DOROTHY L. SAYERS
FREEMAN WILLS CROFTS
VALENTINE WILLIAMS
F. TENNYSON JESSE
ANTHONY ARMSTRONG
DAVID HUME
DO...
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DOROTHY L. SAYERS
FREEMAN WILLS CROFTS
VALENTINE WILLIAMS
F. TENNYSON JESSE
ANTHONY ARMSTRONG
DAVID HUME
DOPPELTER TOD
Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre 1939 WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE CRIME CLASSIC
Nr. 02/2229
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DOUBLE DEATH Deutsche Übersetzung von Rosmarie Kahn-Ackermann
Herausgegeben von Bernhard Matt
Copyright © 1985 by Victor Gollantz Ltd. London Copyright © 1988 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1988 Umschlagfoto: Nele Schütz, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: 1BV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-02.685-3
Ab den 1930er Jahren machten sich die Mitglieder des „Detection Club“, zu denen Dorothy L. Sayers gehörte, öfters das Vergnügen, gemeinsam einen Kriminalroman zu schreiben. Dabei schrieb immer ein Autor ein Kapitel und gab das Manuskript dann an den nächsten weiter, der die Geschichte nach seinen Vorstellungen fortsetzte – wobei gewisse Regeln gesetzt waren, damit es nicht chaotisch zuging. Das Ergebnis ist von seiner literarischen Qualität nicht mit einem der Sayers-Romane zu vergleichen, aber immerhin ein amüsantes Experiment. Von den sieben derartigen Werken, an denen Sayers mitwirkte, sind vier auf deutsch erschienen (davon zwei kürzere gemeinsam in einem Buch)
VORWORT
Die Verantwortung für dieses Buch, das einen authentischen Einblick in die unverhüllte Gedankenwelt sechs verschiedener Autoren gewährt, liegt bei James W. Drawbell, dem Herausgeber der ›Sunday Chronicle‹ und William Lees, dem Feature-Redakteur der ›Allied Newspapers‹. Es war Drawbell, der auf die Idee kam, eine von sechs verschiedenen Autoren verfaßte Mordstory zu veröffentlichen, zu der jeder dieser sechs ein gesondertes Kapitel beisteuern sollte, und Lees, der das Ganze in die Tat umsetzte. Sobald ein Autor ein Kapitel des ständig dicker werdenden Manuskripts beendet hatte, wurde es an den nächsten oder die nächste weitergereicht, versehen mit dem Segen Lees’ und Drawbells, und den Notizen, die die verschiedenen Verfasser ihren Nachfolgern zu deren Orientierung beigefügt hatten. Am Ende wurde ich zum ›Alles sehenden Auge Gottes‹ berufen, auf das Miß F. Tennyson Jesse in den Anmerkungen zu ihrem Kapitel so inbrünstig hoffte. Es oblag dann mir, die Dinge zu entwirren – und dabei gab es eine ganze Menge zu entwirren, denn die Gedankengänge jedes neuen Kopfes, der sich an die Arbeit machte, bewegten sich in anderer Richtung als die seiner Vorgänger. Ein oder zwei Autoren erlaubten keine Veränderungen ihrer Manuskripte (obwohl niemand etwas gegen Kürzungen einzuwenden hatte), und das erleichterte die Situation für das ›Alles sehende Auge‹ in keiner Weise, zumal einige der Autoren speziellen Erfordernissen, denen Zeitungen unterliegen, gleichgültig gegenüberstanden oder keine Ahnung von ihnen hatten. Schließlich faßte das ›Alles sehende Auge‹ den Entschluß, einen Prolog für die Story zu schreiben. Damit blieb sozusagen die Katze im Sack, wenngleich der Schwanz herausragte, aber die Verbindung von Dorothy L. Sayers’ Anfang mit David Humes Endlösung war hergestellt, und so durfte das Ganze im wesentlichen bleiben wie es war. Die Manuskripte der Autoren sind hier genau so veröffentlicht worden wie sie abgefaßt wurden, nur wurden bei Schlußfolgerungen oder Andeutungen Streichungen vorgenommen, die sich auf Passagen der Story bezogen, die wegzulassen das ›Alles sehende Auge‹ für notwendig hielt. Als die Autoren ihre Texte niederschrieben, wußten sie nicht, daß ihr Vertrauen möglicherweise mißbraucht und ihre Gedankengänge unverhüllt aller Welt präsentiert würden, so wie es hier geschehen ist. Hierfür tragen David Hume, von dem der Vorschlag stammt, und Victor Gollancz, der ihn gebilligt hat, die Verantwortung.
PROLOG Von John Chancellor »Gib mir das andere Kissen, Millie«, sagte Mrs. Farland übellaunig. »Und dann schaff das Tablett weg und bring mir meinen Portwein. Und warum ist die Abendzeitung noch nicht da?« »Ja, Tante Emma«, sagte Millie im Ton eines atemlos darauf bedachten Menschen, nur ja zu Gefallen zu sein. »Ich weiß nicht, warum sie so spät kommt – ach du lieber Himmel, wo habe ich bloß dieses Kissen hingetan? Vielleicht hatte der Zug in Yowle Verspätung oder der Junge hatte eine Reifenpanne… Oh, da ist es!… Heb den Kopf ein bißchen. So – ist es jetzt besser?« »Nichts ist jemals besser«, sagte Mrs. Farland. »Zieh die Vorhänge auf. Warum muß das Zimmer hier wie eine Gruft sein? Laß Luft herein.« Millie beeilte sich zu gehorchen, und Tante Emma Farland, den Kopf in ihren Seidenkopfkissen, blickte weiterhin bösartig drein. Selbst jetzt, nach Wochen der Krankheit, war Tante Emma eine eindrucksvolle und überaus beherrschende Person. Wenn sie im Spiegel ihre mit Rouge bedeckten Wangen, die scharlachroten Fingernägel, die getuschten Wimpern und die mit Henna gefärbten Dauerwellen betrachtete, wiegte sie sich in der Vorstellung, daß niemand ihr ihre siebenundfünfzig Jahre ansähe; zu ihren privaten Bettspielchen gehörte, ihre physischen Reize mit denen Millies zu vergleichen – zu deren Nachteil natürlich. Millie, mit ihrem widerspenstigen braunen Haar, das sich immer aus dem Knoten löste, der schlanken Figur in dem abgetragenen Pullover, den Baumwollstrümpfen, der weißen Narbe auf der Stirn, dem stets schiefsitzenden pince-nez auf der Nase und ihrer betulichen Schussligkeit, verfügte, wie Tante Emma fortgesetzt und lauthals erklärte, über keinerlei Sexappeal und könnte auch niemals mit dergleichen rechnen. Diese offensichtliche Tatsache bildete eine Quelle größter Befriedigung für Tante Emma, deren Anziehungskraft in der Vergangenheit unbestreitbar gewesen und die – davon war sie fest überzeugt – auch heute noch so umwerfend war wie eh und je. »So, jetzt«, sagte Millie, was zu ihren Lieblingsausdrücken gehörte, und trat, nachdem sie die Vorhänge aufgezogen hatte und einige Male sinnlos im Zimmer umhergeschusselt war, ans Bett, um Tante Emma zuzulächeln. »Jetzt werde ich deinen Portwein holen und nachsehen, ob die Zeitung gekommen ist; dann wirst du es für die Nacht gemütlich haben.« »Ganz und gar nicht«, sagte Tante Emma, die Millie deren jugendliches Alter von zweiundzwanzig nie verzeihen konnte, auch wenn das Mädchen so wenig daraus machte. »Ich bin viel zu krank, um Zeitungen zu lesen, vom Portwein wird mir doch nur wieder übel, und natürlich hast du heute deinen freien Abend.« »Ja, Tante Emma«, bestätigte Millie zaghaft. »Was du für ein Vergnügen dabei empfindest, in einer Winternacht ins Dorf hinunterzustapfen, ist mir schleierhaft. Aber vermutlich wirst du im Institut irgendwas finden, was du tun kannst.« »Ja, Tante Emma.« »Na schön, dann verzieh dich und tu, was du willst!« rief Tante Emma mit plötzlicher Heftigkeit und schlug mit den blaugeäderten Händen auf die seidene Bettdecke. »Steh nicht hier herum und grinse mich an. Schick das Mädchen mit dem Portwein und der Zeitung herauf und mach daß du wegkommst, sonst behauptest du wieder, man ließe dir keine Freizeit.« »O nein, Tante Emma, so etwas würde ich nie sagen. Du bist immer so lieb zu mir.«
»Raus«, sagte Tante Emma. Millie eilte die dunkle Treppe in dem alten Landhaus hinab, wobei die flachen Absätze ihrer abgetretenen Schuhe gegen die Eichenholzstufen schlugen, und ging in ihr Zimmer. Für ein Schlafzimmer war es ein merkwürdiger Raum. Er lag am Ende eines zugigen und wenig benutzten Korridors im Erdgeschoß. Tante Emma, deren Gewissen es nicht zugelassen hatte, ihre Nichte bei den Dienstboten oben unterzubringen, die aber andererseits zu mißgünstig war, um sie auf dem gleichen Stockwerk wie sie selbst schlafen zu lassen, hatte diese Kompromißlösung gefunden. Millie knipste das Licht an und verschloß die Tür. Dann zog sie sich nackt aus, obwohl es kalt im Zimmer war, denn die große Glastür auf der anderen Seite führte in einen unbenutzten Wintergarten voller Moder und leerer Blumentöpfe hinaus. Millie warf ein lockeres und gar nicht milliehaft wirkendes Neglige über, ließ sich vor dem weißgestrichenen Toilettentisch nieder, von dem die Farbe abblätterte, löste das Haar aus seinem Knoten und begann, es zu bürsten und zurechtzulegen. All das tat sie in der Art einer Frau, die sich ihres Körpers bewußt und stolz auf ihn ist. Und es war auch zu sehen, nun, da sie unbekleidet war, daß sie sich dieses Körpers keineswegs zu schämen hatte. Gleich darauf erhob sie sich wieder. Unter der Bettmatratze holte sie einen Schlüssel hervor und schloß eine Schranktür auf. Der Schrank war gefüllt mit auf Bügeln hängenden Kleidern, und außerdem hatte er zwei Regale, wovon das eine mit einer Reihe von Hüten und das andere mit einer großen Anzahl an Crepe-de-Chine Unterwäsche und Seidenstrümpfen angefüllt war. Auf dem Schrankboden standen Schuhe mit hohen und halbhohen Absätzen aufgereiht. Indem sie sich ihres formlosen Pullovers, des unförmigen Korsetts und der Baumwollstrümpfe entledigte, entledigte sie sich gleichzeitig all dessen, was von Millie in Whitestones bekannt war. Ihr betuliches Bemühen, es allen recht zu machen, der sich in Unterwürfigkeit äußernde Minderwertigkeitskomplex, ihre ins Auge fallende Unzulänglichkeit – alles blätterte von ihr ab wie eben diese häßlichen Kleidungsstücke. Als sie ihre Seidenstrümpfe überstreifte, mit den weißen Armen in den Unterrock aus Crepe-de-Chine schlüpfte und sich erneut im Spiegel betrachtete, war sie ein völlig anderes weibliches Wesen. Sie war eine Frau von Welt, mit Haltung und Individualität. Und – das war das Erstaunlichste – sie war eine Frau mit Charme. Halb angezogen, setzte sie sich wieder vor den Spiegel und benutzte Lippenstift, Rouge und Puder. Ihr Gesicht, wenn auch nicht ausgesprochen schön, bekam etwas geheimnisvoll Faszinierendes. Ihre grauen Augen gewannen an Tiefe und Glanz, die vollen, sinnlichen Lippen bekamen einen Ausdruck der Lebhaftigkeit und hatten etwas Verlockendes. Die Narbe an ihrer Stirn war kein Makel mehr, sondern wandelte sich in ein äußeres Symbol eines eigenartigen inneren Zaubers. Nachdem sie völlig angezogen war, knipste sie das Licht aus, zog die Vorhänge zurück, schloß die Glastür auf und ging durch das modrige Gewächshaus hinaus in den Garten. Niemand sah sie gehen – so wie immer. Sie durchquerte den dunkel und feucht daliegenden Garten, ging über die Pferdekoppel und trat auf den Fahrweg hinaus. Von dort aus konnte sie die
Scheinwerfer des am oberen Ende wartenden Wagens sehen; sie eilte darauf zu.
Als sie ankam, schwang die Tür des Beifahrersitzes auf, der Fahrer beugte sich
darüber und streckte ihr die Hand hin.
»Millie, Darling«, sagte er.
»O Jim, Liebster!«
In ihrer Stimme lag nichts von der üblichen nervösen Piepsigkeit. Sie war klar,
melodisch, zärtlich und bezaubernd.
Millie stieg ein, und der Mann legte die Arme um sie. Sie küßten sich und lösten
sich dann voneinander, um sich im Lichtschimmer des Armaturenbretts
anzusehen. Auf ihrem Gesicht lag der ernste Ausdruck der liebenden Frau,
während sie mit den Fingerspitzen über die Konturen seines glattrasierten Kinns
strich, um ihn dann wieder leidenschaftlich an sich zu ziehen.
»Wohin wollen wir heute abend fahren?« fragte er schließlich. »Nach London?«
»Dazu reicht die Zeit nicht, Liebster. Wir wollen wieder ins Rasthaus gehen und
tanzen.«
»Du bist die aufregendste Frau der Welt«, sagte er und küßte ihre Hand. »Ich
könnte für alle Ewigkeit mit dir tanzen.«
Sie schmiegte sich eng an ihn, während er den Motor anließ und losfuhr.
ERSTER TEIL
von
Dorothy L. Sayers
Mrs. Farlands ständige Behauptung, sie würde vergiftet, war lästig. Allerdings schien ihre Krankheit mit ihren seltsamen, stets variierenden Symptomen auch Dr. Cheedle zu verwirren; aber Ärzte sind wesentlich häufiger verwirrt als bettlägerige Patienten anzunehmen pflegen, und Dr. Cheedles Partner, Dr. Parry, erklärte rundheraus, er hielte diese der Reihe nach auftretenden Symptome von Magenschmerzen, Übelkeit, Schwindelgefühlen, Schlaflosigkeit, Erstickungsempfindungen und so weiter schlicht für Hypochondrie. Mrs. Farland, von Natur aus tyrannisch und mißtrauisch, begann nun zweifellos ›wunderlich‹ zu werden, aber diese neuerliche Entwicklung in Richtung einer Art Verfolgungswahn war, milde ausgedrückt, überaus unangenehm. Es hätte die Sachlage vereinfacht, wenn Mrs. Farland sich dazu hätte entschließen können, ein bestimmtes Mitglied ihres Haushalts zu verdächtigen. Erste Wahl war natürlich die arme Millie Pink. Millie war seit mehreren Jahren Gesellschafterin und Blitzableiter ihrer Tante Emma – seit damals, als sie ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben hatte. Ihre Tante meinte, es sei kein Wunder, daß Millies Gesundheit unter den Schikanen einer Schulklasse der Oberstufe gelitten habe, denn man brauchte sie ja nur anzusehen um zu merken, daß sie unfähig sei, irgendwelche Disziplin aufrechtzuerhalten. Bitte, sogar
Li-Ho, der Pekinese, widersetzte sich ihr. Sie war wirklich nur dazu geeignet, die Blumen zu pflegen, sich Briefe von ihrer Tante diktieren zu lassen, Li-Ho zu kämmen und Anweisungen an die Dienstboten weiterzugeben, die sie ihrerseits verachteten – und das Ganze zu einem Salär, das geringer war als das der Köchin, aber immerhin weit über ihrem Wert lag. Schließlich hatte sie in Whitestones ein behagliches Heim, und Mrs. Farland hatte versprochen, sie in ihrem Testament zu bedenken. Die Erinnerung an dieses Versprechen war es, die Tante Emma nun Gefahr wittern ließ. Von Zeit zu Zeit deutete sie an, daß Millie froh sein würde, sie, ihre Tante, loszuwerden. Und seit sie von dieser unerklärlichen Krankheit befallen war, hatte sie ihre Nichte mehrmals beschuldigt, sie ihres Geldes wegen vergiften zu wollen. Mr. Walton, der Anwalt in Creepe, war dementsprechend angewiesen worden, Mrs^ Farlands Testament zu ändern. Aber obwohl diese Änderung allgemein bekanntgegeben worden war, ging es Mrs. Farland danach in keiner Weise besser, und ihr Verdacht richtete sich nun auf John Farland. John war siebenundzwanzig, der Sohn des im Krieg 1914-18 gefallenen jüngeren Bruders von Mrs. Farlands verstorbenem Ehemann. Sein Onkel hatte ihn adoptiert und war selbst kurz danach gestorben, so daß seine Witwe sich nun widerwillig mit diesem in ihr Nest gesetzten Kuckucksei auseinanderzusetzen hatte. Nicht daß es irgendeine ursprüngliche Brut gegeben hätte, die John hätte verdrängen können, denn die Farlands waren kinderlos geblieben. Mrs. Farland hatte etwas gegen ihn, da ihm nach ihrem eigenen Tod aus dem Vermögen ihres Mannes fünfzehntausend Pfund ausbezahlt werden sollten – ein Arrangement, das sie eines beachtlichen Teils ihrer Macht beraubte. In der Zwischenzeit erfreute sie sich des ausschließlichen lebenslangen Nießbrauchs des Vermögens, mit der einzigen Bedingung, daß sie in ›angemessener‹ Weise für John sorgen müsse. Dem war sie nachgekommen, indem sie ihn auf das billigste Oxforder College schickte, das sie finden konnte, und ihm hinterher einen Job als stellvertretender Direktor bei den Farlandschen Pharmazeutischen Werken in Creepe zuschusterte. Mr. Farland hatte seinen Anteil verkauft, als er sich 1920 aus der Firma zurückzog, aber der Name behielt natürlich seinen Wert, so daß sich die Tatsache, daß John keinerlei natürliches Talent für eine Geschäftskarriere entwickelte, leichter übersehen ließ. Die Stelle bot mehr Prestige als Bezahlung; aber schließlich konnte er ja bei seiner Tante in Whitestones wohnen und jeden
Tag per Zug von Yowle nach Creepe fahren und somit Unterkunft und Verpflegung sparen. John war bis vor ungefähr einem Jahr anscheinend ganz zufrieden gewesen; dann hatte er plötzlich verkündet, daß er sich, erstens, mit Penelope Cheedle verlobt und, zweitens, es satt habe, zweimal pro Tag achthundert Meter weit gehen zu müssen und sich deshalb einen kleinen gebrauchten Austin gekauft habe. Diese bolschewistisch anmutenden Aktionen veranlaßten Mrs. Farland zu der Idee, er warte nur auf ihren Tod, um sein Erbe zu verschleudern. Das Zweckmäßigste schien, John aus Whitestones zu verbannen, und Mrs. Farland erklärte sich zögernd bereit, ihm den Aufenthalt in einer Pension in Creepe zu finanzieren. John machte keinerlei Einwendungen: Er war näher an seinem Arbeitsplatz und bei seiner Penelope und zudem von der ziemlich melancholischen Atmosphäre Whitestones’ befreit. Aber Mrs. Farland ging es auch danach nicht besser. Ihr Verdacht (nachdem ihre Vorstellungen halb spielerisch um die Köchin gekreist hatten, die Knall auf Fall entlassen wurde, jedoch ebenfalls ohne positives Resultat) konzentrierte sich anschließend auf Dr. Cheedle, der sie natürlich im Interesse seiner Tochter Penelope loswerden wollte. Dies machte die Situation äußerst peinlich. Dr. Parry war ebenfalls in höchstem Maß suspekt – sowohl als Dr. Cheedles Partner wie auch wegen mangelndem Mitgefühl und zudem als junger Mann mit sozialistischen Ansichten, der jederzeit bereit war, eine reiche Witwe aus schierer Bösartigkeit umzubringen. In Creepe gab es sonst keinen weiteren Arzt, und der Doktor in Plunton (der nächste Ort in entgegengesetzter Richtung) kam nicht in Frage, weil Mrs. Farland sich bereits mit ihm zerstritten hatte, bevor sie sich in Dr. Cheedles Obhut begab. Es geschah während der ersten Januarwoche, daß Mrs. Farlands Krankheit sich wesentlich verschlimmerte. Dr. Cheedle und Dr. Parry konnten den Ernst der Lage nicht bestreiten. Die arme Millie schien sich in der Pflege völlig aufzureiben, und die Patientin wurde zwischen ihren Anfällen von Schmerzen und Übelkeit so heftig und beleidigend und beharrte so rabiat darauf, man wolle sie ermorden, daß am Samstagvormittag offensichtlich wurde, irgend etwas müsse geschehen. Mrs. Farland weigerte sich, auch nur die Möglichkeit einer Privatklinik in Betracht zu ziehen – indem sie unterstellte, das sei nur eine Verschwörung, mit dem Zweck, sie ›um die Ecke zu bringen‹. Schließlich schlug Mr. Walton (herbeigeholt, um Mrs. Farlands Testament erneut zugunsten Millies umzuändern, die derzeit wieder Gnade vor ihren Augen fand) vor, im Interesse aller Parteien eine professionelle Krankenschwester zu engagieren, und zwar jemanden, der über ›Erfahrung mit seelisch gestörten Patienten‹ verfügte. »Unglücklicherweise«, sagte Dr. Cheedle, »sind wir hier wegen all der Grippefälle knapp an Schwestern. Vier meiner Pflegerinnen sind mit sehr kritischen Fällen von Lungenentzündung beschäftigt, und Schwester Brown ist nach Nettlebury gegangen, um sich um eine üble septische Infektion zu kümmern…« »Und außerdem«, warf John Farland mit seinem ebenso unverschämten wie attraktiven Grinsen ein, »stecken Ihre Schwestern wahrscheinlich ohnehin in Ihrem Bemühen, Tante Emma abkratzen zu lassen, mit Ihnen unter einer Decke.« »Mein lieber Junge«, wandte Dr. Cheedle pikiert ein, »so etwas dürfen Sie nicht einmal im Spaß sagen.« »Aber Mrs. Farland sagt es möglicherweise«, erklärte Mr. Walton. »Mir ist klar, daß diese – äh – exzentrischen Patienten bei Laune gehalten werden müssen. Ich habe mich schon gefragt, ob ich nicht meinen Sohn anrufen sollte – er hat eine Praxis in der Harley Street, wissen Sie – um ihn zu bitten, eine zuverlässige und erfahrene Krankenschwester zu schicken. Er wird mich möglicherweise am
