Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 08
Azaretes Weg von Nicole Rensmann
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 08
Azaretes Weg von Nicole Rensmann
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidischen Imperiums geboren und seines Throns beraubt, strandete nach vielen Jahren auf Terra. Dort wurde er dank eines Zellaktivators zu einem relativ Unsterblichen. Als Freund und Verbündeter Perry Rhodans erlebte er den Aufstieg der Menschheit, als Widerstandskämpfer trat er gegen Usurpatoren und Invasoren an, als Beauftragter der Kosmokraten sah er die Wunder des Kosmos, als Ritter der Tiefe wurde er zum Träger einer entsprechenden Aura. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) macht sich der Unsterbliche zusammen mit der geheimnisvolen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen, die von den geheimnisvollen »Lordrichtern von Garb« bedroht werden. Dabei verschlägt es die beiden nacheinander auf die Vergessenen Welten der Varganen Narukku und Maran'Thor, und sie beschließen, sich einen »Kardenmogher« zu beschaffen, eine alte varganische Waffe, mit der sie den Lordrichtern Paroli bieten können. Auf ihrer Suche geraten sie nun auf eine weitere Welt, und dort kreuzen sie AZARETES WEG …
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide wird für einen Gott gehalten. Kythara - Die Varganin wandelt auf den Spuren ihres Volkes. Contelapo - Der Hochpräses der Yracht-Kirche kämpft um seine Macht. Azarete - Der Priester erleidet einen schweren Verlust.
1. Widersacher »Ihr habt doch bisher nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, wen Eure Befehle zerstören und welche Folgen das eines Tages auch für Euch haben kann!«, wetterte Azarete. Seine Stimme dröhnte machtvoll durch den Raum, das Gesicht glühte in heiligem Zorn, umgeben von ungekämmtem dunkelblondem Haar, das im einfallenden Tageslicht wie die Strahlen der untergehenden Sonne wirkte, eine Aureole, die den jungen Priester umgab. Obwohl er bisher stets diplomatisch mit den Ältesten gesprochen hatte, ging er diesmal voll auf Konfrontationskurs. Was er da tat, war nachgerade unglaublich: Er lehnte sich gegen den Hochpräses der Yracht-Kirche auf! Wer hatte das zuletzt gewagt und – wichtiger noch – mit welchem Ergebnis? Mit dem Ärmel seines Talars wischte Azarete sich über Mund und Vollbart. »So ein Geschrei wegen einiger lächerlicher Abgaben«, tadelte Gafor den jungen Mann milde. Wie seine beiden Kollegen, Demir und Rario, saß er an dem ovalen Steintisch im vorderen Drittel des großen Staatssaals. Die Magier wirkten nach außen hin ruhig und gelassen, ihre schwarzen Roben aus schwerem Wollstoff verliehen ihnen einen Hauch Unantastbarkeit, schließlich waren es Kleidungsstücke, die nur Magier tragen durften. »Wegen erneuter Abgaben«, korrigierte Azarete. »Die Last ist zu groß, und jeder müsste das erkennen, auch der Hochpräses! Diesmal ist Contelapo zu weit gegangen! Die Kluft zwischen der Kaste und dem Volk wird dadurch erbarmungslos verbreitert, und was das bedeutet …«
»Beruhige dich, Azarete! So beruhige dich doch.« Demir, der ranghöchste Magier, war aufgestanden, um den Tisch herumgegangen und schwang nun ein Pendel vor Azaretes Augen hin und her. Verärgert riss der junge Priester dem Magier die Kordel mit dem goldenen Obelisken aus der Hand und warf sie ins Feuerbecken. Es zischte, als die Kordel in Flammen aufging, und grüner Rauch stieg auf. »Euer Hokuspokus hat keine Macht mehr über mich. Und wie mir ergeht es noch vielen anderen: Die Jüngeren stehen Eurer Magie längst argwöhnisch gegenüber. Ihr müsst Euch schon etwas Besseres einfallen lassen, damit der Zweifel an Euren Fähigkeiten ausgeräumt wird.« Gafor und Rario erhoben sich ebenfalls und stellten sich neben ihren Bruder. Durch Kleidung und Haartracht wurde ihre starke familiäre Ähnlichkeit noch betont, lediglich an der Länge der grauen Haare ließen sie sich auseinander halten. Demir als dem Ältesten reichte das dünne Haar bis zur Taille, während Gafors bei den Schultern endete und Rario die Haare bis zum Kinn trug. Wer es wagte, den dreien in die Augen zu sehen, hätte noch ein anderes Unterscheidungsmerkmal erkannt: die Farbvarianz der Iris. Aber weder der Hochpräses noch seine Untertanen oder die Bewohner des Landes wagten es, den Magiern in die Augen zu schauen. Nur Azarete, und so wusste er, dass Demirs Augen so schwarz waren, als blicke man in einen tiefen Krater, während Gafors fliederfarbene Augen und die schmutzig gelben von Rario sich davon und voneinander deutlich unterschieden. Aus den Augenwinkeln bemerkte Azarete Dantino, den jungen Berater des Hochpräses, den Saal betreten und abwartend am Eingang stehen bleiben. Azarete wusste,
4 dass von ihm keine Einwände kommen würden. Dantino bezog selten Stellung – weil er genau wusste, dass er sich damit so manches Mal in der ungünstigen Lage befinden würde, dem Hochpräses zu widersprechen. Azarete wusste, dass Dantino Contelapo nur deswegen diente, weil er als Berater dessen Schutz genoss. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis auch er der Kaste den Rücken zudrehen würde. »Du solltest nicht so verächtlich über unsere Kaste urteilen. Sie ist ein Teil von dir«, erklärte Demir. »Da irrt Ihr Euch.« Azarete atmete tief durch. Sofort wurde er ruhiger. »Obgleich Ihr mich einst Euren Glauben lehrtet, steht mir nicht mehr der Sinn nach dieser beengten Denkweise. Lebt diesen Glauben, niemand hindert Euch daran. Aber gebietet den Wachen Einhalt und ändert Eure Anordnungen und Verbote. Der Glaube ist keine Knute!« Azarete sah Demir fest in die Augen, dann blickte er zu Contelapo, dem amtierenden Hochpräses, der auf einem Podest im hinteren Teil der Halle saß, wie aus Stein gemeißelt und mit ebenso kaltem Blick. Bisher war er dem Wortwechsel gefolgt, ohne die Miene zu verziehen. »Dies ist ein gut gemeinter Rat, Hochpräses.« Gelassen erwiderte Contelapo den Blick, ließ ihn gleichsam an sich abprallen. Dantino trat zu Azarete und berührte ihn leicht an der Schulter. Dies brach das Blickduell: Der junge Priester drehte sich zu dem Berater um. »Habt Ihr schon einmal darüber nachgedacht, dass Ihr eines Tages der neue Hochpräses sein könntet?« Azarete runzelte die Stirn. Diese Überlegung erschien ihm derart absurd, dass er sie nicht einmal einer gesprochenen Antwort wert befand. Er sah wieder zum Hochpräses, der gerade dabei war, sich zu erheben. Die Gleichgültigkeit in den Augen des Mannes wunderte ihn nicht. Jener war ein gefühlloser Mann, der nur nach Macht und Reichtum gierte.
Nicole Rensmann »Die Kaste bietet Euch Schutz«, mahnte Contelapo. Die Stimme klang abwesend oder, mehr noch, vollkommen gleichgültig, als bete er leere Formeln her. Wäre es nicht so bitterernst gewesen, Azarete hätte dem Hochpräses ins Gesicht gelacht. Er mochte sich dessen selbst nicht einmal bewusst sein, doch Contelapos Macht ruhte auf den Magiern und den Beratern. Wandten sie sich ab, verlöre er fast umgehend alle Autorität. Doch derzeit verkörperte er sie. Noch. »Schutz? Vor wem? Dem bösen Volk? Yracht? Oder gar vor dem Denmogh, den nur Ihr zu beschwören in der Lage seid?« Azarete lächelte und schüttelte leicht den Kopf. »Oder vor Euch?« Im Grunde wollte Azarete dem Priester kein Leid zufügen. Alles, was er forderte, war eine Lockerung des Kastendenkens, sodass es jedem offen stand, für welche Kaste er sich entschied, außerdem das Senken der Steuern und eine humane Behandlung der Ministranten und armen Bauern. Langsam schritt Contelapo vor dem Priesterthron auf und ab, immer bis exakt an den Rand des Podests, wo er für wenige Herzschläge stehen blieb, ehe er in die andere Richtung marschierte. Nach einer Weile blieb er abrupt vor dem Thron stehen und fixierte Azarete in einer Mischung aus Missbilligung und Anerkennung. »Würden Euch denn … finanzielle Zuwendungen besänftigen?« »Reichtum?« Azarete, der deutlich jünger als Contelapo war, lachte spöttisch. »Glaubt Ihr wirklich, Reichtum ließe sich an Finanzen ermessen? Glaubt Ihr, er zeige sich an teuren Gewändern und Schmuck, wie Ihr ihn tragt? Glaubt Ihr das?« Energisch schritt Azarete am Steintisch der Magier vorüber und auf seinen Widersacher zu. Als er sich nur noch eine halbe Armeslänge von ihm entfernt befand, schleuderte er ihm entgegen: »Wahrer Reichtum findet sich hier und hier.« Er klopfte sich nacheinander auf die linke Brust und an die Stirn. »Aber Eure Empfindungen und Euren Verstand habt Ihr zugunsten von Wohlstand und Macht voll-
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kommen verloren. Niemand auf dem ausgedorrten Land unter der Sonne Arka ist armseliger als Ihr, Hochpräses.« Er wartete die mögliche Erwiderung nicht ab, sondern drehte sich so schwungvoll um, dass seine Robe die Luft durchteilte. Rasch verließ Azarete den Ratssaal. Für heute hatte er gewonnen. Niemand folgte ihm, als er aus den unterirdischen Katakomben der Priesterkaste an die Oberfläche stieg.
* Rund 20.000 Einwohner lebten in der Hauptstadt Cortasta, die an den Tempelbezirk anschloss. Dort wohnten sie in Höhlen, Zelten und aus Metallresten oder Holz erbauten Hütten an der Oberfläche, Tag für Tag den heißen Strahlen Arkas ausgesetzt, die wie ein glühendes Fanal am Himmel stand und den Boden ausdörrte. Zweiradwagen, Werkzeuge oder Geschirr stellten sie aus Metall- und Holztrümmern her. Viele der täglichen Gerätschaften bestanden aus Lehm, Stein, Pflanzenteilen oder aus dem Chitinpanzer der zahlreichen Insektenarten. Die Bewohner fertigten ihre Kleidung aus grobem, farblosem Leinen. Nur wenige leisteten sich Schuhwerk, die meisten gingen barfuß über die erstarrten und sonnenerhitzten, rauen Lavafelder. Dennoch schätzte Azarete den staubigen Ort. Er mochte jene, die aus den Überresten der Ahnen Gegenstände bauten, die sie für ihr Leben benötigten, und so das Beste aus ihrer Situation machten. Sie waren es, die das Zaubern beherrschten. Nicht aber die Magier. Sie nannten sich selbst Seher, wenn sie Bilder projizierten und dem Volk damit ihre prophetischen Kräfte vorgaukelten. Doch viele der jungen Priester und Ministranten zweifelten bereits an den Fähigkeiten der drei und glaubten auch nicht mehr den Versprechungen des Hochpräses, dass bald Unterstützung kommen würde. Von wo denn auch und – von wem? Wer sollte dem armseligen Bewohner helfen? Nicht einmal sie selbst halfen einander so, wie es sinnvoll
wäre, im Gegenteil: Die jungen Priester sahen, dass die Abgaben ungerecht verteilt wurden. Ihnen entgingen auch nicht die wachsenden Vorbehalte der Bürger gegenüber der Kaste. Denn sie mischten sich gern unter das gewöhnliche Volk, im Gegensatz zu den uralten Gläubigen. Noch vor wenigen Jahren übergaben beinahe alle Eltern ihre Kinder der Kaste. Sie hofften, dass es den Kleinen dort an nichts fehlte. Tatsächlich erhielten sie genug zu essen, Kleidung und einen Schlafplatz, aber nur selten gab es ein liebes Wort. Wie einseitig die Religion gelehrt und manchmal mit Schlägen eingeprügelt wurde, wussten die ahnungslosen Eltern nicht. Heutzutage blieb der Nachwuchs für die Priesterkaste aus. Die wenigen Mütter, die ihren Nachwuchs der Kaste übergaben, fühlten sich stark mit dem Glauben zu Gott Yracht verbunden. Auch Azaretes Mutter hatte ihn mit fünf Jahren den Gottesdienern überlassen. Nur schemenhaft erinnerte er sich an ihre liebevollen grünen Augen und ein Lächeln auf schmalen blassen Lippen. Manchmal war es ihm, als fühle er ihren Zopf, die sorgfältig geflochtenen aschblonden Haare zwischen den Fingern, und dann war er wieder ein kleines Kind auf dem Schoß der Mutter, spürte ihre kühlen Finger auf der Stirn, die sanften, streichelnden Bewegungen durchs Haar, hörte die leise Stimme, das warme Lachen und das Knistern des Feuers, das die kalten Nächte erwärmte. All das waren die Geister in seinem Kopf, und er liebte sie so sehr, wie er sie verabscheute, denn in keinem Moment seines Lebens war der Schmerz so tief wie in diesen und gleichzeitig so süß, dass er immer wieder verzweifelt versuchte, ihn festzuhalten – nur um festzustellen, dass er ihm dann umso schneller entglitt. Obwohl er seine Maie zu Beginn schmerzhaft vermisste, hatte er niemals geweint. Er hatte fleißig gelernt, damit er nach Hause zurückkehren durfte und seine Mutter stolz auf ihn sein würde. Doch dazu war es
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nie gekommen. Und niemals hatte seine Mutter ihn besucht. Erst nach über dreißig Jahren durfte Azarete die unterirdischen Bereiche des Tempelbezirks Kardedor verlassen. Sein bis dahin eingeschränktes Weltbild riss wie eine dünne Wolkendecke auf. Das, was er mit einem Mal sah, beeinflusste seinen Glauben und seine Lebensweise. Mit einem Schlag war ihm damals klar geworden, dass die Höheren Priester seine Mutter daran gehindert haben mussten, ihn zu sehen. Obwohl das Umland bis hin zum Kardedor-Gebirge von Kratern durchsetzt war und Pflanzen in diesem Teil des Landes kaum gediehen, liebte er diese einzigartige Savanne. All das Neue, das es oberirdisch zu entdecken gab, schmälerte die Trauer über den Tod seiner Mutter, die längst an Hunger und Kummer gestorben war und die ihm doch immer gegenwärtig blieb, als stünde sie neben ihm. Sie sprach nicht, sie riet ihm nicht, sie tadelte nicht, sie war einfach. Azarete blinzelte in die Sonne, deren Strahlen sich den Weg durch den Morgennebel bahnten. Vielleicht war es auch nur das wärmende Leuchten der orangefarbenen Scheibe, das ihn mehr faszinierte als jegliche Magie? Oder das Volk, dem er sich näher fühlte als der Kaste, weil seine Mutter eine von ihnen gewesen war? Er hätte noch so viele Fragen an sie gehabt. Seit nunmehr sechs Jahren hielt er sich nur des Nachts in den unterirdischen Katakomben auf. Denn auf der Oberfläche des Planeten stiegen wiederholt Gedanken aus seiner Vergangenheit empor, hervorgerufen durch einen Geruch oder ein Wort, die sein geistiges Andenken an zu Hause auffrischten. Lediglich an seinen Vater erinnerte er sich nie.
* Azarete seufzte, während er das Treiben der Marktbesucher vor den Toren des spirituellen Tempelbezirks betrachtete. Metallplatten lagen auf stabilen Steintürmen und dienten als Ablage, auf denen die Händler
ihre Waren feilboten. In einem Kreis reihten sich die Tische aneinander. Nur ein Weg führte in den Mittelpunkt des Marktes. Dort formte der Schmied nicht nur Speerspitzen, Harnische oder Teller aus Metall; zu seinen Aufgaben gehörte es auch, faule Zähne zu ziehen. Danach durfte der Kranke seinen Schmerz an einem Stand mit Göttersaft betäuben. Aber nicht nur Wein und Nahrung wurden angeboten, auch Stoffe, Kräuter, farbige Schmucksteine, Pfeile und Bögen, Messer und Rüstungen oder Gewandungen. Doch die Arkasther konnten sich nur selten diese teuren Güter leisten, sie beschränkten sich auf bewundernde Blicke und einen freundlichen Wortwechsel, um danach ihre selbst hergestellten Waren gegen Grundnahrungsmittel einzutauschen. Gegen Abend kamen dann die Priester und kauften, was ihnen gefiel – zu einem Preis, der den Händlern die Tränen in die Augen trieb. Doch wer würde sich beschweren, wenn er mehr erhielt, als er gefordert hatte? Nicht in Geld, bewahre, aber in einer Währung, die so viel dauerhafter und wertvoller war: spiritueller Läuterung und Handelsgenehmigungen. Azarete strich sich seinen Bart glatt, bevor er zu einem der Marktschreier hinüberging, der an seinem Stand runde Steine in einem Säckchen anbot und dies als neues Kinderspiel anpries. Auf halber Strecke entdeckte er einen in Lumpen gekleideten Bauern, der abseits der Menge am Rand lag – unbeachtet. Azarete eilte auf ihn zu. Der Wind blähte seine braune Leinenrobe auf und brachte die metallischen Nachbildungen der heiligen Relikte, die jeder Priester an einer Kordel um den Talar mit sich trug, zum Klimpern. Azarete kniete sich zu dem Mann hinunter und drehte ihn zu sich. Durch das hagere Gesicht verliefen zwei blutige, gekreuzte Schnitte, die von einem Messer stammten. »Ich wollte beten, nur beten, doch ich hatte nichts mehr, was ich ihnen hätte schenken können«, flüsterte der Bauer und schaute Azarete traurig an. »Wie ist Euer Name, Alter?«
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»Elinos.« »Gut, Elinos. Habe einen Moment Geduld. Ich hole einen Karren und bringe Euch zum Steinbruch.« »Du bist ein guter Priester.« Der Alte versuchte Azarete die Wange zu tätscheln, doch seine Hand rutschte ab. Er schloss die Augen. Azarete eilte auf den Marktplatz. Er kannte die Anwesenden hier, die meisten achteten ihn, viele ließen sich von Contelapos fälschlicher Macht nicht mehr beeinflussen. »Ich benötige Euren Handwagen, Schmied.« Der Mann zögerte nicht. »Ihr könnt ihn haben. Braucht Ihr Hilfe?« »Nein. Mein Dank ist Euch sicher. Ihr erhaltet ihn vor Aufgang des Mondes zurück.« Der Schmied, dessen Augen in dem von Ruß verschmutzten Gesicht glänzend hervorstachen, nickte und widmete sich wieder seiner Arbeit. Behutsam bettete Azarete den verletzten Bauern auf den Karren. Der Alte war mager und wog nicht viel mehr als ein Kind. Dann begab sich Azarete auf den steilen Weg zu den Steinbrüchen, die sich fernab der Hauptstadt und vom Tempelbezirk befanden – den Karren hinter sich herziehend.
* Graue Nebel lagen nach dieser unruhigen Nacht in den frühen Morgenstunden über der Stadt. Und die Feuchtigkeit drang mit sumpfigem Geruch in den unterirdischen Tempelbezirk. Wütend warf Contelapo ein Bündel getrocknete Kräuter ins Feuer, das die Blätter Funken sprühend verschlang. Der Qualm verdrängte den moderigen Gestank zumindest für eine Weile aus dem Saal. Nachdenklich und mit auf dem Rücken verschränkten Armen gingen die Magier im Ratssaal auf und ab, auch in jenem Bereich, in dem sich sonst die Ranghöchsten der Kaste trafen, wichtige Entscheidungen trafen und neue Gesetze ersannen. Energisch stakste Contelapo zwischen ihnen auf und ab.
Das aus Chitinpanzer gefertigte Schuhwerk schien dabei Zeichen in den Steinboden zu kratzen. Mit einem Zeigefinger hielt sich der Hochpräses ein Nasenloch zu – angeblich vermochte er dann klarer zu denken. Diesmal jedoch fiel ihm wenig ein. Die Ereignisse drohten seiner Kontrolle zu entgleiten. Der Zutritt in die unterirdischen Lager und zu den dort lebenden Priestern war dem Volk normalerweise verboten. Lediglich ein Tagungsraum und der Turm des Denmogh, umringt von Steinterrassen, befanden sich an der Oberfläche. Doch Einlass zu diesen heiligen Stätten – behütet von mehreren Wachposten –, erhielt das Volk nur am Morgen. Dafür mussten sie zunächst ihre Geschenke niederlegen, der Götterstatue, die den Eingang bewachte, danken und den Stein der Weisen küssen. Erst dann durften die Männer mit ihren Frauen und Kindern die Grenze zum spirituellen Zentrum passieren und an der Andacht teilnehmen. Wer jedoch seine Huldigung nicht abgab, wurde von den Wächtern erbarmungslos zur Seite getrieben. Dabei unterschieden die bewaffneten Männer nicht zwischen knapp zahlungsfähig und vollkommen mittellos. Contelapo wusste das. Schließlich hatte er Befehl dazu gegeben. Für viele der Bewohner brach vor dem Tor des Tempelbezirks ihre kleine Welt zusammen, denn der Glauben hielt sie aufrecht und die morgendliche Andacht gehörte zu ihren alltäglichen Ritualen. Sie spendeten alles – bis sie nichts mehr besaßen, um Einlass und den Segen des Hochpräses zu erhalten. Was scherten ihn die armseligen Bürger? Als Ranghöchster hatte er wichtige Aufgaben zu erledigen und musste schwere Entscheidungen treffen. Doch erstmalig war es in der Nacht zu Ausschreitungen gekommen. Angeheizt durch Azaretes Parolen am Tag, hatten Meuterer das einzige heilige Relikt in der dem Volk zugänglichen Stadt mit Lehm beschmiert. Entweiht wurde so die goldene Pyramide mit dem Zeichen des Turms von Denmogh. Bewaffnet mit Stöcken, Messern
8 und Schwertern, hatten zahlreiche Bewohner der Hauptstadt anschließend vor dem Tor des Tempelbezirks demonstriert. Schließlich war es der Seher Demir, der das unbehagliche Schweigen als Erster durchbrach. »Es ist möglich, Herr. Möglich, dass die Predigt ihren Zweck erfüllt.« Contelapo warf dem langbärtigen Magier einen unheilvollen Blick zu. »Möglich? Mehr nicht?« »Es gibt niemals eine Garantie«, warf Rario ein. »Das wisst Ihr, es steht in unseren Heiligen Schriften. Euren eigenen Schriften sogar.« Contelapo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das war damals. Aber heute … Ihr habt Azarete gehört. Es muss etwas geschehen. Die Bewohner der Hauptstadt müssen zur Ruhe gebracht werden und die jungen Priester in ihrem Glauben bestärkt. Wie sollen wir vorgehen?« Contelapo schaute zuerst zu seinem Berater, der ruhig hinter dem Thron stand, und danach zu den drei Sehern. In nur wenigen Stunden sollte die Morgenandacht beginnen. Mit der Predigt war es Contelapo möglich, die Gemeinde davon zu überzeugen, dass nur er die Kraft besaß, Parkasthon vor dem Untergang zu retten. Vorher brauchte Contelapo jedoch den Rat seiner Untergebenen. »Ihr sagt nichts? Dann werde ich euch etwas sagen: Wir werden Azarete zur Strecke bringen.« Contelapo wies auf Dantino. »Du bist mir verantwortlich dafür. Kümmere dich darum!« Demir hob hastig eine Hand. »Contelapo! Bedenke deine Worte.« »Welchen anderen Vorschlag habt Ihr, mächtiger Demir? Euer …« Contelapo führte eine kreisende Handbewegung aus, und feine Speichelfäden sprühten aus seinem Mund, als er weitersprach: »… Hokuspokus spricht ihn nicht an. Und den Predigten folgt er schon lange nicht mehr. Er muss schnell verschwinden. Er hetzt das Volk auf.« »Aber Ihr habt seiner Mutter ein Versprechen gegeben«, widersprach Demir. Ein Schatten huschte über Contelapos Ge-
Nicole Rensmann sicht. »Seine Mutter ist tot. Was interessieren mich noch meine Versprechen? Die Zeiten ändern sich.« Dantino mischte sich ein: »Ehrwürdiger der Yracht-Kirche von Arkasth. Ich schätze Euch sehr, doch …« Contelapo lachte laut auf, er klopfte sich auf die Schenkel und hielt sich anschließend den Bauch. Die Magier wechselten mit dem Berater überraschte Blicke, die dem Hochpräses nicht entgingen. Was dazu führte, dass er noch mehr lachen musste. Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Er schüttelte sich, wischte sich mit dem Ärmel seines Talars über das feuchte Gesicht und so die Heiterkeit aus seiner Mimik. »Sicher, sicher, Dantino. Sprecht weiter.« Wieder grinste er und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Dantino räusperte sich. »Azarete besitzt große Macht unter dem gemeinen Volk und den Reformatoren. Wir müssen ihn wieder auf unsere Seite bringen. Töten wir ihn, werden wir seine Reformatoren noch mehr gegen uns aufbringen. Azarete ist sehr beliebt bei den Leuten.« Nun starrte Contelapo durch Dantino hindurch, als sei dieser transparent. Er spürte Müdigkeit, doch noch durfte er nicht aufgeben. Niemals würde er für Azarete den Platz frei machen, eher tötete er ihn mit seinen eigenen Händen, hinterrücks und ohne Zustimmung seiner Berater. »So sei es dann. So sei es.« Dann hob der Hochpräses der Yracht-Kirche beide Arme empor und legte den Kopf in den Nacken, bevor er sagte: »Walte nun deines Amtes, Dantino. Geh und bring Azarete zurück zu unserem Glauben. Doch ich versichere euch, mein treuer Berater wird Gewalt anwenden müssen, will er nicht scheitern.« Dantino verbeugte sich und verließ den Raum. Der Hochpräses nahm die Arme herunter und wandte sich wieder an die Magier. »Und ihr werdet euch etwas anderes einfallen lassen! Beschwört Bilder herauf, düstere, gewalttätige Zukunftsvisionen, falls
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das Volk weiter auf Azarete hört!«, befahl er den Sehern. »Hochpräses«, antwortete Demir und verbeugte sich tief. Gemeinsam folgten die drei Magier Dantino und ließen einen unzufriedenen Herrscher zurück.
