Lensey Namioka
Ailins Weg Aus dem Englischen von Anna Blankenburg
anrich
Titel der englischen Originalausgabe: TIES...
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Lensey Namioka
Ailins Weg Aus dem Englischen von Anna Blankenburg
anrich
Titel der englischen Originalausgabe: TIES THAT BIND, TIES THAT BREAK Zur Erinnerung an meine Mutter, deren Name Buwei „Großer Schritt“ bedeutet, weil sie eine der Ersten war, deren Füße nicht eingebunden waren
© 1999 by Lensey Namioka TIES THAT BIND, TIES THAT BREAK erschien erstmals 1999 bei Delacorte Press, a division of Random House, New York Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe, published by arrangement with Random House, Inc. New York, New York, U.S.A. All rights reserved: © 2000 Beltz Verlag, Weinheim und Basel Programm Anrich, Weinheim Einband: Max Bartholl Satz: prima nota, Korbach Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach ISBN 3-89106-400-4 Gesetzt nach der neuen Rechtschreibung
Ailin möchte rennen und springen können und nicht nur so geziert trippeln wie ihre älteren Schwestern. Sie wehrt sich entschieden dagegen, die Füße eingebunden zu bekommen. Aber mit »großen«, unversehrten Füßen wird sie keinen Mann finden. Ihr bleibt nur der eigene Weg – ein harter Weg für ein junges Mädchen in einem konservativen, von Traditionen bestimmten Land!
Prolog
In meinen Schuhen mit den hohen Absätzen war es schwer für mich, nicht zu stolpern oder umzuknicken. Sie zu tragen war fast so schlimm wie eingebundene Füße zu haben. Nein, das stimmt nicht. Nichts konnte so schlimm sein wie eingebundene Füße! Auch musste ich daran denken, kleine Schritte zu machen, um nicht die seitlichen Schlitze meines Cheongsams weiter aufzureißen. Wenn man so viele Jahre normale Röcke getragen hatte, war es nicht einfach, sich wieder an dieses enge, aufreizende Kleidungsstück zu gewöhnen. Der Cheongsam mit seinem hohen, steifen Kragen und den seitlichen Knöpfen hatte seinen Ursprung in der MandschuTunika, die die chinesischen Frauen vor der Revolution über ihren Hosen trugen. Doch jetzt, 1925, trugen Frauen lange Seidenstrümpfe statt Hosen unter der Tunika und die Tunika selbst umschloss den Körper viel enger. Großmutter hätte einen hysterischen Anfall bekommen, wenn sie mich in dieser Kleidung gesehen hätte. Ich war zwar erst 19 Jahre alt, trotzdem hatte ich es vorgezogen, den Cheongsam und die hochhackigen Schuhe zu tragen, weil ich die Frau des Inhabers war und Würde zeigen musste. Wie üblich blickte ich im Lokal umher, um zu überprüfen, ob alles reibungslos ablief. Da sah ich ihn. Das Gesicht war mir vertraut, doch die Gestalt und die Kleidung waren es nicht. Ich starrte den jungen Chinesen in westlicher Kleidung an, der gerade ins Restaurant gekommen war und sich umblickte. Es gab keinen Zweifel. Diese hoch geschwungenen Augenbrauen gehörten zu Liu Hanwei, meinem ehemaligen Verlobten. Am liebsten hätte ich laut
aufgelacht und ihm durch das Lokal einen Gruß zugerufen. Doch ich musste mich zurückhalten, sonst würde ich in den Augen der Kellner, die alle älter waren als ich, an Respekt verlieren. So ging ich ganz ruhig auf Hanwei zu. „Möchten Sie sich vielleicht setzen?“, fragte ich höflich auf Mandarin. Es war jetzt drei Jahre her, dass ich China verlassen hatte, doch Chinesisch konnte ich noch. Vor Überraschung wäre er fast in die Luft gesprungen. Mehrere Male öffnete er den Mund und schloss ihn wieder. Auch das war mir vertraut. „Ailin?“, flüsterte er. „Bist du wirklich Tao Ailin?“ „Ich bin jetzt Mrs. Zhao“, sagte ich und sprach dabei meinen Ehenamen auf Mandarin aus. „Dieses Restaurant gehört meinem Mann.“ Verblüfft ließ sich Hanwei auf den nächsten Stuhl nieder. „Du, verheiratet?“, krächzte er. Ich nickte. Dann winkte ich einem Kellner, der auch schnell zu uns kam. In geläufigem Kantonesisch gab ich ihm Anweisungen: „Wir beginnen mit einer feinen Haifischflossensuppe – gib noch etwas Huhn und Schinken dazu. Dann, denke ich, eine halbe gebratene Ente mit ein paar Garnelen in Ingwersoße. Vielleicht auch einen gedämpften Karpfen.“ Wenn der Kellner wegen der üppigen Bestellung für nur einen Gast überrascht war, so ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken und enthielt sich jeden Kommentars. Auch wenn ich kaum älter als seine Tochter war, so war ich doch die Frau des Besitzers. „Als deine Arbeitgeber zurück nach Nanking kamen, bin ich zu ihnen gegangen, um zu sehen, ob du mit ihnen zurückgekommen bist. Du kannst dir vorstellen, wie überrascht ich war, als sie sagten, du wärst in Amerika geblieben!“
Ich goss ihm eine Tasse Tee ein. „Die Warners haben mich nicht mehr so nötig gebraucht wie vorher. Beide Kinder waren alt genug, um in Nanking auf die Schule zu gehen.“ Schweigend trank Hanwei seinen Tee. „Aber du hättest bei einer anderen amerikanischen Missionarsfamilie eine Stellung finden können“, sagte er schließlich. „Viele von denen wären froh, jemanden zu haben, der sich um ihre Kinder kümmert und fließend Englisch sprechen kann.“ „Vielleicht hatte ich keine Lust mehr, ein Kindermädchen zu sein“, sagte ich leichthin. Doch so ganz stimmte das nicht. Ich mochte Kinder und kümmerte mich gerne um sie. „Aber egal, erzähl mir von dir. Was machst du hier in Amerika?“ Er erklärte, dass er seit über drei Jahren an der Universität von Illinois studierte. „Ich studiere Chemie und will übernächstes Jahr meinen Abschluss machen.“ „Wenn du in Illinois studierst, was machst du dann in San Francisco?“, fragte ich. „Ich bin auf dem Weg nach Hause. Meine Mutter ist sehr krank.“ Als er seine Mutter, Frau Liu, erwähnte, empfand ich einen Hauch von Verbitterung. Sie war es gewesen, die meine Verlobung mit Hanwei gelöst hatte. Doch diese Verbitterung reichte nicht sehr tief. „Ich hab noch ein paar Tage Zeit, bevor mein Schiff abfährt“, erklärte Hanwei. „Die Universität von Illinois liegt in einer kleinen Stadt, in der es kein einziges gutes chinesisches Restaurant gibt. Chinesisches Essen fehlt mir sehr. Und deshalb habe ich, als ich durch San Francisco kam, gedacht, ich gehe einfach mal nach Chinatown und esse dort richtig gut.“ Er schwieg einen Moment und sagte dann weich: „Aber dich hier zu treffen war das Letzte, was ich erwartet habe!“ Es entstand eine Pause. Um das bedrückende Schweigen zu brechen, fragte ich: „Was willst du machen, wenn du deinen Abschluss hast? Gehst du zurück nach China
und suchst dort Arbeit?“ Er nickte. „Ich habe schon eine Stelle in Aussicht. An Leuten mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen besteht ein großer Bedarf in China.“ Das Studium in Amerika hat ihm gut getan, dachte ich. Hanwei war nicht mehr der weiche, verwöhnte Junge aus reichem Haus. Er war ein junger Mann geworden, der bereit war, für sich selbst zu sorgen. „Deine Eltern werden sicher überrascht sein, wie sehr du dich verändert hast“, sagte ich. Die Suppe kam, und Hanweis Augen leuchteten auf, als ich ihm davon in eine Schale schöpfte. Die anderen Speisen folgten schnell, und er war viel zu beschäftigt, um sich zu unterhalten. Während ich ihm zusah, wie er das Essen regelrecht in sich reinschaufelte, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken. Immer wieder wartete er gar nicht erst darauf, dass ich ihm vorlegte, sondern griff selbst nach den Platten. Offensichtlich war er wirklich sehr nach chinesischem Essen ausgehungert. Allmählich aß Hanwei etwas langsamer. Er stocherte in den Karpfenstücken herum und sagte: „Nicht nur ich habe mich verändert, auch meine Eltern haben sich verändert. Du wärst überrascht, wie modern sie in mancher Hinsicht geworden sind.“ „Modern genug, um nicht eingebundene Füße zu akzeptieren?“ Ich konnte nicht anders, ich musste das fragen. Behutsam legte Hanwei die Stäbchen nieder. Eine Weile schaute er stumm in seine Teetasse. Als er mich schließlich ansah, war sein Blick wehmütig und kummervoll. „Warum hast du nicht gewartet, Ailin? Warum bist du zu dieser amerikanischen Familie davongelaufen?“ Warum war ich weggelaufen? Ich dachte daran, wie ich Hanwei zum ersten Mal getroffen hatte. Ja, damals hatte alles begonnen. Ich war ungefähr fünf Jahre alt und er war sieben.
Erstes Kapitel
Unsere Familie, die Taos, lebte in einer Hofanlage mit über 50 Räumen, die von einer Mauer umgeben war. Großvater war das Oberhaupt der Familie und hatte zwei Söhne, Großer Onkel und mein Vater. Beide lebten hier mit ihren Frauen und Kindern und eigenen Dienern. Jede Familie bewohnte eine Reihe von Räumen, die jeweils um einen Innenhof herum lagen. Obwohl ich die meiste Zeit in unseren eigenen Räumlichkeiten mit meinen Eltern, meinen beiden älteren Schwestern und meinem kleinen Bruder verbrachte, besuchte ich doch auch oft die Familien in den anderen Innenhöfen. Als ich ein Baby war, hatte ich eine Amme, eine kräftige Frau vom Land, die ihr eigenes Kind verloren hatte und Milch abgeben konnte. Noch heute meine ich mich ganz blass daran zu erinnern, wie ich an ihren Brüsten genuckelt und ihren leisen Wiegenliedern zugehört habe. Und auch später, als ich zu alt war, um an ihren Brüsten zu saugen, kletterte ich gerne auf ihren breiten Schoß und hörte ihren Geschichten zu. Ich merkte, dass sie anders sprach als die übrigen Leute in unserem Haushalt. Als ich vier Jahre alt war, wurde sie fortgeschickt, und eine ganze Zeit lang habe ich ihr freundliches Gesicht, ihre liebevollen Umarmungen und ihren fröhlichen ländlichen Akzent schrecklich vermisst. Danach stellten meine Eltern eine Amah, ein Kindermädchen, das mich auch erziehen sollte, ein. Meine Amah redete sanft und damenhaft, doch ihre Augen waren hart und sie ließ nichts durchgehen. Ich hasste ihre ständigen Belehrungen und Zurechtweisungen und konnte sie damit ärgern, den Akzent meiner alten Amme nachzuahmen, wenn ich mit ihr sprach.
Aber noch mehr ärgerte sie sich, wenn ich davonrannte und mich versteckte, sobald sie mich rief. Und genau das tat ich an dem Tag, als ich meinem Verlobten zum ersten Mal begegnet bin. Zu der Zeit war ich noch nicht ganz fünf Jahre alt, aber weil meine Amah eingebundene Füße hatte, konnte ich viel schneller rennen als sie und hatte überhaupt keine Mühe, ihr zu entkommen. Ich sprang durch die Torbögen, die von einem Hof in den nächsten führten. Ich verkroch mich hinter einem duftenden Olivenbusch und musste mein Kichern unterdrücken, als ich meine Amah rufen hörte: „San Xiaojie! Kleines Fräulein Drei!“ Ganz schnell verlor ihre Stimme den üblichen ölig weichen Klang und wurde schrill. Dann hörte ich eine andere Stimme. „Ailin, es gibt Mondkuchen“, rief Zweite Schwester. „Großmutter hat Besuch in ihrem Zimmer.“ Mondkuchen! Ich liebte diese kleinen, üppigen runden Kuchen, die mit einer süßen Bohnenpaste, Nüssen, Lotussamen und anderen guten Sachen gefüllt waren. Ich streckte meinen Kopf hinter dem Busch hervor. „Hier bin ich! Ich hätte hier bestimmt noch einen Monat bleiben können, bevor ihr mich gefunden hättet.“ Zweite Schwester lachte, doch meine Amah fand das gar nicht lustig. Sie packte mein Handgelenk so fest, dass es wehtat. Doch als ich zurückzuckte, lockerte sie sofort den Griff. Natürlich überlegte sie schon, wie sie mich nachher bestrafen würde, aber nicht, solange Zweite Schwester zusehen konnte. „Wer ist der Besuch von Großmutter?“, fragte ich auf dem Weg zum Hof meiner Großeltern. „Die junge Frau Liu und ihr Sohn“, sagte Zweite Schwester. Sie blieb stehen und schaute mich an. „Dein Kragen ist falsch angeknöpft. Du sollst so gut wie möglich aussehen, hat Großmutter gesagt.“
„Warum soll ich so gut wie möglich aussehen?“, wollte ich wissen. Meine Amah knöpfte den obersten Knopf meines Kragens los und steckte ihn durch das richtige Loch. Zweite Schwester lächelte. „Nachdem Älteste Schwester und ich vergeben sind, bist jetzt du an der Reihe.“ Sie machte einen Finger nass und wischte einen Fleck auf meiner Wange weg. „Versteh ich nicht“, sagte ich. „Was meinst du mit vergeben?“ „Sie meint, dass ihre Ehen arrangiert sind“, sagte meine Amah mit einem Grinsen. „Deshalb wird es Zeit, dass auch für Kleines Fräulein Drei eine Ehe vereinbart wird.“ „Ich weiß nicht, ich finde, du bist noch zu jung“, sagte Zweite Schwester. „Du bist ja noch nicht mal fünf.“ Ich musste über Zweite Schwester grinsen, die zwar erst dreizehn war, sich aber stundenlang frisierte und versuchte, wie eine Erwachsene auszusehen. Vielleicht hoffte sie, man würde sie mit Großmutter verwechseln. „Es ist nie zu früh, eine Ehe zu vereinbaren“, sagte meine Amah. „Manche Babys werden schon versprochen, bevor sie geboren sind.“ Ich lachte. „Das geht doch nicht! Was ist denn, wenn dann beide Babys Mädchen sind oder beide Jungen?“ Ich war mir nicht so sicher, was eigentlich eine Ehe war, doch ich wusste, dass dazu von jeder Sorte eins gebraucht wurde, nicht zwei Jungen oder zwei Mädchen. „Sei nicht so dumm“, schnauzte meine Amah. Dann blieb sie stehen und sagte ruhiger: „Natürlich können die Familien das Versprechen rückgängig machen, wenn beide Kinder dasselbe Geschlecht haben.“ „Komm schon, wir beeilen uns besser“, sagte Zweite Schwester. „Sonst wird Großmutter ärgerlich.“ Da ich Großmutter immer gerne besuchte, rannte ich sofort voraus. Immer wieder hielt ich an und wartete ungeduldig auf
meine Amah und Zweite Schwester. Sie konnten nicht so schnell nachkommen, sie schwankten und machten kleine Trippelschritte wegen ihrer eingebundenen Füße. Am Eingang zu Großmutters Zimmer verbeugte sich meine Amah und ging, während Zweite Schwester und ich eintraten und Großmutter begrüßten. „Kommt rein, kommt rein“, sagte Großmutter ungeduldig. „Wo seid ihr so lange geblieben?“ Sie wandte sich an ihre Gäste. „Diese beiden Nichtsnutze sind meine Enkelinnen, und ihr einziger Lebenszweck besteht darin, mich im Alter unglücklich zu machen.“ Ich ließ mich von Großmutters barschem Verhalten nicht täuschen. Ich wusste, sie würde mir fast alles durchgehen lassen. Großvater machte mir etwas mehr Angst, aber er verbrachte die ganze Zeit in seinem Zimmer und las angestaubte Bücher und deshalb sah ich ihn nicht so oft. Der einzige Erwachsene, der mir wirklich Angst machte, war Großer Onkel, Vaters älterer Bruder. Er und Vater waren oft zusammen, und Großer Onkel meckerte ständig über kleine Mädchen, die zu frech seien. Großmutter trug wie üblich ihre Tunika aus Satin über den Hosen und ihr Stirnband aus schwarzem Samt, das mit polierten Jadestücken verziert war. Die Gäste waren eine Dame und ein Junge, der wohl etwas älter war als ich, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Die Dame war elegant nach der neuen Mode gekleidet, die die Frauen einiger meiner Vettern auch trugen. Sie bestand aus einer seidenen, hüftlangen Tunika, die über einem Rock getragen wurde, der bis zu den Knöcheln reichte. Großmutter sagte immer, dass Frauen Röcke trügen, sei eine skandalöse, von den Fremden übernommene Sitte. Ich wartete darauf, dass Großmutter auch unsere Gäste kritisieren würde, doch sie machte keine missbilligende Bemerkung.
Die Dame lächelte und nickte uns zu. „Sie können mich nicht hinters Licht führen, Tante Tao! Ich weiß bereits, dass Zweite Schwester eine vollkommene junge Dame ist, die wunderbar Flöte spielt und herrliche Stickereien anfertigt.“ „Für Zweite Schwester stimmt das schon“, sagte Großmutter. „Es ist die Kleine da, die mich in den Wahnsinn treibt. Seht sie euch an! Fast fünf Jahre alt und rennt noch immer herum wie ein Junge.“ Frau Liu wandte sich mir zu und betrachtete mich. Dabei lächelte sie, aber ihren zusammengekniffenen Augen schien nichts zu entgehen. „Sie sieht sehr gesund aus. Ich bin sicher, sie wird zu einer berühmten Schönheit heranwachsen, genau wie ihre Großmutter.“ Großmutter schnaubte. „Was für ein Unsinn! Sie kann nicht mal lange genug stillhalten, um erwachsen zu werden, geschweige denn eine Schönheit.“ Frau Liu betrachtete mich weiter so eindringlich, dass ich nicht mehr wusste, wo ich hinsehen sollte. Als ihr Blick bei meinen Füßen angelangt war, zuckte sie regelrecht zusammen. „Sie haben ihr die Füße noch nicht eingebunden?“ Großmutter wirkte verlegen. „Ich bin zu nachsichtig, ich weiß. Jedes Mal, wenn ich darauf zu sprechen komme, findet mein Sohn irgendeine Ausrede, um es hinauszuschieben.“ Es blieb einen Moment ganz still. Ohne zu wissen, was es war, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Schließlich sagte Frau Liu: „Wenn die Füße der Kleinen erst mal eingebunden sind, Tante Tao, wird sie aufhören, wie ein Junge herumzurennen. Dann hat sie auch Zeit, den Aufgaben einer Dame nachzugehen, zum Beispiel zu sticken.“ Sticken! Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als stundenlang auf einem Stuhl zu sitzen und eine Nadel durch ein Stück Stoff zu stechen wie meine Schwestern. Sie wollten mich also davon abhalten herumzurennen… Als zwei von Großmutters Dienstmädchen Erfrischungen brachten, vergaß ich das Sticken. Sie gossen den Erwachsenen
Tee in Tassen aus feinem chinesischen Porzellan ein. Zweite Schwester zählte zu den Erwachsenen, und an ihrem Lächeln konnte ich erkennen, dass sie sich darüber freute. Geziert hob sie ihre Tasse und nahm einen winzigen Schluck. Aber der Tee war zu heiß und sie verschluckte sich. Ich musste ein Kichern unterdrücken. „Ein herrlicher Tee“, murmelte Frau Liu. „Alle Welt weiß, dass in Ihrem Hause nur der beste Tee der Drachenquelle serviert wird, Tante Tao.“ „Sie sind eine schreckliche Schmeichlerin, Frau Liu“, sagte Großmutter. „Aber natürlich habe ich den Teehändler angewiesen, uns Tee zu liefern, der nur aus Blättern besteht, die am frühen Morgen noch vor der Dämmerung gepflückt wurden.“ Das Gespräch über den Tee langweilte mich. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Teller mit glänzenden braunen Mondkuchen, die genauso groß waren wie mein Mund, wenn ich ihn weit genug aufmachte. Einmal hatte ich versucht, einen ganzen Kuchen auf einmal in den Mund zu stopfen, und wäre fast daran erstickt. Jetzt wusste ich, dass man den Kuchen nur in kleinen Bissen essen konnte. Von außen war den Kuchen nicht anzusehen, welche von ihnen meine Lieblingsfüllung hatten, die mit dem Eigelb eines Enteneis. Aber ich hatte sowieso keine Chance, den Kuchen auszuwählen, den ich wollte, denn Großmutter gab mir und dem Liu-Jungen jeweils einen Kuchen und sagte, wir sollten still sein und uns benehmen. Während die Erwachsenen über ein Mondscheinfest sprachen, knabberte ich an meinem Kuchen und schaute neugierig zu dem Jungen. Er war etwas rundlich und ein bisschen größer als ich. An seinem Gesicht fiel mir auf, dass die Augenbrauen weiter oben auf der Stirn saßen als bei den meisten anderen Menschen. Er sah ständig ein wenig überrascht aus. Er hatte wohl keine Angst davor zu ersticken
und aß seinen Kuchen mit drei großen Bissen auf. Während er seine Finger ableckte, sah er mich auch an. Das machte mir nichts. Ich konnte länger als alle meine Vettern Blicken standhalten. Nach einer Weile fragte ich: „Wie heißt du?“ „Hanwei“, sagte er. „Ich bin sieben Jahre alt und du bist erst fünf und ich bin zwei Jahre älter.“ „Gehst du schon in die Schule?“, fragte ich. Ich war sehr stolz darauf, dass ich seit kurzem in die Familienschule ging und schon drei chinesische Schriftzeichen schreiben konnte. „Natürlich gehe ich in die Schule“, gab Hanwei zurück. „Ich gehe sogar in eine öffentliche Schule!“ „Was ist eine öffentliche Schule?“ Die einzige Schule, die ich kannte, war der Unterricht zu Hause bei Lehrern, die Großvater eingestellt hatte. „In einer öffentlichen Schule hast du zusammen mit Jungs aus anderen Familien Unterricht“, sagte Hanwei. Ich war erstaunt. „Aus anderen Familien? Heißt das, du triffst Jungen von überall her?“ „Natürlich nicht! In meine Schule gehen nur die Jungen, die sich das Schulgeld leisten können.“ „Das muss richtig aufregend sein, jeden Tag rauszugehen und zusammen mit Jungen aus anderen Familien zu lernen“, sagte ich sehnsüchtig. „Ist nicht schlecht“, sagte Hanwei beiläufig, aber ich merkte, dass es ihn freute, solchen Eindruck zu machen. „Mittags esse ich sogar mit den anderen Schülern in der Schule.“ „Heißt das, ihr esst alle dasselbe?“ Von unserer Familienschule ging ich mittags immer in die Räume meiner Eltern, wo der Koch bestens über meine Vorlieben und Abneigungen Bescheid wusste. Auch meine Kusinen und Vettern gingen zurück in ihre Räume. „Natürlich essen wir nicht alle dasselbe!“, sagte Hanwei. „Mein Diener bringt mir mein Essen, wenn es Mittagszeit ist. Die anderen Schüler
kriegen ihr Essen auch gebracht. Aber wir sitzen alle zusammen am Tisch. Wir können beim Essen so viel reden, wie wir wollen – wenn wir nicht zu laut sind.“ „Ich würde auch gerne auf eine öffentliche Schule gehen“, sagte ich. „Kannst du nicht“, sagte Hanwei. „Du bist ein Mädchen.“ „Das seh ich nicht ein, warum kann ein Mädchen nicht auf eine öffentliche Schule gehen!“, protestierte ich, fühlte aber einen Hauch von Zweifel in mir. Ich hatte schon von Mutter und meiner Amah gelernt, dass es Sachen gibt, die Jungen tun können, Mädchen aber nicht. „Ist mir auch egal. Wenn du willst, kann ich dir ein paar von den Dingen beibringen, die ich auf der Schule lerne. Wir haben Physik – das ist darüber, wie Eis schmilzt und zu Wasser wird und so was.“ In unserer Familienschule verbrachten wir die meiste Zeit mit dem Auswendiglernen von klassischen Texten, auch die älteren Jungen. „Was lernst du sonst noch?“, fragte ich fasziniert. „Wir haben noch Astronomie“, antwortete Hanwei. „Das geht über die Sonne, den Mond und die Sterne.“ Er erzählte mir noch weiter von Sonnenfinsternissen und wie der Mond zwischen Sonne und Erde gelangt. Meine Amah hatte mir erklärt, dass eine Sonnenfinsternis dadurch entsteht, dass ein Himmelshund versucht, die Sonne aufzufressen, und wir müssten alle laut den Gong schlagen, um den Hund zu verjagen. Hanweis Erklärung war unheimlich fesselnd. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer meiner Vettern die Geduld hätte, so mit mir zu reden. Das Einzige, was sie taten, war, mich zu verspotten, weil ich ein nutzloses Mädchen wäre. „Außerdem lernen wir noch Englisch“, erzählte Hanwei weiter. „Ein paar von meinen Lehrern sind Langnasen, und Englisch ist die Sprache, die sie sprechen.“ Langnasen waren die Fremden, die über das Meer gefahren kamen. „Wie sind die
denn so, die Langnasen?“, fragte ich. Hanweis Augenbrauen kletterten noch höher, während er nachdachte. „Also ihre Haut wird ziemlich rosa, wenn ihnen warm ist. Und sie sind ziemlich haarig. Die Haare auf ihrem Handrücken können über zwei Zentimeter lang werden!“ Er senkte die Stimme. „Einer von meinen Freunden hat mir erzählt, dass er eine Langnase mit hochgerollten Ärmeln gesehen hat. Da waren auf dem ganzen Arm bis oben hin Haare!“ Ich schauderte. „Die müssen zur Hälfte Affen sein, diese Langnasen. Ich hab noch nie einen Mensch mit so vielen Haaren gesehen.“ Hanwei schüttelte den Kopf. „Sie sind schon Menschen. Wenn du sie erst mal kennst, vergisst du langsam, wie komisch sie aussehen. Das ist dann ganz egal. Ich muss in der Schule so hart arbeiten, dass ich gar keine Zeit habe, über die langen Nasen oder die haarigen Arme meiner Lehrer nachzudenken.“ Von allem, was Hanwei in der Schule lernte, interessierte mich die Sprache der Fremden am meisten. „Kann man… kann man… englisch reden, auch wenn man keine lange Nase hat?“, fragte ich. „Natürlich“, sagte Hanwei. Er machte den Mund ein paar Mal auf und zu, als würde er sich vorbereiten. Ich lächelte, weil er mich an den alten Karpfen in unserem Fischteich erinnerte. Hanwei dachte vielleicht, ich würde ihn bewundern, denn er lächelte zurück. Schließlich schaffte er es, seine englischen Worte auszusprechen, die sehr seltsam klangen, anders als alles, was ich jemals zuvor gehört hatte. Ich versuchte sie ihm so gut ich nur konnte nachzusprechen. Ich bin gut darin, Laute nachzuahmen, und ich konnte ein paar von meinen Kusinen und Vettern zur Weißglut bringen, wenn ich ihre Art zu sprechen imitierte. „He, das ist gar nicht so schlecht!“, sagte Hanwei. „Ich bring dir noch mehr Englisch bei, wenn du willst.“ Ich war von seinem Angebot beeindruckt. „Das ist sehr nett von dir. Aber warum willst du dir die Mühe machen?“
„Haben sie dir nichts gesagt?“, fragte Hanwei. Er spähte über die Schulter nach seiner Mutter, die immer noch mit leiser Stimme auf Großmutter einredete. Dann drehte er sich wieder zu mir um und lächelte. „Ich werde eines Tages dein Mann.“
Zweites Kapitel
Zwei Tage nach dem Besuch von Frau Liu und Hanwei erklärte meine Mutter meinem Vater, dass mir nun so bald wie möglich die Füße eingebunden werden müssten. Wir saßen in unserem Hof zwischen den voll erblühten Chrysanthemen. Ich spielte mit Kleiner Bruder, der fast ein Jahr alt war und gerade laufen lernte. „Ist sie nicht noch zu jung?“, fragte Vater. Er setzte seine Tasse ab, drehte sich um und blickte mich an. Ich erschrak, so viel Traurigkeit sah ich in seinen Augen. „Sie wird bald fünf“, sagte Mutter. „Bei den meisten Mädchen wird das schon früher gemacht. Als Frau Liu Ailin neulich sah, war sie schockiert, dass ihre Füße noch immer nicht eingebunden waren. Sie bemerkte auch, wie eigenwillig Ailin ist. Mit anderen Worten, sie fand sie verzogen und unbeherrscht. Wären Ailins Füße eingebunden, könnte sie nicht mehr wie ein Junge herumtollen.“ Ich sah, wie Kleiner Bruder auf einen Topf mit Chrysanthemen zuwackelte. In wenigen Jahren würde er wie meine Vettern herumrennen können. Warum war das bei Jungen in Ordnung, wenn sie herumrannten, aber nicht bei mir? Vater seufzte. „Warum können wir nicht noch ein paar Jahre warten, bevor wir die Verbindung mit den Lius beschließen? Ich war nie besonders glücklich mit diesen frühen Verlobungen.“ Er lächelte Mutter an. „Unsere Ehe wurde erst vereinbart, als du schon vierzehn warst. Und das hat sich als gar nicht so schlecht herausgestellt, oder?“
Mutter lächelte nicht zurück. „Ich habe den starken Eindruck, dass die Lius ein anderes Mädchen für Hanwei suchen werden, wenn Ailin nicht bald die Füße eingebunden kriegt. Viele Familien bemühen sich, den Lius ihre Töchter anzubieten, seitdem die so gute Beziehungen haben.“ Sie senkte die Stimme. „Sie wären sogar mit einer niedrigeren Mitgift einverstanden. Bei den starken Verlusten auf unseren Gütern…“ Mutter sprach immer noch, aber ich wollte nichts mehr hören, sondern rannte los, um nach Zweite Schwester zu suchen. Ich musste genau wissen, wie es war, die Füße eingebunden zu haben. Und Zweite Schwester war die Einzige, auf die ich mich verlassen konnte, sie würde mir die Wahrheit sagen. Mutter und meine Amah würden es so erzählen, dass ich keine Angst bekam und das tat, was sie wollten. Ich fand Zweite Schwester in einem Hof, wo sie nach ihrem Kasten mit den Seidenraupen sah. Die Raupen hatten sich schon in ihre Kokons eingesponnen, und alles, was ich noch sehen konnte, waren kleine, flaumige Bällchen, ähnlich wie Taubeneier, nur kleiner. „Schau mal“, sagte Zweite Schwester. „Die eine hier ist blassgrün. Zu schade, dass wir nicht mehr von derselben Farbe haben, sonst hätten wir wunderbar grünen Seidenfaden, ohne färben zu müssen.“ Zweite Schwester hatte mir einmal ein paar junge Seidenraupen gegeben und mir gezeigt, wie ich sie in einem Kästchen großziehen könnte. Aber das war die Zeit gewesen, als ich gerade in unserer Familienschule angefangen hatte, und ich vergaß, die Seidenraupen mit Blättern vom Maulbeerbaum zu füttern. Als ich dann wieder daran dachte, waren sie schon steif und tot. Ich war so fasziniert von den Kokons, dass ich fast vergessen hätte, was ich Zweite Schwester fragen wollte. „Wie viele von diesen Kokons brauchst du für eine schöne Jacke?“ Zweite Schwester lachte. „Da braucht man Hunderte, vielleicht Tausende! Ich ziehe die Raupen nicht auf, um Seide
zu bekommen, sondern einfach so zum Spaß und weil mich das interessiert.“ Sie sah mich an. „Was ist los? Stimmt was nicht?“ Ich blickte auf Zweite Schwesters Füße nieder und wusste nicht, was ich sagen sollte. Solange ich denken konnte, hatten meine beiden Schwestern winzige, keilförmige Füße. „Wie kriegst du deine Füße klein genug, um sie in diese spitzen Schuhe reinzuquetschen?“, platzte ich schließlich heraus. Zweite Schwester schwieg eine ganze Weile. Dann sagte sie aufseufzend: „Ich verstehe. Mutter spricht davon, dass deine Füße eingebunden werden sollen. Stimmt’s? Für dich ist es schon fast zu spät. Bei mir hat man das gemacht, als ich noch nicht mal vier Jahre alt war.“ „Hat das wehgetan? Hast du geweint?“ Zweite Schwester hatte ihr Gesicht gleich wieder unter Kontrolle, doch ich hatte die Grimasse vorher noch gesehen. „Es war schlimm, stimmt’s?“, fragte ich und hoffte, Zweite Schwester würde widersprechen. Doch sie seufzte nur noch einmal. Dann zog sie mich an sich und streichelte meine Wange. „Wir Frauen müssen alle diese Tortur durchmachen: Mutter, Großmutter, Älteste Schwester, Frau Liu, deine Amah. Das Leben ist schwer für Frauen. In ein paar Jahren wirst du auch noch feststellen, dass du einmal im Monat blutest.“ Über das Bluten jeden Monat wusste ich schon Bescheid, seit ich die blutigen Tücher meiner Amah gesehen hatte. Dann fiel mir etwas ein. „Nicht alle Frauen haben eingebundene Füße. Meine Amme hatte Füße wie ein Mann und sie musste nicht herumhumpeln.“ Ich blickte Zweite Schwester an. „Hat Mutter sie deswegen weggeschickt? Weil sie große Füße hatte?“ Zweite Schwester lachte. „Bestimmt nicht. Du fragst zu viel.“ Sie senkte den Kopf und befingerte gedankenverloren ihre Kokons. Dann
schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Heute Abend, wenn ich meine Füße wasche, kannst du in mein Zimmer kommen. Dann siehst du, wie ich meine Füße in die Schuhe quetsche.“ Ich hatte in Zweite Schwesters Augen denselben Kummer gesehen wie in Vaters Augen. Das machte mich so nervös, dass ich beim Abendessen kaum etwas essen konnte. Wenn Vater männliche Gäste zu Besuch hatte, aßen meine Schwestern und ich meistens mit Mutter oder Großmutter alleine. Heute Abend war Großer Onkel zum Essen zu uns gekommen, aber da er zur Familie gehörte, konnten wir Frauen mit ihnen zusammen essen. Großer Onkel schien Kinder nicht zu mögen, besonders Mädchen nicht. Wenn er in der Nähe war, versuchte ich still zu sein, aber manchmal dachte ich nicht mehr daran und sagte etwas. Dann hatte ich den Eindruck, er würde mich am liebsten wie eine Wanze zerquetschen. Der Anblick des strengen Gesichts von Großer Onkel nahm mir den letzten Rest Appetit. Während des Essens sah er mich an und wandte sich dann an Vater. „Haben sich Ailin und der Junge von den Lius schon getroffen?“ „Frau Liu hat ihren Sohn vorgestern mitgebracht“, sagte Vater. „Mutter meinte, sie sind ganz gut miteinander ausgekommen.“ Er lächelte mich an. „Du magst Hanwei, stimmt’s?“ Ich war zu verlegen, um zu antworten, und murmelte nur etwas vor mich hin. „Sprich lauter!“, befahl Großer Onkel. Er verdrehte die Augen. „Heutzutage können junge Leute nicht einmal mehr ordentlich reden!“ Es war unmöglich, es Großer Onkel recht zu machen. Wenn ich wirklich mal laut sprach, schimpfte er, dass
ich zu vorlaut wäre. Und nun schimpfte er mit mir, weil ich zu leise sprach! „Nebenbei, was sollen die Treffen der Kinder eigentlich? Meine erste Frau und ich haben uns zum ersten Mal gesehen, als ich bei der Hochzeit ihren roten Brautschleier hob.“ Heimlich dachte ich bei mir, dass Erste Tante bestimmt laut schreiend davongelaufen wäre, wenn sie das Gesicht von Großer Onkel schon vor der Hochzeit gesehen hätte. „Nun, die Dinge ändern sich zurzeit sehr stark, Älterer Bruder“, sagte Vater besänftigend. „Wir können nicht für immer an den alten Bräuchen kleben bleiben.“ „Du redest immer davon, wie sich die Dinge ändern!“, sagte Großer Onkel. „Das kommt von deiner Arbeit beim Zollamt. Du hast mit allen möglichen merkwürdigen Leuten Kontakt, auch mit den Fremden, und du hast sehr merkwürdige neue Ideen.“ „Nicht alle neuen Ideen sind merkwürdig“, sagte Vater. Großer Onkel runzelte die Stirn. „Jetzt klingst du wie eines von diesen revolutionären Subjekten! Ich habe einige der gefährlichen Reden darüber gehört, das Kaisertum zu stürzen und eine Republik zu errichten!“ „Wir können nicht vor dem die Augen verschließen, was in der übrigen Welt geschieht“, sagte Vater. „Jahrtausende haben wir uns selbst das Reich der Mitte genannt und uns geweigert, von irgendjemandem, der von außen kam, zu lernen.“ „So schlecht ist uns das gar nicht bekommen!“, sagte Großer Onkel. „Aber natürlich ist uns das schlecht bekommen!“, entgegnete Vater heftig. „Wir sind so oft von fremden Mächten besiegt worden. Und zurzeit werden wir auch von Fremden regiert, den Mandschu.“ Großer Onkel sah sich um und dämpfte seine normalerweise laute Stimme. „Pass auf, was du sagst. Das
Kaisertum mag schwach erscheinen, aber es hat noch immer Zähne.“ „Verfaulte Zähne“, sagte Vater, und ich kicherte, obwohl ich den Witz nicht ganz verstanden hatte. Großer Onkel blickte finster, aber er widersprach Vater nicht. Mir war aufgefallen, dass er mehr auf Vater als auf irgendjemand sonst hörte. Ich war stolz auf Vater. Er war allen gegenüber freundlich, und ich wusste, dass er sehr klug war. In meinen Augen war er der perfekte chinesische Herr. Großer Onkel entsprach mit seinem lauten Gepolter nicht dem klassischen Ideal, das unsere Lehrer beschrieben. Ich wollte Großer Onkel das jedes Mal unter die Nase reiben, wenn er immer und immer wieder davon anfing, dass die jungen Leute den Klassikern nicht genügend Beachtung schenken würden. Aber bis jetzt hatte ich noch nicht den Mut dazu gehabt. „Nimm den Opiumkrieg von 1839“, fuhr Vater fort. „Weil wir den Krieg verloren haben, waren wir damals gezwungen, Hongkong an die Engländer abzugeben.“ Der Opiumkrieg war für unser Volk eine solche Erniedrigung gewesen, dass auch der Lehrer in unserer Familienschule uns davon erzählt hatte, obwohl er nur dafür angestellt war, uns in den Klassikern zu unterrichten. Er hatte uns erzählt, dass die Engländer in China Opium verkaufen wollten, unsere Regierung aber nicht erlaubte, es einzuführen. Daraufhin hatten die Engländer Krieg gegen uns geführt. Und da wir verloren hatten, waren wir gezwungen, unser Land dem Rauschgift zu öffnen, und das hatte aus Tausenden von unseren Leuten Opiumsüchtige gemacht. „Den Opiumkrieg haben wir wegen der Unfähigkeit von General Lin Zexu verloren!“, sagte Großer Onkel grollend. „Lin Zexu war nicht unfähig“, sagte Vater. „Er hat einfach nicht die Unterstützung von der Zentralregierung bekommen,
die notwendig gewesen wäre. Außerdem waren seine Truppen machtlos gegen die überlegenen Waffen der Engländer.“ „Diese gierigen fremden Teufel!“, zischte Großer Onkel. Er klang so wütend, dass ich schon erwartete, er würde aufstehen und aus dem Zimmer stürzen. Das Abendessen ohne ihn wäre erheblich vergnüglicher gewesen. Aber er knallte nur voller Ärger seine Reisschale auf den Tisch. Ein Dienstmädchen huschte schnell herbei und füllte sie wieder. „Wir müssen nicht alles ablehnen, was von den fremden Teufeln kommt“, sagte Vater. „Die Lius zum Beispiel sind ganz schön konservativ und schicken ihre Söhne trotzdem auf eine öffentliche Schule, die von den Fremden geleitet wird.“ Großer Onkels Stimme hatte wieder die normale Lautstärke, als er zu einer Schimpfkanonade über die öffentlichen Schulen und die Nutzlosigkeit von Unterricht in Astronomie und Trigonometrie ansetzte, Sachen, die kein feiner Herr gelernt haben müsse. Ich hatte versucht, meine Ohren gegen Großer Onkels dröhnende Stimme zu verschließen, doch die Erwähnung der öffentlichen Schule ließ mich wieder hinhören. Ich dachte daran, wie Hanwei mir von seinem Unterricht erzählt hatte. Wenn Großer Onkel diesen Unterricht ablehnte, musste er etwas Wunderbares sein. Während ich an Hanwei dachte, fiel mir etwas ein. „Frau Liu hat einen Rock getragen, als sie Großmutter besuchte“, sagte ich eifrig. „Das ist eine Mode der Fremden.“ „Kleine Mädchen sollen die Erwachsenen nicht unterbrechen!“, schrie Großer Onkel. „Wen interessiert schon dein dummes Geschnatter über Röcke und Mode!“ Einen Augenblick lang glaubte ich, er würde seine Reisschale so hart aufschlagen, dass sie zerbräche. Wir verbrauchten viel Geschirr, wenn Großer Onkel mit uns aß. Glücklicherweise aber wählte der Koch diesen Augenblick, um eine große Schüssel mit Acht-Juwelen-Reis hereinzubringen, den wir alle
liebten. Das süße Gericht half, Großer Onkels Laune zu verbessern, und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu. Dann kam die Sprache auf importierte, von Maschinen gewebte Stoffe und machte Großer Onkel wieder wütend. „Alle Welt kauft importiertes Tuch und unsere Weber werden ihre Stoffe nicht los!“ „Mit Maschinen gewebter Stoff ist billiger“, erklärte Vater. „Und das heißt, dass auch die ärmeren Leute sich öfter mal neue Kleider leisten können.“ „Zu ärmeren Leuten werden wir bald“, sagte Großer Onkel. „Ein wichtiger Teil unserer Einnahmen stammt von den Frauen und ihren Webstühlen auf unseren Gütern, und dieses Jahr sind die Einnahmen auf weniger als ein Viertel des Vorjahres gesunken!“ Mich langweilte das Gerede über Stoffe, die von Maschinen oder von Menschen gewebt wurden. Meine Gedanken wanderten wieder zu dem Angebot von Zweite Schwester, sie in ihrem Zimmer zu besuchen und ihr dabei zuzusehen, wie sie ihre Füße wusch. Mein Magen krampfte sich ein bisschen zusammen. Eine Familienmahlzeit dauerte nie lange, da die meisten Gerichte gleichzeitig serviert wurden und nicht eines nach dem anderen. Der herbstliche Himmel war noch nicht ganz dunkel, als wir jungen Leute weggeschickt und für die Erwachsenen die Wasserpfeifen gebracht wurden. Draußen im Hof sah ich den riesigen goldenen Ball des Herbstmonds, der gerade aufgegangen war und nun auf dem geschwungenen Dach über dem Zimmer von Zweite Schwester zu ruhen schien. Sie nahm mich bei der Hand. „Komm schon, lass uns reingehen.“ Ich zögerte. „Es ist noch hell genug, um draußen zu spielen.“ „Also gut, dann spiel du draußen, wenn du willst“, sagte Zweite Schwester und ließ schnell meine Hand los. Sie klang erleichtert. „Ich zwinge dich nicht, dabei zuzusehen.“
Ich holte tief Luft. Ich musste es wissen. „Nein, ich komm rein und seh dir zu.“ Im Zimmer war das Dienstmädchen schon dabei, heißes Wasser in ein Becken zu gießen. Älteste Schwester war nicht da, sie besuchte eine ihrer Schwägerinnen. Sie war sechzehn und würde in zwei Monaten heiraten. Da sie noch viel lernen musste, war sie so oft wie möglich bei den jungen Frauen. Als das Mädchen mit dem Einfüllen des Wassers fertig war, setzte sich Zweite Schwester auf einen Stuhl und fing an, die weißen Baumwollbinden von ihren Füßen zu lösen. Die Binden waren lang und das Auswickeln schien ewig zu dauern. Als der eine Fuß frei war, bemerkte ich einen unangenehmen Geruch. „Ekelhaft, was?“, sagte Zweite Schwester. „Der Geruch kommt von dem Schweiß, der sich in den Hautfalten festsetzt.“ „Wäschst du dir die Füße nicht jeden Tag?“ Ich konnte mir meine sonst so pingelige Schwester nicht mit stinkenden Füßen vorstellen. Zweite Schwester verzog das Gesicht. „Ich versuche mir die Füße so oft zu waschen, wie ich kann. Aber der Stoff ist so fest gebunden, dass keine Luft mehr an die Haut kommt. Bei diesem warmen Wetter ist es besonders schlimm.“ Als beide Stoffbinden vollständig abgewickelt waren, streckte Zweite Schwester die Beine aus und tauchte die Füße in das heiße Wasser. Sie seufzte. Ich wusste nicht, ob vor Schmerz oder Erleichterung. Ich starrte auf die elenden Stümpfe am Ende ihrer Beine. Von dem Anblick wurde mir so übel, dass ich mich fast übergeben hätte. Ich hatte erwartet, an Zweite Schwesters Füßen winzige Zehen zu sehen, wie sonst hätten die Füße in die Spitzen ihrer winzigen Schuhe gepasst? Nun sah ich, wie man ihre Füße zu einem Keil gequetscht hatte: Der große Zeh war unverformt geblieben, aber der Teil des Fußes mit den restlichen Zehen war unter die Fußsohle
gezwungen worden – wie eine zusammengeklappte Scheibe Brot. Um das zu erreichen, musste man Zweite Schwester die Knochen gebrochen haben. Eingebundene Füße zu haben konnte für Zweite Schwester, Älteste Schwester, Mutter, Großmutter und Generationen anderer Frauen nur Höllenqualen bedeuten. Was noch schlimmer war: Sie hatten nicht nur einen Augenblick gelitten. Es schmerzte immer weiter, über Wochen, Monate, Jahre. In diesem Moment schwor ich mir, dass sie das bei mir nicht machen würden! Nie! Niemals!
Drittes Kapitel
Drei Tage später kamen sie zu mir. Wie immer war ich am frühen Morgen in unsere Familienschule gegangen. Den Unterricht fand ich nicht besonders schwer, sondern eher etwas langweilig. Wir nahmen gerade das alte Versepos Drei klassische Worte durch, das mit der Feststellung beginnt, dass der Mensch gut sei, und dann mit einem Überblick über die gesamte chinesische Geschichte weitergeht. Obwohl der Text für Kinder gedacht ist, verstanden wir ihn nicht besonders gut, weil er in der Sprache des 13. Jahrhunderts abgefasst war, und die unterschied sich doch ziemlich von unserer. Wie üblich versuchte der Lehrer gar nicht erst, uns die Bedeutung zu erklären, sondern befahl uns, den Text auswendig zu lernen. Gemeinsam leierten wir den Text immer wieder runter, ohne ihn zu verstehen. Als Nächstes kam der Unterrichtsteil, den ich wirklich mochte: mit dem Pinsel schreiben. Ich liebte den Geruch, der entstand, wenn ich den Tintenstein in ein bisschen Wasser auf dem Reibstein anrieb, um tiefschwarze Tinte zu bekommen. Mein einer Vetter, Großer Onkels jüngster Sohn, verschüttete etwas Tinte auf sein Arbeitsblatt und versuchte, den Klecks unter seinem Ärmel zu verstecken. Das machte die Schweinerei natürlich nur noch größer. Großer Onkel war so streng mit seinen Kindern, dass sie immer alles zu verbergen suchten, egal, was es war. Dadurch wirkten sie irgendwie verlogen und deshalb mochte ich sie nicht. Nach der Schule spielte ich in unserem Hof und beobachtete gerade einen Käfer, der in einem Topf mit Hyazinthen herumkrabbelte, als Mutter, meine Amah und zwei
Dienstmädchen so leise auf den Hof kamen, dass ich sie erst nicht bemerkte. Und so hatten sie mich erwischt, bevor ich weglaufen und mich verstecken konnte. Mutter legte ihre Hand fest auf meine Schulter. „Komm, Ailin“, sagte sie. „Es ist so weit.“ „Was ist so weit?“, fragte ich. Sie zerrten mich zu meinem Zimmer, und ich fragte mich, für welche meiner Missetaten ich jetzt bestraft werden sollte. Dafür, dass ich zu unserem Lehrer in der Familienschule etwas Freches gesagt hatte? Dass ich meiner Amah einen Regenwurm in die Nudelschüssel getan hatte? Die Unterwäsche von Älteste Schwester versteckt, als sie die Truhen packte, die sie in das Haus ihres zukünftigen Ehemanns mitnehmen wollte? Aber statt mich auszuschimpfen, als wir in meinem Zimmer waren, sagte Mutter mit sanfter Stimme: „Mach dir klar, dass wir das alle durchmachen müssen. Es ist Teil des Erwachsenwerdens.“ Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich wusste gar nicht, ob ich erwachsen werden wollte. Dann sah ich die Binden aus weißem Stoff, die ordentlich aufgerollt auf meinem Bett lagen, und mir wurde klar, was sie wollten. „Nein!“, schrie ich. „Nein! Ich will meine Füße nicht eingebunden bekommen!“ „Es tut nicht weh“, sagte Mutter. Sie sprach immer noch mit sanfter Stimme. „Wir wickeln nur deine Füße in die Binden ein. Wir schnüren nichts ein und wir brechen nichts. Das verspreche ich!“ Ich glaubte ihr nicht und sträubte mich weiter. „Doch, das macht ihr. Ihr müsst meine Füße brechen, damit die Zehen nach unten gehen!“ Mutters Gesicht wurde hart. „Wer sagt denn, dass deine Füße gebrochen werden? Die Zehen werden ganz allmählich gekrümmt, immer ein bisschen mehr. Wir machen das so langsam, dass du es kaum spürst.“
„Das tut weh! Das tut weh! Ich weiß, dass es wehtut!“, schrie ich. „Ich hab die Füße von Zweite Schwester gesehen! Ich glaub dir nicht!“ Mit einem plötzlichen Ruck gelang es mir, mich von den beiden Dienstmädchen loszureißen und aus dem Zimmer zu rennen. Diesmal hatte ich einen Vorsprung. Weil meine Füße frei waren, konnte ich viel schneller rennen als die anderen. Ich lief durch das Mondtor, schlängelte mich zwischen Blumenkübeln aus Porzellan, Olivenbüschen und Granatapfelbäumen hindurch. Ich wusste tausend Verstecke, die die Erwachsenen nicht kannten. Ich konnte von Granatapfelkernen leben, tagelang, wochenlang. Monatelang, wenn es sein musste. Die Stimmen meiner Amah und der Dienstmädchen wurden schwächer. Ich drückte mich hinter einen Blumenkübel und kauerte mich keuchend zusammen. Was sollte ich als Nächstes machen? Vielleicht würde mir einer meiner Vettern helfen, einer von Großer Onkels Söhnen? Sie waren Jungen und hatten keine eingebundenen Füße. Sie würden verstehen, warum ich frei bleiben wollte. Auf der anderen Seite wollten sie mir vielleicht gar nicht helfen. Sie waren träge und faul. Ich hatte mich zu oft über sie lustig gemacht, ihre plumpen Bewegungen nachgeäfft und mit Vergnügen beobachtet, wie ihre Gesichter rot anliefen, genau wie das von Großer Onkel. Die beiden Jungen wären die Ersten, die mich an die Erwachsenen verraten würden. Die Zeit verging. Ich hörte sie sprechen, als sie in meiner Nähe suchten, aber ich blieb ganz still. Das hatte ich von einem Spatz gelernt, den ich beobachtet hatte, als eine Katze in seiner Nähe war. Noch mehr Zeit verging. Dann kam etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich fühlte einen immer größeren Druck in der Blase. Ich musste pinkeln! Es wäre so leicht gewesen, einfach die Hosen
auszuziehen und hier auf den Boden zu machen. Aber ich sah Kleiner Bruder vor mir, wie er mit einem Schlitz in der Hose herumwackelte und überall hinpinkelte, wenn ihm danach war. Immer kam ein Diener hinter ihm her und machte sauber, denn sonst hätte es bald ziemlich gestunken. Wenn ich es hier hinter dem Kübel tat, hätte mich der Geruch verraten. Ich schlich nun von einer dunklen Ecke zur nächsten, und nach einer Weile befand ich mich in dem Bereich unserer Hofanlage, wo meine Eltern und meine Schwestern ihre Zimmer hatten. Ich hörte Stimmen. Die eine war die von Mutter, laut vor Ärger. „Warum hast du das getan? Warum hast du ihr deine Füße gezeigt?“ Dann das harte Klatschen eines Schlags. Schließlich hörte ich Zweite Schwester mit weicher Stimme sagen: „Sie musste die Wahrheit wissen. Es ist einfach anständiger. Ich kenne Ailin. Wenn du versuchst, sie reinzulegen, hat sie nie wieder Respekt vor dir.“ „Respekt!“, schrie Mutter. „Kinder schulden ihren Eltern Respekt! Den müssen wir nicht erwerben!“ „Aber du kannst ihn verlieren“, sagte Zweite Schwester. Noch ein Schlag. Ich spähte hinter dem Busch hervor und sah, wie Mutter mit der einen Hand Zweite Schwesters Haare gepackt hatte und sie mit der anderen schlug. Das ertrug ich nicht länger. „Hör auf!“, schrie ich und stürmte aus meinem Versteck hervor auf Mutter zu. „Es ist nicht die Schuld von Zweite Schwester!“ Mutter erstarrte. Sie ließ die Arme fallen und drehte sich langsam um. Das wütende Rot in ihrem Gesicht verschwand, als sie mich ansah. In der Erwartung, dass nun ein Hagel von Schlägen auf mich niederprasseln würde, bedeckte ich meine Wangen. Aber Mutter blickte mich nur an. Einen langen Augenblick standen wir drei bewegungslos da. Ich schaute in Mutters versteinertes Gesicht und auf Zweite Schwesters rot angeschwollene
Backen. Ein großes Stück Holzkohle schien mir in der Kehle zu stecken. Mutter brach schließlich das Schweigen. „Wie können wir einen standesgemäßen Mann für dich finden, wenn du dich weigerst, dir die Füße einbinden zu lassen?“, flüsterte sie. Anstatt mich zu schlagen, nahm sie mich plötzlich in die Arme und drückte mich an sich. „Mein armes kleines Mädchen. Du bist wunderschön und du bist klug. Aber du bist zu eigensinnig. Eines Tages wirst du den Preis dafür bezahlen müssen.“ Eine Zeit lang war vom Einbinden der Füße nicht mehr die Rede. Die Erwachsenen waren voll von etwas in Anspruch genommen, das außerhalb unserer Hofanlage vor sich ging. Oft hörte ich das Wort Revolution fallen, aber wenn ich fragte, was das heiße, schüttelte Mutter nur den Kopf und sagte: „Du bist noch zu klein dafür, Ailin, das verstehst du noch nicht.“ In der Familienschule erzählten meine Vettern wilde Geschichten, obwohl sie eigentlich auch nicht mehr als ich von dem wussten, was los war. „Revolution heißt, dass alles auf den Kopf gestellt wird“, sagte einer meiner Vettern. „Hohe Beamte werden Diener und Bettler werden Minister.“ „Heißt das auch, dass Schüler zu Lehrern werden?“, fragte der andere Vetter. „Das kannst du gleich rauskriegen“, sagte ich zu ihm. „Hier kommt unser Lehrer.“ Meine Vettern hasteten zu ihren Plätzen und versuchten so auszusehen, als würden sie lernen. Wenn der Lehrer unser Gespräch mitbekommen hatte, so ließ er sich nichts anmerken. Er war sehr zerstreut, und nachdem er sich bei seinen Ausführungen ein paar Mal völlig verhaspelt hatte, sagte er plötzlich, dass die Klasse für heute entlassen sei.
Mit offenem Mund starrten wir ihm hinterher, als er durch die Tür stürmte und über den Hof eilte. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Großvater stellte schließlich einen neuen Lehrer ein. Erst Monate später hörte ich von Vater, dass unser Lehrer mit den Revolutionären in Verbindung gestanden habe, Nanking nun verlassen habe und zu seinen Kameraden im Norden gestoßen sei. So dicht kam unsere Familie nie wieder mit einem echten Revolutionär in Kontakt. Die meiste Zeit versuchten wir einfach, ein möglichst normales Leben zu führen. Als Erstes weigerten sich einige von den Hausangestellten, aus dem Haus zu gehen und Essen zu kaufen. „Das ist zu gefährlich!“, jammerte das Dienstmädchen, das sonst Gemüse einkaufte. „Die Regierungssoldaten sind geflohen, und niemand weiß, wer das Kommando hat.“ Großmutter schimpfte das Mädchen ordentlich aus. „Hör auf mit dem Blödsinn! Gegessen werden muss immer. Du wirst sehen, der Markt hat bestimmt geöffnet.“ Widerstrebend ging das Mädchen zum Markt und berichtete dann, dass alles ruhig sei. „Ich hatte überhaupt keine Angst“, sagte sie und genoss die Aufmerksamkeit, die ihr der übrige Haushalt schenkte. „Wann kannst du wieder zur Arbeit gehen?“, fragte Mutter meinen Vater. Normalerweise war Vater bereits im Zollamt, wenn ich mit dem Frühstück fertig war, aber in den letzten Tagen war er zu Hause geblieben und führte mit leiser Stimme Gespräche mit Großer Onkel und Großvater. „Es gibt da Berichte von Plünderungen“, sagte er. „Soweit ich gehört habe, setzen die Aufständischen eine neue Regierung ein und sorgen für Recht und Ordnung. Es sieht so aus, als wären nicht alle von ihnen Banditen und Verbrecher. Wenn es so weiter geht, kann ich ziemlich bald wieder arbeiten gehen.“ „Was ist mit dem Kaiser und seiner Familie passiert?“, fragte Zweite Schwester.
„Es geht das Gerücht, dass sie aus der Hauptstadt geflohen sind“, sagte Vater. „Ich habe sagen hören, sie würden in Japan Zuflucht suchen.“ „Vielleicht wird einer der Aufständischen eine neue Dynastie gründen und sich selbst zum Kaiser machen“, sagte Mutter. „Es heißt, dass einige der Rebellen das Kaisertum ganz abschaffen und eine Republik errichten wollen“, sagte Vater. „Was ist eine Republik?“, fragte ich. „Kleine Kinder sollen keine dummen Fragen stellen“, rügte Mutter und runzelte die Stirn. Vater lächelte. „Nein, lass sie fragen. Ich weiß auch keine genaue Antwort auf Ailins Frage. Soweit ich weiß, ist das ein Staat, der durch den Willen der Leute regiert wird.“ Mit der Antwort konnte ich gar nichts anfangen. Der Wille von welchen Leuten? Von Leuten wie uns oder von Leuten wie unsere Dienerschaft? „Es ist komisch, keinen Kaiser zu haben“, murmelte Zweite Schwester. „Über zweitausend Jahre lang hat unser Land immer einen Kaiser gehabt.“ „Die Dinge können sich ändern“, sagte Vater. Er blickte zu Kleiner Bruder, der auf Mutters Schoß saß und mit ihrem Jadearmband spielte. „Mein Sohn, vielleicht wächst du in einem Land ohne Kaiser auf“, sagte er halb singend und kitzelte Kleiner Bruder unter dem Kinn. Ich hoffte, Vater hätte Recht. Wenn sich die Dinge änderten, würden Mädchen vielleicht nicht länger die Füße eingebunden bekommen. Ich war unbedingt für die Revolution, was immer das auch war. Bei all der Aufregung über die Revolution, dachte ich, hätte Mutter das mit dem Einbinden der Füße vielleicht vergessen. Langsam atmete ich etwas auf. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Großmutter zitierte mich zu sich und diesmal musste ich alleine gehen. Diesmal gab es keine Mondkuchen, gab es keine Gäste zu begrüßen. „Was habe ich gehört? Du willst dir die Füße nicht einbinden lassen?“, fuhr Großmutter mich an. Anstatt mich wie üblich
nachsichtig anzulächeln, musterte sie mich mit strengem Blick. Sogar die Fältchen um ihre Augen, die sonst Lachfältchen waren, erschienen mir nun als grausam drohende Furchen. Ich blickte eine Fremde an. Das war nicht die freundliche Großmutter, die immer meine Partei ergriff, wenn ich Ärger hatte. Großmutters Zimmer würde für mich kein Zufluchtsort mehr sein, wenn ich vor meinen Verfolgern flüchten wollte. Ich schluckte ein paar Mal. „Ich möchte normal laufen können. Ich möchte nicht rumhumpeln.“ „Du willst dieses und du willst jenes!“, schrie Großmutter. „Was du willst und was du nicht willst, spielt keine Rolle. Du gibst hier keine Befehle, kleines Mädchen! Du gehorchst Befehlen!“ Noch nie zuvor hatte ich vor Großmutter Angst gehabt. Ich atmete tief ein und versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die hervorzuquellen drohten. Und ich biss mir auf die Lippen, damit sie nicht zitterten. „Vater sagt, dass sich die Dinge wegen der Revolution ändern.“ „Revolution!“, schrie Großmutter. „Was hat das denn damit zu tun? Die Menschen leben weiter, heiraten und gebären Kinder! Dein Vater denkt, die Dinge ändern sich. Vielleicht wird das so sein. Aber Männer bleiben Männer und Frauen bleiben immer noch Frauen. Manche Sachen ändern sich nie!“ Als ich wieder in Großmutters Gesicht blickte, waren ihre Augen milder. „Ailin, du hast doch schon deinen zukünftigen Gatten, Hanwei, getroffen.“ Als ich nickte, fuhr Großmutter fort: „Er gefällt dir, stimmt’s?“ Ich dachte an Hanweis hohe Augenbrauen und seinen überraschten Blick. Und ich dachte daran, wie ernsthaft er sich bemüht hatte, mir Englisch beizubringen. „Er ist in Ordnung“, stimmte ich zu. „Auf jeden Fall ist er viel besser als meine Vettern.“ Plötzlich lächelte Großmutter und sah wieder wie sie selbst aus. „Du könntest es schlechter treffen, viel schlechter.
Frau Liu sagte mir, dass Hanwei dich auch mag. Das wird eine gute Verbindung werden, und du wirst dich einmal sehr glücklich schätzen, ein Mitglied der Familie Liu zu sein. Du kannst nach Hause kommen, sooft du willst, denn die Lius sind seit Generationen mit unserer Familie befreundet und wir sehen uns häufig.“ Dann wurde ihr Gesicht wieder hart. „Aber es gibt keine Hochzeit, wenn deine Füße nicht eingebunden sind! Die Lius sind sehr vornehm. Sie werden keine Schwiegertochter akzeptieren, die Füße hat wie eine Bauernmagd!“ Ich machte den Mund auf, doch Großmutter winkte ab. „Komm mir nicht mit irgendwelchen Ausflüchten. Ich werde deiner Mutter sagen, dass ich mit dir gesprochen habe.“ An diesem Abend kamen Mutter und die Dienstmädchen wieder mit den Stoffbinden und dieses Mal versuchte ich nicht wegzulaufen. Still saß ich auf dem Bett, während sie die Binden fest um meine Zehen wanden und alle außer die großen Zehen unter meine Fußsohle zwangen. Es war unangenehm, aber es fühlte sich nicht so schlimm an, wie ich erwartet hatte. Vielleicht hatte Mutter ja doch die Wahrheit gesagt. Das Einbinden der Füße war eben etwas, das wir Frauen zu ertragen hatten, wenn wir standesgemäß heiraten wollten. Ich änderte meine Meinung, als ich nach dem Einwickeln vom Bett aufstehen wollte. In dem Moment, wo meine eingebundenen Füße belastet wurden, schossen scharfe Stiche in meine gekrümmten Zehen und der Schmerz fuhr das ganze Bein hoch. „Was machst du denn da?“, fragte meine Amah. „Du darfst jetzt mehrere Wochen lang nicht aufstehen!“ „Wie meinst du das?“, wollte ich wissen. „Warum kann ich nicht aufstehen? Ich bin doch nicht krank!“ Mutter mischte sich schnell ein. „Es tut natürlich weh, wenn du jetzt zu laufen versuchst, Ailin. Du darfst deine Füße nur sehr allmählich
belasten. Mit viel Geduld musst du lernen, wie man auf eingebundenen Füßen zu gehen hat.“ Die Formulierung „lernen, wie man auf eingebundenen Füßen zu gehen hat“ traf mich am meisten. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nie wieder normal laufen können würde. Ich würde nie wieder lachend durch die Tore unserer Höfe rennen und mich vor meinen Vettern und den Dienern verstecken. Den Rest meines Lebens würde ich nur noch rumhumpeln! Wie eine Welle schlug die Wut über mir zusammen und ich fing an, an den Fußbinden zu zerren. Meine Amah hastete zu mir, begleitet von den beiden Mädchen. Sie versuchten mich niederzuhalten, aber ich schlug um mich, strampelte und schrie nur immer lauter. „Wir müssen sie festbinden“, sagte eines der Mädchen schließlich. „Aber wir können sie hier nicht wochenlang festgebunden lassen“, wandte Mutter ein. „Sie reißt sich die Fußbinden ab, wenn wir nicht aufpassen“, sagte meine Amah. „Ich werde sie die ganze Zeit im Auge behalten müssen, Tag und Nacht.“ Die Vorstellung, ständig unter der Aufsicht meiner Amah zu sein, machte mich rasend. Ich schrie und strampelte noch wüster. Irgendjemanden biss ich fest in die Hand, und es war mir egal, wer es war. „Was ist denn hier los?“, hörte ich eine Männerstimme fragen. Vater stand in der Tür. Die Frauen an meinem Bett ließen mich schnell los und traten zurück. Er kam in den Raum, sah auf mich nieder und wandte sich dann Mutter zu. Für eine sehr lange Zeit standen die beiden sich gegenüber und starrten sich an. Schließlich brach Vater das Schweigen. „Ailin muss die Füße nicht eingebunden bekommen, wenn sie es nicht will.“ „Sie ist zu jung, um die Konsequenzen zu begreifen“, sagte Mutter.
