und Muskel-SkelettBeschwerden zu erwarten, da aus zahlreichen Studien bekannt ist, dass chronischer Arbeitsstress das Risiko solcher Erkrankungen erhöht (z.B.: Amick et al. 2000a ; Schabracq, Winnubst, Cooper 2003 ; Tennant 2000).
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11 Ergebnisse
Eine diagnosespezifische Auswertung ist für die in der Tabelle 27 (s.o.) gelisteten Hauptgruppen der ICD-9 durchgeführt worden, allerdings unter Ausschluss aller Gruppen mit einem Anteil von unter 0,5% am gesamten Berentungsgeschehen, da die Fallzahl für eine interpretierbare Analyse hier zu klein gewesen wäre. In die einzelnen Regressionsrechnungen wurden jeweils nur diejenigen Frühberentungsfälle mit einer Berentungsdiagnose aus der aktuell zu betrachtenden Krankheitsgruppe aufgenommen. Eine Auswahl der wichtigsten Ergebnisse ist, nach Geschlechtern getrennt und sortiert nach der Häufigkeit der Diagnosegruppen90, in Abbildung 17 zu sehen. Gezeigt wird zunächst nur der Vergleich der beiden Extremgruppen mit hohen und niedrigen (Referenz) psychosozialen Belastungswerten. Die für alle Kontrollvariablen adjustierten Odds Ratios sind als Kästchen dargestellt und die dazugehörigen Konfidenzintervalle erscheinen als graue Balken.
Abbildung 17: Diagnosespezifische Odds Ratios für den Vergleich zwischen Personen mit niedrigen (Referenz) und hohen psychosozialen Belastungswerten
90 An der Spitze der Liste steht die häufigste Diagnosegruppe usw.. Da sich die Anteile bei Männern und Frauen unterscheiden (siehe Tabelle 27), ist auch die Reihenfolge unterschiedlich.
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
209
Für die männliche Stichprobe ist zu erkennen, dass die Arbeit in psychosozial belastenden Berufen bei sieben der insgesamt zwölf Diagnosegruppen in statistisch signifikanter Weise mit der Berentung assoziiert ist. Unter diesen sieben sind mit den psychiatrischen Erkrankungen und den Kreislaufkrankheiten auch die beiden häufigsten Diagnosegruppen. Bei der dritthäufigsten Diagnose, den Neubildungen, ist dagegen kein Zusammenhang erkennbar. Die beiden höchsten Odds Ratios sind das 1,96fach höhere Risiko bei den Infektionskrankheiten und das 1,68fache Risiko bei den Muskel-Skelett-Erkrankungen. Bei den Frauen beschränken sich die statistisch signifikanten Effekte auf sechs Krankheitsgruppen, einschließlich der zwei häufigsten Diagnosegruppen. Als höchste Odds Ratios stechen die Resultate für Verletzungen (OR=1,82) und Stoffwechselkrankheiten (OR=1,75) heraus. Einen genaueren Eindruck bietet Tabelle 36, in der die diagnosespezifischen Odds Ratios für Männer und Frauen sowohl für die hohe als auch für die mittlere Belastungsstufe aufgeführt sind. Zusätzlich zu Werten aus Modellen mit vollständiger Drittvariablenkontrolle sind in der Tabelle auch die Kennwerte aus nur für das Alter, den Rentenversicherungsträger und die Meldedauer kontrollierten Regressionsmodellen dargestellt, um die Veränderung der Effekte durch die Einbeziehung der sozialen Statusindikatoren und der physischen Arbeitsbelastungen zu demonstrieren. Eine mittlere Belastung ist im Vergleich zu einer niedrigen bei den meisten Diagnosegruppen ebenfalls mit dem Berentungsrisiko assoziiert. Allerdings liegen die Odds Ratio meist deutlich unter denen der Gruppe mit hohen Werten und sie sind nur bei wenigen Erkrankungen statistisch signifikant. Bei den Frauen ist letzteres bei psychiatrischen Erkrankungen, Neubildungen und Verletzungen bzw. Vergiftungen der Fall, bei den Männern bei Muskel-Skelett- sowie bei infektiösen Erkrankungen. Die Betrachtung der Auswirkungen einer zusätzlichen Kontrolle für konkurrierende Risikofaktoren lässt erkennen, dass die Zusammenhänge in der Regel geringer werden, ohne aber zu verschwinden. Beispielsweise reduziert die zusätzliche Kontrolle bei Männern mit der Diagnose psychiatrische Erkrankungen das Odds Ratio von 1,52 auf 1,37 und bei den Frauen von 1,69 auf 1,42. Das bedeutet, dass ein Teil der Beziehung zwischen der Hauptrisikovariable psychosoziale Arbeitsbelastungen und der Berentung durch andere Faktoren erklärt wird. Eine Gelegenheit, tiefer in die Diskussion der in Tabelle 36 gezeigten Resultate einzusteigen, bietet ein Vergleich der Ergebnisse zwischen den Geschlechtern. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede, anhand derer interessante Auffälligkeiten deutlich gemacht werden können.
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11 Ergebnisse
Tabelle 36: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Berentung: Ergebnisse der diagnosespezifischen logistischen Regressionen Diagnosegruppe Sortiert nach Häufigkeit Männer
Psychosoziale Belastung*
Modell I** OR [95% KI]
Modell II*** OR [95% KI]
Psychiatrische Krankheiten
x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch
1,06 [0,97-1,16] 1,52 [1,40-1,66] 0,94 [0,91-1,09] 1,33 [1,21-1,45] 0,97 [0,89-1,06] 1,13 [1,03-1,24] 1,38 [1,22-1,55] 1,86 [1,67-2,08] 0,94 [0,81-1,09] 1,06 [0,91-1,23] 1,10 [0,88-1,39] 1,63 [1,32-2,02] 1,11 [0,87-1,40] 1,47 [1,18-1,84] 0,98 [0,75-1,28] 1,37 [1,07-1,75] 1,49 [1,13-1,97] 2,21 [1,70-2,88] 1,11 [0,83-1,48] 1,72 [1,31-2,25] 1,21 [0,81-1,80] 1,13 [0,74-1,72] 0,93 [0,58-1,50] 1,40 [0,91-2,16]
1,08 [0,99-1,19] 1,37 [1,25-1,50] 1,04 [0,94-1,14] 1,22 [1,11-1,34] 1,00 [0,92-1,10] 1,08 [0,98-1,19] 1,41 [1,25-1,59] 1,68 [1,49-1,88] 1,00 [0,86-1,16] 1,04 [0,89-1,22] 1,14 [0,90-1,44] 1,43 [1,14-1,78] 1,16 [0,92-1,47] 1,42 [1,12-1,79] 0,99 [0,75-1,29] 1,23 [0,95-1,59] 1,56 [1,19-2,10] 1,96 [1,48-2,57] 1,15 [0,86-1,55] 1,51 [1,14-2,00] 1,29 [0,86-1,93] 1,17 [0,76-1,82] 0,89 [0,55-1,44] 1,05 [0,67-1,64]
x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch x Mittel x Hoch
1,35 [1,25-1,46] 1,69 [1,56-1,82] 1,17 [1,07-1,27] 1,23 [1,13-1,34] 1,00 [0,89-1,13] 1,20 [1,07-1,34] 1,10 [0,95-1,28] 1,45 [1,25-1,66] 1,05 [0,89-1,23] 1,36 [1,15-1,59] 1,22 [0,91-1,64] 1,51 [1,14-1,99] 1,18 [0,87-1,58] 1,38 [1,02-1,86] 1,75 [1,21-2,53] 1,92 [1,31-2,81] 1,53 [1,02-2,30] 2,02 [1,38-2,97] 1,36 [0,87-2,14] 1,85 [1,18-2,89] 0,90 [0,53-1,52] 1,36 [0,83-2,21] 0,71 [0,39-1,29] 0,95 [0,55-1,63]
1,23 [1,13-1,33] 1,42 [1,30-1,55] 1,13 [1,03-1,23] 1,15 [1,04-1,27] 0,98 [0,86-1,11] 1,07 [0,94-1,22] 1,14 [0,98-1,34] 1,42 [1,12-1,67] 0,98 [0,82-1,16] 1,21 [1,00-1,45] 1,10 [0,81-1,51] 1,26 [0,92-1,73] 1,15 [0,84-1,58] 1,34 [0,95-1,87] 1,73 [1,17-2,57] 1,82 [1,19-2,81] 1,47 [0,96-2,25] 1,75 [1,13-2,69] 1,23 [0,76-1,99] 1,48 [0,89-2,46] 0,91 [0,52-1,61] 1,31 [0,74-2,31] 0,68 [0,36-1,32] 0,87 [0,45-1,65]
Krankheiten des Kreislaufsystems Neubildungen Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane Krankheiten der Atmungsorgane Krankheiten der Verdauungsorgane Verletzungen u. Vergiftungen Infektiöse und parasitäre Krankheiten Endokrine-, Ernährungs-, Stoffwechselkrankheiten Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane Symptome, schlecht bezeichnete Affektionen
Frauen Psychiatrische Krankheiten Neubildungen Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes Krankheiten des Kreislaufsystems Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane Krankheiten der Atmungsorgane Krankheiten der Verdauungsorgane Verletzungen u. Vergiftungen Endokrine-, Ernährungs-, Stoffwechselkrankheiten Infektiöse und parasitäre Krankheiten Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane Symptome, schlecht bezeichnete Affektionen * ** ***
Referenzgruppe = niedrige Belastung Modell I kontrolliert für Alter, RV-Träger, Meldedauer Modell II kontrolliert für Model I + Ausbildung, Einkommen, körperliche Anstrengung, Rauch etc., Schichtarbeit
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
211
Bei der häufigsten Berentungsdiagnose, den psychiatrischen Krankheiten, ist die Wirkung psychosozialer Arbeitsbelastungen bei Männern und Frauen sehr ähnlich. Sie gehen bei beiden Geschlechtern gleichermaßen mit einem statistisch signifikant erhöhten Berentungsrisiko einher. Die Effektschätzer für die hoch belasteten Studienpersonen liegen in etwa der gleichen Höhe (Männer OR=1,37 ; Frauen OR=1,42). Für die mittlere Belastungsstufe ist aber nur in der weiblichen Stichprobe eine Zunahme der Berentung zu erkennen, bei den männlichen Studienteilnehmern reicht eine mittlere Belastung nicht aus, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, wegen einer psychiatrischen Erkrankung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden zu sein. Insgesamt gehen diese Befunde mit dem Wissen aus einer Vielzahl von Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und der psychischen Gesundheit konform. Es ist gut dokumentiert, dass diese Beziehung erstens sehr ausgeprägt ist, zweitens Männer wie Frauen betrifft und drittens eine Vielzahl von Krankheitsbildern von der Depression bis hin zum Burnout-Syndrom umfasst (Spielberger & Reheiser 2005 ; van der Doef & Maes 1999 ; van Vegchel et al. 2005). Die Analysen zur wichtigen Gruppe der Kreislauferkrankungen, die vor allem Herzerkrankungen umfasst, bieten eine Überraschung. Zwar ist die Arbeit in hoch belasteten Berufen bei beiden Geschlechtern ein Berentungsrisiko, allerdings fällt der Effekt bei Männern eher niedrig aus und ist geringer als bei den Frauen. Diese Diskrepanz ist verwunderlich, denn aus der umfangreichen Forschung zum Zusammenhang zwischen arbeitsbedingten Stressbelastungen und Herzerkrankungen ist bekannt, dass die Risiken bei Männern und Frauen ähnlich, wenn nicht sogar bei Männern ausgeprägter sind (Belkic, Landsbergis, Schnall, Baker 2004 ; Brisson 2000). Aus Langzeitstudien werden außerdem in der Regel relativ starke Effekte berichtet. Beispielsweise fanden Kivimäki und Kollegen (2002a) in einer prospektiven Kohortenstudie ein relatives Risiko von 2,3 für männliche Arbeiter mit einem ausgeprägten Verausgabungs-BelohnungsUngleichgewicht, an einer Herzkrankheit zu versterben. Erklärbar wird die vergleichsweise schwache Assoziation in dieser Studie aber durch die Eigenarten der betrachteten Zielvariable. Es muss bedacht werden, dass in die Analyse nur Personen aufgenommen wurden, die aufgrund von Kreislauferkrankungen frühberentet worden sind. Das konnten naturgemäß nur diejenigen sein, deren Erkrankung einen chronischen Verlauf nahm und nicht tödlich verlief. Die Sterblichkeit ist aber bei dieser Krankheitsgruppe hoch, insbesondere was die große Subgruppe der koronaren Herzkrankheiten (KHK) angeht. Der plötzliche Herztod ist zudem oft die erste und einzige Manifestation der Krankheit und gut die Hälfte aller Todesfälle geht auf eine solche Erstmanifestation zurück (Fox , Evans, Larson, Kannel, Levi 2004). Daraus folgt, dass Personen, die mit einer solchen Krankheit die Frührente erreichen, nur einen Ausschnitt des gesamten
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11 Ergebnisse