2. 19. Mai 1225 NGZ Ankunft Das Brennen begann in der Nähe meiner Lenden und verschlang, von meiner Gürteltasche ausgehend, meinen ganzen Körper. Ich spürte, wie der Würfel explodierte. Tausende heiße Nadelspitzen schienen sich in meine Poren zu bohren. Als ich glaubte, der Pein nicht länger standhalten zu können, erlosch der rote Energiering des Transmitters und jedes zuvor erlebte Gefühl mit ihm. Lediglich ein belangloser Entzerrungsschmerz blieb, hervorgerufen durch den Transmittersprung. Der Zellaktivator arbeitete bereits dagegen an. Bevor ich mich umsah, warf ich meinen Begleitern einen Blick zu. Kythara und Gorgh-12 schienen in Ordnung zu sein. Dann orientierte ich mich. War das hier noch Maran'Thor, oder hatte der Transport funktioniert? Nach wie vor befanden wir uns in der Kuppelhalle, in der wir auch den Transmitterdurchgang gewagt hatten – oder in einer, die dieser zum Verwechseln ähnlich sah. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die schwarze Gewölbedecke. Die acht meterdicken goldmetallischen Rippen verliehen der Kuppel die Form eines Sternengewölbes. Als ich mich zur Seite wandte, entdeckte ich eine eingestürzte Wand. War der Sprengsatz an der falschen Stelle detoniert? Und hätte er nicht mehr Schaden anrichten müssen? Wo befand sich die Leibgarde der Lordrichter? Warum weigerst du dich, das Ofensichtliche zur Kenntnis zu nehmen, du Narr?, raunzte mein Extrasinn. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die Umgebung noch-
mals, diesmal analytischer. Die Trümmer mussten schon vor längerer Zeit beseitigt worden sein. Die Ruinen sowie Bereiche des Bodens, der Decke und Wände des sich an die Kuppel anschließenden Korridors waren von Ablagerungen überwuchert, die nur die Natur in der Lage war, über Jahrtausende hinweg zu bilden. Brennende Fackeln an den Steinwänden und auf dem Boden stehende Kessel, in denen das Feuer loderte, deuteten auf Bewohner mit einer schlichten Lebensweise hin. Etwa zwanzig Meter entfernt war die Korridordecke eingestürzt, die Trümmer lagen aufgeschichtet auf einer Seite. Am Ende dieses schmalen Gangs sichtete ich eine notdürftig gezimmerte Holztreppe. Rötliches Licht schimmerte von oben herab. Der Transmittersprung war also doch geglückt, zumindest was das Verlassen von Maran'Thor betraf. Aber wohin hatte es uns verschlagen? Wirklich nach Parkasthon, dem angestrebten Ziel? Bevor ich meinen Begleitern den Weg zu der Leiter weisen konnte, vernahm ich Kytharas Flüstern, die mich darauf aufmerksam machte, dass wir beobachtet wurden.
* Langsam drehte ich mich um. Nur keine hektische Bewegung machen, dachte ich. Die Bewohner dieses Planeten sollten sich nicht durch uns bedroht fühlen, obwohl wir uns zweifelsfrei unserer Haut zu wehren wussten – und Gorghs Chitinpanzers selbstverständlich. Hinter uns standen fünf humanoide Wesen. Sie trugen schlichte, jedoch glänzende Halbharnische. Oberarme und Oberkörper bis hin zu den Hüften blieben dadurch vor Angriffen geschützt. Muskulöse Beine zeichneten sich in blauen, eng anliegenden Anzügen aus einem groben Leinenstoff ab. Keiner der Menschenähnlichen war viel größer als Gorgh-12, der mit einem Meter fünfzig bei seinem Insektenvolk eher als klein galt.
10 Im Gesicht und an den Unterarmen wiesen die Wächter eine ungewöhnlich starke Behaarung auf, was mich an Kreaturen erinnerte, die aufgrund einer atomaren oder natürlichen Katastrophe in die Primitivität zurückgefallen waren. In der Regel warne ich vor übereilten Schlussfolgerungen, bemerkte der Extrasinn, aber in diesem Fall stimme ich dir zu. In den Augen der Bewohner dieses Planeten zeigten sich Ehrfurcht, aber auch Angst und Überraschung. Verkrampft umklammerten sie ihre Speere. »Wir sollten uns vorstellen«, raspelte Gorgh-12. Der Insektoide wirkte nervös, soweit ich das eben beurteilen konnte. Kythara und ich nickten einander zu. Der Wissenschaftler von Maran'Thor hatte Recht. Langsam gingen wir auf den Rand der Plattform zu. Die Bewohner standen weiterhin regungslos da, die Köpfe in den Nacken gelegt, um uns beobachten zu können. Ihre Blicke huschten von einem zum anderen. Die Mimik drückte eine Euphorie aus, als handele es sich bei uns um göttliche Erscheinungen, die aus dem Nichts zu ihnen gesandt worden waren. Auch damit könntest du sogar richtig liegen, pflichtete mir der Extrasinn erneut bei. Manchmal ist deine Intuition gar nicht so sehr von Übel. Manchmal! Merk dir das! Gorgh-12 bewegte sich auf den Rand der Plattform zu. Sein sechsgliedriger Körper knisterte und raschelte leise. Die fünf Humanoiden stießen erschreckte Laute aus, trippelten für einen Moment verwirrt auf der Stelle und rannten dann, so schnell es ihre Füße, die in simplen Pantinen steckten, ermöglichten, aus der Halle und die Holztreppe hinauf. »Entschuldigung. Ich hatte nicht erwartet, sie so zu erschrecken«, sagte Gorgh-12 zu mir gewandt. Er schien darüber unglücklich zu sein. »Das ist bei Erstkontakten gar nicht so ungewöhnlich, es hätte auch uns passieren können«, beruhigte ich ihn entgegen meiner eigentlichen Überzeugung.
Nicole Rensmann »Keine Zeit für so was, Atlan. Wir haben ein weiteres Problem«, unterbrach mich Kythara und wies mit einem Kopfnicken auf die Transmitterplattform.
* Instinktiv griff ich an meine Gürteltasche. Der Plastikbeutel, in den ich den schwarzen, beinahe gewichtslosen Würfel gelegt hatte, war zerfetzt. Also war das absurde Erlebnis während des Transmittersprungs tatsächlich geschehen. Splitter des glatten Behältnisses waren jedoch nicht in meinen Körper eingedrungen, sondern schienen sich aufgelöst zu haben. Auf der Plattform lag ein segmentiertes, schlauchförmiges, stetig wachsendes Wesen. »Als der Würfel während des Transmittersprungs zerbarst, muss es herauskatapultiert worden sein«, überlegte ich laut, zweifelte aber selbst ein wenig an meiner Erklärung. »Dann wächst es wirklich abnorm schnell. Schau dir das Vieh nur an: Es misst bereits über einen halben Meter und war in einem Würfel mit einer Kantenlänge von rund achtzehn Zentimetern?«, staunte Kythara. Fassungslos blickten wir einander an und schauten dann dem wurmartigen Geschöpf bei seinem Wachstum zu. »Könnte es nicht schon vorher hier gelegen haben?«, erkundigte sich der Chefwissenschaftler von Maran'Thor. »Dann hätten wir es sehen müssen, oder nicht?«, meinte ich. »Nicht, wenn es nur winzig klein gewesen ist«, widersprach Gorgh-12. »Ich vermute eher, dass wir es mitgebracht haben«, sagte Kythara. »Du meinst, es hat sich per Zufall mit eingeschlichen?« »Nein. Während des Transmittersprungs hatte ich das Gefühl, der Würfel bestünde aus Lava und sei schließlich geplatzt.« Kythara schaute mich skeptisch an. »Du spürtest Hitze während des Entstofflichtseins? Das ist beinahe unmöglich!«
Azaretes Weg Ich nickte und erklärte: »Ich weiß. Dennoch war es so.« Ich deutete auf das Lebewesen. »Vermutlich war es in dem Würfel gefangen. Warum aber wächst es in dieser Atmosphäre?« Ich kniete mich zu dem Geschöpf hinunter. »Sei vorsichtig«, warnte mich Kythara. »Natürlich.« Ich schenkte ihr ein Lächeln, das sie jedoch nicht erwiderte. Am Kopfteil des segmentierten Körpers befanden sich vier Augen auf biegsamen Fühlern, mit denen es in jede Richtung sehen konnte. Explosionsartig drängte sich ein Bild in mein Bewusstsein. Ich riss die Augen auf und spürte, wie sich mein Mund vor Erstaunen öffnete. Für einen Atemzug schwankte ich. Dann fluchte ich leise und erhob mich. »Diese Kreatur habe ich schon einmal gesehen.« Ich schaute zu Kythara. Mein Blick wanderte zwischen ihren vollen Lippen und den goldenen Augen hin und her. Sie legte ihren Kopf ein wenig schief und erwiderte meinen Blick. Eine Locke löste sich aus ihrem Haar, das sie sich hinter die Ohren gestrichen hatte, und fiel ihr ins Gesicht. »Das ist Emion. Ich hab das Saqsurmaa in Litraks Erinnerungen gesehen.« Wieder bemerkte ich, wie unruhig ich bei dem bloßen Gedanken daran wurde. »Der Wurm ist Litraks persönlicher Adjutant!« Ich schüttelte den Kopf und wollte selbst nicht glauben, dass Emion noch lebte. »Litrak?«, flüsterte Gorgh-12. »Litrak wurde vor 546 Millionen Jahren in der Milchstraße vernichtet. Er war der Kommandant des Urschwarms«, erklärte ich dem Wissenschaftler. »Er hat behauptet, Emion retten zu wollen, doch mir ist noch nicht klar, wie das Saqsurmaa Millionen von Jahren überleben konnte. Das ist schlichtweg unmöglich!« Ich runzelte die Stirn und dachte weiter laut nach, um meine Begleiter an meinen Überlegungen teilhaben zu lassen: »Könnte es in der Obsidian-Kluft überlebt haben?« »Sicher nicht«, antwortete Kythara. »Richtig. Emion hat die Kluft nicht er-
11 reicht. Wie aber ist er in den Würfel gelangt? Es muss eine Erklärung dafür geben.« Ein formenergetisches Stasisfeld, halbraumbasierend oder vollkommen hyperenergetisch, stellte der Extrasinn fest, mit einem Zeitdämpfungsfeld gekoppelt … Und das soll über 550 Millionen Jahre hinweg funktioniert haben?, dachte ich. So gut ist nicht mal Kosmokratentechnik. »Ein Wurm sieht aus wie der andere. Wie kannst du dir sicher sein, Emion vor dir zu haben?«, fragte Kythara. Gorgh-12 ergänzte: »Vielleicht ist er ein Nachkomme des Saqsurmaa?« Wir hatten keine Zeit, weiter darüber zu spekulieren, die Wächter der Plattform mussten jeden Augenblick mit Verstärkung zurückkehren. Unsere Varg-Kugelroboter hatten wir auf Maran'Thor zurückgelassen; sie konnten wir somit nicht in Position bringen. »Niemand kommt. Ich achte schon darauf«, gab mir Kythara zu verstehen.
* Nach einer weiteren Minute erreichte das Saqsurmaa eine Länge von zweieinhalb Metern und einen Durchmesser von dreißig Zentimetern. Es schien, als sei das rasche Wachstum nun beendet. Es widerstrebte mir, das Geschöpf zu berühren und mitzunehmen, doch den hiesigen Bewohnern aussetzen wollte ich es auch nicht, zumal ich noch nicht wusste, ob seine Anwesenheit von Vorteil sein würde. Außerdem musste ich herausfinden, ob es sich tatsächlich um Emion handelte. Und wenn ja, wie lange er bereits in dem Würfel gewesen war und warum. Es fiel mir schwer, darüber nachzudenken, über welches Wissen – und somit auch über welchen Einfluss – das Saqsurmaa verfügen könnte, wenn es tatsächlich an die 550 Millionen Jahre alt war. Vielleicht war es aber auch schlichtweg verwirrt und fand sich in dieser Zeit überhaupt nicht zurecht. »Sie kommen zurück.« Kythara riss mich aus meinen Gedanken. »Flüchten oder abwarten?«, fragte Gorgh-
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12. »Wir warten ab. Ich sehe hier ohnehin keine Fluchtmöglichkeit, außer den Weg zurück.« Dann zuckte ich zusammen. Emions Röhrenleib zitterte leicht, bevor er den vorderen Teil seines Körpers aufrichtete und die Augen öffnete. Seine Fühler waren nur auf mich gerichtet. Weder Kythara noch Gorgh12 schien er Beachtung zu schenken. Seine Augäpfel rollten auf und ab in ihren Höhlen und schienen mich zu mustern. »Ich bin dein Diener, Herr.« Seine Stimme knarrte, als er in der Vorläufersprache der Mächtigen offerierte. »Du bist wie Litrak, das verrät mir deine Aura …« Als hätten ihn diese Worte zu sehr angestrengt, schloss er die Augen. Sein Körper sackte in sich zusammen. Deine Ritter-Aura vergleicht er mit Litrak? Mir blieb keine Zeit, auf die Frage meines Extrasinns einzugehen, denn mit einem Mal hörten wir das Poltern von Holzschuhen auf der Leiter. Die Armee rückte an.
3. Contelapos Predigt Während er auf Dantino wartete, ging Contelapo nachdenklich in seinem Schlafbereich auf und ab. Er hielt seine Hände auf dem Rücken verschränkt und den Kopf gesenkt. Seine eigenen Gemächer erstreckten sich über mehrere kleine und größere Höhlen, die mit allem Überfluss, den Arkasth bot, ausgestattet waren. Feuerstellen in jedem Raum spendeten Wärme und Licht. »Hochpräses?« Contelapo stoppte und wandte sich seinem Berater zu, der soeben den Raum betreten hatte. »Das Volk wartet.« »Es möge sich gedulden. – Wo befindet sich Azarete?« »Er wurde dabei beobachtet, wie er einen verletzten Bauern auf einen Karren lud und aus der Stadt brachte. Vermutlich wird er sich bei den Kräuterweibern aufhalten. Dort
werden alle Verletzten hingebracht.« »Habt ihr den glaubenslosen Coven noch nicht ausräuchern können?« »Hochpräses, ich bitte Euch, wir benötigen die Medizin der Weiber auch für uns selbst.« Contelapo ärgerte sich über Dantino. »Dies ist mir bewusst, dennoch ist es an der Zeit, den Unterschlupf für Azarete zu entfernen und die Weiber auf den rechten Pfad zu lenken. Außerdem soll ihre Heilkunst nicht an das Volk verschwendet werden.« »Das wäre ein fataler Zug, der Euch stürzen könnte, Hochpräses. Ihr würdet selbst etliche der bislang loyalen Ministranten und Priester gegen Euch aufbringen. Nicht nur Azarete findet dort Zuflucht. Auch viele andere Priester gehen dorthin, wenn auch nur zum Zweck des Vergnügens. Die Nachkommen der Kaste wachsen dort auf. Habt Ihr das vergessen?« Wütend donnerte Contelapo mit einer Faust gegen Dantinos Harnisch. Doch der junge Berater strauchelte nicht einmal. »Ihr selbst habt in jungen Jahren dort Momente des Glücks erlebt«, sprach Dantino unbeirrt weiter. Contelapo mochte alt sein, aber sein Erinnerungsvermögen ließ ihn nur selten im Stich. An einige Jahre seiner Vergangenheit dachte er jedoch nur ungern. Ein fader Geschmack bildete sich in seinem Mund. Um diesen loszuwerden, spuckte der Hochpräses ins Feuer, dann befahl er: »Schafft die Weiber hier runter und die Kinder ebenso! Egal, wie alt sie sind, sie werden ab sofort unter der Obhut der Kaste stehen.« »Hierher? Seid Ihr sicher?« »Manchmal bin ich deiner Widersätzlichkeiten tatsächlich überdrüssig, mein Freund.« Dantino verbeugte sich und eilte davon, um den Wächtern entsprechende Anweisungen zu geben.
* Contelapo lächelte und begab sich an die
Azaretes Weg Oberfläche, um seiner Aufgabe als Herrscher und Priester gerecht zu werden. Nur wenige Gemeindemitglieder und Anhänger der Kaste hatten sich auf den Steinterrassen des kraterähnlichen, rund einhundert Meter durchmessenden Tempelhofs versammelt, um seiner Predigt zu lauschen. Jeden Tag verringerte sich die Zahl der Zuhörer, jeden Tag gelang es Azarete, weitere Jünger, Priester und Bauern gegen die Kaste aufzubringen. Doch Contelapo ließ sich seinen Verdruss darüber nicht anmerken. Demütig kniete der Hochpräses der Yracht-Kirche vor dem Turm des Denmogh. Bevor er betete, streichelte er beinahe zärtlich und ehrfürchtig über ein kleines Kästchen, das für ihn das heiligste Relikt seiner Religion darstellte. Gleichzeitig sang er ein beschwörendes Loblied. Augenblicklich begann das bläuliche Metall des Turms zu leuchten. Contelapo eröffnete seine Predigt, die Gemeinde begleitete seine Gebete und das Pulsieren des Turms mit leisem Wehklagen. »Vor langer Zeit durchpflügte der Denmogh unser Land, zerstörte Leben und tötete unsere Vorfahren. Doch die Schuld lag allein bei ihnen, denn sie verloren ihren Glauben. Und so sandte Gott Yracht den Denmogh zur Vernichtung aller Ungläubigen. Nur der Priesterschaft ist es gelungen, dem Beben ein Ende zu bereiten. Dank unserer Gebete und unseres Flehens werden wir vom weiteren Zorn des Gottes Yracht verschont. Doch der Denmogh brodelt, er glüht und muss täglich besänftigt werden. Unterstützt uns mit euren Gaben, damit wir die Kraft haben, zu beten und bitten. Damit der wütende Denmogh euch und eure Familien übersieht. Und seinen Zorn nur auf die Reformatoren lenkt, die in dieser Nacht sein Zeichen beschmiert haben.« Contelapo erhob sich, reckte die Arme dem Turm entgegen, und schaute zum Himmel, wo die orangefarbene Sonne Arka die gottgefällige Darbietung in ein strahlendes Licht rückte. »Helft uns, damit die Wärme endlich in die dunklen Kammern unter der Erde einzieht und wir euch zu uns holen
13 können. Haltet nicht inne mit der Verehrung des Denmogh – der Inkarnation des Gottes Yracht. Unterstützt uns mit euren Mitteln, damit wir in der Lage sind, für euch und eure Familien Räume zu schaffen. Spendet und betet, damit der Denmogh nicht erneut unser Leben auslöscht, sondern Gott Yracht seine Söhne schickt, die Arkasth mit ihren Mächten – nur für euch, meine Gemeinde – aufbauen werden. Doch nur dann, wenn unser Glauben unerschütterlich ist.« Wortfetzen drangen an seine Ohren und ließen Contelapo für einen Moment in seiner Rede innehalten. Aus den Augenwinkeln erkannte er mehrere Ministranten, die versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erlangen, indem sie – zu früh – ihre Weihrauchgefäße schwenkten, auf und ab hüpften und hektisch mit den Händen winkten. Doch Contelapo ließ sich nicht beirren, er durfte die Zeremonie jetzt nicht unterbrechen. »Lasst uns nun beten.« Die Anwesenden erhoben sich, richteten ihr Augenmerk zur Spitze des sechzig Meter hohen Turms und reckten ihre Arme diesem entgegen. Eine demütige Stille breitete sich aus. Nach einigen Minuten begann Contelapo ein Lied anzustimmen, in das die Gemeinde einfiel. Als er endete, setzte der Hochpräses seine Predigt fort: »Nun soll Gott Yracht die Glaubenslosen unter uns ergreifen. Mögen sie sich vor Schmerzen auf dem Boden winden. – Yracht, gütiger Gott, nimm die Fehlgeleiteten zu dir und weise sie auf den rechten Weg, bringe sie auf den Pfad des Glaubens zurück.« Er wusste, dass soeben zwischen den Zuhörern ein junger Ministrant von seinem Platz rutschen und zuckend auf dem Boden liegen würde. Zwei seiner Diener trugen ihn nur Sekunden darauf an den Anwesenden vorbei und aus dem Tempelbereich hinaus. »Ergieße deine Gütigkeit über uns, Gott Yracht, lenke deine Liebe und deine Macht auf all diejenigen, die an dich glauben und dem Turm des Denmogh ihre Ehrerbietung schenken, damit unsere Welt erhalten
14 bleibt.« Contelapo nahm seine Arme herunter, senkte den Kopf, kniete sich auf den Boden, küsste diesen und stand dann auf. Die Feierlichkeit war zu Ende. Er ließ den Kasten unter dem weiten Talar verschwinden. Das Leuchten des Turms erlosch. Das Entsetzen in den Gesichtern seiner Gemeindemitglieder befriedigte ihn. Die kleine Schau hatte ihre Wirkung gezeigt. Er verkniff sich ein Lächeln und rief seine Ministranten zu sich. »Was stört ihr meine Predigt, Jünger?« Der Kleinste verbeugte sich vor Contelapo und sprach in gebückter Haltung: »Herr, Hochpräses der Yracht-Kirche von Arkasth, hört, Gott Yracht hat uns Auserwählte zu Hilfe gesandt. Sie sind hier.« »Auserwählte? Aber das ist unmöglich«, flüsterte Contelapo. Was hatte das zu bedeuten? Würden ihm die eigenen Leute eine Falle stellen? Oder war es tatsächlich, wie sie gesagt hatten? Aber warum schickte Yracht ausgerechnet heute seine Götter, nachdem die Reformatoren in der Nacht gewütet hatten? Unruhe breitete sich in ihm aus, und wie immer, wenn er nervös wurde, hörte er ein abscheuliches Piepsen in seinem rechten Ohr. Er massierte die Ohrmuschel und starrte nachdenklich auf den Boden. Einer der Ministranten nannte seinen Namen. Der Hochpräses besann sich, schaute auf und drehte sich dann zu der Gemeinde. Er reckte den neugierig Wartenden die Arme entgegen und rief: »Habt ihr das gehört? Sie sind hier! Die Gesandten des Gottes Yracht sind gekommen, um uns zu retten. Unsere Gebete wurden erhört. Endlich. Singt ein Loblied, während ich die Retter willkommen heiße.« Contelapo senkte die Arme und sprach leise zu den Ministranten: »Wo sind sie?« »Auf dem heiligen Altar, Herr. Laut der Wächter sind sie aus dem Nichts erschienen.« »Bringt mich zu ihnen.« Es war seine Aufgabe, als Oberster des Landes die Frem-
Nicole Rensmann den zu begrüßen, obwohl sich Contelapo nicht wohl bei dem Gedanken fühlte. Mit eiligen Schritten verließen sie den oberen Bereich des Tempelbezirks. »Wie viele sind es?«, fragte Contelapo. »Das ist uns nicht bekannt.« »Was soll das heißen?« »Die Wächter waren so aufgeregt, dass wir kaum ein Wort aus ihnen herausbekamen.« Nachdem sie die steile Treppe hinabgegangen waren, befahl der Hochpräses einem seiner Messdiener, nach den Sehern und Dantino zu rufen. Er benötigte seinen Berater und die Magier bei sich, wenn er den Gesandten entgegentrat. Auch wenn er nicht glaubte, dass es sich tatsächlich um Götter handelte, wollte er seine Zweifel vor dem Volk und seinen Untertanen auf keinen Fall zugeben. Diese Wesen könnten seine Herrschaft festigen – oder ihm seine Macht nehmen. Er musste vorsichtig sein. Woher auch immer die Fremden kamen, sie befanden sich anscheinend in der Lage, den Altar zu betätigen, was ihm bisher nicht gelungen war. Somit mussten sie etwas besitzen – und sei es nur ein Wissen –, was er beabsichtigte, sich anzueignen. Contelapo glaubte nicht, dass die Ankömmlinge Arkasth erneut zerstören würden. Hätten sie das gewollt, wären sie längst alle tot. Aber vielleicht wollten sie das Land bevölkern und sie alle zu Gefangenen machen? Egal wer sie waren und was sie forderten: Es galt, äußerst überlegt vorzugehen. Zweifel plagten ihn für einen Moment. Wenn es doch die Gesandten des Gottes Yracht waren, hatte er seine Einflussnahme dem gemeinen Volk gegenüber verloren. Dann würde Arka seine Lügen in ihr orangefarbenes Licht tauchen und für jeden sichtbar werden lassen.