„Aber ich begreife die Konsequenzen“, sagte Vater. „Lass sie frei herumlaufen, wenn es das ist, was sie will.“ Ich verstand den Wortwechsel zwischen meinen Eltern nicht. Was meinten sie mit Konsequenzen? Jedenfalls bekam ich in den darauf folgenden Wochen keine schlimmen Reaktionen auf mein Verhalten zu spüren. Sogar Großmutter versuchte nicht, mit mir zu schimpfen, obwohl sie ein paar Mal den Kopf schüttelte, wenn sie mich sah, und seufzte. Aber das machte mir nichts aus. Ich dachte einfach, mein Leben würde so weitergehen wie bisher. Doch ich hatte mich getäuscht. Die Nachricht kam vier Monate, nachdem endgültig entschieden war, dass meine Füße nicht eingebunden würden. Mutter blickte mich verbittert an, als wir uns zum Abendessen setzten. „Frau Liu hat heute den Heiratsvermittler kommen lassen, um ihm zu sagen, dass ihre Familie Hanweis Verlobung mit dir lösen will. Ich habe dir ja gesagt, dass das passieren würde.“ Zweite Schwester griff nach meiner Hand und drückte sie beruhigend, aber an ihren Augen konnte ich sehen, wie bekümmert sie war. Und obwohl Vater nichts sagte, wusste ich, dass auch er sich Sorgen um meine Zukunft machte. Mutter war die Einzige, die laut und immer weiter jammerte. „Am besten wird Ailin Nonne“, sagte sie. „Das ist eine ehrbare Möglichkeit für eine unverheiratete Frau. Natürlich kann sie bei ihrer Lebhaftigkeit auch Akrobatin werden oder Schaustellerin auf der Straße.“ „Sei endlich still!“, sagte Vater. Er sprach selten mit irgendjemandem so scharf. Wenn er in diesem Ton mit Mutter sprach – und auch noch vor uns Kindern –, hieß das, dass er überaus beunruhigt war. Ich verstand nicht, warum Vater über Mutters Vorschlag so schockiert war. Ich hatte schon immer frei in den Straßen herumlaufen wollen, und es würde Spaß machen, Leute zu unterhalten. Ich schielte zu Mutter und sah,
dass sie sich auf die Lippen biss und versuchte, nicht zu weinen. Vater holte tief Luft und sagte wieder ruhiger: „Wir können nicht davon ausgehen, dass die alten Sitten für immer Bestand haben – auch solche Sitten nicht, die über Tausende von Jahren Gültigkeit hatten. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Es gibt bestimmt auch für ein Mädchen ohne eingebundene Füße gute Möglichkeiten.“
Viertes Kapitel
Vier Jahre lang wurde nichts über meine Zukunft entschieden. Obwohl meine Verlobung mit Hanwei gelöst war, konnten wir den Kontakt mit den Lius doch nicht ganz vermeiden, da es in Nanking nur wenige Familien unserer Gesellschaftsschicht gab. Die Stadt hatte sich wieder beruhigt und war auch für Familienausflüge wieder sicher geworden. Ein beliebtes Vergnügen war eine Bootsfahrt auf dem Xuanwu-See am Rand von Nanking. Im See lagen einige hübsche Inseln, die durch steinerne Bogenbrücken miteinander verbunden waren. Wir mieteten ein Boot, unser Koch bereitete ein üppiges Picknick vor und unsere Familie verbrachte einen wunderschönen Nachmittag auf dem See. Bei einer der Inseln begegneten wir einem Boot, zwischen dessen Vorhängen ein vertrautes Gesicht hervorspähte. Ich erkannte die hohen Augenbrauen von Liu Hanwei. Als Hanwei mich sah, grinste er und zog seinen Kopf zurück. Einen Augenblick später beugte sich Frau Liu heraus und grüßte uns. Inzwischen war ich alt genug, um zu verstehen, dass das eine peinliche Situation war. Doch Mutter und Frau Liu wechselten ein paar Bemerkungen über Zweite Schwesters bevorstehende Hochzeit und nach einigen weiteren höflichen Worten trennten sich die beiden Boote wieder. Hanwei winkte, als sie davonfuhren. Ich hatte erwartet, dass Mutter mir wegen der gelösten Verlobung wieder Vorwürfe machen würde, aber offensichtlich hatte sie beschlossen, das Thema
totzuschweigen. Außerdem geschahen in diesen Tagen zu viele andere Dinge, die den Erwachsenen zu denken gaben. Die Welt veränderte sich so sehr, dass wir sogar innerhalb der Mauern unseres Anwesens gar nicht anders konnten, als etwas mitzubekommen. Ich war fasziniert von den Beschreibungen der Rauch spuckenden Schiffe, die den Jangtse bis nach Nanking und sogar noch weiter hochgefahren kamen. Auch hörte ich von „eisernen Straßen“, die aus einer doppelten Schiene bestanden, auf denen Kästen mit Rädern über große Entfernungen von „Feuerwagen“ gezogen werden konnten, die Holz oder Kohle verbrannten. Großer Onkel und Vater sprachen sehr viel über die Republik, die neue Regierung und ob sie sich halten könnte. „Ich habe Gerüchte gehört, dass sich Yuan Shikai vielleicht selbst zum Kaiser machen wird und eine neue Dynastie gründet“, sagte Vater. Großer Onkel war Feuer und Flamme für die neue Dynastie. „Gegenüber dieser laschen Republik, die wir jetzt haben, wäre das eine Verbesserung. Mit einem Kaiser kriegen wir vielleicht wieder etwas Beständigkeit. Unser Land braucht einen starken Führer.“ Ich stellte mir einen starken Führer als einen Mann vor, der Befehle herausbellte. Und natürlich würde er genauso aussehen und klingen wie Großer Onkel. Beide, Vater und Großer Onkel, sprachen viel über die drohende Gefahr, dass unser Land unter den fremden Mächten aufgeteilt würde. „Japan, Deutschland und Russland setzen sich in ihren jeweiligen Gebieten im Norden schon richtig fest“, brummte Großer Onkel, und sein Gesicht lief rot an wie immer, wenn das Gespräch auf die Fremden kam. Vater stimmte zwar zu, dass die Fremden in immer größerer Zahl kamen. „Doch ich glaube, unser Land kann von der
Anwesenheit dieser Leute auch profitieren. Es gibt vieles, was wir von ihnen lernen können.“
Eines Abends, als ich neun Jahre alt war, verkündete Vater: „Ich werde Ailin in einer öffentlichen Schule anmelden.“ Vor vier Jahren wäre ich vor Aufregung in die Luft gesprungen. Jetzt war ich älter und konnte auf meinem Stuhl sitzen bleiben, ein breites Lächeln aber konnte ich mir nicht verkneifen. Erinnerungen an das, was mir Hanwei über die öffentlichen Schulen erzählt hatte, schossen mir wieder durch den Kopf. Was hatte er gelernt? Etwas über Finsternisse und schmelzendes Wasser und Englisch, die fremde Sprache, die die Langnasen sprachen. Meine Eltern, Zweite Schwester und ich aßen gerade bei Großmutter zu Abend. Großvater war krank und aß seinen üblichen Teller Haferbrei im Bett. Doch Großmutter mochte junge Gesichter um den Tisch. Außerdem: Besuch zu haben, war für sie eine gute Gelegenheit, den Koch etwas extra Feines kochen zu lassen. Großmutter runzelte die Stirn bei Vaters Ankündigung. „Du hast wohl den Verstand verloren! Ailin geht noch ein Jahr in die Familienschule und mehr braucht sie nicht. Zu viel zu lernen, ist für ein Mädchen ungesund!“ Es wurde still. Zweite Schwester und ich wechselten einen Blick und ich wusste, wir dachten beide dasselbe. Sie hatte mir erzählt, dass Vater noch eine ältere Schwester gehabt hatte, im Alter zwischen ihm und Großer Onkel. Sie war außergewöhnlich klug und eine begabte Dichterin gewesen. Großvater, ein begeisterter Gelehrter, hatte sie selbst im Schreiben mit dem Pinsel unterrichtet, da sie früh schon Talent dafür gezeigt hatte.
Doch mit fünfzehn war sie an der gefürchteten Lungenkrankheit, der Tuberkulose, gestorben, noch bevor sie hatte verheiratet werden können. Großmutter war überzeugt, dass das viele Lernen schuld an ihrem frühen Tod war. Großmutter meinte, ich sähe ein bisschen wie diese Tante aus, die ich nie gesehen hatte. Zweite Schwester hatte mir erzählt, Vater sei sehr stolz auf seine tote Schwester gewesen, und vielleicht wollte er mir die Ausbildung ermöglichen, die sie nie haben konnte. Er weigerte sich zu glauben, dass Lernen ungesund sei. Großmutter war noch keineswegs überzeugt. „Welche Schule nimmt denn überhaupt Mädchen an?“ „Die Macintosh-Schule. Das ist eine öffentliche Schule für Mädchen, die von Missionaren geleitet wird“, sagte Vater. „Ein Kollege im Zollamt hat mir erzählt, dass er seine Tochter dorthin schickt.“ „Eine Schule von Missionaren geleitet? Was sind Missionare?“ „Sie predigen ihre Religion Menschen aus anderen Ländern“, berichtete Vater. „Die, die diese Schule betreiben, sind amerikanische Protestanten. Sie gehören zu einem Zweig der christlichen Religion.“ „Du denkst daran, Ailin auf eine Schule zu schicken, wo sie die Jesus-Religion predigen?“, schrie Großmutter. „Warum verschwendest du dafür Geld?“ „Die Schule lehrt die Kinder nicht nur Religion“, erklärte Vater. „Die Schüler lernen vor allem Weltgeschichte, Geografie, Mathematik, Englisch und andere nützliche Sachen.“ Großmutter riss die Augen auf. „Nützliche Sachen? Ich kann mir nicht vorstellen, was ein wohlerzogenes Mädchen wie Ailin an Weltgeschichte nützlich finden sollte!“ „Unser Land war zu lange isoliert“, sagte Vater. „Wegen unserer eigenen Unwissenheit sind wir bei dem unglückseligen
Boxeraufstand von den fremden Mächten so gedemütigt worden.“ Ich erinnerte mich, wie Vater und Großer Onkel über den Boxeraufstand vor fünfzehn Jahren gesprochen hatten. Eine Gruppe von Aufständischen, die sich selbst Boxer nannten, hatte Ausländer in der Hauptstadt Peking angegriffen. Bevor der Aufstand niedergeschlagen wurde, hatten sie eine ganze Anzahl von Ausländern getötet. „Die Boxer waren einfach ein paar verrückte Extremisten“, schnappte Großmutter. „Die wollten ja geradezu niedergemacht werden!“ „Aber unsere Regierung war gezwungen, enorme Summen als Entschädigung an die fremden Staaten zu zahlen“, sagte Vater. „Noch schlimmer war, dass wir Gebiete an die Fremden abgeben mussten, und nun werden ganze Teile unseres Landes von fremden Truppen kontrolliert. In einigen Vierteln von Schanghai zwingen ausländische Polizisten unseren Leuten ihre Gesetze auf!“ „Diese fremden Teufel haben uns mit ihrer Zauberei besiegt“, sagte Großmutter. „Unsere tapferen Männer waren ihren großen Gewehren nicht gewachsen.“ „Genau das ist es“, sagte Vater. „Neben anderen Dingen müssen wir lernen, wie solche großen Gewehre konstruiert werden. Als die Boxer die ausländischen Gesandtschaften in Peking belagerten, dachten sie, sie könnten die Fremden allein durch ihre Anzahl überwältigen. Sie wurden niedergemäht von diesen Gewehren.“ Großmutter lachte. „Und du glaubst, Mädchen wie Ailin sollten auf eine öffentliche Schule gehen und lernen, wie man Gewehre herstellt? Und wie man die Soldaten der Fremden besiegt?“ Ich kicherte und sogar Vater musste lächeln. „Natürlich nicht“, sagte er. „Wir können uns nur nicht für alle Zeiten für
den Mittelpunkt des Universums halten. Ailin und andere junge Menschen wie sie müssen mehr über den Rest der Welt lernen.“ „Ich werde mit dir nicht über die Probleme der Welt streiten“, sagte Großmutter und seufzte. „Aber denk mal an die praktischen Schwierigkeiten: Wie soll Ailin denn zum Beispiel zur Schule fahren? Natürlich könnte sie mit ihren großen Füßen laufen. Aber das würde ihren Ruf ruinieren.“ „Ihr Ruf ist bereits wegen ihrer großen Füße ruiniert“, murmelte Mutter. Großmutter funkelte Mutter so an, dass sie schnell wieder schwieg. Vater wusste die Lösung. „Ich werde dem Fahrer Anweisung geben, sie in der Familienrikscha hinzufahren.“ Ich war begeistert. Ich hatte es immer genossen, mit Mutter in der Rikscha zu fahren. Die Geschwindigkeit war wunderbar, aber auch das weiche Rollen auf den beiden großen Rädern. Doch ich hatte nicht oft die Möglichkeit, mit der Rikscha zu fahren, da vorrangig die Männer der Familie, Großvater, Vater und Großer Onkel, das Fahrzeug für ihre Angelegenheiten nutzten. Großmutter grummelte weiter. „Ich habe die Rikscha nie gemocht. Diese verdammte japanische Erfindung. Ich ziehe die Sänfte vor. In der kommt man in einer vernünftigen, würdevollen Geschwindigkeit ans Ziel.“ Ich selbst mochte die Sänfte nicht. Da wurde ich immer auf- und niedergeschleudert, besonders dann, wenn die Träger beschlossen hatten, mich ein wenig hüpfen zu lassen. „Und was ist mit den Mahlzeiten?“, wollte Großmutter wissen. „Ailin müsste mit fremden Leuten zusammen essen. Sie kann keine Rüben vertragen. Was ist, wenn die Schulküche haufenweise Rüben auf den Tisch bringt? Du weißt nie, was
diese Ausländer alles im Kopf haben, was sie unbedingt essen wollen.“ „Ich kann das Essen gebracht bekommen“, sagte ich schnell. „Einer unserer Diener kann einen Kasten mit warmem Essen und Reis rüberbringen. Alle Schüler kriegen ihr Essen gebracht!“ Die Erwachsenen wandten sich mir zu und schauten mich erstaunt an. „Woher in aller Welt weißt du das?“, fragte Mutter. „Hanwei hat mir das erzählt“, sagte ich. „Er geht auch auf eine öffentliche Schule, und er hat gesagt, sein Mittagessen würde rübergebracht, Sachen, die er mag.“ Wieder entstand eine lange Pause. Immer, wenn Hanweis Name erwähnt wurde, guckte Vater ernst, Mutter traurig und Großmutter wütend. Schließlich warf Großmutter mit lautem Klappern ihre Essstäbchen auf den Teller. „Wenn Ailin die Schule besucht, ist das bestimmt keine Hilfe für den Heiratsvermittler. Es ist schwer genug, wenn ein Mädchen große Füße hat, aber ein gebildetes Mädchen mit großen Füßen zu verheiraten, ist geradezu unmöglich!“ Um von der Macintosh-Schule aufgenommen zu werden, musste ich zuerst eine Prüfung ablegen. In Vorbereitung darauf wiederholte ich, was ich in der Familienschule gelernt hatte. Mit fünf hatte ich Drei klassische Worte gelernt. Später waren dann andere Texte dazugekommen, einige aus den Lehren der großen Meister wie Konfuzius und Menzius. Alle diese Texte mussten auswendig gelernt werden. Eigentlich hatte meine Ausbildung zu Hause nur darin bestanden, Texte in altertümlichem Chinesisch auswendig zu lernen. Am Prüfungstag kamen wir zu dem Schulgebäude, das ganz anders aussah als die Häuser in unserer Hofanlage. Zu Hause gab es viele kleine Gebäude mit ein oder zwei Zimmern jeweils um einen Hof gruppiert. Die Schule dagegen bestand
nur aus einem einzigen Haus, das aber Dutzende von Zimmern hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man darin herumlaufen konnte, ohne sich zu verirren. Aber Vater schien über die Größe des Gebäudes nicht erstaunt zu sein und hatte auch keine Probleme, zu dem Raum zu finden, in dem ich die Prüfung ablegen sollte. Eine junge Frau bat uns an einen Tisch und servierte uns Tee. Ein freundlich aussehender Mann kam herein und stellte sich als der stellvertretende Schulleiter vor. Er erinnerte mich ein bisschen an Vater und ich entspannte mich. Herr Li, der Prüfer, fing mit Fragen über das an, was ich in unserer Schule zu Hause gelernt hatte. Ich war froh, dass ich es vorher noch einmal wiederholt hatte. Rasch sagte ich ein paar von den Textstellen auf, die ich auswendig gelernt hatte. Dann kamen wir zum nächsten Teil der Prüfung, der darin bestand, dass ich einige chinesische Schriftzeichen schreiben sollte. Ein steinernes Plättchen und ein Tintenstein wurden hereingebracht. Ich goss einige Tropfen Wasser auf das Plättchen und rieb den Stab im Wasser, bis ich einen schönen kleinen Teich mit dicker, schwarzer Tinte hatte. Dann tauchte ich meinen Pinsel vorsichtig hinein und schrieb die Zeichen für Familie, Land und Buch. Als der Prüfer lächelte, wusste ich, dass er meine Arbeit gut fand, und so beschloss ich, das schwerste Zeichen, das ich kannte, zu schreiben. Es war das für Tugendhaftigkeit. Man braucht dafür fünfzehn Pinselstriche. Herr Li nickte. Zum ersten Mal war ich unserem Lehrer in der Familienschule dafür dankbar, dass er uns so hart hatte lernen lassen. Dann unterhielt sich Herr Li mit mir und fragte mich, was ich gerne lernen würde. So hatte noch nie zuvor ein Erwachsener mit mir gesprochen. „Ich möchte etwas über den Rest der Welt lernen, nicht nur über China“, erklärte ich. Ich wiederholte damit nur, was Vater
schon früher gesagt hatte, aber ich war tatsächlich sehr neugierig auf andere Länder. Plötzlich bemerkte ich, dass Herr Li jemanden hinter mir ansah. Eine Frau war leise in den Raum gekommen und ihr Anblick verschlug mir die Sprache. Es war das erste Mal, dass ich eine Ausländerin sah. Einmal hatte ich auf der Straße einen ganz flüchtigen Blick auf einen Ausländer geworfen, der in einer Rikscha fuhr. Meine Amah hatte geflüstert: „Da fährt eine Langnase!“ Aber als ich mich umdrehte, um besser sehen zu können, war die Rikscha schon vorbeigeflitzt. Nun blickte ich diese fremde Frau an. Sicher, ihre Nase stand etwas weiter als normal heraus, aber sie war nicht unförmig groß. Ob ihre Arme behaart waren oder nicht, konnte ich nicht sehen, da sie lange Ärmel trug. Was ich aber sehen konnte, waren die Haare auf ihrem Kopf, die von einem hellen Braun wie trockene Kiefernnadeln waren. Sie hatte etwas hervorstehende graue Augen, die wie runde Kieselsteine in Teichen mit klarem Wasser aussahen. Schnell guckte ich auf die Füße der ausländischen Frau. Sie waren nicht eingebunden. Später erfuhr ich dann, dass keine der fremden Frauen eingebundene Füße hatte. Auf der ganzen großen Welt banden sich nur chinesische Frauen die Füße ein. Herr Li begrüßte sie in einer Sprache, die ich nicht verstand, und die fremde Frau antwortete. Sie mussten Englisch gesprochen haben. Dann wandte sie sich an meine Eltern und lächelte. Ihr Lächeln war breit, hell und freundlich. „Guten Tag“, sagte sie auf Chinesisch. „Ich bin Miss Gilbertson. Ich werde Ihre Tochter in Englisch unterrichten.“ Und als ich hörte, wie meine Eltern die Begrüßung der Lehrerin erwiderten, wurde mir klar, dass ich in der Schule aufgenommen war.
Mit dem Eintritt in die Macintosh-Schule fing einer der glücklichsten Abschnitte meines Lebens an. In den Fächern chinesische Schrift und chinesische Literatur wurde weniger Wert auf Auswendiglernen als auf Diskussion der Inhalte gelegt. Wir lernten auch das, was Großmutter „nutzlose Dinge“ nannte. In Geografie erfuhr ich viel über andere Länder und andere Menschen, so wie es Vater gehofft hatte. Es faszinierte mich, dass es Menschen mit einer Haut so schwarz wie Holzkohle gab und dass andere in aus Eis gemachten Häusern lebten. Obwohl es eine Schule amerikanischer Missionare war, waren die meisten Lehrer Chinesen und Religion hatten wir nur eine Stunde am Tag. Noch immer denke ich gerne an die Religionsstunden zurück, in denen wir, wie der Lehrer es nannte, biblische Geschichten erzählt bekamen. Das waren spannende Erzählungen über Menschen von früher. Meine liebste war die über einen Jungen, der einen wilden Riesen mit einer Waffe tötete, die Schleuder genannt wurde. Ich liebte Geschichten, in denen ein Kleiner über einen Großen triumphierte. Nach der Stunde hörte ich ein Mädchen aus der Klasse sagen: „Ich würde gerne eine Schleuder machen und sie ausprobieren.“ Genau das hatte ich gerade auch gedacht. Ich drehte mich um und sah ein molliges Mädchen, etwas kleiner als ich. „Ich bin Zhang Xueyan“, sagte das Mädchen. „Du musst die Neue sein.“ „Ja“, sagte ich. „Ich heiße Tao Ailin. Ich bin neun Jahre alt.“ „He, dann sind wir gleich alt“, sagte Xueyan. Ihre Stimme klang fröhlich und in ihren Augen blitzte eine solche Unternehmungslust, dass sie mir sofort gefiel. Zhang Xueyan wurde meine beste Freundin. Das Schulgeld der MacintoshSchule war hoch und so kamen alle Mädchen aus meiner
Klasse aus wohlhabenden Familien. Die meisten hatten eingebundene Füße, nur drei nicht. Die Familien dieser drei Mädchen glaubten genau wie Vater, dass sich die Zeiten in China änderten und dass das Einbinden der Füße grausam war und abgeschafft gehörte. Xueyan war eines der Mädchen ohne eingebundene Füße, und ganz besonders gut gefiel mir, dass sie sich wegen ihrer großen Füße nicht schämte, sondern stolz auf sie war. „Die Familie meines Verlobten hat die Verlobung wegen meiner Füße gelöst“, gestand ich Xueyan. „Meine Mutter hat jetzt Angst, dass mich keiner mehr heiraten will.“ Xueyan lachte. Ihr Lachen war so laut, dass sich mehrere Mädchen, die vor uns durch den Flur gingen, umdrehten und sie anstarrten. „Was ist denn daran so schlimm?“, wollte Xueyan wissen. „Ich bin überhaupt nicht darauf versessen zu heiraten. Wenn ich mit der Schule fertig bin, will ich studieren und Ärztin werden. Dann brauch ich keinen Mann, der mich versorgt.“ Ich bewunderte Xueyan. Ich ahmte ihre großen, selbstbewussten Schritte nach und versuchte sogar, zu sprechen wie sie. Im Englischunterricht aber war ich die Beste. Ich konnte die Laute, die Miss Gilbertson uns vorsprach, fast perfekt wiederholen. Jahrelang hatte ich meine Verwandten zur Raserei gebracht, wenn ich ihre Art zu sprechen so genau nachmachte. Nun wurde meine Fähigkeit zum Nachahmen als Begabung gelobt. „Ausgezeichnet!“, sagte Miss Gilbertson, wenn ich an der Reihe war, etwas vorzutragen. „Du hast ein großartiges Gehör. Du kannst bestimmt mal auf die Universität gehen und studieren und Englischlehrerin werden!“ Die Vorstellung begeisterte mich und langsam merkte ich, dass es für mich trotz allem Hoffnung gab. Ich musste keine Nonne werden, denn ich konnte auf eine höhere Schule gehen, dann studieren und später Englisch unterrichten!
„Können denn auch Frauen Unterricht geben?“ Miss Gilbertson lachte und ich wurde rot. Sie gab Unterricht und sie war eine Frau. Aber sie war natürlich eine Ausländerin und das war ein großer Unterschied. „Ich meine, kann eine chinesische Frau Lehrerin werden?“, fragte ich. Miss Gilbertsons Gesicht wurde ernst. „Ich selbst kenne keine Chinesin, die unterrichtet, aber ich habe gehört, dass es an einer der Schulen in Schanghai welche gibt. Zurzeit verändert sich vieles in China. Wer weiß, wenn du einmal erwachsen bist, gibt es vielleicht viele chinesische Frauen als Lehrkräfte.“ Miss Gilbertsons Anerkennung bedeutete mir viel. Ich wusste, dass sie ihre Arbeit mochte, und eine gute Schülerin zu haben, schien ihr mehr als alles in der Welt zu gefallen. Ich stellte es mir herrlich vor, eine Lehrerin wie Miss Gilbertson zu sein. Drei Jahre lang nahm die Schule meine Tage und meine Gedanken fast vollständig in Anspruch. Zu Hause hatte sich einiges verändert. Vater verbrachte weniger Zeit mit uns, da ihn seine Arbeit sehr forderte. Er war dünner geworden und wirkte müde. Großmutter betrachtete ihn besorgt und lag ihm in den Ohren, er solle mehr essen. Oft war er zu müde, um mit uns zu kommen, wenn wir zu Großmutter zum Abendessen gingen. Sie beschwerte sich dann, alle würden sie verlassen. Das stimmte auch. Es saßen zu der Zeit weniger Leute an ihrem Tisch, da sowohl Älteste Schwester als auch Zweite Schwester verheiratet und aus dem Haus waren. Bevor Zweite Schwester gegangen war, hatten wir beide uns lange unterhalten. Zweite Schwester sprach vor allem über Seidenraupen. „Weißt du noch, wie ich dir einen blassgrünen Seidenkokon gezeigt habe?“, fragte sie. Ich erinnerte mich deutlich an die Situation, denn das war am selben Tag gewesen, an dem ich zusehen durfte, wie Zweite
Schwester ihre Füße wusch. „Ja“, sagte ich. „Du hast die farbigen so schön gefunden und hättest gerne mehr davon gehabt.“ „Ich selbst mag eben die farbigen Kokons am liebsten“, sagte Zweite Schwester. „Aber die Seidenweber hassen sie, weil sie das einheitliche Weiß zerstören. Sobald sie einen farbigen Kokon entdecken, nehmen sie ihn heraus und verbrennen ihn. Denk daran.“ Ich wusste nicht, was sie mir mit den Seidenraupen sagen wollte. Ich verstand auch nicht, warum sie in den Tagen kurz vor ihrer Hochzeit oft so traurig aussah. Ich fragte Großmutter, ob Zweite Schwester vielleicht wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit unglücklich sei. Zuerst wollte Großmutter es mir nicht sagen, dann aber gestand sie schließlich, dass sie den Eindruck gewonnen habe, Frau Chen, Zweite Schwesters zukünftige Schwiegermutter, sei kalt und barsch. Erst als Zweite Schwester in das Haus ihres Mannes gezogen war, verstand ich schließlich den Sinn ihrer Bemerkung über die Seidenraupen. Zweite Schwester hatte mich vor der Gefahr warnen wollen, anders als alle anderen zu sein. Ich war mir nicht sicher, ob sie über meine eigene Situation gesprochen hatte oder über ihre innerhalb der Chen-Familie, wo ihre Schwiegermutter sich ernsthaft über jeden hermachen würde, der es wagte, einen eigenen Willen zu haben. Zweite Schwester hatte mir sehr nahe gestanden und sie fehlte mir nun, doch Kleiner Bruder wurde größer und ich spielte gern mit ihm. Er gluckste so lustig, wenn ich ihn über unseren Hof jagte. Wir sprachen meistens eine Mischung aus Chinesisch und Englisch, bis seine Amah einschritt und das unterband. Mein Bruder hatte eine andere Amah als ich. Meine war entlassen worden, nachdem ich in die Schule gekommen war. Um auf einen kräftigen kleinen Jungen aufzupassen, war sie zu graziös und zerbrechlich. Vermutlich war sie jetzt in einer
anderen Familie angestellt und kümmerte sich um ein nettes, ruhiges kleines Mädchen mit eingebundenen Füßen. Erschreckend war für uns alle in dieser Zeit die rapide nachlassende Gesundheit unserer Großmutter. Großvater war während meines zweiten Jahrs in der Schule gestorben, aber er war schon jahrelang kränklich gewesen, und auch wenn es ihm gut ging, hatte er die meiste Zeit abgesondert in seinem Studierzimmer verbracht. Sein Tod hatte unser Leben nur wenig verändert. Doch mit Großmutters Krankheit war es anders. Ich besuchte sie noch immer so oft wie möglich, aber sie war nicht mehr sie selbst mit ihrer rauen Schale, seit sie durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmt war. Es drehte mir das Herz um, wenn ich sah, wie sie an Lebhaftigkeit verlor und immer schwächer wurde.
Fünftes Kapitel
Während meines dritten Jahrs in der Macintosh-Schule wurde ich eines Morgens in das Schulsekretariat gerufen, wo man mir sagte, ich solle sofort nach Hause gehen. Großmutter hatte einen zweiten Schlaganfall erlitten und lag im Sterben. Als ich zu ihr ins Zimmer kam, war sie bewusstlos. Als ich hörte, wie schwer sie atmete, fielen mir wieder ihr keuchendes Lachen und ihr vorgetäuschter Ärger ein, wenn ihr von meinen Streichen berichtet wurde. „Komm, wir müssen gehen“, hörte ich die weiche Stimme von Zweite Schwester. „Es warten noch andere Besucher darauf, Großmutter zu sehen.“ Seit ihrer Heirat hatte ich Zweite Schwester nur selten gesehen und fast vergessen, wie schön es war, wenn sie ihren Arm um meine Schultern legte. Meine Lehrer in der Schule waren nett zu mir, wenn ich etwas tat, das sie gut fanden. Aber Großmutter und Zweite Schwester liebten mich, egal was ich tat. Am nächsten Morgen wurde ich kurz vor der Dämmerung von lautem Klagen geweckt. Meine Schwestern und ich zogen schnell die einfachen weißen Kleider aus Hanf an, die man für uns gerichtet hatte. Nach einem schnellen Frühstück gingen wir mit den anderen Trauergästen zur Totenfeier. Ich stellte mich zu den Mitgliedern der Tao-Familie und stimmte in das Wehklagen mit ein. Es waren so viele, die für Großmutter klagten, dass wir keine professionellen Klagefrauen mieten mussten. Neben den Taos waren auch die Verwandten von Großmutters Seite da. Es waren hier mehr Leute versammelt als bei Großvaters Totenfeier.