Wochenende besuchen. Wenn Ihnen das recht ist, Doktor, so könnte es mir vielleicht gelingen, meine Klientin zu überreden, sich mit der Situation einverstanden zu erklären. Im Augenblick scheint sie noch einiges Vertrauen in meine Integrität zu hegen.« »Wenn Sie das zustande bringen«, erwiderte Dr. Cheedle, »so wüßte ich nicht, was ich dagegen einwenden sollte. Jede von Dr. Walton empfohlene Pflegerin ist begrüßenswert. Ich muß gestehen, daß mich diese neuen Symptome verwirren. Wenn bei der Patientin bis Montag keine Besserung zu erkennen ist, werde ich um eine Konsultation bitten. Lassen Sie es mich wissen, Mr. Walton, sobald es Ihnen gelungen ist, irgendwelche Arrangements zu treffen. Einstweilen muß ich Miß Pink bitten, weiter auszuharren, mit aller Hilfe, die ihr unsere ausgezeichnete Gemeindeschwester angedeihen lassen kann. Ich werde heute abend wieder vorbeischauen, um zu sehen, ob die neue Behandlung irgendwelche Fortschritte bewirkt hat.« Damit verabschiedete er sich, wobei er ziemlich unbefriedigt dreinblickte, während der Anwalt wieder nach oben ging, um sich mit seiner schwierigen Patientin auseinanderzusetzen . »Also hat Walton alles geregelt«, sagte John. Es war dreiviertel zwei am Sonntagnachmittag, und er war hergefahren, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. »Ja«, sagte Millie Pink. »Dr. Cheedle hat heute vormittag angerufen, um zu sagen, er habe von Dr. Walton gehört, es käme eine sehr gute Pflegerin. Dr. Walton ist hier, bei seinem Vater.« »Ich weiß. Cheedle hat mich ebenfalls angerufen. Es handelt sich um eine Schwester Ponting.« »Ponting?« »Ja – genau wie das Textilgeschäft.« »Ach – natürlich.« Millie errötete und blickte verwirrt drein. »Ich dachte – wie albern von mir – natürlich, daher die Namensverbindung. Wird sie mit dem 5.47 Zug in Yowle ankommen?« »Das ist der Zug, der um 5.24 in Creepe abfährt. Vielleicht hole ich sie gleich dort ab und bringe sie her«, sagte John, der nichts von der lokalen Verbindung zwischen Creepe nach Yowle hielt und das Gefühl hatte, jedermann müsse seinen Austin vorziehen. »Hör mal, Cousine Millie, hast du überhaupt ein bißchen ausruhen können?« »O ja, danke. Tante Emma schien sich während der Nacht tatsächlich viel besser zu fühlen. Nach diesen Kapseln, die ihr Dr. Cheedle gegeben hat, hat sie recht gut geschlafen – ich habe immer wieder ein bißchen eindösen können. Und Schwester Cran löst mich für den ganzen Nachmittag ab. Das ist so nett von ihr.« (Schwester Cran war die Gemeindeschwester) »Na schön«, sagte John, »wenn du dich also jetzt nicht hinlegen oder sonst was tun möchtest, dann laß dich doch von mir nach Creepe, zu dieser Musikorgie, hinüberfahren. Was hältst du davon?« Millie, die von dem Gedanken an die bevorstehende Aufführung der ›Lobeshymne‹ des Kinderchors von Creepe nicht sonderlich fasziniert war, zögerte. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich das tun sollte…« »Natürlich sollst du. Das wird dich seelisch aufrichten und dir gut tun. Außerdem, wenn du Tante Emma Crannie nicht einmal für ein paar Stunden überlassen willst, wird das sehr verdächtig wirken. Es wäre deine letzte Chance, eine Portion Gift in ihren Becher tropfen zu lassen, bevor die Ponting eintrifft.« »O John! Wie kannst du bloß so über deine arme Tante reden?« »Ach, tu nicht so, Millie. Tante Emma hat uns beide von jeher scheußlich
gepiesackt, und das weißt du auch genau. Komm schon – zieh den Mantel an und setz den Hut auf, sonst kommen wir zu spät. Ich werde dich vor der Kirche absetzen und dann zu Penelope hinüberzockeln, um sie zu einer Fahrt abzuholen. Soll ich dich dann wieder aufgabeln, wenn ich mit Schwester Ponting zurückfahre oder willst du noch eine Tasse Tee im Pfarrhaus trinken und auf den Bus um 6.30 warten?« Er hatte das Gefühl, der Gedanke an eine Tasse Tee im Pfarrhaus müsse für Millie ein verlockender Gedanke sein – der Vikar und seine Frau waren immer so freundlich – und dann war möglicherweise auch Mr. Johnson, der Kurat, noch dort, der immer so höflich und aufmerksam war und für einen Mann mittleren Alters erstaunlich gut aussah. »Damit würde ich die arme Schwester Cran sehr lange mit dem armen Tantchen allein lassen«, sagte Millie. »Es wäre an der Zeit, daß du auch einmal die arme Millie in Betracht zögest, meinst du nicht auch? Ich will dir was sagen. Deine Aufführung wird noch vor fünf zu Ende sein. Wenn du willst, daß ich dich zurückfahre, dann geh zu Dr. Cheedle hinüber – ich werde dort sein. Wenn du um Viertel nach fünf noch nicht da bist, nehme ich an, daß du den Attraktionen des Pfarrhauses erlegen bist.« Diesem Vorschlag stimmte Millie, wenngleich nicht ohne Protest, schließlich zu. Creepe Junction war eine trübselige kleine Bahnstation, rund fünfundsiebzig Kilometer von London entfernt; sie lag an der Hauptlinie zwischen Yarborough und Haynes. Viele Schnellzüge ignorierten sie überhaupt, denn der Ort Creepe war, abgesehen von den Pharmazeutischen Werken, nicht eben von großer Bedeutung. Um halb drei Uhr nachmittags an diesem speziellen Sonntag – ungefähr um die Zeit, als John Farland Millie Pink vor der Tür der St. Sebastianskirche absetzte – stieg in Creepe Junction eine untersetzte Frau in Schwesterntracht aus dem Londoner Zug. In einer Hand trug sie einen Koffer, in der anderen einen Schirm und die Tasche, die man im allgemeinen mit dem Schwesternberuf in Zusammenhang bringt. Tom Tadman, der diensthabende Obergepäckträger, näherte sich ihr – nicht eben hoffnungsfreudig, denn der Koffer war klein und von einer Krankenschwester war ohnehin nicht viel zu erwarten. Trotzdem, sie war der einzige Fahrgast mit irgendwelchem Gepäck, und vielleicht sprangen zwei Pence dabei heraus, wenn er das Ding die Treppe hinauftrug. Die Krankenschwester jedoch umklammerte fest ihre Habseligkeiten und erkundigte sich nach dem Zug nach Yowle. »Yowle?« fragte Tom schockiert, daß irgend jemand den Wunsch hegen konnte, zu einem so ungeeigneten Zeitpunkt nach Yowle zu fahren. »Erst um 17.24. Sie haben wohl mit dem alten 3/3. gerechnet.« Er sagte das im Ton der Zuneigung, so als sei der Zug ein alter Kindheitsfreund gewesen. »Der ist – äh – schon vor fünf Jahren oder mehr eingestellt worden.« »Ich weiß nichts von irgendwas, das vor fünf Jahren passiert ist«, sagte die Schwester in scharfem Ton. »Man hat mir mitgeteilt, ich solle diesen Zug nehmen. Wie weit ist es nach Yowle?« »Fünfzehn Kilometer oder so, mit dem Zug. Auf der Straße ein bißchen länger. Sogar ziemlich viel länger, wenn man an den Bus denkt – der fährt über Hopperton, wissen Sie.« »Es gibt also einen Bus?« »Ja«, sagte Tom, »es gibt einen. Bloß«, fügte er enttäuschenderweise hinzu, »fährt der erst um halb fünf. Ich will Ihnen was sagen – am besten trinken Sie erst noch nen Tee oder so was in der Stadt. Die Bars schließen natürlich jetzt gleich, aber Sie können sich ganz bequem ins Gastzimmer des ›Adler‹ oder des ›Silbernen Kreuzes‹ setzen – oder auch im ›Temperance‹, das liegt günstig und
ist sehr respektabel. Geben Sie mir Ihr Gepäck, und ich hinterlasse es im Fahrkartenschalter für Sie, dann können Sie’s abholen, wenn Sie den 16.30-Bus noch erreichen wollen. Er hält gleich draußen im Hof. Ich bin dann auch da und werde dafür sorgen, daß alles klappt.« »Vermutlich bleibt mir nichts anderes übrig«, sagte die Schwester. Sie ließ sich von Tom den Koffer die Treppe hinauftragen, dorthin, wo Jolly, der Schalterbeamte die Rolle des Bahnsteigschaffners übernommen hatte. Er stellte fest, daß sie eine Karte bis Yowle gelöst hatte und die Bahngesellschaft deshalb durch ihre Weiterfahrt mit dem Bus keinen Verlust erleiden würde. Mr. Jolly also erbot sich bereitwillig, sich um ihr Gepäck zu kümmern und es ihr um halb fünf Uhr wieder auszuhändigen. Von der kleinen schwarzen Tasche wollte sie sich jedoch nicht trennen. »Die behalte ich besser bei mir«, sagte sie. »Wir müssen immer Medizinen und solche Dinge mit uns herumtragen, und man macht uns dafür verantwortlich, wenn sie in die falschen Hände geraten. So was würde hier natürlich nie passieren, aber ich würde mich nicht behaglich fühlen, wenn ich sie nicht bei mir hätte.« Der Beamte pflichtete ihr freundlich bei, man könne ja mit Medikamenten nicht vorsichtig genug sein. Die Krankenschwester kramte drei Kupfermünzen für Tom aus und bemerkte, falls sie bis halb fünf nicht da sei, würde sie den Zug um 17.24 nehmen. »Ganz recht, Miß. Ich werd’ nach Ihnen Ausschau halten.« Während sie, die Tasche in der Hand, mit dem Gummiband kämpfte, das ihren Schirm zusammenhielt, trat ein Mann mit goldbetreßter Mütze durch die Tür vor der Bahnüberführung, durchquerte die kleine Schalterhalle und ging hinaus in die Bahnhofszufahrt. »Ist das der Bahnhofsvorsteher?« fragte die Schwester unbekümmert. Das Gummiband hatte sich verhakt, und sie mußte die Tasche absetzen, um beide Hände zu Hilfe zu nehmen. »Ganz recht«, sagte Tom. »Er geht jetzt zum Mittagessen. Bis zum 5/9. passiert jetzt gar nichts, abgesehen vom Güterzug.« »Gutaussehender Mann«, bemerkte die Schwester. Sie ging zum Durchgang und öffnete dort den Schirm, während Tom die kleine Tasche aufnahm. »Die meisten Ladys finden das«, erwiderte Tom und zwinkerte. »Aber Sie sind zu spät dran, Miß. Er ist verheiratet, der Mr. Spiller. Hat sich in Haynes trauen lassen, bevor er hierherkam.« Sie runzelte die Stirn, entschied sich dann jedoch, diese Vertraulichkeit mit guter Miene hinzunehmen. »Sie sind immer schon verheiratet – die Gutaussehenden.« »Mhm«, sagte Tom. »Ich bin übrigens auch verheiratet, was das betrifft. Schauen Sie – das ›Temperance‹ ist gleich dort an der Ecke rechts, aber wenn Sie lieber in den ›Adler‹ oder das ›Silberne Kreuz‹ gehen wollen, müssen Sie in die Stadt rein.« »Danke.« Die Schwester wandte sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal zu Tom um. »Übrigens – wissen Sie, wo Dr. Cheedle wohnt?« »Am Marktplatz 7. Sie können’s gar nicht verfehlen. Das Haus mit der großen weißen Veranda, nur zwei Nummern weiter als der ›Adler‹.« Die Schwester bedankte sich erneut und machte sich auf den Weg. Tom Tadman sah ihr nach, als sie sich mit ihrem flatternden Mantel entfernte und schließlich im Grau des herabfallenden Regens verlor. John Farland war enttäuscht. Als er am Marktplatz 7 angekommen war, traf er außer dem Arzt niemand an. Penelope, so teilte ihm Dr. Cheedle mit, sei ausgegangen.
John sagte, er käme noch einmal zurück und erklärte einigermaßen schuldbewußt, er habe sich mit Millie Pink für später im Haus des Arztes verabredet. Darüber schien Dr. Cheedle nicht allzu erfreut zu sein. »Na, schon gut«, sagte er. »Sehen Sie mal um dreiviertel fünf hier herein. Ich habe die Mädchen zu dieser Kirchenmusikaufführung geschickt, aber ich kann Ihnen eine Tasse Tee anbieten. Bis dann.« Er war unmißverständlich entlassen. Es schien John nichts anderes übrig zu bleiben, als in seine eigene Wohnung zurückzukehren und sich die beiden nächsten Stunden so gut wie möglich um die Ohren zu schlagen. Er stieg also in den Austin und fuhr heimwärts. Es war der Lärm des um halb fünf Uhr am Bahnhof eintreffenden Busses, der Tom Tadman an seinen Fahrgast erinnerte. Er rannte die Treppe hinauf, aber die Schalterhalle war leer. Jolly, gegen jede Störung durch sein geschlossenes Schalterfenster abgeschirmt, erledigte im Hintergrund seines Büros irgendwelche Schreibarbeiten. »Hallo«, sagte Tom und streckte den Kopf zur Tür herein. »Ist die Schwester wegen ihres Koffers dagewesen?« »Ich hab’ sie nicht gesehen«, erwiderte der Beamte. Er rechnete eine Zahlenreihe zusammen und schrieb das Resultat nieder. »Der Koffer ist aber noch da«, fuhr er fort, so als ob er vielleicht auf magische Weise hätte verschwinden können. »Na ja, dann hat sie den Bus verfehlt.« Tom warf einen Blick auf die Zufahrt hinaus. Es war sehr dunkel, und der Regen fiel jetzt unerbittlich, sprühte und glitzerte im Licht der Scheinwerfer und der Fenster des Busses. Tom kehrte zurück. »Netter Tag, um hier rumzubummeln – vielen Dank!« Jolly war desinteressiert und begann, sich der nächsten Zahlenreihe zuzuwenden, aber dann fiel ihm etwas ein. »Wer war denn das, der gerade vorhin über die Überführung gegangen ist?« »Wann?« »So ungefähr vor zehn Minuten.« Tom schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Ich war im Lampenraum. Vielleicht wars der Chef. Ich hab’ ihn gerade, als ich rüberkam, in sein Büro gehen sehen.« »Es hat nicht nach ihm geklungen. Es war so’n schwerer Schritt, er hat immer nen leichten und schnellen Gang. Ich hab’ den Kopf rausgestreckt, als ich die Ordner hier weggeräumt hatte, aber ich konnte niemand sehen. Es hätte Willis oder Langley sein können.« »Die waren beide im Güterschuppen. Ich werd’ mal nen Rundgang machen. Aber ganz sicher wars Mr. Spiller.« Tom drehte sich um und ging wieder die Treppe hinab. Insgeheim war er überzeugt, daß nur Mr. Spiller hereingekommen sein konnte. Trotzdem blickte er den Bahnsteig nach beiden Seiten entlang, öffnete und schloß die Türen des Warteraums, inspizierte den Lampenraum und die mit ›Gentlemen‹ bezeichnete Toilette, dann überquerte er die Geleise, um den anderen Bahnsteig zu betrachten, an dem der nun geschlossene Erfrischungsraum, der ebenso geschlossene Bücher- und Zeitschriftenstand, das Büro des Bahnvorstehers, der Telegrafenraum und der Gepäckaufzug lagen. Nirgendwo war ein Dieb oder streunender Betrunkener oder sonst jemand zu sehen, mit Ausnahme von Mr. Spiller selbst, der arglos in seiner eigenen Domäne saß und irgendwelche Frachtbriefe studierte. Die Damentoilette war dunkel und leer. Im Hauptwartesaal, trübe erhellt durch eine 25-Watt-Birne, war das Feuer fast ausgegangen. Tom stocherte menschenfreundlich einmal in der Glut und warf ein paar Brocken Kohlen darauf. Nichts Bemerkenswertes war zu sehen, abgesehen
vielleicht von einer flachen Taschenflasche auf dem Kaminsims, von der Art wie sie Whiskyhersteller zur bequemen Beförderung im Wagen oder in der Manteltasche liefern. Es handelte sich um eine Black Horse-Whisky-Flasche, und sie war völlig leer. Willis, der Dienstmann, auf den Tom stieß, als er den Wartesaal verließ, meinte, die hätte vielleicht der Mann hinterlassen, der mit dem 11.40 Zug gefahren war; er hätte ›ganz danach ausgesehen‹ Er, Willis, habe das Ding allerdings nicht bemerkt, als er nach Abfahrt des Zuges in den Wartesaal hineingeschaut habe, aber schließlich – die Flasche sei ja nicht sehr groß, und vielleicht habe er sie übersehen. Die Flasche war ohne Bedeutung. Tom verbannte sie aus seinen Gedanken und verstrickte sich in ein animiertes Streitgespräch über Fußball mit Willis und Langley, dem Rangierer, während sie alle auf das Eintreffen des Fünfuhrzuges aus Plunton warteten. Als John um dreiviertel fünf eintraf, teilte ihm Dr. Cheedle mit, Penelope sei noch nicht zurückgekommen. Der Arzt war Witwer und eben im Begriff, sich mit Hilfe einer Teedose mit einer Earl Grey Mischung, einer winzigen chinesischen Teekanne und einem Spirituskocher Tee zuzubereiten. Was seinen Tee betraf, so war er da sehr eigen und überließ die Zubereitung niemals den Hausangestellten. »Angestellte«, sagte der Doktor, »haben kein Gefühl für Tee. Billige indische Sorten, die sie im Kessel brodeln lassen bis das Ganze aussieht wie alte, rotbraune Schuhwichse – das mögen sie. Und dann sechs Stück Zucker, damit es nicht so bitter schmeckt. Ich habe so was in petto, um wehleidige Patienten aufzumuntern, aber wir beide Wissens besser, was?« John, der niemals gewagt hatte, seinem zukünftigen Schwiegervater zu gestehen, daß er in Wirklichkeit ›Sergeant-Major’s‹ Tee sämtlichen köstlichen aromatischen chinesischen Tees vorzog, lächelte einfältig und nahm eine zweite Tasse entgegen. »Mir ist es unbegreiflich«, fuhr der Arzt fort, »wie die Mägen der arbeitenden Klasse das vertragen. Ne nette kleine Tasse Tee morgens als erstes, Tee zum Frühstück, Tee um elf, Tee nach dem Mittagessen, dann sowieso Nachmittagstee und Tee zum Abendessen – eigentlich müßten sie alle an Tein-Vergiftung leiden.« »Ich hätte gedacht, Krankenschwestern seien die Schlimmsten. Ich weiß nur, daß ich damals, nachdem mir der Blinddarm herausgenommen worden war, den Eindruck hatte, keine Schwester würde zu irgendeiner Tages- oder Nachtstunde ohne ihren Tee auskommen.« Der Doktor brummte etwas, und John fuhr fort: »Ich glaube, ich werde jetzt am besten diese Schwester Ponting am Bahnhof abholen und sie nach Whitestones bringen. Es ist eine scheußliche Fahrerei heute abend, aber das erspart ihr die achthundert Meter Fußmarsch. Zu ärgerlich, aber Tante Emma läßt nicht zu, daß ihr Wagen bei schlechtem Wetter gefahren wird. Eine verdammte Zumutung für Besucher, ganz zu schweigen von der armen alten Millie. Sie scheint übrigens nicht hierher zu kommen.« Der Arzt, der den Mund aufgemacht hatte, um etwas zu sagen, nahm statt dessen seine Uhr heraus und öffnete dann die Tür zum Wohnzimmer. »Die Mädchen scheinen heimgekommen zu sein«, bemerkte er. »Demnach müßte Miß Pink eigentlich inzwischen auch hier sein.« »Dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Der Zug ist meistens ziemlich pünktlich.« Nach zwei Minuten Fahrt im Wagen war John um 17.18 Uhr am Bahnhof. Er versorgte sich fast im gleichen Augenblick mit einer Bahnsteigkarte wie ein strammer junger Mann, in dem er trotz der Zivilkleiclung einen der örtlichen Konstabier erkannte. P.C. Pratton war im Begriff, seine junge Freundin abzuholen, die mit dem Londoner Zug aus Yarborough um 17.20 Uhr ankommen sollte. Sie hieß Joan Fletcher und war Angestellte im elegantesten und
eindrucksvollsten Friseursalon Creepes. Außerdem war sie in jeder Hinsicht eine
smarte junge Person, und P.C. Pratton hielt sich für einen Glückspilz, da er zur
Beförderung anstand und aufgrund dessen hoffte, bald heiraten zu können.
Unten an der Treppe stießen die beiden Männer auf Tom Tadman, der John mit
einer Handbewegung zur Mütze und Pratton mit einem Grinsen und »Wie geht’s,
Joe?« begrüßte. Er hatte den Koffer der Krankenschwester mit heruntergebracht,
der nun dastand und darauf wartete, mit dem Gepäck anderer Reisender zum
Bahnsteig der Nebenlinie gebracht zu werden, wo der Zug nach Snightthorpe,
Nettlebury, Cobling, Yowle und Plunton um 17.24 Uhr abfahren sollte.
Für einen Sonntagabend war der um 17.20 Uhr eintreffende Zug ziemlich voll.