4. Am Rande des Steinbruchs Tesea rannte auf Azarete zu. Ihr schwar-
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zes, bis zum Po reichendes Haar, das zu einem dicken Zopf geflochten war, zuckte wie eine Schlange. Ihre bloßen Füße wirbelten Staub auf. Das naturfarbene Kleid wies am Saum eingerissene Fransen auf und wirkte alt, aber sauber. Die Enden ihres breiten Ledergürtels, der sich um ihre schmale Taille schmiegte, baumelten hin und her. Endlich hatte sie Azarete erreicht und fiel ihm um den Hals. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Sie küsste sein verschwitztes Gesicht von der Stirn abwärts, bis ihre Lippen die seinen fanden. Nach einer Weile drückte Azarete seine Geliebte zärtlich von sich. Er strich ihr eine Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht und lächelte. »Mir geschieht nichts.« Dann wandte er sich zu dem Wagen und dem längst schlafenden Bauern. »Aber ihm. Die Wächter haben ihm keine Gnade gegönnt. Sein Name lautet Elinos.« »Es wird jeden Tag schlimmer. Du solltest aufhören mit deinem Widerstand gegen Contelapo.« »Das kann ich nicht.« Azarete fasste Tesea an den Oberarmen. »Verstehst du? Ich kann die Lügen dieses Schleimfressers …« Wütend spuckte er auf den Boden. »Und die Qualen, die er dem Volk zufügt, nicht länger akzeptieren.« Seine Stimme wurde sanfter. »Auch für uns, Tesea.« Er versuchte in die orangefarbenen Augen seiner Geliebten zu schauen, doch sie wich seinem Blick aus, riss sich los und drehte ihm den Rücken zu. »Ich weiß, aber ich habe Angst um uns.« »Das brauchst du nicht. Ich gehöre der Kaste an, und sie schützt mich.« Schwungvoll wirbelte Tesea zu Azarete herum, ihr Zopf peitschte durch die Luft. »Und daran glaubst du? Das kann nicht dein Ernst sein!« Azarete erkannte, dass er doch weit tiefer von Contelapos Glauben befangen war, als er zuvor angenommen hatte. Er musste vorsichtiger sein.
*
In dem Coven am Ende des Steinbruchs lebten neben Tesea noch weitere Kräuterfrauen, fernab der Kaste, deren Religion nicht die ihre war. Einige Frauen kamen auf Tesea und Azarete zu. Gemeinsam trugen sie den verletzten Bauern in eine der Holzhütten. Obwohl Tesea zu den Jüngeren gehörte, wusste sie mehr über die karg wachsenden Kräuter des Landes als viele Ältere. Sie bereitete einen Tee zu, der die Heilung des Verletzten unterstützen sollte, und während das Wasser auf der Feuerstelle allmählich zu kochen begann, faltete Tesea ein sauberes Tuch mehrmals und tauchte es in einen grünlich schillernden Sud, um damit die Wunde zu reinigen. »Mehr Wasser!«, befahl sie knapp. Azarete griff nach einem Krug und verließ die Hütte. Es war nicht weit bis zu einem klaren Bergsee, aus dem er das Wasser schöpfte und zum Coven zurückging. Dabei betrachtete er das Land, als sei er zum ersten Male hier – er tat dies jedes Mal: Während die Vegetation in der Nähe des Tempelbezirks und in der Hauptstadt Cortasta nur kümmerlich wuchs, gediehen hier reichlich Pflanzen, sie säumten den See oder wucherten in den Ritzen des Steinbruchs, die meisten davon sogar Kräuter, die zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen verwendet wurden. Den Hauptteil der Ernte mussten die Frauen des Coven an die Kaste abgeben, die damit weit weniger anzufangen wusste als die Sammlerinnen. Das, was sie behalten durften, trockneten sie und bereiteten es je nach Verwendungszweck zu: Sowohl als Medizin als auch als Nahrung waren die Pflanzen zu gebrauchen. Da die Frauen wenig Wert auf das proteinreiche, dafür aber zähe und geschmacklose Echsenfleisch legten, ernährten sie sich praktisch ausschließlich von den vielfältigen pflanzlichen Gaben der Natur. Auch Azarete hatte sich an diese Art der Kost gewöhnt. Als er den Coven wieder betrat, schüttete er das Wasser in den auf dem Feuer stehenden Kessel, in dem es bereits kochte; schlagartig verschwanden die sprudelnden Bläs-
16 chen wieder, um alsbald wieder emporzusteigen. Azarete lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an eine Wand und beobachtete Tesea, die getrocknete Blätter in einem Mörser zerstampfte. Er hatte sie mehrere Monate, nachdem er den subplanetarischen Tempelbezirk Kardedor verlassen hatte, kennen gelernt. Sie hatte ihre Kräuter auf dem Markt angeboten. Seit ein paar Jahren mied sie den Ort, doch früher war sie täglich dorthin gegangen. Schon am ersten Tag war Azarete die schöne Frau aufgefallen, aber außer verstohlenen Blicken traute er sich ihr zunächst keine Aufmerksamkeit zu schenken. Zumal in der Kaste keine Frauen lebten und er sich nicht sicher war, ob die Faszination tatsächlich ihr selbst entsprang oder vielmehr seinem bislang zölibatären Lebens. So etwas kam vor, man hörte so einiges in den dämmrigen Gängen unter der Erdoberfläche … Doch bei keiner Frau klopfte sein Herz so schnell und wurden seine Knie so weich wie bei Tesea. Nach einigen Wochen hinterließ er ihr darum kleine Darbringungen auf der Ablage ihres Standes: mal einen besonders schönen Stein, dann eine seltene Blume, nach der er lange suchen musste, oder ein Band für ihr Haar. Niemals aber hätte er das Wort an sie gerichtet. Sie war es schließlich, die ihn ansprach. Er wusste bis heute nicht, was diese schöne Frau an einem plumpen Kerl wie ihm mochte. Aber er war froh, dass es so war. Tesea schaute auf und lächelte ihn an. Sein Herz begann wild zu schlagen. »Horch!«, sagte sie. Kindliches Singen und Gelächter drangen an Azaretes Ohren, hell und unbeschwert, wie es nur in dem Coven klang. Er trat aus der Hütte in die Sonne hinaus, und eine Schar von Kindern stürmte auf ihn zu. Sie rissen an seinem Talar und hätten ihn beinahe zu Fall gebracht, wenn Tesea nicht in gespielt ernstem Ton gesagt hätte: »Schluss jetzt! Raubt Azarete nicht sein Gewand.« Die Kinder, mehr Jungs als Mädchen, al-
Nicole Rensmann lesamt stärker behaart als ein Erwachsener, kicherten und ließen von Azarete ab. Sie tollten davon, drehten sich, sangen und lachten dabei und ließen Azarete zurück. »Es ist schön zu sehen, wie glücklich die Kinder hier sind.« Er schaute in die behaarten Gesichter und fragte: »Wo ist Silio?« »Was glaubst du?« Tesea lachte. »Er wird am verkrüppelten Baum sitzen und die Schriftstücke lesen, die du ihm mitgebracht hast.« »Hat er solche Fortschritte gemacht?« »Du warst sechs Wochen weg.« Teseas Stimme klang vorwurfsvoll. »Ich weiß, aber es könnte auffallen, wenn ich öfters herkomme. Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen.« »Welche Gefahr könnte schmerzlicher sein als unser Gefühl des Verlusts, jedes Mal, wenn du gehst? Wir vermissen dich.« Sie blickte ihm traurig in seine blauen Augen. »Ich euch auch, aber ihr seid immer bei mir, in meinem Herzen.« Azarete ging auf Tesea zu, drückte ihren schlanken Körper an seinen eher gerundeten und küsste sie. Erst das Rufen eines Kindes trennte sie voneinander. Sie schauten sich suchend um. Dann rannte der Urheber der piepsigen Stimme auf sie zu: Silio! »Paie, Paie, du bist wieder da!« Ungestüm sprang der schmächtige Knabe seinem Vater auf den Arm. Mit großen blauen Augen schaute Silio ihn an und fragte: »Bleibst du jetzt bei uns?« »Bis der Mond am Himmel steht, aber dann muss ich wieder gehen.« Zärtlich strich Azarete über Silios schwarzes Haar, Teseas Haar, und sah in Augen, die den seinen so sehr zum Verwechseln ähnlich waren, dass er zu ermessen begann, wie sehr Tesea der Anblick schmerzen musste, sooft Azarete fern von ihnen war.
* »Musst du zurück, weil der Altar entweiht
Azaretes Weg wurde?« Azarete erschrak. »Wie meinst du das?« »Die Anderen waren da und …« »Warte, mein lieber Sohn.« Der Priester stellte Silio auf die Füße. »Und jetzt der Reihe nach: Der Altar wurde entweiht … von wem?« Aufgeregt sagte der Junge: »Von den Anderen. Mehr weiß keiner. Sie sollen komische Rüstungen tragen. Und eine Göttin ist dabei, ganz aus Gold gegossen.« Er breitete die Arme aus, als wolle er damit die Menge an Gold zeigen, aus der die Göttin bestehen sollte. »Und sie haben Tiere dabei.« »Was denn für Tiere?« »So groß wie du, das eine trägt auch eine Rüstung und hat so viele Arme und Beine wie ein kleines Panzertier.« Übereifrig sprudelten die Worte aus Silio heraus, dass er völlig außer Atem geriet. Er schnappte nach Luft. »Noch mehr?« »Eine Riesenschlange. Bringen sie uns Geschenke mit? Die Wesen aus dem Nichts?« »Woher weißt du das alles?«, fragte Azarete. Ein rascher Blick zu seiner Mutter, dann sah sich Silio auf dem staubigen Boden um, als suche er dort nach einem Loch, in dem er sich verstecken könnte. »Du warst auf dem Markt?«, stieß Tesea hervor. Silio nickte langsam. »Warum? Dort ist es sehr gefährlich für uns. Das habe ich dir schon so oft gesagt.« Sie kniete sich in den Staub und zog das Kinn ihres Sohnes hoch, dass er ihr in die Augen schauen musste. »Ich … ich wollte Paie sehen.« Azarete biss sich auf die Unterlippe. Er wusste, dass seine Familie unter der Situation litt. Noch musste er im Schutz der Kaste gegen Contelapo vorgehen. Aber bot sie ihm wirklich Sicherheit? Sollte Tesea Recht behalten? Dann wäre es hoch an der Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Er zog seinen Sohn an sich und flüsterte:
17 »Ich verspreche dir, dass ich bald bei euch bleiben werde. Für immer.« »Versprochen?«, fragte Silio nach. »Ja, versprochen bei deinem verkrüppelten Baum.« Er lachte seinen Sohn an und zwinkerte ihm zu. Er meinte es ernst. Seine Familie war ihm wichtiger. Er eignete sich nicht als Held, aber als Vater. Diejenigen Arkasther, die Contelapos Regierung noch nicht in Frage stellten, würden schon noch selbst dahinter kommen, dass der Hochpräses ein gieriger Lügner war. »Jetzt muss ich rasch nachsehen gehen, was im Tempelbezirk geschehen ist.« Tesea lächelte schmerzerfüllt. »Du musst gehen, ja. Wir lieben dich.« Jedes Mal fiel ihm der Abschied schwerer, aber es musste sein. Er trug zu viel Verantwortung, und Tesea verstand das. Er küsste erst seine Geliebte und dann Silio und verschwand dann, den geliehenen Handkarren eilig hinter sich herziehend.
5. Ein unterirdisches Labyrinth Eine Armee von zwanzig Männern postierte sich im Halbkreis in zwei Reihen vor der Transmitterplattform und schaute zu uns herauf. Ihre Augen glänzten, und ein glückseliger Ausdruck lag auf den bärtigen Gesichtern. Sobald ich das Wort an sie richtete, senkten sie beschämt die Blicke. Anscheinend warteten sie noch auf ihren Anführer. Und so konzentrierte ich mich zunächst erneut auf Emion, der sein Bewusstsein noch immer nicht zurückerlangt hatte. Zaghaft kniete ich mich neben ihn und legte eine Hand auf den schlauchförmigen Körper. Er vibrierte leicht. »Wie können wir ihn wecken?«, fragte ich meine Begleiter. Weder Kythara noch Gorgh-12 wussten einen Rat, das Saqsurmaa aus seiner Trance wachzurufen. Dann scharrten die Holzschuhe der Wächter über den Boden. Rasch erhob ich mich und stellte mich neben Kythara. Durch die von den Wächtern gebildete
18 Gasse schritt ein älterer, etwas gedrungener Mann. Er trug keinen Harnisch wie die Umherstehenden, sondern einen schlichten Talar aus Samt. Sein weißes, schulterlanges, strähniges Haar klebte an seinem Kragen. Der Mann schien leicht – oder oft – zu schwitzen. Seine Begleiter, drei weitere primitive Soldaten und drei Humanoide, die zwischen den buschigen grauen Augenbrauen ein Metallstück implantiert hatten, hielten Abstand, als er vor uns stehen blieb. Aufgrund seiner geringen Körpergröße und der Tatsache, dass wir nach wie vor auf der Transmitterplattform standen, die erst in seiner Bauchhöhe begann, musste er zu uns herauf schauen. Ich ahnte, dass er sich in dieser Haltung nicht gerne übte. Kurz überlegte ich, ihm entgegenzukommen, schließlich hatte er wahrscheinlich als Anführer einen gewissen Ruf zu verlieren. Doch dann sah ich in seine blauen Augen, in denen Kälte und Arroganz, aber auch Unsicherheit und Angst lauerten, und entschied mich dagegen. Der dicke, schwitzende Mann begutachtete zunächst eingehend Emion. Für den Chefwissenschaftler von Maran'Thor hatte er nur einen flüchtigen Blick übrig, doch mir entgingen keineswegs das Interesse und die Gier, die darin lag. Auf Kythara ruhte sein Blick wiederum etwas länger. Sein überhebliches Grinsen entging mir nicht, als er die schlanke Figur und die Rundungen der gut aussehenden Varganin musterte. Dann schaute er mich an und schenkte mir ein hämisches Lächeln zur Begrüßung. »Willkommen. Mein Name ist Contelapo, Hochpräses der Yracht-Kirche von Arkasth.« Arkasth?, dachte ich. Eine urtümliche Abkürzung von Parkasthon, der Welt, die wir mit dem Transmitter erreichen wollten? Was ist hier nur geschehen? Contelapo deutete eine Verbeugung an. »Ich begrüße Euch, Sohn …« Er stockte und ergänzte: »… und Tochter des Gottes Yracht. Es ist uns eine Freude, dass Ihr den weiten Weg auf Euch genommen habt, um
Nicole Rensmann uns zu retten. Seid willkommen und meine Gäste. Es soll Euch an nichts fehlen.« Das Oberhaupt der Arkasther sprach in einem stark verzerrten, primitiv wirkenden, jedoch verständlichen Varganisch. Er flüsterte mit einem der Wächter, der daraufhin den Kopf schüttelte. Dann widmete er sich wieder uns. »Darf ich Euch meine Magier vorstellen?« Er zeigte auf die drei beinahe gleich aussehenden Wesen mit den Metallstücken auf der Stirn. Sie verbeugten sich kurz. »Demir, Gafor und Rario besitzen seherische Fähigkeiten. Sie stehen mir bei allen wichtigen Entscheidungen zur Seite.« Das müssen Drillinge sein, anders ist solch eine Ähnlichkeit kaum möglich. Mein Extrasinn schien genauso überrascht wie ich. »Wir danken Euch. Mein Name lautet Atlan da Gonozal, dies ist …«, ich deutete auf die Varganin, »… Kythara, Maghalata der Viin von Viinghodor.« Der Hochpräses nickte ihr zu, wieder dieses ungefällige Grinsen auf den schmalen Lippen. »Und Gorgh-12, ein Daorghor, Höchster Wissenschaftler vom Planeten Maran'Thor.« Contelapo zog eine Augenbraue hoch und flüsterte: »Interessant, interessant.« Dann wandte er sich wieder an mich: »Bitte, göttlicher Atlan – ich geleite Euch zu Euren Gemächern.« Eine auffordernde Handbewegung folgte. Göttlicher Atlan? Wenn das keine Beförderung ist. Sarkasmus schwang in den Worten des Extrasinns mit. Als wir nicht sofort reagierten, schien der Hochpräses ungeduldig zu werden. »Unser Altar, auf dem Ihr Euch befindet, bedarf einer neuen Weihung. Beeilt Euch, wir wollen doch die kostbare Zeit nicht vertrödeln.« Er verlor sein falsches Lächeln keine Sekunde. Einer neuen Weihung, nachdem ihn »Gott Atlan« berührt hat? Sehr merkwürdig, bemerkte mein Extrasinn. Zaghaft legte ich mir Emion um die Schultern und folgte, mit Kythara und Gorgh-12 an meiner Seite, dem Hochpräses der Yracht-Kirche und den voranschreitenden
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Magiern. Die Wächter schlossen sich uns in respektvollem Abstand an.
* Wir durchwanderten ein Labyrinth von Gängen und Kavernen, die eindeutig an Überreste der Varganenstation erinnerten. Doch die Arkasther hatten diese Spuren mit ihrer eigenen Bauweise verwischt. Überall sahen wir Mauerwerk, Kreuzgewölbe oder Säulengänge, die eindeutig nicht mit jener Art zu bauen oder mit den Materialien der Varganen in Übereinstimmung zu bringen waren. In einigen der Höhlen entdeckten wir unterschiedliche Gesteinsformationen und erstarrte Lava, die zu Stalagmiten oder riesigen gewellten Flüssen erkaltet war. Etliche Stalagmiten, die, gemessen an Größe und Umfang, Tausende von Jahren alt sein mussten, schienen die Decke zu stützen. Contelapo führte uns durch eine Höhle, die er als »Halle der wechselnden Bilder« bezeichnete. Ich erkannte unschwer, dass es sich lediglich um eine ehemalige Schaltzentrale mit Bildschirmen und Holoprojektionen handelte, die jedoch sämtlichst einer Generalüberholung bedurften. Mehrere Kavernen weiter zeigte uns der Hochpräses einen aus metallischen Megalithen erbauten Kreis, bei dem mein fotografisches Gedächtnis mich an eine weit zurückliegende Zeit der keltischen Kultur erinnerte. Doch Contelapo erzählte uns, nicht ohne Stolz in der Stimme, dies sei ein Raum der Magier, wo sie die Zukunft vorhersahen mit Visionen, die über den goldenen Steinen leuchteten. Auch das hier: nichts weiter als Hologramme, bestätigte der Extrasinn meine Vermutung. Wir durchquerten weitere Kavernen, in denen Anhäufungen von Schrott lagerten. Schließlich folgten wir dem Hochpräses durch einen Raum, der rundherum mit Sternen aus ebenfalls golden schimmerndem Edelmetall geschmückt war. »Der Andachtssaal für die jüngeren Priester«, erklärte er uns.
Bei dem Metall schien es sich um Varganenstahl zu handeln, wie er auch in Kytharas Raumer AMENSOON Verwendung gefunden hatte. Auch die Varganin erkannte das natürlich; dazu hätte es nicht einmal des raschen Blickwechsels zwischen uns bedurft. »Wir sind sehr stolz auf unsere jungen Priester, die hier täglich zu Gott Yracht beten«, sagte Contelapo und lächelte uns zu. »Kommt, wir sind bald da.« Während wir auf diese Weise durch die verfremdeten Räumlichkeiten einer alten Varganenstation gelotst wurden, arbeitete mein fotografisches Gedächtnis unermüdlich: Es legte eine Karte an, die es uns ermöglichte, den Weg später zurückzuverfolgen. Ich war mir sicher, dass Kythara etwas Ähnliches tat: nämlich in Gedanken den Standard-Lageplan varganischer Stationen mit dieser Anlage hier abzugleichen. Wir passierten mehrere Kreuzungen, die auf ein riesiges unterirdisches Gebiet hindeuteten, bis wir endlich die uns zugeteilte Räumlichkeit erreichten. Das hier war definitiv keine klassische Station mehr, aber wie weitreichend und wie tiefgründig die Veränderungen waren, blieb uns noch immer unklar. Bevor uns Contelapo allein ließ, sagte er: »Ich werde für den morgigen Tag ein Konzil einberufen, an dem ich Euch bitte teilzunehmen. Unsere Priesterkaste soll von Eurer Ankunft unterrichtet werden. Nur …« Er rümpfte die Nase. »Ich bitte Euch, dazu passend gekleidet zu erscheinen. Mein Berater Dantino wird sich darum kümmern.« Mehr zu sich selbst raunte er: »Wenn er denn wieder aufgetaucht ist. – Ach ja, noch etwas: Wir werden Euch die entsprechenden Gewänder selbstverständlich anfertigen lassen.« Er musterte uns von Kopf bis Fuß. »Solche Größen haben wir nicht zur Hand.« Der Hochpräses deutete eine Verbeugung an und entfernte sich mit energischen Schritten. Ich legte den bewusstlosen Emion in einer Ecke auf den kalten Steinboden; mir wäre es am liebsten gewesen, mich unmittelbar mit dem geheimnisvollen Geschöpf unterhalten zu können. Doch das war derzeit ja nicht
20 möglich. »Leg dich hin, wir müssen reden«, verkündete Kythara und machte eine einladende Handbewegung. Ich grinste ihr keineswegs zweideutig ins Gesicht, doch sie fügte hinzu, als habe sie keineswegs das gemeint: »Ohne Stühle bleiben uns schließlich nur die Betten, nicht wahr?« Touché. Manchmal hasste ich den Extrasinn, der in solchen Momenten viel von einer Eisdusche an sich hatte. Aber sowohl er als auch Kythara hatten Recht: Die Einrichtung des Raums war karg und lud eigentlich weder zum Sitzen noch zum Liegen ein. Vier aus Metall geschmiedete Betten standen nebeneinander gereiht an einer Wand, blaue Tücher bedeckten die leicht durchhängenden Matratzen. Wenn ich mich darauf setzte, würde es sehr unbequem werden. Aber darauf liegen würde ich ebenfalls alles andere als komfortabel: Die Betten waren höchstens einen Meter achtzig lang, sodass ich dort kaum ausgestreckt ruhen konnte. Ein Teil des Raums war durch einen Vorhang abgetrennt, dahinter befand sich der »Hygienebereich« – hier gleichbedeutend mit einem Loch im Boden und einer wassergefüllten Vertiefung daneben. Kythara ließ sich schwungvoll auf das letzte Bett fallen und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Ihre Stiefel und die Ellbogen ragten über die Bettkanten. »Na ja, nicht besonders bequem, aber viel Zeit zum Ausruhen benötigen wir gewiss nicht. Hast du dir den Weg eingeprägt?« Ich nickte knapp. »Du?« »Selbstverständlich. Hast du Hinweise darauf gefunden, was hier geschehen sein mag? Zumindest die Kollegen von unserem lieben Gorgh-12 hier sind noch nicht in Erscheinung getreten.« Die letzten Worte hatte sie mit einem Nicken zu dem Insektoiden hin gesprochen. Dieser verstand das Zeichen problemlos. Seine Antennen zuckten leicht, dann sagte der Wissenschaftler: »Das werden sie auch nicht, denke ich. Diese Welt ist mir unbe-
Nicole Rensmann kannt.« Während Kythara beruhigt schien, meldeten sich bei mir Zweifel. Gorgh-12 mochte ein hochrangiger Wissenschaftler sein, aber sein Wirkungsgebiet war Maran'Thor gewesen – welche anderen Pläne die Lordrichter und ihr Schwert der Ordnung haben mochten, gehörte nicht gerade zu seinem Wissensgebiet. »Was auch immer hier geschah: Die Kerle machen mir nicht den Eindruck von wild gewordenen Androiden. Irgendetwas hat sie in die Steinzeit zurückgebombt. Oder sie sind einfach degeneriert, vielleicht durch die Strahlung der Sonne? Es wäre nicht das erste Mal, dass …« »So viel darfst du meinem Volk getrost zutrauen, dass wir die Wechselwirkungen zwischen dem Strahlungsspektrum eines Sterns mit unserer Physis und Psyche erst untersuchen, ehe wir in ihrem Umfeld einen Stützpunkt anlegen. Nur ein Narr würde das nicht tun, oder?« Ich versuchte, möglichst unbeteiligt zu schauen. Momentan hatte ich keine Lust, ihr die Geschichte von der Sonne Medaillon oder von einigen der kleinen Kolonialwelten zu erzählen, bei denen genau das vorgefallen war. Das waren Bestandteile der terranischen und der arkonidischen Geschichte, die hier nichts zu suchen hatten. »Wir brauchen noch ein paar Informationen. Dazu sollten wir erst einmal abwarten, was dieser Hochpräses von uns will. Mal abwarten, wie das zu meinen eigenen Informationen passt.« Kythara gähnte leicht. »Gönnen wir uns ein bisschen Ruhe, wer weiß, wann wieder die Gelegenheit dazu kommt. Zumindest haben wir ja genügend Betten, damit meine göttlichen Beschützer nicht auf dem Boden schlafen müssen.« Sie zwinkerte mir zu und lächelte.