Verwandte, Freunde und Diener hatten Großmutter wirklich geliebt. Die Tage der Totenfeier waren so geschäftig, dass ich kaum dazu kam, traurig zu sein. Die Gäste sollten unterhalten werden, und ich musste helfen, Erfrischungen zu servieren. Sogar Kleiner Bruder reichte Teller mit Süßigkeiten herum. Plötzlich stand ich Frau Liu gegenüber – die nicht mehr meine zukünftige Schwiegermutter war – und bot ihr eine Tasse Tee an. Sie senkte den Kopf und tupfte sich die Augen ab. „Ich weiß, dass du traurig bist“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Du hast deine Großmutter sehr geliebt.“ Ich versuchte, so viel Haltung wie möglich zu bewahren. In den letzten Stunden hatte ich viel über Würde gelernt, während ich meine Eltern und Schwestern beobachtete. „Ja, aber Sie hatten sie auch gern, Frau Liu.“ „Das stimmt. Unsere Familien standen sich sehr nahe“, murmelte Frau Liu. Sie blickte mich an und sagte dann aufseufzend: „Ich möchte dir sagen, dass uns die Entscheidung, eure Verlobung zu lösen, sehr schwer gefallen ist. Viele Monate haben wir darum gerungen. Es tut mir wirklich Leid, Ailin.“ Ich war froh, nach den Trauerfeierlichkeiten wieder in die Schule gehen zu können. Nach Großvaters Tod war Großer Onkel das offizielle Oberhaupt der Familie geworden, aber im Grunde hatte Großmutter das Sagen in allen Familienangelegenheiten gehabt. Nun schien niemand mehr verantwortlich zu sein. Großer Onkels erste Frau hätte nun eigentlich die Leitung des Haushalts unserer Hofanlage übernehmen sollen, aber sie war eine verängstigte, dünne Person, die sich nicht einmal traute, ihren eigenen Sohn auszuschimpfen. Anders als Vater hatte Großer Onkel eine zweite Frau geheiratet, die zwar energischer wirkte als die
erste, aber ebenso daran gewöhnt war, sich nach Großmutters Anweisungen zu richten. Und nun wirkte auch sie ziemlich hilflos. Großer Onkel selbst konnte sich natürlich nicht um den Haushalt kümmern. Das war Frauensache. Es herrschte einige Verwirrung und Großer Onkel war ständig auf alles und jeden wütend. Fast jeden Abend kam er zu uns zum Abendessen. Er beschwerte sich nicht nur über seine Frauen, sondern auch über die Welt draußen. Sein Hauptgesprächsthema war die Frage, wer das Land nach der Revolution und dem Sturz der Mandschu-Dynastie wirklich beherrschte. „Ich gebe zu, die Kämpfe in Hunan und Hubei haben sich nicht bis in unsere Gegend ausgebreitet“, sagte Großer Onkel. „Aber oben im Norden machen sich ein paar Kriegsfürsten bereit, das Land zu zerstückeln.“ Vater sah das weniger besorgt. „Die provisorische Regierung, die Sun Yatsen hier in Nanking eingesetzt hat, scheint stabil genug zu sein. Er selbst zeigt ganz offensichtlich keine Neigung, sich zum Kaiser zu machen.“ „Es würde unser Land vermutlich stärken, wenn er es machte“, brummte Großer Onkel. „Und überhaupt, im Übrigen werden die Fremden ihren Vorteil aus unserer Schwäche ziehen und an sich reißen, was immer sie können.“ Er funkelte mich für einen Moment an und wandte sich wieder an Vater. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du dieses Mädchen auf eine Schule der Fremden geschickt hast? Die füllen ihr doch nur den Kopf mit seltsamen Ideen. Als ob sie davon nicht selbst schon genug gehabt hätte!“ „Da Ailin nicht den Sohn der Lius heiraten wird, haben wir gedacht, sie sollte studieren und Lehrerin werden“, sagte Mutter. Großer Onkels Gesicht wurde einmal mehr knallrot vor Empörung. Ich wusste nicht, was ihn wütender machte: dass
Mutter es gewagt hatte, sich in ein ernsthaftes Gespräch über die Welt draußen einzumischen, oder die Vorstellung, dass ich studieren und Lehrerin werden würde. „Ein Mädchen, das außer Haus arbeitet?“, zischte er. Vater hustete. „Mach dir keine Sorgen, Älterer Bruder. Es ist noch zu früh, um über Ailins Zukunft nachzudenken. Außerdem wissen wir gar nicht, wie unser Land in zehn Jahren aussehen wird.“ Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, hustete er wieder. Er hustete ziemlich lange und dann zog er ein Taschentuch hervor und wischte sich die Lippen. Großer Onkel fuhr mit seinem ärgerlichen Gebrummel fort: „Du redest dauernd über Veränderungen. Die Natur verändert sich nie! Erwartest du wirklich, dass sich Männer in Frauen verwandeln und ihnen Brüste wachsen? Oder dass Frauen Bärte sprießen? Du bist…“ Er unterbrach sich und starrte auf das fleckige Taschentuch in Vaters Hand. „Mir geht es gut“, sagte Vater, doch ich hatte schon gesehen, dass an dem Tuch Blut war. Mich durchfuhr es eiskalt. Hieß das, dass Vater an Tuberkulose litt, der schrecklichen Lungenkrankheit, an der auch meine Tante gestorben war? Sah er deshalb in der letzten Zeit so dünn und müde aus?
In den folgenden Monaten konnte mich nur die Schule von Vaters Husten ablenken. Ich lernte wie besessen. Englisch war bei weitem mein bestes Fach und Miss Gilbertson lobte meine Aussprache in den höchsten Tönen. Wie den anderen fortgeschrittenen Schülerinnen auch gab sie mir einen ausländischen Namen. Sie wählte Eileen, was mir sehr lieb war, da er fast so klang wie mein chinesischer Name Ailin. Meine Freundin Xueyan hatte auch einen englischen
Namen bekommen: Sheila. Aber den mochte sie nicht und sie weigerte sich, ihn zu benutzen. Mit dem neuen Namen hatte ich das Gefühl, eine zweite Persönlichkeit bekommen zu haben. In der Schule war ich Eileen, sprach Englisch und lernte etwas über Galaxien und weit entfernte Länder wie Russland. Zu Hause war ich Ailin, ein ungezogenes Mädchen, dessen Verlobung gelöst worden war. Bald bat mich Miss Gilbertson, die Aussprache der anderen Schülerinnen verbessern zu helfen. „Du klingst schon fast wie Miss Gilbertson“, sagte Xueyan. „Wie schaffst du es, diese fremden Laute so gut hinzukriegen?“ Nicht alle aus meiner Klasse waren so nett wie Xueyan. Einige von ihnen mochten es gar nicht, wenn ich ihre Aussprache korrigierte, und die Mädchen mit den eingebundenen Füßen, also fast alle, ärgerten sich am meisten darüber. „Die ist nicht mehr als ein Bauernmädchen“, hörte ich eine von ihnen flüstern. „Bildet die sich vielleicht ein, sie könne zu einer Ausländerin werden! Sie kann sich ja noch Lehm auf die Nase schmieren, um sie länger zu machen, und sich die Haare knallrot färben.“ Weltgeschichte hatten wir bei Miss Scott, einer hageren Frau mit krausen, blonden Haaren. Ich mochte sie nicht so wie Miss Gilbertson, weil sie offensichtlich mehr Spaß daran hatte, uns Fehler nachzuweisen als uns zu loben, wenn etwas gut war. Aber ich war fasziniert von ihren Geschichten über Krieger, die vor langer Zeit gelebt hatten und Ritter hießen. Auf den Bildern in den Schulbüchern konnte man sehen, dass die Ritter Rüstungen trugen, die aussahen, als wären sie aus Konservendosen gemacht. Einmal hatte es in der Schule einen englischen Nachmittagstee gegeben, mit schwarzem Tee, süßem Gebäck und einer dicken Milch, die aus Konservendosen kam. Konservendosen waren für uns eine große Neuheit, und ich
konnte mir einfach nicht vorstellen, sie anzuhaben, und noch weniger, in einem Anzug daraus zu kämpfen. Sehr viel weniger begeistert war ich, als Miss Scott zur Geschichte Chinas kam. Sie berichtete, wie eine Dynastie nach der anderen an der Korruption zerbrach, einschließlich der letzten, der Mandschu-Dynastie. Obwohl auch Vater und Großer Onkel oft über die Korruption am Hof gesprochen hatten, machte es mich doch wütend, wenn ich hören musste, wie eine Ausländerin die früheren Herrscher meines Landes kritisierte. Noch ein Jahr zuvor hätte ich das auch laut gesagt, aber jetzt wusste ich, dass es einem einen schweren Verweis der Schule einbringen konnte, wenn man einem Lehrer widersprach. Ich hätte sogar rausgeschmissen werden können. Das, was Xueyan passiert war, hatte mich vorsichtig werden lassen. Als Miss Scott einmal sagte, während der ganzen chinesischen Geschichte seien Frauen nicht mehr als Sklavinnen gewesen, meldete sich Xueyan. „Es hat aber eine berühmte Kriegerin gegeben, die hieß Hua Mulan“, sagte sie triumphierend. „Und die Kaiserinwitwe Wu Zetian aus der Tang-Dynastie hat sich selbst zur regierenden Kaiserin ausgerufen und versucht, eine neue Dynastie zu gründen!“ Doch selbst Xueyan hatte sich nicht getraut, Cixi, die letzte Kaiserinwitwe, auch nur zu erwähnen, deren Namen einem noch immer das Blut in den Adern gefrieren ließ, sogar noch nach ihrem Tod. Mir war aufgefallen, dass meine Eltern immer, wenn der Name der üblen und mächtigen Cixi erwähnt wurde, die Stimme dämpften, auch dann noch, als wir die Mandschu-Dynastie durch die Revolution losgeworden waren. Miss Scott wurde wütend auf Xueyan, weil sie ihr offen widersprochen hatte, und schickte sie in das Büro des Direktors. Dort bekam sie einen schweren Verweis und durfte
nur deshalb auf der Schule bleiben, weil ihre Eltern reich waren und großen Einfluss hatten. Bei mir war das anders. Unsere Familie, die Taos, war über viele Generationen hin reich gewesen. Als meine Schwestern heirateten, war eine Truhe nach der anderen mit kostbaren Geschenken an die Familien ihrer Männer geschickt worden. Das brachte meinen Schwestern Ansehen bei ihren Schwiegerfamilien. Aber auf Geldangelegenheiten hatte ich eigentlich nie besonders geachtet, bis eines Abends Großer Onkel zum Essen kam und sich über die vielen überflüssigen Ausgaben beschwerte. „Solange das Land von diesen plündernden Soldaten, die zu Banditen geworden sind, heimgesucht wird, bekommen wir keine Einkünfte von unseren Pächtern“, sagte er. „Wir müssen endlich kürzer treten.“ Er blickte mich einen Moment lang an und sagte dann noch: „Das Schulgeld für die öffentliche Schule ist eine erhebliche Belastung.“ Großer Onkel hätte jedes Argument dazu verwandt, mich von der Schule zu nehmen. Nur Vaters entschiedenes Auftreten hatte Großer Onkel bisher davon abgehalten zu tun, was er wollte. „Solange ich meine Arbeit im Zollamt habe, kann ich es mir leisten, Ailin in die Schule zu schicken“, sagte Vater gelassen. Aber Vater war ein kranker Mann. Er hustete jetzt viel und seine Backen waren oft fiebrig rot.
An einem Freitag wurden wir am frühen Nachmittag aus der Schule heimgeschickt, was etwas mit dem christlichen Feiertag, den sie Ostern nannten, zu tun hatte. Meine Freundinnen und ich mussten vor dem Zaun warten, bis unsere Rikschas kamen und uns nach Hause fuhren. „Es stimmt also!“, hörte ich eine männliche Stimme sagen. „Ich habe nämlich schon gehört, du würdest auch auf eine öffentliche Schule gehen.“ Ich drehte mich um und sah einen
Jungen, der mir irgendwie bekannt vorkam. Die hohen, geschwungenen Augenbrauen erinnerten mich an jemanden. „Erkennst du mich nicht?“, fragte er. Natürlich. Es war Liu Hanwei, mein früherer Verlobter. Meine Verwandten hatten mir schließlich nie verziehen, dass ich durch meine Weigerung, mir die Füße einbinden zu lassen, meine Chance vertan hatte, den Sohn der Familie Liu zu heiraten. Das letzte Mal hatte ich ihn während unserer Bootsfahrt auf dem Xuanwu-See gesehen. Jetzt, drei Jahre später, war er viel größer und seine Stimme hatte sich verändert, war tiefer geworden. Er wirkte deshalb viel älter. „Hallo Hanwei“, sagte ich leichthin und zeigte auf Xueyan. „Das ist meine Freundin Zhang Xueyan. Wir gehen zusammen in dieselbe Klasse.“ Hanwei lächelte. „Dann ist das deine Schule, Ailin? Wie gefällt es dir da?“ „Es ist richtig toll“, sagte ich. „Seitdem du mir erzählt hast, dass du auf eine öffentliche Schule gehst, wollte ich das auch.“ „Meine Schule ist dort, gerade die Straße da runter“, sagte Hanwei und deutete in die Richtung. „Wenn die Schulen so nah beieinander liegen, laufen wir uns vielleicht mal wieder über den Weg.“ Er wollte offensichtlich noch etwas hinzufügen, sagte aber dann nur noch: „Tut mir Leid, ich muss jetzt gehen.“ Er drehte sich um und ging rasch zu ein paar älteren Jungen, die auf ihn warteten. Xueyan blickte ihm neugierig nach. „Wer war das? Er schien sich für dich zu interessieren.“ „Lieber nicht“, sagte ich und versuchte, möglichst lässig zu wirken. Ich musste fast ein bisschen grinsen. „Wir waren mal verlobt, aber seine Eltern lösten die Verlobung, nachdem ich mich geweigert hatte, mir die Füße einbinden zu lassen.“ „Da ist dir nicht viel entgangen, wenn Hanwei so brav das tut, was seine Eltern sagen“, meinte Xueyan. „Es war seine Mutter, die entschieden hat, die Verlobung zu lösen,
stimmt’s?“ Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wer da entschieden hatte, aber als ich an Frau Lius Gesichtsausdruck bei Großmutters Totenfeier dachte, musste ich Xueyan wohl Recht geben. Hanwei schien noch immer an mir interessiert zu sein. Es war Frau Liu, die beschlossen hatte, dass große Füße inakzeptabel seien. In der Familie Tao hatte die letzte Entscheidung über Heirat und Verlobung immer bei Großmutter gelegen. „Chinesische Frauen haben schon immer eine Menge Macht gehabt, egal was Miss Scott sagt“, murrte Xueyan. Ich verstand da etwas nicht. „Wenn wir Frauen so mächtig sind, warum unterwerfen wir uns dann der Tortur, uns die Füße einzubinden? Männer müssen das nicht.“ Xueyan schüttelte den Kopf. „Wir machen das, weil unsere Mütter und Großmütter darauf bestehen.“ Ich erinnerte mich, dass es Mutter und Großmutter gewesen waren, die mich dazu bringen wollten. Es war Vater, der schließlich angeordnet hatte, damit aufzuhören. „Aber ich hab gedacht, es gefällt den Männern, wenn die Frauen eingebundene Füße haben.“ Mir fielen unsere Familienschule und der Lehrer ein, der so viel Zeit mit den Klassikern zugebracht hatte. „Konfuzius hat gesagt, dass sich die Frauen den Männern unterwerfen sollen. Eingebundene Füße machen uns hilflos und damit unterwürfig.“ „Zur Zeit von Konfuzius hatten die Frauen keine eingebundenen Füße!“, schnappte Xueyan. „Das fing erst viele hundert Jahre später an!“ Da Xueyan Expertin für Geschichte war, traute ich mich nicht, ihr zu widersprechen. „Warum versuchen dann Mütter immer weiter, ihren Töchtern diese Grausamkeit aufzuzwingen?“, fragte ich. „Vielleicht wollen sie, dass ihre Töchter denselben Schmerz erfahren, den sie selbst zu ertragen hatten“, sagte Xueyan.
Ich konnte es mir nur schwer vorstellen, dass meine Mutter so grausam war. Aber ich verstand immer noch nicht, warum die Mutter eines Jungen sich einmischte, wenn er doch selbst dazu bereit war, ein Mädchen mit großen Füßen zu heiraten. Ich wusste, dass Hanwei noch immer an mir interessiert war. Und merkwürdig: Auf Großmutters Beerdigungsfeier schien es sogar Frau Liu Leid zu tun, dass unsere Verlobung gelöst war. Aber warum hatte sie es dann getan? Wegen der Tradition? Meine Klassenkameradinnen mit eingebundenen Füßen gaben sich größte Mühe, mir das Gefühl zu geben, ich sei der Abschaum der Gesellschaft. Doch wer hatte das entschieden, dass große Füße unannehmbar wären? Konfuzius war es nicht gewesen, wenn Xueyan Recht hatte. Generationen von Mädchen hatten schauderhafte Schmerzen erleiden müssen, weil irgendjemand entschieden hatte, dass große Füße in den oberen Klassen der Gesellschaft völlig inakzeptabel wären. Es war höchste Zeit, dass jemand versuchte, diese Sinnlosigkeit zu stoppen. Ich war froh, dass Xueyan und ich zu denen gehörten, die als Erste rebelliert hatten.
Sechstes Kapitel
Vaters Krankheit war etwas, das ich in meinem Kopf nach ganz weit hinten zu verdrängen suchte. Ich wusste, dass er nicht mehr zur Arbeit ging, und versuchte mir einzureden, das läge am bürokratischen Unvermögen der Regierung, die zum Teil noch nicht richtig funktionierte. Aber es wurde immer schwieriger, die deutlichen Hinweise auf Vaters Lungenkrankheit nicht wahrzunehmen: die Hustenanfälle, die mit Blut in seinem Taschentuch endeten. Trotzdem fand er noch immer Zeit, mit mir zu reden. Er wollte unbedingt von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in der Schule wissen, besonders das Fach Weltgeschichte interessierte ihn. „Es ist noch nicht zu spät für unser Land, wenn immer mehr junge Leute etwas über die Welt draußen lernen“, bemerkte er, als wir in seinem Arbeitszimmer saßen. Ich erzählte ihm von Xueyans Streit mit Miss Scott. Vater lachte so herzlich, dass er einen neuen Hustenanfall bekam. Als er wieder sprechen konnte, wirkte er ganz sachlich. „Jetzt ist die Revolution sieben Jahre her. Wir haben immer noch Probleme mit dem Übergang vom Kaiserreich zur Republik. Wir müssen daraus lernen, wie andere Länder mit diesem Übergang fertig geworden sind.“ Ich war sehr stolz darauf, dass er mit mir wie mit einer Erwachsenen sprach. Aber ich ermüdete ihn. Mutter kam mit einer Tasse heißem Ingwertee. „Es ist besser, du trinkst das und ruhst dich etwas aus“, sagte sie zu Vater.
Fünf Monate danach, an einem Nachmittag im Winter, fand ich Zweite Schwester in meinem Zimmer vor, als ich nach Hause kam. Ich freute mich so sehr, sie zu sehen, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann sah ich ihren Gesichtsausdruck. „Was ist los, Zweite Schwester?“, fragte ich. „Ailin, weißt du eigentlich, wie krank Vater ist?“, fragte sie. „Ich weiß, dass er seit längerem nicht mehr arbeiten geht“, sagte ich. „Ich dachte, das sei, weil die Regierungsbehörden nach der Revolution immer noch nicht richtig funktionieren.“ Zweite Schwester blieb der Mund offen stehen. „Er spricht mit dir über die Regierungsbehörden?“ „Ich höre Vater und Großer Onkel immer zu, wenn sie beim Essen miteinander sprechen“, erklärte ich. „Ich glaube, ich habe nie auf die Unterhaltung der Männer geachtet“, sagte Zweite Schwester. „Ich habe immer gedacht, das geht mich nichts an.“ Wäre diese Erklärung von Mutter gekommen, hätte ich sie als Kritik verstanden. Doch auf dem Gesicht von Zweite Schwester sah ich Bedauern. „Ich war immer schon neugierig“, murmelte ich. „Alle sagen das.“ Gedankenverloren ließ große Schwester ihre Hand über die Tagesdecke meines Bettes gleiten. Dann sagte sie: „Ich bin zu Besuch, weil Vater sehr krank ist, Ailin.“ Ich musste schwer schlucken, bevor ich antworten konnte. „Ja, ich weiß.“ Zweite Schwesters Stimme bebte. „Ailin, du musst darüber nachdenken, was du machst, wenn Vater… wenn Vater nicht mehr da ist, um dir den Rücken zu stärken.“ Plötzlich war mir kalt und ich schlang die Arme um mich. „Du meinst, ich kann dann nicht länger auf die Schule gehen und danach studieren, um Lehrerin zu werden?“
„Es war Vater, der entschieden hat, dass du zur Schule gehst“, sagte Zweite Schwester. „Ich fürchte, wenn er nicht mehr da ist und das Schulgeld nicht mehr zahlen kann, musst du von der Schule gehen.“ Ich hatte nicht vergessen, wie Großer Onkel damals gesagt hatte, dass die Einkünfte von den Gütern der Familie abnähmen. Aber selbst wenn wir noch genauso reich wären wie früher, hätte Großer Onkel mich von der Schule genommen, wenn es nach ihm ginge. Das war mir klar. Und wenn Vater nicht mehr da war, würde Großer Onkel alle Entscheidungen über meine Zukunft treffen.
Fünf Wochen später starb Vater. Die Totenfeier war nicht so prunkvoll wie bei Großmutter, und ich empfand eine tiefe Verbitterung, als ich laut weinend mit meinen Schwestern und den anderen Frauen zusammenstand. Für Großmutters Totenfeier hatte Großer Onkel viel Geld ausgegeben, für die von Vater nun viel weniger. Es entsprach zwar der Tradition, dass ein Mann die Totenfeier seiner Mutter besonders aufwendig gestaltete, doch das machte meinen Ärger nicht geringer. Voller Hass starrte ich Großer Onkel an und verdammte ihn für seinen Geiz. Sein Gesicht schien zerfurchter und seine Schultern, sonst selbstgefällig gestrafft oder aggressiv vorgestreckt, wirkten ungewöhnlich schlaff. Da wurde mir plötzlich klar, dass Großer Onkel genauso traurig war wie ich. Ich konnte ihn aus vielen Gründen nicht leiden, doch ich musste widerstrebend zugeben, dass auch er Vater sehr geliebt hatte. Nach Beendigung der Trauerfeierlichkeiten kehrten meine Schwestern zu ihren Männern zurück und ich legte mein weißes Trauergewand ab. Noch am selben Nachmittag wurde ich zu Großer Onkel in seine Räumlichkeiten beordert. Die beiden Frauen von Großer
Onkel hielten sich im Empfangszimmer auf. Sie sprachen weich und freundlich mit mir, doch sie sahen mir nicht in die Augen. Nachdem sie Tee serviert und ein paar kandierte Erdnüsse auf den Tisch gestellt hatten, zogen sie sich schnell in einen hinteren Raum zurück. Großer Onkel verschwendete keine Zeit. „Du gehst nicht auf die Schule zurück“, sagte er. Mein Herz schlug heftig, aber ich versuchte, meine Angst zu verbergen. „Warum nicht?“, fragte ich. „Weil ich das sage!“, erwiderte Großer Onkel scharf. Mir gelang es, meine Lippen lächeln zu lassen. „Das habe ich auch immer gesagt!“ Nach einem Augenblick fügte ich hinzu: „Da war ich natürlich noch viel jünger.“ Großer Onkels Augen traten etwas hervor, aber sonst blieb sein Gesicht unbewegt. „Da du ja ständig die Gespräche der Erwachsenen belauschst, wirst du wissen, dass wir unnötige Ausgaben vermeiden müssen. Das Schulgeld ist eine unnötige Ausgabe.“ „Für dieses Schuljahr ist das Schulgeld schon bezahlt“, sagte ich. „Deshalb wäre es Geldverschwendung, jetzt mit der Schule aufzuhören. Du hast selbst gesagt, dass wir nichts verschwenden sollen.“ „Deine Unverschämtheit kommt daher, dass du auf die Schule der Ausländer gehst!“, schrie Großer Onkel. Ich zwinkerte heftig, damit mir die Tränen nicht hinunterliefen. „Vater hat gewollt, dass ich auf diese Schule gehe. Er ist gerade mal eine Woche tot und du willst jetzt schon gegen seinen Willen handeln?“ Großer Onkel versuchte nicht länger, seine Wut zu verbergen. „Ist dir eigentlich klar, dass ich das Oberhaupt der Familie Tao bin? Ich hätte sogar das Recht zu befehlen, dich zu erdrosseln und deinen Körper in ein Brunnenloch zu schmeißen!“ Ich fühlte, wie mir die Luft wegblieb und die Beine unter mir wegzusacken drohten. „Nein! Unter der neuen Regierung hast du dieses Recht nicht
mehr. Jetzt ist es verboten, ein Familienmitglied umzubringen. Und wenn du es tust, wirst du verhaftet wie ein Verbrecher.“ Großer Onkels Gesicht wurde dunkelrot, und einen Moment lang war ich sicher, er würde gleich die Hand heben und mich schlagen. Das war auch nach den neuen Gesetzen noch erlaubt. Während Großer Onkel nach Luft rang, hörte ich ein Rascheln hinter mir. Seine erste Frau winkte mich zu sich. „Du kommst besser mit in mein Zimmer und bleibst eine Weile bei mir. Wenn er in diesem Zustand ist, bist du hier nicht mehr sicher.“ Sie hatte Recht. Während ich ihr folgte, dachte ich, dass das hier sicher das Tapferste war, was diese schmächtige, verschüchterte Frau jemals gemacht hatte. Großer Onkel versuchte nicht, mich daran zu hindern, die letzten beiden Monate des Schuljahrs noch in die Schule zu gehen. Ich zählte jeden einzelnen kostbaren Tag, weil ich das Beste aus der Zeit machen wollte, die mir noch geblieben war. Ich lernte so intensiv wie nie zuvor. Mit Xueyan sprach ich über meine Situation zu Hause und sie erzählte es den anderen Schülerinnen. Bald hatten auch die Lehrer von dem Entschluss meines Onkels gehört, mich nicht länger auf die Schule gehen zu lassen. Eines Tages sprach mich Miss Gilbertson nach der letzten Stunde an. „Eileen, du bist die beste Schülerin, die ich jemals in Englisch unterrichtet habe. Du hast ein sehr gutes Gehör. Und deine Aussprache ist fast perfekt. Alles, was du noch brauchst, ist ein größerer Wortschatz. Ich weiß, dass du im nächsten Schuljahr nicht mehr zur Schule kommen kannst, aber ich würde dir kostenlosen Unterricht bei mir zu Hause geben. Ich kann einfach nicht mit ansehen, wie ein solches Sprachtalent vergeudet wird.“ Bei Miss Gilbertsons freundlichen Worten brach ich zusammen und fing hemmungslos an zu weinen, was ich bei den Angriffen von Großer Onkel niemals getan hatte.
Es war nicht das leichte, melodische Weinen der Totenfeiern, sondern ein schmerzhaftes Schluchzen, das in der Kehle kratzte. Schließlich kam ich mit einem letzten Schluchzen zum Ende und versuchte, mein tränenüberströmtes Gesicht mit dem Ärmel meines blauen Baumwolloveralls abzuwischen. „Hier, nimm das“, sagte Miss Gilbertson rau und hielt mir ein Taschentuch hin. Als ich mir das Gesicht abgewischt hatte und Miss Gilbertson das durchweichte Leinenknäuel geben wollte, lächelte sie und schüttelte den Kopf. „Du kannst das Taschentuch behalten, Eileen.“ Dieses Taschentuch, in das der Name Frances Gilbertson eingestickt ist, gehört bis heute zu meinen kostbarsten Schätzen. Nicht alle Lehrer waren so mitfühlend wie Miss Gilbertson. Miss Scott, glaube ich, hielt mich und Xueyan für Störenfriede. Sie wirkte fast froh darüber, dass zumindest eine von uns nicht wiederkam. „Du musst tun, was dein Vormund will“, sagte sie mit spitzen Lippen. „Bestimmt hat er deine Zukunft gut für dich geplant.“ Großer Onkels Pläne für meine Zukunft machten mir mehr Angst als alles andere sonst. Es war mir unmöglich zu erraten, was er im Sinn hatte, zumal er mich zu Hause mied, genauso wie ich mich bemühte, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich versuchte, von Mutter etwas zu erfahren, doch jedes Mal, wenn ich auf seine Absichten zu sprechen kam, traten ihr die Tränen in die Augen. Als sich das Ende des Schuljahrs näherte, verabschiedeten sich die Mädchen, die den Abschluss gemacht hatten, überschwänglich von den anderen. Einige deuteten kichernd an, dass von ihren Familien Hochzeiten für sie vorbereitet würden.
Jedes Mal, wenn Hochzeitspläne angesprochen wurden, verspürte ich einen Stich. „Kümmer dich doch nicht um sie“, sagte Xueyan. „Diese Mädchen sind hirnlose Dummköpfe, die glauben, ihr ganzes Leben würde nur mit einem Ehemann beginnen und enden.“ „Ich bin nicht neidisch“, sagte ich. „Ich habe Angst. Ich habe keine Ahnung, was für einen Mann mein Onkel für mich aussuchen wird.“ Xueyan sah mich aus den Augenwinkeln an. „Was ist mit dem Jungen, den wir letztes Jahr getroffen haben, der mal dein Verlobter war? Wie hieß der noch?“ „Liu Hanwei“, murmelte ich. „An den denk ich gar nicht mehr. Der gehört nicht mehr in mein Leben.“ „Also ich denke überhaupt nicht daran zu heiraten!“, erklärte Xueyan. „Ich werde Ärztin und verdiene mir meinen Lebensunterhalt selbst.“ Als ich das entschiedene Gesicht meiner Freundin sah, war ich überzeugt, dass sie das auch schaffen würde. Aber Xueyans Familie hatte ja auch schon zugesagt, ihr die weitere Ausbildung zu bezahlen, wenn sie den Abschluss der Macintosh-Schule hinter sich hätte. Am letzten Schultag fand eine allgemeine Schuljahrsund Schulabschlussfeier statt. Während ich den Ansprachen der besten Schülerinnen der Abschlussklasse zuhörte, wurde mir so richtig klar, dass ich niemals eins von diesen Mädchen auf der Bühne sein würde, die so bewegt, froh und stolz aussahen. Was den Tag für mich rettete, war die geflüsterte Botschaft von Miss Gilbertson: „Vergiss nicht, Eileen, wir fangen nächste Woche an. Ich erwarte dich bei mir zu Hause zum Privatunterricht.“
Das Ende des Schuljahrs war der Beginn eines heißen, feuchten Sommers. Nanking, das als einer der drei Öfen
Chinas bezeichnet wird, wurde eine Stadt voller Benommenheit und Lethargie. Sogar die Bettler sagten nichts und hielten den Passanten lustlos ihre Bettelschalen hin. Zu Hause schien niemand davon Notiz zu nehmen, wenn ich jeden Morgen aus dem Haupttor schlüpfte und mit der Rikscha wegfuhr, die mir Miss Gilbertson schickte. Ich hatte Mutter von dem Privatunterricht erzählt. Sie hatte nur mutlos den Kopf geschüttelt, aber keine Einwände gemacht. Wenigstens war sie wegen der Rikscha beruhigt. Ihre Tochter musste nicht wie eine Hausangestellte, eine Gauklerin oder ein Bauernmädchen durch die Straßen laufen. Ich war mir nicht sicher, ob Großer Onkel von dem Unterricht wusste. Er unternahm zumindest nichts dagegen. Zu Beginn der ersten Stunde wollte ich Miss Gilbertson meine Dankbarkeit ausdrücken. „Irgendwann finde ich eine Möglichkeit, Ihnen das wieder gutzumachen!“ „Ich mache das auch für mich“, sagte sie energisch. „Also spar dir die Höflichkeiten. Ich habe keine Zeit zu verlieren und du auch nicht.“ Sie ging zur Arbeit über und schlug ihr Buch auf. Nun arbeitete ich schwerer als je zuvor. Hier gab es keine langsameren Schüler, die uns aufhielten, und sobald ich einen Abschnitt durchhatte, nahm Miss Gilbertson den nächsten dran. Die Hitze war schrecklich. Einmal sah ich, wie Miss Gilbertson der Schweiß an der Nase entlanglief und auf den Tisch tropfte. Ich lachte, als ich merkte, dass es bei mir genauso war. Wir befanden uns beide wie in einer Art Rausch: sie durch die Freude daran, mich zu unterrichten, und ich durch die Freude am Lernen. Nach ein paar Wochen sprachen wir nur noch englisch.