P.C. Pratton, der seine Joan im vorderen Teil des Zuges entdeckt hatte, und bereitwillig mit seinem strammen Arm einer aus dem gleichen Abteil steigenden, sehr fetten und gehbehinderten Frau mit einem kleinen Sack Kartoffeln, einem Netz mit drei Kohlköpfen und einem Strauß Chrysanthemen heraushalf (»Aus dem Schrebergarten meines Bruders in Yarborough – geht mir gut, Joe, danke schön…«), fand sich und seine Freundin schließlich am Ende einer kleinen Prozession wieder, die sich auf die Überführung zubewegte. Unmittelbar vor ihnen befand sich Willis, beladen mit einem schweren Koffer und einem Sack mit Golfschlägern. Unten an der Treppe stand der leicht verwirrt dreinblickende John Farland. »Haben Sie jemand verloren, Sir?« erkundigte sich Pratton lächelnd. »Ja, ich kann es mir nicht erklären. Es handelt sich um eine Pflegerin für meine Tante. Sie hätte mit diesem Zug aus London kommen sollen. Das ist sehr ärgerlich.« »Eine Krankenschwester?« fragte Willis, der seine Worte aufgeschnappt hatte. »Da war so eine, die mit dem 14.32 Uhr-Zug angekommen ist und nach Yowle weiterwollte. Tom Tadman hat ihren Koffer dort auf den Bahnsteig der Nebenlinie geschafft. Ist das vielleicht die Lady, nach der Sie suchen?« »Das wird sie vermutlich sein«, antwortete John. »Was, um Himmels willen, hat sie bewogen, mit dem Zug zu kommen? Ich wollte sie hier abholen und nach Whitestones bringen.« »Der Zug fährt in einer Minute ab«, sagte Willis. »Falls die Schwester drin ist, Sir, können Sie sie gerade noch erwischen, wenn Sie Tempo vorlegen.« »Verdammt!« sagte John. »Soll sie doch in Yowle zu Fuß hatschen.« Dann überlegte er es sich anders und rannte davon. Auf dem anderen Bahnsteig stand Tom Tadman, einen Koffer in der Hand, und spähte an den Wagenfenstern entlang, um die Besitzerin ausfindig zu machen. »He!« schrie John, »haben Sie eine Krankenschwester in Tracht gesehen?« »Nein«, erwiderte Tom, »eben nicht. Das hier ist ihr Koffer. Verdammt, wenn ich bloß wüßte…« Der Bahnhofsvorsteher, der sich aus Richtung der Güterwaggons näherte, die Kelle unter dem Arm, wurde ebenfalls befragt. Nein, der hatte keine Krankenschwester gesehen und ebensowenig Langley, der jetzt den Zug entlangkam und die Wagentüren zuwarf. Das Zeichen zur Abfahrt wurde gegeben. Tom rang noch immer um eine Erklärung. In diesem Augenblick kam hastig eine Frau aus der Damentoilette und rannte mit voller Wucht in die kleine Gruppe von Männern hinein. »Oh, der Zug ist weg!« schrie sie. »Ach du lieber Himmel! Gepäckträger! Oh, dort drinnen liegt jemand, der krank sein muß! Ach, du meine Güte! O John!« »Um Himmels willen, Millie«, sagte John. »Was hast du hier zu suchen?« »Ach, ich hatte es mir anders überlegt. Ich – aber das spielt doch jetzt keine Rolle! Dort drinnen in der Garderobe ist jemand, der stöhnt und schreckliche Laute von sich gibt. O du meine Güte!«
Die Männer stürzten hinein. In der einen Ecke des Wartesaals befand sich eine
Tür, die zu dem führte, was Millie so dezent als ›Garderobe‹ bezeichnet hatte.
Von dort drang das Geräusch mühsamen Atmens heraus – röchelnd und
unnatürlich. John warf sich ohne weitere Umstände gegen die Tür.
»Ich hole den Schlüssel«, sagte der Bahnhofsvorsteher.
»Ich klettere am besten über die Trennwand«, sagte Langley mit erheblich mehr
gesundem Menschenverstand.
Millie Pink, die niedergekniet war, keuchte: »Oh – es ist eine Krankenschwester!
Das muß Schwester Ponting sein, ich kann ihren Mantel unter dem Türspalt
sehen!«
»Lauf zu, Tom«, sagte Spiller eindringlich. »Sag ihnen drüben, sie sollen den Arzt
anrufen. Sie sieht ziemlich merkwürdig aus. Wir werden die Tür hier
aufbrechen.«
»’n Selbstmord?« fragte Langley, nicht ohne Genuß.
»Falls Joe Bratton noch da ist, schicke ich ihn hierher«, sagte Tom.
Er rannte davon; John griff nach Millie, die den Türknauf umklammert hielt, und
führte sie weiter in den Wartesaal hinein.
In der Zwischenzeit hatte man die Tür aufbekommen, und die beiden anderen
Männer schleppten den hilflosen Körper der Krankenschwester heraus. Sie schien
sich in einem Zustand völligen Stupors zu befinden, ihr Gesicht war geschwollen,
und kein Zittern oder Verkrampfen deutete auf irgendein Lebenszeichen hin. Ihre
Glieder pendelten schwer und schlaff herab wie die einer Toten, und ihr
langsamer, mühsamer und röchelnder Atem erinnerte John an einen Patienten im
letzten Stadium einer Lungenentzündung.
Der Bahnhofsvorsteher starrte sie scharf an. »Guter Gott«, sagte er. »Das gefällt
mir gar nicht. Wie kam sie nur…« Er brach abrupt ab, als Tom Tadman,
zusammen mit dem Konstabier, herbeigeeilt kam. »Oh, Bratton«, sagte er. »Das
ist ja hübsch. Fahrgäste, die der Schlag getroffen hat.«
P.C. Bratton schüttelte den Kopf. »Vielleicht«, sagte er. »Aber mir scheint eher,
daß sie irgendwas genommen hat. Das ist ne Sache für den Doktor. Wo haben
Sie sie gefunden? Dort drinnen?«
Er verschwand in der Toilette und kam mit der kleinen Tasche der Schwester
wieder heraus. Sie ließ sich leicht öffnen. Bratton durchsuchte mit geschulten
Händen und Blicken den Inhalt und wurde mit der Entdeckung einer kleinen, mit
Bleistift beschrifteten Schachtel belohnt. In Blockschrift stand darauf: ›Sleepine.
8 Kapseln, 1 1/2 Gr.‹ Er hielt sie in die Höhe. »Was ist das? Ein Schlafmittel, ja?«
»Guter Gott, ja!« schrie John. »Allerdings. Ein Barbiturat und ein verdammt
schweres dazu. Es steht an erster Stelle auf der Giftliste.«
»Ah«, sagte Bratton. Er öffnete die Schachtel. Sie enthielt eine einzige weiße
Kapsel.
ANMERKUNGEN Entwicklungsmöglichkeiten I. Mrs. Farland a)
Ihre geheimnisvolle Krankheit könnte tatsächlich auf Vergiftung beruhen. Wenn ja, dann bestehen Motive für: 1. Millie Pink. 2. John Farland. 3. Dr. Cheedle (allein oder im Einverständnis mit anderen.) Der Eifer, mit dem Mr. Walton, der Anwalt, sich für die Zuziehung einer Krankenschwester einsetzt, könnte ebenfalls ein Verdachtsmoment sein. Dr. Parry ist weniger verdächtig. (Schwester Cran und die Hausangestellten stellen ebenfalls entferntere Möglichkeiten dar. Sie werden nur beiläufig erwähnt, und Schwester Cran war aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich den gesamten Sonntagnachmittag über in Whitestones.) In diesem Fall läge das Motiv zur Beseitigung von Schwester Ponting darin, eine Entdeckung zu verhindern, und es könnte wünschenswert erscheinen, Mrs. Farland am Sonntagabend oder Montagmorgen um die Ecke zu bringen.
b)
Die Krankheit beruht vielleicht doch nur auf Hypochondrie. In diesem Fall ist sie lediglich als Verwirrungsfaktor wichtig und um, erstens, Schwester Ponting in die Geschichte einzuführen und, zweitens, das Auftauchen von Sleepine zu rechtfertigen (siehe Anmerkung zu Sleepine.)
II. Millie Pink. a) Sie war Lehrerin für Naturwissenschaften an einer Schule und versteht etwas von Chemikalien etc. b) Sie war verblüfft bei der Nennung von Schwester Pontings Namen, auch wenn sie dann abgelenkt hat. c) War sie beim Kirchenkonzert die ganze Zeit über anwesend? d) Wieso war sie um 17.24 Uhr im Wartesaal? (Anmerkung: Falls sie unschuldig ist, könnte es sein, daß sie in bezug auf den Kurat eine Enttäuschung erlitten hat und lieber mit dem Zug nach Hause fährt als sich Johns Neckereien auszusetzen.) III. John Farland. 34 a) Er arbeitet bei den Farland-Werken und hat zweifellos Zugang zu den dortigen Drogen. b) Er hat einen Wagen (geeignet, durch Drogen betäubte Personen zu befördern.) c) Er ist gerade alt genug, um Schwester Ponting seit fünf oder mehr Jahren kennen zu können. Wußte sie vielleicht von irgendeiner jugendlichen Unbesonnenheit, was ihn betrifft?) d) Ist John wirklich so liebenswürdig, unbekümmert und wohlerzogen, wie er zu sein scheint? Hat er je aufgrund der zu erwartenden Erbschaft irgendwo
Geld aufgenommen? e) Seine Beharrlichkeit, Schwester Ponting an einem so unerfreulichen Tag abholen zu wollen, könnte sowohl von Güte als auch von Planung herrühren. Wenn Penelope nicht von zu Hause weggewesen wäre, hätte das seine Pläne möglicherweise beeinträchtigt? Oder wußte er schon im vornherein, daß sie nicht da war? Die Hausangestellten des Arztes waren in der Kirche, er konnte sie gesehen haben, als er Millie dort absetzte.) Hatte er wirklich die Absicht, Penelope aufzusuchen? f) Was hat er zwischen seinen beiden Besuchen bei Dr. Cheedle getrieben? IV. Dr. Cheedle. a) Er zeigt sich verwirrt über Mrs. Farlands Krankheit. Ist er das wirklich? (Dr. Parry hat sie nur selten gesehen.) b) Er war den gesamten Sonntagnachmittag über allein. c) Er schien begierig zu sein, John loszuwerden. d) Schwester Ponting erkundigte sich danach, wo er wohnte und hat sich möglicherweise auf den Weg zu ihm gemacht. e) Er ist es gewohnt, Patienten bitter schmeckenden Tee anzubieten, von dem er selbst nichts trinkt. Falls Schwester Ponting ihn aufgesucht hat, hat er ihr da eine Tasse angeboten? f) Wenn sie zu ihm gekommen ist, hat er diese Tatsache John gegenüber nicht erwähnt. g) Er hätte leicht Zugang zu dem Schlafmittel Sleepine haben können. V. Stiller, der Bahnhofsvorsteher. a) Schwester Ponting schien an ihm interessiert zu sein und erhielt die Information, daß er verheiratet sei. b) Von allen Personen, die in der Geschichte auftreten, hat er am wenigsten die Möglichkeit, an Sleepine zu gelangen – es sei denn, das Schlafmittel hat sich in Schwester Pontings Tasche befunden. VI. Schwester Ponting. a) Warum ist sie mit einem früheren Zug angekommen? Weil sie sich selbst mit jemandem in Creepe treffen wollte? Oder weil jemand sie angewiesen hat, ihn zu benutzen? (Mr. Walton? Dr. Cheedle?) Oder handelt es sich um einen echten Irrtum, weil sie annahm, der alte 3/3-Zug führe noch? Falls sie auf eigene Faust gekommen ist, ist das geschehen, weil sie den Bahnhofsvorsteher treffen wollte? Oder Dr. Cheedle? Falls jemand sie angewiesen hat zu kommen, war sie dann in das Arrangement eingeweiht? Und wenn nicht, hat ihr Abstecher in die Stadt dazu beigetragen, der Person, die ihr die Anweisung gegeben hat, hilfreich zu sein oder sie zu behindern? Wußten entweder Dr. Cheedle oder John Farland vor ihrer Ankunft irgend etwas über sie, was über ihren Namen hinausging? Hatte Dr. Cheedle bereits direkt mit ihr telefoniert oder nur durch Dr. Walton von ihr gehört? (Anmerkung: Man könnte annehmen, daß eine Krankenschwester, die an einem Sonntagnachmittag in Creepe eintrifft und feststellt, daß sie drei Stunden Wartezeit vor sich hat, entweder a) im Bahnhof bleibt oder b) den Arzt oder eines der örtlichen Hotels aufsucht. Jeder, der sich auf dem Marktplatz oder in der Bahnhofstraße aufgehalten hat, ohne unbedingt zum Bahnhof gehen zu müssen, hätte sie leicht
unterwegs treffen können. Ihre Tracht machte sie gut kenntlich.) b) Im übrigen: War sie wirklich mit der Umgebung und dem alten 3/3-Zug vertraut? Was ist mit ihrem Vorleben? Und kannte sie entweder den Bahnhofsvorsteher oder Dr. Cheedle oder die Farlands von früher her? (Sie bestritt energisch, irgend etwas über das zu wissen, was in Creepe vor fünf Jahren vorgefallen war.) c) Als sie andeutete, es befänden sich Medizinen in ihrer Tasche, meinte sie damit das ›Sleepine‹? Wenn ja, brachte sie es dann mit (für Mrs. Farland) oder bekam sie es von Dr. Cheedle (zum gleichen Zweck)? Und wurde sie mit ihrem eigenen Mittel vergiftet? (Der Bahnhofsvorsteher?) d) Konnte andererseits die Droge aus irgendeiner anderen Quelle stammen und steckte man ihr die Schachtel in die Tasche, um den Eindruck zu erwecken, sie selbst habe sie mitgebracht? Mögliche andere Quellen: Dr. Cheedles Praxis (der Arzt, seine Tochter, Dr. Parry, John). Die Kapseln konnten Millie von Dr. Cheedle für Mrs. Farland gegeben worden sein (Millie, John, Mr. Walton), sie konnten aus den FarlandWerken stammen (John). e) Wie gelangte Schwester Ponting zum Bahnhof zurück, und wann? Was war mit den Schritten um 16.20 Uhr auf der Unterführung? War sie zu einem anderen Zeitpunkt und auf anderem Weg dorthin gelangt? Merke: Hier muß ich es Ihnen überlassen, die Möglichkeiten des Zugangs über eine Lagerhalle oder schienengleiche Bahnübergänge etc. herauszufinden. Bedenken Sie: Es handelte sich um einen dunklen, regnerischen Wintertag, und zwischen 14.32 Uhr und 17.09 Uhr fuhren weder auf der Haupt- noch auf der Nebenstrecke Züge, abgesehen vom Güterzug, der spät kam und nicht vor 16.30 Uhr abgefertigt war. Was die mögliche Ankunftszeit betrifft, lesen Sie die Bemerkungen über Drogen. VII. P.C. Bratton. Ich habe diesen jungen Mann und seine Freundin mit der Absicht eingeführt, daß die beiden, sofern jemand John Farland zum Mörder machen möchte, den LiebesAspekt vertreten sollen (da ja ganz offensichtlich der Mörder dergleichen nicht abdecken kann.) Joan, in ihrem Friseursalon, könnte leicht Tratsch und Klatsch aufschnappen. Kein Verdacht, finde ich, sollte auf Bratton fallen, er ist zu jung, als daß eine mögliche frühere Verbindung zu Schwester Ponting in Frage käme. (Außerdem hat er einen guten Charakter, denn er hilft einer alten Frau mit ihren Netzen und Taschen aus dem Zug!) Anmerkung zu ›Sleepine‹ (Miß Sayers hat in ihrer gewohnten Akkuratesse bezüglich Details den Namen eines tatsächlich existierenden Schlafmittels benutzt, aber das wurde in das fiktive ›Sleepine‹ umgewandelt.) (Aufgrund einer Unterhaltung mit unserem hiesigen Medizinmann): Sleepine gehört zur Gruppe der Barbiturate, ist ein verhältnismäßig neues Präparat und wesentlich stärker als Veronal, Medinal, Luminal und dergleichen. Es steht auf Platz eins der Giftliste und ist ohne ärztliches Rezept nicht zu bekommen. Die medizinische Dosis ist 11L Gran, innerhalb von 24 Stunden sollten nicht mehr als 7 1/2 Gran eingenommen werden.
Eine große Dosis (10 Gran oder darüber) wirkt auf einen Durchschnittsmenschen fast mit Sicherheit tödlich; und mit noch größerer Sicherheit auf jemand, der an einer Überempfindlichkeit gegen Barbiturate leidet. Es handelt sich um ein kristallines Pulver, das im allgemeinen den Ärzten in Kapseln von 1 1U Gran zur Verfügung steht, der Inhalt kann natürlich ohne weiteres in ein Glas oder eine Tasse geschüttet werden. Das ganze ist in Wasser oder Alkohol löslich und reagiert auf Lackmus alkalisch. Der Geschmack ist leicht bitter und fällt in starkem, süßem Tee, Whisky, Cocktails und dergleichen kaum auf. Wirkung: Eine große Dosis wirkt binnen einer halben Stunde, obwohl der Effekt verzögert werden kann, wenn der Patient sehr aktiv ist (zum Beispiel zu Fuß zum Bahnhof geht). Danach ist ein tiefer Schlaf die Folge, der ins Koma übergeht. Ungefähr zwei Stunden nach der Einnahme wird der Atem röchelnd (kann später in die sogenannte Cheyne-Stokes-Atmung übergehen, mit erst tiefer und dann wieder flacher werdenden Zügen, worauf eine längere Atempause folgt). Das Opfer wird vielleicht auf Stunden hinaus nicht sterben, aber aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr das Bewußtsein erlangen. Behandlung: Lumbalpunktion und drastische Strichnindosen stellen die einzige Therapiemöglichkeit dar, sie wird aber bei einer sehr großen Dosis kaum wirksam sein. Giftliste: Ein Arzt muß in sein Verzeichnis nur diejenigen Gifte eintragen, die in Medikamenten enthalten sind, die er anderen Leuten (Schwestern, Verwandten von Patienten etc.) zur weiteren Verabreichung aushändigt. Entsprechende Medikamente, die er selbst verabreicht, müssen nicht eingetragen und nirgendwo in seinen Büchern vermerkt werden. Medikamente, die Gifte enthalten, müssen unter Verschluß gehalten werden, aber ›wissen Sie, das ist doch nie der Fall!‹ Anmerkung zu Creepe: Creepe ist eine Kleinstadt von rund viertausend Einwohnern, von denen die meisten bei den Pharmazeutischen Werken Farland beschäftigt sind. Der Bahnhof liegt nur wenige Autominuten von der Stadtmitte entfernt. Der Zugang von der Bahnhofstraße aus und der Eingang zum Bahnhof liegen höher als die Schienenstränge, so daß die Fahrgäste das Bahnhofsgelände in Höhe der beiden Straßenbrücken östlich und westlich des Bahnhofs betreten und durch die Schalterhalle hindurch direkt zur Überführung gelangen, von der aus a) eine Treppe zum unteren Bahnsteig, b) zum Gepäckaufzug und c) eine weitere zum oberen Bahnsteig und zur Nebenlinie nach Plunton hinabführt. Ich stelle mir vor, daß sich hinter der Nebenlinie das Gelände in gleicher Höhe ausbreitet, so daß es dort Straßen und dergleichen gibt, mit einem Tor oder etwas Ähnlichem, durch das man Zugang zum Bahnbereich hat. Ich kann mir auch vorstellen, daß sich die Lagerschuppen und Rangiergeleise irgendwo dort befinden, aber ich habe nicht gewagt, mich darauf näher einzulassen. Der schnellste Weg, um auf die Straße nach Yowle und Plunton zu gelangen, ist, die Nebenstraße durch Nettlebury und Cobling zu benutzen, so wie auch die Bahnlinie verläuft. Der Omnibus jedoch macht einen Umweg, um auch den Weiler Hopperton mit einzubeziehen und die Fahrgäste nach Snightthorpe und Nettlebury an den entsprechenden Kreuzungen der Seitenstraßen abzusetzen und dann nach Cobling und Yowle weiterzufahren. Whitestones liegt gleich außerhalb des Dorfes Yowle, welches das Pech hat, einen
knappen Kilometer von seinem Bahnhof entfernt zu sein.