Krankheitsgeschehens repräsentieren. Somit ist die Erfassung von Kreislauferkrankungen im vorhandenen Datensatz unvollständig, was durchaus für die relativ kleinen Effekte verantwortlich sein kann. Zudem sind unter der Diagnosegruppe Kreislaufkrankheiten auch zerebrovaskuläre Erkrankungen gefasst, die im Zusammenhang mit arbeitsbedingtem Stress bisher nur wenig betrachtet wurden und für die nicht eindeutig geklärt ist, ob es überhaupt eine Verbindung gibt. In der Diagnosegruppe Neubildungen finden sich die Berenteten wieder, die wegen einer Krebserkrankung erwerbsunfähig geworden sind. Bei der Entstehung dieser Krankheiten spielen bekanntermaßen die verschiedensten Einflüsse eine Rolle. Psychosoziale Arbeitsbelastungen gehören nach heutigem Wissen nicht dazu (Jansson et al. 2004 ; Schernhammer et al. 2004), wobei aber anzumerken ist, dass es bisher nur sehr wenige Studien gibt. Die Ergebnisse aus dieser Untersuchung bestätigen zumindest für Männer, dass es keinen Zusammenhang gibt. Bei den Frauen sprechen die Odds Ratios aber auch nach statistischer Kontrolle für physische Arbeitsbelastungen und den sozialen Status für ein erhöhtes Berentungsrisiko infolge psychosozialer Belastungen am Arbeitsplatz. Allerdings ist die Beziehung nur schwach ausgeprägt und es ist zu vermuten, dass der Effekt auf das Konto von nicht kontrollierten Drittvariablen geht. Infrage kommen vor allem gesundheitsbezogene Verhaltensweisen wie Rauchen oder Ernährungsgewohnheiten, die zum einen ein Krebsrisiko darstellen und zum anderen bei Personen, die im Beruf psychosozialen Gefahren ausgesetzt sind, häufiger vorkommen (Stansfeld et al. 2002). Solche Faktoren konnten aber in dieser Untersuchung nicht gemessen werden. Muskel-Skelett-Erkrankungen gehören ebenfalls zu den häufigeren Berentungsdiagnosen. Bei den Männern hatte die Gruppe mit mittleren Belastungswerten ein signifikant erhöhtes Odds Ratio von 1,41 im Vergleich zu den niedrig Belasteten. Das OR für eine hohe Belastung betrug 1,68. Der Befund deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien, in denen psychosoziale Arbeitsbelastungen, gemessen mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen, mit muskuloskelettalen Beschwerden assoziiert waren (Dragano et al. 2003 ; Joksimovic, Starke, von dem Knesebeck, Siegrist 2002a). Erklärt wird dieser Zusammenhang u.a. mit einer negativen Stresswirkung auf biomechanische und physiologische Prozesse wie die Körperhaltung, die Bewegungsvielfalt, die Muskelspannung oder die Schmerzwahrnehmung (Hoogendoorn, van Poppel, Bongers, Koes, Bouter 2000). Interessant ist, dass die Kontrolle physischer Fehlbelastungen in der logistischen Regression nur einen geringen Einfluss auf die Beziehung zwischen der psychosozialen Belastung und der Berentung hat. Nicht minder interessant ist, dass bei Frauen kein vergleichbares Ergebnis gefunden wurde. Hier führt eine Kontrolle für die konkurrierenden Risikofaktoren dazu (Modell II), dass der ohnehin schwache Effekt aus Modell I vollständig verschwindet. Über
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
213
die Gründe für diesen Geschlechterunterschied kann nur spekuliert werden. Wie oben im Kontext der Tabelle 27 bereits angedeutet wurde, gehören muskuloskelettale Diagnosen zu den häufigsten Ursachen der krankheitsbedingten Frührente in Deutschland, allerdings enden sie weitaus häufiger in der Berufsunfähigkeit91 als in der Erwerbsunfähigkeit (zur rechtlichen Unterscheidung der Rentenformen siehe Kap. 2). Da hier nur Erwerbsunfähigkeitsfälle betrachtet werden, ist es möglich, dass speziell bei diesen Erkrankungen ein geschlechtsspezifischer Selektionseffekt eingetreten ist, der zu einer unterschiedlichen Stichprobenzusammensetzung zwischen Männern und Frauen geführt hat. Diese Vermutung ist aber mit den vorliegenden Daten nicht zu prüfen. Auch bei anderen Diagnosegruppen müssen Fragen offen bleiben, da zu wenige Forschungsergebnisse vorliegen, um die in dieser Untersuchung gefundenen Zusammenhänge einzuordnen. Bei allen der im folgenden angesprochenen Krankheitsgruppen sind nur für ein Geschlecht signifikante Ergebnisse gefunden worden. Am nächsten beieinander liegen die Odds Ratios für Männer und Frauen noch bei den Krankheiten des Verdauungssystems. Nach Kontrolle aller Drittvariablen ist das Risiko bei Frauen aber nicht mehr im signifikanten Bereich. Ein Zusammenhang zwischen ungünstigen psychosozialen Arbeitsbedingungen und solchen Erkrankungen ist grundsätzlich nicht unplausibel, da die häufigste Einzeldiagnose in dieser Gruppe Lebererkrankungen sind (ca. 60%), die teilweise mit Alkoholmissbrauch assoziiert sind. Alkoholismus steht wiederum in Beziehung zu psychosozialen Arbeitsbelastungen, so dass über diesen Weg eine Verbindung denkbar ist (Head et al. 2004). Die Interpretation des diagnosespezifischen Resultats bei Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane ist schwieriger. Hinter dieser Diagnosegruppe verbirgt sich eine Vielzahl sehr verschiedener Einzeldiagnosen, die von der Parkinsonschen Krankheit bis zur Blindheit reichen. Dass die Stressreaktion in zentralnervöse Prozesse eingreift, ist in Kapitel 4 beschrieben worden, insofern sind Verbindungen zwischen Nervenerkrankungen und psychosozialen Arbeitsbelastungen nicht von vorneherein unwahrscheinlich. Warum aber nur für Frauen mit hohen psychosozialen Arbeitsbelastungen ein – wenn auch schwacher - Effekt zu beobachten ist, bleibt unklar, da nach Wissen des Autors keine aussagekräftigen Studien existieren, die Nervenerkrankungen direkt mit beruflichen Stresserfahrungen in Beziehung gesetzt hätten. Ähnliches lässt sich auch über Krankheiten der Atmungsorgane, Infektionskrankheiten und Verletzungen sagen. Zwar gibt es vereinzelte Untersuchungen zu Diagnosen aus diesen Krankheitsgruppen, verlässliche und auf einer breiten empirischen Basis beruhende Informationen, die helfen würden, die gezeigten Befunde zu bewerten, können daraus aber nicht abgeleitet werden. Aller91 Interne Berechnungen der Projektgruppe des übergeordneten Forschungsvorhabens zeigen, dass 1999 Krankheiten der Muskeln und des Skeletts ca. 45% aller BU-Diagnosen ausmachten.
214
11 Ergebnisse
dings werfen die stark ausgeprägten Einflüsse von psychosozialen Arbeitsbelastungen auf das Berentungsrisiko wegen Verletzungen bei den Frauen und wegen Infektionskrankheiten bei Männern Fragen auf, die in zukünftigen Studien geklärt werden sollten. Am Ende der Vorstellung der diagnosespezifischer Resultate stehen nun noch drei Krankheitsgruppen, bei denen sich die Ergebnisse für Männer und Frauen gleichen. Die erste Gruppe sind die Berentungsdiagnosen aus dem Bereich der Endokrinen-, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten. Männer mit hohen psychosozialen Belastungswerten hatten nach Kontrolle der relevanten Drittvariablen ein 1,51fach höheres Berentungsrisiko als Männer mit niedrigen Werten, bei den Frauen beträgt das entsprechende Odds Ratio 1,75. Bei den mittleren Belastungen ist jeweils eine Tendenz zu erhöhten Risiken erkennbar, sie erreicht aber nur im sparsameren Regressionsmodell I das Niveau statistischer Signifikanz. Die hier gemachte Beobachtung lässt sich gut mit der vorhandenen Evidenz überein bringen. Hinter der Diagnosegruppe verbergen sich nämlich hauptsächlich die beiden Einzeldiagnosen Diabetes Mellitus und Adipositas92, beides Erkrankungen, für die in verschiedenen Untersuchungen gezeigt werden konnte, dass ihre Entstehung durch Stress im Allgemeinen und durch arbeitsbedingten Stress im Besonderen begünstigt wird (z. B.: Kouvonen, Kivimaki, Cox, Cox, Vahtera 2005 ; Kumari et al. 2004; vgl. auch Kapitel 4). Die beiden letzten Diagnosegruppen können kurz abgehandelt werden, denn bei Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane sowie bei der Gruppe der Symptome und schlecht bezeichneten Affektionen sind die Ergebnisse für beide Geschlechter gleich: psychosoziale Arbeitsbelastungen haben weder bei Männer noch bei Frauen einen Einfluss auf die diagnosespezifische Berentung. Untersuchungen, die ein gegenteiliges Ergebnis für diese speziellen Krankheitsgruppen hätten vermuten lassen, sind nicht bekannt. In der Zusammenschau sind die diagnosespezifischen Ergebnisse trotz einiger Inkonsistenzen im Geschlechtervergleich aufschlussreich. Die Studie demonstriert, dass die Arbeit in Berufen mit einer hohen durchschnittlichen psychosozialen Arbeitsbelastung mit verschiedenen Berentungsdiagnosen assoziiert ist und nicht auf die ‚klassischen’ stressbedingten Krankheitsgruppen der psychiatrischen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschränkt ist. Obwohl versucht wurde, die Ergebnisse vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes zu betrachten, waren dem Grenzen gesetzt. Zuvorderst ist es nicht möglich, für jede Diagnosegruppe tief in die biopsychosozialen Grundlagen des Zusammenhangs zwischen arbeitsbedingten Stressreaktionen und organischer Schädigung einzu92 Im Analysedatensatz hatten 71,7% der insgesamt 544 Fälle in dieser Diagnosegruppe die Berentungsdiagnose Diabetes und 12,3% die Diagnose Fettsucht.
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
215
gehen, da dies den Umfang der Ergebnisdarstellung uferlos hätte werden lassen. Allerdings kann auf Kapitel 4 verwiesen werden, das den Stand der Stressforschung wiedergibt und beschreibt, dass die Stressreaktion tief in physiologische Prozesse und wichtige Organsysteme, wie das Herz-Kreislauf-System, das metabolische System oder die hormonelle Steuerung neurologischer Vorgänge eingreift (vgl. Fink 2000). Eine weitere Schwierigkeit die hinzukommt ist, dass zu manchen Erkrankungsgruppen bisher keine Studien existieren, in denen auch das psychosoziale Arbeitsumfeld berücksichtigt worden wäre. Aber selbst wenn bereits Untersuchungen durchgeführt wurden, muss daran erinnert werden, dass es sich um Forschungsprojekte handelt, in denen das Zielkriterium nicht die Frühberentung aufgrund einer bestimmten Krankheit, sondern das medizinische Auftreten der Erkrankung war, ganz unabhängig von den wie auch immer gearteten Folgewirkungen. Das oben aufgeführte Beispiel der Herzinfarktes zeigt aber, dass eine Krankheit die zu einer Frühberentung führt, nicht unbedingt stellvertretend für alle Ausprägungen dieser Krankheit gelten kann. Abgesehen davon ist es zudem wahrscheinlich, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen nicht nur über die Grunderkrankung mit dem Invaliditätsrisiko verbunden sind, sondern auch noch an anderen Stellen den Berentungsprozesses beeinflussen. Hierzu ist in Kapitel 3 ein Modell vorgestellt worden, in dem verschiedene Ansatzpunkte für die Wirkung von Arbeitsbelastungen aufgeführt wurden, darunter auch eher erkrankungsunabhängige Aspekte wie der Entschluss zur Antragstellung. Eine Bewertung der hier gefundenen Ergebnisse wäre daher am ehesten mithilfe von Studien, in denen die Verbindung zwischen Arbeitsbelastungen und dem diagnosespezifischen Berentungsrisiko direkt getestet wird, möglich. Wie aber schon im Kapitel 5 beklagt wurde, fehlen genau diese Untersuchungen bisher. Insofern haben die hier vorgestellten Auswertungen auch einen explorativen Charakter, der Fragestellungen für zukünftige Untersuchungen aufwirft.