* Wie in den Gängen und zahlreichen Kavernen, die wir passiert hatten, sorgten auch in diesem Raum an den Wänden befestigte
Azaretes Weg Fackeln für schummrige Beleuchtung. Mehrere Schalen, in denen Feuerzungen spielerisch leckten, dienten ringsherum als Wärmequellen. Schatten huschten über die kahlen Steinmauern. In einer Ecke des fensterlosen Gewölbes befand sich ein niedriger runder Tisch aus Vulkangestein, auf dem Boden davor lagen mehrere Kissen, ebenfalls in Blau gehalten. Schlichtheit sowie Blautöne schienen auf Parkasthon vorzuherrschen. Wir knieten uns auf die Kissen, die sich als mehrere übereinander gelegte Stoffbahnen entpuppten, und unterhielten uns im Flüsterton. »Wir sollten auf dem schnellsten Weg zur Sternenstadt VARXODON gelangen. Was immer auch hier geschehen ist, wird uns nicht zu unserem Ziel bringen«, sagte ich. »Vermutlich. Doch auf dem regulären Weg werden wir keine Möglichkeit haben zu entkommen«, meinte Kythara. »Mit Hilfe unserer Ausrüstung könnte uns eine Flucht gelingen«, sagte ich. Gorgh-12 scharrte mit einer seiner Zangen auf dem Tisch. »Und was wird mit mir?« Ich betrachtete ihn einen Moment und nickte. »Wir müssten dich und Emion hier lassen.« Ich wandte mich an Kythara. »Was weißt du über diese Welt?« Auf einmal bemerkte ich eine verdächtige Bewegung des Vorhangs. Ich legte meinen Zeigefinger auf die Lippen und deutete der Varganin an, mit ihrer Antwort zu warten. Leise erhob ich mich und schlich auf den Eingang zu. Mit einem Ruck riss ich den Stoff zur Seite. Der dort stehende Arkasther schien vor Angst beinahe zu erstarren. »Können wir Euch helfen?«, fragte ich ernst. »Oh nein! Ich …« Verzweifelt suchte er nach einer Ausrede, wedelte hektisch mit den Händen, als wolle er einen Angriff abwehren, dann erhellte sich sein Gesicht. »Da kommen sie ja, die Wachen, die auf Euch aufpassen werden.« Rasch entfernte sich der Humanoide, ohne noch einmal zurückzuse-
21 hen. Ich ging zurück zu meinen Begleitern und nuschelte so leise wie nur möglich: »Wir werden belauscht.« »Ach was?«, lautete Kytharas trockener Konter. Gorgh-12 wirkte irritiert. »Selbstverständlich werden wir das. Der Humanoide dort hinter dem Vorhang, hast du wirklich …?« »Um auf deine Frage zurückzukommen«, unterbrach Kythara das Insektenwesen leise, die Stimme wie ein Hauch, »auf Parkasthon gab es tatsächlich einst Androiden, wie auf mehreren Versunkenen Welten. Varganenrebellen haben Jahrtausende nach dem Untergang des Varganischen Reiches mit ihnen Nachkommen gezeugt. Da diese jedoch im Laufe der Zeit degenerierten, verloren sie das alte Wissen der Varganen. Nur ein Quantum dürfte noch überliefert worden sein.« Ich verstand sie kaum, und jeder Lauscher dürfte das gleiche Problem in noch stärkerem Maße haben; lediglich Gorgh-12 schien keinerlei Probleme damit zu haben, dem kleinen Vortrag zu folgen. »Bei meinem letzten Besuch, das muss vor rund 25.000 Jahren gewesen sein, traf ich eine auf den planetaren Lebensbereich beschränkte Zivilisation an. Sie hatten zwar ihre Kenntnisse über Hypertechnik und Hyperphysik komplett verloren, aber in ihren Möglichkeiten gediehen sie prächtig. Wie sich die Lebewesen weiterentwickelten oder was später geschah, weiß ich nicht, denn danach verschlug es mich in die ObsidianKluft.« Wir schwiegen einen Moment, bevor ich flüsterte: »Dann müssen die Nachkommen der Bewohner von Parkasthon aufgrund einer Katastrophe in die Primitivität zurückgefallen sein. Aber welche verheerende Macht hat Gott gespielt und eine Zivilisation beinahe vollständig ausgerottet?«
*
22 »Oh, verzeiht mir mein Eintreten. Ich wollte Euch nicht bei der Andacht stören.« Wir schauten zum Eingang unseres Gemachs, der mit einem Vorhang aus schwarzem Leinen verdeckt war. Ein gut aussehender Arkasther verneigte sich vor uns. Er schien etwas größer, schlanker und vor allem jünger als Contelapo zu sein. Sein braunes Haar hatte er mit einer Kordel zu einem Zopf zusammengebunden. Die haselnussbraunen Augen musterten uns neugierig. »Ihr stört nicht«, sagte ich und erhob mich. »Mein Name ist Dantino, Berater des Hochpräses. Wir benötigen Eure Körpermaße, bevor wir passende Gewänder schneidern können.« »Dann tretet näher.« Er bedankte sich mit einer Verbeugung und rief anschließend zwei Arkasther herein. Einer der beiden trug eine großzügig gerollte Spindel Kordel auf dem Arm. Das gleiche Band, das auch Dantino für seine Haare verwendete. »Dies sind die persönlichen Gewändermacher des Hochpräses. Sie werden Euch passende Kleider anfertigen.« Bevor die Schneider bei mir Maß nahmen, verbeugten sie sich so oft, dass ich befürchtete, sie würden jeden Moment mit Rückenschmerzen zusammenbrechen. Doch dann setzte der Größere der beiden die eine Seite des Bandes an meinem Scheitel an und ließ die Schnur zu Boden fallen. Sofort bückte sich der Zweite und durchtrennte die Kordel an meinem Fuß. Mit einem Messer ritzte er etwas auf ein Stück Rinde. So maßen sie meine Schultern, den Brustkorb, meine Taille und Hüfte sowie Bein- und Armlänge aus, bis sie alle Daten zusammenhatten. Ehrfürchtig traten sie nun auf Kythara zu. Wiederholt warfen sie der Varganin beschämte Blicke zu, sobald sie ihr mit ihrem simplen Maßband zu nahe kamen. Sie scheinen Frauen nicht oft zu sehen, meinte der Extrasinn.
Nicole Rensmann Oder zu berühren. Dies erachtete ich als größere Wahrscheinlichkeit. Als sie auch die Varganin vermessen hatten, verabschiedeten sich die beiden Schneider mit einer so tiefen Verbeugung, dass ihre Köpfe beinahe die Fußspitzen berührten. »Wir benötigen ein weiteres Gewand für den Daorghor«, sagte ich und wies auf Gorgh-12. Doch Dantino schüttelte sein Haupt. »Der Hochpräses der Yracht-Kirche trug uns auf, nur zwei Gewänder anzufertigen – für Euch, gütiger Gott Atlan, und für Euer Weib.« Ich schmunzelte. »Rechtzeitig für das Konzil werden wir Euch alles Nötige bringen. Mein Befehl lautet, Euch mitzuteilen, dass es Euch nicht erlaubt ist, sich im Tempelbezirk umzuschauen. – Ich bitte um Vergebung.« Rasch verneigte er sich und verließ dann ebenfalls unser Gemach.
* »Das Benehmen uns gegenüber scheint mir eher fragwürdig, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie uns – oder zumindest Atlan – als Gott ansehen.« Gorgh12 verschränkte die zwei Armpaare ineinander. »Möglicherweise befürchten sie, dass wir etwas entdecken könnten, was selbst Göttern verborgen bleiben sollte«, meinte ich. »Etwas mehr Gastfreundschaft könnte den Arkasthern sicher nicht schaden. Wir werden hier wie in einem Gefängnis gehalten und ausstaffiert, als seien wir ein Vorzeigeobjekt. Außerdem hätte ich gegen ein ausgiebiges Mahl nichts einzuwenden.« Kythara wirkte verärgert. Ich überprüfte meine Notration biosynthetischer Nahrungskonzentrate und entschied mich erst einmal dagegen. Die Varganin stellte sich mir keck lächelnd gegenüber. »Aber – ich hatte eigentlich nicht vor, mich an Befehle zu halten.« Auch ohne uns zu verständigen, wusste ich, was sie beabsichtigte: eine Inspektion
Azaretes Weg der subplanetarischen Station. Emion und der Wissenschaftler mussten zurückbleiben. »Ihr lasst uns aber nicht hier zurück und verschwindet einfach, oder?« Der Wissenschaftler schien besorgt. »Nein, wir kommen zurück. Wir flüchten entweder gemeinsam oder gar nicht«, erklärte ich ihm. »Aber für eine Flucht fehlen uns noch die Gründe. Wir sollten nicht gleich paranoid werden.« Kythara und ich entfalteten unsere Helme und bedienten unsere Deflektoren an den Kampfanzügen, wodurch wir für Dritte unsichtbar wurden. Mit Hilfe der Antiflexbrillen sahen wir uns jedoch weiterhin gegenseitig. Gorgh-12 schob den Behang am Eingang zur Seite, damit wir unbemerkt an den Wachen vorbei nach draußen gelangten. Sie musterten die Riesenameise skeptisch. Als dieser mit einer seiner Zangen winkte, schauten sie rasch weg. In der Zeit hatten wir unbemerkt das Gemach verlassen. Der Wissenschaftler ließ den Vorhang zurückfallen. Geräuschlos entfernten wir uns von den Wächtern. Da wir davon ausgingen, dass die Arkasther mit ihrer primitiven Technik nicht in der Lage waren, uns abzuhören, kommunizierten wir über den Helmfunk. Zunächst wählten wir den Weg, den wir gekommen waren. Contelapo hatte uns längst nicht durch alle Höhlen und Wege geführt. Und ich wollte mir die verbliebene Varganentechnik genauer ansehen und vor allem herausfinden, ob es noch weitere Überbleibsel aus der Varganenzeit gab. Mein fotografisches Gedächtnis erinnerte sich an jede Biegung und jede Kaverne, die wir durchquert hatten. Als wir auf eine Gabelung stießen, verließen wir den ursprünglichen Weg. Wir sprachen kaum miteinander, sondern konzentrierten uns auf die Umgebung und mögliche verdächtige Geräusche, die bisher jedoch ausblieben. Niemand begegnete uns. Nach mehreren hundert Metern trafen wir
23 auf einen Raum, dessen Eingang wie bei unserem mit einem schwarzen Tuch verdeckt war. Ich zog es vorsichtig beiseite, dann trat ich ein. Der Strahl des Helmscheinwerfers erfasste … »Ein weiteres Schrottlager«, sagte Kythara. Metallteile in unterschiedlichen Größen und Formen füllten die Höhle fast vollständig aus. Ich ging einen Schritt darauf zu und stieß mit der Spitze meines Stiefels gegen den Torso eines Flugroboters. Auf diversen vom Rost angenagten Harnischen entdeckte ich eine Gravur. Doch das exakte Abbild erkannte ich nicht. Möglicherweise sollte es ein Tier darstellen, eine Schlange oder doch eher ein Gebäude. Es schien, als habe sich jemand darin geübt, ein Symbol einzugravieren – erfolglos. Wir verließen den Raum und folgten dem Verlauf des Weges. Auch hier säumten brennende Fackeln die Wände und spendeten dürftiges Licht, doch ich aktivierte den Helmscheinwerfer aus Vorsicht nicht. Wir passierten Seitenwände, die nur aus Geröll und Schutt bestanden, und überquerten kleinere Gesteinsanhäufungen. »Dort hinten scheint der Weg zu Ende zu sein.« Im selben Moment sah ich einen Eingang zu einer weiteren Höhle und bedeutete Kythara, mir zu folgen. Ein Saal der Toten, so schien es auf den ersten Blick. Vor uns lagen, ordentlich nebeneinander aufgereiht, bis zu dreihundert verbeulte Roboter, die das Zeitliche gesegnet zu haben schienen. »Zumindest bewahren sie alles auf«, sagte Kythara. »Vermutlich nicht ohne Hintergedanken … Aber das könnte auch für uns von Vorteil sein.« Wir beschleunigten unsere Schritte. Obwohl ich noch nicht zu Emion und dem Wissenschaftler zurückkehren wollte, drängte mich ein Gefühl zur Eile. Nach der nächsten Abzweigung reihten sich Dutzende Gemächer aneinander. In den schmalen Kammern beteten oder schliefen jüngere Priester auf einem aus Kissen und
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Decken hergerichteten Bodenlager. Die schmalen Räume verfügten über eine karge Ausstattung. Neben dem Bett gab es nur einen aus Stein gemeißelten Stuhl, auf dem in manchen Räumen Talare oder ähnliche Gewänder hingen. Obwohl wir noch einige Höhlen durchquerten, stießen wir auf keine weiteren heiligen Relikte der Arkasther. Manche Gänge waren so eng, dass wir nur hintereinander gehen konnten. Das unterirdische Höhlensystem des Tempelbezirks musste sich über Kilometer erstrecken und schien noch unendlich viele verschüttete Gruften und Schluchten versteckt zu halten. Wiederholt kamen wir an Geröllhaufen vorbei oder zwängten uns an solchen entlang, um den Weg weiterverfolgen zu können. Die Arkasther hatten noch viel Arbeit vor sich, wenn sie die subplanetarische Landschaft vollständig bewohnbar machen wollten. Mich wunderte es, dass wir weder Frauen noch Kinder antrafen. »Ihre Nachkommen leben vielleicht in einem anderen Teil«, beantwortete Kythara meinen Gedanken. »Nachkommen bei Priestern?« Ich erinnerte mich an die Ehrfurcht der Schneider gegenüber Kythara und die schmachtenden Blicke des Hochpräses beim Anblick ihres Körpers. Wie mochte es an der Oberfläche aussehen? Lebten dort noch Wesen dieses Volkes? Da wir keinen Aufgang finden konnten, beschlossen wir zunächst, zu Gorgh-12 zurückzukehren. Wir hatten vorerst genug gesehen. Und vielleicht war das Saqsurmaa inzwischen erwacht.
* Auf dem Rückweg vernahmen wir auf einmal merkwürdige Laute. »Woher kommt das?« Kythara zeigte den Gang entlang. »Lass uns nachsehen. Es klingt wie nach …« »Echsen«, ergänzte die Varganin. Das Gewinsel verstärkte sich, je weiter wir den Weg verfolgten. Wir zwängten uns
an Geröllhaufen vorbei. In diesem Teil des Höhlensystems befanden sich keine künstlichen Lichtquellen, sodass wir gezwungen waren, unsere Helmscheinwerfer zu betätigen. »Was ist das hier?« Kythara fuhr mit den Fingerspitzen über die Felswand. Der Lichtkegel des Scheinwerfers erfasste aneinander gereihte Zeichnungen. »Das scheint mit Blut gemalt worden zu sein … Schau hier.« Kythara wies auf eine Kartografie hin, bei der Linien kreuz und quer ineinander verliefen. »Möglicherweise ein Plan des unterirdischen Bezirks.« »Das wäre durchaus möglich.« Interessiert betrachtete ich die weiteren Darstellungen der Wandmalerei. Humanoide Wesen standen in einer Gruppe zusammen. Ich ging einen Schritt weiter. Die nächste Szene zeigte einen langen Stab, vielleicht eine Schlange, ein Schwert oder … Das Saqsurmaa?, meinte der Extrasinn. Das hielt ich für unwahrscheinlich, dennoch behielt ich den Einwand als spätere Option im Gedächtnis. Auf dem dritten Bild lagen die Humanoiden in großen Blutlachen. Ähnliche Zeichnungen fanden wir an der gegenüberliegenden Felswand. »Lass uns weitergehen. Vielleicht entdecken wir noch aufschlussreichere Malereien«, meinte Kythara. Doch bis auf einige wenige Bilder, die Echsen, Käfer und ähnliche Lebewesen darstellten, stießen wir auf nichts, was uns über Parkasthon und die katastrophale Vergangenheit dieses Planeten Aufschluss gab. Nach mehreren hundert Metern und einigen Abzweigungen knipste Kythara überraschend den Helmscheinwerfer aus und flüsterte: »Schalte den Scheinwerfer aus.« Ich reagierte sofort. »Dahinten flackert etwas.« Wir schlichen darauf zu und traten in eine mit brennenden Fackeln ausgeleuchtete Kaverne. Kein Arkasther hielt sich hier auf. »Das sind aber keine gewöhnlichen Riesenechsen«, stellte ich fest und betrachtete die Reptilien, die sich nervös in ihren Käfi-
Azaretes Weg gen bewegten. Bis zu fünfzig Tiere waren in einem Käfig zusammengepfercht und trampelten sich gegenseitig auf die Klauen. »Was immer auf Parkasthon geschehen ist, hat auch die Fortpflanzung der Tiere beeinflusst.« Die Echsennachkömmlinge wiesen Ähnlichkeiten mit Dinosauriern auf; eines der Tiere ähnelte einem urzeitlichen Archaeopteryx, dessen Flügel verkümmert und nutzlos an dem schuppigen Körper eines vor 30 Millionen Jahren lebenden zweifüßigen Eudibamus klebten. Manche besaßen keine Flügel, andere wiederum hatten so große, dass sie damit fliegen können mussten. Die Reptilien schienen als Reittiere benutzt zu werden, denn auf einer Seite der Höhle hing Zaumzeug. »Ich glaube nicht, dass die Arkasther die Echsen nur als Fortbewegungsmittel verwenden …« Kythara trat auf einen Tisch zu, der einst aus grauem Fels gewesen sein musste. Längst hatte das Blut, das darauf vergossen wurde, diesen braun gefärbt. Eine Schlachtbank, bemerkte der Extrasinn überflüssigerweise. »Mich interessiert viel mehr, ob die Priester sie tatsächlich als Reittiere verwenden und vor allem wo!« »Hier in den unterirdischen Gängen sicherlich nicht«, sagte Kythara. »Möglicherweise dienen sie dazu, Schutt wegzuräumen oder Wände zu durchbrechen.« »Oder es gibt doch einen Weg an die Oberfläche.« »Wir sollten Emion und den Wissenschaftler nicht zu lange allein lassen. Vielleicht ist das Saqsurmaa endlich erwacht.« Ich stimmte der Varganin zu. Wir warfen noch einen letzten Blick auf die eigenartigen Kreaturen und begaben uns endgültig auf den Rückweg. Erst nach mehreren Kilometern trafen wir auf Lebewesen. Zwei Ministranten unterhielten sich flüsternd. Ich schnappte einige Worte auf, die mich hellhörig werden ließen. »Kythara, warte einen Moment.«
25 Ich erhielt keine Antwort. »Kythara?« Ich schaute den Gang entlang, den wir gekommen waren, doch die Varganin schien verschwunden. Noch einmal rief ich ihren Namen. Sie musste aus irgendeinem Grund zurückgeblieben sein. Ich ignorierte das Gespräch der Ministranten und ging den Weg zurück, versuchte, Kythara per Funk zu erreichen. Erfolglos. Als ich eine der leeren Hallen durchquerte, vernahm ich ein Geräusch. Ich wirbelte um meine eigene Achse herum; noch bevor ich den Gegner erkannte, hatte mich dieser bereits zu Boden geworfen und drückte mir einen schweren Stiefel gegen meine Brustplatte. Ein triumphierendes Lachen auf dem Gesicht des Angreifers überzeugte mich, dass es ihr gut ging. »Das wollte ich immer schon mal machen«, sagte Kythara und nahm den Stiefel von meiner Brust. »Mich zu Boden werfen?« Als Antwort erhielt ich nur ein verschmitztes Lächeln. Sie streckte mir eine Hand entgegen und half mir auf. »Was ist passiert?«, fragte ich. »Die Technik meines Schutzanzugs ist ausgefallen, ich bin sichtbar. Und ich konnte den Funk nicht betätigen.« »Warum hast du nicht gerufen?« Sie bedachte mich mit einem strengen Blick. »Und damit das Risiko eingehen, jemand anderen damit auf mich aufmerksam zu machen?« »Verstehe«, sagte ich und überlegte, welche Chance uns eigentlich blieb, zu unserem Gemach zurückzukehren. »Warte hier.« Einige hundert Meter weiter begannen die Kammern der Priester. An mehreren teils bewohnten, teils verlassenen Räumen rannte ich vorbei, bis ich das fand, was wir benötigten. Unbemerkt gelangte ich zu Kythara zurück.
* Ich desaktivierte meinen Deflektor und
26 befahl Kythara: »Zieh dich aus!« Ohne sie anzuschauen, begann ich mich meines Anzugs zu entledigen. Erst Kytharas rauchige Stimme ließ mich innehalten: »Gehst du mit den Frauen an deiner Seite immer so barsch um?« Ich schaute die Varganin an, ihre goldenen Augen blitzten belustigt. Na, da lass dir mal eine gute Ausrede einfallen. Auch der Extrasinn schien sich auf meine Kosten zu amüsieren. Ich ignorierte ihre Frage und erklärte stattdessen: »Du nimmst meinen Anzug, und ich trage die Kleidung der Arkasther.« Obwohl mir der Talar nur bis zu den Knien reichte, war er so weit, dass ich Kytharas Anzug darunter schieben konnte und ich somit erheblich an Leibesfülle zunahm. Anschließend zog ich einen Umhang über und die Kapuze tief ins Gesicht. »Fertig?«, fragte ich. Kythara schritt an mir vorbei, drehte sich zu mir um, zwinkerte mir noch einmal zu und – verschwand. Sie hatte den Deflektor aktiviert. »Komm«, flüsterte ich. Nach nur wenigen Metern kamen uns drei Ministranten entgegen. Zum Gruß neigten sie ihre Köpfe. Ich erwiderte die Geste und hörte dabei das Knacken eines Halswirbels. Endlich waren sie vorbei, ich richtete mich wieder auf und hoffte, dass wir keinen weiteren Bewohnern begegneten. »Ich werde die Wächter ausschalten müssen«, hörte ich Kytharas leise Stimme. »Betäuben, will ich hoffen.« In meinem Aufzug würden sie mir keinen Einlass gewähren. Allerdings befürchtete ich einen Aufruhr, wenn wir zwei Arkasther töteten. »Oh ja, natürlich.« Als wir in den Gang einbogen, in dem unser Gemach lag, waren keine Wachmänner zu sehen, sodass ich keine Gelegenheit bekam zu überprüfen, wie ehrlich die Antwort gewesen war. Schlagartig drängten sich die Worte der Ministranten, die ich aufgeschnappt hatte, wieder in den Vordergrund meines Gedächtnisses. Zögernd riss ich den Vorhang zur Seite
Nicole Rensmann und ahnte bereits, was uns erwartete: Gorgh12 war verschwunden. Das Saqsurmaa lag regungslos dort, wo wir es zurückgelassen hatten. Aber wo befand sich der Wissenschaftler? Wir zogen uns rasch um. Die geliehene Kleidung versteckte ich unter einem der Betten, bevor wir erneut die Katakomben durchforschten. »Wohin kann er gegangen sein?«, fragte ich Kythara. »Ich befürchte eher, dass er entführt wurde. Contelapos Schuhe waren aus Chitinpanzer hergestellt. Die Riesenameise muss für die Arkasther nichts weiter als ein großer Materialvorrat sein«, meinte die Varganin. »Den sie stehlen? Uns, die sie als Götter ansehen?« Kythara machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir sollten ihn finden, damit sie ihn nicht zu Kleidung verarbeiten und seine Zangen als Trophäen verwenden. Bevor ich dein Verschwinden bemerkte, hörte ich, wie zwei Ministranten von einem riesigen Insektenfund schwärmten, den sie Contelapo zum Geschenk machen wollten. Ich ahne, wo sie den Fund gemacht haben.« Nebeneinander liefen wir die Gänge entlang, die nun wesentlich an Breite zunahmen, auf der Suche nach dem Daorghor oder einem Wächter, den wir in unsere eigenen »Zangen« nehmen konnten. Mich überraschte erneut die Größe der unterirdischen Stadt, aber auch die Tatsache, dass wir kaum einem Arkasther begegneten. Vermutlich bereiten sie das Konzil vor. Dem Einwurf des Extrasinnes stimmte ich zu, obwohl ich mir nicht vorstellen wollte, dass auf Parkasthon nur Priester und deren Diener lebten. Auf Arkasth vielleicht nicht, aber hier unten. Wenn der Extrasinn Recht hatte, musste es irgendwo einen Aufgang zur Oberfläche geben. Ruckartig blieben wir stehen und schauten uns an, wir lauschten. Kythara deutete mit dem Kopf in eine Richtung, aus der wir Geräusche vernahmen. Leise bewegten wir
Azaretes Weg uns darauf zu und bogen um eine Ecke. Aus einem Höhleneingang auf der rechten Seite flackerte verstärkt orangerotes Licht. Von dort drangen lautstark Stimmen zu uns durch. Stimmen? Bist du dir da sicher? Lässt dein Gehör nach? »Es spricht nur einer«, meinte auch Kythara. Verschiedene Tonlagen erweckten den Eindruck, als seien mehrere Wesen im Raum. Tatsächlich befand sich dort nur eine Person, die ihre Stimme im Selbstgespräch verstellte. Ein Humanoide mit roter Behaarung tänzelte in der Höhle umher, die wie eine Werkstatt aussah. Ringsherum hingen Werkzeuge aus Holz und Metall in unterschiedlichen Größen und Varianten. Der Arkasther trug einen Kittel über seinem Harnisch, der mit undefinierbaren getrockneten Flüssigkeiten unterschiedlichster Farbtöne befleckt war. Noch hatte der Mann uns nicht bemerkt. In der Mitte der Höhle befand sich eine offene, runde Feuerstelle, auf der mehrere Kupferkessel standen, deren Unterseiten vom Ruß schwarz gefärbt waren. Das Feuer erhitzte eine in den Kesseln enthaltene, klare Flüssigkeit, die bei unserem Eintreten zu brodeln begann. Der Humanoide hatte uns den Rücken zugedreht. Während er sich weiterhin als Stimmenimitator übte, hantierte er mit etwas, das wir von unserer Position aus nicht erkennen konnten. Er stand vor einem circa zwei Meter langen Tisch, über dem ein Tuch lag. Darunter zeichneten sich Besorgnis erregende Umrisse ab. Wir traten nun tiefer in die Kaverne hinein, leise, doch der Humanoide hatte bemerkt, dass er beobachtet worden war, und wirbelte herum. Bei unserem Anblick erstarrte er in seiner Bewegung. Die Säge, die er in der Hand hielt, entglitt ihm vor Entsetzen und fiel laut scheppernd auf den Boden. Dann begann der Rothaarige in einem so hohen Ton zu kreischen, dass es in den Ohren
27 schmerzte. Kythara sprang vor und hielt dem Mann den Mund zu, aber es war zu spät: Von draußen erscholl bereits das Getrippel von Holzschuhen. Die Wächter eilten ihrem Präparator zu Hilfe. Das Tuch auf dem Tisch hatte in der Mitte eine ovale Öffnung und entblößte den Teil eines dunkelbraunen Chitinpanzers. Mit einem Ruck riss ich es herunter. »Atlan!«, rief Kythara. Ich drehte mich um und sah in diesem Moment sechs Wächter hereinstürmen, die mit altertümlichen Speeren auf mich zustürmten.