ZWEITER TEIL
von
Freeman Wills Crofts
Inspektor James Billingham von der Eastshire County Polizei erfreute sich der Anerkennung seiner Vorgesetzten, der Loyalität seiner Leute und des Respekts der Öffentlichkeit – eine beachtliche Leistung, wenn man es recht bedachte. Aus all diesen Fakten konnte man schließen, daß er in seiner Arbeit gut, in seinem Verhalten bescheiden und im Umgang mit Untergebenen freundlich war. Er war der zweite in der Hierarchie dieser winzigen Abteilung, die der Chefkonstabler von Eastshire als ›mein C. I. D.‹ zu bezeichnen pflegte. Das bedeutete, daß im Bezirk Yarborough des Countys unweigerlich Billingham dazu abgeordnet wurde, bei Vorfällen zu ermitteln, denen etwas Geheimnisvolles anhaftete oder die nach ernsthaften Verbrechen aussahen. Creepe lag im Bezirk Yarborough, und so geschah es, daß Billingham beauftragt wurde, als Sergeant Craven von der Polizeistation in Creepe wegen eines wahrscheinlichen Falles von Vergiftung telefonisch um Hilfe bat. Das Ansuchen erreichte den Inspektor in einem ungünstigen Augenblick. Er war gerade zu Hause eingetroffen und hatte sich zum Abendessen niedergelassen, als das Telefon klingelte. Billingham war müde und hungrig und seufzte, als er den Hörer wieder auflegte. »Was ist los?« fragte seine Frau. »Sie brauchen mich in Creepe«, erwiderte er. »Da ist eine Frau tot aufgefunden worden.« »Die können warten«, erklärte Mrs. Billingham mit deutlicher Verachtung für die. »Du gehst keinen Schritt aus dem Haus, bevor du zu Abend gegessen hast.« Der Inspektor hatte angemessenen Respekt vor der Autorität seines Chefs, aber noch mehr vor der seiner Frau, vor allem wenn, wie in diesem Fall, ihre Gebote im Einklang mit seinen eigenen Wünschen standen. »Zehn Minuten können nichts schaden«, pflichtete er demzufolge bei und setzte sich, um die Zeit intensiv zu nutzen. Gewappnet gegen alles, was da kommen würde, traf Billingham zu gegebener Zeit in der Polizeistation ein. Dort erwarteten ihn einige knappe Instruktionen. Er sollte den kleinen Ford nehmen, nach Creepe fahren und dort die erforderliche Hilfe leisten. Sergeant Craven war ein großer, stämmiger Mann mit einem runden, gutmütigen Gesicht und einer Leidenschaft für Späße, die zwar ihn aber sonst niemand entzückten. Aber als Billingham sein Büro in Creepe betrat, lächelte der Sergeant überhaupt nicht; er sah besorgt drein. »Ich bin froh, daß Sie rübergekommen sind, Sir«, begrüßte er seinen Besucher. »Wir haben da nen Fall, der nach Selbstmord aussieht, aber Dr. Cheedle benimmt sich ein bißchen geheimnisvoll, schmeißt mit Andeutungen um sich und so weiter.« »Was sagt er denn?« erkundigte sich Billingham kurz. Berichte in der Manie eines Fortsetzungsromans irritierten ihn immer. »Er sagt, ihm käme das ein bißchen seltsam vor, und ich solle der Sache gründlich nachgehen und nichts als gesichert ansehen.« Das machte das Ganze für Billingham nicht anziehender. »Na schön, das haben Sie ja wohl sowieso getan, oder nicht?« »Ja, Sir, natürlich. Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß er das Ganze für Mord hält.« »Also los, heraus mit den Fakten!« schnaubte Billingham. »Es war Konstabier Pratton, Sir, der angerufen hat. Er hat heute abend frei und
ging zum Bahnhof, um seine Freundin abzuholen. Als er dann dort war, so um kurz nach fünf rum, fand man diese Schwester Ponting in der Toilette. Ich holte Dr. Cheedle und die Ambulanz, wir brachten sie ins Cottage Krankenhaus, aber sie ist vor ungefähr einer halben Stunde gestorben.« »Hat sie das Bewußtsein noch einmal wiedererlangt?« »Nein, Sir.« Craven machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich habe vorläufige Aussagen der betreffenden Leute. Es scheint, daß die Schwester heute nachmittag Dr. Cheedle aufgesucht hat. Er sagt, sie sei dabei völlig normal gewesen, und das ist der Grund, weshalb er Selbstmord nicht für wahrscheinlich hält.« Billingham las die Aussagen durch. Nach allem, was er ihnen entnehmen konnte, handelte es sich bei der Toten um eine Krankenschwester namens Ponting, die auf dem Weg von London nach Yowle gewesen war, um dort die Pflege einer Patientin zu übernehmen. Sie war um 14 Uhr 32 in Creepe eingetroffen, offenbar in der Erwartung, einen Anschlußzug nach Yowle zu finden. Da vor siebzehn Uhr keiner fuhr, hatte sie Dr. Cheedle aufgesucht, der der Hausarzt ihrer zukünftigen Patientin war, und der sie auch wahrscheinlich angefordert hatte zu kommen. Die beiden hatten sich ungefähr eine Viertelstunde über den Fall unterhalten, und danach war die Krankenschwester wieder gegangen – offenbar in jeder Hinsicht in völlig normalem Zustand. Das war ein, zwei Minuten vor drei gewesen. Soweit bekannt war, hatte man sie von diesem Zeitpunkt an nicht mehr gesehen, bis sie bewußtlos im Bahnhof aufgefunden wurde. »Das ist alles?« fragte der Inspektor. »Ich fürchte, ja, Sir«, antwortete Craven mit bedrücktem Gesichtsausdruck. »Es war nicht viel Zeit, weil wir doch die Frau ins Krankenhaus bringen mußten…« Billingham nickte. »Ich beschwere mich ja nicht. Ich möchte nur wissen, wo ich stehe. Am besten machen wir uns auf und sprechen mit diesem Doktor. Rufen Sie bitte bei ihm an und finden Sie heraus, ob er zu Hause ist.« Zehn Minuten später saßen die beiden Polizeibeamten in Cheddles Sprechzimmer. »Ich habe Ihre Aussage von Craven bekommen, Sir«, erklärte Billingham. »Aber sie mußte natürlich in Eile gemacht werden, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir noch ein paar Einzelheiten angeben könnten. Was zum Beispiel diese Frau betrifft – Sie haben sie vermutlich engagiert?« »Genau genommen, nein«, erwiderte der Arzt. »Obwohl sie mit meiner vollen Zustimmung engagiert wurde. Die Sache verlief folgendermaßen: Für meine Patientin, Mrs. Farland in Yowle, wurde eine Pflegerin gesucht, und aufgrund der derzeitigen Grippeepidemie konnte ich keine der hiesigen Schwestern bekommen. Mr. Walton, der Anwalt Mrs. Farlands, den ich in ihrem Haus traf, meinte, sein Sohn, ein Arzt, der in der Harley Street praktiziert, könne sicher eine beschaffen. Ich bat ihn, sich darum zu bemühen, und er schickte Schwester Ponting.« »Dann wissen Sie persönlich also gar nichts über sie?« »Nur das, was ich heute nachmittag zu Gesicht bekam. Sie schien mir eine ganz tüchtige Person zu sein, in normal guter seelischer Verfassung, und sie freute sich darauf, um sechs Uhr bei ihrer Patientin zu sein.« Dr. Cheedle machte eine Pause und sah Billingham neugierig an. »Das war alles, was ich selbst wahrgenommen habe, aber sie erzählte mir etwas, das mich sehr interessierte.« »Und was war das, Sir?« »Erinnern Sie sich an den Mordfall Heaviside?« »Der in Carlisle vor drei Jahren?« »Ja.« »Daran erinnere ich mich gut. Ich habe alles darüber gelesen. Er gehörte in die
Reihe der berühmten Mordprozesse.«
»Das dachte ich mir. Ich hatte die Details selbst vergessen, aber die Schwester
erinnerte mich an sie. Heaviside vergiftete seine Frau.«
»Ja, Sir. Dem Arzt entging das…«
In Billinghams Augen lag der Schimmer eines Lächelns. »Aber die Schwester griff
die Sache auf. Es war ihre Zeugenaussage, die Heaviside an den Galgen
brachte.«
Cheedle nickte flüchtig. »Das hier war diese Schwester«, sagte er.
Billingham gab einen leisen Pfiff von sich. »Was Sie nicht sagen. Das ist ja
wirklich ein bißchen eigenartig.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »So
viel ich gehört habe, ist sie an Gift gestorben. Stimmt das?«
»In ihrer Tasche wurde eine kleine Schachtel mit dem Etikett ›Sleepine‹ darauf
gefunden, und sie enthielt nur eine einzige Kapsel, die nach ›Sleepine‹ aussah.
Miß Ponting hatte alle Symptome einer Überdosis ›Sleepine‹ und keinerlei
anderen. Es sieht also tatsächlich so aus, als ob sie an dem Medikament
gestorben sei, aber ohne eine Obduktion kann ich so etwas nicht mit Sicherheit
sagen.«
»›Sleepine‹? Ein Schlafmittel, nicht wahr?«
Cheedles Verhalten bekam etwas leicht Professionelles. »›Sleepine‹ gehört zur
Gruppe der Barbiturate, ist ziemlich neu und wesentlich stärker als Veronal,
Medinal, Luminal und alles übrige. Bei ein bis zwei Gran handelt es sich um ein
sehr brauchbares Opiat, aber eine große Dosis –, sagen wir zehn Gran oder mehr
–, wirkt normalerweise tödlich.«
»Es steht wohl ganz oben auf der Giftliste?«
»Ja. Ohne ärztliches Rezept ist es nicht erhältlich.«
»Aber eine Krankenschwester könnte auch ohne Rezept drankommen?«
Cheedle zuckte die Schultern. Billingham nahm sein Schweigen für Zustimmung
und wandte sich einem anderen Punkt zu.
»Sie verließ Sie heute nachmittag so gegen drei, sagt Craven?«
»Kurz vor drei. Ich hörte die Marktglocke schlagen, kurz nachdem ich Schwester
Ponting hinausbegleitet hatte und wieder in mein Zimmer zurückgekehrt war.«
»Halten Sie es für möglich, daß sie in einer Gemütsverfassung war, die zu einem
Selbstmord führen konnte?«
»Ganz gewiß nicht. Sie war in guter Stimmung und sehr an dem Fall, den sie in
Yowle übernehmen sollte, interessiert. Nein, ich habe wirklich nichts
wahrnehmen können, was auf einen möglichen Selbstmord hinwies. Ganz im
Gegenteil.«
»Und im Fall einer Krankenschwester kommt ein -Unfall dieser Art wohl kaum in
Frage?«
»Keiner von uns ist vor einem Irrtum geschützt«, sagte Dr. Cheedle
nachdrücklich, mit einem verdächtigen Augenzwinkern. »Aber ich muß zugeben,
sie schien alle ihre Sinne gut beisammen zu haben.«
Billingham rieb sich das Kinn, was bei ihm für tiefes Nachdenken charakteristisch
war. »Es sieht nicht gut aus«, erklärte er dann. »Hören Sie, Doktor, hat das Zeug
einen starken Geschmack?«
»Nicht besonders. Leicht bitter.«
»Es könnte also leicht mit Hilfe von etwas anderem kaschiert werden?«
»Ja, ich glaube schon. Von starkem, süßem Tee, Whisky und ähnlichem.
Vielleicht würde dem Betreffenden etwas am Geschmack auffallen, aber
vermutlich nicht so, daß er Verdacht schöpfen würde.«
»Mhm.« Billingham blieb wieder eine Weile gedankenverloren sitzen. »Noch
etwas«, fuhr er dann fort, »können Sie aus der Verfassung, in der sie sich um 17
Uhr 25 befand und der Zeit ihres Todes – gegen acht, so viel ich gehört habe –,
irgendwie schließen, wann sie die Dosis eingenommen hat?« Dr. Cheedle zögerte. »Vorausgesetzt, sie hat ›Sleepine‹ genommen, was wir bis jetzt noch nicht mit Sicherheit wissen, würde ich sagen, sie muß das Mittel ungefähr zwei Stunden, bevor ich sie im Bahnhof wiedersah, eingenommen haben – also etwa um halb vier Uhr. Das ist natürlich nur eine sehr vage Angabe. Es könnte auch früher oder später gewesen sein.« »Also etwa eine halbe Stunde, nachdem Sie sie verlassen hatte. Das hätte zeitlich gerade ausgereicht, um in eine Teestube zu gehen oder…« nun zögerte Billingham seinerseits, »sich von jemand zu einem Drink einladen zu lassen. Nun gut, was muß dann geschehen sein? Wie bald mußte das Zeug anfangen zu wirken? Wann muß sie begonnen haben, sich schläfrig zu fühlen?« »Das ist unmöglich mit einiger Genauigkeit zu sagen, denn, wie Sie wahrscheinlich wissen, verschiedene Menschen reagieren auf diese Drogen verschieden.« »Das ist mir klar, Doktor«, pflichtete Billingham bei, eine Spur ungeduldig, ob dieser Demonstration wissenschaftlicher Attitüde. »Aber nehmen wir einmal einen Mittelwert?« »Ich möchte annehmen, daß eine große Dosis in ungefähr einer halben Stunde zu wirken beginnt.« »Also gegen vier. Und wie äußert sich die Wirkung?« »Erst Schläfrigkeit, dann tiefer Schlaf, Koma, Tod.« »In ungefähr – wäre es korrekt anzunehmen, daß die Schwester, wenn sie den Wartesaal noch kurz vor vier erreicht hat, zu Fuß gegangen sein kann, daß sie aber nach vier Uhr bereits hätte getragen werden müssen?« Cheedle war unwillig, sich verbindlich zu äußern, stimmte jedoch schließlich zu, daß die Einschätzung des Inspektors vertretbar sei – vorbehaltlich irgendwelcher Änderungen, die sich durch möglicherweise noch ans Licht kommende Fakten ergeben könnten. Danach wandte sich Billingham dem Thema der Sterbeurkunde zu. »Könnten Sie die Urkunde aufgrund dessen, was Sie gesehen haben, ausstellen?« Hier widersprach der Arzt mit Nachdruck. Ganz gewiß konnte er ohne Obduktion keine Sterbeurkunde ausstellen. Hatte er dem Inspektor nicht bereits gesagt, daß alles, was er äußerte, nur vorläufigen Charakter habe und auf der Annahme beruhe, daß im Körper der Toten eine große Dosis ›Sleepine‹ gefunden würde? »Dann werde ich den Coroner aufsuchen und das regeln.« Billingham erhob sich. »Vielen Dank, Doktor. Es tut mir leid, daß ich Ihnen so zur Last gefallen bin.« »Sehr eigenartig«, fuhr er fort, während er und Craven zur Polizeistation zurückwanderten. »Da ist nun diese Krankenschwester, die in einen Vergiftungsfall und Mordprozeß verwickelt war, bei dem sie sich bestimmt eine Menge Feinde gemacht hat, und nun stirbt sie unter Umständen, die ebenfalls auf Mord hindeuten. Wirklich eigenartig, möchte ich behaupten.« »Stimmt, Sir. Trotzdem, nach drei Jahren sollte man annehmen…« »Das war natürlich nur eine Spekulation. Vielleicht finden wir heraus, daß sie einer anderen Frau den Mann weggeschnappt hat. Hören Sie zu, Craven: Als erstes morgen früh versuchen Sie herauszufinden, was sie getan hat, nachdem sie vom Doktor weggegangen war. Kriegen Sie heraus, ob sie irgendwo was getrunken oder ob jemand sie gesehen hat. Haben Sie dafür genügend Leute?« »Ja, Sir, das schaffe ich schon.« »Und jetzt machen Sie sich am besten zum Coroner auf und regeln die Sache mit der Autopsie und der Leichenbeschau. Inzwischen werde ich einmal ein Wort mit diesem Anwalt, Walton, reden und versuchen, etwas über die Krankenschwester herauszufinden. Wo wohnt er?« »Parkley, Priory Avenue.« Craven wies in die entsprechende Richtung. »Erste
Straße links, unten an der London Road.« Inspektor Billingham hatte mehr Glück als er hätte erwarten können. Als er ›Parkley‹ erreichte, war nicht nur Mr. Walton, der Rechtsanwalt, zu Hause, er hatte auch seinen Sohn, den Arzt aus der Harley Street, übers Wochenende bei sich zu Besuch. Und dieser Tatsache verdankte es Billingham, daß er eine Information erhielt, die ihm sonst möglicherweise entgangen wäre. Er beschloß, erst einmal die Möglichkeit eines Selbstmords der Krankenschwester zur Sprache zu bringen. »Sie kannten sie, Doktor«, sagte er. »Können Sie sich irgendeinen Grund denken, aus dem heraus sie ihr Leben satt gehabt haben könnte?« Der junge Walton schüttelte den Kopf. »Ganz gewiß nicht in einem Maß, das sie zum Selbstmord getrieben hätte. Ich merkte, daß sie zuerst sehr unwillig war, nach Yowle zu gehen, aber am Ende hat sie sich dafür entschieden, daß es das Beste sei, die Arbeit zu übernehmen.« Billingham war leicht verblüfft. »Das verstehe ich nicht ganz. Warum wollte sie den Job nicht übernehmen?« »Dafür gab es überhaupt keinen Grund«, unterbrach der ältere Walton die beiden kurz. Sein Sohn sah ihn neugierig an. »Oh – na ja, ich finde schon, wir sollten dem Inspektor erzählen, weshalb sie ausgesucht wurde, Dad.« »Da gibt es nichts zu erzählen.« »Allem nach doch, Sir«, sagte Billingham mit einem Lächeln. »Hoffentlich werden Sie’s tun.« »Es ist sehr ungehörig«, erwiderte der Anwalt. »Du hättest nichts darüber sagen sollen, Charles.« »Da bin ich nicht so sicher. Ich halte es immer für besser, der Polizei alles zu erklären. Schließlich ist der Inspektor kein Trottel. Er wird die Situation verstehen.« »Du hast kein Recht, unbegründete Verdächtigungen gegen diese Leute in Yowle vorzubringen«, erklärte Walton senior. »Ich wasche jedenfalls in der Sache meine Hände in Unschuld.« Billingham, nun äußerst interessiert, bohrte nach. »Trotzdem wäre ich dankbar, wenn Sie mir Ihre Gedanken mitteilten, Sir. Sie wissen, es wird nichts ungerechtfertigt gegen irgend jemand verwandt.« Der Anwalt zuckte die Schultern. »Jetzt ist der Schaden schon geschehen«, beschwerte er sich. »Wir müssen Ihnen alles erzählen. Aber ich protestiere und muß Sie daran erinnern, daß meine privaten Gedanken keinerlei Beweise darstellen und zu keinerlei Zwecken verwendet werden können. Hier handelt es sich um reine Mutmaßungen, die gar nicht erwähnt werden sollten.« »Ich werde es nicht vergessen, Sir.« »Nun ja, wenn Sie es schon wissen müssen«, fuhr der alte Mann in bedrücktem Ton fort, »ich bin Anwalt einer Mrs. Farland in Yowle. Sie ist seit einiger Zeit krank, und Dr. Cheedle ist ihr behandelnder Arzt. Die Krankheit war, - na ja«, er machte eine ärgerliche Handbewegung, »vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber sie war ziemlich mysteriös. Ich merkte, daß Dr. Cheedle irgendwie unsicher war; er sprach sogar von einer Konsultation. Nun, wie gesagt, ich bin Mrs. Farlands Anwalt.« Er machte eine Pause. »Ich sprach mit ihm über eine Pflegerin und er sagte, er könne der Grippeepidemie wegen keine bekommen. Da kam mir der Gedanke, dies sei die Gelegenheit, eine gut geschulte Krankenschwester aus der Stadt zu holen, und ich fragte den Arzt, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich das alles durch meinen Sohn arrangieren ließe. Er antwortete, darüber wäre er sogar sehr froh. Also erkundigte ich mich bei meinem Sohn – und er schickte Schwester Ponting.«
»Ja«, fuhr der Sohn fort, »und hier möchte ich vielleicht den Teil hinzufügen, den du ausgelassen hast. Mein Vater war nicht überzeugt, daß alles mit rechten Dingen zuginge und hat mir das auch gesagt. Ich wußte, daß Schwester Ponting in einem Vergiftungsfall als Pflegerin beschäftigt gewesen war. Ich erzählte ihr geradeheraus, was für Mutmaßungen wir hegten und bat sie, nichts zu sagen, aber die Augen offenzuhalten. Wenn ihr etwas auffiele, das ihr verdächtig vorkäme, sollte sie sich an Dr. Cheedle wenden. Der Grund, weshalb sie nicht eben gern nach Yowle gehen wollte, war der, daß sie befürchtete, erneut in einen Fall von Vergiftung verwickelt zu werden. Das ist ganz natürlich. Aber andererseits wollte sie diese gute Stelle auch nicht ablehnen.« »Verstehen Sie jetzt, weshalb ich dagegen war, mich überhaupt zu äußern, Inspektor?« warf der alte Mann ein. »Solche Mutmaßungen enthalten eine stillschweigende Mordanschuldigung gegen irgend jemand. Weder mein Sohn noch ich haben die geringste Berechtigung, solche Verdächtigungen auszusprechen, und keiner von uns tut das.« »Das verstehe ich sehr gut, Sir. Aber ich bin sehr froh über alles und werde es als anonymen Hinweis betrachten.« Obwohl Billingham leichthin sprach, war er doch sehr beeindruckt von dem, was er gehört hatte. Anwalt Walton galt als kluger Kopf, und wenn er angesichts Mrs. Farlands Krankheit Verdacht geschöpft hatte, so bedeutete das, daß es wirklich Grund dafür gab. Und Cheedle war ein alter Trottel. Was geschehen war, war sonnenklar. Walton vermutete, daß Mrs. Farland vergiftet wurde, und daß Cheedle sich dessen nicht bewußt war. Nun hatte er eine Chance erkannt, alles herauszufinden, und er hatte sie beim Schopf ergriffen. Und nun war diese Krankenschwester, mit ihren Kenntnissen, ganz plötzlich umgekommen, noch bevor sie ihre Patientin aufgesucht hatte. Hm – der Fall wurde immer verwickelter. Billingham grübelte noch eine Weile darüber nach, dann fragte er in so unbefangenem Ton wie möglich: »Ist sie so vermögend, wie behauptet wird, diese Mrs. Farland?« Walton starrte seinen Sohn finster an. »Als ihr Anwalt muß ich das nicht beantworten«, sagte er grimmig. »Natürlich nicht, Sir«, gab der Inspektor zu. Er wollte sich den Anwalt nicht zum Feind machen und hielt Diskretion für angebracht. Wenn er die Information wirklich brauchte, so konnte er sie sich auch anderswo besorgen. Er stand auf. »Wenn Sie also nicht gern darauf eingehen wollen, mache ich mich jetzt auf den Weg. Ich bin Ihnen sehr für Ihre Hinweise verpflichtet, die ich strikt für mich behalten werde.« Als er den Anwalt verlassen hatte, warf der Inspektor einen Blick auf seine Uhr. Zehn Uhr – zu spät, um heute abend noch etwas zu unternehmen. Nachdem er noch einmal kurz die Polizeistation aufgesucht hatte, lenkte er den Ford heimwärts. Vom Revier Yarborough aus erstattete er seinem Chef noch einmal telefonisch Bericht, dann machte er Dienstschluß. Obwohl es bisher noch keine schlüssigen Beweise gab, schien es für Billingham immer wahrscheinlicher, daß sich das Ganze als Mordfall erweisen würde. Es sah sogar ganz so aus, als entwickelte sich die Sache zu der großen Chance für ihn, auf die er so lange gehofft und die sich ihm bisher noch nicht geboten hatte. Wenn es sich wirklich um Mord handelte und wenn er mit seinen Ermittlungen Erfolg hatte, so würde das kaum etwas anderes als Beförderung bedeuten können. Wie sehr er darauf hoffte, freie Hand bei diesen Ermittlungen zu erhalten! Glücklicherweise hielt der Chef nicht viel von Hilfe von außen. Zweifellos würde er es vorziehen, jeglichen Ruhm, der einzuheimsen war, auf den eigenen Wirkungskreis zu konzentrieren. Was Billingham fürchtete, war Scotland Yard, aber wenn er einigermaßen gute Fortschritte machte, so war