11.3.2 Subgruppenanalysen Eine einfache Möglichkeit, Wechselwirkungen zwischen zwei Risikofaktoren sichtbar zu machen, ist die Subgruppenanalyse (oder stratifizierte Analyse). Hierbei wird der Zusammenhang zwischen einer der beiden Risikofaktoren und der Zielvariable für verschiedene Ausprägungen des anderen Risikofaktors bestimmt. Soll beispielsweise getestet werden, ob das Alter einen Einfluss auf die Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der Berentung hat, so werden für verschiedene Altersklassen Analysen zum Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastungen und Berentung durchgeführt und dann die Ergebnisse
216
11 Ergebnisse
für die Alters-Subgruppen verglichen. Eine solche Auswertungsstrategie ermöglicht eine andere Sichtweise auf das Verhältnis von konkurrierenden Risikovariablen, als die wechselseitige Kontrolle in Regressionsmodellen. Letztere zeigt, ob eine Faktor unabhängig von anderen Faktoren einen Einfluss auf das Berentungsrisiko hat. Die Subgruppenanalyse zeigt dagegen, ob das Zusammentreffen von zwei Faktoren einen gemeinsamen Einfluss auf die Zielvariable ausübt93. Solche Aussagen sind nicht nur aus Sicht der Grundlagenforschung interessant, sie sind auch bei der Suche nach Präventionsansätzen hilfreich, da sie auf besonders gefährdete Gruppen hindeuten.
11.3.2.1
Alter
Weiter oben wurde in Tabelle 32 die Verteilung der drei Belastungsgruppen mit niedrigen, mittleren und hohen Verausgabungs-Belohnungs-Werten in den vier Altersklassen dargestellt. Die Unterschiede waren eher gering, gleichwohl war ein Tendenz in Richtung einer höheren Belastung bei den jüngeren Studienpersonen auszumachen. Die Frage ist nun, ob sich die für die Gesamtstichprobe festgestellte Beziehung zwischen Arbeitsbelastungen und der Berentung in Abhängigkeit vom Alter der Studienpersonen verändert. Einen erste Antwort bietet Abbildung 18, in der die Odds Ratios für den Vergleich zwischen der hohen und der niedrigen Belastungsstufe für alle vier Altersklassen gezeigt werden. Die verwendeten Daten stammen aus logistischen Regressionsmodellen, in denen abgesehen vom Alter alle vorhandenen Drittvariablen kontrolliert wurden. Als Anhaltspunkt ist in die Abbildung zudem eine gestrichelte Linie eingezeichnet, die die Höhe des Odds Ratios in der Gesamtstichprobe markiert (siehe Tabelle 34). Es ist zu erkennen, dass bei Frauen und Männern die Odds Ratios für die hohe psychosoziale Belastungsklasse in allen Altersklassen erhöht sind. Der Wert 1, der für Gleichheit zwischen der Referenz- und der Risikogruppe steht, wird in keiner Regressionsrechnung vom Konfidenzintervall eingeschlossen. Eine Veränderung der Effekte mit dem Alter ist vor allem bei den Frauen zu erkennen. Der Zusammenhang zwischen einer hohen Belastung und dem Berentungsrisiko nimmt von Altersklasse zu Altersklasse ab. Bei den Männern deutet 93 Die stratifizierte Analyse ist eine einfache Form, um Interaktionen zwischen zwei Variablen zu testen. Eine beliebte Alternative ist es, Interaktionsterme zu bilden und in Regressionsmodellen zu testen. Die üblichen mathematischen Verfahren, v.a. die Bildung multiplikativer Terme, sind aber problembehaftet (Hallqvist, Ahlbom, Diderichsen, Reuterwall 1996) und es kommt hinzu, dass die Ergebnisse weniger intuitiv zu interpretieren sind, als die einer einfachen Subgruppenanalyse. Aus diesen Gründen wird hier nicht mit Interaktionstermen gearbeitet.
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
217
sich dieser Trend in schwächerer Form ebenfalls an, allerdings nur bis zur Altersklasse der 50- bis 54jährigen. Das Odds Ratio in der obersten Altersklasse liegt dann wieder im Bereich der Werte der jüngeren Studienpersonen.
Abbildung 18: Altersspezifische Odds Ratios für den Vergleich zwischen Personen mit niedrigen (Referenz) und hohen psychosozialen Belastungswerten Die Abbildung gibt einen ersten Eindruck, genauere Informationen finden sich in der folgenden Tabelle 37. Dort sind die einzelnen Werte der altersspezifischen Auswertungen für Männer und Frauen einschließlich der Odds Ratios für die mittlere Belastungsklasse aufgelistet. Die Odds Ratios und ihre Konfidenzintervalle stammen wiederum aus vollständig für Drittvariabeln kontrollierten Modellen, verschiedene Kontrollstufen werden hier nicht mehr gezeigt, um die Darstellung nicht zu überfrachten. In der Tabelle sind die Unterschiede zwischen den Altersstufen zu erkennen. Während beispielsweise bei den 40- bis 44jährigen Männern die Arbeit in hoch belasteten Berufen mit einem 1,45fachen Berentungsrisiko einhergeht, beträgt das Risiko bei den 55- bis 59jährigen 1,31 (OR). Bei den Frauen liegt die
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11 Ergebnisse
jüngste und die älteste Gruppe weiter auseinander, einem OR von 1,55 bei den jüngeren Frauen steht ein OR von 1,10 bei den älteren Frauen gegenüber. Die mittlere psychosoziale Belastungsstufe kam bisher noch nicht zur Sprache. Hier ist sowohl bei Männern als auch bei Frauen ein mit steigendem Alter schwächer werdender Zusammenhang mit der Berentung zu erkennen. Offenbar gibt es also eine leichte Tendenz dahingehend, dass die Arbeit in Berufen mit einem hohen psychosozialen Belastungspotential bei jüngeren Beschäftigten ein höheres Berentungsrisiko darstellt als bei Älteren. Dieser Trend ist bei Frauen ausgeprägter als bei Männern. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen der Belastung und der Berentung auch bei älteren Studienpersonen noch so stark ausgeprägt, dass ein signifikanter statistischer Effekt zu beobachten ist. Tabelle 37: Subgruppenanalysen zu psychosozialen Arbeitsbelastungen und Berentung: Altersklassen
*
Psychosoziale Belastung
Männer OR [95% KI] *
Frauen OR [95% KI] *
40 - 44 Jahre
x niedrig x mittel x hoch
1 1,30 [1,13-1,50] 1,45 [1,26-1,66]
1 1,27 [1,10-1,46] 1,55 [1,33-1,80]
45 - 49 Jahre
x niedrig x mittel x hoch
1 1,14 [1,01-1,28] 1,37 [1,22-1,54]
1 1,24 [1,11-1,39] 1,39 [1,24-1,57]
50 - 54 Jahre
x niedrig x mittel x hoch
1 1,14 [1,04-1,24] 1,19 [1,09-1,31]
1 1,12 [1,01-1,24] 1,30 [1,17-1,45]
55 - 59 Jahre
x niedrig x mittel x hoch
1 1,04 [0,98-1,12] 1,31 [1,22-1,40]
1 1,05 [0,97-1,13] 1,10 [1,02-1,20]
kontrolliert für RV-Träger, Meldedauer, Ausbildung, Einkommen, körperliche Anstrengung, Rauch etc., Schichtarbeit
11.3.2.2
Soziale Schicht
Dass Angehörige unterer sozialer Schichten häufiger ungünstigen psychosozialen Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind, ist eine These, die in letzter Zeit verstärkt in wissenschaftlichen Untersuchungen geprüft wurde (siehe hierzu auch Kap. 9). In den bisher vorgestellten Regressionsmodellen wurden daher Ausbildung und Einkommen als Indikatoren der sozialen Stellung statistisch kontrolliert, um sicher zu stellen, dass die Zusammenhänge zwischen Arbeitbelastungen und
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
219
Berentung nicht auf Sozialschichteffekte zurückzuführen sind. Dass diese Vorgehensweise ihre Berechtigung hat, zeigt Tabelle 38, in der die beiden Schichtindikatoren und die psychosoziale Belastungsvariable kreuztabelliert dargestellt sind. Für den Ausbildungsabschluss fallen die Unterschiede moderat aus, in der Tendenz haben aber diejenigen Männer und Frauen mit hohen Werten für psychosoziale Belastungen die niedrigeren Ausbildungsabschlüsse als mittel oder niedrig Belastete. Beim Einkommen sind die Verhältnisse nicht so klar: bei den Männern fallen hohe Belastungen und niedrige Einkommen zusammen, bei den Frauen dagegen haben Studienteilnehmerinnen mit hohen Einkommen die psychosozial belastenderen Berufe ausgeübt. Auf dieses Ergebnis wird weiter unten noch zurückzukommen sein. Tabelle 38: Verteilung psychosozialer Arbeitsbelastungen nach Ausbildung und Einkommen Ausbildung >
Ausb. unbekannt %* (N)
Keine Berufsausb. %* (N)
Berufsausbildung %* (N)
Abitur %* (N)
Fachhoch- u. Hochschule %* (N)
Männer x niedrige Belastung
4,1 (2.236)
8,0 (4.383)
69,4 (38.185) 5,2 (2.874) 13,3 (7.331)
x mittlere Belastung
1,2 ( 649)
5,4 (2.991)
71,4 (39.291) 5,9 (3.257) 16,0 (8.823)
x hohe Belastung
1,5 ( 823)
12,1 (6.635)
Frauen x niedrige Belastung
4,0 (1.779)
12,0 (5.359)
72,9 (32.449) 5,0 (2.244)
6,0 (2.665)
x mittlere Belastung
1,8 ( 791)
7,6 (3.384)
76,6 (34.090) 6,9 (3.078)
7,1 (3.154)
x hohe Belastung
1,8 ( 804)
15,8 (7.024)
69,9 (31.118) 6,3 (2.819)
6,1 (2.732)
Einkommen in Tertilen >
1. Tertil (niedrig)
2. Tertil
74,3 (40.897) 4,5 (2.450)
7,6 (4.205)
3. Tertil (hoch)
Männer x niedrige Belastung
36,5 (19.829)
32,0 (17.379)
31,6 (17.164)
x mittlere Belastung
24,2 (13.311)
31,7 (17.421)
44,0 (24.174)
x hohe Belastung Frauen x niedrige Belastung
39,3 (21.573)
36,3 (19.914)
24,4 (13.375)
52,6 (23.154)
34,9 (15.384)
12,5 ( 5.520)
x mittlere Belastung
25,3 (11.225)
32,8 (14.547)
41,8 (18.530)
x hohe Belastung
22,2 ( 9.841)
32,3 (14.289)
45,5 (20.170)
* Zeilenprozentwerte: Anteile der Ausbildungs- oder Einkommensklassen je Belastungsgruppe
220
11 Ergebnisse
Die Subgruppenanalysen sollen nun zeigen, ob es Anzeichen für Interaktionen gibt. Vereinzelt ist eine solche Beziehung für bestimmte Krankheiten bereits getestet worden. Dabei hat sich gezeigt, dass die durch berufliche Stressbelastungen ausgelösten gesundheitlichen Schädigungen bei Erwerbstätigen mit niedrigem sozialen Status massiver ausfielen als bei höher gestellten Personen (Hallqvist, Diderichsen, Theorell, Reuterwall, Ahlbom 1998 ; Lynch, Krause, Kaplan, Tuomilehto, Salonen 1997 ; Stronks, van de Mheen, Looman, Mackenbach 1998). Erklärt wird diese Interaktion zwischen Schicht und Arbeitsbelastung mit einer Kumulation von ungünstigen Faktoren in unteren sozialen Schichten, wie z.B. fehlenden sozialen Netzwerken, die die Menschen für die Folgen von Stress anfälliger macht (Lynch et al. 1997).