* Blitzschnell warf ich dem vorderen Arkasther das Tuch über den Kopf, entriss ihm seine Waffe und stieß sie ihm mit dem stumpfen Ende voran in die Magengrube. Erschrocken und schmerzerfüllt ließ er den Schaft los und stürzte rückwärts zu Boden. Dabei versuchte er noch Halt an einem der Kessel zu finden, verbrannte sich aber bloß die Hand daran und knallte zu Boden – und mit dem Kopf an eine Ecke der Feuerstelle. Besinnungslos blieb er liegen. Kythara hatte in der Zwischenzeit den rothaarigen Humanoiden bewusstlos geschlagen und ging nun in Kampfhaltung auf die restlichen fünf Arkasther zu. Ein Mutiger löste sich aus der Gruppe und trat der Varganin entgegen, die ihn jedoch mit einer eleganten Grätsche von den Beinen riss und anschließend den aufrückenden Arkasther mit einem gezielten Stoß des Ellbogens k.o. schlug. Die übrigen drei Wachleute starrten Kythara entsetzt an. Vermutlich hatten sie noch nie eine kämpfende Frau gesehen. Kythara ging einen Schritt auf die fassungslosen Wächter zu, doch die warfen ihre Speere von sich und flüchteten. Ich nickte ihr anerkennend zu. Sie lächelte, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, kämmte sich grob mit den Fingern durchs Haar, schüttelte es anschließend so, dass ihre Mähne wieder über den Rücken floss. Wir widmeten uns dem Tisch, der nun
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wie ein Altar wirkte, auf dem der Daorghor geopfert werden sollte. Gorgh-12 schien bewusstlos zu sein. Seine ausgestreckten Arme und Beine waren mit einem Seil gefesselt, das unter der Tischplatte im Zickzack mit den jeweiligen Enden verknotet worden war. »Wo ist sein Anzug?« Ich schaute mich um und sah den graumetallischen Schutzanzug an einem Haken in einer Nische hängen. »Was ist hier passiert? Wer in Gott Yrachts Namen hat das gemacht?« Entnervt verdrehte ich die Augen, ließ mir meinen Unmut aber nicht anmerken, als ich mich dem Hochpräses zuwandte, der entsetzt auf seine bewusstlosen Wächter stierte. »Contelapo, jemand hat unseren Begleiter entführt.« Der Hochpräses verzerrte seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Das kann sich doch nur um einen Irrtum handeln. Die Sammler werden ihn irgendwo entdeckt haben. Ich hatte doch Befehl gegeben, dass Ihr Eure Gemächer nicht verlassen sollt.« Kythara stellte sich neben mich. »Das haben wir auch nicht. Doch zuweilen wandelt unser Daorghor im Schlaf.« »Er hat geschlafen? Um diese Zeit? Das ist ja hochinteressant.« Contelapo begab sich zum Ausgang. »Ich werde entsprechende Anweisungen geben.« Wir warteten, bis der Hochpräses außer Sichtweite war, dann befreiten wir den Wissenschaftler und trugen den Bewusstlosen in unser Gemach. Dort legten wir ihn auf eines der Betten. Jetzt waren schon zwei von unserer kleinen Gruppe ausgeschaltet. Auf einer Welt und inmitten von Wesen, die eigentlich eine Hilfe sein sollten …
6. Todesstoß Contelapo wärmte sich am Feuer. Er lehnte in einem Sessel, dessen hölzernes Rückenteil Intarsien schmückten. Nachdenklich betrachtete er die Flammen, die gierig an den trockenen Holzscheiten leckten. Der Hochpräses sah das Verhalten der Fremden
als Beweis dafür an, dass sie keine Götter sein konnten. Gottheiten besaßen mehr Eleganz und Ehrfurcht, und eine Frau an der Seite eines Gottes konnte sich Contelapo keinesfalls vorstellen. Allein schon an den Gewändern, die sie trugen, sah er sich in seiner Vermutung bestärkt, dass es sich um die Ahnen handelte, die Arkasth einst mit dem Denmogh vernichtet hatten. Zum ersten Mal spürte er die Gelegenheit gekommen, die Geschichte zu seinen Gunsten zu verändern. Er würde Atlan und seine Gemahlin auf eine Probe stellen und dem gesamten Volk und den Anhängern der Kaste beweisen, dass er der Einzige war, der die Macht besaß, dieses Land zu regieren. Contelapo reckte die Arme, legte dann die Hände in den Nacken, schloss die Augen und seufzte lächelnd. In diesem Augenblick fühlte er sich seiner Herrschaft so sicher wie selten zuvor. »Hochpräses.« Contelapo schaute auf. Dantino trat auf ihn zu. »Die Vorbereitungen schreiten gut voran.« »Sehr gut. Sehr gut. – Und die Hütten am Steinbruch?« »Brennen.« Der Hochpräses betrachtete kurz das Flackern des Feuers. »Schade um das teure Holz.« Dann blickte er wieder zu seinem Berater. »Wo habt ihr sie hingebracht?« »Wir haben die Frauen mit den Kindern in einem unteren Bereich der Kavernen untergebracht.« »In die Verliese?« »Vorerst, bis sie sich beruhigen.« »Ging es zügig vonstatten?« »Nein, die alten Weiber haben gekeift und die Kinder geschrien.« Contelapo erhob sich. »Ich hoffe doch, dass niemand davon etwas bemerkt hat.« »Wir haben sie durch das hintere Tor hineingeführt, sodass keiner der Marktbesucher sie sehen konnte.« »Und die Schreie?« »Durch Knebel gedämpft.« »Ich verstehe. Sehr gute Arbeit, Dantino. Dann werde ich gleich zum Volk sprechen.
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Doch es bleibt noch eine weitere Aufgabe für dich zu erledigen.« Dantino schaute seinen Hochpräses neugierig an. »Azarete muss aus dem Weg geräumt werden. Noch vor dem Morgengrauen.« »Aber Hochpräses, wir haben seinen Unterschlupf zerstört, nun scheint es mir nicht …« Mit einer Handbewegung brachte der Herrscher seinen Berater zum Schweigen. »Es reicht. Ihr habt genug gesprochen.« Dantino entfernte sich wenige Schritte von ihm. »Azarete wird auf die Fremden treffen, er wird Fragen stellen, unangenehme Fragen, und Antworten erhalten. Werde ich gestürzt, Dantino, wirst du mit mir sterben. Verstanden?« Dantino öffnete seinen Mund und wollte zu einer Antwort ansetzen, besann sich dann aber und nickte nur. »Lass ihn umbringen. Noch heute!«, wiederholte Contelapo seinen Befehl.
* »Paie, warte, Paie!«, schrie Silio. Er weinte, als er stolperte und genau vor Azaretes Füßen mit dem Gesicht im Dreck landete. Der Priester griff mit seinen großen Händen nach dem Kind und zog es auf die Beine. Er kniete sich zu ihm hinunter, strich dem Jungen über das schwarze Haar und klopfte ihm anschließend den Staub von den Kleidern. »Silio, mein Junge, was machst du hier?« Silio umarmte seinen Vater. »Lass Maie und mich nicht mehr allein. Geh nicht weg, bitte!« Azarete hatte den halben Weg hinter sich gebracht, ohne bemerkt zu haben, dass sein Sohn ihm gefolgt war. »Ich kann noch nicht bei euch bleiben, bitte verstehe das.« Doch Silio schüttelte den Kopf. »Ich werde dich zurückbringen. Deine Maie macht sich Sorgen.« Er hob Silio in den Karren, wendete die-
sen und lief zurück. Obwohl er – wie die jüngeren Priester – weiche Lederlappen trug, schmerzten seine Füße. Erste Schwielen bildeten sich an den Händen. Unerbittlich brannte die heiße Sonne auf sie herunter. Kein Baum, der ihnen Schatten spendete, kein Wasser, das ihnen den Durst löschte. Vor Anstrengung schloss Azarete die Augen. Schweißperlen rannen ihm die Stirn hinab und klebten in seinem Bart. Als sie den Hügel erklommen hatten, auf dessen anderer Seite am Fußende die Hütten der Frauen standen, begann Silio zu kreischen. Rasch schaute der Priester auf. Vor Schreck rutschte ihm der Karren aus den feuchten Händen und drohte den Abhang hinunterzurollen. Azarete warf sich zu Boden und erwischte mit einer Hand die Hinterachse des Wagens, dabei riss er sich an einem Splitter den Unterarm auf. Mit aller Kraft zog er den Karren in die Waagerechte, stützte sich kurz darauf ab, um zu Atem zu kommen. Erneut schrie Silio. Der Junge kletterte aus dem Wagen und zog am Talar seines Vaters. »Maie, Maie!« Azarete griff nach einer Hand seines Sohnes, rief: »Rasch, wir müssen laufen« und zerrte ihn hinter sich her. Er hörte, wie der Karren den Abhang hinunterpolterte und später am Fuße des Hügels zerschellte. Azarete rannte. Silio stürzte, sein Vater zog ihn empor, und als der Junge ein weiteres Mal hinfiel, nahm er ihn auf den Arm und rannte den Hügel abwärts den Rauchschwaden entgegen. Tränen bildeten sich in seinen Augen, als sie sich dem Coven näherten. Doch das lag nicht allein an der vom Rauch geschwängerten Luft. Die Angst um Tesea presste ihm die Kehle zu. Unbewusst drückte er Silio fester an sich. Sie mussten ihm gefolgt sein und, kurz nachdem er den Coven verlassen hatte, zugeschlagen haben. Mit ihren geflügelten Reittieren brachten sie die beschwerliche Strecke schneller hinter sich. Niemand vom Volk dürfte den aufgewirbelten Staub bemerkt haben, denn der Coven befand sich zu weit abseits vom dicht bewohnten Teil Ark-
30 asths. Und keiner würde die Schreie der Frauen und Kinder gehört haben … Azarete verfluchte sich. In Gedanken betete er zu irgendeinem Gott, zu irgendwas, zu irgendjemand, irgendeiner höheren Macht, die ihm Tesea nicht nehmen sollte. Nie zuvor war Azarete der Hügel so abschüssig und lang vorgekommen. Endlich hatten sie den Coven erreicht, er setzte Silio ab und rief den Namen seiner Geliebten. Keine Antwort. Mit Silio an der Hand – er wollte den Jungen nicht mehr allein lassen – rannte er an den brennenden Hütten vorbei. Nirgends schien eine der Frauen oder ein Kind zu sein. Was hatten sie nur mit ihnen gemacht? »Ist denn niemand hier? Tesea?«, schrie Azarete erneut. »Warte hier, nur einen Moment«, wies er seinen Sohn an und schritt vorsichtig an den Rand des Steinbruchs. Er spürte sein Herz gegen die Rippen pochen und hörte das Rauschen des Blutes in den Ohren. Seine Atmung beschleunigte sich, als er über die Klippen spähte. Er würde den Anblick nicht ertragen, falls Tesea dort unten läge. Sein Blick kreiste voller Panik über die Felsen, die Vorsprünge, die Steinklüfte. Nichts. Kein zerschmetterter Körper. Für einige Atemzüge ließ die Unruhe nach, dann hörte er Schreie. »Da, Paie, es kommt von dort!« Silio zeigte auf eine der brennenden Hütten. Azarete legte sich seinen Umhang über Mund und Nase und lief durch den dichten Qualm in das Innere. Manche der Hütten besaßen Kellergewölbe, in denen Kräuter lagerten und die Frauen Weine kelterten. Azarete riss die Bodenluke hoch und schaute in die ängstlichen Gesichter von drei Frauen und fünf Kindern, die sich dort unten versteckt gehalten hatten. »Rasch, beeilt euch!« Azarete half ihnen beim Herausklettern, ein kleines Mädchen, nicht älter als ein halbes Jahr, nahm er auf den Arm und rannte hinaus. Sie befanden sich kaum an der Luft, da brach die Hütte zusammen. Die Holzhäuser
Nicole Rensmann links und rechts daneben hielten der Feuersbrunst noch eine Weile stand, bis auch sie unter der Last zusammenfielen. »Wo ist Tesea?«, fragte er die Frauen. »Dort drüben.« Eines der Kinder deutete auf einen am Boden liegenden Körper, weit von den brennenden Hütten entfernt. Azarete drückte einer der Frauen das Kind in den Arm und rannte darauf zu. Das Rufen von Fisma, einer der Älteren, ignorierte er. Er spürte Tränen, die an seinen verschwitzten Wangen hinunterliefen. Sein Herz schien ein eiserner Klumpen geworden zu sein. Dann hatte er die leblose Gestalt erreicht. Erschöpft ließ er sich in den Sand fallen und weinte, schluchzte. Sein Brustkorb bebte. Dann lachte er. Und schämte sich dafür. Es war nicht Tesea, sondern Elinos, der Bauer. Er war seinen Verletzungen erlegen. »Paie?« Azarete drehte sich zu seinem Sohn um. Die Augen des Jungen waren vor Angst weit aufgerissen. »Es ist alles in Ordnung. Es ist nicht deine Maie.« Er nahm seinen Sohn an die Hand und kehrte zu den Wartenden zurück. »Die Wächter, sie haben alle mitgenommen. Alle. Auch Tesea«, sagte Fisma. »Maie, oh Maie!« Silio sank zu Boden. Er schluchzte so hemmungslos, dass sein kleiner Körper zitterte. Azarete zog seinen Sohn auf die Füße. »Wir finden Maie, und dann bleiben wir für immer zusammen. Das verspreche ich dir!« Silio jammerte noch einmal lautstark, dann schaute er seinen Vater tapfer an und streckte ihm eine Hand entgegen. Azarete griff danach und hielt seinen Sohn fest, mit dem Daumen strich er zärtlich über dessen Handrücken. »Das ist Contelapos Werk.« Die Kinder umklammerten schluchzend die Beine der Frauen. Mit seinem Sohn ging Azarete über die Steppe zum Marktplatz zurück. Sein Groll gegenüber Contelapo hatte sich in Hass verwandelt. Doch er verdrängte das Gefühl. Für ihn zählte nur noch die Befreiung Teseas.
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* An diesem Tag interessierten sich die Arkasther weder für die Waren, die auf dem Markt angeboten wurden, noch tauschten sie ihre eigenen Besitztümer gegen Nahrungsmittel ein. Sie verschmähten den Kräutersaft und kosteten nicht von dem frischen Brot, dessen Duft die Atmosphäre durchzog. Wer waren die Fremden, die Gerüchten zufolge aus dem Nichts aufgetaucht waren und die Gesandten des Gottes Yracht sein sollten? Hatte Contelapo doch die Wahrheit gesprochen und Azarete sich geirrt? Hatte die Not endlich ein Ende? Schon von weitem erkannte Azarete die Unruhe unter den Arkasthern, die in einer großen Traube zusammenstanden. Wortfetzen wehte der Wind zu ihm herüber. Azarete schüttelte den Kopf so heftig, dass seine dunkelblonden, schulterlangen Haare zu den Seiten flogen. Energisch griff er in seinen Lederbeutel, den er an einem Gürtel über seinem Bauchansatz trug, zog einen blauen Lederstrang heraus und band seine Haare zu einem Zopf zusammen. Mit einem Zipfel seines Umhangs wischte er sich Dreck und Ruß aus dem Gesicht. »Paie?« Silio schaute seinen Vater mit großen Augen an. »Und wenn es echte Götter sind, die aus der Luft gekommen sind?« »Götter erscheinen nicht plötzlich aus dem Nichts«, flüsterte Azarete. »Und wenn die Götter gekommen sind, um uns zu helfen? Dann können sie auch Maie retten, oder?« Langsam bückte sich Azarete zu dem Jungen hinunter. Der Knabe hielt die Hand seines Vaters so fest umklammert, dass sich seine scharfen Fingernägel in Azaretes Haut gruben. »Falls es Götter gäbe, glaubst du nicht, sie wären hier bei uns? Hier, in der Stadt, wo Leid und Armut herrschen? Glaubst du, sie hätten zugelassen, dass die Wächter deine Maie holen?« Silio schaute seinen Vater traurig an, eine
Träne kullerte aus dem rechten Augenwinkel und blieb in dem dunklen Pelz hängen. Zärtlich strich Azarete sie fort. »Weine nicht. Wir finden einen Weg, damit Gerechtigkeit bei uns einkehrt und ich euch nicht mehr verlassen muss. Ich verspreche es dir. – Komm, jetzt lass uns deine Maie finden!« Azarete schritt zusammen mit dem Kind in die Menge. Sofort stürmten Händler, Bauern und Frauen, die ihre Babys auf dem Rücken trugen, auf ihn zu. Sie verlangten eine Erklärung und wollten ihre Fragen beantwortet haben. Ängstlich klammerte sich der Knabe an das Bein seines Paies. Damit ihn die aufgebrachten Erwachsenen nicht zertrampelten, nahm Azarete seinen Sohn auf den Arm und schützte Silio zusätzlich mit der braunen Leinenrobe. »Bitte tretet ein Stück zur Seite.« Die Arkasther umringten Azarete nun mit zwei Armeslängen Abstand. »Ich verstehe eure Verwirrung. Ich selbst habe dazu keine Erklärung, denn ich habe die Götter noch nicht gesehen. Wenn sie wirklich gekommen sind, um euch zur Seite zu stehen, so werden wir sie herzlich willkommen heißen. Aber noch haben sie sich nur Contelapo gezeigt, wie es scheint. Oder waren sie hier? Hier bei euch?« Azarete ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Alle schüttelten die Köpfe. »Dann kämpft weiter für eure Rechte, ich bitte euch, vergesst nicht, was Contelapo euch angetan hat.« Azarete wies mit einer Hand in die Richtung, aus der er gekommen war. »Die Wächter haben alle Frauen und Kinder aus dem Coven verschleppt und damit auch eure Medizin, um eure Wunden zu heilen. Die Hütten brennen, eure Zuflucht wurde zerstört. Würden Götter so etwas zulassen?«
* Ein lautes Zischen, verbunden mit einem quietschenden Geräusch, stoppte das Getuschel. Die Arkasther wussten, was dies be-
32 deutete, und schauten zum Eingangstor des Tempelbezirks hinüber. Dort standen die drei Magier auf einem Podest, das eigens für Ankündigungen an das Volk über dem Portal zum Tempelbezirk angebracht worden war und für entsprechende Anlässe herausgefahren wurde. Demir trat einen Schritt vor. »Heute ist einer der ereignisreichsten Tage in unserer Geschichte. Wir haben Bilder gesehen, Visionen, grausame Szenarien, die sich hier bei uns abspielten. Nicht einer von uns überlebte. Nicht einer.« Der Magier hob seine Stimme. »Doch dann geschah etwas Sonderbares, ein Nebel legte sich über die Verwüstungen, und als dieser von dannen zog, standen die Toten auf, die Löcher im Boden schlossen sich, und die Stadt wurde neu erbaut. Wie aus dem Nichts bildeten sich zwei Gestalten aus den vorbeiziehenden Nebelschwaden.« Er schwieg und schaute dabei in die lauschende Menge, dann sagte er: »Unsere Retter. Sie sind jetzt hier. Und unsere Visionen verschwimmen im Nebel.« Azarete schloss die Augen. Er hätte sich lieber die Ohren zugehalten, aber er wollte Silio nicht auf dem Boden absetzen. Der ranghöchste Seher entpuppte sich bald als noch besserer Hochpräses, zumindest was die geschwollenen Reden betraf. »Eure Fragen wird der Hochpräses morgen bei einer feierlichen Zeremonie beantworten. Jetzt möchte er nur einige wenige Worte an euch richten.« Contelapo trat zwischen Gafor und Rario an Demir vorbei. Er schaute ernst, aber Azarete wusste, dass dies nur eine seiner Masken war. Die strenge Stimme des Hochpräses unterstrich sein Dogma: »Sie sind hier, bei uns, erschienen aus dem Nichts, so, wie ich es euch immer vorhergesagt habe: Yrachts Sohn und seine Gemahlin, die uns aus unserem Elend befreien werden. Den Gläubigen wird nun Gerechtigkeit widerfahren, und die Ungläubigen müssen bestraft werden.« Jemand außerhalb des Marktplatzes rief Azaretes Namen. Der Priester schaute sich um. Niemand sonst hatte das Rufen
Nicole Rensmann vernommen, alle starrten auf Contelapo, der unbeirrt weitersprach: »Morgen werden wir ein Konzil einberufen, zu dem alle Priester geladen sind. Zeigt euren Dank unserem Gott Yracht!« Viele der Anwesenden begannen sofort ihre kostbaren Güter vor der heiligen Statue, die den Tempeleingang bewachte, abzulegen. Andere starrten mit offenen Mündern zu der Plattform, selbst dann noch, als Contelapo schon verschwunden war. Wieder hörte Azarete seinen Namen, der aus weiter Entfernung hinter ihm erklang. Er drehte sich langsam um und suchte dabei die Menge mit den Augen ab. Noch bevor er die Drehung vollends beendet hatte, rissen ihn ein kräftiger Stoß und ein Schmerz von den Beinen. Er stürzte zu Boden, mit ihm Silio, den er nach wie vor in den Armen hielt. Jetzt hatten auch die Umherstehenden bemerkt, dass etwas geschehen war. Die Menge drängte sich wieder näher an Azarete heran, jemand schrie, er spürte das Gewicht seines Kindes auf der Brust. Azarete wartete auf die Bewusstlosigkeit, die Schwärze, die ihn umfangen und in die ewige Dunkelheit hinabziehen würde. Er hatte gegen Contelapo verloren und konnte das Versprechen, das er seinem Sohn gegenüber gegeben hatte, nicht mehr einlösen. Tesea …
7. Frauen und Kinder »Hörst du das?« Helle Schreie hallten durch die Gänge der Katakomben. Kythara nickte. »Das klingt nicht nach den Echsen, oder sollte ich mich irren?« Gorgh-12 hatte sich von der Entführung noch nicht erholt und schlief weiterhin. »Irrt eine Maghalata?« Ich lächelte ihr zu. Ihre Mimik veränderte sich kaum. Kühl, aber mit einem verführerischen Funkeln in den Augen schaute sie mich an. Ich räusperte mich und starrte zur Decke. »Die Schreie hören sich an, als stammten sie von einer
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Frau oder einem Kind. Aber bisher haben wir keine zu Gesicht bekommen. Von woher stammen die Schreie also?« »Von der Oberfläche?«, schlug Kythara vor. »Unwahrscheinlich.« Wir lagen auf unseren Betten. Ich hatte die Beine angewinkelt – keine wirklich bequeme Ruhestellung. Zusätzlich hielten uns die Schreie wach. Ich erhob mich und schlich zum Eingang. Den Vorhang ließ ich zu, sodass mich die Wächter, die uns beschützen oder vielmehr an einer Flucht hindern sollten, nicht sahen. Doch es war mir nicht möglich, Wortfetzen aus den Rufen herauszufiltern. »Ich sehe nach«, teilte ich Kythara mit. »Soll ich dich nicht besser begleiten, Atlan?« »Nein, solange dein Deflektor nicht funktioniert, ist das zu gefährlich. Außerdem sollten wir Gorgh-12 nicht wieder alleine lassen. – Emion wird hoffentlich nicht gerade aufwachen, während ich weg bin.« Ich warf einen Blick auf das schlafende Saqsurmaa und schaute danach zu Kythara hinüber. Ich nickte ihr zu, bevor ich den Deflektor betätigte und für sie unsichtbar wurde.
* Leise schlüpfte ich durch den Vorhang. Das Glück war mir hold: Die beiden davor postierten Wächter unterhielten sich gedämpft und bemerkten die leichte Bewegung des Stoffes nicht. Ich huschte leise nach rechts in den Gang hinein, dorthin, wo auch der Transmitterraum lag. Wir mussten bei unserer Expedition einen größeren Raum übersehen haben, denn die Schreie stammten eindeutig von Kindern. Du vergisst, dass ihr nur einen Bruchteil der Kavernen gesehen habt. Sicher, aber die Rufe sind nah, und diesen Bereich haben wir akribisch durchsucht. Vielleicht sind die Kinder verschüttet, durch einen Erdrutsch? Du spekulierst zu viel.