anzunehmen, daß man ihn ohne Assistenz von außen weitermachen ließe. Er war froh, sich über sein weiteres Vorgehen im klaren zu sein. Alle möglichen Ermittlungen schrien förmlich danach, durchgeführt zu werden, und zumindest für einen oder zwei Tage war seine Arbeit vorgezeichnet. Vom Bahnhofspersonal, so überlegte er, war wahrscheinlich niemand in die Sache verwickelt; zumindest konnten Nachforschungen auf diesem Gebiet hinausgeschoben werden. Weit wichtiger war, mehr Einzelheiten über diese beiden Leute, John Farland und Millie Pink, in Erfahrung zu bringen; sie standen Sergeant Cravens Notizen zufolge mit der mit geheimnisvoller Krankheit behafteten Mrs. Farland in engem Zusammenhang und waren an Ort und Stelle gewesen, als man die Pflegerin aufgefunden hatte. John Farland war als stellvertretender Direktor der Pharmazeutischen Werke erwähnt worden, und deshalb lenkten am darauffolgenden Morgen Billingham und Craven ihre Schritte dorthin. Trotz Farlands jugendlichem Alter war dem Verhalten des Angestellten, der ihre Namen eintrug, deutlich zu entnehmen, daß es sich bei ihm um eine Person von einiger Wichtigkeit im Betrieb handelte. Er empfing die Polizeibeamten sofort. Er hatte eine freundliche, legere Art, aber Billingham spürte, daß sich darunter etwas wie innere Anspannung verbarg, so als ob die Affäre ihm einen Schock versetzt hätte. »Die Aussage, die Sie gestern abend dem Sergeant gegenüber machten, war notwendigerweise kurz, Mr. Farland«, begann Billingham, »und wir sind hergekommen, um uns noch nach ein paar Einzelheiten zu erkundigen. Ich wäre Ihnen sehr verpflichtet, wenn Sie uns alles erzählen würden, was Sie wissen, ganz gleich, wie trivial Ihnen ein Vorfall auch scheinen mag.« »Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte der junge Mann. »Was wollen Sie wissen?« »Sagen Sie am besten alles. Erzählen Sie mir, was Sie getan und gesehen haben – sagen wir einmal, angefangen von der Mittagszeit, bis zum Abend des Sonntags.« »Wie Sie wollen. Wenn ich mich nicht klar genug ausdrücke, können Sie ja Fragen stellen.« »Keine Angst«, sagte Billingham. Farland lächelte gequält und begann. Seine Aussage erwies sich jedoch als enttäuschend. Sie warf keinerlei Licht auf die Affäre, worüber er selbst völlig verwirrt zu sein schien. Er schilderte seinen Lunch bei Mrs. Farland und seine Unterhaltung mit Millie Pink, ob sie nun zur Aufführung der ›Lobeshymne‹ in die Kirche gehen sollte oder nicht. Er habe sie, so sagte er, dann zur Kirche gefahren, wo er gegen halb drei Uhr angekommen war, der Zeitpunkt, zu dem die Feier beginnen sollte. Danach war er zu Dr. Cheedle gefahren, wo er zu seiner Enttäuschung seine Verlobte nicht angetroffen hatte, mit der er einen kleinen Ausflug hatte machen wollen. Der Doktor hatte ihn zwar nicht hereingebeten, ihm aber vorgeschlagen, später zum Tee zu kommen. Daraufhin fühlte er sich einigermaßen unschlüssig, hatte zuerst zu ein paar Freunden nach Yarborough fahren wollen, was ihm aber des schlechten Wetters wegen nicht die Mühe wert zu sein schien, und war deshalb in seine Wohnung gefahren. Dort hatte er herumgesessen und hatte bis ungefähr dreiviertel fünf gelesen, um dann zu Dr. Cheedle zurückzufahren. Er hatte erwartet, dort Miß Pink abholen zu können, aber als sie nicht auftauchte, beschloß er, zum Bahnhof zu fahren und sowohl sie als auch die Pflegerin zu Mrs. Farland zu bringen. Er fuhr zum Bahnhof, und als er dort war, wurde die Krankenschwester aufgefunden. Miß Pink hatte sie entdeckt und war sehr aufgeregt gewesen. Er hatte sie schließlich zu ihrer Tante gefahren, wo er auch zu Abend gegessen hatte; später am Abend war er nach Creepe zurückgekehrt. Es gehörte zu Inspektor Billinghams Prinzipien, während seiner Ermittlungen an
der Wahrheit jeglicher Aussage so lange zu zweifeln, bis sie überprüft war. Obwohl er keinen Grund hatte, John Farlands Aussage in Frage zu stellen, verlangte die Routine von ihm, sich alles bestätigen zu lassen, was nur möglich war. Deshalb rief er bei Dr. Cheedle an, um ihn zu fragen, ob er John am vorhergegangenen Tag gesehen habe und wenn ja, worüber sie sich unterhalten hätten. Der Arzt bestätigte prompt alles, was John ausgesagt hatte, und Billingham ging danach zu Mrs. Humphries, der Hauswirtin des jungen Mannes. Dort erhielt er dieselbe nachdrückliche Bestätigung. Mr. Farland war gegen zwölf Uhr mittags weggegangen – er hatte seinen Lunch irgendwo außerhalb des Hauses eingenommen. Kurz vor drei war er wieder gekommen, hatte ihr erzählt, daß er zum Tee wieder ausgehen würde, und danach hatte er sich in sein Wohnzimmer gesetzt, das neben der Küche lag, in der sie selbst sich aufhielt. Gegen halb fünf Uhr nachmittags hatte sie gehört, wie er in sein Schlafzimmer hinaufging, und ein paar Minuten später hatte er das Haus verlassen. Sie hatte erwartet, daß er zur Abendessenszeit wieder zurückkehren würde, aber offensichtlich hatte er woanders gegessen und war erst nach zehn Uhr wieder aufgetaucht. Darin geübt, mit solchen Ansinnen keinen Verdacht zu erregen, brachte Billingham die einigermaßen geschwätzige Dame dazu, ihn in John Farlands Zimmer zu führen, und sofort fiel ihm eine bedeutungsvolle Tatsache auf. Das Fenster von Farlands Wohnzimmer im Erdgeschoß lag einem Hof zu, von dem aus es ganz leicht sein mußte, auf die Straße zu gelangen, ohne von der Küche aus gesehen zu werden. Also war das Alibi des jungen Mannes keineswegs hieb- und stichfest. Millie Pinks Name stand als nächster auf der Liste. Um Zeit zu sparen, überprüfte Billingham einen Punkt in ihrer Aussage, indem er sich telefonisch an den Küster der St. Sebastianskirche wandte, in der die Aufführung der ›Lobeshymne‹ stattgefunden hatte. Der Küster bestätigte ihre Aussage, daß sie am Sonntagnachmittag in der Kirche gewesen sei. Sie habe nicht sehr gut ausgesehen, fügte der Mann hinzu, habe um einen Platz bei der Tür gebeten, da sie Kopfschmerzen habe, die, wenn sie stärker würden, es ihr vielleicht unmöglich machten, die ganze Feier über dazubleiben. Er hatte sie aus Besorgnis, sie könne vielleicht ohnmächtig werden, im Auge behalten und auch gesehen, daß sie noch vor Ende der Aufführung die Kirche verließ. Also war Millies Alibi keineswegs hieb- und stichfest, überlegte Billingham. Nach dem Lunch fuhren er und Craven nach Yowle, um sie aufzusuchen. Als sie sich der Haustür in Whitestones näherten, öffnete sie sich, und Cheedle kam heraus. Er winkte Billingham zu sich. »Haben Sie meine Nachricht bekommen?« fragte er. Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Sie müssen vor ihrem Eintreffen weggegangen sein«, fuhr Cheedle fort. »Ich habe sie kurz vor dem Lunch hinübergeschickt. Es handelt sich um die Obduktion. In Schwester Pontings Körper haben sich über zwölf Gran ›Sleepine‹ gefunden.« »Genau wie Sie dachten, Sir«, sagte Billingham diplomatisch. »Nun ja, das wär’s also. Eine tödliche Dosis – und Irrtum oder Selbstmord sind unwahrscheinlich. Sonst gab es keinerlei Hinweise? Keine Anzeichen von Gewaltanwendung oder dergleichen?« »Nichts.« »Wir sind hier, um uns von Miß Pink noch einmal berichten zu lassen, wie sie die Krankenschwester entdeckt hat. Sie ist doch Mrs. Farlands Nichte?« »Ja.« Billinghams Stimme wurde leicht vertraulich. »Sieht ganz so aus, als ob hier
einiges Geld im Spiel wäre. Die alte Dame muß ja wohl recht vermögend sein.« Aber Dr. Cheedle war nicht zu ködern. Sein Verhalten wurde steif. »Über ihre Finanzen weiß ich wirklich nichts«, erklärte er kurz, nickte und fuhr in seinem Wagen davon. Millie ließ sie mehrere Minuten warten und kam schließlich, mit zerzaustem Haar und voller Entschuldigungen, herab. Sie war noch deutlich durch ihre Erlebnisse erregt, obwohl sie mit großer Bereitwilligkeit darüber sprach. Ihr Bericht war ziemlich verworren, und Billingham mußte eine ganze Reihe Fragen stellen, bevor ihm alles klar wurde. Sie hatte, so erklärte Millie, den ganzen Sonntag lang häßliche Kopfschmerzen gehabt, und das hatte sie noch mehr als sonst zögern lassen, zu der musikalischen Feier zu gehen. Trotzdem, sie hatte dann das Risiko auf sich genommen. Aber während der Aufführung waren die Schmerzen noch viel schlimmer geworden, und sie hatte auch ihr Vorhaben, zum Tee ins Pfarrhaus zu gehen, aufgegeben. Jedenfalls hatte sie die Kirche verlassen, bevor die Feier zu Ende war, um in der frischen Luft spazieren zu gehen, in der Hoffnung, Erleichterung zu finden. Aber statt besser, wurden die Schmerzen immer schlimmer, und als sie in der Nähe des Bahnhofs angekommen war, war sie in den Wartesaal gegangen, um sich auszuruhen und die Kleidung zu trocknen, denn es hatte geregnet, und sie war naß. Dort, im Wartesaal, war sie eingeschlafen, jedoch durch das Eintreffen des Zugs auf der Nebenlinie um 17 Uhr wieder geweckt worden. Eigentlich hatte sie einsteigen wollen, aber dann hatte sie einen jungen Mann auf dem Bahnsteig erspäht, den sie nicht zu treffen wünschte: Mr. Holford, den Sohn des Grundstücksmaklers, wenn es der Inspektor schon wissen wollte, und dieser junge Mann war neuerdings freundlicher zu ihr gewesen als ihr lieb war. Also blieb sie sitzen, wo sie war. Die beiden Züge der Hauptlinie fuhren vorüber, und zum zweitenmal wollte sie ihren Sitzplatz im Zug einnehmen, als sie plötzlich das seltsame Geräusch hörte. Daraufhin war sie hinausgerannt und hatte die Männer auf dem Bahnsteig hereingeholt. Sie hatten in die Toilette gesehen und die Krankenschwester entdeckt. Sie selbst, Millie, hatte einen großen Schock erlitten und war sehr aufgeregt. Natürlich hatte sie ihren Zug verfehlt, aber zu ihrem Glück war ja John Farland da gewesen, um die Pflegerin abzuholen, und er hatte sie nach Hause gefahren. »Wenn ich schon hier bin«, sagte Billingham, nachdem Millie geendet hatte, »würde ich gern ein Wort mit Mrs. Farland sprechen, sofern es ihr gut genug geht, mich zu empfangen.« »Aber ja, Inspektor«, rief Millie, »sie wird liebend gern mit Ihnen sprechen. Ganz bestimmt wäre sie sehr zornig auf mich, wenn Sie das Haus verließen, ohne sie besucht zu haben.« Sie ging weg, um ihrer Tante mitzuteilen, daß der Inspektor hier sei, und Billingham saß da und grübelte. Allmählich überkam ihn der Gedanke, daß er sich hier mit etwas weit Schwierigerem und Komplizierterem zu befassen hatte als vorauszusehen gewesen war. Die Ermittlungen hatten eben erst begonnen, aber er hatte bereits zwei Leute ausfindig gemacht, die um halb vier Uhr am Sonntagnachmittag der Schwester Ponting das ›Sleepine‹ gegeben haben konten – John Farland und Millie Pink. Keiner der beiden konnten einen Zeugen beibringen, der ihnen bestätigte, sie zu dem Zeitpunkt gesehen zu haben. Millies Behauptung, ziellos im Regen herumgewandert zu sein, konnte zutreffen und ebenso gut die von John Farland, er habe in seinem Wohnzimmer gesessen und gelesen. Andererseits konnten auch beide gelogen haben. Aber wie, so fragte sich der Inspektor, konnten Millie oder John, die für Schwester Ponting beide Fremde waren, sie dazu gebracht haben, zwölf Gran
›Sleepine‹ einzunehmen, ganz gleich, in welcher Form das getarnt worden war? Ein kicherndes, albernes junges Gör hätte möglicherweise irgendeinen Erfrischungstrunk von einem Fremden in einer fremden Stadt angenommen. Das geschah sogar häufig – daher der Mädchenhandel. Aber Schwester Ponting war eine erfahrene Frau mittleren Alters gewesen, vertraut im Umgang mit Medikamenten und Giften und, wie die meisten Krankenschwestern, auch mit den Schattenseiten des Lebens. Falls nun herausgefunden wurde, daß einer der beiden auch die Gelegenheit zur Tat gehabt hatte, konnte das den einzigen Grund darstellen, den Betreffenden zu verdächtigen. Bis jetzt, so sagte Billingham zu sich selbst, war es eine verteufelte Angelegenheit. Er hörte Millies abgetretene Schuhe auf der Treppe schlappen, stand auf und ging zur Tür. In ihrer gewohnt atemlosen Art führte sie ihn in den oberen Stock hinauf und ins Schlafzimmer ihrer Tante. Billingham hatte, wie die meisten Leute in seiner Umgebung, bereits Gerüchte über Mrs. Farland gehört. Trotzdem war er ein bißchen verblüfft, als er das überhitzte, penetrant nach Parfüm riechende und allzu üppig möblierte Zimmer betrat, in dem sie lag. Ganz offensichtlich hatte sie ihren Empfang bühnenreif gestaltet. Ihr Spitzennachthemd war sorgfältig arrangiert, um den Blick auf ihre nackte weiße Schulter freizugeben, ihre Hände mit den scharlachroten Fingernägeln funkelten von Ringen, und sie lag am äußersten Bettrand, damit ein matter Sonnenstrahl, der durchs Fenster drang, auf ihr gewelltes, hennarotes Haar fiel. Sie senkte spröde die Augenlider und hob sie dann wieder schmachtend, um ihn in einer Weise anzustarren, die er nur als ›lüstern‹ bezeichnen konnte. »Ich freue mich so sehr, Sie zu sehen, Inspektor«, gurrte sie und streckte ihm die Hand in einer Weise hin, die in ihm den Eindruck erweckte, er müsse sie notgedrungen küssen. Dessen wurde er jedoch enthoben, denn Mrs. Farlands Blick fiel plötzlich auf Millie, die noch immer auf der Schwelle stand, und sie herrschte ihre Nichte an, sie beide allein zu lassen. Millie schloß die Tür hinter sich und schlappte davon. Der Inspektor ließ sich auf dem Stuhl nieder, der für ihn neben dem Bett bereitgestellt worden war. Da er sich angesichts Mrs. Farlands wippender Augenlider und ihres Lächelns, mit dem sie ihre sämtlichen Zähne entblößte, äußerst unbehaglich fühlte, kam er sofort zur Sache. »Ich habe eigentlich kein Recht, Sie zu stören, Mrs. Farland, und natürlich brauchen Sie mir nichts zu erzählen, es sei denn, Sie wünschen es…« »Aber ja«, unterbrach sie ihn. Der gurrende Unterton war aus ihrer Stimme verschwunden; sie flüsterte, vergaß den Sonnenstrahl und beugte sich zu ihm vor. Das stark geschminkte Gesicht war plötzlich hager und gespannt. »Ich werde vergiftet, Inspektor«, flüsterte sie. Billingham war ein hartgesottener Polizeibeamter, aber es lief ihm eiskalt über den Rücken, als er sie das sagen hörte. Sie war so hilflos, auf so alberne Weise eitel, und sie hatte entsetzliche Angst. »Wie kommen Sie darauf?« fragte er. »Ist das nicht offensichtlich? Bis vor ein paar Monaten war ich eine junge, aktive Frau. Warum bin ich jetzt so krank? Es gibt keinen Grund, weshalb ich so krank sein sollte.« Er fand, dies sei ein absurdes Argument. Vielleicht war die ursprüngliche Diagnose, sie sei lediglich hypochondrisch, doch richtig. »Wer, vermuten Sie, möchte Sie vergiften?« fragte er.
»John Farland – Millie Pink – Penelope Cheedle. Jeder von ihnen kann es sein – sie alle warten darauf, daß ich sterbe. Ich ändere fortgesetzt mein Testament, Inspektor«, flüsterte sie, »in der Hoffnung, daß derjenige, der mich umbringen will, seinen Plan aufgibt, wenn er erfährt, daß er nach meinem Tod nichts bekommen wird. Aber es geht mir trotzdem nicht besser.« »Sie verdächtigen also definitiv einen der drei?« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Lippen zitterten. »Nein, nein. Das möchte ich ja gar nicht. Ich möchte überhaupt niemanden verdächtigen. Aber ich weiß, es kann niemand von den Hausangestellten sein – sie haben keinen Grund, meinen Tod zu wünschen. Außerdem habe ich sie alle zwei-, dreimal gegen andere ausgetauscht, als ich anfing, Verdacht zu hegen. Und dann diese Krankenschwester…« »Was ist mit der Krankenschwester?« unterbrach sie Billingham. »Kannten Sie sie?« »Nein.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die hellroten Lippen. »Aber ich weiß jetzt über sie Bescheid. Ich habe die Zeitungen gelesen. Sie war eine Schwester, die etwas von Giften verstand. Walton und Cheedle machten es unter sich aus, sie hierherzubringen, um mein Leben zu retten. Das haben sie mir nicht gesagt, aber ich weiß, daß es so war. Und wer immer mich umbringen will, hat zuerst sie umgebracht.« Ihre verängstigten Augen starrten in die seinen, und wieder empfand er dieses seltsame Gefühl des Entsetzens. »Verstehen Sie denn nicht?« sagte sie heiser. »Wenn die Pflegerin hier hergekommen wäre, so wäre alles so viel schwieriger geworden. Es ist schrecklich, nahestehende Leute zu verdächtigen, aber da ist auch noch Penelope Cheedle. Sie möchte John heiraten, aber ich weiß, daß sie beide das Gefühl haben, von seinem geringen Einkommen nicht leben zu können. O es ist schrecklich, Inspektor – es ist schrecklich!« Sie begann zu weinen. Ungeschickt versuchte er, sie zu beschwichtigen. Sie ergriff eine seiner großen Hände und hielt sie fest, während sie sich ins Kissen zurücklegte und ihre Tränen Furchen durch die dicke Schicht Rouge auf ihren Wangen zogen. »Lassen Sie nicht zu, daß ich umgebracht werde, Inspektor«, schluchzte sie. »Ich – ich möchte nicht sterben.« »Es wird alles in Ordnung kommen«, sagte er mit rauher Stimme. »Vielleicht schicke ich jetzt besser Miß Pink herein.« Er stand hastig auf und verließ das Zimmer. Ihm war ungemütlich. Ein verrückter Haushalt, dachte er. Aller Wahrscheinlichkeit steckte hinter all dem nur Hysterie… Und doch hatte ganz zweifellos jemand Schwester Ponting ermordet. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. Was hatte Penelope Cheedle am Sonntagnachmittag getrieben? Er kannte sie vom Sehen und hatte sie immer bewundert. Ein solches Mädchen, ein unschuldiges, reizendes, schönes Geschöpf wie sie, konnte doch keinen kaltblütig geplanten Mord begehen? Aber warum nicht? Er war so in seine Gedanken versunken, daß er vergaß, Millie Pink aufzusuchen und das Haus verließ, ohne jemand zu sehen. In dem überhitzten, allzu stark nach Parfüm duftenden und allzu üppig möblierten Schlafzimmer hörte Mrs. Farland, wie er den Motor seines Wagens anließ und wegfuhr. Ein Wimmerlaut des Entsetzens drang zwischen den stark bemalten Lippen hervor. Sie preßte die Hände über ihr Herz, und ihre verängstigten Augen sandten schnelle, flüchtige Blicke in alle Ecken des Raums. Es war ein kalter, trüber Tag. Die Hitze im Zimmer ließ die Fensterscheiben sich
beschlagen, und das Licht, das hindurchdrang, wirkte grau und irgendwie leblos.
Es bildete seltsam wäßrig aussehende Schatten und gespenstische Reflexe auf
dem polierten Holz der Möbel.
Sie lag ausgestreckt im Bett, verkrampft und von schrecklicher Kälte erfüllt. Nur
ihre Augen bewegten sich, und sie schien kaum zu atmen.
Er ist weggefahren, dachte sie. Er hat mir nicht geglaubt. Jetzt werden sie es
tun. Sie werden nicht wagen, noch viel länger zu warten.
Etwas prallte gegen die Fensterscheibe, scharrte wie mit Klauen. Sie fuhr mit
einem Schrei im Bett hoch.
Es war nur eine junge Amsel, erschreckt und verwirrt durch das Glas, aber
während Mrs. Farland auf die dunklen, flatternden Flügel starrte, wallte
hysterische Angst in ihr auf, und sie schrie mit gellender Stimme nach Millie.
Das war der Todesengel – darauf beharrte ihr armes, von Panik erfaßtes Gehirn,
der Todesengel, der versuchte, zu ihr ins Zimmer einzudringen!