Eines Tages wurde unser Unterricht durch Stimmen in der Diele unterbrochen. Ich hörte jemanden auf Englisch sagen: „Ich wusste gar nicht, dass Frances Privatunterricht gibt.“ Miss Gilbertson blickte auf. „Tut mir Leid, Eileen, aber wir müssen für heute aufhören. Eine alte Freundin von mir ist zu Besuch gekommen.“ Sie stand schnell auf und ging zur Tür. „Imogene! Komm rein! Ich möchte dir meine Spitzenschülerin von der Macintosh-Schule vorstellen.“ Eine große, blonde Frau kam ins Zimmer. Ich stand auf und wir schüttelten uns die Hand so, wie man es mir beigebracht hatte. „Das ist Eileen Tao“, sagte Miss Gilbertson. „Und das ist Imogene Warner. Die Warners sind alte Freunde von mir, die gerade von Schanghai nach Nanking gezogen sind.“ Das war meine erste Begegnung mit einem Mitglied der Familie Warner. Ich erfuhr dann von Miss Gilbertson, dass Mr. und Mrs. Warner beide Missionare waren, die rund sechs Jahre lang in Schanghai gelebt hatten und nun nach Nanking versetzt worden waren. Sie hatten zwei Kinder. Grace war sechs Jahre alt und Billy, der in China geboren worden war, fünf. Wie die anderen Missionare auch bekamen sie Heimaturlaub, wurden also von ihrer Arbeit beurlaubt, um nach Hause fahren zu können. Das Haus der Warners stand in San Francisco, einer riesigen Stadt an der Westküste der Vereinigten Staaten. All das erfuhr ich und merkte es mir, obwohl ich zu der Zeit noch gar nicht wissen konnte, wie wichtig die Warners für mich werden würden.
Siebtes Kapitel
Großer Onkel machte seinen nächsten Vorstoß an einem Spätsommerabend, als der erste kühle Hauch durch die Höfe wehte. Ich saß mit Mutter und Kleiner Bruder draußen und versuchte, meinem Bruder ein englisches Lied über zwei kleine blinde Mäuse beizubringen. Die Dienstmädchen alberten herum und sogar Mutter lächelte entspannt. Kleiner Bruder lachte so sehr, dass er vom Stuhl rutschte, rücklings auf dem Boden lag und mit den Beinen strampelte. Plötzlich hörten die Mädchen auf zu albern und ich sah Mutters Lächeln verschwinden. Eines der Mädchen von Großer Onkel kam durch das Tor des vollen Mondes. „Fräulein Drei, der Herr will dich sehen.“ „Ich komme mit dir, Ailin“, sagte Mutter mit leicht zitternder Stimme. „Der Herr sagt, Fräulein Drei soll alleine kommen“, sagte das Mädchen. Ich sah den Ausdruck auf Mutters Gesicht. „Geht es um meine Zukunft?“ Mutter nahm mich in die Arme. „Ein Heiratsvermittler hat mit ihm Kontakt aufgenommen.“ Sie schluckte hart. „Dein Vater ist tot, Ailin, und so bestimmt Großer Onkel über dein weiteres Leben. Bitte verärgere ihn nicht.“ Das Mädchen räusperte sich. „Der Meister wartet.“ Behutsam löste ich mich aus Mutters Umarmung. „Ich geh jetzt besser, bevor Großer Onkel noch wütender auf mich wird.“ Großer Onkel thronte im vorderen Zimmer und trank Tee. Er winkte mich auf einen Stuhl ihm gegenüber. Wie üblich verlor
er keine Zeit und kam gleich zur Sache. „Wir können nicht unbegrenzt eine Frau versorgen, die nichts zum Leben der Familie beiträgt.“ Ich wollte erklären, dass ich, würde er mich die Schule weiter besuchen lassen, Lehrerin werden und damit durchaus meinen Beitrag zum Unterhalt der Familie leisten könnte. Doch ich wusste, es war sinnlos. „Wie du weißt“, fuhr Großer Onkel fort, „haben die Lius deine Verlobung mit Hanwei gelöst.“ Daran musste ich nun wirklich nicht erinnert werden, denn das war ein ständig wiederkehrendes Thema in der Familie gewesen. Im Übrigen lag das nun schon Jahre zurück. „Mutter sagt, du hast Kontakt mit einem Heiratsvermittler“, sagte ich. „Wenn du mich nicht immer unterbrichst, kann ich es dir erklären.“ Großer Onkel schlürfte einen Schluck Tee und betrachtete das Muster der hauchdünnen Porzellantasse. Plötzlich merkte ich, dass ihm unbehaglich war. Das verstärkte nur meine böse Vorahnung. Dann räusperte er sich. „Der zweite Sohn der Familie Feng wünscht eine weitere Frau für seine Schlafkammer. Er hat schon zwei Frauen, aber die haben nur Mädchen geboren und die Familie ist nicht zu einem weiteren Heiratsvertrag bereit. Deshalb haben sie beschlossen, dass er sich eine Nebenfrau nehmen soll.“ Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Eine Nebenfrau war kaum besser als eine Sklavin, denn sie kam in den Haushalt ohne einen Ehevertrag und ohne den Austausch von Geschenken zwischen ihrer Familie und der Familie des Mannes. Sie hatte nicht die Rechte oder die Stellung einer Gattin, nicht einmal die einer zweiten Frau. „Wenn du das tust, bringst du Schande über die ganze Familie Tao!“ „Du bist wirklich die allerletzte Person, die mir vorwerfen kann, Schande über die Familie Tao zu bringen!“, schrie
Großer Onkel. „Durch deine Weigerung, dir die Füße einbinden zu lassen, hast du es uns unmöglich gemacht, eine angemessene Heirat für dich zu arrangieren.“ „Es gibt andere Dinge, die ich tun kann! Ich muss nicht so tief sinken und eine Konkubine werden!“ „Was denn zum Beispiel?“, verlangte Großer Onkel zu wissen. „Denkst du daran, einen Bauern zu heiraten? Bauersfrauen können ruhig große Füße haben, denn sie müssen sich auf den Feldern plagen. Einige unserer Pächter wären bestimmt froh, eine Frau zu haben, die tüchtig arbeiten kann.“ Plötzlich musste ich an meine Amah denken. Jahrelang hatte ich nicht an diese bemitleidenswerte kleine Frau gedacht. Nun fragte ich mich, was aus ihr geworden war. „Ich kann eine Amah werden“, erklärte ich. „Meine alte Amah hat die Stellung damals angenommen, weil ihre Familie zu arm war, um für sie zu sorgen.“ Großer Onkel knallte die Teetasse so hart auf den Tisch, dass sie zerbrach und der Tee über die Rosenholzplatte lief. Einige Augenblicke hörte man nur den Tee auf den Fußboden tropfen. Dann sagte Großer Onkel langsam: „Du kannst dir eine von drei Möglichkeiten aussuchen: Du wirst Nonne, die Frau eines Bauern oder die Nebenfrau der Familie Feng. Du hast die Wahl.“
Einige Tage lang sprach Großer Onkel kein Wort mehr über das Angebot der Familie Feng. Aber ich wusste, dass das kein Grund war aufzuatmen. Wer könnte mich schützen? Ich hatte kein Geld, nicht eine Kupfermünze. Ohne Vater hatten wir kein Einkommen außer dem, was Großer Onkel für angemessen hielt, uns zu geben. Mutter hatte noch etwas Schmuck, den sie verkaufen konnte, aber der würde für die Ausbildung von Kleiner Bruder gebraucht werden.
Es war so ungerecht! Alles Geld, das wir hatten, wurde für die Ausbildung der Jungen in der Familie ausgegeben. Denn Geld, das man für die Ausbildung von Mädchen ausgab, galt als verschwendet. Ich musste an Großer Onkels Söhne denken. Nachdem sie die Familienschule beendet hatten, wurden teure Privatlehrer eingestellt, die sie weiter unterrichteten. Und mit welchem Ergebnis? Einer der Söhne arbeitete als Sekretär im Zollamt, aber er war so schlampig und unfähig, dass ihm selbst die Beziehungen der Familie nicht zu der gewünschten Beförderung verhelfen konnten. Meine beiden Schwestern hatten außer der Familienschule keine Ausbildung und nun erwartete sie das beengte Leben einer Frau der besseren Gesellschaft. Die Stellung von Zweite Schwester war höher als die einer zweiten Frau oder gar einer Nebenfrau, doch mit einer kalten und barschen Schwiegermutter war ihr Leben bestimmt auch nicht viel glücklicher. Und ich selbst hatte eine nachsichtige Großmutter und einen liebevollen Vater gehabt. Manche würden sagen, dass gerade das mich verdorben hatte – für ein normales Leben verdorben. Was konnte ich denn ohne eine Ausbildung noch machen? Ob mir vielleicht meine Freundin Xueyan irgendwie helfen könnte? Ich hatte Xueyan zwar seit dem Ende des Schuljahrs nicht mehr gesehen, aber ich wusste, wo sie wohnte. Wenn Großer Onkel versuchen würde, etwas wirklich Abscheuliches zu tun, könnte ich meiner Freundin eine Nachricht schicken und damit sichergehen, dass zumindest die Zhangs davon wussten. Sie waren eine reiche Familie mit Einfluss und ihre Meinung zählte. Doch selbst wenn Xueyans Familie Großer Onkel offen kritisieren würde, konnte sie doch keinen rechtmäßigen Einspruch erheben, um ihn zu bremsen. Abgesehen davon wusste ich ja überhaupt nicht, ob Xueyans Eltern auf meiner
Seite stehen würden. Von alters her war der Selbstmord die stärkste Waffe, über die eine chinesische Frau verfügte. Immer wieder haben sich Frauen, denen zutiefst Unrecht getan wurde, selbst getötet. Auch wenn das Unrecht vor Außenstehenden geheim gehalten wurde, der wütende Geist der toten Frau würde den Täter verfolgen. Doch ich lehnte es ab, Selbstmord überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ich vertraute nicht genug darauf, dass mein wütender Geist zurückkommen und Großer Onkel verfolgen würde. Mir blieb nur ein Ausweg: als Amah zu arbeiten und die Kinder anderer Leute zu betreuen. Doch als ich das Mutter gegenüber erwähnte, seufzte sie. „Ailin, du musst wohlerzogen sein, um in einer vornehmen Familie als Amah zu arbeiten. Die Kinder sollen doch aus deinem Benehmen und Verhalten lernen.“ „Ich bin wohlerzogen! Ich bin noch immer Fräulein Tao! Nichts kann das ändern!“ Halb traurig, halb amüsiert schüttelte Mutter den Kopf. „Du zeigst keinen Respekt gegenüber deinen Eltern. Du redest zu viel. Und am schlimmsten ist, du hast große Füße.“ „Bin ich mit großen Füßen als Amah nicht erst recht geeignet?“ Ich konnte nicht glauben, dass die Leute so dumm waren. „Eltern brauchen doch eigentlich eine Amah, die hinter den Kindern herlaufen und sie einfangen kann. Meine ist nur immer hinter mir hergehoppelt und hat gejammert. Deshalb konnte ich ihr doch immer davonlaufen!“ „Wenn die Leute hören, wie stolz du darauf bist, deiner Amah davongelaufen zu sein, wollen sie bestimmt nicht, dass du ihre Kinder betreust.“
Miss Gilbertson war zwar eine Freundin, aber was konnte sie schon tun, um mir zu helfen? Sie war keine Verwandte und sie war eine Fremde, eine Ausländerin. Eines Tages, als der Sommer sich dem Ende zuneigte und das neue Schuljahr vor der Tür stand, sagte sie: „Eileen, es tut mir Leid, aber wir müssen bald mit dem Privatunterricht aufhören. Wenn die Schule wieder losgeht, habe ich keine Zeit mehr dafür.“ Ich versuchte, fröhlich zu antworten, doch meine Lippen zitterten und plötzlich verließ mich mein Englisch restlos. „Was ist los?“, fragte Miss Gilbertson. „Ich sage doch nicht für immer auf Wiedersehen! Wir können doch Kontakt miteinander halten.“ „Nein, das können wir nicht“, sagte ich. Dann sprudelte alles aus mir heraus. Ich erzählte Miss Gilbertson von den drei Möglichkeiten, vor die mich mein Onkel gestellt hatte: eine Konkubine zu werden, eine Nonne oder die Frau eines Bauern. „Von den drei Möglichkeiten ziehe ich die vor, einen Bauern zu heiraten und auf meinen großen Füßen in den Reisfeldern herumzustapfen. Vielleicht kann ich ja mit den Wasserbüffeln englisch reden.“ Miss Gilbertson wirkte schockiert. „Das sind die einzigen Möglichkeiten, unter denen eine anständige junge Frau wählen kann?“ „Mein Onkel hält mich nicht für anständig. Ich hab daran gedacht, eine Amah zu werden, aber meine Mutter sagt, die Leute der besseren Gesellschaft ziehen Frauen mit eingebundenen Füßen vor.“ „Warte mal“, sagte Miss Gilbertson. „Mir kommt da eine Idee. Kümmerst du dich gerne um Kinder?“ „Bei meinem kleinen Bruder mache ich das sehr gut“, sagte ich stolz. Miss Gilbertsons Gesichtsausdruck machte mir Mut. „Kennen Sie jemand, der eine Amah braucht? Eine mit großen Füßen?“
„Meine Freunde, die Warners, brauchen jemanden, der für ihre beiden Kinder sorgt“, sagte Miss Gilbertson langsam. „Im Moment haben sie eine chinesische Amah, aber die Kinder hören überhaupt nicht auf sie und tanzen ihr auf der Nase herum. Imogene Warner sagte mir, sie würde alles dafür geben, eine Amah zu haben, die englisch spricht.“ Der Name Warner kam mir bekannt vor, und dann fiel mir wieder ein, was Miss Gilbertson über ihre Freunde erzählt hatte. „Ich habe Mrs. Warner doch schon kennen gelernt, hier bei Ihnen.“ Miss Gilbertson lächelte. „Stimmt ja! Ich sage Imogene Warner jetzt gleich Bescheid und versuche, ein Treffen auszumachen.“ Offensichtlich war die Notlage der Warners so groß, dass sie mich schon gleich am nächsten Tag kennen lernen wollten. Miss Gilbertson brachte mich zu einem modernen, zweistöckigen Haus in einem Viertel mit breiten Straßen. Es kam mir sehr seltsam vor, dass ein Haus Räume direkt übereinander hat. Wenn man mit dem Fuß im ersten Stock aufstampfte, musste doch der Staub in die Reisschalen der Leute rieseln, die unter einem gerade zu Abend aßen! Sobald uns der Hausdiener eingelassen hatte, empfing uns ein großer, dünner Ausländer. Er hatte spärliches braunes Haar, aber dafür den buschigsten Schnauzbart, den ich je gesehen hatte. „Das ist so lieb von dir, Frances!“, sagte er und schüttelte ihr die Hand. Dann wandte er sich an mich. „Du bist also Eileen. Miss Gilbertson hat uns viel von dir erzählt.“ Ich streckte meine Hand aus. „Guten Tag, Mr. Warner.“ Mr. Warner strahlte. „Du kannst gut Englisch?“ „Ich hatte das Glück, Miss Gilbertson zur Lehrerin zu haben“, sagte ich. Einen Augenblick standen wir drei da und lächelten uns an, bis das Schweigen von einem Stampfen unterbrochen wurde, das über unseren Köpfen anfing und dann die geschwungene
Treppe herunterkam. Zuerst erschien Mrs. Warner, die ein Mädchen mit einem strahlend rosigen Gesicht und wippenden blonden Locken an der Hand hielt. Ein kleinerer Junge kam hinterher. Sein Gesicht war finster und seine stampfenden Schritte zeigten der Welt, dass er bereit war, gegen alles und jeden zu rebellieren. Ich erkannte sofort einen verwandten Geist in ihm. „Hallo, Eileen“, sagte Mrs. Warner. „Ich freue mich, dich wieder zu sehen. Das ist unsere Tochter Grace, sechs Jahre.“ Sie drehte sich um und versuchte, den Jungen nach vorne zu schieben, der ihr aber entwischte und sich hinter ihrem Rücken versteckte. „Und das ist unser Sohn Billy. Er ist fünf, benimmt sich aber manchmal, als ob er zwei Jahre alt wäre.“ „Kannst du dir vorstellen, unsere Amah zu werden?“, fragte Mr. Warner und schaute mich mit seinen hellblauen Augen leicht verzweifelt an. „Timothy“, flüsterte Mrs. Warner ihrem Mann zu. „Eileen scheint mir ein bisschen jung.“ „Wie alt bist du denn?“, fragte Mr. Warner. „Ich bin vierzehn“, sagte ich sofort. Miss Gilbertson hob die Augenbrauen, denn sie wusste, dass ich noch nicht ganz dreizehn war. Doch in China ist man bei seiner Geburt, mit dem Beginn des ersten Lebensjahres, ein Jahr alt und wird am Neujahrstag ein Jahr älter. Da ich im November geboren bin, galt ich schon als zwei Jahre alt, als ich noch keine drei Monate war. Und deshalb war es nicht einmal gelogen, als ich sagte, ich sei vierzehn Jahre alt. „Ich kann bei Chinesen das Alter nur sehr schlecht schätzen“, gestand Mrs. Warner. „Sie sehen immer viel jünger aus, als sie wirklich sind.“ „Vierzehn ist alt genug“, sagte Mr. Warner erleichtert. Er wandte sich an mich. „Wir würden uns sehr freuen, wenn du die Stelle einer Amah für Grace und Billy annehmen würdest.“
„Natürlich wirst du hier bei uns im Haus wohnen“, sagte Mrs. Warner. „Du kannst oben ein großes Zimmer ganz für dich alleine haben.“ Ich fühlte einen Stich in der Brust bei dem Gedanken, mein Zuhause zu verlassen mit seinen Höfen, seinen duftenden Olivenbüschen, dem Karpfenteich und den Mädchen, die tun mussten, was ich wollte. Doch in jedem Fall würde ich mein Zuhause verlassen müssen. Meine anderen Möglichkeiten waren, eine Konkubine bei den Fengs zu werden, in ein Kloster einzutreten oder in einem Bauernhaus mit Strohdach und Lehmwänden zu leben. Ich schluckte schwer. „Ja, ich wäre froh, wenn ich hier arbeiten könnte.“
Achtes Kapitel
Ich ging zu Großer Onkel, um ihm meinen Entschluss mitzuteilen. Dabei war ich so nervös, dass meine Beine zitterten wie Knochensülze. Sehr lebhaft erinnerte ich mich noch an unser Gespräch kurz nach Vaters Tod, bei dem er gedroht hatte, mich erdrosseln und in einen Brunnen werfen zu lassen. Auch meine trotzige Antwort hatte ich nicht vergessen, die nicht gerade dazu geeignet gewesen war, seine Wut zu besänftigen. Irgendwie schaffte ich es dann doch, ohne zu schwanken in seinen Hof und in sein Arbeitszimmer zu kommen. Dort saß er hinter seinem Tisch und wartete auf mich. „Ich habe mich entschieden, als Amah für eine amerikanische Missionarsfamilie zu arbeiten“, gab ich ohne Umschweife bekannt. „Von jetzt an werde ich dort wohnen.“ Anstatt vor Wut zu explodieren, sah mich Großer Onkel völlig ausdruckslos an. Einen Augenblick lang glaubte ich, er habe überhaupt nicht gehört, was ich gesagt hatte. Dann lächelte er – oder besser gesagt, er bleckte die Zähne. „Und ich habe gedacht, dass mich nichts mehr von dem überraschen könnte, was du tust. Es sieht ganz so aus, als hätte ich mich geirrt.“ Die Gelassenheit in seiner Stimme ermutigte mich, und ich traute mich, meinen Entschluss zu erklären. „Ich habe gedacht, es schadet dem Ruf der Familie weniger, als eine Konkubine der Fengs zu werden.“ Ich hatte einen Fehler gemacht. Was ich für Gelassenheit gehalten hatte, war mühsam beherrschte Wut. Großer Onkels Finger griffen nach dem Tintenstein auf seinem Tisch. Der war schwer und würde ein tödliches Geschoss abgeben. Doch dann löste er den Griff
wieder. Dass ihn das unbeschreibliche Mühe kostete, konnte ich an den Schweißtropfen auf seiner Stirn erkennen. „Ich habe deinen Vater geliebt“, sagte er mit erstickter Stimme. „Nur deshalb verlässt du dieses Zimmer lebendig.“ Mutter war die Nächste, der ich es erzählte. Wie ich erwartet hatte, war sie hell entsetzt. „Mit den Ausländern zu leben, ist etwas ganz anderes, als auf ihre Schule zu gehen, Ailin!“, rief sie. „Kannst du denn all das fremde Essen ertragen? Und schließlich wirst du noch ihre verrückten Kleider tragen, alle aus Wolle und schrecklich kratzig!“ Ich versuchte sie zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen, Mutter. Das Essen habe ich schon auf der Macintosh-Schule probiert und es ist mir bekommen. Und was die Kleider angeht, ich trage meine eigenen.“ Der Abschied von Kleiner Bruder fiel mir besonders schwer. „Warum gehst du weg, um auf die Kinder von anderen Leuten aufzupassen?“, fragte er. „Warum kannst du nicht hier bei mir bleiben?“ Ich sah ihm in die Augen, so wie Zweite Schwester mich immer angesehen hatte, wenn sie etwas Ernstes zu sagen hatte. „Kleiner Bruder, irgendwann müssen alle Mädchen von zu Hause weggehen. Nur Jungen dürfen bleiben. Manche Mädchen gehen in ein Kloster, doch die meisten gehen zu anderen Familien. Und bei mir hat es sich so ergeben, dass ich zu einer ausländischen Familie gehe.“ Kleiner Bruder wischte sich die Augen. „Kannst du mich besuchen kommen? Zweite Schwester kommt auch manchmal nach Hause.“ Ich wusste noch nicht, wie viel freie Zeit ich bei den Warners haben würde. Aber eines wusste ich: Wenn eine verheiratete Tochter zu Besuch nach Hause kam, wurde sie wie eine Kaiserin empfangen. Nichts war gut genug für sie. Ich hatte den Verdacht, dass Großer Onkel befehlen würde, mich schon
am Tor abzuweisen, wenn ich nach Hause käme. „Wenn ich es möglich machen kann, werde ich dich besuchen“, versprach ich. Der eigentliche Auszug war dann weniger schmerzhaft als das Abschiednehmen. Da mir Mrs. Warner gesagt hatte, in meinem Zimmer seien Möbel und Bettzeug, brauchte ich nur meine Kleider mitzunehmen und noch ein paar Sachen, die mir persönlich gehörten, wie Bücher, Stifte, Schreibpinsel, einen Tintenstein und den Reibstein. Alles passte in eine Lastenrikscha, ich selbst fuhr mit einer anderen. Als sie sich in Bewegung setzte, drehte ich den Kopf zur Seite, um nicht das Tor zum Heim meiner Familie sehen zu müssen.
Als ich mit meinem Gepäck ankam, waren Mr. und Mrs. Warner bei ihrer Arbeit. Der Hausdiener kam an die Tür und guckte nur verdrossen, als ich ihn bat, mir tragen zu helfen. Ohne zu antworten, drehte er mir den Rücken zu und bellte einem Mädchen ein paar Befehle zu. Die kam schnell, um mir zu helfen. Ich beschloss, gar nicht auf die Grobheit des Hausdieners zu achten. Was mich im Moment viel mehr beschäftigte, war die Frage, wie ich das mit den beiden Kindern schaffen würde, für die ich verantwortlich war. Ich wusste, dass Billy der Schwierigere von den beiden war, und ich hatte schon darüber nachgedacht, wie ich mit ihm auskommen könnte. Wie sich herausstellte, machte ich einen guten Anfang, als ich meine Habseligkeiten auspackte. Ich stellte gerade meine Schreibgeräte auf den Tisch in meinem Zimmer, als ich eine Stimme hörte. „Was sind das für Sachen?“ Ich drehte mich um und sah, wie sich zwei Köpfe durch die Tür streckten. Dann kamen Grace und Billy herein.
„Mutter hat gesagt, wir sollen dich erst auspacken lassen“, sagte Grace. „Aber wir wollen ohne die Erwachsenen mit dir reden.“ Billy zeigte auf den Tintenstein und die Steinreibe. „Was sind das für Sachen?“, fragte er noch einmal. „Die braucht man, um Tinte zu machen“, antwortete ich. „Wir haben schon Tinte“, sagte Grace. „Vater hat eine große Flasche davon. Wir dürfen sie nur nicht anfassen.“ „Das ist Tinte für chinesisches Schreiben mit dem Pinsel“, erklärte ich ihnen. „Dafür braucht man sehr dicke Tinte.“ Ich hatte eine Idee. „Grace, kannst du mir ein Glas Wasser holen? Ich zeig euch, wie man Tinte anreibt und chinesische Zeichen schreibt.“ Grace rannte los und kam gleich darauf mit einer Tasse Wasser zurück. Ich ließ ein paar Tropfen in die Vertiefung der Steinreibe fallen und fing an, den Tintenstein in dem kleinen Teich zu reiben. Dann ließ ich Grace und Billy abwechselnd den Tintenstein reiben, nachdem sie ganz ernst versprochen hatten, es langsam zu machen und nicht einen Tropfen zu verspritzen. Als sich eine kleine Lache dicker Tinte gebildet hatte, nahm ich die Kappe von einem Pinsel ab, tauchte ihn hinein und schrieb langsam die Zeichen für Berg und Fluss. „Immer wenn ihr besonders lieb seid“, versprach ich, „lass ich euch Tinte machen und eines von diesen Zeichen schreiben.“ Die Kinder sahen mich mit großen Augen an. Aus eigener Erfahrung vermutete ich, dass sie bestimmt schon oft von den Erwachsenen auf diese Weise bestochen worden waren. Aber bestimmt hatte man ihnen noch nie versprochen, ihnen chinesische Schriftzeichen beizubringen.
Mein Leben als Amah war viel schwerer, als ich mir vorgestellt hatte. Von meiner eigenen Amah war nur erwartet worden, dass sie mich anzog, herumfuhr und darauf achtete, dass mir nichts passierte. Die Warners aber wollten, dass ich ihre Kinder auch unterrichtete. Die Vormittage waren für Unterricht vorgesehen, einschließlich Lesen und Schreiben. „Als uns Frances Gilbertson erzählte, was für eine ausgezeichnete Schülerin du warst“, sagte Mrs. Warner zu mir, „waren wir froh, dass du Grace und Billy auch unterrichten kannst.“ Da ich mich nicht zu erklären traute, dass ich noch nie im Leben jemandem Unterricht gegeben hatte, nahm ich widerspruchslos die Schulbücher in Empfang. Mit ihren bunten Bildern und der großen Schrift unterschieden sie sich sehr von den Büchern, die ich in der Macintosh-Schule benutzt hatte. Wenigstens waren sie in einfachem Englisch geschrieben. Grace las ich die Abschnitte vor, die sie dann wiederholen musste. Billy musste ich erst das Alphabet beibringen, und er war ein sehr unruhiger Schüler, ganz anders als Kleiner Bruder, obwohl beide gleich alt waren. Kleiner Bruder gab sich schnell mit einer Erklärung zufrieden und war leicht zu unterhalten. Bei Billy musste ich meinen ganzen Einfallsreichtum aufwenden. Da ich meine eigene rebellische Art in dem Jungen wieder erkannte, versuchte ich mir vorzustellen, wie ich selbst jeweils reagiert hätte. Manchmal funktionierte das. Das beste Mittel, Billy zur Ruhe zu bringen, war, ihm Geschichten vorzulesen oder zu erzählen. Ich mochte Geschichten, in denen viel passierte, und die mochte auch Billy am liebsten. So erzählte ich ihm von den Gesetzlosen der Sümpfe, einem Buch über eine Bande von 108 Gesetzlosen, die gegen bestechliche Regierungsbeamte kämpften. „Ich mag die Stelle, wo Wu Song den Tiger tötet!“, schrie Billy, der die blutrünstigen Geschichten am liebsten hatte.
Meine eigenen Lieblingsgeschichten stammten aus dem Klassiker Die Reise nach Westen über den Affenkönig, der den Priester Xuan Zang auf der Pilgerreise nach Indien begleitete. Die Geschichten waren voller Zauberei und dämonischer Geister und natürlich passierte viel in ihnen. Das Dumme war nur, dass diese Geschichten Billy manchmal, statt ihn zu beruhigen, eher noch aufgeregter werden ließen. Was mir an meiner Arbeit nicht gefiel, war die Tatsache, dass ich den Kindern voll und ganz zur Verfügung stehen musste. Was ich auch tat, ich musste es sofort unterbrechen, wenn eines der Kinder meine Aufmerksamkeit brauchte. Ich war nicht in der Position zu sagen: „Stör mich jetzt nicht wegen diesem Unsinn!“ Und wenn ich daran dachte, wie oft meine Amah das wohl gerne gesagt hätte, bekam ich ein ganz schlechtes Gewissen. Doch auf die Kinder aufzupassen, war noch am einfachsten. Ich musste mich auch an einen ganz anderen Lebensstil gewöhnen. Bei den Warners hatte ich niemanden mehr, der mir etwas brachte oder Besorgungen für mich erledigte. Es war sofort zu merken gewesen, dass die Dienerschaft meine Anweisungen nicht befolgen würde. Der Hausdiener machte mir das auf seine Weise klar. Vom ersten Tag an wusste ich, dass er sich über mich ärgerte und mich nicht mochte. Er war ein dünner Mann in den Vierzigern und er gab dem chinesischen Hauspersonal die Anweisungen. Es brauchte eine Weile, bis ich dahinter kam, warum er sich über mich ärgerte. Mr. Warner sprach nur ein bisschen chinesisch und Mrs. Warner überhaupt nicht. Der Hausdiener, der etwas Englisch verstand, leitete den Haushalt und hielt sich selbst für das entscheidende Verbindungsglied zwischen den Warners und der Dienerschaft. Mein Eintreffen bewertete er als eine Gefährdung seiner Macht, und ich sah oft, wie er mich düster
anstarrte. Wann immer ich einen Fehler machte, und das passierte oft in meinen ersten Tagen als Amah, konnte ich sehen, wie er zufrieden grinste. Aber das Schwierigste überhaupt war der Versuch, das Leben einer Ausländerin zu führen. Drei Monate nach meinem Einzug bei den Warners merkte ich, dass ich langsam aus meinen Kleidern herauswuchs. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Zu Hause war meine Kleidung auf Bestellung angefertigt worden, doch keines der Mädchen bei den Warners war eine Näherin. Mrs. Warner machte einen Vorschlag. „Wir lassen unsere Kleidung von einem Schneider in der Stadt nähen. Warum lässt du dir nicht ein paar westliche Kleider machen, Eileen?“ „Ja, ja, Eileen!“, rief Grace. „Ich möchte sehen, wie du amerikanische Kleider trägst!“ Von dem Geld, das mir die Warners zahlten, bestellte ich mir eine Grundgarderobe aus ganz ähnlichen Kleidungsstücken, wie sie Mrs. Warner trug, allerdings aus einfacherem Stoff und mit kürzeren Röcken. Ich war gewohnt, lange Hosen unter einer Tunika zu tragen, und nun fühlten sich die dicken Strümpfe seltsam an. Sie waren auch sehr unbequem zu befestigen, stellten sich aber als schön warm heraus, als das Wetter kälter wurde. Essen war ein weiteres Problem. Die erste gemeinsame Mahlzeit mit der Familie Warner fand an einem Sonntag statt – aber nicht am Abend, sondern mitten am Tag! Wir aßen alle zusammen und ich saß mit ihnen an dem langen, rechteckigen Esstisch. Bevor serviert wurde, sprach Mr. Warner ein Gebet zum Dank, dass das Essen geschaffen worden war, und endete mit dem Wort Amen. Um es auf jeden Fall richtig zu machen, sagte ich auch „Amen“. Mr. und Mrs. Warner strahlten beide, als sie mich das sagen hörten.