Im Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig. Oh doch. Ich hielt Ausschau nach einer Abzweigung, einer Öffnung – irgendetwas, das wir zuvor übersehen hatten und das mir den Weg zu den Kindern wies, von deren Existenz ich mittlerweile felsenfest überzeugt war, gerade wegen der Bedenken, die der Logiksektor anmeldete. Warum versteckten die Priester ihre Nachkömmlinge? Wollten sie damit das Volk unter Druck setzen? Oder stellte das ihre Art von Religion dar, eine Form von Züchtigung? Wieder lief ich an den Kammern der jungen Priester und Ministranten vorbei, die jedoch verlassen dalagen. Auch die Gänge waren leer, so als habe Contelapo nicht nur die Kinder eingesperrt, sondern auch alle anderen Angehörigen seines Volkes, Oberhäupter, Räte, Ministranten, Jünger und Wächter. Die Schreie klangen nun lauter, dazu ertönte ein Klopfen. Ich lief den Geräuschen entgegen, doch diese verstärkten sich nicht etwa, sondern wurden leiser! Ich stoppte, drehte mich um die eigene Achse und lauschte. Wenige Meter hinter mir befand sich ein Raum eines Ministranten. Ich ging darauf zu und trat hinein. Die Rufe ertönten aus diesem Bereich. Ausgiebig untersuchte ich die Kammer, doch ich entdeckte keinen verborgenen Durchgang. »Ich wusste, dass du nicht alleine klarkommen würdest.« Ich schaute mich um. Kythara stand hinter mir. »Wie hast du mich gefunden?« Ich desaktivierte meinen Deflektor. »Ich bin den Hilferufen genauso nachgegangen wie du. Und deine Gedanken fühlten sich sehr nah an.« »Hat dich jemand gesehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn hier nicht noch jemand mit Deflektor herumläuft, nein. Es ist ja keiner da. Die Wächter sind kurz
34 nach dir verschwunden. Und mir ist bisher niemand begegnet.« »Was ist mit Gorgh-12?« »Schläft noch. Ich habe ihn unter einem der Betten versteckt.« Eine Riesenameise unter dem Bett musste der Alptraum für so manchen bedeuten. Ich grinste bei der Vorstellung. Mit einem Mal dröhnten die Rufe lauter zu uns durch, und das Bild vor meinem inneren Auge verblasste. Wir vernahmen Wortfragmente: »… zete, hol uns hier raus!« Die Stimme gehörte einer Frau, die reineres Varganisch sprach als der Hochpräses. »Wo mögen sie stecken?«, fragte ich Kythara. Wir schauten uns gemeinsam um, dann schritt die Varganin energisch zum Eingang, blieb in der aus Fels gebrochenen Rundung stehen, hockte sich auf den Boden und drückte zielstrebig gegen den unteren Bereich der Wand. Ein Stück des lockeren Steins brach heraus. Wie konnte sie das wissen? Weibliche Intuition?, dachte ich. »Hier.« Kythara drehte sich zu mir. »Hier dürften sie sein.« Ich trat neben sie, bückte mich und erkannte einen Eisenring. Gemeinsam zogen wir daran. Es gab einen heftigen Ruck, und die Steinplatte bewegte sich aus ihrer Verankerung. Wir schoben sie zur Seite. Mit meinem Helmscheinwerfer leuchtete ich in das dunkle Verlies hinein. »Helft uns! Bitte!« »Geht zur Seite.« Mit einem eleganten Sprung hechtete ich ins Nichts, das nach gut zwei Meter fünfzig endete. Der Kegel des Helmscheinwerfers beleuchtete Kinder- und Frauengesichter, vor Angst verzerrt. »Was ist geschehen?«, fragte ich. Eine attraktive Frau trat auf mich zu. Sie musterte mich misstrauisch. »Ihr seid die Fremden? Die Götter?« Ich antwortete nicht darauf, sondern wiederholte meine Frage: »Was ist geschehen?« Die Frau strich sich über das schwarze Haar. »Die Wächter haben unsere Hütten in
Nicole Rensmann Brand gesteckt, uns in fahrende Käfige gesperrt, die von ihren hässlichen Reittieren gezogen wurden, und uns hierher gebracht.« »Eure Hütten?« »Am Steinbruch. Wir leben dort fernab von den Zwängen der Kaste und kommen mit den Priestern nur in Berührung, wenn sie für eine Nacht ihren Glauben vergessen und ihrer Lust frönen.« Dann sind das Kinder der Priester, stellte der Extrasinn überflüssigerweise fest. Aber warum wurden sie hierher gebracht, eingesperrt, kurz nachdem wir aufgetaucht sind? Um sie vor euch zu schützen oder doch eher zu verstecken? Ich war mir nicht sicher, ob das Handeln der Kaste tatsächlich mit uns zusammenhing. »Kommt, wir bringen euch hier raus.« »Wir?«, fragte die Schwarzhaarige. Ich zeigte nach oben und sagte: »Meine Gefährtin Kythara wartet dort auf uns.« Lautstark sog die Frau die Luft ein und hauchte: »Die Göttin, gegossen in Gold.« Bei diesem Vergleich musste ich an Ischtar, die Goldene Varganen-Göttin, denken. Eine deiner großen Lieben. Du solltest die Vergangenheit ruhen lassen, empfahl mein Extrasinn. »Mein Name ist Tesea.« Sie verbeugte sich, dann schaute sie mich auffordernd an. Ich hob sie nach oben, wo die Varganin sie in Empfang nahm. Nacheinander befreiten wir so alle Gefangenen aus ihrem düsteren Gefängnis. Ich war der Letzte. Kythara half auch mir, indem sie einen Arm ergriff und mich ein Stück hochzog, bis ich mich selbst am Rand des Bodens hochstemmen konnte. Die Kräfte der Varganin beeindruckten mich stets aufs Neue. »Ihr müsst nun sehr leise sein, damit wir unbemerkt zurück können.« Tesea legte einen Zeigefinger auf die geschlossenen Lippen und schaute die Kinder an. Trotz der gefährlichen Situation, in der sie sich befanden, lächelte sie. »Eure Hütten befinden sich an der Oberfläche?«, fragte ich.
Azaretes Weg »Natürlich. Folgt mir, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Tesea schritt voran, nahezu dreißig Frauen und drei Dutzend Kinder reihten sich an. Ein Kind, vermutlich ein Junge, dessen Bartwuchs ihn wie einen kleinen Mann aussehen ließ, schaute mich neugierig an und begann an meinem Anzug zu zupfen, dann an seiner dreckigen Kluft. »Da«, sagte er und wies auf meinen Helm. Ich kniete mich zu ihm hinunter und zeigte ihm, wie sich der Helm zu einer flachen Kapuze auf dem Rücken zusammenfaltete. Die Augen des Kindes schienen zu wachsen und nahmen einen freudigen Glanz an. »Auch, auch!«, rief er, doch Tesea nahm ihn zur Seite. »Dafür ist jetzt keine Zeit. – Beeilt euch.« Sie schenkte mir einen freundlichen Blick. Ich schaute zu Kythara hinüber, die mich interessiert musterte und mir anerkennend zunickte. Dann folgten wir der Schar. Leise und ohne einen Zwischenfall gelangten wir durch einen schwer passierbaren Gang an die Oberfläche. Nirgends brannte ein Feuer, keine Fackel spendete Licht; auch der Mond – falls es einen gab – schien in dieser Nacht von dichten Wolken bedeckt zu sein. Ich wollte meinen Helmscheinwerfer einschalten, wartete aber in diesem Fall auf Teseas Anweisungen. Weißt du, was du da tust? Du folgst einer Frau, einer Gruppe von Frauen und Kindern. Wäre es nicht besser, zurückzukehren und den kommenden Tag abzuwarten? Die Bedenken meines Extrasinns teilte ich, dennoch wollte ich mehr über den Ort wissen, mehr über die Arkasther erfahren und über alles, was hier geschehen war. Darum musste ich ihr folgen. Ich schaute zu Kythara, die direkt neben mir stand, so nah, dass ich ihren Geruch einatmete. »Sollen wir ihr folgen?« »Ja!« Ihre Bestätigung reichte mir. Die Dunkelheit schützte uns davor, von den Wächtern gesehen zu werden. Wir erkannten kaum etwas von der Umgebung,
35 nicht einmal Umrisse einer Vegetation oder der Bauten. Erst als die Wolkendecke aufriss und sich Mondlicht über die Oberfläche von Parkasthon ergoss, erkannten wir, dass wir uns über eine öde Steppe bewegten. »Wir leben am Ende des Steinbruchs, die Arkasther auf der anderen Seite des Tempelbezirks, fernab von uns.« Tesea ging nun links neben mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie die Spitze der Truppe verlassen hatte. »Die Bewohner kommen nur zu uns, sobald sie Medizin brauchen oder wenn sie einen Kranken bringen. Und die Priester …« Tesea seufzte. »Die Priester besuchen uns außerdem, um ihre Nachkommen zu zeugen.« »Aber warum haben sie euch entführt?«, fragte ich. »Ihnen ist doch bestimmt nicht einfach der Weg zu weit geworden, richtig?« »Die Zeiten sind chaotisch. Contelapo fürchtet sich vor uns, und er hasst die Hütten, weil die Priester in ihnen seinen Gott vergessen.« »Werdet ihr einem erneuten Angriff entgegenwirken können?« »Das wird nicht geschehen. Morgen ist das Konzil, und der Hochpräses wird alle seine Jünger um sich versammelt wissen. Aber ihr dürft keinesfalls bei uns bleiben, das wäre unser Tod.« »Wovor fürchtest du dich?«, fragte Kythara zu meiner Überraschung. Da Kythara rechts neben mir ging und Tesea auf der anderen Seite, beugten sich beide Frauen ein Stück nach vorne und schauten sich – im Schatten des Mondlichts – an. Dann blickte Tesea starr nach vorne. »Ich vermisse meinen Sohn. Ich fürchte mich vor dem, was mich erwarten könnte.«
* Den Rest des Weges schwiegen wir und erklommen einen steilen Hügel. Der Wind wehte uns eine starke Brise zu, die nach verbranntem Holz roch. Wir hatten unser Ziel bald erreicht, ein Lagerfeuer am Fuße des
36 Hügels deutete uns den Weg. Es mussten also noch Frauen zurückgeblieben sein. Tesea beschleunigte ihren Gang, wodurch sie sich immer weiter von uns entfernte. Schließlich lief sie mit gerafftem Rock voraus. Wir anderen blieben – vor allem der Kinder wegen – ein gutes Stück zurück. Dann ertönte ein Geräusch, das mir beinahe das Herz brach: Tesea schrie. Es war ein lang gezogener, hallender Ton, gefolgt von abgehackten, stakkatoartigen Tönen, die nach einer Weile in ein Schluchzen und Wimmern übergingen. Wie oft hatte ich solche Töne schon hören müssen? Ich ahnte, was geschehen war, und doch erlaubte ich mir die Hoffnung, alles möge ganz anders sein, ich würde mich irren. Ein Blickwechsel mit Kythara verriet mir, dass sie das Gleiche dachte. Instinktiv griffen Kythara und ich zu unseren Waffen und eilten auf das Lagerfeuer zu. Die mit Rauch geschwängerte Luft brannte in den Augen. Ich erkannte weitere Angehörige des Coven – drei Frauen und fünf Kinder –, die sich am Feuer wärmten. Die Wächter mussten sie übersehen haben. Zwei Personen lagen dicht beieinander auf dem Boden. In achtungsvollem Abstand stoppten wir und steckten unsere Waffen wieder ein. Nein. Die Gestalten auf dem Boden waren ein Erwachsener und ein Kind. Tesea kniete vor ihnen, sie hatte die Hände vor ihr Gesicht geschlagen, dann griff sie nach dem Körper des Kindes, drückte ihn an sich und wiegte sich hin und her. Ihr Jammern rief eine Gänsehaut bei mir hervor. Die größere Person richtete sich nun schwerfällig auf, kroch auf Tesea zu und umarmte sie und das Kind. Dann hörten wir das Wehklagen eines Mannes, begleitet von Teseas Weinen. Ich selbst war niemals ein guter Vater, geschweige denn Lebenspartner gewesen, obwohl ich es mir immer gewünscht hatte. Aber das musste man auch nicht sein, um die Tiefe der elterlichen Trauer nachzuempfinden.
Nicole Rensmann Eine sentimentale Phase? Mitgefühl, korrigierte ich den Extrasinn knapp, das war kein Thema, über das ich mit dem Logiksektor sprechen wollte. Du kannst davor weglaufen, aber entkommen wirst du diesem Gefühl nie. Denkst du an Chapat, deinen Sohn, den Ischtar dir damals gebar? Ich ignorierte die Frage, schaute betroffen zu Tesea und ihrem Mann – wie ich vermutete – und hörte Kythara sagen: »Wir sollten gehen.« Eine ältere Frau trat auf uns zu. Ein Kopftuch bedeckte ihr Haar. Tiefe Falten verbanden sich mit feineren und verwandelten ihr Gesicht in eine Landkarte. Die Iris ihrer Augen schien eine Mischung zwischen Grün und Rot zu sein. Genau konnte ich dies im Licht des Mondes nicht ausmachen. Sie stellte sich nicht mit Namen vor, als sie nun mit für eine Frau ungewöhnlich tiefer Stimme sprach: »Bitte bleibt und helft uns. Wir wollen Silio die letzte Ehre erweisen und aus seinem Baum eine Totenlade bauen. Doch wir sind erschöpft und die Bauern, die Azarete und Silio hergebracht haben, wieder gegangen. Sie fürchten sich vor dem Zorn des Denmogh.« »Der Denmogh?«, hakte ich nach. »Wer oder was ist das?« Doch die Greisin schüttelte den Kopf. Sie wollte mir darüber keine Auskunft erteilen. Kannst du's dir nicht denken? Ich schüttelte unwillig den Kopf. Ich kann momentan keinen klaren Gedanken fassen! »Wie können wir euch helfen?«, fragte ich die Alte. »Kann ich dich einen Moment alleine sprechen.« Kythara entfernte sich mehrere Schritte und wartete auf mich. Ich ging zu ihr. »Ich halte es für keine gute Idee, länger hier zu bleiben.« »Was hindert uns daran?« »Emion? Der Wissenschaftler? Contelapo? Wir sollten zurückgehen, um niemanden noch mehr in Gefahr zu bringen.« Ich schaute zum Mond hinauf. »Ich werde
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den Frauen helfen und kehre dann zurück, Kythara. Das sind wir ihnen schuldig.« »Glaubst du, das wäre nicht passiert, wenn wir Parkasthon gemieden hätten?« »Irgendwann möglicherweise schon. Aber wir sind der Auslöser dieser Katastrophe, und bis auf ein schlafendes Saqsurmaa und eine Riesenameise wartet niemand auf uns.« Ich suchte ihren Blickkontakt. »Vor Morgengrauen werden wir nichts über diesen Ort erfahren, vielleicht aber können uns die Frauen erzählen, was hier geschehen ist.« Ich hörte das Jammern der Eltern, die ihr Kind verloren hatten. »Gut«, sagte die Varganin dann und schritt an mir vorbei auf die Alte zu.
* Es gab nur einen Baum in der Nähe des Coven. Nicht ein einziges Blatt hing an den verkrüppelten und vernarbten Ästen. Durch den schief gewachsenen Stamm schien es, als verneige er sich vor uns. Nur wenige der jüngeren Frauen gesellten sich zu uns, die meisten kümmerten sich um die Kinder. Niemand warf uns misstrauische oder ehrfürchtige Blicke zu. Sie behandelten uns, als gehörten wir zu ihnen. In einem Holzkarren beförderten sie verschiedene Werkzeuge. Mir wurde eine Axt in die Hand gedrückt: Die Anweisung war auch ohne Worte eindeutig. Mehrere kräftige Schläge mit der Axt brachten den Baum, dessen Stamm trocken und morsch war, zu Fall. Gemeinsam mit Kythara entfernte ich die Äste. Die Kräuterfrauen begannen währenddessen am Fuß des Baumes die Rinde abzuziehen. Wir arbeiteten schweigend, und die Stimmung war so erdrückend, dass ich es nicht wagte, die Frauen über Parkasthon auszufragen. In einem Astloch entdeckte ich ein vergilbtes Papier. Eine der Frauen nahm es mir vorsichtig ab. »Es gehörte Silio.« Ich wollte nicht pietätlos erscheinen, darum forderte ich nicht, einen Blick darauf werfen zu dürfen, obwohl ich neugierig darauf war, den
Inhalt zu lesen. Wir arbeiteten parallel und zügig die halbe Nacht durch, bis der Stamm entkernt und wie ein Trog – oder ein offener Sarg – aussah. Eine der Frauen reichte Kythara einen Becher mit Wasser, den die Varganin dankend annahm. Sie trank einen großen Schluck und reichte den Becher an mich weiter. »Wir würden euch gern mehr bieten, aber das meiste ist verbrannt. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir mit der Nahrungssuche beginnen und die Hütten neu aufbauen.« Die Entschlossenheit in den Worten der Frau imponierte mir. Die Alte, die uns zuvor um Hilfe gebeten hatte, gesellte sich nun zu uns. »Wir danken euch sehr«. Die Dankbarkeitder Alten war ehrlich. »Alles andere liegt nun bei Azarete und Tesea. Wir lassen die Trauernden jetzt allein. Adeiro, mein Sohn, wird euch zurückbringen. Er ist so klein und kann sich überall verstecken. Und er ist stumm, also hofft nicht auf Antworten.« Sie zwinkerte uns zu und lächelte frech, was die Runzeln tiefer in die Haut zog, der Frau jedoch ein strahlendes Aussehen schenkte. »Über den Denmogh werdet ihr schon bald mehr erfahren. Doch es soll nicht meine oder die Aufgabe der Frauen hier sein, euch davon zu erzählen.« Ein Kind von der Größe eines terranischen Neugeborenen schaute zu uns herauf. Es war vollständig behaart und wirkte kaum humanoid. Wir folgten dem Jungen, der uns, trotz der kurzen Beine und der schmalen Statur, rasch und ohne Umweg in den Tempelbezirk brachte. Als er zu seinem Coven zurückkehren wollte, vernahmen wir Stimmen. Mir war klar, dass er nun keine Chance mehr hatte, an den Wächtern vorbeizukommen. Überall wimmelte es plötzlich an der Oberfläche von Priestern und Ministranten. Ich schnappte das Kind und rannte den Weg hinab in die Katakomben und in unsere Höhle. Vorsichtig setzte ich den Jungen ab und kniete mich vor ihn, dennoch musste er noch zu mir aufschauen. »Du brauchst keine
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Angst zu haben. Morgen bringen wir dich hier heraus. Uns wird schon etwas einfallen.« Der Junge nickte, als hätte er mich verstanden. Dann ging er zu einem der Betten. Für seine Größe hüpfte er erstaunlich behände darauf, legte sich hin, drehte sich zur Seite und schien sofort einzuschlafen. »Wo ist der Wissenschaftler?«, flüsterte ich. Kythara zeigte auf das Bett, in dem Adeiro lag. Ich schlich darauf zu, bückte mich und blickte darunter. Die starren Facettenaugen glitzerten. Erst als er sprach, erkannte ich, dass Gorgh-12 bei Bewusstsein war. »Kann ich hier raus?« Ich nickte. Der Wissenschaftler von Maran'Thor kroch unter dem Bett hervor. Er musste sich in der Zwischenzeit seinen Anzug angezogen haben und anschließend wieder in sein Versteck verschwunden sein. Ich hoffte, der Junge erwachte nicht in diesem Moment. Sonst würde er an einen Nachtmahr glauben. Aber das Kind regte sich nicht. »Wie geht es dir?«, fragte ich die Riesenameise. »Mir ist schlecht von der Flüssigkeit, mit der sie mich betäubt haben, aber es ist noch alles dran.« Als ich nicht sofort antwortete, hakte Gorgh-12 nach: »Oder haben sie etwas mit mir angestellt, was ich nicht sehen kann?« Hektisch klapperte er mit seinen Zangen. »Ich glaube, dazu kam es nicht mehr«, beruhigte ich ihn. Rasch setzten wir den Wissenschaftler von den Ereignissen der vergangenen Stunden in Kenntnis. Die Nacht war vorüber, noch bevor wir uns von den Anstrengungen ausruhen konnten.
8. 20. Mai 1225 NGZ Das Konzil
»Ich bringe Euch die Gewänder.« Dantino trat in den Raum, gefolgt von drei Wächtern. Der Junge! Ich trat mit energischen Schritten auf den Berater zu und schob ihn und seine Begleiter aus der Höhle. »Meine Gemahlin meditiert und benötigt Ruhe.« Dantino fuhr sich mit einer Hand über das Haar. Er dämpfte sofort seine Stimme. »Dann verzeiht die Störung. Wir bringen Eure Gewänder.« »Das hatte ich bereits gerade eben verstanden, danke sehr.« Ich wies auf die Kleider, die von den Wächtern über den Armen getragen wurden. »Lasst sie hier.« »Es ist gut, Gott Atlan. Lasse die Gläubigen zu mir kommen«, ertönte Kytharas herrliche Stimme. »Ich glaube, meine Gemahlin ist fertig.« Höflich hielt ich den Vorhang zurück, Dantino trat hindurch und schaute sich suchend um. Ich schaute auf das Bett: Der Junge war verschwunden und mit ihm Gorgh-12. Kythara trat Dantino entgegen und lächelte strahlend. Sie wirkte jetzt tatsächlich wie eine Göttin. »Habt Dank.« Sie nahm dem kleinsten der drei Wächter seine Last von den Armen: ein Bündel schweren dunkelblauen Stoffs, der sich als Kytharas Kleid herausstellte. »Ist das alles?« »Ehrwürdiger, verzeiht uns, Weiber tragen keine Beinkleider und kein Schuhwerk.« Der Mann zog sich rückwärts gehend zurück. Der zweite Wächter überreichte mir meine Kleider, der dritte trug eine Halbrüstung und erklärte: »Ich werde Euch helfen, den Harnisch überzustreifen.« »Es ist nicht nötig, dass Ihr uns behilflich seid. Wir kleiden uns alleine an.« »Wie Ihr wünscht.« Dantino befahl dem Wächter, meine Rüstung abzulegen. »In einer Stunde hole ich Euch ab.« Als der Berater gegangen war, trat Gorgh12 aus der Hygienezelle, das schlafende Kind auf den Armen, und legte es behutsam auf eines der Betten ab.
Azaretes Weg »Nach mir haben sie nicht einmal gefragt«, maulte er. »Das war vielleicht auch besser so«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »Wer weiß, als was sie dich bezeichnet hätten – als Schuhlager oder Materialsammelstelle?« »Du bist geschmacklos«, tadelte Kythara, während sie sich bereits aus- und das neue Kleid anzog. »Und barfuß werde ich ganz bestimmt nicht gehen.« Ich verzichtete auf eine Antwort und begann ebenfalls meine Ausrüstung auszuziehen. »Sehr faszinierend«, kommentierte Gorgh-12, »aber ich erkenne keine Verbesserung der allgemeinen Optik.« »Ich schon«, gab ich zurück und deutete ein Kopfnicken in Kytharas Richtung an, die sich bereits umgezogen hatte. Die Varganin sah phantastisch aus: Sie trug ein Kleid aus dunkelblauem Samt. Es reichte bis auf den Boden und lag um sie herum, als stünde sie knöcheltief in einem dunklen See. Was unten ein Zuviel an Stoff für jeden war, der sich nicht darin zu bewegen verstand, wurde weiter oben durch ein knappes Genug wettgemacht: Ein tief ausgeschnittenes Dekolleté hielt gerade eben den üppigen Busen und präsentierte ihn in einer Weise, die mich schier schwach machte. Die Ränder des Ausschnitts und die der langen Fledermausärmel verzierte eine mit silbernen Fäden durchwebte Brokate. Ein breiter Gürtel aus silberglänzender Seide, der seitlich mit einem Knoten gebunden war, umfasste die Taille. Ihre bronzefarbene Haut schimmerte verführerisch. Das hüftlange, goldene, lockige Haar trug sie offen. »Ich meinte auch dich«, gab der Insektoide trocken zurück. Kythara verbiss sich das Lachen. Hastig schlüpfte ich in die frischen Kleider: dunkelblaue, eng anliegende Hosen aus weichem Samt, dazu ein gleichfarbiges Kettenhemd und blau gefärbte Lederlappen, die ich mit einer dicken Kordel zuschnürte, für die Füße. Die einzige unangenehme Überra-
39 schung bildete der Halbharnisch, der tatsächlich so konzipiert war, dass es mir schwer fiel, ihn allein überzustreifen. »Da für mich ja keinerlei neue Kleidung bereitliegt, habe ich ausreichend Zeit, dir diesbezüglich zur Hand zu gehen«, erklärte sich der vierarmige Wissenschaftler von Maran'Thor bereit. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit griff er sich den Harnisch und streifte ihn mir mit einer Leichtigkeit über, als handele es sich dabei um einen gewichtslosen, weit geschnittenen Poncho. Als Krönung des Ensembles schwang ich mir abschließend noch einen aus blauem Samt geschneiderten, bis zu den Füßen reichenden Umhang um die Schultern. »Ich finde, so können wir uns durchaus sehen lassen«, sagte Kythara. »Aber wir werden uns nicht unbewaffnet in die Höhle des Löwen bege …«, begann ich und stockte, als meine aus reiner Gewohnheit zum Holster fahrenden Hand ins Nichts griff. »Suchst du das hier?«, erkundigte sich Gorgh-12 mit erschreckend kalter Stimme, und ich blickte in die Mündung meines Energiestrahlers …
* Die Vorbereitungen für das Konzil hatten die ganze Nacht gedauert und standen kurz vor ihrer Vollendung. Ministranten hatten den Tagungsraum neben dem Tempelhof gesäubert, mit Girlanden aus goldenem Stahl geschmückt und Tausende von blauen Kerzen aufgestellt. Dort sollten nach der Prozession die Ranghöchsten der Kaste speisen, bevor Contelapo die Zeremonie vollzog. Die Gesandten des Gottes Yracht mussten gebührend empfangen werden, so zumindest die Befehle des Hochpräses. Er selbst hielt sich in seinen Gemächern auf und kleidete sich in festliche Gewänder aus Samt und Seide in den Farben des Denmogh. Geleitet von ihren Dienern, fanden sich erste Oberhäupter der Priesterherrschaft ein
40 und besetzten zunächst die Steinterrassen, bevor sie später in dem gemeinsamen Marsch, angeführt vom Hochpräses der YrachtKirche, durch die Hauptstadt und zurück zum Tempelhof schreiten sollten. Die Spannung unter den geladenen Gästen wuchs. Ein stetiges Wispern erklang aus den Reihen, Gerüchte von den angekommenen Göttlichkeiten verbreiteten sich so rasch wie die Lava, die einst Landstücke von Arkasth unter sich begraben hatte. Von den »Begleitern« – manche meinten auch, es handele sich um »Diener«, andere sprachen von »Geschenken«, wieder andere von »gefangenen Dämonen« – war kaum die Rede, obwohl eine schlafende Schlange und ein redendes Panzertier keineswegs einen gewohnten Anblick boten. Dafür waren allenthalben Details über die Göttlichkeiten im Umlauf: Ein Leuchten ginge von ihnen aus, wahrscheinlich goldener Götterstaub, sie sprächen eine sehr klare, akzentuierte Sprache, den »göttlichen Dialekt«, ihr Verhalten künde von Sorge um und Stolz auf das Volk … All das und noch einiges mehr erklärten die oberen Priester, die in ihren schweren Roben, behangen mit Schätzen aus Metall und Steinen, Recht haben mussten, weil sie eben Priester waren und deswegen immer Recht hatten … Als die Stunde des Empfangs näher rückte, füllten sich die Reihen zusehends. Als schließlich der Mond Steon von der Sonne Arka abgelöst wurde, erschienen die drei Seher. Zuerst kam Demir, gefolgt von Gafor und Rario. Sie trugen schwarze Talare mit einem dunkelblauen, hochstehenden Kragen, der den Eindruck von Knochigkeit ihrer schmalen Gesichter noch verstärkte. Die grauen, dünnen Haare trugen sie offen. Auf das schwarze Metallstück zwischen ihren Augen hatten sie weiße Symbole gemalt. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellten sie sich vor den noch schlafenden Turm des Denmogh. Sie schlossen die Augen und senkten die Köpfe. Es vergingen mehrere Minuten, in denen die Seher in dieser Position schwei-
Nicole Rensmann gend verharrten. Auf den Rängen herrschte Stille. Die Priester und Besucher glaubten, die Seher versetzten sich selbst in Trance, um in die Zukunft zu sehen und den Denmogh zu ehren. Wie abgesprochen schauten die Magier gleichzeitig auf. Demir trat einen Schritt vor und sagte zu den Wartenden: »Schließt euch nun an und lasst uns den Göttern entgegengehen.« Ohne zu zögern, jedoch gesittet und einer nach dem anderen, eilten die Anwesenden von den Rängen herunter und schritten in einer Reihe hinter den drei Magiern aus dem Tempelbezirk hinaus.