Abbildung 19: Ausbildungs- und einkommensspezifische Odds Ratios für den Vergleich zwischen Personen mit niedrigen (Referenz) und hohen psychosozialen Belastungswerten Einen Überblick über die schichtspezifische Varianz der Beziehung zwischen Belastung und Berentungsrisiko gibt Abbildung 19. Wie bei der entsprechenden Darstellung für die Altersklassen sind die ORs für den Vergleich zwischen hoch und niedrig belasteten Personen angebeben. Die Ergebnisse sind mit Regressionsmodellen ermittelt worden, in die die üblichen Kontrollfaktoren aufgenommen waren. Allerdings wurde in den für Ausbildung und Einkommen stratifizierten Modellen nicht mehr zusätzlich für den jeweils anderen Schichtindikator
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
221
adjustiert. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Gruppe, bei der die Bildungsabschlüsse unbekannt waren, nicht mit aufgeführt ist, da es nicht möglich wäre, die Ergebnisse sinnvoll zu deuten. Die Subgruppenanalysen für Männer fallen eindeutig aus. Das Berentungsrisiko aufgrund von psychosozialen Arbeitsbelastungen nimmt mit steigendem Einkommen und steigender Bildung ab. Somit kann die oben geäußerte These, dass Angehörige unterer sozialer Schichten anfälliger für die negativen Folgen von Arbeitsbelastungen sind, mit dieser Analyse gestützt werden. Ganz anders bei den Frauen: beim Indikator Bildung liegen die Odds Ratios für alle Klassen in etwa auf gleicher Höhe. Betrachtet man den Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der Berentung für die drei Einkommensklassen, so ist dieser Zusammenhang sogar bei den Frauen mit niedrigen Einkommen gar nicht mehr nachweisbar. Diese Diskrepanz zwischen Frauen und Männern verweist auf sehr grundsätzliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. In der Zeit, in der in dieser Studie die Belastungen erfasst wurden, also von Mitte der 1970er bis Ende der 1990er Jahre, unterschieden sich die Arbeitsbedingungen von Männern und Frauen in fundamentaler Weise – und tun es wahrscheinlich auch noch heute (Östlin 2002). Um nur einige exemplarische Unterschiede anzusprechen, arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit, sie sind häufiger in sozialen und in Dienstleistungsberufen tätig, ihre Bezahlung unterscheidet sich von der der Männer und sie besetzen seltener Führungspositionen. Damit eng verknüpft ist die Beobachtung, dass die klassischen Statusindikatoren, wie Bildung und Einkommen, bei Männern und Frauen eine andere Bedeutung für die Einordnung ins soziale Gefüge haben (Wamala & Lynch 2002). Übertragen auf die hier gefundenen Ergebnisse könnte dies bedeuten, dass vor allem das Einkommen der Frauen keinen eindeutigen Rückschluss auf ihre soziale Position erlaubt und daher auch kein Einfluss auf die Beziehung zwischen Belastung und Berentung erkennbar ist. Da hier nur das persönliche Arbeitseinkommen gemessen wurde, ist es möglich, dass gerade Frauen, die in Teilzeitarbeit gearbeitet haben, in die Klasse mit den unteren Einkommen fallen, ihr Haushaltseinkommen aber de facto höher liegt, da der Verdienst des Partners hinzugerechnet werden muss. Gleichzeitig haben Studienpersonen mit langer Teilzeittätigkeit auch niedrigere Belastungswerte, da bei der Zuordnung der Werte Teilzeitarbeit mit dem Faktor 0,5 gewichtet wurde. Dies würde auch die in Tabelle 38 gezeigte Verteilung der psychosozialen Belastungsvariable in den Einkommensklassen erklären. Aber auch eine weitere Variante ist denkbar, nämlich dass Frauen in hochqualifizierten und –bezahlten Tätigkeiten besonderen Belastungen ausgesetzt sind, sei es durch eine Doppelbelastung mit familiären Verpflichtungen oder durch geschlechtsspezifische Benachteiligung. Als Folge könnten chronische Arbeitsbelastungen bei diesen Frauen in besonderem Maße zu gesundheitli-
222
11 Ergebnisse
chen Schädigungen führen. Angesichts der weiterhin zunehmenden Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen verweist dieses Ergebnis auf weiteren Forschungsbedarf, um die geschlechtsspezifischen Gefahren der Arbeit besser einschätzen zu können. Tabelle 39: Subgruppenanalysen zu psychosozialen Arbeitsbelastungen und Berentung: Ausbildungsabschlüsse und Einkommensklassen Psychosoziale Belastung
Männer OR [95% KI]*
Frauen OR [95% KI] *
x niedrig x mittel x hoch x niedrig x mittel x hoch x niedrig x mittel x hoch x niedrig x mittel x hoch
1 1,32 [1,12-1,55] 1,68 [1,46-1,93] 1 1,10 [1,04-1,16] 1,34 [1,27-1,41] 1 1,00 [0,82-1,23] 1,17 [0,93-1,45]
1 1,15 [1,00-1,33] 1,20 [1,05-1,37] 1 1,09 [1,03-1,15] 1,24 [1,17-1,32] 1 0,89 [0,71-1,09] 1,02 [0,81-1,29] 1 1,26 [1,00-1,58] 1,23 [0,96-1,88]
x niedrig x mittel x hoch x niedrig x mittel x hoch x niedrig x mittel x hoch
1 1,28 [1,19-1,38] 1,52 [1,42-1,63] 1 1,09 [1,01-1,18] 1,22 [1,12-1,32]
Ausbildung keine Ausbildung Berufsausbildung
Abitur Fachhoch- und Hochschule
0,78 [0,68-0,91] 0,93 [0,78-1,11]
Einkommen niedriges Einkommen mittleres Einkommen hohes Einkommen *
0,89 [0,82-0,96] 1,02 [0,93-1,23]
1 1,01 [0,93-1,09] 1,03 [0,94-1,23] 1 1,17 [1,07-1,27] 1,46 [1,33-1,56] 1 1,35 [1,19-1,52] 1,47 [1,29-1,66]
kontrolliert für Alter, RV-Träger, Meldedauer, körperliche Anstrengung, Rauch etc., Schichtarbeit
Komplettiert werden die in der Abbildung gezeigten Daten durch die vollständige Darstellung der Ergebnisse der Regressionsrechnungen in Tabelle 39. Wie gewohnt sind dort auch die Regressionskoeffizienten für die mittlere Belastungsstufe des Verausgabungs-Belohnungs-Quotienten und die absoluten Fall- und Kontrollzahlen aufgeführt. Im Wesentlichen folgt der schichtspezifische Trend
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
223
für die Berentungsrisiken, die von mittleren Belastungen ausgehen, dem für hohe Belastungen. Insofern wird auf eine Kommentierung der Tabelle verzichtet.
11.3.2.3
Physische Arbeitsbelastungen
Wenn psychosoziale und physische Arbeitsbelastungen bisher im Zusammenhang mit der Invaliditätsrente gemeinsam wahrgenommen wurden, dann lediglich als konkurrierende Faktoren, die wechselseitig füreinander kontrolliert werden mussten, um Confounding auszuschließen (z.B.: Hagen et al. 2002 ; Krokstad et al. 2002 ; Warren et al. 2004). Tabelle 40: Verteilung psychosozialer Belastungen nach physischen Gefahren Psychosoziale Belastung
Männer*
Frauen*
körperliche Anstrengungen selten gelegentl. häufig
körperliche Anstrengungen selten gelegentl. häufig
x niedrige Belastung
38,7 (21.265)
26,1 (14.350)
35,3 (19.394)
42,0 (18.682)
24,9 (11.071)
33,1 (14.743)
x mittlere Belastung
43,3 (23.823)
27,6 (15.159)
29,1 (16.029)
36,0 (15.998)
35,4 (15.772)
28,6 (12.727)
x hohe Belastung
18,0 46,4 35,6 (9.922) (25.501) (19.587) Rauch/Staub/Gase/Dämpfe selten gelegentl. häufig
22,1 39,7 38,3 (9.816) (17.654) (17.027) Rauch/Staub/Gase/Dämpfe selten gelegentl. häufig
x niedrige Belastung
39,6 (21.775)
28,7 (15.780)
31,7 (17.454)
57,8 (25.732)
22,1 (9.849)
20,0 (8.915)
x mittlere Belastung
40,9 (22.489)
28,9 (15.918)
30,2 (16.604)
30,8 (13.697)
40,9 (18.199)
28,3 (12.601)
x hohe Belastung
19,4 (10.649)
42,6 (23.409)
38,1 (20.952)
11,4 (5.067)
37,0 (16.449)
51,6 (22.981)
selten
Schichtarbeit gelegentl.
häufig
selten
Schichtarbeit gelegentl.
häufig
x niedrige Belastung
44,8 (24.661)
30,5 (16.752)
24,7 (13.596)
58,2 (25.884)
22,5 (10.021)
19,3 (8.591)
x mittlere Belastung
35,1 (19.330)
39,3 (21.640)
25,5 (14.041)
28,2 (12.545)
40,2 (17.887)
31,6 (14.065)
x hohe Belastung
20,0 (11.019)
30,2 (16.618)
49,8 (27.373)
13,6 (6.067)
37,3 (16.588)
49,1 (21.842)
* Angegeben werden die Zeilenprozentwerte und die (Anzahl) in den Kategorien
224
11 Ergebnisse
Eine solche Kontrolle macht Sinn, wenn man an unabhängigen Effekten interessiert ist und davon ausgeht, dass psychosoziale und physische Arbeitsbelastungen häufig gleichzeitig auftreten. Ob diese Annahme tatsächlich zutrifft, ist aber bisher nur in wenigen Untersuchungen geprüft worden (Schrijvers et al. 1998), so wie im Allgemeinen noch viel zu wenig über das Verhältnis der beiden Faktoren bekannt ist (Lund et al. 2005 ; Rantanen 1999). Soweit es diese Studie betrifft, fällt die Arbeit in Berufen mit hohen psychosozialen Belastungswerten aber in der Tat oft mit physischen Belastungen, gemessen über die drei Indikatoren körperliche Anstrengungen, Arbeit unter Rauch/Staub/Gasen/Dämpfen und Schichtarbeit, zusammen. Die entsprechende Auszählung ist der Tabelle 40 zu entnehmen, in der die dreistufige psychosoziale Belastungsvariable und die dreistufigen physischen Belastungsvariablen kreuztabelliert dargestellt sind. Bei Männern und Frauen ist der Trend, bis auf einzelne Abweichungen, ähnlich. Die eindeutigsten Ergebnisse zeigen sich bei der Schichtarbeit. Anscheinend sind Berufe, in denen häufig Schichtarbeit vorkommt, auch oft durch ungünstige psychosoziale Arbeitsbedingungen geprägt.