Nach dem Gebet sah ich genauer auf den Teller vor mir. Darauf lagen etwas Gemüse und ein großes Stück Fleisch. Einen Moment lang glaubte ich, ich sollte das für alle in Stücke teilen. Hatte ich auch Küchenarbeit zu übernehmen? Aber warum das erst auf dem Esstisch machen? „Magst du kein Rindfleisch, Eileen?“, fragte Mrs. Warner, als ich nicht gleich mein Essbesteck aufnahm. „Doch“, sagte ich, obwohl ich Schweinefleisch lieber mochte. Schnell nahm ich Messer und Gabel auf, wie wir es in der Schule gelernt hatten. Dann sah ich, dass auf jedem Teller so eine Scheibe Fleisch lag, nur die auf den Tellern der Kinder waren etwas kleiner. Mrs. Warner nahm ihr Messer und schnitt das Fleisch auf Billys Teller in Stückchen. Erst jetzt wurde mir klar, dass für jeden eine ganze, dicke Scheibe gedacht war! Ich nahm all meine Kraft zusammen, um die Portion auf meinem Teller aufzuessen. Ich war froh, dass nur sonntags so große Fleischportionen auf den Tisch kamen. Meistens gab es chinesisches Essen, das die Warners auch gerne mochten, wie sich zu meinem Glück herausstellte. Normalerweise aß ich oben mit den Kindern in einem Zimmer. Als mir Grace zum ersten Mal sagte, ich würde zusammen mit ihr und Billy essen, beschloss ich, diese Zwanglosigkeit zu genießen. Doch dann bekam ich zufällig ein Gespräch zwischen dem Hausdiener und einem der Dienstmädchen mit. Ich saß mit Grace und Billy an einem kleinen Tisch, als ich den Hausdiener mit dem Mädchen in der Eingangshalle sprechen hörte. „Warum soll sie denn nicht mit den Kindern essen?“, sagte er. „Sie ist auch nur eine Hausangestellte. Und noch was: Ich habe gehört, wie du sie mit Fräulein Tao angeredet hast. Das ist nicht nötig.“ „Aber sie ist wohlerzogen und kommt aus gutem Hause“, protestierte das Mädchen. „Ich finde es nicht richtig, sie wie unseresgleichen zu behandeln.“ Der Hausdiener und das
Mädchen hatten sich nicht bemüht, leiser zu sprechen. Sie waren so daran gewohnt, offen und laut auf Chinesisch reden zu können, weil sie wussten, dass die Warners sie praktisch nicht verstehen konnten. „Was ist los, Eileen?“, fragte Grace, die mir die Kränkung anmerkte. „Isst du nicht gerne hier mit uns?“ „Doch, natürlich tu ich das“, sagte ich schnell, aber mein Gesicht brannte und ich empfand die unterschiedlichsten Gefühle. Seit langem hatte mich niemand mehr wohlerzogen genannt, genauer gesagt, seitdem ich mich geweigert hatte, mir die Füße einbinden zu lassen. Aber es tat weh zu wissen, dass die Dienerschaft mich als eine von ihnen einschätzte. Ob sich meine erste Amah auch so gefühlt hatte, als sie bei uns anfing? Die Diener waren nicht die Einzigen, die nicht daran dachten, leiser zu sprechen. Auch Mr. und Mrs. Warner waren gewohnt, von Menschen umgeben zu sein, die kein Englisch verstanden. „Ich habe gesehen, wie Eileen Grace und Billy gezeigt hat, wie man mit einem Pinsel schreibt“, sagte Mrs. Warner eines Abends, als die Kinder im Bett waren. Die Warners saßen unten im Wohnzimmer, aber ihre Stimmen waren bis nach oben zu hören, und ich konnte jedes Wort verstehen, da meine Zimmertür offen stand. „Und was stört dich daran?“, fragte Mr. Warner. „Timothy, ich will nicht, dass die Kinder eine heidnische Sprache lernen“, sagte Mrs. Warner. „Die Zeit könnte sie auch dazu verwenden, Billy Englisch lesen und schreiben beizubringen.“ Ich stand leise auf und machte die Tür zu. Ich wollte nichts mehr hören. Was war denn falsch daran, Kindern das Schreiben mit einem Pinsel beizubringen? Sie mochten es, besonders Billy, und er benahm sich viel besser, wenn er als Belohnung mit dem Pinsel schreiben durfte. Im Geschichtsunterricht an der Macintosh-Schule hatte Miss Scott das Wort heidnisch benutzt, um damit „unzivilisierte
Stämme mit seltsamen Religionen“ zu beschreiben. Was hatten die mit der chinesischen Schrift zu tun? Einige Wochen später hörte ich das Wort heidnisch wieder. Ich wusste, dass die Warners an dem Tag, den die Fremden Sonntag nannten, alle zu einem „Dienst“ ausgingen. Ich wusste nicht, um was für einen Dienst es sich handelte, aber sie waren immer gut angezogen. Wenn sie zurückkamen, aß die ganze Familie einschließlich mir das Sonntagsessen. An einem dieser Sonntage bat mich Mr. Warner, mit ihm alleine nach dem Essen etwas zu besprechen. Ich folgte ihm in den Raum, den er „Bibliothek“ nannte. Dort standen Bücherregale, gefüllt mit muffigen, in Leder eingebundenen Büchern. Der Gedanke, dass die mit der Haut von toten Tieren gebunden worden waren, empörte mich anfangs, doch ich musste mir auch eingestehen, dass ich mich an meine neuen Schuhe, die aus Schweinsleder waren, immer mehr gewöhnte. Ich war nervös. Hatte Mr. Warner vor, mich fortzuschicken, weil er erfahren hatte, dass ich zwei Jahre jünger war als von ihm angenommen? Oder weil ich Grace und Billy beigebracht hatte, mit dem Pinsel zu schreiben? Mr. Warner bedeutete mir, mich in den Sessel ihm gegenüber zu setzen. Er faltete die Hände und sah mich ernst an. „Eileen, du hast den Kindern bisher sehr gut getan. Sie benehmen sich besser und sie scheinen auch besser zu lernen.“ Ich kannte diesen Ton. Mr. Warner würde mich gleich wegen irgendetwas kritisieren. Gestern war Billy vom Bett auf den Boden gesprungen, während ich ihm die Geschichte erzählte, wie der Affenkönig durch die Luft geflogen war. Mr. und Mrs. Warner waren zu dem Zeitpunkt nicht im Haus gewesen, aber der Hausdiener konnte ihnen von dem Gepolter erzählt haben. Mr. Warner fuhr fort: „Wir wissen es zu schätzen, dass du Grace und Billy chinesische Volksmärchen erzählst. Doch Mrs. Warner und ich haben den Eindruck, diese Zeit würde
besser für westliche Geschichte und Literatur verwendet, Bereiche, die für den eigenen kulturellen Hintergrund der Kinder von größerer Bedeutung sind.“ „Ich dachte, Grace und Billy würden gerne auch mal eine andere Art von Geschichten hören“, sagte ich. „Ich selbst liebe Geschichten aus anderen Ländern.“ Mr. Warner runzelte die Stirn. „Bitte lass mich weiterreden. Die Volksmärchen sind nicht das Problem. Was uns viel mehr missfällt, ist, dass du über Konfuzius gesprochen hast.“ Ich hatte Konfuzius erwähnt, als die Kinder mich nach meiner eigenen Schule gefragt hatten. Ich hatte die Klassiker beschrieben, die ich in der Familienschule gelernt hatte. „Meister Konfuzius hat gesagt, dass Herrscher wegen ihrer Tugenden gewählt werden sollten und nicht wegen Herkunft oder Rang“, hatte ich Grace und Billy erzählt. Ich verstand nicht, was Mr. Warner dagegen einzuwenden haben könnte. „Warum sollen die Kinder nichts über Konfuzius hören?“, fragte ich. „Die Religion des Konfuzius ist eine heidnische Religion!“, sagte Mr. Warner. Seine hellen Augen wirkten angespannt. „Ich will nicht, dass Grace und Billy – “ „Der Konfuzianismus ist keine Religion“, sagte ich. „Mein Lehrer sagte, er ist eine Philosophie.“ „Unterbrich mich nicht!“, schnappte Mr. Warner. „Konfuzianismus bedeutet auch Götzendienst…“ Und so ging es einige Zeit weiter. Nach einer Weile hörte ich ihm nicht mehr zu. Ich fühlte mich elend. In Mr. Warners Stimme lag etwas so Bekanntes, nur dass ich es das letzte Mal von jemandem gehört hatte, der chinesisch sprach: von Großer Onkel. Keiner der beiden Männer konnte es ertragen, von einem eigenwilligen Mädchen unterbrochen zu werden. Als Mr. Warner fertig war, nickte ich demütig und ging hoch in
mein Zimmer. Dort holte ich mein Wörterbuch hervor und schlug unter „Götzendienst“ nach. Als ich die Begriffserklärung las, dröhnte mir der Kopf vor Empörung. Von klein auf hatte ich von der Weisheit des Meister Konfuzius gehört, der glaubte, dass ein Land mit Güte und nicht mit Gewalt regiert werden müsse. Und das sollte zum Götzendienst führen? Großvater hatte oft gesagt, er sei Konfuzianer, und er war einer der gelehrtesten Leute, die ich je kennen gelernt habe. Aber nach Mr. Warners Meinung war er der Anhänger einer Lehre, die barbarisch und unzivilisiert war. Zum ersten Mal verstand ich, welchen Preis ich für meine Rebellion bezahlte. Von meinen eigenen Leuten war ich verbannt worden, und ich hatte eine Welt betreten, die das verachtete, was ich gelernt hatte wertzuschätzen.
Neuntes Kapitel
Während der beiden nächsten Jahre bei den Warners lebte ich fast ganz als Eileen und nur selten kam das Mädchen Ailin zum Vorschein. Miss Gilbertson war die einzige Verbindung zu meiner Vergangenheit. Gelegentlich kam sie die Warners besuchen und einmal lud sie mich sogar zu einer Party ein, die sie für ihre Schüler gab. Auch Xueyan war dort. Sie und meine anderen alten Klassenkameradinnen wieder zu treffen, war schön und bitter zugleich, wobei das Bittere überwog. Xueyan und ich hielten uns an der Hand, doch es fiel uns schwer, miteinander zu sprechen. Ich bin nie wieder zu einer von Miss Gilbertsons Einladungen gegangen. Meine Familie sah ich überhaupt nicht. Am ersten Neujahrstag bei den Warners war ich fast so weit, doch einen Besuch zu Hause zu machen. Neujahr war immer eine wilde Zeit für junge Leute, eine Zeit, in der man sich vor den älteren Verwandten verbeugte, Geldgeschenke von ihnen erhielt und sich mit den Köstlichkeiten, die es dann immer gab, die Bäuche voll schlug. Doch die beiden älteren Verwandten, die ich am meisten liebte, gab es nicht mehr. Und allein die Vorstellung, bereits am Tor auf Großer Onkels Anweisung hin abgewiesen zu werden, war so schmerzlich, dass ich dem Wohnsitz der Familie Tao fernblieb. Nach einem halben Jahr schienen Mr. und Mrs. Warner ihre Befürchtung losgeworden zu sein, eine Götzenanbeterin unter ihrem Dach zu beherbergen. Bei den Mittagessen am Sonntag sagte ich nach dem Tischgebet immer „Amen“, und das half wohl, sie darin zu bestärken.
Mit Grace und Billy sprach ich nicht mehr über Konfuzius, aber ich erzählte ihnen weiterhin die spannendsten chinesischen Geschichten, die ich kannte – wenn ich sicher war, dass ihre Eltern es nicht hörten. Als ich etwa ein Jahr bei ihnen war, zeigten die Warners ganz deutlich, dass sie über die Art, wie ich mit den Kindern umging, glücklich waren. Jedes Mal, wenn Miss Gilbertson vorbeikam, dankten sie ihr dafür, mich ihnen empfohlen zu haben. Mehr als einmal sagte Mrs. Warner zu mir: „Ich weiß nicht, wie du es anstellst, Eileen, aber Billy hat sich in letzter Zeit so gut gemacht.“ Nach ihrem Umzug nach Nanking war er nämlich sehr schwierig geworden. Alle seine Freunde waren in Schanghai geblieben, und Langeweile und Einsamkeit hatten ihn ganz unglücklich und zugleich unausstehlich gemacht. Eines der Mädchen erzählte mir zum Beispiel, dass er Küchenschaben gefangen und in den Reistopf geworfen habe, sie aber habe sich nicht getraut, es Mr. oder Mrs. Warner zu melden. Als ich das hörte, musste ich ein Lachen unterdrücken, weil mich das daran erinnerte, wie ich Regenwürmer in die Nudelschale meiner Amah gelegt hatte. Ich gab mir viel Mühe, damit die Kinder beschäftigt und interessiert blieben, und so hatte Billy wenig Zeit, sich neue Streiche auszudenken. Die Dienerschaft war mir dankbar, dass ich ihr Leben dadurch einfacher machte. Der Einzige, der sich mir gegenüber nach wie vor feindselig verhielt, war der Hausdiener.
Nach rund zwei Jahren ohne größere Missgeschicke hatte ich offensichtlich das Vertrauen von Mr. und Mrs. Warner gewonnen. Das bewiesen sie mir eines Tages. „Wir werden zwei Nächte fort sein, Eileen“, sagte Mrs. Warner. Ihre Stimme klang fröhlich, wenn auch ein Hauch von
Ängstlichkeit mitklang. „Diese innere Einkehr ist wichtig für uns.“ „Wir haben Vertrauen in deine Fähigkeiten“, sagte Mr. Warner. „Du hast großes Geschick im Umgang mit den Kindern gezeigt.“ Mr. Warner war keiner, der mit Schmeicheleien um sich warf, und ich wusste, er meinte es ernst. Mr. und Mrs. Warner fuhren nach Suzhou zu etwas, das sie eine „Einkehr“ nannten. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber ich vermutete, es hatte etwas mit ihrer Religion zu tun. Mr. Warner sagte, Missionare würden sich regelmäßig zurückziehen, um dann geistig erfrischt zu ihren Pflichten zurückzukehren. Doch irgendwie vertraute Mr. Warner mir wohl nicht vollständig. „Nur für den Fall, dass irgendetwas passiert“, fügte er noch hinzu, „weiß der Hausdiener, was zu tun ist. Er leitet unseren Haushalt schon sehr lange.“ Ich ging davon aus, dass die beiden Kinder, nachdem ihre Eltern fort waren, meine Autorität testen würden und ausprobieren, wie weit sie gehen konnten. Jedenfalls hätte ich das unter diesen Umständen getan. „Wenn unsere Eltern Ferien machen, können wir das doch auch“, schlug Grace vor. „Wir können den Unterricht doch für ein paar Tage ausfallen lassen.“ Da das genau das war, was ich erwartet hatte, hatte ich meine Antwort schon parat. „Eure Eltern machen keine Ferien, sondern sie fahren zu einer Einkehr. Das ist etwas ganz anderes.“ Ich vermutete, dass die Kinder ebenso wenig wie ich wussten, was eine Einkehr war. Grace gab nach einigem Murren auch nach. Nun wartete ich auf weiteren Widerstand von Billy, der immer der Widerborstigere und Raffiniertere der beiden war, aber er überraschte mich dadurch, dass er überhaupt keine Einwände äußerte.
Der erste Tag verlief außerordentlich friedlich. Ich konnte Grace einen Abschnitt aus einem Buch über englische Geschichte vorlesen, ohne von Billy unterbrochen zu werden. Als er mit dem Unterricht an der Reihe war, sagte er ganz ruhig die Wörter auf, die er hatte lernen sollen. Da er eine schnelle Auffassungsgabe hatte, war ich nicht verblüfft darüber, dass er die Wörter so schnell gelernt hatte, sondern über die völlig ausdruckslose Stimme, mit der er sprach. Der nächste Tag begann genauso ruhig, wieder ohne die üblichen Versuche Billys, den Unterricht zu stören. Beim Mittagessen aß er nur eines von den Fleischbällchen, die eigentlich zu seinen Lieblingsessen gehörten. Als ich sah, wie müde er war, schlug ich ihm einen Mittagsschlaf vor, und zu meiner Überraschung stimmte er zu. Sogar Grace blieb der Mund offen stehen, als sie sah, wie ihr Bruder gehorsam die Treppe hoch in sein Zimmer ging. Als ich am späteren Nachmittag auf Zehenspitzen in sein Zimmer schlich, schlief er noch immer. Aber es war kein erholsamer Schlaf. Er warf sich herum und stöhnte leise. Ich befühlte seine Stirn und erschrak: Billy glühte vor Fieber. „Er ist krank, oder?“, flüsterte Grace, die in der Tür stand. „Ja, wir müssen sofort etwas unternehmen!“, antwortete ich. Aber was? Ich dachte an Großmutter und Vater und für einen Augenblick überfiel mich Panik. Ich hatte schon zwei Leute verloren, die mir lieb waren. Ich konnte Billy doch nicht auch noch sterben lassen! Als ich Graces weißes, erschrecktes Gesicht sah, zwang ich mich zur Ruhe. Schnell lief ich nach unten und rief den Hausdiener. „Herr Billy ist sehr krank!“ Ich brauchte einen Augenblick, um wieder normal sprechen zu können, aber ich wusste, dass ich keine Panik zeigen durfte. „Wir brauchen einen Arzt. Kennst du einen guten?“ Der Hausdiener runzelte die Stirn. „Herr und Frau Warner haben immer ihren eigenen Arzt
gerufen. Er ist Amerikaner, aber ich weiß seinen Namen nicht.“ Ich nahm an, dass er den Namen auch dann nicht wieder erkennen würde, wenn er ihn hörte. Westliche Namen waren schwer auszusprechen und noch schwerer zu behalten. Ich versuchte zu überlegen, was wir bei mir zu Hause getan hätten. Der Arzt der Familie Tao war ein berühmter Fachmann für chinesische Medizin, aber alle sprachen ihn nur mit Meister Arzt an und ich hatte nie seinen richtigen Namen gehört. Während ich Grace beruhigte, die ihre Schluchzer kaum unterdrücken konnte, dachte ich fieberhaft nach. Ich konnte nach Hause gehen und Mutter nach dem Namen des Arztes fragen. Ich hatte ja das Geld, das ich bei den Warners verdient hatte, und konnte mir eine Rikscha mieten. „Ich muss einen Arzt holen“, sagte ich dem Hausdiener. „Bitte rufe mir eine Rikscha.“ Der sah mich einen Augenblick an. „Ja, Fräulein Tao“, sagte er dann. „Sofort.“ Erst als die Rikscha schon ein ganzes Stück vom Haus entfernt war, wurde mir bewusst, dass der Hausdiener mich mit Fräulein Tao angeredet hatte. Aber jetzt blieb keine Zeit, diesen kleinen Triumph zu genießen. Nanking war keine große Stadt und die Fahrt von den Warners bis zu unserem Haus konnte keine fünfzehn Minuten gedauert haben, doch mir kamen sie wie Stunden vor. Ich fühlte, wie mein Herz schneller schlug, als die Rikscha in die vertraute Straße einbog und vor dem Tor hielt. Der Rikschafahrer pochte an das Tor, während ich mit weichen Knien ausstieg. Als der grauhaarige Torwächter öffnete, holte ich tief Luft. „Lao Wang, erinnerst du dich an mich?“ Der Torwächter starrte mich an. „Fräulein Drei?“, sagte er heiser. „Ich brauche einen Arzt, Lao Wang“, sagte ich. „Ist meine Mutter zu Hause?“
Der Torwächter schüttelte den Kopf. „Sie ist auf Besuch bei Fräulein Zwei – nur heißt sie jetzt ja Frau Chen. Aber der Herr ist zu Hause. Soll ich ihm sagen, dass Sie hier sind?“ Großer Onkel um Hilfe zu bitten, war das Letzte, was ich wollte. Ich beschloss, zum Haus von Zweite Schwester zu fahren. Mutter oder Zweite Schwester würden mir helfen können. Ich hatte Zweite Schwester nie in ihrem neuen Zuhause bei den Chens besucht. Es war nur zehn Minuten entfernt, doch wieder schien die Fahrt Stunden zu dauern. Der Rikschafahrer hielt vor dem mir unbekannten Tor und klopfte. Der Torwächter öffnete und starrte mich an. Die Feindseligkeit in seinen Augen erschreckte mich. „Mit Ausländern wollen wir hier nichts zu tun haben!“, knurrte er wütend und schlug mir das Tor vor der Nase zu. Vor Verblüffung war ich wie gelähmt. Schließlich räusperte sich der Rikschafahrer. „Sollen wir es noch woanders versuchen, junges Fräulein?“ Langsam kletterte ich zurück in die Rikscha. Wieso hielt mich der Torwächter für eine Ausländerin? Dann wurde mir klar, dass ich ja ausschließlich westliche Kleidung trug. Aber er hätte doch an meinem Gesicht erkennen können, dass ich eine Chinesin war! Doch vielleicht hatte er noch nie zuvor eine Fremde gesehen und nun ausschließlich nach meiner Kleidung geurteilt. In diesem Moment wollte ich mich verkriechen und nur noch weinen. Bei den Warners war ich eine Chinesin und eine Heidin. Von Zweite Schwesters Haus wurde ich als Ausländerin fortgeschickt. Ich blickte auf die schlammfarbenen Wände zu beiden Seiten der Straße, ein Anblick, den ich seit meiner Kindheit gewohnt war. Innerhalb solcher Mauern hatte ich einmal ein verwöhntes Leben geführt. Nun befand ich mich außerhalb der Mauern.
Wieder räusperte sich der Rikschafahrer. „Soll ich Sie zurückbringen, junges Fräulein?“, fragte er. Jetzt war nicht die Zeit für Selbstmitleid. Billy war sehr krank und brauchte meine Hilfe. Na schön. Wenn der Torwächter der Chens mich schon für eine Fremde hielt, konnte ich auch zu einer Ausländerin fahren und dort um Hilfe bitten. Ich gab dem Rikschafahrer Miss Gilbertsons Adresse. Die Schule war schon aus und meine ehemalige Lehrerin zu Hause. Nach einem Blick in mein Gesicht legte sie ihren Arm um mich. „Wie kann ich helfen?“, fragte sie einfach. Da ich mich nun nicht länger wie eine Erwachsene verhalten musste, brach ich zusammen und weinte. „Sie müssen es doch langsam leid sein, sich jedes Mal mein Geheule anzuhören, wenn wir uns treffen.“ „Du hast nicht immer geweint“, sagte Miss Gilbertson. „Manchmal hast du mir auf Englisch vorgelesen und du liest wunderbar.“ Als sie nach einem Taschentuch griff, schüttelte ich den Kopf und zog ihr altes aus meiner Tasche. „Sehen Sie, ich hab das erste noch.“ Nachdem ich mir die Augen gewischt hatte, berichtete ich Miss Gilbertson von Billys hohem Fieber. „Die Warners gehen zu einem amerikanischen Arzt“, sagte ich. „Kennen Sie seinen Namen?“ Anscheinend gingen Miss Gilbertson und viele der anderen Ausländer in Nanking zu demselben Arzt. „Ich bringe dich zu ihm“, sagte sie. Wie sich herausstellte, hatte Billy die Masern. Als ich mit dem Arzt ankam, waren schon die ersten Flecken auf seinem Gesicht zu sehen. Die Dienerschaft der Warners war über die roten Flecken sehr erschreckt und glaubte, es wären die Pocken. Nachdem der Arzt seine Diagnose gestellt hatte, konnte ich sie beruhigen. Ich selbst hatte die Masern schon gehabt, wie auch die meisten der Hausangestellten.
Nachdem der Arzt gegangen war, ließ ich mich in meinem Zimmer auf einen Stuhl fallen. Da klopfte es an der Tür. Ich machte auf und da stand der Hausdiener mit einer Tasse heißem Tee. „Sie müssen müde und durstig sein, Fräulein Tao“, sagte er schnell und gab mir die Tasse. Dann drehte er sich um und ging gleich wieder nach unten, bevor ich etwas sagen konnte. Miss Gilbertson telefonierte wegen Billy mit Mr. und Mrs. Warner. Sie kamen so schnell es ging aus Suzhou zurück. Als sie schließlich durch die Eingangstür stürmten, war das Haus ruhig und alles unter Kontrolle. Mrs. Warner, die ihre Gefühle sonst nicht so oft zeigte, umarmte mich. „Meine Liebe, ich bin sehr beeindruckt von deinem umsichtigen Verhalten! Was hatten wir für ein Glück, dich für unsere Kinder zu finden!“
Meine Beziehung zum Hausdiener wurde besser. Er war der einzige Erwachsene im Haus, mit dem ich richtig reden konnte, da Mr. und Mrs. Warner viel Arbeit hatten und meistens den ganzen Tag fort waren. Genau wie ich stand der Hausdiener oft im Konflikt zwischen den beiden Kulturen und konnte mir daher eine Menge guter und brauchbarer Ratschläge geben. Eigentlich hätte ich stolz und glücklich sein müssen. Doch in den Tagen, nachdem Billy krank geworden war, konnte ich den Hass im Gesicht des Torwächters der Chens, der mir das Tor vor der Nase zugeschlagen hatte, nicht vergessen. Ich fühlte mich in Nanking, meiner Heimatstadt, wie eine Fremde. Mit dem Tod von Großmutter und dem von Vater hatte ich die einzigen Menschen verloren, die mich zu Hause unterstützt hatten. Und doch hätte alles noch schlimmer kommen können. Immerhin hatte ich Zuflucht bei den Ausländern gefunden.
Wenn ein Wunder geschähe und Großer Onkel mir erlaubte, nach Hause zurückzukehren, würde ich dann meine Position in der chinesischen Gesellschaft zurückgewinnen und wieder eine Tochter der Familie Tao sein? Ich glaubte es nicht. Als kleines Kind war ich einmal meiner Amah davongelaufen und in den Küchengarten gehüpft. Der Koch zeigte mir eine Bambusstaude, von der nur winzige Spitzen zu sehen waren. „Sieh mal, diese Sprossen kann man gut essen“, sagte er, schob etwas Sand beiseite und legte zwei kleine Keime frei. „Die sind noch zart.“ Ich sah eine andere Gruppe von Bambussprossen, die wie grüne Lanzenspitzen aus dem Boden ragten. „Was ist mit den Sprossen da?“ „Die sind zu hart zum Essen“, sagte der Koch. „Die waren draußen an der Luft und in der Sonne.“ „Und wenn ich sie wieder mit Sand zudecke?“, fragte ich. „Werden sie dann wieder zart?“ Der Koch lachte. „Nein, dazu ist es zu spät. Wenn sie einmal hart geworden sind, kann sie nichts mehr weich machen.“ Ich machte mir klar, dass ich einer Bambussprosse glich, die draußen an der Luft und in der Sonne gewesen war. Ich könnte nie wieder wie meine Schwestern und die anderen zarten chinesischen Mädchen mit eingebundenen Füßen werden, die ihre Tage in einem abgeschütteten Zimmer verbrachten. Ich war jetzt zu hart. Als mich Mr. Warner wieder in seine Bibliothek rief, ahnte ich schon, was er mir sagen wollte. Aus Andeutungen, die Mrs. Warner und die Kinder hatten fallen lassen, wusste ich bereits, dass die Familie bald nach Amerika zurückfahren würde. Missionare bekamen alle paar Jahre Heimaturlaub. Die Warners würden Nanking verlassen und für ein Jahr in ihr Haus nach San Francisco zurückkehren.
Mir würden die Kinder sehr fehlen, denn allmählich liebte ich sie wie meine eigene Familie. Ich kannte Billy inzwischen besser als meinen kleinen Bruder, der seine eigene Amah hatte, die sich um ihn kümmerte. Nun musste ich eine andere Stelle finden. Vielleicht würden mich die Warners anderen Amerikanern empfehlen. Während der drei Jahre bei ihnen hatte sich mein Englisch enorm verbessert. Manchmal hielten mich Besucher, die mich nur sprechen hörten, für eine Amerikanerin. Und nicht nur ich war gewachsen, sondern auch mein Selbstvertrauen. Ich war sicher, ich würde mit den Kindern einer anderen Familie ebenso gut klarkommen, auch wenn es mir schwer fiele. Aber ich hatte mich in dem, was mir Mr. Warner sagen wollte, getäuscht. Er faltete die Hände und sah mich etwas nervös an. „Eileen, Mrs. Warner und ich haben uns überlegt, dir folgenden Vorschlag zu machen: Könntest du dir eventuell vorstellen, mit uns nach Amerika zu gehen?“ Ich war zu überrascht, um etwas zu sagen, und sah ihn nur an. Als ich meine Sprache wieder gefunden hatte, fiel mir nichts anderes ein als: „Macht Billy denn wieder Schwierigkeiten?“ Mr. Warner lachte und ich wurde wegen der Taktlosigkeit meiner Frage rot. Dann wurde Mr. Warner wieder ernst. „Da ist schon etwas Wahres dran. Als wir den Kindern sagten, dass wir nach Amerika zurückgingen, war ihre erste Frage, ob du mit uns kommst.“ Ich war so tief gerührt, dass ich wieder nichts sagen konnte. Aber Mr. Warner ersparte mir die Antwort und sprach weiter: „In San Francisco wird Grace in die dritte und Billy theoretisch in die zweite Klasse kommen. Du hast schon Recht damit, dass er wieder Probleme machen könnte.“ Ich beeilte mich, Billy zu verteidigen: „Ich bin ganz sicher, dass er in der Schule genauso gut ist wie die anderen Kinder. Er ist sehr schnell im Denken.“
„Das macht uns auch keine Sorgen“, sagte Mr. Warner. „Billy hat die Buchstaben gelernt und auch einige Wörter. In dieser Hinsicht ist er anderen Kindern voraus. Das Problem ist, dass sein soziales Verhalten noch etwas unreif ist. Du weißt ja selbst, dass er sehr eigensinnig sein kann. Wir halten es für das Beste, ihn bis zu unserer Rückkehr nach Nanking weiter zu Hause zu unterrichten.“ Jetzt verstand ich langsam, worum es Mr. Warner ging. „Sie wollen also, dass ich mitkomme und mich weiter um Billy kümmere?“ Mr. Warner nickte. „Nach all den Jahren in China werden beide Kinder Schwierigkeiten haben, sich wieder einzupassen. Sie hatten hier nicht genügend Gelegenheit, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Wenn du mit uns gehst, macht ihnen das den Übergang viel leichter.“ Meine Gedanken waren so in Aufruhr, dass ich nicht gleich antworten konnte. Mr. Warner sagte: „Ich weiß, dass wir dich um ein großes persönliches Opfer bitten, dein Land zu verlassen und mit uns den weiten Weg über den Ozean bis nach Amerika zu fahren.“ Nach einem Moment fügte er etwas stockend und verlegen hinzu: „Miss Gilbertson hat uns ein wenig über deine Vergangenheit erzählt. Wir hatten natürlich selbst schon gemerkt, dass du keinen Kontakt mit deiner Familie hast. Deshalb dachten wir, dass du es dir vielleicht überlegen würdest, mit uns zu kommen.“ „Ich möchte gerne noch darüber nachdenken“, sagte ich schließlich. „Kann ich Ihnen meine Antwort morgen geben?“ Doch als ich die Treppe zu meinem Zimmer hochstieg, wusste ich schon, was ich antworten würde. Zum letzten Mal nahm ich eine Rikscha zum Anwesen meiner Familie.