* »Verzeiht, dass ich Euch abhole. Doch Dantino ist verhindert. Bitte folgt mir.« Ein junger Ministrant hielt mit einer Hand, in der er einen Stock hielt, den Vorhang zur Seite und zeigte uns mit der anderen den Weg nach draußen. »Die Götter werden gleich kommen«, beschied ihm Gorgh-12 und zerrte den Vorhang wieder in seine ursprüngliche Position. »Und du wirst draußen warten!« »Der Hochpräses wartet nicht gern.« Der Insektoide klapperte drohend mit den Mandibeln. »Hast du nicht gehört?« »Aber beeilt Euch!«, kam die schon wesentlich kleinlautere Stimme des Ministranten von der anderen Seite. »Es bleibt dabei«, bestätigte ich dem Daorghor noch einmal, »du bleibst mit Emion hier und beschützt notfalls unter Einsatz des Strahlers eure beiden Leben. Zu genau diesem Zweck überlasse ich ihn dir nämlich. Und was wirst du auf keinen Fall tun?« »Ich werde mich nicht nach draußen wagen und keine Extratouren unternehmen«, wiederholte Gorgh-12 missmutig. »Wir möchten dich nämlich nicht beim nächsten Mal mit Schnürsenkeln sehen, verstanden?«, ermahnte ich ihn. Der Insektoide musste sich im Klaren darüber sein, dass ihm hier tödliche Gefahr drohte, Energiestrahler hin oder her.
Azaretes Weg »Schnür … senkel?« »Egal«, unterbrach Kythara das Gespräch. »Wir beeilen uns. Und von dir wollen wir keinen Mucks hören, verstanden?« Ein undeutliches Geräusch ertönte zwischen ihren Beinen. Mit einer Hand raffte sie ihren Rock und entblößte ihre zwei momentan wichtigsten Geheimnisse: Zum einen trug sie nach wie vor ihre Stiefel, zum anderen klammerte sich an ihr linkes Bein der Junge und grinste mich an. Ich zwinkerte ihm zu. Er winkte zurück und grinste noch breiter. Der Rocksaum fiel wieder, und Stiefel und Junge waren fort. »Ihr könntet schon längst wieder auf dem Rückweg sein«, maulte Gorgh-12. »Macht schon und passt gut auf euch auf.« Ich nickte und bot Kythara meinen Arm, den sie ergriff. Bevor wir gemeinsam zum Konzil gingen, warfen wir einen letzten Blick auf das Saqsurmaa, aber nach wie vor regte sich Emion nicht. Auch an Größe hatte er nicht mehr zugenommen. Nur die minimale Vibration beim Berühren seiner segmentierten Haut sahen wir als Bestätigung an, dass er noch lebte. Gorgh-12 packte mich am Oberarm. »Lasst mich mit dem Wurm nicht lange allein!«, flehte er. Ich beruhigte den Wissenschaftler mit ein paar Worten. Bevor wir hinter dem Kirchendiener hergingen, der uns durch das unterirdische Labyrinth führen sollte, ermahnte ich die beiden Wächter vor unserem Gemach: »Ihr werdet diesen Ort nicht verlassen und eure Aufgabe als meine Wächter ordnungsgemäß erfüllen. Geschieht meinen Begleitern etwas, werde ich euch persönlich dafür verantwortlich machen und euch in Stück reißen.« Voller Demut senkten sie die Köpfe und sagten: »Ja, Gott Atlan, wir gehorchen dir.« Und du glaubst, das reicht? Sie halten mich für einen Gott. Die Wächter, ja, aber Contelapo?, gab mir der Extrasinn zu bedenken. Natürlich musste ich ihm zustimmen. Der Hochpräses
41 erweckte nicht den Eindruck, dass er an das glaubte, was er vermittelte. Aber die Wächter schienen mir den nötigen Respekt zu erweisen. Und das musste vorerst genügen.
* »Warum gehst du jetzt, da er uns das angetan hat? Warum kannst du nicht hier bleiben? Wenn er diesmal dich tötet, habe ich niemanden mehr.« Tränen rannen Teseas Wangen hinab. Die dünne Haut unter ihren Augen war rot und leicht entzündet, ihre Lider waren aufgequollen. Nervös zwirbelte sie an einer losen Haarsträhne. Azarete nahm ihre Hände in seine. Er verspürte Wundschmerz, qualvoller aber war das Gefühl des Verlustes, das sich in sein Herz bohrte, tiefer als ein Pfeil und rotierender als der Turm des Denmogh. Tränen bildeten sich auch in seinen Augen, als er auf seinen Sohn blickte, der – gebettet in der Sargschale, geschnitzt aus dem Holz seines Lieblingsbaumes – wie schlafend dalag. Seine Schriftstücke, die Azarete ihm aus der Kaste mitgebracht hatte, hielt der bleiche Junge in den zusammengefalteten Händen, sie sollten bald mit ihm verbrannt werden. Azarete wusste, dass Silio nie wieder aufstehen würde, und doch glaubte er für einen Moment, das Heben und Senken der Brust zu erkennen. Ein Trugschluss, nichts weiter als Einbildung, hervorgerufen durch die Schlussfolgerung, ihn nie mehr atmen oder gar lachen zu sehen, und die Gewissheit, dass Kinder niemals vor ihren Eltern sterben dürfen. Azarete schloss die Augen. Er war es doch, der Silio vor den drängenden Erwachsenen schützen wollte, stattdessen hatte Silio ihm das Leben gerettet und seines verloren. Der Pfeil sollte Contelapos Gegner töten. Aber die Spitze hatte den schmalen Körper seines Kindes durchbohrt und Azarete nur leicht an der Brust verletzt. Die Kräuterfrauen hatten den Schaft gekappt und somit Silio von ihm getrennt, dann hatten sie ihm die Pfeilspitze aus der Brust geschnitten. Er er-
42 innerte sich nur schwach daran, denn die Schmerzen brachten ihn an den Rand einer Ohnmacht. Doch ein klares Bild, das den leblosen Körper seines Sohnes zeigte, als die Frauen ihn von seinem Bauch genommen hatten, lag obenauf in seiner sich fortwährend öffnenden Gedächtnisschublade. Niemals würde diese Erinnerung verblassen, vielleicht glitt die Lade eines Tages seltener auf, aber die Erinnerung an diesen Augenblick würde klar und frisch bleiben und ihn qualvoll ermahnen – bis auch er den Tod fand. Verzweifelt unterdrückte Azarete ein Schluchzen, indem er sich so fest auf die Unterlippe biss, dass sie zu bluten anfing. Er leckte darüber, der metallische Geschmack und der damit verbundene Gedanke an das warme Blut seines Sohnes drückten den kargen Inhalt seines Magens in die Speiseröhre. Mehrmals hustete er und würgte die Säure zurück. Es drängte ihn zum Konzil, wo sich das Schicksal seiner Welt endgültig entscheiden würde: Wenn es Contelapo gelang, die Fremden für alle zu Göttern zu machen, wenn er es so darstellen konnte, dass er in ihrer Gunst stünde, war alles verloren, würde die Trotzreaktion der Jungen von einer Woge des Patriotismus überrollt werden. Das durfte nicht gelingen, ob die Fremden nun Götter waren oder nicht. »Wäre ich nur hier gewesen anstatt deiner. Ich hätte ihn vielleicht retten können. Nie warst du da, wieso ausgerechnet zu seinem Tod?« Tesea vergrub ihr Gesicht in Azaretes Schulter und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. Der Priester fühlte sich hilflos. Er begriff, was seine Geliebte durchmachte, denn es widerfuhr ihm ja selber, doch das, was Tesea erfüllte, reichte tiefer und weiter, ein großes, strudelndes Chaos der Gefühle, in das auch er gesogen würde, wenn er nicht nach seinem Verstand handelte. Wieso aber fiel ihm das so schwer? Alles, was er brauchte, waren ein klarer Blick und ein scharfer Verstand, und nichts
Nicole Rensmann davon konnte er wirklich gebrauchen, wenn er angemessen um Silio trauern und seine Frau trösten wollte. »Ich wünschte, der Pfeil hätte mich durchbohrt, denn für mich war er gewiss gedacht. Silios Tod ist das Schlimmste, was uns beiden geschehen konnte, doch Contelapos Intrigen werden das Schlimmste für alle, wenn ihn niemand stoppt.« »Und du? Du kannst es? Du bist wahnsinnig, Azarete! Du stürzt dich in den sicheren Tod! Willst du mich jetzt auch verlassen?« Tesea weinte, dass ihr Gesicht beinahe zerfloss. Alles Elend der Welt sprach aus ihren Blicken und Worten. »Was habe ich getan, dass mir alles genommen wird? Was?« »Mir wird nichts geschehen, daran musst du fest glauben. Für Silios Tod können wir beide nichts, am allerwenigsten du. Du bist die Einzige, die frei von jeglicher Schuld ist. Ich war es, dessen Liebe euch in Gefahr brachte, und ich werde dafür bezahlen.« »Bitte bleib«, versuchte Tesea ihn am Gehen zu hindern. Noch lange hielt er seine Geliebte in den Armen, vielleicht eine Stunde oder zwei, in der keiner der Bewohner des Coven sie störte oder gar in ihre Nähe kam. Als die Zeit des Abschieds endgültig gekommen war, küsste er Tesea die Tränen aus dem Gesicht und löste sich widerwillig von ihr. Auf der Hügelkuppe blieb er noch einmal stehen und sah zurück. »Ich komme wieder, und dann bleibe ich – für immer, das habe ich Silio versprochen«, flüsterte er, obwohl ihm eine düstere Vorahnung anderes verhieß. Azarete zog sich die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht, sodass seine Tränen im Schatten rannen, drehte sich um und ging weiter, um sich seiner Bestimmung zu stellen.
* Der Ministrant humpelte stark, weswegen er sich offenkundig auch auf seinen Stock
Azaretes Weg stützte. Er trug sein braunes Haar zu zwei dünnen, geflochtenen Zöpfen, die bei jedem Schritt auf dem Rücken hin und her schwangen. »Wir sollten dem Hochpräses einige Fragen zu Parkasthon stellen«, flüsterte ich Kythara zu und wies mit einem Nicken auf Contelapo, der uns entgegenkam. Er trug dieselben Farben wie wir, doch schienen seine Gewänder prachtvoller zu sein. Seine Brust zierten goldfarbene Ketten, an denen unterschiedliche Amulette, teils bestückt mit Edelsteinen, hingen. Der weltliche Reichtum der hiesigen Geistlichkeit ließ sich nur erahnen. Contelapo nickte uns mit einem zufriedenen Lächeln zu. Er schritt voran. Auf seinem Umhang entdeckte ich eine Stickerei, die mir bekannt vorkam. Doch da sich der Hochpräses sehr ruckartig und eilig bewegte, verzerrte sich das Gewebe, und ich konnte die Form nicht exakt erkennen. Dennoch glaubte ich etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben. Hier wimmelt es von solchen Abbildungen. Sag nur, dir ist das noch nicht aufgefallen? Es wäre deine Aufgabe gewesen, mich darauf hinzuweisen, murrte ich. Du hast mir klar zu verstehen gegeben, dass du dafür keine Zeit hast. Du solltest genauer über deine Wünsche nachdenken, Großmächtiger. Der Extrasinn klang jetzt eindeutig eingeschnappt. Na schön. Ich entschuldige mich bei dir. Bei dir selbst, meinst du wohl? Denn wir beide sind eins und zusammen mehr als die Summe unserer Teile. Ein Hoch auf die ARK SUMMIA! Ich seufzte. Es hat mit dem Denmogh zu tun, nicht wahr? Das mentale Äquivalent eines Lachens erklang in meinem Kopf. Bravo! Zu mehr ließ sich der Extrasinn nicht hinreißen. Da wir größer waren als Contelapo, schritten wir gemächlicher, anders hätte Kythara die kostbare Fracht unter ihrem Kleid auch nicht unbemerkt mit sich führen kön-
43 nen. Contelapo lotste uns zu einer in den Fels gehauenen Wendeltreppe, die steil nach oben verlief. Nach exakt 266 Stufen erreichten wir die Oberfläche von Parkasthon. Ich blinzelte, als die Sonne meine geweiteten Pupillen blendete. Dann drehte ich mich zu Kythara um, die hinter mir soeben die letzte Stufe erklomm, und half ihr herauf. Zu meiner Überraschung schlug sie meine entgegengestreckte Hand nicht aus, sondern ergriff sie und hakte sich anschließend wieder bei mir ein. Sie lächelte mich verstohlen an. »Mein göttlicher Gemahl.« Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Es blieb keine Zeit, sich im Tempelbezirk umzusehen, denn Contelapo bat uns durch ein Tor aus goldenem Stahl zu treten und führte uns zu Hunderten festlich gekleideten Geistlichen, die auf uns zu warten schienen. Der Magier mit den längsten Haaren schälte sich aus der Menge und schnippte mit den Fingern. Sofort eilten mehrere Wächter heran. Sie trugen den Sitz eines Einmannraumers, der auf einer Stahlplatte stand. Contelapo wandte sich zu uns und nickte mir zu. Dann entfernte er sich und setzte sich in die Sänfte, die von sechs Wächtern getragen wurde. Die Anwesenden beäugten uns neugierig. »Wir müssen jetzt eine Gelegenheit finden, das Kind unbemerkt loszuwerden«, raunte ich Kythara zu. Sie nickte. Die drei Magier in Begleitung von fünf Wachmännern führten den Korso an, dann folgte die Sänfte, die noch einmal von fünf Wächtern beschützt wurde. Unser Platz sollte hinter diesen sein. Uns schlossen sich die restlichen Anhänger der Kaste an. »Der Hochpräses geht sehr merkwürdig mit seinen Göttern um«, flüsterte mir Kythara ins Ohr. »Er glaubt nicht einen Moment daran, dass wir Götter sind. Er spielt nur«, entgegnete ich. »Zu welchem Zweck?«, fragte Kythara und schaute sich suchend um. »Das müssen wir noch herausfinden.«
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»Hast du die Magier gesehen? Was hältst du von ihnen?« Sie schaute mich an. »Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich magische Fähigkeiten besitzen, sondern ihre Magie aus den Energieresten der Varganentechnik produzieren.« »Das Metallstück zwischen ihren Augen scheint ihnen eingepflanzt worden zu sein.« »Um den Arkasthern die Besonderheit der Seher zu präsentieren.« »Sind dir die Entzündungen an den Hauträndern aufgefallen?« Das allerdings war mir entgangen.
* Aufmerksam schritten wir durch Parkasthon und ließen uns von dem Volk, das die Wege säumte, feiern. Gaukler und Feuerspucker, wie ich sie aus Zeiten des terranischen Mittelalters kannte, präsentierten ihr Können. Stelzenläufer begleiteten uns eine Weile, bis sie mit großen Schritten an dem Hochpräses vorbeigingen. Ein Zauberer zeigte seine Künste mit primitiven Mitteln, die jedoch seine kleinen Zuschauer nicht durchschauten und ihre Freude daran hatten. Ein Jongleur ließ acht runde Steine so geschickt kreisen, dass mir schwindelig beim Zusehen wurde. Obwohl dieses Fest anlässlich unseres Erscheinens fröhlich wirkte, verspürte ich ein beklemmendes Gefühl beim Anblick der Stadt – einer Welt, die in Ruinen lag. Vor Jahrtausenden musste hier eine fürchterliche Verwüstung stattgefunden haben. Die Zivilisation schien am Anfang der Entwicklung zu stehen. Mickrige, verkrüppelte Bäume gehörten zur einzigen Vegetation, zumindest in diesem Bereich. Die Arkasther hausten in Baracken, die aus Holzresten, Metallstücken und Lehm zusammengeflickt waren. Ich entdeckte einen Brunnen, aus dem das Volk sein Wasser schöpfte. Mitten in all dieser Armut stand, in krassem Gegensatz dazu, eine goldene Pyramide, auf die wir nun zusteuerten. Ich schubste Kythara leicht an. Doch sie
hatte das Gebilde ebenfalls entdeckt. »Wie die AMENSOON«, meinte sie. »Ein ausgebrannter Varganenraumer, der bis zur Hälfte in der Erde steckt, als heiliges Relikt?« Eigentlich sollte mich das nicht wundern, nach allem, was wir bisher gefunden hatten. »Irgendjemand hat die Schrift mit Lehm beschmiert. Schade, vielleicht kannte ich die Besatzung des Raumers. Der Einfallsreichtum der Priester, aus Schrott Heiligtümer zu erschaffen, ist jedenfalls bemerkenswert.« Wir umwanderten soeben die Pyramide, als ein kleinwüchsiger Arkasther oder ein Kind – in der beginnenden Hektik um uns herum erkannte ich das nicht sofort – sich vor unsere Füße fallen ließ. Er blutete am Hals und aus der Nase. Ich vernahm ein Raunen, das durch die wartende Menge ging. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Kythara in diesem Moment ihren Rock minimal anhob und der Knabe zwischen den Beinen der umherstehenden Arkasther verschwand. Ich bückte mich hinunter – zu schnell. Kythara griff noch nach meinem Arm, doch da hatte ich den Verletzten bereits berührt. Die Rufe verstummten, eine gespenstische Stille lag über uns. Dann öffnete der Mann seine Augen, er blinzelte und erhob sich. Mit einer Hand wischte er sich das Blut vom Hals. »Meine Wunden sind geschlossen. Ich bin geheilt. Gott Atlan hat mich zum Leben erweckt.« Er warf sich auf den Boden und küsste die Lederlappen, in denen meine Füße steckten. Dann sprang er auf und umarmte mich, so gut das bei seiner Kleinheit möglich war. Energisch schob ich den Mann von mir. »Es ist gut, gehe deines Weges.« Und tatsächlich, er hüpfte von dannen und sang dabei über die wundersame Heilung seiner Wunden. Der Extrasinn spottete: Gott Atlan, der Heiler. Mal was anderes. Eine Zurschaustellung meiner angeblichen Göttlichkeit.