ANMERKUNGEN
Städtischer Parkplatz im Bahnhofsgelände von Creepe: Im Sommer voll besetzt, aber an nassen Winternachmittagen leer. Kein Parkwächter. Nicht einsehbar. Hinten mit einfachem Drahtzaun abgegrenzt, über den man leicht auf die Batt’s Lane gelangen kann. Kann unbemerkt geschehen, es sei denn, einem zufällig vorübergehenden Passanten auf der Batt’s Lane würde es auffallen. Lynn Road Weitgehend verlassen an einem regnerischen Wintersonntagnachmittag. Nicht einsehbar. Der Wachmann in den Pharmazeutischen Werken hält sich zumeist in seiner Baracke hinter den Hauptgebäuden auf. Wenn die Güterzüge vorbeigefahren sind, verschwindet das Bahnhofspersonal in den Unterkünften. Entlang der Straße gibt es keine Häuser. Ein Wagen könnte unauffällig außerhalb der Zufahrt zum Bahnhof parken. Eine schmale Schotterstraße führt vom Güterhof zu Punkt A. Von Punkt A aus führt ein vielbegangener Weg zu den Bahnsteigen. John Farlands Wohnung. Gehört einer Witwe, Mrs. Humphries. Sie hat keine Familie, und nur sie und John Farland wohnen im Haus. Sie sitzt im allgemeinen in der Küche, mit Blick aus einem Seitenfenster auf den Bahnhof. Johns Wohnzimmer befindet sich im Erdgeschoß, an der Seite der Priory Avenue, sein Schlafzimmer liegt darüber. In Miß Sayers’ Teil der Story scheint mir alles darauf hinzuweisen, daß nur Cheedle der Schuldige sein kann. Deshalb bin ich der Ansicht, man sollte das dem Urteil des Lesers überlassen, und ich habe in Umrissen ein Schema skizziert, das die mögliche Schuld John Farlands aufweist. Das kann je nach Wunsch akzeptiert oder abgelehnt werden. Es liegt auf der Hand, daß dieses Schema nicht komplett ist, und vielleicht sollte man sich einen triftigen Grund ausdenken, weshalb John seinen Wagen auf dem Parkplatz und nicht vor seinem Haus abgestellt hatte. Ich nehme einmal an, daß Folgendes geschehen ist. Natürlich braucht sich meinen Mutmaßungen sonst niemand anzuschließen. Was wirklich geschehen ist: Rechtsanwalt Walton. Walton hegt den Verdacht, daß Mrs. Farland vergiftet würde und hält Cheedle, wenngleich absolut ehrenhaft, für einen Pfuscher. Deshalb schlägt er vor, eine Pflegerin zu engagieren, wobei er die Bezeichnung ›seelische Störung‹ zur Irreführung fallen läßt. In Wirklichkeit bittet er seinen Sohn, eine Krankenschwester zu schicken, die sich mit der Wirkung von Giften auskennt. Walton, der Arzt, wählt eine Pflegerin aus, die Hauptzeugin in einem Vergiftungsprozeß in Carlisle gewesen ist. Es hatte sich dabei um Mord gehandelt, und ihre Aussage bewirkte die Verurteilung des Angeklagten. Dieser Fall war in der Serie ›Berühmte Prozesse‹ veröffentlicht worden, einschließlich eines Fotos von der Krankenschwester.
Schwester Ponting hatte Carlisle verlassen müssen, um anderswo Arbeit zu
bekommen. Ihre Geschichte ist Dr. Walton bekannt.
Er spricht mit ihr, bevor sie abreist und sagt ihr, worauf sie achten müsse.
Schwester Ponting.
Sie fühlt sich bei der Aussicht auf die Arbeit unbehaglich, wagt jedoch nicht,
Walton vor den Kopf zu stoßen, indem sie ablehnt. Sie beschließt, sich vorher
erst noch mit Cheedle zu unterhalten und kommt mit einem früheren Zug an, um
damit einen Vorwand zu haben, ihn aufzusuchen. Am Bahnhof in Creepe heuchelt
sie Überraschung, daß es keinen Anschlußzug nach Yowle gibt.
Sie sucht Cheedle auf, der ihr gerade heraus erklärt, er befürchte eine
Vergiftung. Sie unterhalten sich über die Vorsichtsmaßnahmen, die sie zu
ergreifen hat. Sie geht weg, in der Absicht, irgendwo Tee zu trinken, da Cheedle
ihr keinen angeboten hat.
Zeitplan: Sie kommt um halb drei Uhr nachmittags im Bahnhof Creepe an.
Um zwei Uhr vierzig ist sie bei Cheedle.
Um zwei Uhr fünfundfünfzig verläßt sie Cheedle.
John Farland.
Er ist Mrs. Farlands Mörder. In den Pharmazeutischen Werken hat er eine Flasche
mit Pillen präpariert, die den Herzpillen, die Mrs. Farland einnimmt, gleichen;
jeder einzelnen hat er eine unterschiedliche Dosis Arsen beigefügt. Pillen, die
unten in der Flasche liegen, enthalten eine größere Dosis. Die allmähliche
Steigerung soll den Tod herbeiführen. (Vielleicht handelt es sich auch um
mehrere Flaschen.) Es ist ihm gelungen, seine Flasche gegen die Mrs. Farlands
einzutauschen, während sie schlief. Niemand im Haus weiß etwas davon.
Da er an dem Thema interessiert ist, hat er sorgfältig alle Literatur über
Vergiftungsmethoden und Giftmordprozesse gelesen.
13.45 am Sonntag: John unterhält sich in Mrs. Farlands Haus mit Millie. 14.30 am Sonntag: Er fährt Millie nach Creepe, setzt sie vor der Kirche ab. 14.38 am Sonntag: John besucht Cheedle, verläßt ihn dann wieder. Sein Wagen ist vor Cheedles Tür geparkt. 14.39 am Sonntag: Als John wegfahren will, trifft die Krankenschwester vor Cheedles Tür ein. John erkennt sie als Schwester Pontin, weil er ihr Foto beim Studium des Falles in Carlisle gesehen hat. Er fährt aufgeregt weg. Das bedeutet, daß Walton Verdacht geschöpft hat. John erkennt, daß sein Spiel gefährdet ist. Man wird herausfinden, wer da versucht, Mrs. Farland zu vergiften, oder zumindest wird man ihr Leben retten, und er wird die fünfzehntausend Pfund verlieren, die er haben will, weil er Cheedles Tochter heiraten möchte. Er fährt mit dem Wagen in den Bahnhofsparkplatz, um nachzudenken. In einer Aufwallung wilder Panik beschließt er, die Krankenschwester umzubringen. Und danach muß irgendwie dafür gesorgt werden, daß Mrs. Farland eine größere Dosis Arsen zugeführt wird, bevor man jemand anderen engagieren kann. Er hat eine Flasche Sleepine bei sich, die er sich im Pharmazeutischen Werk beschafft hat, und die er mit sich herumträgt, damit er Selbstmord begehen kann, falls sein Mordversuch an Mrs. Farland entdeckt wird. Er schmiedet einen Plan. 14.42 am Sonntag: Er läßt seinen Wagen auf dem Parkplatz stehen, geht nach Hause und betritt lautstark sein Zimmer. Der Wirtin ruft er zu, er bliebe jetzt für
einige Zeit da, ginge jedoch zum Tee aus. Scheinbar läßt er sich in seinem Wohnzimmer nieder. In eine Tasche steckt er zwei Flaschen ›Indian Tonic‹, Gläser und eine Schachtel mit Keksen. Dann klettert er leise aus dem Fenster, eilt über das unbebaute Stück Land hinüber zum Parkplatz und zu seinem Wagen, legt die Tasche hinein, kehrt zum Marktplatz zurück und behält Cheedles Haus im Auge. 14.56 am Sonntag: Er sieht die Krankenschwester weggehen, stellt sich ihr vor und sagt ihr, er wolle zu seiner Tante hinausfahren, ob er sie nicht mitnehmen solle. Sie ist erfreut und stimmt zu. Aber vorher wolle sie noch ihr Gepäck im Bahnhof abholen. Er sagt ja, natürlich, aber vorher müsse er noch einen kurzen Abstecher in die Umgebung machen. Er führt sie zum Parkplatz. Gesehen hat sie beide niemand. 15.03 am Sonntag: Sie verlassen den Parkplatz und er fährt ungefähr neun Kilometer weit in ein verlassenes Waldstück. Dort läßt er den Motor absterben, behauptet, es sei irgend etwas nicht in Ordnung, steigt aus und zieht das Zündkabel heraus – für den Fall, daß die Pflegerin etwas von Autos verstehen sollte. Dann behauptet er, ein Stück weiter Tee und ein Abschleppseil bekommen zu können. Er bittet sie zu warten und verschwindet aus ihrem Gesichtsfeld. Nach einer Weile kehrt er zurück und sagt, Tee habe er keinen bekommen, aber ein Seil würde gleich gebracht. Dank eines glücklichen Zufalls habe er ein bißchen Tonic und Kekse von einer vorhergegangenen Fahrt bei sich – ob sie mit diesem mageren Trost vorlieb nehmen würde? 15.30 am Sonntag: Sie möchte eigentlich nichts haben, aber er überredet sie. Er schüttet eine Dosis Sleepine in den Tonic. Sie trinkt ein Glas. Dann fummelt er am Motor herum, schließt das Zündkabel wieder an. Er sagt, bis nach Creepe könnten sie mit dem Wagen zurückkommen, aber nicht bis nach Yowle. Sie fahren zurück. (15.45) 15.55 am Sonntag: Er nähert sich Creepe über die Lynn Road und hält am Zufahrtstor zum Güterhof. Der Wagen kann nicht gesehen werden. Die Krankenschwester fängt nun an, schläfrig zu werden, und als er ihr mitteilt, im Wartesaal brenne ein schönes Feuer und es sei gar nicht weit bis dorthin, läßt sie sich von ihm hinaushelfen. Sie gehen die schmale Schotterstraße entlang und am Punkt A vorbei, bis zum hinteren Bahnsteig. Die Pflegerin wird immer schläfriger. 16.15 am Sonntag: Er hat Angst, sie im Wartesaal zu lassen, also macht er eine Kabine in der Damentoilette auf und trägt sie hinein. Er steckt die Schachtel Sleepine in ihre Tasche, geht schnell zum Wagen zurück, fährt mit ihm zum Parkplatz, klettert über den Zaun und dann leise durchs Fenster in sein Wohnzimmer zurück. Dort macht er dann einigen Lärm, geht deutlich hörbar nach oben, ruft seiner Hauswirtin eine Bemerkung zu, geht hinaus, holt seinen Wagen und fährt – wie in Miß Sayers’ Teil beschrieben – zu Cheedle. 16.45 am Sonntag: Nach der Entdeckung der bewußtlosen Pflegerin fährt er Millie nach Hause. Dann, nachdem er erkennt, daß sein Versuch, Mrs. Farland zu ermorden, vereitelt werden könnte, wenn noch länger gezögert werden würde, bewerkstelligt er es irgendwie, eine Dosis Gift zurückzulassen, die Mrs. Farland am folgenden Tag eingegeben werden soll. Anmerkung: Falls sich die Frage erhebt, wieso das Tor zur Zufahrt in den Güterhof an einem Sonntagnachmittag offensteht, könnte man diese Schwierigkeit folgendermaßen beheben: a) Entweder durch ein mit irgendwelchen Bauern getroffenem Arrangement, demzufolge sie an Sonntagnachmittagen leichtverderbliche Güter anliefern können, etwas, was John weiß, und der zuständige Bahnbeamte schließt
erst, wenn er Dienstschluß hat. b) Oder daß John in seiner Eigenschaft als stellvertretender Direktor der Pharmazeutischen Werke selbst einen Schlüssel hat. Leider muß ich zugeben, daß beides nicht sehr einleuchtend ist.
DRITTER TEIL
von
Valentine Williams
Am Montagabend, dem Tag nach der Tragödie im Bahnhof von Creepe, aß Penelope Cheedle in Whitestones, Mrs. Farlands Haus, zu Abend. John Farland hätte sie dorthin gebracht, aber er hatte sich zuvor zum Besuch eines Werkskonzerts (mit Raucherlaubnis) in Creepe verpflichtet, deshalb lieh er Penelope seinen Austin und meinte zuversichtlich, er würde schon jemanden finden, der ihn nach Yowle hinausführe; jedenfalls würde er rechtzeitig in Whitestones eintreffen, um sie wieder nach Hause zu bringen. In Mrs. Farlands düsterem Speisezimmer, in dem die beim Golf gewonnenen Pokale des verstorbenen Mr. Farland auf dem gebeizten Eichenbufett schimmerten, saß Penelope zusammen mit Millie Pink bei gebackener Seezunge und Hammelhaschee, bedient von Agnes, dem ältlichen Hausmädchen, denn das Zimmermädchen hatte seinen freien Abend. Sie waren eben beim Dessert angelangt, als Schwester Cran, in Straßenkleidung, den Kopf hereinsteckte. »Ich gehe jetzt«, verkündete sie. »Heute abend scheint es ihr viel besser zu gehen. Ich habe die Wärmflasche gefüllt, und dieser geheiligte Pekinese hat auch sein Abendessen bekommen. Jemand von Ihnen braucht nur noch um zehn Uhr ihren Nachttrunk auf dem Gasbrenner aufwärmen, ihr ihre Kapsel geben, dann wird alles okay sein. Übrigens«, fuhr sie fort, »es ist nur noch eine einzige Kapsel da. Ihr Pa, Miß Cheedle, hat versprochen, eine neue Flasche zu schicken. Vielleicht sollten Sie ihn anrufen und ihn daran erinnern.« »Mein Vater ist in Cobling, bei einer Geburt«, sagte Penelope. »Er meinte, er würde wahrscheinlich erst spät nach Hause kommen.« »Dann könnte Dr. Parry vielleicht mit einer Flasche aus dem Vorratsschrank aushelfen. Vielleicht tut uns auch der Apotheker den Gefallen; eigentlich müßte er ja ein ärztliches Rezept haben, aber er hat uns auch früher schon damit versorgt, Sleepine, wissen Sie. Dabei fällt mir ein – gibts was Neues von der armen Schwester Ponting?« »Soweit ich weiß nicht«, erwiderte Millie. »Nur, daß morgen die gerichtliche Untersuchung stattfindet und ich aussagen muß. Lieber Himmel, davor ängstige ich mich so.« »Mrs. Farland war heute abend so aufgeregt darüber, schon weil ihr Bild in der Zeitung ist«, sagte Schwester Cran in vertraulichem Ton. »Ich glaube tatsächlich, es hat der armen Person richtig gut getan. Vermutlich hat sie sich wieder in die alten Tage zurückversetzt gefühlt, als ihr Bild dauernd in den Zeitungen war. Gespenstisch, möchte ich sagen. Na schön, gute Nacht allerseits.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Übrigens, sie möchte die Abendzeitung haben, sobald sie gekommen ist. Ach, da bimmelts ja schon.« Gebieterisches Klingeln ertönte vom oberen Stock herab. Millie Pink ergriff mit schuldbewußtem Gesicht die Zeitung, auf der sie gesessen hatte, und hastete die Treppe hinauf. Penelope, allein gelassen, aß ihren Apfel zu Ende und zündete sich dann eine Zigarette an. Gleich darauf klopfte jemand von außen ans Fenster. Penelope eilte hin und schob die Vorhänge beiseite. Das Fenster war oben geöffnet. »Wer ist draußen?« rief sie. Im Garten war es neblig. Eine große Gestalt ragte zwischen den immergrünen Büschen empor. »Ich bin’s, Parry«, antwortete eine gedämpfte Stimme. »Ich bringe Mrs. Farlands Kapseln.«
»Warten Sie, ich lasse Sie ein«, sagte das Mädchen.
Sie führte Dr. Parry ins Eßzimmer.
»Ich wollte nicht klingeein«, erklärte er in gedämpftem Ton. »Wenn Madame
entdeckt, daß ich einen Fuß ins Haus setze – brrr… Als ich das letztemal hier war,
kriegte sie einen Wutanfall, bloß weil ich sagte…«
Penelope lachte. »Daß ein kleiner Hauch Stalin einer Menge Leute in diesem Land
nur gut tun würde! Ich weiß. Sie räsonniert immer noch darüber.«
»Sie hat Ihrem Vater mitgeteilt, ich sei nichts anderes als ein gefährlicher
Bolschewik.«
»Na schön, das sind Sie ja auch, David, oder nicht?«
Er betrachtete sie durch seine Hornbrille. Er war ungefähr doppelt so massiv wie
sie, ein stämmiger junger Mann in Motorrad-Overall, mit dunklen Haaren,
resolutem Aussehen und leicht zynischem Gesichtsausdruck.
»Jedenfalls bin ich kein aufgeblasener Kapitalist wie John Farland«, bemerkte er,
nicht ohne Humor.
»Aufgeblasener Kapitalist! Hören Sie, Sie wissen ganz genau, daß er kaum von
dem, was er verdient, leben kann.«
»Schon gut, reden wir nicht von ihm. Ich liebe Sie, wenn Sie Blau tragen,
Penny.«
Sie machte einen kleinen Knicks vor ihm.
»Ich sehe Sie überhaupt nicht mehr allein«, brummte er in gekränkt klingendem
Ton.
Sie seufzte. »Fangen Sie schon wieder an, David?«
Er zuckte die breiten Schultern. »Okay. Hier ist das Sleepine für die liebe Tante
Emma. Ihr Vater hat mir einen Zettel hinterlassen, bevor er nach Cobling fuhr,
und mich gebeten, das Zeug unbedingt noch heute abend hierherzubringen.«
»Ja, sie hat offenbar nur noch eine Kapsel in der Flasche.«
In stillschweigendem Einverständnis traten sie hinaus in den Korridor. Penelope
begleitete den Arzt bis zum Gartentor. Draußen lehnte ein Motorrad an der Mauer
und verbreitete den Geruch heißen Metalls.
Im Licht der Scheinwerfer blickte Parry auf seine Taschenuhr. »Lieber Himmel,
ich muß mich beeilen. Man hat mich für dieses Qualmkonzert heute abend
verpflichtet, und es fängt um neun Uhr an.«
Dr. Parry, der über einen gutgeschulten Bariton verfügte, war, was lokale
Veranstaltungen betraf, sehr gesucht.
»Alle meine jungen Männer«, sagte Penelope und warf den hübschen Kopf
zurück, »scheinen heute abend das Tabaksqualmkonzert mir vorzuziehen.«
Dann, weil sie fürchtete, schon zu viel gesagt zu haben, fügte sie schnell hinzu:
»Haben Sie irgendwelche neuen Lieder im Programm?«
»Sie wissen genau, daß ich keine habe«, erwiderte er in vorwurfsvollem Ton.
»Anscheinend finden Sie überhaupt keine Zeit mehr dafür, mit mir zu proben.«
Mit einiger Heftigkeit trat er auf den Anlasser seines Motorrads. »Und Sie würden
ohnehin den heutigen Abend nicht mit mir verbringen, selbst wenn Tante Emma
keine Einwände dagegen hätte und ich nicht in ein Konzert müßte. Gute Nacht,
schöne Penny.«
»Gute Nacht, David.«
Er fuhr mit brüllendem Motor in den Nebel hinein.
Nach der feuchten Kälte draußen, war es in Mrs. Farlands Schlafzimmer über der
Veranda im ersten Stock warm und gemütlich. In einem rosa Seidennegligee saß
die Kranke, in die Kopfkissen gestützt, im Bett und strickte. Neben dem Bett saß
Millie Pink und las ihr aus der Abendzeitung vor, stotternd und sich immer wieder
verhaspelnd. Am Fußende des Betts schlummerte Li-Ho, der Pekinese, mit
leisem, asthmatischem Schnarchen in seinem Korb.