Lao Wang, der Torwächter, sagte mir, dass Mutter zu Hause sei. Doch bevor ich sie besuchte, ging ich zu meinem Onkel. Das Unerfreuliche wollte ich zuerst hinter mich bringen. Großer Onkel sah sehr gealtert aus. Seine früher vollen Wangen waren schlaff geworden, sodass es aussah, als hätte er ein Doppelkinn auf jeder Gesichtshälfte. Jetzt, wo er keine Gewalt mehr über mich hatte, fand ich ihn ziemlich jämmerlich. Er war noch immer sehr elegant, mit einer langen, seidenen Robe bekleidet, und in der Hand hielt er eine Teetasse, die aus feinstem, hauchdünnem Porzellan war. Aber von seiner einstigen Vitalität war nicht mehr viel zu spüren. „Wenn das Mädchen mir nicht gesagt hätte, wer du bist“, sagte er in seiner üblichen schroffen Art, „hätte ich dich für eine der fremden Teufel gehalten.“ „Dann müsste ich eine sehr viel längere Nase haben“, gab ich zurück. „Jedenfalls hast du deine Unverschämtheit nicht verloren!“, sagte Großer Onkel. Er schlürfte von seinem Tee. „Also, du hast dich herabgelassen, uns zu besuchen. Womit haben wir diese Ehre verdient?“ Auch ich konnte schroff sein. „Ich verlasse China und gehe nach Amerika.“ Langsam und vorsichtig stellte Großer Onkel seine Teetasse ab. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich bei ihm noch nie gesehen. Es war eine Mischung aus Schuld, Bedauern und sogar Bewunderung. „Es ist Jahre her, dass du mir erlaubt hast, irgendeinen Einfluss auf deine Pläne zu nehmen. Ich bin überrascht, dass du dir sogar die Mühe machst, herzukommen und mir das zu erzählen.“ „Da du das Oberhaupt der Familie bist, dachte ich, du solltest informiert sein“, sagte ich. Großer Onkel lächelte verzerrt. „Oberhaupt der Familie? Also erkennst du das jetzt an?“ Nachdenklich betrachtete ich ihn. „Ich glaube nicht, dass du wirklich so weit gegangen wärst, mich als Konkubine zu den
Fengs zu schicken oder in ein Kloster. Dafür bist du zu stolz auf den Namen der Familie Tao.“ „Es scheint, als hätte ich dich unterschätzt“, sagte Großer Onkel. „Und warum bist du heute wirklich gekommen?“ „Ich wollte mich von meiner Familie verabschieden, weil ich euch vielleicht nie wieder sehe“, antwortete ich. „Dein Bruder ist nicht zu Hause“, sagte Großer Onkel. „Er geht auf eine öffentliche Schule.“ Bei dieser Information empfand ich Freude und Bitterkeit zugleich: Freude, weil Großer Onkel trotz seiner heftigen Abneigung gegen öffentliche Schulen Vaters Wunsch respektiert hatte, und Bitterkeit, weil nicht genug Geld da gewesen war, um mir, einem Mädchen, das Schulgeld zu bezahlen. Nun aber war genug Geld für meinen Bruder da. Plötzlich wusste ich, was ich tun würde. Ich hatte das Geld, das die Warners mir gezahlt hatten, in meiner Tasche dabei. In den drei Jahren hatte ich kaum etwas davon ausgegeben. Ich zog den schweren Beutel hervor. „Du hast mir gesagt, wie eng die Finanzlage der Familie Tao ist. Dann nimmst du am besten das hier als Beitrag zur Ausbildung meines Bruders.“ Ich stellte den Beutel auf Großer Onkels Tisch und das Klirren der Münzen klang wunderschön in meinen Ohren. Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ ich sein Arbeitszimmer und ging Mutter besuchen. Auf dem Weg zu ihr konnte ich nicht widerstehen, ich musste regelrecht stolzieren – und das konnte ich, weil ich nicht auf eingebundenen Füßen einherhumpeln musste. Anders als Großer Onkel schien Mutter kaum älter geworden zu sein. Ihr Haar war immer noch tiefschwarz und ihr Gesicht faltenlos. „Zu schade, dass Kleiner Bruder nicht zu Hause ist und dich sehen kann, Ailin“, sagte sie weinerlich. „Du hättest uns Bescheid geben sollen, dass du kommst.“
„Großer Onkel hat mir gesagt, dass Kleiner Bruder auf eine öffentliche Schule geht“, sagte ich und überlegte, ob ich ihn wohl wieder erkennen würde. Er würde mich in der westlichen Kleidung sicherlich nicht erkennen. „Er geht auf dieselbe Schule, in der auch Liu Hanwei war“, sagte Mutter. „Wusstest du, dass Hanwei ein Stipendium der Regierung bekommen hat, um in Amerika zu studieren?“ Als Hanwei erwähnt wurde, merkte ich, dass ich keinen Schmerz wegen dieses Verlusts verspürte. Er war wirklich nett und er würde sicher ein sehr umgänglicher Ehemann sein, doch ich bedauerte es nicht, ihn nicht geheiratet zu haben. „Vielleicht begegne ich ihm sogar mal in Amerika“, sagte ich leichthin. Mutter brach in Tränen aus. „Oh, Ailin, ich habe bei meinen Pflichten als Mutter versagt. Ich hätte strenger sein sollen und darauf bestehen müssen, dass deine Füße eingebunden werden!“ Nun verstand ich endlich, warum so viele Generationen von Müttern an der Tradition festgehalten hatten, die Füße ihrer Töchter einzubinden. Sie glaubten, die wichtigste Aufgabe beim Großziehen einer Tochter sei es, dafür zu sorgen, dass sie gut verheiratet wurde. Und ein Mädchen wurde nur für schön und heiratsfähig angesehen, wenn sie eingebundene Füße hatte. „Ich hätte nie geglaubt, dass es so weit kommen würde“, schluchzte Mutter. „Sicher warst du sehr eigensinnig, aber dieses schreckliche Schicksal hast du nicht verdient. Du wirst in einem Land voll fremder Teufel leben!“ Ich hatte immer gedacht, Mutter liebte nur Kleiner Bruder und meine beiden Schwestern, die ihr so viel weniger Ärger bereitet hatten als ich. Wenn sie mit mir sprach, dann vor allem um mich zurechtzuweisen oder auszuschimpfen. Jetzt merkte ich, dass sie auch mich liebte.
„Mutter, ich hab fast drei Jahre in einem Haus mit fremden Teufeln gewohnt!“, sagte ich. „Ich bin stark genug, das auszuhalten.“ Ich war keine zarte, von Sand bedeckte Sprosse mehr, sondern ein Bambustrieb, der stark genug war, um sich gegen Wind und Schnee zu behaupten.
Zehntes Kapitel
Das größte Schiff, auf dem ich bisher gefahren war, war die Fähre über den Jangtse gewesen. Und nun ging ich an Bord eines Ozeankreuzers, der den Pazifik überqueren würde. Auf den Docks von Schanghai war ich nur eine unter Hunderten von Passagieren, die versuchten, sich zur Gangway zu drängeln. Vor lauter Aufregung kam ich überhaupt nicht dazu, Abschiedsschmerz zu empfinden. Zuerst hatte ich gar nicht begriffen, dass ich in der dritten Klasse des Schiffs untergebracht war. Die Warners reisten zweiter Klasse, und erst der Steward sagte mir, dass meine Kabine eine Klasse unter der ihren war. Ich folgte ihm immer tiefer über verwinkelte Treppen nach unten. „Wir müssten doch fast schon am Boden des Schiffs sein“, sagte ich nervös. Er lachte. „Die Unterkünfte der Zwischendeckpassagiere liegen noch tiefer.“ In einem dunklen, schmalen Flur hielt er an und zeigte auf eine Tür. „Hier ist Ihre Kabine.“ Ich betrat eine Kabine mit vier Kojen oben und vier unten. Es sah ganz so aus, als müsste ich den Raum mit sieben anderen Personen teilen. Ich hatte noch nie mit anderen Menschen zusammen in einem Zimmer geschlafen, aber schließlich war alles auf dem Schiff völlig fremd für mich. Es war einfach eine weitere Etappe in meinem Leben, das sich so sehr veränderte. Nachdem ich mein Gepäck verstaut hatte, ging ich zurück an Deck. Es liefen hier so viele Leute herum, dass ich fast schon die Hoffnung aufgab, die Warners wieder zu finden. Vielleicht würde ich sie erst wieder treffen, wenn wir in Amerika ankamen! Aber ich fand sie
schließlich doch, wobei die Stimmen der Kinder halfen. Ich entdeckte Grace und Billy auf dem Deck der zweiten Klasse, wo sie über die Reling spähten und irgendwelchen Freunden auf dem Kai etwas zuschrien. Sie waren außer sich vor Aufregung. Als Mrs. Warner mich sah, wirkte sie ziemlich verlegen. „Du darfst das nicht falsch verstehen, Eileen. Es ist nicht so, dass wir dich nicht achten würden. Wenn wir es uns irgendwie leisten könnten, hätten wir dich zusammen mit den Kindern oder sogar in einer Einzelkabine untergebracht. Doch Mr. Warners Gehalt reicht einfach nicht für die Kosten einer weiteren Passage zweiter Klasse.“ Ich war nicht beleidigt, ich war einfach nur überrascht. Ich wusste, dass mich die Warners auf keinen Fall absichtlich demütigen wollten. Doch mir war nicht klar gewesen, dass sie im Grunde keine reichen Leute waren. In China konnten sie sich ein Haus voller Diener leisten, einschließlich einer Privatlehrerin für ihre Kinder, die bei ihnen wohnte. An Bord eines amerikanischen Schiffs dagegen waren sie einfache Passagiere der zweiten Klasse. Ich war mindestens so verlegen wie meine Arbeitgeberin und versuchte, so ruhig wie möglich zu antworten: „Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Warner, meine Kabine ist ziemlich sauber und bequem. Und außerdem dauert die Reise doch nicht ewig.“ Mrs. Warner wollte noch etwas sagen, als sie zu ein paar Bekannten gerufen wurde, die sich verabschieden wollten. Während ich Grace und Billy beobachtete, fühlte ich einen Kloß im Hals. Eifrig winkte ich jemand völlig Fremdem dort unten zu. Ich glaubte, ich müsste den Warners zeigen, dass auch mich Freunde verabschiedeten. Zu meinem Erstaunen merkte ich plötzlich, dass tatsächlich jemand zurückwinkte und meinen Namen rief. Eine kleine, mollige Gestalt drängelte sich nach vorne und lief die Gangway hoch. Es war Xueyan! „Ich hab schon gedacht, ich
würde dich nie mehr sehen!“, schrie sie, während sie sich zwischen den Leuten an der Reling durchquetschte. Tränen strömten ihr über das Gesicht. Während der drei Jahre bei den Warners hatte ich Xueyan nur einmal, und zwar auf der Party bei Miss Gilbertson, getroffen. Grace und Billy hatten mich so in Anspruch genommen, dass ich keine Zeit hatte, Xueyan zu Hause zu besuchen. Und außerdem hatte es mich geschmerzt zu wissen, dass sie weiter auf die Schule gehen konnte, während ich arbeiten musste. Aber nun war ich überwältigt davon, meine Freundin zu sehen. Schließlich schaffte ich es, meine Kehle wieder freizubekommen. „Du hast dir die Haare abgeschnitten.“ „Ist das alles, was dir einfällt?“, schrie Xueyan. „Nach all den Mühen, die ich hatte, dich zu finden?“ Nachdem wir uns die Tränen getrocknet hatten, erzählte Xueyan, dass sie durch Miss Gilbertson von meiner Abreise nach Amerika erfahren hatte und dass sie mich unbedingt noch ein letztes Mal hatte sehen wollen. Sie war zu mir nach Hause gegangen und hatte von Mutter den Namen des Schiffs und das Datum der Abfahrt erfahren. Mit dem Zug war sie dann von Nanking nach Schanghai gefahren, eine Reise von mehreren Stunden. Ein lautes Tuten unterbrach unser Gespräch und ließ uns zusammenfahren. „Ich geh jetzt besser vom Schiff, sonst muss ich noch mit dir nach Amerika fahren“, sagte Xueyan. „Ja, warum eigentlich nicht?“ Ich brachte sogar ein Lächeln zustande. Ihre Lippen zitterten. „Wie ich dich beneide! Du brichst zu einem großen Abenteuer auf!“ Zuerst dachte ich, Xueyan wollte mich nur aufmuntern. Dann merkte ich, dass es ihr vollkommen ernst war. Ich fühlte, wie ich wieder neuen Mut bekam. Wir versprachen, uns zu schreiben, und meine Stimmung wurde noch besser, als ich mir
klarmachte, dass ich sicher über viele aufregende Dinge würde berichten können. Als Xueyan schon die Gangway hinuntergehen wollte, drehte sie sich plötzlich wieder um. „Das hätte ich fast vergessen! Das war doch einer der Gründe, warum ich gekommen bin.“ Sie zog einen Beutel aus der Tasche und reichte ihn mir. Es war der Beutel mit Geld, den ich auf Großer Onkels Tisch gestellt hatte. „Dein Onkel hat mir gesagt, er befürchtet, du würdest an Bord des Schiffs in irgendeinem dunklen Loch landen. Er wollte sicher sein, dass du eine Unterkunft hast, die einer Tochter der Familie Tao angemessen ist.“
Unser Schiff streifte die Ausläufer eines Taifuns, der es wild hin und her warf. Ich hatte eine der oberen Kojen und befürchtete, trotz des Schutzgitters rauszufallen. Aber bald wurde ich zu seekrank, um mir darüber noch Gedanken zu machen. Und es war wirklich keine Hilfe, dass die ganze Kabine nach Erbrochenem stank und voller Gejammer derjenigen war, die glaubten, sterben zu wollen. Am vierten Tag legten sich die Wellen langsam, und als mein Todeswunsch vergangen war, schwankte ich an Deck. Wieder musste ich Treppe um Treppe hochsteigen und mich durch ein Gewirr von Gängen schlängeln, bevor ich die Warners im Salon der zweiten Klasse fand. Die Kinder schrien vor Freude, mich wieder zu sehen. Billy stürzte sich mit solchem Schwung auf mich, dass ich umgerissen wurde, und wir rollten beide auf dem Boden herum und lachten wie verrückt.
Während der Reise hielt ich mich meistens bei den Warners in der zweiten Klasse auf und kehrte nur zum Essen und Schlafen
in die dritte Klasse zurück. Ich hatte nicht vor, das Geld von Großer Onkel zu nehmen, um meine Kabine zu tauschen. Das würde meine Arbeitgeber beschämen. Und nebenbei: Ich hatte gar keine Ahnung, was ich machen musste, um eine Kabine in einer besseren Klasse zu bekommen. Nach der frischen Luft an Deck war der Abstieg in die dritte Klasse allerdings jedes Mal eine Qual. Unten, in den Innereien des Schiffs, gab es kaum Belüftung und nirgendwo konnte ich dem Pesthauch von ungewaschenen Körpern und Küchengerüchen entgehen. Aber, wie ich Mrs. Warner schon gesagt hatte, die Reise würde nicht ewig dauern. Und die Herabsetzung meiner Person war nichts Neues. Ich hatte schon Schlimmeres überstanden. Nur bei einer Gelegenheit fühlte ich mich gedemütigt. Billy konnte sich nicht daran gewöhnen, dass es die Mahlzeiten mit jedem Tag etwas früher gab. Das Schiff fuhr nach Osten, und das hieß, dass die Uhr jeden Tag etwas vorgestellt werden musste. Er war noch nicht hungrig, wenn der Gong zu den Mahlzeiten rief, und er konnte dann nicht so viel essen wie die Erwachsenen, die die Gelegenheit nutzten, sich den Bauch voll zu schlagen. Bei Tisch aß Billy also nur wenig und zwischen den Mahlzeiten bekam er dann Hunger. Einmal jammerte er so sehr, dass ich in die Salonbar ging, um nach etwas zu essen zu suchen. Der Barkeeper am Tresen sah mich kalt an. „Bist du nicht ein Passagier der dritten Klasse?“ Ich bestätigte das und sagte: „Ich brauche Kekse für einen kleinen Jungen, auf den ich aufpasse.“ „Geh zurück nach unten in die dritte Klasse!“, befahl der Kellner schroff. „Einer der Kellner in der Küche wird schon was Passendes finden.“ Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Ich holte tief Luft, und ohne dass ich mir Mühe geben musste, sagte ich im arroganten Tonfall von Miss Scott,
meiner Geschichtslehrerin an der Macintosh-Schule: „Wenn Sie sich vielleicht die Mühe gemacht hätten zu fragen, hätte ich Ihnen sagen können, dass, obwohl ich in der dritten Klasse bin, der kleine Junge ein Passagier der zweiten Klasse ist. Würden Sie mir nun die Kekse geben, wie es Passagieren dieser Klasse zusteht?“ Dem Barkeeper fiel das Kinn runter. Dann blinzelte er, langte zu einem Regalbrett hoch und gab mir schweigend ein Päckchen mit Keksen. Als ich mich auf dem Weg zur Tür umsah, blickte er mir mit starrem Blick hinterher. Hinter mir lachte jemand leise und ich drehte mich um. Ein junger Chinese, der auf einem Sofa gesessen hatte, stand auf und kam zu mir herüber. Er sagte etwas auf Kantonesisch, das ich nicht verstand. Daher schüttelte ich den Kopf und sagte auf Englisch, dass ich aus Nanking sei und nur Mandarin sprechen würde. Er schaltete auch auf Englisch um. „Ich habe gerade gesagt, dass Sie den Barkeeper wunderbar zurechtgestaucht haben. Er ist Chinese, behandelt aber die meisten chinesischen Gäste wie Dreck. Ich selbst war gezwungen, einen Steward zu holen, der bezeugen musste, dass ich ein Recht darauf habe, auf diesem Platz zu sitzen. Wo haben Sie so gut englisch sprechen gelernt?“ Er begleitete mich zurück an Deck, und ich erzählte ihm ein bisschen von der Missionarsschule, die ich besucht hatte. Und ich bemerkte, wie er kurz auf meine Füße blickte, dann aber taktvoll wieder wegsah. Er hieß James Chew, wie ich erfuhr, und war in San Francisco geboren, wo sein Vater ein Restaurant besaß. Jetzt kam er gerade von einer Geschäftsreise aus Kanton zurück, der Heimat seiner Vorfahren. Wie viele aus dem Süden, die ich kennen gelernt hatte, hatte auch er etwas rundere Augen als die Leute aus dem Norden. Die Südchinesen waren außerdem oft zierlich gebaut, doch James
Chew war groß und eher etwas stämmig. Vielleicht hatte die andere Lebensweise in Amerika ihn etwas größer werden lassen. Ich fand es schön, mit ihm zu reden, obwohl er rund zehn Jahre älter war als ich. Dann war er ungefähr sechsundzwanzig. Er schien sich sehr für meine Situation zu interessieren und stellte lauter Fragen über die Warners und die Macintosh-Schule. Der Rest der Reise war angenehm. Der Pazifik, der bei den Chinesen Taiping Yang heißt, machte seinem Namen „Meer des Friedens“ alle Ehre und blieb ruhig. Ich liebte den Anblick der violetten Wellen, der Fliegenden Fische und der unglaublich strahlend leuchtenden Sterne bei Nacht. Und ständig begegnete ich James Chew, der häufig zur selben Zeit einen Spaziergang an Deck machte wie ich mit den Kindern. James zeigte uns auch, wie man an der Anschlagtafel den Weg verfolgen konnte, den das Schiff zurückgelegt hatte. Und als wir über die internationale Datumsgrenze fuhren, erklärte er, warum es nötig war, den Kalender um einen Tag zurückzustellen. Es gab auch einen Kinderbeschäftigungsraum an Bord, wo jeden Nachmittag ein Geschichtenerzähler die Kinder eine Stunde lang unterhielt. Da ich dann nicht auf Grace und Billy aufpassen musste, konnte ich vor dem Raum in einem Liegestuhl sitzen und lesen. Bald saß James Chew regelmäßig neben mir. „Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Neugier nicht übel“, sagte er und breitete eine Decke über meine Knie, obwohl es ziemlich warm war. „Sie scheinen sehr gut erzogen zu sein, und so frage ich mich, wie Sie dazu kommen, sich um zwei amerikanische Kinder zu kümmern.“ Und hastig fügte er hinzu: „Es ist ja nichts Schlechtes daran, sich um Kinder zu kümmern. Es ist ein ernst zu nehmender Beruf. Aber findet Ihre Familie nicht, dass das Geld, das sie für Ihre Ausbildung ausgegeben hat, verschwendet war?“
„Meine Familie ist der eigentliche Grund, weshalb ich hier auf dieser Reise nach Amerika bin“, begann ich und zögerte, doch dann fuhr ich fort: „Sie haben sicher bemerkt, dass ich keine eingebundenen Füße habe.“ Er nickte. „Niemand in Amerika hat eingebundene Füße – höchstens ein paar Frauen, die für reiche chinesische Geschäftsleute aus China geholt worden sind.“ „Ich vermute, die chinesischen Frauen ohne eingebundene Füße werden Hausmädchen oder Arbeiterinnen“, sagte ich trocken. „Die meisten“, bestätigte James. Er wollte noch etwas sagen, aber da kamen Grace und Billy aus dem Beschäftigungsraum und erzählten mir von der Geschichte, die sie gerade gehört hatten. Und bald wurde es zur täglichen Gewohnheit: Während Grace und Billy im Beschäftigungsraum waren, unterhielten sich James und ich an Deck. Mit ihm zu reden war ein bisschen so, wie mit Zweite Schwester zu reden. Er war jemand, der verständnisvoll zuhören konnte, ohne vorschnell zu urteilen. Er fragte mich erneut, wie es dazu gekommen war, dass ich Kindermädchen bei den Warners wurde. Obwohl ich ihn erst seit zwei Wochen kannte, vertraute ich mich ihm an. Bis dahin war Miss Gilbertson der einzige Mensch gewesen, der meine ganze Geschichte kannte. Ich hatte es nicht einmal über mich gebracht, den Warners alles zu erzählen. Ohne lange zu zögern, erzählte ich James von meiner Familie, von Vater, Großmutter und Großer Onkel. Ich wollte, dass er die Wahrheit kannte. Ich erzählte sogar von meiner aufgelösten Verlobung. „Also, das ist meine Geschichte“, sagte ich zum Schluss. „Nun wissen Sie, warum ich auf diesem Schiff nach Amerika fahre.“ Lange sah er mich einfach nur an. Dann sagte er: „Sie sind der mutigste Mensch, den ich kenne.“ Erst dachte ich, er würde sich über mich lustig machen, aber dann merkte ich, dass es
ihm ernst war, und wurde schrecklich rot. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Ich bin keine Revolutionärin oder so was. Ich bin auch keine Kämpferin wie Hua Mulan.“ „Sie sind eine Revolutionärin“, sagte James. „Und ich bewundere Sie dafür, dass Sie kämpfen, einen Kampf gegen die Tradition führen.“ „Sie finden es also nicht falsch, gegen die Tradition anzukämpfen?“, fragte ich. Großer Onkel glaubte, dass wir nur dann unser kulturelles Erbe erhalten könnten, wenn wir Traditionen beibehielten. Und Vater hatte geglaubt, dass wir sowohl nach Neuem Ausschau halten als auch das Alte bewahren sollten. „Es gibt einige Traditionen, gegen die wir einfach kämpfen müssen“, sagte James. Er klang in diesem Punkt so überzeugt, dass ich mich fragte, ob er sich auf etwas in seinem eigenen Leben bezog. Ich war froh, dass James mit Vater übereinstimmte. Ich fing an, ihn sehr zu mögen, und wollte mehr über ihn wissen. „Ich habe Ihnen viel über meine Familie erzählt“, sagte ich. „Nun erzählen Sie mir von Ihrer Familie. Wie kam es, dass sie nach Amerika gegangen ist?“ Er grinste. „Meine Familie gehört nicht zu den oberen Klassen wie Ihre. Wollen Sie jetzt überhaupt noch mehr wissen?“ Ich grinste ebenfalls. „Ich bin nicht gerade die Richtige, um über Klassenunterschiede zu reden. Schließlich reise ich in der dritten Klasse und darf mich nur deshalb hier in der zweiten aufhalten, weil ich auf Grace und Billy aufpasse.“ Ein Steward kam vorbei und James bestellte zwei Becher von etwas, das er „Beeftea“ nannte. Das klang nicht sehr appetitlich. „Ich will eigentlich keinen Tee, der aus Rindfleisch gemacht wird“, sagte ich und schüttelte mich ein bisschen. „Das ist auch kein richtiger Tee, sondern eine Art Suppe, die auf dem Schiff zwischen den Mahlzeiten serviert wird. Manche Passagiere trinken sie, weil
sie meinen, sie helfe, den Magen zu stabilisieren“, erklärte James. Ich fand es seltsam, eine Suppe ohne eine feste Einlage zu trinken, doch ich willigte ein, sie zu versuchen. Die Suppe war zwar ziemlich salzig, aber die heiße Flüssigkeit tat wirklich gut. Während wir tranken, fing James an, von seiner Familie zu erzählen. „Mein Großvater ist 1849 während des Goldrauschs nach Kalifornien gegangen.“ Jinshan, der chinesische Name für San Francisco, bedeutet „Goldener Berg“, und ich stellte mir vor, wie ein Goldstrom den Berg herunterrauschte. „Ihr Großvater muss wahnsinnig reich geworden sein!“ James lächelte etwas schief. „So viel Glück hatte er damit nicht. Er ist nicht auf Gold gestoßen, hatte dafür aber die Idee, ein Restaurant für die Bergleute aufzumachen. Das bedeutete sehr harte Arbeit, aber schließlich hat er damit sein Glück gemacht.“ „Genügend, um seine Familie nach Amerika kommen zu lassen?“, fragte ich. „Er ist in seinen Heimatort in Kwangtung zurückgekehrt und wurde mit dem Mädchen verheiratet, das seine Familie für ihn ausgesucht hatte“, sagte James. „Armes Mädchen, sie hatte erwartet, er käme mit Säcken voll Gold nach China zurück, würde ein großes Haus für sie bauen und viele Diener einstellen. Stattdessen nahm Großvater sie mit zurück nach Amerika, wo sie sich in einem Restaurant die Finger wund arbeiten musste.“ Ich betrachtete James in seinem gut geschnittenen Anzug. Nach meinen drei Jahren bei den Warners hatte ich genug Leute aus dem Westen und ihre Kleidung gesehen, um einen teuren Anzug von einem billigen unterscheiden zu können. „Das Restaurant von Ihrem Großvater muss gut gegangen sein.“
James nickte. „Die harte Arbeit hat sich bezahlt gemacht. Mein Vater hat das Restaurant schließlich geerbt und unter seiner Leitung hat es sich weiter vergrößert.“ „Ihre Mutter hatte dann wohl ein leichteres Leben als Frau eines erfolgreichen Restaurantbesitzers?“, fragte ich. „Nein, hatte sie nicht“, sagte James. „Einige der reicheren chinesischen Geschäftsleute in San Francisco ließen sich zwar aus China Frauen kommen, Frauen mit eingebundenen Füßen. Aber Vater fuhr zurück nach China und heiratete ein Mädchen aus dem Dorf seiner Vorfahren, das ebenfalls hart arbeiten konnte – und musste.“ Mir kam meine alte Amme wieder in den Sinn, die Frau vom Land, die mich getröstet, in die Arme genommen und mir ihre Kinderlieder vorgesungen hat. James’ Vater hat gut gewählt, dachte ich. „Im Übrigen müssen Frauen mit eingebundenen Füßen den ganzen Tag im Haus bleiben“, sagte James. „Vater hat keine Frau gewollt, die ständig nur Tee trinkt, Melonenkerne isst und Mah-Jongg spielt. Er wollte eine Frau, die mit ihm ausgehen konnte, ohne von den Amerikanern verspottet zu werden.“ Ich richtete mich auf. „Heißt das, die Amerikaner machen sich über Mädchen mit eingebundenen Füßen lustig?“ Das war für mich eine verblüffende Vorstellung. Schließlich war ich gewöhnt, verspottet zu werden, weil ich keine eingebundenen Füße hatte. „Einige Frauen in Chinatown versuchen sogar zu verbergen, dass sie eingebundene Füße haben“, sagte James. „Sie tragen große Schuhe und stopfen den freien Raum mit Baumwolle aus. Aber sie können ihren Gang nicht verstellen: Sie müssen winzige Schrittchen machen und schwanken von einer Seite auf die andere.“ „Tausend Jahre lang haben die Chinesen den schwankenden Gang der Trippelschritte gepriesen“, murmelte ich, wobei ich vor Augen hatte, wie meine Großmutter, meine Mutter und
meine Schwestern gingen. Es war das Zeichen für ihren sozialen Status. „Die Amerikaner haben eben einen anderen Geschmack“, sagte James. „Und wie denken Sie selbst darüber?“, fragte ich. „Denken Sie wie ein Amerikaner oder wie die meisten Chinesen?“ Das zu wissen war plötzlich wichtig für mich geworden. „Ich denke da wie mein Vater“, sagte er sofort. „Wenn ich heirate, will ich eine Partnerin und kein Statussymbol.“ Mich durchströmte ein warmes Gefühl, als ich das hörte, und ich steckte meine Nase in den Becher mit der dampfenden Fleischbrühe. Einen Moment später fragte ich dann: „Werden Sie das Restaurant irgendwann von Ihrem Vater übernehmen?“ Das Restaurant musste gut gehen, wenn sich James eine Reise nach China leisten konnte – in der zweiten Klasse. James schüttelte den Kopf. „Ich bin der jüngere Sohn, und das heißt, dass mein älterer Bruder das Restaurant übernimmt und von mir erwartet wird, dass ich für ihn arbeite.“ Ich betrachtete sein Gesicht. „Sie freuen sich aber nicht darauf, für Ihren Bruder zu arbeiten.“ „Kann man das so gut sehen? Nein, ich freue mich nicht darauf. Er ist kein guter Geschäftsmann, und ich hasse es, dabei zusehen zu müssen, wie es mit dem Restaurant unter seiner Leitung bergab geht.“ „Und es ist unmöglich, das Restaurant dem jüngeren Sohn zu überschreiben“, murmelte ich. Selbst wenn James’ Vater lieber eine Frau mit nicht eingebundenen Füßen geheiratet hatte, war er doch den alten Traditionen in gewisser Hinsicht verbunden geblieben. James kam nicht mehr dazu zu antworten, denn die Tür des Beschäftigungsraums ging auf und die Kinder strömten heraus. Grace und Billy fanden, sie hätten nun lang genug still gesessen, und wollten mit mir herumlaufen. Während ich mit ihnen an der Hand über das Deck spazierte,
musste ich an James Chew und die Geschichte seiner Familie denken.
„Ich habe gehört, du hast einen Verehrer gefunden“, sagte Mrs. Warner ein paar Tage später zu mir. „Oh, Sie meinen James Chew“, sagte ich beiläufig. „Er war nett zu mir, als der Barkeeper im Salon versuchte, mich in die dritte Klasse zurückzuschicken.“ Mrs. Warner wurde rot. „Das tut mir Leid, Eileen. Ich hätte Mr. Warner bitten sollen, mit dem Kellner zu reden.“ „Nein, nein, das hat sich alles schon geregelt“, beruhigte ich sie. „Jedenfalls war James auch im Salon und da haben wir uns bekannt gemacht.“ Mrs. Warner sah noch immer beunruhigt aus und so erzählte ich ihr ein bisschen über James und seine Familie. In Nanking hatten Mrs. Warner und ich selten die Möglichkeit gehabt, richtig miteinander zu reden. Nach der Sache mit Billys Masern wurde ihr Verhalten mir gegenüber sehr viel wärmer, und sie hatte einige Versuche gemacht, sich mit mir zu unterhalten. Doch die Arbeit als Missionarin nahm sie fast ebenso wie ihren Mann den ganzen Tag in Anspruch, während ich mit den Kindern beschäftigt war. Nur beim Sonntagsessen waren alle zusammen. Hier an Bord des Schiffes nun fand ich heraus, dass sie ursprünglich aus Neuengland kam, das genau auf der anderen Seite von Amerika liegt, an der Ostküste, mehr als dreitausend Meilen von San Francisco entfernt. Mr. Warner kam aus Iowa, einem Staat mitten in den USA. Die beiden hatten sich auf dem College kennen gelernt, und nachdem sie geheiratet hatten, zogen sie nach Westen. Als sie sich beide entschieden hatten, Missionare zu werden, wählten sie China für ihre Arbeit. Zuerst arbeiteten sie in Schanghai, dann wurden sie von ihrer Mission Nanking zugewiesen. Es beeindruckte mich, wie oft
die Warners umgezogen waren. In dieser Beziehung hatte auch James’ Familie einiges hinter sich. Die Amerikaner waren wirklich Leute, die häufig umzogen. Und ich hatte schon gedacht, ich hätte einen Riesenschritt gemacht, als ich das Anwesen der Familie Tao verließ. Mrs. Warner schien immer nervöser zu werden, je näher wir unserem Bestimmungsort kamen. „Freuen Sie sich denn nicht, nach Hause zurückzukommen?“, fragte ich. Mrs. Warner zögerte etwas. „Es ist schwer für mich zu sagen, wo ich zu Hause bin“, sagte sie dann. „Wir waren so viele Jahre in China, dass sich Grace und Billy an das Leben dort gewöhnt haben. Vor allem für Billy ist Amerika ein fremdes Land. Ich weiß nicht, wie er sich in San Francisco eingewöhnen wird.“ Ich versuchte mir vorzustellen, wie das für die Warners sein musste, nur alle sieben Jahre auf Heimaturlaub nach Hause zu kommen. Das Leben, das sie als Missionare gewählt hatten, war nicht einfach. Ob ich nun mit ihrer Religion einverstanden war oder nicht, ich musste sie für ihre harte Arbeit und für ihre Hingabe bewundern. Auch James Chew, mit dem ich immer vertrauter geworden war, schien es Leid zu tun, dass die Reise nun bald zu Ende ging. „Diese Reise ist wahrscheinlich für eine Weile meine letzte“, sagte er. „Sie war meine Idee. Ich hatte meinem Vater vorgeschlagen, nach Kanton zu reisen und dort mit den Lieferanten auszuhandeln, dass sie uns direkt beliefern sollten.“ „Ihr könnt eure Vorräte für das Restaurant nicht in Amerika kaufen?“, fragte ich. „Wir brauchen alle möglichen Gewürze und Zutaten, die es in Amerika nicht gibt“, erklärte er. „Immer waren eine Menge Zwischenhändler eingeschaltet und das hat alles enorm verteuert.“
Ich wusste nicht, was Zwischenhändler waren, aber was mich betroffen machte, war die Bemerkung über die letzte Reise. „Du glaubst nicht, dass du noch einmal reisen kannst?“ Er seufzte. „Nicht wenn mein Bruder die Leitung des Restaurants übernimmt. Er und ich haben in Geschäftsdingen sehr unterschiedliche Ansichten. Mein Vater ist jetzt seit über einem Jahr krank, und er sagt, er kann es nicht länger hinauszögern, sich ganz zurückzuziehen.“ „Und was wirst du tun?“, fragte ich. Er seufzte noch einmal tief. „Ich denke, ich werde für meinen Bruder arbeiten, auch wenn ich dabei zusehen muss, wie das Restaurant zugrunde geht.“ Er wandte den Kopf und blickte mich an. „Ich hoffe, wir treffen uns in San Francisco wieder. Weißt du schon, wo du wohnst?“ Ich schüttelte den Kopf. Es war mir nie in den Sinn gekommen, die Warners nach der Adresse zu fragen. „Vielleicht begegnen wir uns ja einfach so. Ist San Francisco eine sehr große Stadt?“ „Ich fürchte, sie ist wirklich sehr groß“, antwortete James. „Aber versuche doch bitte, nach Chinatown zu kommen, und halte nach dem Restaurant Zum Grünen Pavillon Ausschau. Es ist in der Dupont Street.“ Während er das sagte, blickte er mich intensiv an. Ich wollte versprechen, dass ich eine Möglichkeit fände, das Restaurant seines Vaters zu besuchen, doch plötzlich war ich schrecklich verlegen und wusste nicht, was ich sagen sollte. James schien meine Verlegenheit zu spüren und schlug einen leichteren Ton an. „Sieh mal, Billy hat schon wieder Hunger. Komm, wir ärgern den Barkeeper und fragen nach was Essbarem.“
Als schließlich Land in Sicht kam, stand ich an Deck und hielt Grace und Billy an der Hand. Mit meiner Aufnahme in die Macintosh-Schule hatte ich eine vollkommen andere Welt betreten, ich betrat eine noch andere, als ich von zu Hause auszog, um bei den Warners zu arbeiten. Und jetzt war ich wiederum dabei, eine neue Welt zu betreten – im wörtlichsten Sinne die Neue Welt.