Abbildung 20: Odds Ratios für den Vergleich zwischen Personen mit niedrigen (Referenz) und hohen psychosozialen Belastungswerten für verschiedene Subgruppen physischer Belastung Die Subgruppenanalysen wurden nach dem bekannten Muster durchgeführt, indem für jede Belastungsstufe der drei physischen Arbeitsbedingungen Regressionsrechnungen für den Zusammenhang zwischen psychosozialen Belastungen
11.3 Arbeitsbelastungen und Frühberentung: Ergebnisse
225
und Berentung durchgeführt wurden. Eine Modellkontrolle erfolgte jeweils für die Variablen Alter, Meldedauer, Rentenversicherungsträger, Bildung und Einkommen. In der Abbildung 20 sind die Vergleichsergebnisse für den hohen gegen den niedrigen (Referenz) psychosozialen Belastungswert aufgeführt. Für die weiblichen Studienpersonen ist nur die Subgruppenanalyse für den Faktor körperliche Anstrengungen abgebildet. Es ist offensichtlich, dass die von der psychosozialen Belastung ausgehende Berentungswahrscheinlichkeit bei seltener, gelegentlicher und häufiger körperlicher Anstrengung nahezu identisch ist. Bei den anderen beiden physischen Belastungen war bei den Frauen ebenfalls kein Unterschied zu erkennen, auf eine Darstellung ist deshalb verzichtet worden. Im Gegensatz dazu nimmt die Stärke des Zusammenhangs zwischen der psychosozialen Belastungsvariable und der Berentung mit dem Ausmaß der Belastung durch die drei physischen Arbeitsbelastungen bei den Männern zu. In der Tabelle 41 sind die einzelnen, der Abbildung 20 zugrundeliegenden Werte für Männer nochmals gesondert aufgeführt. Betrachtet man beispielsweise die Odds Ratios für die nach den körperlichen Anstrengungen stratifizierten Analyse, so ist in der Gruppe mit seltenen oder nicht vorhandenen körperlichen Anstrengungen keine statistisch signifikante Beziehung zwischen der psychosozialen Belastung und der Invalidität feststellbar, während das entsprechende Odds Ratio in der Gruppe mit häufiger körperlicher Anstrengung 1,67 beträgt. Die Resultate für die mittlere Ausprägung der psychosozialen Variable folgen diesem Trend. Tabelle 41: Subgruppenanalysen zu psychosozialen Arbeitsbelastungen und Berentung bei Männern: physische Arbeitsbelastungen Kategorie physische Arbeitsbelastung
Rauch etc.
Schichtarbeit
selten o. nie
x niedrig x mittel x hoch
körperliche Anstrengungen OR [95% KI] * 1 0,96 [0,89-1,03] 1,06 [0,98-1,16]
OR [95% KI] * 1 0,93 [0,86-0,99] 1,10 [1,03-1,21]
OR [95% KI] * 1 1,01 [0,94-1,08] 1,10 [1,02-1,19]
gelegentlich
x niedrig x mittel x hoch
1 1,12 [1,03-1,23] 1,31 [1,22-1,42]
1 1,25 [1,16-1,37] 1,26 [1,17-1,36]
1 1,15 [1,06-1,24] 1,28 [1,18-1,38]
häufig
x niedrig x mittel x hoch
1 1,39 [1,28-1,52] 1,67 [1,54-1,81]
1,36 [1,25-1,45] 1,79 [1,65-1,93]
1 1,15 [1,05-1,26] 1,46 [1,35-1,58]
*
Psychosoziale Belastung
Modell kontrolliert für Alter, RV-Träger, Meldedauer, Ausbil dung, Einkommen
226
11 Ergebnisse
Der Umstand, dass bei Frauen keine Interaktion zwischen physischen und psychischen Arbeitsbelastungen beobachtet werden konnte, bei den Männern dagegen schon, bedarf der genaueren Betrachtung. Eine Erklärung könnte sein, dass bei Frauen die Werte für die physischen Belastungen deutlich niedriger liegen als bei den Männern (siehe Tabelle 30). Die Stärke des Einflusses auf die Beziehung psychosoziale Arbeitsbedingungen und Berentung kann daher zu gering gewesen sein, um sichtbare Effekte zu produzieren. Zudem waren die Unterschiede in der absoluten Höhe der kontinuierlichen Belastungsvariablen zwischen den drei Belastungsstufen selten-gelegentlich-häufig bei den Frauen klein, so dass eventuell die notwendige Diskriminanz zwischen den Kategorien nicht gegeben war. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass bei dieser Subgruppenanalyse sowohl der Hauptrisikofaktor als auch die Gruppenvariablen aus der indirekten Zuordnung durch die Job-Exposure-Matrizen stammen. Dies war bei den bisher gezeigten subgruppenspezifischen Auswertungen nicht der Fall, die Variablen Alter, Bildung und Einkommen sind für die Studienpersonen individuell durch die Rentenversicherer erhoben worden. Da Daten aus JEMs generell einer gewissen Fehlklassifikation unterliegen, ist es möglich, dass methodische Probleme zu Unterschieden zwischen den Geschlechtern geführt haben. Dennoch können die hier gefundenen Ergebnisse als Hinweis auf eine mögliche Interaktion zwischen physischen und psychischen Risiken gelesen werden. Allerdings erscheint es notwendig, diese komplexe Verflechtung mit anderen Studiendesigns genauer zu untersuchen, um zu methodisch eindeutigeren Aussagen kommen zu können, als es mit den hier vorgestellten Daten möglich ist. Eine weitere Erforschung erscheint allemal wünschenswert, da sie einen ganzheitlicheren Blick auf die Entstehung arbeitsbedingter Erkrankungen erlauben wird. Aufwendige statistische Verfahren dürfen nämlich nicht darüber hinweg täuschen, dass die Realität nicht nach den mathematischen Regeln eines Regressionsmodells funktioniert, in dem Einflüsse klar voneinander abgegrenzt werden können. Erwerbstätige Männer und Frauen sind während ihrer Tätigkeit einer Vielzahl von positiven und negativen physischen, psychischen und sozialen Einflüssen auf ihre Gesundheit ausgesetzt, die untereinander auf die verschiedensten Arten interagieren (Goldberg et al. 1993a ; Warren et al. 2004). Wenn es gelingt, das Zusammenspiel der Faktoren weiter zu entschlüsseln, kann dieses neue Wissen eingesetzt werden, um arbeitsbedingte Erkrankungen in der Zukunft effektiver zu bekämpfen.
11.4 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
227
11.4 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Die Hauptfragestellung war, ob sich in den Studiendaten Indizien dafür finden lassen, dass die Arbeit in Berufen mit einer vergleichsweise hohen psychosozialen Belastung das Risiko der krankheitsbedingten Frühberentung erhöht. Die Zielgröße krankheitsbedingte Frührente wurde gemessen, indem Erwerbsunfähigkeitsrentner des Jahres 1999 als Fälle definiert wurden. Psychosoziale Arbeitsbelastungen sind indirekt gemessen worden. Dazu wurden zunächst mit Hilfe von Daten aus großen Befragungen der Erwerbsbevölkerung durchschnittliche Belastungswerte für einzelne Berufe in Deutschland bestimmt. Die auf diese Weise ermittelten berufsbezogenen Belastungswerte sind den Studienpersonen dann individuell für jeden sozialversicherungspflichtigen Beruf, den sie im Untersuchungszeitraum ausgeübt haben, zugeordnet worden. Der Hauptrisikofaktor ist also das Ausmaß, in dem die Studienpersonen in Berufen gearbeitet haben, in denen eine hohes Maß an psychosozialer Belastung, ausgedrückt über ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung, herrschte. Ergebnis: Ein hoher Belastungswert ist statistisch gesehen mit einem hohen Berentungsrisiko verbunden. Ausgedrückt über das Odds Ratio für den Vergleich mit der Referenzgruppe der niedrig Belasteten, ist die Berentung bei Frauen mit mittleren Belastungswerten 1,13fach höher [95% KI=1,081,19] und bei Frauen mit hohen Belastungswerten 1,27fach höher [95% KI=1,21-1,34]. Die entsprechenden Odds Ratios bei den Männern betragen 1,10 [1,05-1,15] und 1,29 [1,23-1,35]. Die Effektschätzer stammen aus multivariaten Analysemodellen und sind für den Einfluss verschiedener Drittvariablen (Alter, Rentenversicherungsträger, Meldedauer, sozialer Status, physische Arbeitsbelastungen) statistisch kontrolliert. Als Nebenfragestellung sollte untersucht werden, wie sich die Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der Frühberentung gestaltet, wenn statt der allgemeinen Frühberentung einzelne Diagnosegruppen betrachtet werden. Ergebnis: Sowohl bei Männern als auch bei Frauen sind statistisch bedeutsame Zusammenhänge für verschiedene Diagnosegruppen nachweisbar. Hierzu zählen unter anderem die besonders häufigen Diagnosegruppen psychiatrische Krankheiten, Krankheiten des Kreislaufsystems und MuskelSkelett-Erkrankungen. Für einige Gruppen konnten dagegen keine Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen und Berentung gefunden werden.
228
11 Ergebnisse
Eine weitere Nebenfragestellung war, welchen Einfluss konkurrierende Risikofaktoren auf die Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und krankheitsbedingter Frührente haben. Ergebnis: Untersucht wurden die Risikofaktoren Alter, soziale Schicht und physische Arbeitbelastungen. Wie auch die psychosozialen Arbeitbelastungen sind sie unabhängig von den jeweils anderen Faktoren mit der Frühberentung assoziiert. Besonders stark ist der Zusammenhang beim Alter. Darüber hinaus ist nach einem Zusammenwirken der Faktoren gefragt worden. Hier zeigt sich, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen bei jüngeren Personen tendenziell ein stärkeres Berentungsrisiko sind als bei älteren Studienteilnehmern. Ein niedriger sozialer Status verstärkte nur bei den Männern die Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der Frühberentung. Ein gemeinsames Auftreten von physischen und psychosozialen Arbeitsbelastungen bedeutete ebenfalls nur bei den männlichen Studienpersonen ein besonders hohes Berentungsrisiko. Alles in allem sind die vorgestellten Ergebnisse ein Hinweis darauf, dass chronische psychosoziale Arbeitsbelastungen dazu führen können, dass Erwerbstätige krankheitsbedingt aus dem Berufsleben ausscheiden müssen.