»Wer war denn da gerade an der Haustür?« fragte Mrs. Farland in barschem Ton, als Penelope eintrat. Millie Pink kicherte. »Wir sind hier nicht an abendlichen Männerbesuch gewöhnt, nicht wahr, Tantchen?« »Es war nur Dr. Parry«, erwiderte Penelope, an die Frau im Bett gewandt, ohne auf den unerwarteten Seitenhieb zu achten. »Er hat eine neue Rasche mit den Kapseln gebracht, die Vater für Sie hinterlassen hat.« »Laß die Flasche hier nicht herumstehen, Kind!« sagte Mrs. Farland in scharfem Ton, als Penelope sie auf den Nachttisch stellte. »Millie, stell sie hin, wohin sie gehört – in das Medizinschränkchen im Ankleidezimmer.« Dieser Raum, der während der zwanzig Jahre ehelichen Lebens ausschließlich die Domäne des verstorbenen Mr. Farlands gewesen war, lag neben dem Schlafzimmer. Millie ergriff die Flasche und verschwand. »Sie sehen so viel besser aus, Mrs. Farland«, sagte Penelope, ließ sich auf Millies Stuhl nieder und griff nach der Hand der Kranken. Emma Farland schniefte leicht. »Es geht so auf und ab. Wenn ich bloß wüßte, was hinter meinen Schmerzen steckt – oder wer – dann wäre mir wohler.« Ihre Stimme klang mürrisch, und sie begegnete dem offenen und freundlichen Blick des Mädchens mit einigem Ingrimm. »Du siehst heute abend nicht besonders hübsch aus, Penelope. Wo ist John?« Penelope nahm es mit einem Lächeln hin. Ihre weibliche Intuition hatte sie schon vor langer Zeit Mrs. Farlands Eifersucht auf gutaussehende Frauen erkennen lassen. »Im Konzert des Werks. Er holt mich später ab.« Mrs. Farland nickte und nahm ihre Strickerei wieder auf. »Na schön, lies du mir vor. Es handelt sich um das Interview dieses Gepäckträgers – Tadman oder wie der Trottel heißt – über den Zeitpunkt, als Schwester Ponting am Bahnhof in Creepe eintraf…« Ihre Stimme hob sich scharf. »Millie, was treibst du eigentlich die ganze Zeit dort drinnen? Du weißt, ich erlaube niemandem, mit meinen Medizinen herumzuhantieren.« Millie tauchte hastig aus dem Ankleidezimmer auf. »Ich wollte nur den Schrank ein bißchen aufräumen.« »Das ist Sache des Zimmermädchens, nicht deine. Geh ins Bett. Penelope wird mir vorlesen. Wenigstens kann sie alle Worte deutlich aussprechen.« Auf Millies Gesicht lag der Ausdruck christlicher Geduld, den sie für Mrs. Farlands Augenblicke völliger Unerträglichkeit reserviert hatte. Sie blickte die Nase entlang und preßte die Lippen zusammen. Gleichzeitig drückte sie sachte den Arm der Kranken. »Gute Nacht, Tante Emma«, murmelte sie in honigsüßem Ton und fügte, an Penelope gewandt, hinzu: »Vergiß nicht ihren Nachttrunk um zehn!« Dann ging sie auf Zehenspitzen hinaus. Auf dem Reisewecker neben dem Bett war es zehn nach neun. Penelope nahm das Vorlesen wieder auf. Die ›Evening Chronicle‹ von Haynes, ein gemäßigt linksgerichtetes Blatt, verbreitete sich angemessen über das, was als ›Geheimnis im Bahnhof‹ bezeichnet wurde. Ein Reporter war sogar nach Whitestones herausgekommen, und neben den Interviews waren auch Fotos abgedruckt, nicht nur das mit Mrs. Farland, sondern, sehr zum Ärger der Patientin, auch eines mit Millie Pink. Millie hatte ihrer Tante das alles schon vorgelesen, aber Penelope mußte es noch einmal tun. Schließlich jedoch erlahmte das Interesse Mrs. Farlands, und ihr Kopf sank nach vorn. Penelope legte die Zeitung beiseite. Es war angenehm, einfach so dazusitzen und auf die kleinen Geräusche einer ländlichen Nacht zu lauschen. Sie mußte ein bißchen eingedöst sein. Ein schwaches Geräusch im
Ankleidezimmer weckte sie – es klang wie das leise Klirren gegeneinanderstoßender Flaschen. Auf der andern Seite des Ankleideraums gab es eine Tür, die zu einem Treppenabsatz führte, an dem das Badezimmer lag und von dem aus eine Hintertreppe nach unten führte. Penelope meinte, es sei vielleicht eines der Mädchen; aber die Verbindungstür zum Schlafzimmer stand spaltbreit offen, und das Ankleidezimmer war dunkel. »Sind Sie es, Agnes?« rief sie leise, um die Frau im Bett nicht aufzuwecken. Als sie keine Antwort erhielt, stand sie auf und ging zum Ankleidezimmer hinüber. In diesem Augenblick hörte sie ein weiteres Geräusch, schwach aber unverkennbar – es war der Laut einer sich leise schließenden Tür, und zwar der auf der anderen Seite des kleinen Raums. Der Schalter befand sich innen, gleich neben der Tür. Penelope knipste das Licht an. Der Raum war leer. Alles war in Ordnung – die Mahagonikommode, der schwere Mahagonikleiderschrank, das weiße Medizinschränkchen über dem Waschbecken. Sie eilte zur anderen Tür und als sie sie aufriß, hörte sie auf der Hintertreppe das Knarren einer Stufe. Einen Augenblick lang blieb sie verängstigt stehen, erschreckt durch die gespenstisch wirkenden, vorsichtigen Schritte auf der Treppe. Sie wollte rufen und fragen, wer da sei, aber ein Instinkt hinderte sie daran. Sie raffte all ihren Mut zusammen und schlich ihrerseits die Treppe hinab. Der Korridor unten war leer, als sie dort ankam. Das Licht brannte matt, und die Schatten hatten etwas Bedrohliches. Dann hörte sie plötzlich erneut Schritte, und ihr Herz begann zu hämmern. Das Geräusch drang von draußen herein – es waren Schritte auf dem Kies. Penelope trat in das unbeleuchtete Speisezimmer und starrte durch das Fenster, wobei sie das Gesicht fast an die Scheibe preßte und mit den Händen die Augen abschirmte. Fast hätte sie aufgeschrien, und sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Vor dem Fenster war ein Mann, der geduckt vom Haus wegschlich, und obwohl es dunkel war und sie ihn nur als schwarze Silhouette wahrnehmen konnte, war er jemand, den sie so gut kannte, daß sie keinen Augenblick im Zweifel war, um wen es sich handelte. Sie starrte hinaus, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte, dann wandte sie sich ab und ging wieder die Treppe hinauf. Ihr Atem ging schwer, entsetzliche Zweifel erschütterten sie, ein gräßlicher Verdacht stieg in ihr auf – so schrecklich, daß sie ihn vor sich selbst nicht zuzugeben wagte. Als sie das Schlafzimmer wieder betrat, war Mrs. Farland inzwischen wach geworden. »Ich muß eingeschlafen sein«, bemerkte sie. »Ist jetzt nicht Zeit für meinen Nachttrunk, Kind?« Penelope warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor zehn. »Ich werde ihn aufwärmen«, sagte sie, ging zum Gaskocher am Kamin und zündete ihn an. Dann verschwand sie im Ankleideraum und öffnete das Medizinschränkchen. Die Flasche mit Sleepine stand auf dem Regal. Sie nahm die oberste Kapsel heraus und kehrte zum Krankenbett zurück. Die Flüssigkeit in der Kasserolle auf dem Gaskocher blubberte sachte vor sich hin. Die Kranke hatte die mißtrauischen Augen scharf auf das schlanke, anmutige Mädchen gerichtet, während Penelope die Kopfkissen aufschüttelte und die Steppdecke glättete. »Könntest du daran denken, Walton daran zu erinnern, daß ich ihn morgen erwarte?« fragte sie plötzlich. »Er hat es nicht vergessen, Mrs. Farland. Er kommt nach dem Lunch zu Ihnen heraus.« »Er teilt dir wohl alle seine Geheimnisse mit?« Ihre Stimme hatte einen
bösartigen Unterton. Penelope lachte. »Ganz sicher nicht, Mrs. Farland.« »Hat er dir erzählt, daß ich Millie wieder in meinem Testament berücksichtigen werde?« Das Mädchen errötete. »Sie wissen ganz genau, daß Mr. Walton nicht im Traum daran denken würde, irgend jemand so etwas mitzuteilen, noch nicht einmal seiner Privatsekretärin.« Mrs. Farland schniefte. »Ich hatte meine Zweifel bezüglich Millie und schloß sie aus dem Testament aus. Dann habe ich ihr wieder fast alles vermacht. Aber jetzt – was glaubst du«, brach es wütend aus ihr heraus, »hat sie heute abend in
meinem Medizinschrank zu suchen gehabt?«
»Sie hat ihn doch nur aufgeräumt, Mrs. Farland.«
»Das frage ich mich eben.« Mrs. Farland machte eine Pause. »Diese
merkwürdigen Schmerzen, die ich habe, dieses fortgesetzte Gefühl der Übelkeit,
das muß doch einen Grund haben.« Sie sah das Mädchen durchdringend an und
fügte dann hinzu: »Findest du es nicht auch seltsam, daß ausgerechnet Millie
Schwester Ponting gestern entdeckt hat?«
»Nein. Sie war nur einfach zufällig im Bahnhof, das ist alles.«
»Weißt du, was für eine Rolle Schwester Ponting in dem Prozeß in Heaviside
gespielt hat?«
»Natürlich. Es stand in der Zeitung.«
»Ich weiß – ich weiß. Aber weißt du auch, daß Millie aus Carlisle stammt?«
»Aus Carlisle?«
»Da, wo die Heavisides gewohnt haben. Ihr Vater ist dort Apotheker – oder war
es, bevor er bankrott machte.
Er hatte meine Schwester Ethel geheiratet – die jetzt schon seit vielen Jahren im
Grab liegt.«
Das Mädchen nahm die Hand der Kranken und streichelte sie. »Und Sie glauben,
die arme Millie – wirklich, Mrs. Farland, es ist einfach unrecht, jemandem
gegenüber solche schrecklichen Gedanken zu hegen. Wissen Sie«, fügte sie
verschmitzt hinzu, »eine Zeitlang habe ich sogar geglaubt, Sie hätten John in
Verdacht.«
»Das war seine eigene Schuld. Er macht sich nichts aus mir, nur aus dem Geld,
das er nach meinem Tod bekommen wird.«
Mrs. Farland starrte sie finster an.
»Das ist nicht wahr«, sagte Penelope hitzig. »Wenn Sie das glauben, dann
kennen Sie meinen John schlecht.« Sie zog hastig die Hand zurück.
»Schon gut, Kind«, sagte die Kranke widerwillig. »Ich gebe zu, er ist sehr viel
aufmerksamer geworden, seit er mit dir verlobt ist. Obwohl ich mich frage, was
ein Mädchen wie du bei einem jungen Mann wie John bewirken soll…«
»Ihr Nachttrunk kocht über«, sagte Penelope kurz und ging zum Kamin.
Sie brachte die Tasse ans Bett und streckte Mrs. Farland die Kapsel hin. Die
Kranke schluckte sie gehorsam und legte sich danach entspannt in die Kissen
zurück. Während sie an der heißen Flüssigkeit nippte, bemerkte sie: »Wenn ich
dann wirklich sterbe, wird es Überraschungen geben – angenehme für einige,
unangenehme für andere. Aber ich werde jetzt noch nicht sterben. Lies mir
weiter vor.«
Ein paarmal während der folgenden halben Stunde warf Penelope einen Blick
über den Zeitungsrand weg auf die Patientin, um zu sehen, ob sie noch wach
war.
Aber die scharfen Augen waren geöffnet, und es war schon fast elf Uhr, als Mrs.
Farland sie unterbrach und sagte: »Ich glaube, ich lege mich jetzt zum Schlafen
hin. Stelle die Klingel auf den Nachttisch, damit ich Millie herbeiholen kann, wenn
ich sie brauche. Gute Nacht, Kind.« Die Fenster waren oben bereits geöffnet. Das Mädchen knipste die Nachttischlampe aus und ging lautlos zur Tür. Als sie sie öffnete, stand sie von Angesicht zu Angesicht Millie gegenüber, die schnell zurückwich - Millie in einem rosa Ranellmorgenrock, das Haar in lauter kleinen Büscheln aufgedreht. »Ich wollte nur gerade nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, murmelte Millie und fügte hinzu: »John ist noch nicht da. Komm und setz dich in mein Zimmer, so lange du wartest.« Sie führte Penelope die Treppe hinab, in ihr kahles und zugiges Schlafzimmer neben dem Glashaus. Das Gasfeuer brannte, und die beiden setzten sich davor. »Was hat sie da vorhin über mich gesagt?« wollte Millie mit leicht gepreßter Stimme wissen. Penelope hob gleichmütig eine Schulter. »Gibt es da nicht so ein Sprichwort, über den Lauscher an der Wand?« Millie wurde knallrot. »Ich habe nicht gelauscht. Zufällig bin ich auf dem Rückweg vom Bad oben vorbeigekommen und hörte, wie sie meinen Namen nannte.« Sie brach ab und sagte bedrückt: »Heißt das, das sie mich wieder aus ihrem Testament streichen will?« »Leider weiß ich darüber gar nichts«, war die recht kühle Antwort. Millie nickte düster und wärmte sich die Hände am Feuer. »Das heißt, du bist nicht interessiert. Na ja, warum auch? Wenn sie stirbt, kommt John zu Geld, und du wirst ihn heiraten.« Sie hielt inne und hob den Kopf. »Da kommt John.« Auf dem Kies draußen war das Knirschen von Autoreifen zu hören. Dann ertönte Johns fröhliches: »Danke fürs Herbringen, Harry!« und eine andere Stimme, die erwiderte: »Gute Nacht, Alter!« Penelope rannte die Treppe hinab. John schloß soeben mit seinem Schlüssel die Haustür auf. Er zog das Mädchen mit Schwung an sich, küßte es lang und zärtlich auf den Mund. »Du bist früh dran, was?« sagte sie. »Harry Keats aus Yowle hat mich hergebracht. Wie gehts Tante Emma heute abend?« »Wesentlich besser, sie schläft.« »Gut. Dann wollen wir mal ins Eßzimmer gehen und nachsehen, ob Agnes mir ein Sandwich hinterlassen hat. Ich könnte auch was zu trinken vertragen – ich bin ganz starr vor Kälte.« Auf dem Büfett lagen Sandwiches unter einer Serviette. Penelope lehnte Whisky ab, ließ sich jedoch ein Glas Ingwerbier einschenken. John machte sich einen Whisky-Soda zurecht und trug es dorthin, wo sie es sich bequem gemacht hatte – auf der gepolsterten Bank, die das inzwischen heruntergebrannte Feuer im Kamin umgab. Ohne getrunken zu haben, stellte er sein Glas auf das Kaminsims und breitete die Arme aus. Sie gab sich beglückt seiner Umarmung hin. Fast ehrfürchtig bedeckte er ihren Handrücken und ihren Arm mit kleinen Küssen, bis hinauf zu den kleinen goldblonden Locken, die sich in ihrem weißen Nacken ringelten. »Liebes«, murmelte er, »ich komme um vor Sehnsucht, wenn ich nicht bei dir bin. Sag mir, daß es dir ebenso geht.« »Du weißt genau, daß es so ist«, sagte sie ernsthaft und lehnte sich in seinen Armen zurück, das Gesicht zu seinem erhoben. Sie mochte alles an diesem Mann, sagte sie zu sich selbst, das frische dunkle Haar, seine weißen Zähne, wenn er lächelte, die Spannkraft und Vitalität, die er ausströmte, die Zärtlichkeit in seiner Stimme wenn sie, wie jetzt, allein miteinander waren. Voller Eifer küßte sie ihn wieder. »Magst du mich ein bißchen?« murmelte er, als sie mit einem befriedigten
Seufzer den goldblonden Kopf an seiner Brust barg.
»Unbändig.«
»Möchtest du mich immer noch heiraten?«
»Ich zähle die Tage bis dahin.«
Er nickte eine Spur düster. »Mir geht es genau so. Arme Tante Emma, ich
glaube, das ist ihr bewußt. Deshalb ist sie ja auch überzeugt, daß ich sie um die
Ecke bringen will.«
Penelope seufzte. »Ist es nicht schrecklich, daß wir bis zu ihrem Tod warten
müssen, bevor wir wirklich glücklich sein können! – Himmel – da klingelt sie
schon wieder!«
Vom oberen Stockwerk herab erschütterte das Schrillen der elektrischen Klingel
die Stille um sie her.
»Laß Millie zu ihr gehen«, sagte er. »Ich habe dich fast eine Woche lang nicht
gesehen – warum willst du jetzt wegstürzen?« Er sah sie stirnrunzelnd an. »Dein
Freund, Dr. Parry, war heute abend hier, nicht wahr?«
»Er hat Mrs. Farlands Kapseln gebracht.«
Er nickte düster. »Er hat mir beim Konzert erzählt, daß er dich gesehen hat. Ist
dir der Kerl wieder auf die Pelle gerückt?«
»Er weiß, daß das alles aus und vorbei ist. Es ist ganz idiotisch von dir, auf David
eifersüchtig zu sein, John.«
Er zuckte mürrisch die Schultern. »Ich bin nicht eifersüchtig – ich habe nur was
gegen den Burschen, das ist alles. Und er haßt mich. Er haßt mich seit damals,
als wir ihn im Konservativen Club als eingefleischten Bolschewiken
hinausgeworfen haben.«
Sie seufzte. »David ist ganz okay, und die Kassenpatienten beten ihn an. Er
redet nur gelegentlich Blödsinn, das ist alles.« Sie wechselte das Thema. »Mrs.
Farland ist heute abend wieder über Millie hergezogen. Sie ist mehr denn je
davon überzeugt, daß ihre Nichte sie zu vergiften versucht, nur weil es Millie war,
die Schwester Ponting gestern gefunden hat.«
Er wiegte den Kopf scharfsinnig hin und her. »Es wirkt tatsächlich ein bißchen
merkwürdig. Wenn an dieser Idee von Tante Emma was dran ist, hätte niemand
anderer als Millie so viele Gelegenheiten gehabt, sie abzumurksen. Schließlich ist
sie es, die Tante Emma kontinuierlich pflegt, ihr ihre Medizinen gibt und so
weiter. Wenn Millie wirklich was im Schilde führt, so kann ihr der Gedanke an
eine gutgeschulte Krankenschwester wie diese Miß Ponting nicht sehr angenehm
gewesen sein. Und eine Giftexpertin war sie auch noch, was das betrifft. Und,
weißt du, Pen, Millie haßt Tante Emma! Das ist nicht überraschend, angesichts
der Art, wie meine Tante sie behandelt und ewig mit Enterbung droht. Ich frage
mich, was Millie sagen würde, wenn sie wüßte, daß Walton morgen
hierherkommt, um sie wieder mal aus dem Testament auszuschließen.«
Das Mädchen sah einigermaßen besorgt drein. »Um Himmels willen, John,
verrate Mrs. Farland nicht, daß ich es dir gesagt habe. Wenn Mr. Walton wüßte,
daß ich außerhalb der Kanzlei geplaudert habe, würde er mich auf der Stelle
hinauswerfen.«
»Schon gut. Ich werde dich nicht verraten«, sagte John.
Penelope lächelte ihn seltsam an.
»Du redest von diesem Haß zwischen Millie und Tante Emma, aber ist dir nie
klargeworden, daß Tante Emma auch für mich nicht viel übrig hat?«
»Das ist so ihre Art«, erwiderte John unbehaglich. »Ganz sicher haßt sie dich
nicht. Wer könnte das schon?«
»Da bin ich nicht so sicher, John. Weißt du…«
Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als die Tür plötzlich heftig aufflog. Millie
stand da, in ihrem rosa Morgenrock, atemlos, am Rand der Hysterie.
»Tante Emma…«, keuchte sie, »sie hat wieder einen ihrer Anfälle, den schlimmsten, den ich bisher erlebt habe. Es war ihr entsetzlich übel. Wir holen besser deinen Vater, Penelope.« Ein langgezogener Jammerschrei durchdrang die Stille des Speisezimmers. »O mein Gott!« schrie Millie. John Farland sprang auf und rannte hinaus; die beiden Frauen folgten ihm. Die Kranke warf sich im Bett hin und her, die Hände auf den Magen gepreßt. Sie stöhnte mitleiderregend. Von Zeit zu Zeit wurde ihr Stöhnen zu schrillem, entsetzlichem Kreischen. Ihr Gesicht, das vor Schweiß glänzte, war lehmfarben, die Augen geschlossen, der Mund verzerrt. Sie war kaum noch bei Bewußtsein und als Farland sie ansprach, achtete sie nicht darauf, sondern stöhnte nur und wälzte sich im Bett herum. »Ich habe ihr den Rest ihres Nachttrunks gegeben und eine weitere Kapsel«, erklärte Millie. »Aber, du meine Güte, das arme Ding scheint überhaupt nichts mehr bei sich behalten zu können. Vorher haben die Kapseln im allgemeinen genützt. Sie darf bis zu drei nehmen – vielleicht ist es das Beste, ihr die dritte zu geben. Wir könnten sie in einem Löffel mit Brandy auflösen.« Die neue Flasche Sleepine stand, frisch geöffnet, auf dem Nachttisch. Penelope schüttelte eine der Kapseln heraus, während Millie in den Ankleideraum rannte, um Brandy zu holen. »Ich werde deinen Vater anrufen«, sagte John zu Penelope. »Wenn er noch nicht aus Cobling zurück ist, wirst du ihn kaum erreichen«, sagte das Mädchen. »Die Morrisons, bei denen er ist, haben kein Telefon. Wenn Daddy nicht zu Hause ist, rufst du besser Dr. Parry an. Er hat Telefon – Creepe 117.« Der junge Mann nickte und eilte davon. Penelope rannte hinter ihm drein, bis zur Treppe. »Wenn du telefoniert hast, dann nimm den Wagen und hole Schwester Cran!« rief sie. »Du weißt doch, wo sie wohnt!« »Gut.« Er winkte mit der Hand und verschwand unter der Treppe, wo das Telefon stand. Die Schreie der Kranken hatten das ganze Haus geweckt. Agnes tauchte auf, einen Regenmantel über dem Nachthemd, und Mrs. Burch, die Köchin, hatte sich in einen Schal gehüllt und trug Papierlockenwickler. Ein weiterer Anfall heftiger Übelkeit schüttelte die Kranke, als Penelope ins Schlafzimmer zurückkehrte. Schließlich, als Mrs. Farland erschöpft wieder in den Kissen lag, hob sie den verängstigten Blick zu Penelope, die sich über sie beugte. »Ich habe das Gefühl, als ob ich in Flammen stünde«, stöhnte sie schwach. »Mein ganzes Inneres brennt.« Sie begann erneut zu schreien. Millie, die feststellte, daß die Füße der Patientin eiskalt waren, wies Agnes an, die Wärmflasche erneut mit heißem Wasser zu füllen. Mrs. Farlands Gesicht bekam einen verkniffenen Ausdruck, und die scharfen Augen waren, als sie nach einer Weile Penelope anblickte, trübe und leblos. »Diese Schwäche«, keuchte sie. »Ich glaube – ich werde – sterben.« Ihr Kopf fiel auf die Brust. So fand Schwester Cran, als sie rund zwanzig Minuten später in Gummistiefeln und einem schäbigen Mantel ins Zimmer geeilt kam, sie vor. Dr. Cheedle sei noch immer fort, flüsterte John Farland, der zusammen mit der Krankenschwester erschien, Penelope zu, aber Dr. Parry sei unterwegs nach Whitestones. Beim Anblick der Patientin veränderte sich Schwester Crans Gesicht. Sie tastete nach dem Puls und wies Millie brüsk an, heißen Kaffee zu beschaffen. Der Kaffee war noch nicht eingetroffen und die Kranke, die aufgehört hatte zu stöhnen und sich herumzuwerfen, lag röchelnd im Koma, als das Geknatter eines Motorrads draußen hörbar wurde. David Parry, den Overall mit Schmutz
bespritzt, kam herein. »Tut mir leid, daß es so lang gedauert hat«, sagte er, »aber ich hatte kein Benzin mehr.« Er beugte sich kurz über das Bett, dann wandte er sich dem Stuhl zu, auf den er seine Tasche gestellt hatte, suchte eine Injektionsspritze heraus und begann sie zu füllen. »Sie ist sehr schwach«, sagte er dabei zu John Farland, der neben ihm stand. Dann näherte er sich dem Bett und machte die Injektion, um sich anschließend einen Stuhl heranzuziehen und niederzusetzen, um die Wirkung zu beobachten. In der ländlichen Stille der Nacht schlug irgendwo eine Turmuhr zwölfmal. Es war die der Kirche von Yowle. Mitternacht. John Farland und Penelope standen, einander bei den Händen haltend, am Fußende des Betts, Millie Pink war neben ihnen, Schwester Cran hinter ihr. »Wie hat dieser Anfall angefangen?« wollte Dr. Parry wissen. Er wandte sich an niemand Besonderen, sprach über die Schulter. Millie antwortete. Sie erzählte, daß sie, als sie auf Mrs. Farlands Klingeln hin hinaufgeeilt war, die Patientin unruhig und erregt angetroffen und daß sie sich über Durst, brennende Schmerzen und heftige Übelkeit beklagt habe. Sie, Millie, habe ihr dann eine zweite Kapsel Sleepine gegeben. Dr. Parry nahm die Flasche mit dem Mittel vom Nachttisch. »Es ist eine neue Flasche, wie? Die, die ich heute abend gebracht habe?« »Ja, Doktor«, antwortete Millie. »Ich habe ihr mit ihrem Nachttrunk um zehn Uhr eine der Kapseln gegeben«, erklärte Penelope. »Dr. Cheedle hat gesagt, sie könne bis zu drei Kapseln nehmen, wenn sie irgendwann unruhig würde und Schmerzen hätte«, warf Millie ein. »Penelope und ich haben ihr die dritte in einem Löffel voll Brandy eingegeben, bevor Schwester Cran eingetroffen ist. Aber das scheint alles nur schlimmer gemacht zu haben.« Der Arzt runzelte die Stirn, beugte sich vor und hob das eine Augenlid der Kranken an. »Wie ich befürchtet habe, sie ist kollabiert«, sagte er kopfschüttelnd. »Sie reagiert auf keinerlei Stimulans mehr.« Draußen quietschten die Bremsen eines Wagens, Reifen mahlten im Kies unterhalb des Fensters. Die Klingel an der Haustür schrillte. Gleich darauf führte Agnes Dr. Cheedle herein. Er sah zutiefst erschöpft aus. »Ah, John«, sagte er müde, »ich habe Ihre Nachricht gefunden, als ich heimkam.« Dr. Parry stand über das Bett gebeugt da. Er richtete sich auf und sah seinen Partner an, als sich Cheedle dem Bett näherte. »Es tut mir leid«, sagte er mit einem Schulterzucken und trat beiseite. »Sie ist im Augenblick Ihres Eintreffens gestorben.« Der Ältere gab einen Laut des Erschreckens von sich, schob sich hastig an ihm vorbei und nahm schweigend eine schnelle Untersuchung vor. Dr. Parry starrte auf die Flasche mit den Sleepine-Kapseln, die er in Händen hielt. »Das ist nicht die Flasche, die ich heute abend hier herausgebracht habe!« rief er. Dr. Cheedle nahm sie ihm weg. »Mein lieber Junge, Sie wissen nicht, was Sie da reden. Das ist doch die Flasche, die ich Ihnen hinterlassen habe, und der Name des Herstellers ist auch darauf.« Der andere schüttelte eigensinnig den Kopf. »Die Flasche, die ich gebracht habe, hatte einen kleinen Sprung auf der Innenseite des Halses. Ich erinnere mich, daß mir das auffiel und daß ich mich fragte, ob ich sie auswechseln sollte, für den Fall, daß sich ein Glassplitter mit den Kapseln vermischt hätte.« Er schob das Kinn vor. »Das ist nicht die Flasche, die ich Penelope gegeben habe, Cheedle – eindeutig nicht!«
NOTIZEN
Ich bin von Bewunderung erfüllt über die Geschicklichkeit, mit der Miß Dorothy Sayers den Grundstein zur Story gelegt und über die Gewandtheit, mit der Mr. Freeman Wills Crofts den Faden weitergesponnen hat. Mir sagt der Gedanke nur, daß John Farland als falscher Held in Wirklichkeit der Mörder ist und habe in toto Freeman Wills Crofts’ Schema übernommen, demzufolge Farland es fertiggebracht hat, Schwester Ponting umzubringen. Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, daß D. S. und F. W. C. mich als Lieferanten von Teil III mit zwei Morden konfrontiert haben. So wie ich die beiden Fortsetzungen vor der meinen auslege, wurde a) Mrs. Farland durch Arsen vergiftet, und ist b) derjenige, der sie vergiftet hat, auch der Mörder von Schwester Ponting. Da in der Geschichte besonders auf Mrs. Farlands Vergiftung hingewiesen wird, habe ich den Eindruck, daß es sich hier um das primäre Verbrechen und bei der Ermordung von Schwester Ponting um das sekundäre dreht. Ich sehe John Farlands modus operandi (was Tante Emmas Vergiftung betrifft) folgendermaßen: Wenn er seine Flasche mit Sleepine-Kapseln, die mit Arsen versetzt wurden, auf Dauer im Medizinschrank gelassen hätte (Siehe F. W. C.s Notizen – John Farland), so würde das bedeuten, daß Tante Emma jedesmal, wenn sie eine Kapsel nahm, einen Anfall von variierender Heftigkeit bekommen mußte. Meine Vorstellung ist die, daß John Farland von Zeit zu Zeit bei seinen jeweiligen Besuchen in Whitestones seine Rasche mit vergifteten Kapseln gegen die mit den echten eintauscht und dann, wenn die Patientin ihren Nachttrunk nimmt, die Giftflasche durch die mit dem reinen Sleepine ersetzt, um geschützt zu sein, falls der Inhalt der Flasche chemisch untersucht wird. 6. Trotzdem, in der Woche vor Mrs. Farlands Tod, also in der ersten Januarwoche
– siehe Sayers, – ist er darauf aus, die Lady vollends zu erledigen, und so
hinterläßt er die Flasche mit den mit Arsen versetzten Kapseln – wie F. W. C.