Elftes Kapitel
Das Haus der Warners in San Francisco stand auf halber Höhe am Hang eines Hügels in einer guten Wohngegend im Nordwesten der Stadt. Der Blick von den Vorderfenstern auf den Ozean war umwerfend. Und ständig rauschten die Bäume in einer sanften Brise vom Meer. Am späten Nachmittag schob sich der Nebel wie eine wattierte Decke über uns. Ich konnte gar nicht aufhören, die Schönheit der Umgebung zu bewundern. Nanking war eine flach gelegene Stadt mit ein paar schönen Seen und niedrigen Hügeln am Stadtrand. San Francisco dagegen hatte schroffe Hügel und einen tosenden Ozean. Diese Stadt – vielleicht sogar ganz Amerika – erschien wild und ungezähmt. Ich brauchte nicht lange, um zu merken, dass die Warners nicht sehr wohlhabend waren. Das Haus, das sie während ihres Aufenthalts in China vermietet hatten, musste gründlich geputzt werden. Nach unserer Ankunft wartete ich auf eine Schar von Dienern, die die nötige Arbeit verrichten würden. Umso mehr war ich schockiert, als Mr. und Mrs. Warner selbst zu Besen, Scheuerlappen und Staubtuch griffen. Sogar ihr Hausdiener in Nanking hätte niemals einen Scheuerlappen oder Besen angefasst. Das wäre unter seiner Würde gewesen. Ich bot meine Hilfe beim Saubermachen an, aber zu meiner großen Erleichterung war es den Warners lieber, wenn ich die Kinder beschäftigte und aus dem Weg hielt. So half ich den Kindern, ihre Sachen einzuräumen. Das größere der beiden Schlafzimmer teilte ich mit Grace, während Billy ein winziges
Zimmer auf der Rückseite des Hauses hatte. Es war kaum größer als ein Schrank. Am späteren Nachmittag quengelte Billy vor Hunger. Ich selbst war auch ziemlich hungrig, da es mittags für alle nur ein paar Butterbrote gegeben hatte. Vorsichtig schlich ich nach unten und hoffte, dass der Koch ein paar Leckerbissen übrig hatte, die ich Billy hochbringen könnte. In Nanking hatte ich das oft gemacht, und der Koch tat mir gerne den Gefallen, obwohl er launisch und allen anderen gegenüber ziemlich brummig war. Die Küche hier unterschied sich sehr von der im Haus der Warners in Nanking. Der Herd hatte keine Vertiefung, in die der Wok passte, und im Ofen selbst brannte kein knisterndes Feuer. Er war überhaupt nicht in Betrieb. Keine Menschenseele befand sich in der Küche! Ich musste der traurigen Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Warners nicht nur keine Diener zum Saubermachen hatten, sie hatten auch keinen Koch, der sich ums Essen kümmerte. Ich hörte die Haustür gehen und Mrs. Warner stapfte ziemlich zerzaust mit ein paar Paketen beladen herein. Sie ließ sie auf den Küchentisch fallen und sank selbst auf einen Stuhl. Einen Moment lang war sie zu erschöpft, um zu sprechen. Dann seufzte sie tief. „Ich fang besser mal an, das Abendessen zu machen. Weißt du, ich habe schon jetzt Heimweh nach Nanking.“ Ich riss mich zusammen. „Ich nicht! Ich finde es ein tolles Abenteuer, nach Amerika zu kommen!“ Meine Arbeitgeberin brauchte Unterstützung, und ich versuchte, sie aufzumuntern. „Sie sind bestimmt müde. Lassen Sie mich beim Kochen helfen.“ Mrs. Warner lächelte. „Meine Liebe, hast du schon jemals gekocht?“ Ich musste zugeben, dass das nicht der Fall war. „Aber ich kann es lernen.“
„Na, ich hab jedenfalls schon mal gekocht“, sagte Mrs. Warner. „In China bin ich verwöhnt worden, aber ich kann mich noch an ein paar grundlegende Dinge erinnern.“ Mrs. Warner mochte sich vielleicht noch an ein paar grundlegende Dinge beim Kochen erinnern, aber sie war schrecklich aus der Übung. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an das erste Abendessen im Haus der Warners in San Francisco erinnern. Es bestand aus Schweinekoteletts, gedünstetem Kohl und Kartoffelbrei. Der Kohl war zu Brei geworden, die Kartoffeln waren steinhart und die Schweinekoteletts schmeckten wie vermodertes Holz. Billy war sonst immer der Erste, der sich über das Essen beschwerte. Aber nach einem Blick auf das strenge Gesicht seiner Mutter war er klug genug, nichts zu sagen. Nach dem Essen half ich Mrs. Warner, den Tisch abzudecken und zu spülen. „Grace soll auch helfen“, sagte sie. In den nächsten Tagen fand nicht nur ich es schwierig, sich in Amerika einzugewöhnen. Die Warners, schmallippig und überarbeitet, verbrachten nur wenig Zeit zu Hause. Grace kam in eine Schule in der Nähe, aber sie schien nicht das gleiche Hochgefühl zu entwickeln, das ich bei meinem Schuleintritt empfunden hatte. Der achtjährige Billy bekam solches Heimweh nach China, dass er sich benahm wie ein Vierjähriger. Ich musste all meinen Erfindungsreichtum aufbringen, um ihn von seinen Tobsuchtsanfällen abzubringen. Ich versuchte, Mrs. Warner so gut zu helfen, wie ich konnte, denn ich fühlte mich ihr jetzt viel näher als in Nanking. Obwohl ich nur als Privatlehrerin für die Kinder eingestellt war, hatte ich nicht das Herz, mich faul zurückzulehnen, während sie sich so sehr mit der Hausarbeit und dem Kochen abmühte. Ich versuchte, mit einem Besen zu kehren, aber ich hatte nicht begriffen, dass der Dreck erst auf ein Schäufelchen und
dann in einen Abfalleimer kam. In China kehrten die Mädchen einfach alles auf den Hof. Mit dem Scheuerlappen war ich auch nicht viel erfolgreicher, da ich nicht wusste, dass er erst ausgewrungen werden musste, damit man gut mit ihm putzen konnte. Eines Abends, als ich beobachtete, wie alle am Tisch verbissen Mrs. Warners Essen zermalmten, überkam mich plötzlich große Sehnsucht nach chinesischem Essen. „Warum soll ich eigentlich nicht mal versuchen, ein Reisgericht zu kochen?“, schlug ich vor. „Ich könnte auch Fleisch schnetzeln und mit Gemüse zusammen schmoren.“ Die Begeisterung, mit der mein Vorschlag von der ganzen Warner-Familie aufgenommen wurde, überraschte mich. Grace klatschte in die Hände, Billy sprang vor Freude auf und sogar auf dem ernsten Gesicht von Mr. Warner machte sich ein Lächeln breit. Mrs. Warner seufzte tief auf. „Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee, Eileen.“ Und so begann meine Karriere als Köchin. In China hatte ich nie einen Fuß in die Küche gesetzt, aber ich war gerne auf dem Hof um sie herumgeschlichen und hatte den Küchenchef sein Hackmesser schwingen sehen. Ich hatte zugesehen, wie der Koch das fein geschnittene Essen in den heißen Wok gab und kräftig rührte. Vor allem aber wusste ich, wie gutes Essen schmecken sollte. Natürlich dauerte es einige Zeit, bis ich auch nur die einfachsten Techniken des Kochens beherrschte. Reis ist die Grundlage jeder chinesischen Mahlzeit, doch ich merkte, dass es überraschend schwer war, ihn gut zu kochen. Mein erster Reis wurde zur Reissuppe, aber Reissuppe war wenigstens ein erkennbares Gericht. Mrs. Warner war so erleichtert, in mir eine Hilfe in der Küche zu haben, dass sie sehr geduldig mit mir war. Als meine Kocherei allmählich besser wurde, konnte die Familie aufhören, nur so zu tun, als würde sie mein Essen mögen. Die Anerkennung wurde echt. Aber es war harte
Arbeit. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nicht so schwer körperlich gearbeitet. Zusätzlich dazu, dass ich Billy unterrichtete und Grace nach der Schule bei den Hausaufgaben half, musste ich im nächsten Laden Lebensmittel einkaufen und immer häufiger das Kochen übernehmen. Ich war aber auch noch nie so zufrieden mit mir selbst gewesen. Sicher, ich war stolz auf meine Leistung an der Macintosh-Schule gewesen. Und ich war mit Sicherheit Großmutters Lieblingsenkel gewesen. Aber Großer Onkel hatte mir klargemacht, dass ein Mädchen in einer chinesischen Familie ein Luxus war, jemand, den man zwar herzlich lieben konnte, der aber immer eine Belastung für die Finanzlage der Familie war. Eine Tochter brachte einer Familie nichts. Einmal verheiratet, war sie ein großer Kostenfaktor für eine andere Familie, wo erwartet wurde, dass sie ihre Pflicht tat und Söhne zur Welt brachte. Ich fand, dass ich bei den Warners einen Beitrag zur Familie leistete. Ich wurde gebraucht.
Die Warners hüteten sich, irgendetwas über meine Kochkunst zu sagen. Ich wusste sehr genau, dass sie sie keineswegs für vollendet hielten, aber sie hatten mich noch keinmal kritisiert. Vielleicht hatten sie Angst, ich würde das Kochen aufgeben und sie müssten wieder zu zermatschtem Kohl und hölzernen Schweinekoteletts zurückkehren. Billy war wie üblich der Erste, der seine Meinung aussprach: „Das schmeckt nicht so, wie wir es in China immer gehabt haben“, sagte er, nachdem er meinen geschnetzelten Kohl mit Rindfleischstücken probiert hatte. Die anderen versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen, aber es war zu spät. Im Übrigen hatte er ja Recht. Meine Kocherei, die von den Grundlagen her dem chinesischen Essen einigermaßen nahe kam, schmeckte ziemlich fade. Sie musste
mehr Würze bekommen. Dafür brauchte ich verschiedene Zutaten, aber keines der umliegenden Geschäfte führte etwas, das chinesischen Lebensmitteln ähnlich war. Plötzlich hatte ich unheimliche Lust auf Langkornreis anstelle der breiigen Sorte, die die Amerikaner für ihren Reispudding nahmen. Bei dem Gedanken an Sojasoße, Ingwer und Bambussprossen lief mir das Wasser im Mund zusammen… „Ich muss Sojasoße kaufen“, sagte ich. „Vielleicht kannst du mit Eileen nach Chinatown fahren, Imogene“, sagte Mr. Warner. „Da kann sie alles finden, was sie braucht.“ Ich hielt die Luft an. James Chew hatte gesagt, das Restaurant seines Vaters liege in Chinatown. Immer und immer wieder hatte ich an James gedacht, aber ebenso wie meine Familie, Miss Gilbertson und Xueyan war er ein Teil meiner Vergangenheit geworden. Nun fühlte ich mich bei der Aussicht, ihn möglicherweise wieder zu sehen, ganz kribbelig vor Aufregung. Gleich am nächsten Morgen fuhren Mrs. Warner und ich mit der Straßenbahn in einen völlig anderen Teil von San Francisco. Noch bevor ich die Bahn verließ, hörte, sah und roch ich eine andere Welt – eine chinesische Welt. Sogar die Straßennamen waren mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben. Wir stiegen in einer Straße aus, die mit Douban Jie ausgeschildert war. „Das ist die Dupont Street“, sagte Mrs. Warner, „das Zentrum von Chinatown.“ Verwirrt stand ich auf dem Bürgersteig. Um mich herum die vielen Menschen und all die Gemüsestände mit Kästen voll der vertrauten Sachen: Senf, Blätter von jungen Chrysanthemen… Ich spähte in die offenen Läden und sah getrocknete Kammmuscheln, Lotuswurzeln und Flaschen mit chinesischer Beschriftung. „Was ist denn, was ist denn los, Eileen?“, frage Mrs. Warner. „Fühlst du dich nicht gut?“ Da merkte ich erst, dass mir die Tränen über das Gesicht liefen. Ich war zu überwältigt, um zu sprechen, aber schließlich wischte ich mir
die Augen und räusperte mich. „Das ist wie wieder in China zu sein“, flüsterte ich. Einen Augenblick lang schien es, als würden mich keine achttausend Meilen Ozean von Nanking trennen, von den Olivenbäumen in den Höfen der Familie Tao, von Mutter, Zweite Schwester und Kleiner Bruder.
Später ging ich einmal in der Woche alleine nach Chinatown, um die benötigten Zutaten zu kaufen. Manchmal musste ich bei der Erinnerung lachen, wie Mutter mich nie ohne Begleitung auf die Straße gelassen und darauf bestanden hatte, dass ich eine Rikscha nahm. Hier in San Francisco lernte ich, die richtige Straßenbahn zu nehmen, sodass ich meine Unternehmungen alleine machen konnte. Auf diese wöchentlichen Ausflüge freute ich mich immer. Es war, als würde ich in mein Land zurückkehren, nach Hause. In Chinatown war ich unter Menschen, die wie ich aussahen. Dort fühlte ich mich nicht wie eine Fremde. Doch ganz stimmte das nicht. Ich merkte bald, dass die Sprache ein Problem war. Wenn ich ein Bündel mit Gemüse aufnahm und auf Mandarin nach dem Preis fragte, verstand mich der Ladenbesitzer nicht und sagte etwas auf Kantonesisch. Um uns zu verständigen, mussten wir dann doch englisch reden. Ein gutes Gehör hatte schon immer zu meinen besten Eigenschaften gehört. Wenn es mir möglich war, Englisch zu lernen, könnte ich bestimmt auch Kantonesisch lernen. Bei meinem dritten Besuch brachte ich schon ein paar Sätze zustande. „Ich brauche eine leichtere Sojasoße, die hier ist zu dunkel.“ „Du sagst besser scheng schon“, hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir. Ich wirbelte herum und sah James Chew. „Aber deine Aussprache ist ziemlich gut“, fügte er noch hinzu und lächelte.
Obwohl ich bei jedem Besuch in Chinatown insgeheim gehofft hatte, ihn zu treffen, war ich jetzt doch überrascht, wie froh ich war, ihn zu sehen. Das Einzige, das mir zu fragen einfiel, war: „Wohnst du hier in der Gegend?“ „Das Restaurant meines Vaters ist gleich da drüben um die Ecke“, antwortete er. „Wenn du Zeit hast, dann komm doch auf etwas Dim sum mit rüber.“ In meinem ganzen Leben war ich noch nie in einem Restaurant gewesen. Mit völlig fremden Menschen zu essen, war nichts für junge Mädchen aus guter Familie und Mutter wäre schon alleine bei dem Gedanken schockiert gewesen. Aber ich hatte natürlich schon mit Hunderten von Fremden in dem riesigen Speiseraum des Schiffs gegessen. Außerdem änderten sich die Zeiten, sogar in China. Und schließlich war ich nun schon fast sechzehn, alt genug, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und trotzdem fühlte ich einen Hauch von Schuld, als ich James zum Restaurant seines Vaters begleitete. Es war laut und sehr voll und die Kellner rannten wie verrückt durcheinander. Als Sohn des Besitzers konnte James einen Tisch in einer ruhigen Ecke bekommen. Wir setzten uns, und ich erzählte, warum ich meine Ausflüge nach Chinatown unternahm. Es war nicht ganz leicht zu reden, weil ich mir ständig etwas von dem wunderbaren Essen in den Mund stopfen musste, das uns gebracht wurde. Ich schilderte meine Kochversuche und Misserfolge. Da es aber im Restaurant so laut war, war ich mir gar nicht sicher, ob James mich überhaupt verstehen konnte. Ich jedenfalls verstand nur Bruchteile von dem, was er sagte. Doch ich konnte einen bestimmten Ausdruck in seinem Gesicht sehen. Es war Bewunderung. Liebe und Zuneigung hatte ich von Vater, Großmutter und Zweite Schwester reichlich bekommen.
Aber Bewunderung war etwas anderes. Bewunderung lag dicht bei dem Respekt, den ein Erwachsener vor dem anderen hat. Das Essen war wunderbar, aber ich konnte einfach nicht mehr. Als der nächste Gang mit dampfenden Klößen gebracht wurde, winkte ich ab. „Ich krieg keinen Bissen mehr runter.“ James nickte. „Lass uns nach draußen gehen. Hier drin ist es zu laut.“ „Danke für dieses Festmahl“, sagte ich, als wir wieder auf der Straße standen. „Ich muss jetzt aber zu den Warners zurück.“ Als wir zur Straßenbahnhaltestelle gingen, blieb James plötzlich stehen und blickte mich an. „In den letzten Monaten habe ich versucht, zu einer Entscheidung über meine Zukunft zu kommen“, sagte er langsam. „Ich mag die Art nicht, wie mein Bruder das Restaurant führt, aber ich konnte nicht den Mut aufbringen, mich selbständig zu machen. Dass ich dich jetzt hier getroffen habe, hat mich zu einer Entscheidung gebracht.“ Ich spürte, wie mein Gesicht warm wurde. James’ Augen leuchteten. „Du hast deine Familie verlassen und eine Stelle als Kindermädchen angenommen, weil du deine Unabhängigkeit nicht aufgeben wolltest.“ „Heißt das, du willst deine Familie auch verlassen? Etwa als Diener arbeiten?“ Ich war entsetzt. Für so einen Schritt wollte ich nicht verantwortlich sein. „Noch bei einer ausländischen Familie in einem fremden Land hast du dein Selbstbewusstsein behalten. Nun habe ich mich ebenfalls entschieden. Ich hab beschlossen, mein eigenes Restaurant aufzumachen!“ Etwas wie Angst ließ mein Herz schneller schlagen. „Ich möchte dafür nicht verantwortlich sein! Ich hab nicht die Entscheidung für dich getroffen!“ James grinste. Er wirkte jünger und fast etwas boshaft, als er sagte: „Doch, du bist es, ob du willst oder nicht.
Und wenn ich Pleite gehe und meine ganzen Ersparnisse verliere, dann ist alles deine Schuld!“ Wir lachten beide. „Wann kann ich dich wieder sehen?“, fragte James, als wir die Straßenbahn näher kommen hörten. „Also normalerweise kaufe ich hier einmal die Woche ein“, gab ich zur Antwort. Sanfter fügte ich hinzu: „Ich kann es regelmäßig jede Woche am Mittwochmorgen machen, sagen wir um elf?“
Als die Warners ihre Rückkehr nach China vorbereiteten, sagte ich zu Mrs. Warner: „Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich gehe nicht mit Ihnen nach China zurück. Ich bleibe in Amerika.“ „Meine Liebe, bist du dir da ganz sicher?“, fragte Mrs. Warner. „Entschuldige, aber ich finde, du bist noch ein bisschen jung, um solche ernsthaften Entscheidungen zu treffen.“ Ich musste ein Lächeln verbergen. Ich hatte schon andere ernsthafte Entscheidungen getroffen und war da noch erheblich jünger gewesen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Warner, ich weiß, was ich will.“ „Möchtest du nicht deine Familie wieder sehen?“, fragte Mrs. Warner. „Ich weiß, dass du ihnen nicht sehr nahe stehst, aber hast du nicht doch Sehnsucht nach deiner Mutter, deinen Schwestern und deinem Bruder? Wenn du hier bleibst, kann es sehr lange dauern, bis du eine Möglichkeit findest zurückzugehen.“ Mrs. Warner hatte den Finger auf den wunden Punkt meiner Entscheidung gelegt: Jahre könnten vergehen, bevor ich die tröstlichen Arme von Zweite Schwester wieder um mich spüren würde. Ich würde nicht mit Kleiner Bruder über die öffentliche Schule sprechen können und ich würde ihn nicht aufwachsen sehen. „Darf ich Sie bitten, diese englischen Bücher meinem jüngeren Bruder zu
bringen?“, fragte ich. Ich hatte Kleiner Bruder eigentlich auch eine Spielzeugeisenbahn schenken wollen, doch dann machte ich mir klar, dass er schon zu alt dafür sein dürfte. Es war traurig, dass ich nicht wusste, welche Art von Spielzeug er jetzt mochte. Aber Bücher würden immer willkommen sein, dachte ich. Mrs. Warner räusperte sich. „Möchtest du, dass wir deiner Familie irgendwelche Botschaften überbringen?“ Ich hatte Briefe an Miss Gilbertson geschrieben und an Xueyan, aber nicht an meine Familie. Irgendetwas hatte mich daran gehindert. Obwohl ich mich nicht für meine Stellung bei den Warners schämte, hatte ich doch Angst, meine Familie würde das nicht so sehr schätzen und es missbilligen, dass ein Familienmitglied als Kindermädchen arbeitete. Deshalb schüttelte ich nur den Kopf. „Eines Tages werde ich meiner Familie schreiben.“ Mrs. Warner blickte immer noch ernst. „Wir haben James Chew getroffen, er scheint ein verantwortungsbewusster junger Mann zu sein. Es wird uns eine Ehre sein, dich ihm anzuvertrauen. Aber du kennst ihn nicht besonders lang. Hast du dir überlegt, dass du niemand sonst hast, der dich beschützen kann, wenn wir weg sind?“ „Das habe ich mir überlegt.“ „Und ihm zu helfen, das Restaurant zu führen!“, sagte Mrs. Warner. „Das ist Knochenarbeit!“ Wieder musste ich ein Lächeln unterdrücken. Harte Arbeit kannte ich – vom Aufpassen auf Grace und Billy und vom Kochen hier in San Francisco. Doch ich sagte nur: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin darauf vorbereitet, hart zu arbeiten.“ James hatte genau dasselbe angesprochen, als er die Heirat vorschlug. „Ich biete dir kein einfaches Leben. Du wirst viel und härter arbeiten müssen, als du es jemals getan hast.“
Und ich hatte geantwortet: „Ich bin darauf vorbereitet.“ Und dann hatte ich noch gesagt: „Wenn du noch Geld brauchst, um dein Restaurant zu eröffnen, ich habe ein bisschen was gespart. Das kannst du haben.“ Er lachte, als ich ihm von dem Geld erzählte, das mein Onkel mir zurückgegeben hatte, und von meinem angesparten Lohn. „Tut mir Leid, aber um ein Restaurant zu eröffnen, brauchen wir viel mehr Geld als das – sehr viel mehr.“ Aber mein Angebot schien ihn tief gerührt zu haben. Er nahm mich fest in die Arme und küsste mich zärtlich.
Epilog
Als die Einzelheiten meines Lebens blitzschnell an mir vorüberzogen, wurde ich von Hanweis Stimme aufgeschreckt, als er wiederholte: „Warum hast du nicht gewartet, Ailin? Warum bist du zu dieser amerikanischen Familie davongelaufen?“ Das war Hanweis Frage gewesen. Seine Augen blickten zugleich bedauernd und vorwurfsvoll. „Die Dinge ändern sich in China“, sagte er. „Und immer mehr Bekannte meiner Eltern lassen die Füße ihrer Töchter nicht einbinden. Hättest du gewartet, hätten wir heiraten können und du könntest ein viel leichteres Leben führen.“ „Und zwar was für ein Leben?“, fragte ich. Ich meinte es nicht ironisch, ich wollte es einfach nur wissen. „Also…“ Er war auf meine Frage nicht vorbereitet. „Also das einer vornehmen Frau aus der Oberschicht, denke ich… Weißt du, du würdest so leben wie meine Mutter, deine Mutter…“ Ich dachte an das bequeme Leben meiner Mutter. Oder an das der zwei Frauen von Großer Onkel. Natürlich würde Hanwei mich nicht so tyrannisieren wie Großer Onkel seine Frauen, aber was würde ich den lieben langen Tag tun? Hatte ich diese Frage laut gestellt? Vielleicht konnte Hanwei meine Gedanken lesen, denn er antwortete: „Du hättest Englischlehrerin werden können. Einige Schulen haben jetzt auch chinesische Lehrerinnen. War das nicht dein Wunsch gewesen?“ „Nein, ich kann keine Lehrerin werden“, sagte ich und einen Moment lang spürte ich deshalb einen stechenden Schmerz. „Ich habe die Schule nie abgeschlossen.“
„Du hättest wenigstens zurück nach Nanking kommen können!“, erwiderte Hanwei heftig. „Aber stattdessen bleibst du in Amerika! Ich kann den Gedanken, dass du so viel arbeiten musst, nicht ertragen!“ In dem Punkt hatte er Recht. Ich musste hart arbeiten. In Chinatown führten einige Frauen, die eingebundene Füße hatten und mit reichen Geschäftsleuten verheiratet waren, ein bequemes Leben, eingeschlossen in ihre Zimmer im Obergeschoss. Ich wusste aber genau, ich würde den Verstand verlieren, müsste ich meine Tage so verbringen. Ich hatte mich für ein anderes Leben entschieden. Die ersten beiden Jahre nach der Eröffnung des Restaurants waren wirklich Schwerstarbeit gewesen. James hatte mich davor gewarnt, dass es hart werden würde, aber es war viel schlimmer geworden, als ich erwartet hatte. Erst in der letzten Zeit war es besser geworden. Nun konnten James und ich es uns leisten, Hilfskräfte einzustellen, und wir hatten manchmal die Zeit, in den Zoo zu gehen oder mit der Fähre zur East Bay überzusetzen. So konnte ich es mir sogar leisten, mich zu einem Gast zu setzen, um über die alten Zeiten zu reden. Während ich Hanwei gegenüber am Tisch saß, betrachtete ich meine abgearbeiteten Hände. Meine Finger würden nie wieder zierlich und zart sein. Verglichen mit ihnen, hatte Hanwei immer noch die weichen, verhätschelten Hände eines Menschen, der niemals seine Socken selbst waschen oder gar Tag für Tag Berge von Geschirr spülen musste. Plötzlich wusste ich, dass ich nun endlich bereit war, meiner Familie zu schreiben. Ich wollte, dass sie genau darüber informiert war, wie ich lebte. „Hanwei, könntest du einen Brief an meine Mutter mitnehmen? Und ihr alles über dieses Restaurant erzählen?“
Er blickte mich an. „Es macht dir nichts aus, wenn ich ihnen erzähle, wie schwer du arbeitest?“ „Ich bin stolz auf die harte Arbeit, die ich geleistet habe, weil ich auf meinen eigenen beiden Füßen stehe und meinem Mann geholfen habe, dieses Restaurant erfolgreich zu machen“, sagte ich. Ich dachte an die Menschen, die mich liebten. Ich wusste, mein Vater wäre stolz auf mich. Ich lachte und fügte hinzu: „Weil ich auf meinen beiden großen Füßen stehe.“
Eine Anmerkung über die chinesische Tradition des Einbindens der Füße
Die Tradition des Einbindens von Füßen begann in China gegen Ende der Tang-Dynastie, rund 900 Jahre nach Christus. Nach einer alten Volkserzählung hatte sich eine Tänzerin am Hof des Tang-Kaisers die Füße eingebunden, damit sie besser auf den Zehenspitzen tanzen konnte, ähnlich wie die Balletttänzerinnen heute. Sie war so anmutig, dass es ihr viele Tänzerinnen nachmachten, und das Verfahren wurde bei den Damen am Hof und bei anderen adligen Damen zur Mode. Die meisten Historiker aber bezweifeln, dass die Frauen der Tang-Dynastie schon eingebundene Füße hatten, denn Skulpturen und Gemälde stellen sie als robust, fast schon athletisch dar. Polo war unter den adligen Frauen der TangZeit ein beliebter Sport. Erst aus der Zeit der Song-Dynastie (960-1279) gibt es eindeutige Berichte von Frauen, deren Füße eingebunden waren. Zunächst war diese Praxis auf adlige Frauen begrenzt, aber allmählich breitete sie sich auf andere Klassen der Gesellschaft aus. Bauersfrauen und andere Frauen, die harte körperliche Arbeit zu verrichten hatten, entkamen dem Einbinden der Füße, weil sie das daran gehindert hätte, sich rasch und tatkräftig zu bewegen. Obwohl das Einbinden der Füße unerträglich schmerzhaft war und das Opfer für praktische Arbeit unbrauchbar machte, wurde das Verfahren über tausend Jahre lang fortgesetzt. Warum unterzogen sich Frauen dieser Prozedur? Angeblich fanden Männer eingebundene Füße attraktiv. Mir geht es darum zu verstehen, warum chinesische Männer von Frauen so entzückt waren, deren Füße mit Gewalt so
winzig gehalten worden waren. Fotografien von nackten, verkrüppelten Füßen sind ein Anblick, der einen krank macht. Was also machte deren Attraktivität aus? Es gibt eine Menge Theorien dazu. Eine davon ist, dass verkrüppelte Füße eine Frau hilflos machen und daran hindern wegzulaufen. Einige Männer werden von dem Gedanken an hilflose Frauen erregt. Aber das erklärt nicht alles. Die chinesischen Männer waren nicht alle Sadisten, die sich an der Vorstellung von gequälten und ihrer Gnade ausgelieferten Frauen ergötzten. Eine andere Theorie besagt, dass es dem Mann einen bestimmten Status verlieh, wenn er sich eine Frau leisten konnte, die nicht zu arbeiten in der Lage war. Das zeigte, dass er reich genug war, sich eine Frau als „Trophäe“ leisten zu können. Seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts starb die Praktik langsam aus, obwohl in den oberen Schichten der Gesellschaft Frauen mit eingebundenen Füßen weiterhin bevorzugt wurden. Auch heute noch kann man in China ein paar einzelne alte Frauen finden, die eingebundene Füße haben. Sie genieren sich deshalb, können aber die Bandagen nicht lösen und normale Schuhe tragen, weil es zu schmerzhaft ist, ohne die Unterstützung der Bandagen zu laufen. Erst in den Dreißigerjahren verschwand die Praktik mehr oder weniger ganz und die Mütter erlaubten ihren Töchtern, auf freien Füßen herumzulaufen. In einigen abgelegenen Gegenden wurde das Einbinden aber noch bis in die Vierziger Jahre praktiziert! In einem kleinen Dorf habe ich eine Frau mit eingebundenen Füßen getroffen und sie war gerade mal Mitte fünfzig. Lensey Namioka