12 Diskussion 12.1 Diskussion
Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit stützen die Annahme, dass die Arbeit in Berufen mit einem hohen psychosozialen Belastungspotential das Risiko der krankheitsbedingten Frühberentung erhöht. Dieses Resultat ist ein weiterer Baustein zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen den sozialen und psychischen Bedingungen, unter denen Männer und Frauen in modernen Gesellschaften erwerbstätig sind, und der Entstehung von Erkrankungen sowie deren Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit entzieht sich der Zusammenhang aber einer einfachen Deutung. In diesem Buch wurde daher ein weiter Bogen von den biologischen, psychischen und sozialen Grundlagen der gesundheitsschädlichen Stressreaktion über die Bedeutung des Erwerbslebens für die Entstehung von Stress bis hin zu konkreteren Forschungsergebnissen zur Beziehung zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Krankheiten geschlagen. Diese Informationen wurden dann mit dem Ereignis Invaliditätsrente in Verbindung gebracht. Als Fazit der Literaturübersicht ist zu konstatieren, dass es nach dem heutigen Wissensstand durchaus plausibel ist, dass arbeitsbedingter chronischer Stress das Risiko erhöht, zu einem Invaliditätsfall zu werden. Die daraus abgeleitete Hauptfragestellung für die empirische Untersuchung war, diese Aussage mit den Mitteln der quantitativen Sozialforschung und der Epidemiologie zu prüfen. In Deutschland ist eine solche Prüfung im großen Maßstab bisher nicht durchgeführt worden. Für eine Fall-Kontroll-Studie mit Mitgliedern der Gesetzlichen Rentenversicherung konnte letztlich gezeigt werden, dass eine statistische Beziehung zwischen der mit einem etablierten theoretischen Modell bestimmten psychosozialen Qualität des Arbeitsplatzes und der krankheitsbedingten Frühberentung besteht. Die krankheitsbedingte Frührente ist in diesem Kontext ein besonders interessanter Forschungsgegenstand, da sie – unter Beachtung ihrer rechtlichen Grundlagen – ein unmittelbarer Ausdruck des Krankheitsgeschehens und der sozialen Krankheitsfolgen in der arbeitenden Bevölkerung ist (Rodgers 1998). Zugleich ist sie ein Ereignis von hoher Bedeutung für die betroffenen Personen, ihre Arbeitgeber und das solidarisch finanzierte Rentensystem (siehe Kapitel 2). Eine Erweiterung des Wissens darüber, welche Faktoren das Auftreten der Invaliditätsrente beeinflussen, ist einer der Schlüssel für ihre erfolgreiche Vermei-
230
Diskussion
dung. Wie mehrfach erwähnt, ist die Forschung auf diesem Gebiet aber voraussetzungsreich. Es braucht in der Regel große Kollektive, die über eine lange Zeit beobachtet werden und eine theoriegeleitete Messung von Arbeitsbelastungen, um zu fundierten Aussagen zu kommen. Entsprechend sind empirische Studien Mangelware. In der hier vorgestellten Forschungsarbeit wurden vorhandene Daten so miteinander verbunden, dass Zusammenhänge empirisch geprüft werden konnten. Die dabei angewandten Methoden gehören aber nicht unbedingt zum Standardrepertoire der Sozialforschung. Daher wurde den theoretischmethodischen Grundlagen in den vorangegangenen Kapiteln viel Raum beigemessen. Konsequenterweise wird die Diskussion daher vor allem auf methodischer Ebene weitergeführt. Die Hoffnung ist, dass es mit den folgenden Informationen jedem Leser und jeder Leserin möglich sein wird, die methodische Qualität der gefundenen Ergebnisse zu bewerten und eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Im Kern geht es also darum, zu diskutieren, welche Aussagekraft die Ergebnisse haben. Erst wenn hier Klarheit herrscht, macht es Sinn, die Ergebnisse nach Folgerungen für die Prävention abzuklopfen, was am Ende des Diskussionskapitels auch kurz geschehen wird. Die methodische Diskussion beginnt mit dem grundlegendsten Merkmal der Untersuchung, dem Design. Fall-Kontroll-Studien sind ein in der medizinischen Forschung oft genutztes Instrument, da sie es erlauben, auf ökonomische Weise Daten zu sammeln, die Hinweise auf kausale Zusammenhänge geben können (Schulz et al. 2002 ; Gordis 2001). Entwickelt wurde diese Studienform in der Krebsepidemiologie, was kein Zufall ist, denn das Design hat den Vorteil, dass damit auch seltene Erkrankungen – und das sind manche Krebsarten – mit überschaubarem Aufwand untersucht werden können (Rothman et al. 1998a, S.93ff.). Diese Stärke wird deutlich, wenn man zum Vergleich die prospektive Kohortenstudie heranzieht. Im Kohortendesign müssten bei einer seltenen Erkrankung zunächst sehr viele gesunde Personen untersucht werden, um während der Beobachtungszeit genug Erkrankungsfälle für eine Analyse erfassen zu können. Eine Fall-Kontroll-Studie kann ihre Fälle hingegen aus den bereits sichtbar gewordenen Erkrankungen rekrutieren (Bhopal 2002, S.250). Nimmt man die in dieser Untersuchung betrachtete ‚Krankheit’, so kann durchaus von einem seltenen Ereignis gesprochen werden, da die aus den Zugangsstatistiken des Jahres 1999 errechnete jährliche Neuberentungsrate ca. 5,6 Fälle auf 1000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte beträgt (VDR 2000, S.20f. ; VDR 2001c, S.136). Sollen zudem noch Einzeldiagnosen betrachtet werden, verringert sich die Auftretenswahrscheinlichkeit weiter. Eine Kohortenstudie müsste, um die statistische Aussagekraft des hier angewandten Studiendesigns zu erreichen, einige 10.000 Erwerbstätige beobachten und dies über mehr als zwei Jahrzehnte.
12.1 Diskussion
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Der Zeitaspekt ist eine weitere konzeptionelle Stärke von Fall-Kontroll-Studien: Da die Belastung retrospektiv erfasst wird, können – zumindest theoretisch – relativ einfach lange Zeiträume mit der Belastungsmessung abgedeckt werden (Schulz et al. 2002). Dies ist bei Erkrankungen bedeutsam, bei deren Entstehung Stress eine Rolle spielt, da sie häufig eine lange Induktions- und Latenzzeit haben. Eine Abbildung der Belastung über einen langen Zeitraum, wie sie in dieser Forschungsarbeit möglich war, nähert sich dem faktischen Geschehen bei der Entstehung stressbedingter Erkrankungen effektiv an. Zugleich kann so auch die Variabilität von Belastungen, z.B. ausgelöst durch Arbeitsplatzwechsel, berücksichtigt werden, was bei einer einmaligen Messung nicht möglich ist (Goldberg et al. 1993b ; Johnson et al. 1993). Auf der anderen Seite werden dem Fall-Kontroll-Design einige Nachteile zugeschrieben (Überblick: Kopec & Esdaile 1990), auch wenn diese häufig mehr auf handwerklichen Fehlern beruhen, wie Rothman und Greenland (1998a, S. 114) feststellen: „Because it need not be extremely expensive nor timeconsuming [...] many studies have been conducted by naive investigators who do not understand or implement the basic principles of valid case-control-design“. In der Hoffnung, dass dieses Urteil nicht auf diese Arbeit zutrifft, sollen die wichtigsten Kritikpunkte, angefangen mit der Verallgemeinerbarkeit, diskutiert werden. Eine hohe Verallgemeinerbarkeit wird erreicht, wenn 1. die ausgewählten Fälle repräsentativ für alle Fälle in der Zielpopulation sind, wenn 2. auch die Kontrollen diese Bedingung erfüllen und 3. Fälle und Kontrollen aus der gleichen Zielpopulation stammen (Rothman et al. 1998a, S.97f.). Insbesondere bei der Auswahl geeigneter Kontrollen stehen Fall-Kontroll-Studien häufig vor Problemen, etwa wenn die Fälle in einem bestimmten Krankenhaus ausgewählt wurden und nun die Auswahlpopulation für die Kontrollen definiert werden muss. Nach dem sogenannten „secondary base“-Konzept wären dies all jene Personen, die beim Auftreten der Zielerkrankung ebenfalls in das entsprechende Krankenhaus eingeliefert würden, eine Eingrenzung, die in der Praxis häufig schwierig ist (vgl. Gordis 2001, S. 172ff. ; Kopec et al. 1990). Neben Schwierigkeiten bei der Definition der Auswahlpopulation sind Fall-Kontroll-Studien genau wie alle Studiendesigns, die auf die freiwillige Teilnahme der Studienpopulation angewiesen sind, damit konfrontiert, dass nicht alle potentiellen Fälle oder Kontrollen an der Studie teilnehmen wollen oder können. Es stellt sich also auch die Frage nach der Ausschöpfung und damit der Verallgemeinerbarkeit der Stichprobe. In dieser Studie waren sowohl die Definition der Ausgangspopulation als auch eine mögliche Nichtteilnahme kein Problem. Bei den Fällen handelte es sich um eine Vollerhebung und bei den Kontrollen um eine Zufallsauswahl aus einem vollständigen Register der Ausgangspopulation. Da mit amtlichen Sekun-
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därdaten gearbeitet wurde, konnte die Studienpopulation auch problemlos ausgeschöpft werden. Dennoch müssen bei der Verallgemeinerung der Ergebnisse Einschränkungen bedacht werden:
nicht alle Landesversicherungsanstalten haben Daten beigesteuert, ein Teil der Arbeiter fehlt daher in der Stichprobe; Selbständige und Beamte waren ausgeschlossen; es wurden nur Versicherte erfasst, die im alten Bundesgebiet wohnhaft waren.
Ein weiterer Punkt ist, dass Fall-Kontroll-Studien eine geringere kausale Aussagekraft zugebilligt wird als Kohortenstudien. Dieser Schluss resultiert vor allem aus dem retrospektiven Charakter der Expositionserhebung, bei der die analytische Richtung gleichsam umgekehrt ist und vom Ergebnis zur Ursache verläuft. Einerseits kann das einen praktischen Vorteil bedeuten (s.o.), anderseits besteht die Gefahr, dass Fehler bei der retrospektiven Erfassung auftreten. Eine solche Gefahr besteht besonders dann, wenn die Studienteilnehmer selbst nach zurückliegenden Ereignissen gefragt werden, denn bei komplexen Erinnerungsaufgaben kann es vorkommen, dass sich die Befragten fehlerhaft erinnern (Hartge & Cahill 1998, S.169 ; Tourangeau et al. 2000, S.108ff.). Erinnerungsprobleme sind bei psychosozialen Arbeitsbelastungen ein besonderes Problem, denn während bei einer aktuellen Befragung die stressauslösende Situation unmittelbar präsent ist und entsprechend gut zu berichten sein sollte, ist dies retrospektiv schwieriger (Cohidon et al. 2004 ; Hammar et al. 1998 ; Karasek et al. 1988). Man stelle sich beispielsweise vor, in einer Befragung mit einer solchen Frage konfrontiert zu werden: „In dem Beruf, den sie vor 24 Jahren ausgeübt haben, wie zufrieden waren sie da mit den Weiterbildungsmöglichkeiten?“ Hinzu kommt, dass im Gegensatz zur Belastungsmessung in einer Kohortenstudie den Teilnehmern einer Fall-Kontroll-Studie zum Zeitpunkt der Messung ihr Status (erkrankt/nicht erkrankt) bewusst ist. Solches Wissen kann einen Einfluss auf die Messung haben, wenn sich Fälle anders erinnern als Kontrollen (sog. „Recall Bias“) (Kopec et al. 1990 ; Schulz et al. 2002). In der vorliegenden Studie stammen sowohl die Belastungsinformationen als auch die retrospektiven berufsbiographischen Angaben nicht von den Studienteilnehmern selber, sondern wurden mit Sekundärdaten ermittelt, Erinnerungsfehler oder gar ein Recall Bias waren damit ausgeschlossen (Ahrens et al. 1993 ; Köster et al. 1999 ; McGuire et al. 1998). Für diesen Vorteil der JEM-Methode musste aber in Kauf genommen werden, dass Arbeitsbelastungen nur indirekt erfasst wurden. Welche Konsequenzen für die Validität der Belastungsermittlung ergeben sich daraus? Dieser Frage widmet sich der kommende Abschnitt.