Azaretes Weg »Du kannst darauf wetten, dass Contelapo das eingefädelt hat und für sich verbuchen wird«, flüsterte Kythara ergrimmt. Ich nickte, ohne sie anzusehen, und ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen. Das Volk flüsterte und betrachtete mich ab diesem Moment mit noch größerer Hochachtung. Da wir beinahe zwei Köpfe größer als die Umherstehenden waren, hatten wir einen weiten Blick. Ich schaute in die Richtung, in die der Verletzte verschwunden war, und erblickte ihn abseits. Ein Wächter stand bei ihm und schien ihm etwas zu übergeben. Preisgeld, dachte ich und fragte mich, welches Schauspiel wir als Nächstes geboten bekämen. Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Langsam. Bedeutend langsamer als vor dem Zwischenfall. Alarmiert schaute ich mich um, auch Kythara schien eine Vorahnung zu haben. »Etwas geht hier vor sich«, sagte sie. »Wir müssen …« Und dann sah ich die nächste Götterprüfung auf einer mutierten Rieseneidechse direkt auf uns zureiten. Die Zeit schien nun zu rasen und gleichzeitig stehen zu bleiben. Die Arkasther wichen zur Seite, manche kreischten, Kinder weinten. Eine Mutter riss ihr Kind aus dem Weg und fiel dabei zu Boden. Die Krallen des Reptils verfehlten sie nur um wenige Zentimeter. Der Reiter trug eine komplette Rüstung, ein geschlossener Helm verhüllte sein Gesicht. Nun schwang er ein Schwert über seinem Kopf, und ich ahnte in diesem Moment, dass Kythara das Ziel dieses Anschlags werden sollte. Ich schubste sie unsanft zur Seite, sodass sie zu Boden stürzte. Schmerz durchzuckte mich, das Reptil stieß einen schrillen Laut aus, der Angreifer drehte ab und türmte in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich taumelte. Die belebenden Impulse meines Zellaktivators versuchten der Waffenwirkung entgegenzuwirken und die Wunde zu schließen, aber das konnte noch eine
45 Weile dauern. Ich sackte zu Boden. Kythara kniete sich neben mich. »Contelapo macht keine Anstalten, von seinem Thron herabzusteigen. Er ist durchtrieben. Wie geht es dir?«, flüsterte sie. Etwas überrascht über den raschen Themawechsel, stockte ich, bevor ich antwortete: »Gleich besser.« »Wie konnte er dich verletzen?« »Er hat genau die Stelle zwischen Schulter und Nacken getroffen, die nicht vom Harnisch geschützt war.« Dennoch war die Verletzung nicht tief genug, um ernsthaft Schaden anzurichten. »Ein gezielter Stoß.« Kythara schaute ernst. »Dafür werden sie lange geübt haben.« Während sich die Wächter um den Attentäter kümmerten und die Zuschauer laut protestierten, trat ein Vermummter aus der Menge auf mich zu. Die Kapuze seines Umhangs trug er tief ins Gesicht gezogen. Er beugte sich zu mir herunter. Die Hälfte seines Gesichts versteckte er hinter einem zotteligen Vollbart. Ich erschrak, als ich in seine Augen blickte, die von einem großen Verlust kündeten. Dieser Mann hatte erst kürzlich jemanden oder etwas, an dem sein Herz hing, verloren, das konnte ich spüren. Genau wie Tesea … Ob dieser Mann vielleicht …? »Der ›Kranke‹, den Ihr geheilt haben sollt, ist Contelapos persönlicher Volksblender. Er stirbt regelmäßig als Beweis für Contelapos Macht. – Bitte verzeiht.« Er verbeugte sich. »Ich bin Azarete, Priester der Kaste und Gegner des Regimes.« Er wiederholte seine Verbeugung. Sein Respekt schien ehrlich. »Seid auf der Hut. Contelapo ist ein hinterhältiges und selbstsüchtiges Panzertier.« Diese Bezeichnung und der Vergleich mit seiner Gattung hätten Gorgh-12 nicht gefallen, aber der Wissenschaftler war ja zum Glück nicht anwesend. »Seid Ihr Teseas Mann?« Kythara war die Trauer des Mannes ebenfalls aufgefallen. Er schien überrascht, dann zog er seinen
46 Umhang zur Seite und entblößte darunter einen Talar, wie ihn auch die anderen jungen Priester trugen. Nur übersäten bei ihm Blutflecke den Stoff. An der Brust war das Gewebe von einem scharfen Gegenstand aufgeritzt worden. Darunter lugte ein beigefarbener Verband hervor. »Er wollte mich töten, doch er traf meinen Sohn.« Seine Stimme zitterte. »Ich bin sein größter Widersacher. Und ich bin müde. Doch ich werde es nicht zulassen, dass er gewinnt. Das bin ich Silio schuldig.« Wir sprachen ihm unser Beileid aus und schauten beschämt zur Seite, als sich der Priester über die feuchten Augen wischte. »Erzählt mir etwas über Parkasthon.« Es schien mir respektlos, ihn jetzt darüber auszufragen, doch uns blieb nicht mehr viel Zeit. »Parkasthon? Ich habe diese Bezeichnung in den Aufzeichnungen der Ahnen gelesen.« »Was ist hier geschehen?« »Arkasth wurde vor Urzeiten vom Denmogh verwüstet«, erklärte er uns. »Und er ist weiterhin aktiv. Nur der jeweilige Hochpräses ist in der Lage, ihn zu beherrschen. Darauf basiert die Macht der Yracht-Kirche über das Volk und die Jünger. Ohne Contelapo würde der Denmogh erwachen und unser aller Leben zerstören, so behauptet er selbst. Aus Angst vor diesem Schicksal führen die Bürger zwei Drittel ihrer Einkünfte und Erträge an die Yracht-Kirche ab.« »Das erklärt die Armut im Volk. Was bewirkt der Denmogh?« Langsam richtete ich mich auf. Ich ahnte … »Der Denmogh ist die Reinkarnation des Gottes Yracht und somit das heiligste Relikt der Kaste. Aber was er bewirkt, weiß ich nicht. Doch ich glaube nicht, dass er so mächtig ist, wie Contelapo predigt. Auf all meine Gebete erhielt ich nie eine Antwort. Und mein Flehen, dem harten Regime ein Ende zu bereiten, wurde niemals erhört. Oder erhört ihr mein Flehen und erweckt meinen Sohn wieder zum Leben, ihr, die ihr euch ›Götter‹ nennen lasst?« Ich antwortete nicht, denn ich verfügte
Nicole Rensmann weder über Heilungskräfte, noch besaß ich die Fähigkeit, Tote wiederzubeleben, was ich in meinem langen Leben schon oft bedauert hatte. »Ihr seid keine Götter, nicht wahr? Aber wer – was – seid ihr dann?« »Verzeiht mir, Azarete, aber unsere wahre Identität ist für Euch nicht von Belang.« Der Zellaktivator sandte weiterhin heilende Impulse durch meinen Körper, als ich mich nun erhob. Kythara half mir. Obwohl dies nicht nötig war, wehrte ich ihren Arm, den sie mir um die Hüfte legte, nicht ab. Azarete zog seine Kapuze wieder über. »Gut, wie Ihr meint. Doch bitte, hört mir zu: Die Macht der Yracht-Kirche ist durch den Einfluss der Reformation ins Wanken geraten. Contelapo benötigt ein Zeichen, um seiner Stimme wieder Gehör zu verschaffen. Er wird Euch dafür benutzen, egal was oder wer Ihr seid. Zweimal hat er es heute schon geschafft. Das dritte Mal werdet Ihr nicht überleben.« Er stoppte und schaute zu Contelapos Wächtern hinüber. Kythara nickte und forderte den Priester auf, weiterzusprechen. »Ich glaube, dass bei dem Beschwörungsgebet der Denmogh erwachen wird, wie auch immer Contelapo dies bewerkstelligt. Ihr werdet dabei getötet werden, und nur er wird den Denmogh beruhigen können, bevor er das Leben auf Arkasth vollständig ausrottet.« »Habt Ihr Beweise dafür?«, fragte ich ihn. Ich war wieder in der Lage, alleine zu stehen, nickte Kythara kurz zu, woraufhin sie ihren Arm von meiner Taille nahm. Azarete schüttelte das Haupt. »Ich kann Euch hier rausbringen.« Ich sah, wie Contelapos Garde mit raschen Schritten auf uns zukam. Eine erkannte Gefahr ist eine halbe Gefahr, philosophierte mein Extrasinn. »Ich danke Euch für das Angebot, aber wir werden mit Contelapo schon fertig werden.« »Wie Ihr meint.« Er hatte es nun sehr eilig. »Wir sehen uns später.« Azarete ver-
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schwand in der Menge, kurz bevor die Garde eintraf, begleitet von Contelapo, der sich scheinbar doch ein Bild seines verletzten Gottes machen wollte. »Wir werden den Täter zur Rechenschaft ziehen, aber wie ich sehe, geht es Euch wieder gut. Hat er Euch nicht getroffen?« Er trat hinter mich. »Oh doch!« Ich glaubte Freude in den knappen Worten zu erkennen, und ein zynisches Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich uns wieder zuwandte und leise sagte: »Götter bluten nicht.« Arkoniden schon, trotz Zellaktivator. Ich antwortete weder meinem Extrasinn noch dem Hochpräses. Dies schien den Herrscher zu ärgern. Sein Blick wollte mich töten, aber dagegen benötigte ich nicht einmal den Zellaktivator. Contelapos Magie beschränkte sich auf die Überreste der Varganentechnik. Er drehte uns den Rücken zu. »Wir gehen weiter«, rief er und ließ sich zu seiner Sänfte geleiten. Die Prozession stoppte schließlich vor dem Tor, dem Eingang zum Tempelbezirk, den wir bereits einmal durchschritten hatten, jedoch so schnell, dass keine Zeit geblieben war, uns umzuschauen. Nun nutzte ich die wenigen Minuten, den Bau, der wie ein primitiver Sicherheitstrakt eines Gefängnisses wirkte, näher zu betrachten. Hohe Stahlmauern führten in einer Rundung vom Eingang fort. Von meiner Position aus erkannte ich vier Wachtürme. Doch ich vermutete in regelmäßigen Abständen rundherum weitere, von denen aus das Volk und Verstöße der Priester beobachtet werden konnten.
* Der Hochpräses und sein Berater Dantino standen zwischen den goldenen Trägern des Tors. Es wunderte mich, dass er keine Wache zu seinem Schutz neben sich postiert hatte. Er musste sich seiner Macht wieder sicherer sein. Zu meiner Überraschung richtete Contelapo das Wort an Kythara und mich.
»Dies ist – lasst es Euch erklären -«, Contelapo zeigte mit einer Hand auf ein Stück grob in Form gehauenen Fels, der auf der einen Seite des Eingangs prangte, »der Stein der Weisen.« Kythara und ich wechselten einen Blick. Ich zog eine Augenbraue hoch und schmunzelte über die zynischen Gesichtszüge der Varganin. »Auf der anderen Seite seht Ihr unsere Götterstatue. Bitte erweist ihr und dem Stein der Weisen Eure Ehre.« Kythara schaute zu mir, ich deutete ein Nicken an. Wir verbeugten uns vor dem Felsen, danach vor der Statue, die offensichtlich ein in den Boden gerammter torpedoförmiger Einmannjäger war. Das Heckruder hatte sich beim Absturz so verformt, dass es nun wie ein Kragen wirkte. Darüber befand sich eine runde Kugel aus geschmolzenem Metall, in die ein Gesicht mit geschlossenen Augen und einem kleinen Mund, der ein »O« zu bilden schien, eingefräst worden war. Das Gesicht des Hochpräses verfinsterte sich. Anscheinend hatten wir seinen Heiligtümern nicht die ihnen zustehende Hochachtung erwiesen. Aber wir waren schließlich Götter und ignorierten daher seine Verärgerung. Und da Contelapo dies wohl einsah, wandte er sich um und schritt voran. Dantino blieb am Eingang stehen. Rasch holten wir den Hochpräses ein und nahmen ihn in unsere Mitte. Ich spürte seine wachsende Unruhe, als ich ihm dieselben Fragen stellte wie zuvor Azarete. Doch von Contelapo erhielt ich nur Ausflüchte. »Ihr seid die Götter, Ihr solltet wissen, was einst auf Arkasth geschah.« »Wie ist es möglich, dass die Kaste solche Reichtümer besitzt und das Volk zu verarmen scheint?«, fragte ich, und Kythara sagte: »Wir danken Euch für die Gewänder. Eure Schneider haben wahrlich gute Arbeit geleistet.« Contelapo warf der Varganin einen mürrischen Blick zu. »Wir waren und sind für die Ankünfte der Götter vorbereitet. Nur das
48 Beste ist für sie gut genug.« Konzentrier dich auf den Denmogh. Ich reagierte sofort auf den Hinweis meines Extrasinns. »Erzählt mir von dem Denmogh. Was bewirkt er?« »Solange ich nicht weiß, woher Ihr kommt und wer Ihr wirklich seid – niemals.« Ich ahnte, dass der Hochpräses selbst dann meiner Bitte keine Beachtung schenken würde. »Ihr habt uns heraufbeschworen, oder nicht?« Contelapo warf mir einen spöttischen Blick zu. Als er antwortete, klang seine Stimme streng: »Wie seid Ihr unbemerkt auf den Altar gelangt?« »Es wundert mich, dass Ihr nicht wisst, wie der Altar funktioniert. Wer ist der Denmogh?«, wiederholte ich meine Frage. Nichts schien mir mit einem Mal wichtiger zu sein, als herauszufinden, welche Funktion dem Denmogh zuzuschreiben war. »Ich wiederum wundere mich, warum Ihr ausgerechnet jetzt erschienen seid. Was beabsichtigt Ihr hier bei uns? Wer hat Euch wirklich gerufen?« Bevor ich erneut etwas entgegnen und meine aufsteigende Wut über die Ignoranz des Hochpräses ausbrechen konnte, trafen wir bei einer oberirdischen Höhle ein. Eine Metalltür hinderte uns zunächst daran, den Raum zu betreten. Contelapo blieb stehen, ignorierte uns und sprach zu den Anhängern seines Glaubens: »Bevor wir zur Zeremonie schreiten, wird sich Gott Atlan mit seiner Gemahlin stärken müssen. Ich bitte die Ranghöchsten der Kaste und die Seher, mich zu begleiten und an dem Mahl teilzunehmen. Alle anderen dürfen auf den Steinterrassen hinter dem Tagungsraum Platz nehmen.« »Er spielt seine Rolle perfekt«, stellte Kythara fest. Und nicht einer, der sich um deine Verletzung schert, warf mein Extrasinn ein. Götter sind unsterblich und können nicht verletzt werden, erklärte ich Contelapos
Nicole Rensmann Sichtweise und die des Volkes. Dass mein Zellaktivator die Wunde längst geschlossen hatte und die Schmerzen kaum noch vorhanden waren, ahnten die Arkasther natürlich nicht. Aber essen müssen Götter? Komisches Volk, diese Arkasther. Da stimmte ich meinem Extrasinn zu. Contelapo glaubt nicht, dass wir Götter sind, das Volk aber möglicherweise schon, darum wird niemand meine wundersame Heilung in Frage stellen. Oder es traut sich niemand unter den Augen des Hochpräses, dir zu nahe zu kommen und sich nach deiner Verletzung zu erkundigen. Selbst die Reformatoren, die ich unter den Anwesenden vermutete, hielten sich zurück. Keine Zwischenrufe, keine Demonstrationen. Alle schienen gespannt darauf zu warten, was geschehen würde, und sahen in uns tatsächlich die Erlöser.
* Zwei Ministranten schoben die Metalltür auf. Wie im subplanetarischen Bereich hingen auch hier Fackeln ringsherum an den Wänden, zusätzlich sorgten Tausende von Kerzen für Beleuchtung. Ich schaute zu Kythara. Doch sie beachtete mich nicht, sondern betrachtete etwas am Ende des Saals. Ich folgte ihrem Blick, erkannte dort aber nichts außer weiteren Kerzen in länglich geschwungenen Halterungen. Sie schien bemerkt zu haben, dass ich in dieselbe Richtung sah, und trat näher zu mir. »Komm, wir sollten uns setzen.« Der Hochpräses und sein Gefolge hatten soeben Platz genommen. Am Kopf der Tafel waren zwei Stühle frei geblieben. Contelapo deutete mit einer Hand dorthin. Wir folgten der Aufforderung und setzten uns. Der Tisch bestand aus Stahl, ebenso die Stühle, deren hohe, abgerundete Lehnen mit eigenartigen Zeichen verziert waren. Es wäre zu auffällig gewesen, diese näher zu betrachten. Auch das Geschirr bestand aus feinstem
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silberfarbigem Stahl, nur Contelapo trank aus goldenen Bechern und aß von einem goldenen Teller. Albern und übertrieben, dachte ich. Diese Zurschaustellung von Contelapos angeblicher Macht und seinem Rang nervt. Ein Löffel stellte das Besteck da. Einer der Diener schüttete uns eine klare Flüssigkeit ein. Ich bedankte mich, was mir wieder einen bösen Blick des Hochpräses einbrachte. Doch er besann sich und prostete mir zu. Ohne zu zögern, hob ich den Becher, setzte die Lippen an und sah, dass Contelapo mich dabei interessiert beobachtete. Ich trank nicht, obwohl mein Zellaktivator sofort einsetzen würde, sollte das Getränk vergiftet oder für meinen Organismus schlecht verdaulich sein. Doch ich wollte keine Bauchschmerzen riskieren. Außerdem war es mir zuwider, gemeinsam mit dem Hochpräses zu speisen. »Ein interessantes Getränk«, rief ich ihm zu. »Feinstes Quellwasser, mit den seltensten Pflanzen der Gegend versetzt. Zu viel davon, und dein göttlicher Geist wird umnebelt«, erklärte er mir und lachte, was wie das Gackern eines im Todeskampf liegenden Reptils klang. Ich lachte ebenfalls. Zu Kythara flüsterte ich: »Wir sollten weder etwas trinken noch essen, ich traue ihm nicht.« »Ich hatte nicht vor, etwas zu essen.« Mit einer unauffälligen Kopfbewegung wies sie auf eine große Servierplatte, die nun von mehreren Dienern hereingetragen wurde. Ein knusprig gebratenes Reptil lag rücklings, die Beine von sich gestreckt, darauf, das uns nun aufgetischt wurde. Wir dankten freundlich, lehnten aber entschieden ab. »Vielleicht ist es die Echse des Reiters, der dich angegriffen hat.« »Dann hoffe ich mal, dass der nächste Gang nicht der Reiter selbst ist.«
*
Die Seher und Ranghöchsten der Kaste fielen über das Fleisch der Echse her, als hätten sie tagelang nichts gegessen. Sie schmatzten lautstark, leckten sich das Fett von den wurstigen Fingern und unterhielten sich dabei über die Künste des Kochs. Weitere Platten wurden aufgetragen, auf denen sich kleine, gegrillte Panzertiere befanden. Ich dachte an Gorgh-12. Nachdem auch die Insekten vertilgt waren, erhielten wir eine Suppe, die dem klaren Getränk ähnelte, und Brot, das appetitlich duftete. Dennoch rührten wir auch dieses nicht an. Contelapos Miene nahm einen verbitterten Ausdruck an. Der vierte und letzte Gang bestand aus einer undefinierbaren weißgrünlichen Creme, deren Ursprung ich nicht näher wissen wollte. »Wenn Ihr Eures nicht möchtet, gebt es mir«, sagte Contelapo und gestikulierte hektisch mit den Händen, als wolle er keinesfalls den Nachttisch an jemand anderen verlieren. Ich reichte ihm meine und Kytharas Schüsseln. »Schmeckt es Euch nicht? Ihr seid anderes gewohnt? – Nun, dann bleibt uns mehr.« Wieder gackerte er laut, schaute seine Magier und hohen Priester an, die sich dem Lachen anschlossen. Als der Hochpräses mit Genuss seinen Löffel ableckte, stürmte ein Mann herein. Ich erkannte die Erscheinung und die Stimme sofort: Azarete. Er trat auf Contelapo zu und stellte sich ihm gegenüber – nur der Tisch, beladen mit leeren Schüsseln und Tellern, stand noch zwischen ihnen. Vor Schreck fiel Contelapo der Löffel aus der Hand. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, Angst zeigte sich in seinen Augen und der abwehrenden Haltung. Er rückte ein Stück mit dem Stuhl zur Wand hin und vom Tisch weg. »Ja, sieh. Ich lebe noch.« Azarete riss die Kapuze von seinem Kopf, den Umhang auf und deutete auf den mit Blut befleckten Talar. »Weißt du, wessen Blut du vergossen hast?« »Warum lässt er ihn nicht rausbringen,
50 die Macht müsste Contelapo besitzen?«, fragte mich Kythara leise. »Beruhige dich, setz dich zu uns, iss etwas. Du siehst mager aus, mein Sohn.« Lautstark sog ich Luft durch die Zähne und bemerkte auch Kytharas Anspannung. Azarete griff über den Tisch und Contelapo an den Kragen, mit all seiner Kraft zog er den mächtigsten Mann von Arkasth zu sich herüber. Teller und Becher flogen, Reste des Nachtisches klebten an Contelapos Talar, benetzt mit dem klaren Getränk. Niemand rührte sich. Keiner kam dem Herrscher zu Hilfe. War es das, worauf alle gewartet hatten? Würde Azarete der neue Hochpräses werden, sofern er Contelapo tötete? Azarete setzte den Mann ab, ließ ihn jedoch nicht los, sondern spuckte ihm ins Gesicht und Worte hinterher, die so schneidend waren, dass selbst ich sie spürte: »Wäre ich dein Sohn, wollte ich auf der Stelle sterben.« Demir, der Magier, erhob sich und ging um den Tisch herum auf beide zu. »Du solltest vorsichtig mit deinen Äußerungen sein.« »Er hat meinen Sohn getötet. Diese sabbernde Echse hat mein Kind umgebracht.« Angewidert ließ Azarete den Hochpräses los und schubste ihn ein Stück von sich. Er schien seine Diplomatie – die ich ihm als Eigenschaft zuschrieb – gegenüber den höheren Priestern verloren zu haben. Kein Wunder nach dem, was er durchmachen musste. »Und dann lässt er die Hütten der Kräuterfrauen abbrennen und sie sowie alle Kinder – auch Eure …« Er schaute in die Runde und für Sekunden in jedes Gesicht der ihn anstarrenden ranghöchsten Priester – dreizehn an der Zahl. »… entführen und in ein Verlies stecken.« Er trat auf Kythara und mich zu und flüsterte: »Auch wenn Ihr keine Götter seid, aber die Befreiung der Frauen und meiner Tesea war eine göttliche Tat. Ich danke Euch.« Er verbeugte sich vor uns. Contelapo warf uns einen vernichtenden Blick zu. Ruckartig drehte sich Azarete zu Demir: »Was habt Ihr soeben gesagt?« Es schien,
Nicole Rensmann als habe er erst in diesem Augenblick verstanden, was der Magier ihm mit dieser Warnung mitteilen wollte. »Ich sagte, Ihr möchtet mit Euren Äußerungen vorsichtiger sein.« Azarete wankte und musste sich am Tisch festhalten. Jede Farbe wich aus seinem Gesicht. Er versuchte Worte zu formen, doch seine Lippen bewegten sich lediglich und ließen keinen Ton hindurch. Nun trat Dantino neben Azarete und stützte ihn. Der kalte Blick seines Herrschers strafte ihn, doch Dantino schien nach seinem Gewissen zu handeln. »Sagt es ihm«, forderte er den Hochpräses auf. »Dantino! Ihr vergesst, wem Ihr unterstellt seid.« Nicht der Hochpräses, sondern Demir wies den Berater auf seine Pflichten hin. Contelapo schien in diesem Moment seine Autorität zu verlieren. Dantino zögerte und schien darüber nachzudenken, ob er zu seinem ursprünglichen Herrn gehen sollte. Dann straffte er seinen Rücken und schaute Demir an. »Es liegt in Eurem Ermessen, ob sich dieses Regime noch lange halten kann. Ich werde ab sofort einer von Azaretes Anhängern. Und nun sagt es ihm!« Azarete schien sich wieder gefangen zu haben. »Das braucht er nicht mehr. Ich hätte es schon viel früher merken müssen. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Contelapo ist mein Vater. Das blonde Haar meiner Mutter …« Azarete griff sich an seinen Kopf und fuhr so rasch mit beiden Zeigefingern auf seine Augen zu, dass ich befürchtete, er wolle sie sich ausstechen. »Und die blauen Augen des Vaters. Ein Vater, der Befehl gab, seinen Sohn ermorden zu lassen, und dabei seinen Enkel tötete.« Er ging auf Contelapo zu und schaute ihn an. »Ich kann nur hoffen, dass Ihr einst ein ehrwürdiger Mann mit Gewissen gewesen seid und meiner Mutter wenigstens einen Moment des Glücks geschenkt habt, nachdem Ihr sie verlassen und ihr das Kind genommen habt. Und selbst falls sie sich einst für Euch entschieden hat-
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te, ich werde mich weiterhin gegen Euch wenden. Nun noch mehr als zuvor.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt Azarete zum Ausgang. Noch einmal wandte er sich an uns: »Urteilt selbst. Wir sehen uns später.« Dann verließ er den Saal, Dantino folgte ihm. Die nun einsetzende Stille hatte nichts von Reue oder Demut, sondern füllte die Luft mit Verachtung. Kythara und ich erhoben uns. Woraufhin auch die Starre der restlichen Anwesenden abfiel und sie uns nachahmten. Der Hochpräses schwieg, er bewegte sich nicht von der Stelle. Es war mir nicht möglich, sein Gesicht zu sehen, aber ich ahnte, dass seine Mimik ausdruckslos sein dürfte. Der Herrscher von Arkasth brachte seinem eigenen Sohn nur negative Empfindungen entgegen. Denn Azarete war nicht nur der Widersacher des Regimes, vermutete ich, sondern dürfte auch als Nachfolger gelten, sobald Contelapo starb, gestürzt wurde oder von selbst abdankte.
* Die Stimme des ersten Magiers brachte uns wieder in die Realität zurück. Er gab Anweisungen, dem Hochpräses einen neuen Talar zu bringen. Augenblicklich erschien ein Diener und führte Contelapo in einen Nebenraum. Nach einigen stillen Minuten kehrte der Hochpräses zurück. Er hatte nicht nur das Gewand gewechselt, sondern auch seine Contenance zurückerlangt. »Folgt mir!« Wir verließen den Tagungsraum und schritten zum Tempelhof. Auf den Steinterrassen saßen Ministranten und jüngere Priester. Als wir nun eintrafen, brauste Applaus los, doch ich hörte diesen kaum. Nur ein Rauschen, weit entfernt, drang an meine Ohren, als sei ich im Begriff zu rematerialisieren. Ich merkte, dass meine Atmung für Sekunden aussetzte und ich dann lautstark nach Luft schnappte. In der Mitte des Hofes ragte die Antwort auf meine Frage empor. Und nicht nur dies, sondern auch der Schlüs-
sel, mit dem wir in der Lage waren, die PsiQuelle zu bekämpfen. Ich will hoffen, dass dies hier nur eine Bestätigung deiner Vermutungen ist. Oder solltest du die Wahrheit tatsächlich nicht schon längst erkannt haben? Voller Ehrfurcht und mit dem Bewusstsein, dass wir zwar ein Ziel erreicht hatten, aber nun vor weiteren Problemen standen, starrte ich die sechzig Meter hohe und fünfzehn Meter durchmessende bläuliche Metallröhre an. Jetzt wusste ich auch, was die nicht fertig gestellten Zeichen auf den verrosteten Harnischen und die Stickerei auf dem Umhang des Hochpräses darstellten. Vermutlich war es auch sein Abbild, das auf der goldenen Pyramide in der Hauptstadt beschmiert wurde, und die Kerzenhalter … Kythara musste sie erkannt haben, denn sie hatte mir das Holo gezeigt. Warum hatte sie mich nicht darauf aufmerksam gemacht? »Ich war mir nicht sicher«, flüsterte sie. Ich schaute sie an und entdeckte eine Spur von Unsicherheit in ihrem Blick. Contelapo trat neben uns, er lächelte wissend, als er sagte: »Dies ist der Turm des Denmogh – die Inkarnation des Gottes Yracht.« Danach entfernte er sich wieder von uns und nahm seinen Platz vor dem Denmogh ein. »Ein Kardenmogher«, hauchte ich. »Arkasth und Parkasthon. Denmogh und Kardenmogher … natürlich.« »Wir sind am Ziel – fast jedenfalls. Wir haben jetzt zwar einen Kardenmogher gefunden, aber noch ist er nicht betriebsbereit in unserer Hand.« Ich erinnerte mich an das Hologramm und Kytharas passende Erklärung zu der multifunktional einsetzbaren Weltenwaffe: Mit dem Kardenmogher könnten Planeten vollständig entvölkert und genauso gut komplette Städte erbaut werden. Er ersetzt Kriegsflotten, Transportsysteme und Verwaltungen und ist in der Lage, sich in Einzelmodule aufzuspalten und formenergetisch projizierte Zusatzteile zu erstellen. Seinen immensen Energiebedarf stellt er durch Sonnenzapfung
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sicher. Hatte Kythara Parkasthon auf der Transmitterliste deshalb gewählt, weil sie wusste, dass hier ein Kardenmogher stand? Ich dachte an meine eigene Warnung, in der ich sagte, dass wir zuerst so ein Ding finden und die sehr gefährliche Aktivierungsprozedur überstehen müssten. Nebenbei nahm ich die Litanei des Hochpräses wahr, der seine Beschwörungsgesänge anstimmte, begleitet von einer leisen, zeremoniellen Hymne der Gemeinde. Ich ahnte nur, was Contelapo mit seinem Denmogh zu beschwören vermochte, und
hoffte, dass sein lückenhaftes Wissen die Bedienung des Kardenmoghers nicht ermöglichte. Doch dann begann die blaue Metallröhre zu leuchten. Überrascht drückte ich Kytharas Arm. Zitternd vor Anspannung, starrten wir auf den immer stärker leuchtenden Kardenmogher. ENDE
ENDE
Der Turm des Denmogh von Achim Mehnert Kann es wirklich sein, dass inmitten einer Welt, die erkennbar in die Primitivität zurückgefallen ist, ein Kardenmogher steht, eine jener entsetzlichen, nahezu ultimativen Waffen der Varganen? Atlan und Kythara können es kaum glauben. Es gilt also herauszubekommen, ob DER TURM DES DENMOGH tatsächlich das ist, worauf es der Arkonide und die Varganin abgesehen haben.