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Fehlklassifikation ist das Hauptproblem beim Einsatz von JEMs (Benke, Sim, Fritschi, Aldred 2000 ; Boyer et al. 1993a ; Kauppinen, Mutanen, Seitsamo 1992). Sie ist quasi unvermeidlich, denn in einer JEM werden Belastungsunterschiede zwischen Berufsgruppen abgebildet, nicht aber die Varianz der Belastung innerhalb der Gruppen. Dort wird alles durch den Mittel- bzw. Medianwert nivelliert. Wird die fertige JEM nun in einer Studie verwendet, geschieht Folgendes: jeder Studienteilnehmer einer Berufsgruppe bekommt den selben Belastungswert zugeordnet, eben den, der in der JEM für diese Berufsgruppe ausgewiesen ist. Damit wird ignoriert, dass es enorme Unterschiede in den Arbeitsbedingungen innerhalb einer Berufsgruppe geben kann. Nimmt man beispielsweise die Berufsgruppe der Köche, so bekämen der Koch einer Imbissbude und der 3Sterne-Koch in trauter Einigkeit den selben Wert zugeschrieben. Die Ausblendung der individuelle Situation hat zur Konsequenz, dass einem Teil der Köche eine höhere Belastung (falsch-positiv) und einem anderen Teil eine niedrigere Belastung (falsch-negativ) unterstellt wird, als tatsächlich vorhanden war. Wichtig ist, dass diese Fehlklassifikation nicht systematisch erfolgt, da der Status als Fall oder Kontrolle bei der Zuordnung der JEM keine Rolle spielt, daher wird in diesem Zusammenhang auch von nicht-differentieller Fehlklassifikation gesprochen (Bödeker 2002 ; Goldberg et al. 1993a ; Kauppinen et al. 1992). Eine systematische Verzerrung ist in der Regel also nicht zu erwarten. Vielmehr führt nicht-differentielle Fehlklassifikation in einer Studie dazu, dass die statistische Beziehung zwischen der Belastung und der Erkrankung verringert wird (Armstrong 1990 ; Boyer et al. 1993a ; McKeown-Eyssen et al. 1994). Ein aus der Arbeit von Boyer und Hemon (1993b) entnommenes Beispiel zeigt, dass bereits kleine Fehler zu einer wahrnehmbaren Unterschätzung von Effekten führen: Beträgt das wahre Odds Ratio ohne Fehlklassifikation 2, wurden aber durch die Anwendung einer JEM nur 10% der Personen falsch-negativ und 10% falsch-positiv klassifiziert, ist nur noch ein OR von 1,48 nachweisbar. Das Ausmaß der Fehlklassifikation und die damit verbundene Effektverzerrung wird durch verschiedene Faktoren bestimmt, von denen die Belastungshomogenität innerhalb der Berufsgruppen einer JEM und die Qualität der Belastungsmessung die wichtigsten sind (Coughlin et al. 1990). Die Berufskategorien bilden das Skelett einer Matrize. Wenn es hier gelingt, sich hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und –aufgaben ähnelnde Berufe zusammenzufassen, wird durch diese Homogenität Fehlklassifikation reduziert. Innerhalb homogener Gruppen sind die Unterschiede in der Belastung zwischen den einzelnen Personen gering und somit ist der Informationsverlust durch die Verwendung von Durchschnittswerten weniger dramatisch (Goldberg et al. 1993b ; Hemon et al. 1991). Die Mehrzahl der Job-Exposure-Matrizen nutzt aus diesem Grund die Kombination aus dem ausgeübten Beruf und der Branche, in
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der dieser Beruf ausgeübt wird, um möglichst homogene Berufsgruppen zu bilden (z.B.: Hoar et al. 1980 ; Rybicki et al. 1997). Insofern entspricht die Methode der Arbeitsplatztypisierung in dieser Untersuchung dem Standard. Positiv ist auch zu vermerken, dass die Berufs- und Branchenangaben mit Hilfe zweier amtlicher Kodiersysteme, der Klassifizierung der Berufe (KldB) und der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZW) erfasst wurden. Jedes dieser Systeme ist für sich genommen bereits der Versuch, ähnliche Berufe bzw. Branchen zu Oberkategorien zu gruppieren, ein Umstand, der von ihrer Kombination eine noch höhere Genauigkeit erwarten lässt. Ob aber letztlich eine hohe Homogenität hinsichtlich beruflicher Gratifikationskrisen innerhalb der Arbeitsplatztypen erreicht wurde, ist schwer zu beurteilen. Denn die KldB und die WZW beruhen zwar auf Expertenwissen über den Arbeitsmarkt, ihr ursprünglicher Zweck ist aber die Berufsstatistik und nicht die Arbeitsbelastungsforschung. Andererseits spielen gerade bei der KldB Aspekte der in einem Beruf auszuübenden Tätigkeiten eine große Rolle für die Gruppierung, so dass eine gewisse Homogenität auch im Hinblick auf Arbeitsbelastungen unterstellt werden kann (Bödeker 2002). Die Qualität der Belastungsmessung ist ein zentrales Merkmal jeder JEM. Eine unpräzise Messung erhöht naturgemäß das Ausmaß der Fehlklassifikation und die Matrize verliert an Aussagekraft. Bei der Bewertung der Qualität gilt es zunächst zu klären, von wem die Angaben zu Belastungen stammen. Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten: die „a priori“ JEM, bei der eine Expertengruppe für jeden Beruf eine mittlere Belastung schätzt und die „a posteriori“ JEM, bei der die Belastungsdaten aus Primärquellen, vor allem aber aus anderen Studien, stammen (Boyer et al. 1993a). Bei dieser Arbeit fiel die Wahl auf die letztgenannte Methode. Prinzipiell wäre die Expertenbeurteilung ebenso geeignet gewesen, aber einmal vom Aufwand abgesehen94, den es angesichts der Fülle der Berufe gekostet hätte, diese Bewertung durchzuführen, waren die Experten äußerst rar, die in der Lage gewesen wären, für jeden der mehreren hundert Arbeitsplatztypen über mehr als zwei Jahrzehnte rückwirkend die Belastungsprofile für verschiedenste Gefährdungen anzugeben (vgl. Boyer & Hemon 1993b ; Kauppinen et al. 1992 ; McGuire et al. 1998). Die Verwendung von repräsentativ angelegten Befragungen der deutschen Erwerbsbevölkerung als Datenbasis war die ökonomischere Alternative. Die Belastungsinformationen in den JEMs stammen demnach, wie überhaupt bei den meisten Studien zu psychosozialen Arbeitsbelastungen (Greiner, Krause, Ragland, June, Fisher 2004), aus Eigenangaben der in den BIBB/IAB-Erhebungen befragten Personen. Obwohl es ernst94 Den Mehraufwand beschreiben Benke und Mitarbeiter (2001), die bei der Entwicklung einer Matrize, der FINJEM, beide Methoden einsetzten. Sie berichten, dass die Kosten der „a posteriori“ JEM nur 5% der Kosten für eine entsprechende „a priori“ JEM ausmachten.
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zunehmende Kritikpunkte an der Methode der subjektiven Erfassung gibt95, ist sie in der Forschung fest etabliert, und wenn die Messung sorgfältig und durch theoriegeleitete, getestete und standardisierte Befragungsinstrumente erfolgt, auch in der Lage, valide Informationen zu ermitteln. In der vorliegenden Studie waren diese Bedingungen nicht leicht zu erfüllen. Zwar war mit dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen ein fundiertes Modell zur Messung psychosozialer Arbeitsbelastungen ausgewählt worden, für die Erstellung der JEMs musste aber auf Befragungen zurückgegriffen werden, in denen das standardisierte und validierte Originalinstrument zur Erfassung beruflicher Gratifikationskrisen fehlte. Daher musste ein Auswahl aus den vorhandenen Fragen erfolgen, um nachträglich Skalen zu konstruieren (ProxyInstrumente). Grundsätzlich spricht nichts gegen die Verwendung von ProxyMessungen. Wie gezeigt wurde, kommt es bei der Operationalisierung eines theoretischen Konstrukts darauf an, eine objektive, reliable und valide Abbildung der zentralen Ideen zu erreichen. Hierbei können verschiedene Wege zum Ziel führen96, vorausgesetzt, die Regeln der Testkonstruktion werden eingehalten (Crocker et al. 1986, S.6). Dem wurde versucht, Rechnung zu tragen, allerdings nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Problematisch ist, dass der individuelle Umgang mit belastenden Situationen, der ein wichtiger Bestandteil des Modells ist (intrinsische Modellkomponente), nicht gemessen werden konnte. Somit sind alle Ergebnisse nur auf extrinsische, also aus den äußeren Bedingungen der Arbeit resultierende Belastungen zu beziehen. Aber auch die extrinsische Komponente ist zum Teil nicht vollständig erfasst worden. In diesem Zusammenhang ist es bedenklich, dass sich die Qualität der vier JEMs unterscheidet, so dass für verschiedene Zeiträume der retrospektiven Belastungszuordnung ein unterschiedliches Ausmaß an Fehlklassifikation anzunehmen ist. Für die Proxy-Instrumente sprechen dagegen die zufriedenstellenden Ergebnisse der umfangreichen teststatistischen Prüfung der Gütekriterien. Es ist zudem festzuhalten, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass mögliche Ungenauigkeiten der Messung einem systematischen Muster folgten und somit der gemessene Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbedingungen und Berentungsrisiko lediglich das Produkt eines Messfehlers wäre. Ein solches Szenario hätte bedeutet, dass die JEMs über alle Jahre und genau für diejenigen 95 Die Diskussion über das Pro und Contra subjektiver Erfassungsmethoden soll an dieser Stelle nicht mehr neu geführt werden, hierzu sei auf entsprechende Literatur verwiesen (z.B. Greiner et al. 2004 ; Resch 2003 ; Schnall et al. 2000 ; Schulze 2001 ; Semmer, Zapf, Greif 1996 ; Spector et al. 2000). 96 Die Testtheorie kennt streng genommen keine Originalmessung. Ein Instrument ist lediglich der mal besser, mal schlechter gelungene Versuch, Indikatoren für ein theoretisches Konstrukt zu finden (Schnell et al. 1995, S.121ff.). Es verbleibt also durchaus Spielraum für abweichende Umsetzungen.
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Berufe, die häufiger von Fällen ausgeübt wurden, systematisch zu hohe Belastungen ausgewiesen hätte bzw. für Berufe von Kontrollen zu niedrige. In den Daten fanden sich aber keine Hinweise darauf, dass dieses „worst case“-Szenario eingetreten ist. Zudem gilt die Methode der JEM allgemein als sehr robust gegenüber systematischen Verzerrungen (Stengel et al. 1993). Am Ende der methodischen Betrachtung muss mit der Nichterfassung von möglichen Störgrößen noch ein wichtiges Problem angesprochen werden. Es ist durchaus denkbar, dass der Effekt der psychosozialen Arbeitsbelastungen auf die Frührente durch andere, nicht gemessene Einflüsse erklärt wird, welche zugleich mit Arbeitsbelastungen und Frührente assoziiert sind (Confounder). Dies ist nicht allein das Problem dieser Untersuchung, sondern das einer jeder Beobachtungsstudie. Ursächliche Schlüsse unterliegen hier dem Verdacht, dass ein gefundener Zusammenhang nicht kausal sein könnte, sondern auf einer Scheinbeziehung beruht, welche auf nichtgemessene Confounder zurückgeht (Rothman 2002). In Beobachtungsstudien bleibt als angemessene Reaktion häufig nur auf Basis des Vorwissens, so viele relevante Confounder wie möglich zu identifizieren, zu messen und statistisch zu kontrollieren. In dieser Studie konnte dies teilweise umgesetzt werden, indem der soziale Status, das Alter und physische Arbeitsbelastungen kontrolliert wurden. Allerdings fehlt der wichtige Komplex der verhaltensbedingten Risiken. Faktoren wie Fehlernährung oder Alkoholkonsum bestimmen die Gesundheit in starken Maße und sie sind, wie verschiedene Studien zeigen konnten, auch mit der krankheitsbedingten Frührente assoziiert (vgl. Kap. 3). Dass sie aber als Confounder die Beziehung zwischen Arbeitsbelastungen und Rente erklären, ist eher unwahrscheinlich. Ein Grossteil der Studien zum Zusammenhang zwischen arbeitsbedingten Stresserfahrungen und Erkrankungen haben ihre Ergebnisse für verhaltensbedingte Faktoren kontrolliert, ohne dass die Haupteffekte dadurch zusammengebrochen wären (Tsutsumi et al. 2004 ; van Vegchel et al. 2005). Zwei weitere Aspekte sind noch zu beachten. Erstens gibt es Hinweise darauf, dass verhaltensbedingte Risiken teilweise als Reaktion auf Stressbelastungen auftreten (z.B. Schrijvers et al. 1998). Der zweite Aspekt ist, dass in den Regressionsmodellen der soziale Status kontrolliert wurde. Da der Status wiederum eng mit gesundheitlichen Verhaltensweisen verknüpft ist (Bartley, Sacker, Firth, Fitzpatrick 1999), dürfte ein Teil der Varianz ungemessener Confounder durch den sozialen Status erfasst worden sein. In der Gesamtheit betrachtet, erscheint die gewählte Methode trotz der geschilderten Stolpersteine geeignet, um die in dieser Arbeit gestellten Fragen zu beantworten. Die Interpretation der gefundenen Effekte bleibt dennoch mit Unsicherheiten behaftet. Einerseits ist davon auszugehen, dass durch Fehlklassifikation die gefundenen Effekte eher zu gering ausfallen, andererseits wurden wichtige Drittvariablen nicht berücksichtigt. Als Anhaltspunkt für eine Bewertung
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können die Effektschätzer aus den in Kapitel 5 angeführten Kohortenstudien dienen. Verglichen damit, liegen die in dieser Arbeit gefundenen Odds Ratios mit 1,29 für Männer mit hohen Belastungen und 1,27 für Frauen mit hohen Belastungen im Bereich der bisher bekannten Zusammenhangsstärken. Entscheidet man sich nun, die Ergebnisse als Indiz für einen Zusammenhang zwischen psychosozialen Belastungen und dem Risiko der krankheitsbedingten Frührente zu sehen, so lassen sich Schlussfolgerungen für die Prävention ziehen. Zunächst einmal belegen die Befunde dann, dass die psychosozialen Arbeitsbedingungen überhaupt ein geeignetes Feld zur Bekämpfung der Invaliditätsrente sind. Diese Einsicht ist keineswegs selbstverständlich, denn bis vor kurzem wurden Erkrankungen bei älteren Arbeitnehmern nicht selten als Folge der natürlichen biologischen Alterung abgetan (Defizitmodel). Dieses Defizitmodell des Alters ist zudem auf allgemeine Charakteristika wie Produktivität, Lernwilligkeit und -fähigkeit ausgedehnt worden, die angeblich bei älteren Arbeitnehmern unvermeidlich abnehmen würden. Inzwischen gilt diese Sichtweise zumindest aus Sicht der Wissenschaft als überholt (BMFSFJ 2001 ; Kistler et al. 2001 ; Voges 1994, S.208ff.). Das heißt nicht, dass es keine dem Alterungsprozess geschuldeten Leistungseinschränkungen gäbe, sie treten aber nicht zwangsläufig ein und werden bei den richtigen äußeren Bedingungen durch alterspezifische Stärken ausgeglichen (Irle et al. 2004). Eine Abnahme der Leistungsfähigkeit und in der äußersten Konsequenz eine Erkrankung bis hin zur Frühberentung wird nach heutigem Wissen eher durch ungünstige Arbeitsbedingungen ausgelöst, als durch biologische Alterung (Krokstad et al. 2004 ; Stattin 2005). Wenn man am Einsatz älterer Mitarbeiter interessiert ist, gibt es also Möglichkeiten, eine vorzeitige Berentung zu verhindern. Hierzu gehören neben klassischen Programmen des Arbeitsschutzes mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Maßnahmen, die psychosozial begründeten chronischen Stressbelastungen vorbeugen sollen. Ein Vorteil hierbei ist, dass Prävention auf diesem Gebiet nicht neu erfunden werden muss. Es gibt zahlreiche Musterprogramme und betriebliche Initiativen, mit denen die sozialen Rahmenbedingungen der Arbeit verbessert werden können. An der Qualität solcher Maßnahmen kann im Einzelnen sicher Kritik geübt werden, da viele nicht wissenschaftlich fundiert oder gar evaluiert sind. Zudem sind sie in der Regel nicht dafür konzipiert, die frühzeitige Berentung zu verhindern, vielmehr stehen eher allgemeine Aspekte der Mitarbeitergesundheit (z.B. Burnout, Arbeitsunfähigkeit) im Vordergrund. Sollten sich die in den Analysen gefundenen Zusammenhänge aber bestätigen, so wäre dies ein weiteres Argument für den Einsatz von betrieblichen Präventionsprogrammen zur Reduzierung psychosozialer Belastungen. Was konkrete, auf die Frührente fokussierte Ansätze angeht, ist die Forschung aber noch in den Anfängen. Bisher gibt es nur vereinzelte Interventionsstudien, in denen getestet wurde, ob die Verbesserung
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von Arbeitsbedingungen vor der krankheitsbedingten Frühberentung schützt (z.B.: de Boer et al. 2004). Weitere Forschung ist also notwendig, und Arbeiten wie diese können über die Identifikation von Risikokonstellationen dazu beitragen, Interventionen zu entwickeln und wissenschaftlich zu testen. Daraus, dass in der Untersuchung ein theoretisches Modell psychosozialer Arbeitsbelastungen verwendet wurde, das explizite Annahmen über diejenigen Arbeitsbedingungen enthält, die in besonderem Maße chronischen Stress hervorrufen, lassen sich Ansatzpunkte für solche Interventionen ableiten. Über allgemeine Anmerkungen soll aber an dieser Stelle nicht mehr hinausgegangen werden, da die Prävention am Arbeitsplatz ein weites Thema ist, mit dem sich viele Autoren in tiefergehender Form auseinandergesetzt haben, als es hier auch nur ansatzweise möglich wäre (z.B.: Badura, Schellschmidt, Vetter 2003 ; Bamberg, Busch, Ducki 2003 ; Bamberg, Ducki, Metz 1998 ; Morschhäuser 2002). Die folgenden Anregungen beschränken sich außerdem auf die Ebene der organisatorisch-strukturellen Bedingungen der Erwerbsarbeit, da im Forschungsprojekt Aspekte der individuellen Stressverarbeitung und –anfälligkeit nicht erfasst werden konnten. Die Hauptbelastungsvariable war die Arbeit in Berufen, in denen im Durchschnitt ein hohes Ungleichgewicht zwischen der geleisteten Verausgabung und der dafür erhaltenen Belohnung besteht. Eine hohe Verausgabung ist nach dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen durch die dauerhafte Arbeit unter Bedingungen wie Zeitdruck, fragmentierten Arbeitsabläufen oder dem Zwang zu Überstunden charakterisiert. Dies alles sind Faktoren, die zumindest teilweise durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen beeinflussbar sind und viele der modernen Präventionsansätze zielen insbesondere auf die Veränderung von Merkmalen ab, die im weitesten Sinne der Verausgabungsseite psychosozialer Belastung zuzurechnen sind. Beispiele sind die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle, die Ausweitung von Teilzeitmöglichkeiten oder die Neuorganisation von Arbeitsabläufen bis hin zur ‚job rotation’ (z.B.: Badura et al. 2003 ; Buck 2002 ; Morschhäuser 2002 ; Naegele 2001b). Angesichts der Ergebnisse der FallKontroll-Studie kann nur für eine konsequente Umsetzung solcher Programme plädiert werden, denn neben vielen weiteren positiven Effekten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist zu vermuten, dass sie auch einen Beitrag zur Vermeidung der Invaliditätsrente leisten. Ein originärer Gedanke des verwendeten Stressmodells ist der Belohnungsaspekt als Gegengewicht zur Verausgabung, wobei Belohnung mit der Bezahlung, beruflichen Aufstiegschancen, Wertschätzung, Anerkennung und Arbeitsplatzsicherheit mehrere Dimensionen umfasst. Auch hier bieten sich Chancen, durch strukturelle Veränderungen die Belastung der Erwerbstätigen zu verringern. Unter den vorhandenen Präventionsmethoden sind Strategien, die sich
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hierunter einordnen ließen, aber seltener als solche, die auf die Verausgabungsseite ausgerichtet sind. Ein Handlungsfeld, das noch vergleichsweise häufig im Zusammenhang mit der Verbesserung der Arbeitssituation älterer Erwerbstätiger genannt wird, ist die Aus- und Weiterbildung. Ab einem gewissen Alter scheinen Erwerbstätige systematisch von Möglichkeiten der Karriereentwicklung und Weiterbildung ausgeschlossen zu sein (BMFSFJ 2001, S.205ff. ; Naegele 2001b). Dahinter steht oft die Vermutung, dass sich Investitionen in die Ausbildung Älterer nicht rechnen, da die Zeit zur Anwendung neuen Wissens zu knapp wäre (Schimany 2003, S.443). Dieses Argument erscheint allein aufgrund der immer kürzer werdenden Halbwertzeit arbeitsbezogenen Wissens fadenscheinig. Die Analysen zur Frühberentung zeigen zudem, dass das ‚return on investment’ nicht ausschließlich in der Wissensanwendung gesehen werden darf, positive gesundheitliche Nebenwirkungen sind ebenfalls einzurechnen. Weitere Optionen für Verbesserungen bietet die Etablierung einer mitarbeiterzentrierten Unternehmens- und Managementkultur. Es konnte in Studien gezeigt werden, dass ein durch Schulungen verbessertes Führungsverhalten von Vorgesetzten positive Einflüsse auf die gesundheitliche Lage der Beschäftigten hat (Amick et al. 2000b ; Theorell, Emdad, Arnetz, Weingarten 2001). Lund und Mitarbeiter (2003) fanden beispielsweise, dass in Betrieben mit einem modernen, durch Flexibilität und Kooperation geprägten Management die Frühberentung ein geringeres Problem darstellte, als in stark hierarchisch geführten Betrieben. Die beiden anderen Dimensionen der Belohnung sind die monetäre Entlohnung und die Arbeitsplatzsicherheit. Beide Faktoren sind nicht einfach beeinflussbar. Dennoch sind insbesondere bei der Entlohnung Verbesserungen denkbar, etwa in Form von Beteiligungs- oder Bonussystemen, um die Lohn-Leistungs-Relation zu verbessern (Siegrist 2004b). Neben solchen aus der Theorie gefolgerten Empfehlungen geben die Untersuchungsergebnisse noch weitere Hinweise auf Einflussmöglichkeiten. Die diagnosespezifischen Auswertungen haben unter anderem ergeben, dass auch bei Krankheiten, für die bisher keine Belege für einen Zusammenhang mit psychosozialen Belastungen vorlagen, das Berentungsrisiko für belastete Personen höher war. Dies könnte ein Fingerzeig sein, dass, wie im Prozessmodell der Frührente in Kapitel 3 vermutet wurde, Arbeitsbelastungen nicht nur auf die Entstehung der einer Frührente zugrundliegenden Krankheit wirken, sondern die Wahrscheinlichkeit einer Berentung auch noch auf anderen Wegen erhöhen, z.B. indem sie die Erkrankten dazu bringen, frühzeitig die Rente zu beantragen. Beschäftigte mit Frühstadien manifester Erkrankungen sind daher eine wichtige Zielgruppe präventiver Maßnahmen zur Vermeidung der Frührente. Dazu gehört selbstverständlich, dass ein aus arbeitsmedizinischer Sicht günstiges Arbeitsumfeld geschaffen wird, gleichzeitig sollten aber auch psychosoziale Risiken mini-
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miert werden (Krokstad et al. 2004). Eingeschlossen in diesen Gedanken ist auch eine konsequente Berücksichtigung des psychosozialen Arbeitsumfeldes von Teilnehmern der professionellen medizinischen und beruflichen Rehabilitation (Irle et al. 2004 ; Krokstad et al. 2002). Schließlich sind noch die Resultate der Subgruppenanalysen anzuführen. Sie haben gezeigt, dass es in der Studienpopulation Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Risikofaktoren gab. Psychosoziale Arbeitsbelastungen bedeuteten in Kombination mit der Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht und einer physisch belastenden Arbeit ein besonders hohes Berentungsrisiko, wobei diese Interaktion bei Männern stärker ausgeprägt war als bei Frauen. Ein zielgenauer Einsatz von Präventionsmaßnahmen bei weniger qualifizierten und manuelle Arbeit verrichtenden Personen verspricht nach diesen Ergebnissen also besondere präventive Effekte. Ein weiterer Faktor, für den Subgruppenanalysen durchgeführt wurden, war das Alter. Setzt man die negative Wirkung von Arbeitsbelastungen mit dem Alter in Beziehung, so ist man bei der Frage, wann Prävention einsetzen sollte. Reicht es beispielsweise aus, erst für Personen ab dem 50. Lebensjahr Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vorzunehmen, um ein vorzeitiges Ausscheiden zu verhindern? Zumindest nach den Befunden aus dieser Arbeit muss die Antwort nein lauten. Die Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen und Frührente waren bei jüngeren Studienpersonen sogar teilweise stärker als bei älteren. Als weiteres Argument ist anzuführen, dass die Belastung über den langen Zeitraum von durchschnittlich 16,5 Jahren gemessen wurde, was zeigt, dass arbeitsbedingte Erkrankungen häufig eine lange Vorgeschichte haben. Es ist begrüßenswert und notwendig, dass sich die Prävention am Arbeitsplatz derzeit verstärkt den älteren Arbeitnehmern zuwendet, zumal hier die Chance eines frühen Eingreifens bereits verstrichen ist. Zukünftig muss die psychosoziale Qualität der Arbeit aber verstärkt ein Thema für alle Altersgruppen, bis hin zu den Berufsanfängern, sein. Wenn es in der Tat darum geht, angesichts des demographischen Wandels von den Arbeitnehmern zu verlangen, länger zu arbeiten, dann muss ihnen auch ermöglicht werden, dies ohne Risiken für ihre Gesundheit zu tun. Auch wenn das Investitionen erfordert, werden sie sich letztlich auszahlen, sowohl für die Unternehmen, die mit motivierteren und produktiveren Mitarbeitern rechnen können als auch für die Sozialsysteme, die weniger Kosten für Invaliditätsrente und Krankenversorgung aufbringen müssen. Für die Beschäftigten ist der Gewinn durch eine gute Gesundheit ohnehin kaum zu beziffern.
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