andeutet, mit der schwersten Dosis im unteren Teil – im Medizinschrank. Ganz
bewußt bleibt er Whitestones fern und so weiß er nichts davon, daß Mrs. Farland
zwei oder sogar drei Kapseln täglich genommen hat statt der gewohnten einen,
und daß seine mit Gift versetzte Hasche bis auf eine Kapsel leer ist. Man könnte
hinzufügen, daß ein oder zwei Tage vor der Nacht ihres Todes Mrs. Farland sich
geweigert hat, ihr Sleepine zu nehmen, was die Besserung ihres Zustandes am
Tag vorher erklären würde.
7. Erst am Tag des Konzerts (mit Raucherlaubnis) erfährt John Farland von Dr.
Parry, daß a) nur mehr eine Kapsel in der Giftflasche ist, und daß b) Parry
soeben eine neue (einwandfreie) Flasche nach Whitestones hinausgebracht hat.
John Farland hat damit gerechnet, daß die Giftkapseln, die er hinterlassen hatte,
ausreichen würden, ihren Zweck zu erfüllen und daß er Millie Pink die Schuld in
die Schuhe schieben könne, nachdem er von Penelope erfahren hat, daß Mrs.
Farland im Begriff gewesen war, ihre Nichte wieder aus dem Testament
auszuschließen.
Penelope hat Mrs. Farland gegenüber zwar bestritten, irgend etwas von Mr.
Waltons beruflichen Angelegenheiten zu wissen. Aber sie ist seine Sekretärin und
sie weiß auch von seiner Verabredung mit Mrs. Farland am folgenden Tag, und auch, welchem Zweck sie dienen sollte. Sie hat John davon erzählt, als die beiden sich am Montagabend für ein paar Minuten getroffen haben und er sich bereit erklärt hat, ihr seinen Austin für die Fahrt nach Whitestones hinaus zu leihen. 8. Bei dem Konzert wird Farland bewußt, daß sein Vorhaben gefährdet ist – je früher er Mrs. Farland erledigen kann, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Millie verdächtigt wird. Er hat keinen Wagen, und Whitestones ist rund fünfzehn Kilometer entfernt. Deshalb nimmt John heimlich, während Parry auf seinen Auftritt im Konzert wartet, dessen Motorrad, das vor der Halle draußen steht, fährt schnell nach Whitestone hinaus, tauscht die volle Flasche Sleepine, die Parry dort hinterlassen hat, gegen eine neue aus und kehrt hinterher zum Konzert zurück.
ZEITPLAN
Parry verläßt Whitestones, nachdem er dort die Flasche mit Sleepine abgegeben hat, Trifft im Konzert in Creepe ein John verläßt das Konzert auf Parrys Motorrad Trifft in Whitestones ein Verläßt Whitestones Kommt im Konzert an Verläßt das Konzert mit Harry Keats, der ihn nach Whitestones fährt, Trifft in Whitestones ein
um 21.00 Uhr um 21.25 Uhr um um um um
21.30 21.45 21.50 22.05
Uhr Uhr Uhr Uhr
um 22.05 Uhr um 23.45 Uhr
9. Es ist Farland, den Penelope gegen 21.45 Uhr im Ankleideraum mit den Flaschen hantieren hört. 10. Es war Johns Absicht, die Flasche mit dem Gift, sobald die präparierten Kapseln einmal verabreicht worden sind, durch die echte zu ersetzen, die er in seiner Tasche hat. Aber im letzten Augenblick zögert er, weil er begreift, was für eine perfekte Möglichkeit besteht, Millie Pink die Schuld in die Schuhe zu schieben, und bevor er sich entscheiden kann, was er tun soll, ist Dr. Parry eingetroffen und hat die Flasche mit dem Gift an sich genommen. 11. Ich habe den Eindruck, daß Inspektor Billingham im Verlauf seiner Ermittlungen im Mordfall der Schwester Ponting zu dem Ergebnis kommen wird, daß der Mörder der Krankenschwester und der Mrs. Farlands ein- und dieselbe Person sei, und daß, wenn er erst einmal einleuchtende Hinweise auf Mrs. Farlands Mörder hat, alle Komponenten dieser Ermittlungen im Fall Ponting sich wie ein Puzzle zusammenfügen werden. ALLGEMEINE BETRACHTUNGEN A. Nachdem ich mich nun einmal rückhaltlos mit F. W. C.s Wahl von John Farland als dem Mörder sowohl von Schwester Ponting als auch von Tante Emma einverstanden erklärt habe, habe ich nicht das Gefühl, daß Farland die erforderliche Sympathie als Liebhaber hervorrufen kann, und ebensowenig sehe ich da Chancen für P. C. Bratton (Siehe Miß Sayers Notizen, Nr. VII) Ich habe deswegen damit begonnen, Dr. Cheedles Partner, Dr. David Parry als mögliches Ziel von Penelopes Liebesbedürfnis aufzubauen – ein strebsamer junger Arzt von irgendeiner Provinzuniversität, redlich, besessen von heftiger Entrüstung über die Notlage der Armen und von tiefster Liebe zu dem Mädchen erfüllt. Ich sehe ihn – nach einer Periode, in der er von Inspektor Billingham verdächtigt wird – seinen gesunden Menschenverstand und seine wissenschaftlichen Kenntnisse besagtem Inspektor zur Verfügung stellen, um den tatsächlichen Mörder zu entlarven. B. Um Penelope stärker in den Plot mit einzubeziehen, habe ich sie zur Privatsekretärin von Walton, dem Anwalt, gemacht. Meiner Ansicht nach birgt das gewisse Vorteile in sich, a) Bildet sie dadurch eine direkte Verbindung für John zur Walton’schen Kanzlei und auch zu Tante Emmas Absichten bezüglich ihres Testaments. Zudem erfährt John von ihr von Waltons Vorschlag, Schwester
Ponting zu engagieren, und auch von der Verbindung der Pflegerin zum Fall Heavisides. Penelope schreibt ihm täglich und läßt ihm diese Information in einem Brief zukommen, den sie einem Boten am Samstagnachmittag mitgibt, b) Es geht daraus hervor, daß Dr. Cheedle finanziell nicht sonderlich gut steht, und daß Penelopes Heirat mit John und Tante Emmas Tod ihn möglicherweise aus beträchtlichen Geldschwierigkeiten (Schulden?) herausretten könnte. Mein Teil der Story schließt mit dem Tod Mrs. Farlands und Dr. Parrys bündiger Aussage, daß die Sleepine-Flasche ausgetauscht worden sei. Was Parrys Aufmerksamkeit auf die Flasche gelenkt hat, waren die offenkundigen Anzeichen von Arsenvergiftung bei Mrs. Farland. Wer also hat die Flasche umgetauscht? DIE VERDÄCHTIGEN Millie Pink. a) Sie haßt Mrs. Farland. b) Sie fürchtet, erneut aus dem Testament ausgeschlossen zu werden, c) Penelope hört, kurz nachdem Millie zu Bett geschickt wurde, jemand am Medizinschränkchen im Ankleidezimmer herumhantieren, d) Penelope hat Millie beim Lauschen an der Tür ertappt, e) Millie stammt aus Carlisle, der Szene des Heavisides-Prozesses (Schwester Ponting). f) Millies Vater ist Apotheker, was den Schluß zuläßt, daß er möglicherweise irgendwie in den Fall Heavisides verwickelt war und daß zudem Millie vielleicht insgeheim Zugang zu Drogen und Giften hatte, g) Millie hat die sterbende Schwester Ponting im Bahnhof von Creepe entdeckt. Dr. Parry. Er haßt angeblich John Farland, der mit dafür verantwortlich ist, daß er aus einem Club ausgeschlossen wurde, und zudem ist bekannt, daß John in Mrs. Farlands Testament als Haupterbe eingesetzt ist. Hat Parry die Flasche mit den vergifteten Kapseln hinterlassen, als er um 21.00 Uhr kam, und später, um jeden Verdacht von sich abzulenken, behauptet, die Flasche sei vertauscht worden? War es Parry, den Penelope vom Haus wegschleichen sah, nachdem sie jemand im Ankleideraum hatte herumhantieren hören? Penelope Ist sie Johns Komplizin oder die ihres Vaters? Sie war diejenige, die Mrs. Farland die Kapsel verabreichte, welche deren Anfall hervorrief. Sie kannte Schwester Pontings Vergangenheit. War sie am Sonntagnachmittag wirklich von zu Hause weggewesen? Ich hatte nicht den Spielraum, um Miß Sayers vagen Verdacht gegen Dr. Cheedle weiterzuentwickeln; aber wenn er tatsächlich in finanziellen Schwierigkeiten steckt, könnte seine Tochter in den Verdacht geraten, auf seine Anweisung hin die vergiftete Flasche Sleepine mit nach Whitestones gebracht zu haben, um sie gegen die von Parry gelieferte auszutauschen. John Farland
Er konnte im Haus ein- und ausgehen, hatte auch einen Schlüssel. Fiel seine mögliche Abwesenheit beim Konzert zwischen 21.30 Uhr und 22.05 Uhr auf? Entsprach die nasse Erde an den Reifen seines Austin der des Schmutzes aus dem ›verlassenen Waldstück‹ (Siehe F. W C.s Notizen unter ›John Farland‹.) Warum ist Dr. Parry bei seiner zweiten Fahrt mit dem Motorrad, hinaus nach Whitestones, das Benzin ausgegangen? Antwort: Er hatte beim Tanken nicht mit den zusätzlichen dreißig Kilometern rechnen können, die John Farland auf seinem heimlich benutzten Motorrad zurückgelegt hatte – dieser Punkt ist vielleicht wichtig, um Farland letzten Endes doch des Mordes überführen zu können.
VIERTER TEIL
von
F. Tennyson Jesse
Die blasse Morgendämmerung erheiterte die Atmosphäre in Whitestones nicht. Die Lorbeerbäume, die schon in ihren besten Zeiten etwas Bedrückendes hatten, waren dunkel vor Feuchtigkeit. Die altmodischen rot und weiß gestreiften Jalousien, die über jedem einzelnen Fenster heruntergelassen waren, erweckten bei dem massiven viktorianischen Haus den unangemessenen Eindruck, als sei es mit gigantischen Zuckerstangen geschmückt. Das einzige äußerlich erkennbare Zeichen für Leben war der Rauch, der träge aus dem Küchenkamin quoll, denn die Lebenden müssen essen, ganz gleich, wer sonst tot daliegt. Penelope war nicht nach Hause gefahren. Die Bediensteten hielten sich mit einem Gefühl wohliger Erregung in der Küche auf – ein Tod im Haus hat immer etwas Anregendes, und dann vielleicht auch noch ein Mord… Mord! Allein das Wort hat einen Klang, der einem einen nicht ganz unangenehmen Entsetzensschauder über den Rücken jagt. »Vielleicht ist demnächst jemand von uns an der Reihe«, sagte die alte Agnes düster, während sie darauf wartete, daß die Köchin den Morgentee fertig zubereitete. »Wenn man bedenkt, was hier vorgeht!« »Na ja, ich habe immer und immer wieder gesagt, die Doktoren gehen mit ihren scheußlichen Medizinen zu leichtsinnig um«, äußerte die Köchin. »Ist ja klar, daß da von Zeit zu Zeit was passiert. Und du wirst sehen, Agnes, es wird sich rausstellen, daß es genau das war – ein Unfall. Wer hätte sie denn um die Ecke bringen wollen?« »Ich bin immer bei wirklich feinen Leuten gewesen. Daß so was im Haus passiert, daran bin ich nicht gewöhnt«, sagte Florence. »Meine Mam wird schrecklich aufgeregt sein, wenn sie’s erfährt.« »Da gibt’s andere, die sich noch viel mehr aufregen werden«, prophezeite Agnes, nach wie vor in sybillinischer Stimmung. »Schließlich, wenn jemand auf unnatürliche Weise stirbt – und unnatürlich war’s, Köchin, sag was du willst – da muß jemand die Hand im Spiel haben.« »Na, jedenfalls bin ich sicher, daß es nicht Mr. John war!« rief Florence, auf die die angenehmen Manieren und das gute Aussehen des jungen Mannes Eindruck gemacht hatte. »Und Miß Millie auch nicht. Die hätte gar nicht den Mumm dazu«, sagte die Köchin energisch. »Vielleicht hat sie das Zeug überhaupt selbst genommen, nur um nen gewaltigen Wirbel zu veranstalten«, sagte Edie, das Küchenmädchen. »Hör mal, Edie«, sagte die Köchin in scharfem Ton, verärgert über diese Meinungsäußerung von Seiten einer Untergebenen, »hast du nichts anderes zu tun als hier rumzusitzen? Trag Mr. Johns Tablett nach oben.« »Ich bringe es hinauf«, sagte Florence. »Sie kann das von Miß Millie nehmen. Übrigens, wo ist eigentlich Miß Penelope? Sie ist doch nicht nach Hause gefahren, oder?« »Sie ist im Speisezimmer und wartet auf ihr Frühstück«, sagte die Köchin, in der angenehmen Situation, von allen in der Küche Anwesenden am meisten zu wissen. »Sie hat einen gesegneten Appetit und sie sieht so frisch aus wie ein Gänseblümchen. Ich werde ihr Eier mit Speck machen.« Und gleich darauf stieg dieser angenehmste aller häuslichen Düfte, nämlich der nach gebratenem Schinkenspeck, in die Luft. Penelope hatte in der Tat Appetit aufs Frühstück. Es war eine entnervende Nacht gewesen. Ihr Vater und Dr. Parry hatten das Zimmer, in dem die tote Mrs.
Farland lag, verschlossen und den Schlüssel mitgenommen. Jeden Augenblick konnte Inspektor Billingham, der mit seinen vorläufigen Ermittlungen bezüglich der Vorgänge in der vergangenen Nacht begonnen hatte, wieder zurückkehren um sie, Millie, John, die beiden Ärzte, ja sogar die Hausangestellten zu vernehmen. Es lag, das spürte Penelope, so wie die Dinge waren, bereits der Verdacht in der Luft, daß John Farland oder Millie etwas mit dem Tod ihrer so irritierenden Tante zu tun hatten – auch wenn noch nichts dergleichen ausgesprochen worden war. Immerhin war allgemein bekannt, daß John ihr Erbe war, und es kursierte der Klatsch, daß sie beabsichtigt hatte, ihr Testament zu ändern. Die Köchin, die eigenhändig Eier und Speck brachte, hielt Mr. John für einen Glückspilz, selbst wenn einer der Ärzte (und einer davon war auch noch der eigene Vater des Mädchens) irrtümlicherweise ein falsches Rezept aufgeschrieben haben sollte. Ja, das war ein Mädchen! Penelope blickte auf und lächelte, als ihr die alte Frau Kaffee einschenkte und die Eier mit Speck vor sie hinstellte. »Ach, Sie sind ein Engel«, sagte Penelope. »Ich bin so hungrig. Ja, genau so wie bei einer Beerdigung, wenn man aus irgendeinem verrückten Grund einfach nicht aufhören kann zu essen.« »Ich hatte ne Schwester, die war auch so. Aber sie war da komisch. Ihr sei, was das Essen angeht, jede Beerdigung lieber als ne Hochzeit, hat sie immer gesagt.« »Wahrscheinlich sind es die Nerven«, sagte Penelope. »Aber irgendwie wirkt das schrecklich unanständig. Eigentlich sollte ich nicht so darauf los essen.« »Essen Sie, Schätzchen«, sagte die Köchin. »Jemand muß seine Kräfte beisammenhalten. Miß Millie wird nicht zu viel nütze sein.« »Nein. Arme Millie«, sagte Penelope nachdenklich. »Aber Ihnen vielen Dank. Ich esse, so schnell ich kann. Wahrscheinlich wird man uns demnächst eine Menge Fragen stellen.« Die Köchin verstand den Wink und kehrte in die Küche zurück. Als Penelope am Ende ihres Frühstücks angelangt war, kam John ins Zimmer. Er sah ein bißchen besser aus als in der Nacht zuvor, denn er hatte gebadet und sich rasiert, aber er wirkte noch sehr verstört. Penelope blickte zu ihm auf und lachte auf die herrlich unbefangene Art, die ihn immer wieder entzückte. »Liebster, ich weiß, was du denkst«, sagte sie. »Nämlich, daß es ausgesprochen unanständig von mir ist, zu essen, aber ich war so hungrig! Hast du überhaupt was im Magen?« »Ein bißchen Tee. Ich bringe nichts hinunter«, sagte John. »O Penelope, dem Himmel sei Dank für Menschen wie du. Es gibt einfach niemand auf der ganzen Welt so wie dich. Millie ist nur noch ein schluchzender Jammerhaufen, und in meinem Kopf herrscht ein solches Durcheinander, daß ich nicht klar denken kann. Ich habe das Gefühl, als befände ich mich inmitten eines entsetzlichen Alptraums und würde demnächst aufwachen und feststellen, daß nichts davon wahr ist. Verdammt, so was passiert doch einfach nicht – jedenfalls nicht bei Leuten wie uns.« Penelope hatte sich damit beschäftigt, ihre Tasse erneut mit gutem, starkem Kaffee zu füllen. Sie brachte sie nun John hinüber. »Trink das, Darling. Es wird dir besser bekommen als etwas zu essen – sofern du nichts dagegen hast, meine Tasse zu benutzen.« Auf Johns Gesicht erschien das erste Lächeln seit dem, was in der Nacht vorgefallen war. »Aus dieser Tasse trinken, Penelope! Das kann ja nur ein Segen sein. Am liebsten würde ich alles mit dir teilen, das weißt du doch.« »Ja, Liebster, natürlich weiß ich das. Aber ich bin froh, daß Inspektor Billingham
das eben nicht gehört hat.«
John trank den Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und fühlte sich etwas
besser. Er setzte sich Penelope gegenüber an den Tisch und stützte das Kinn in
die Hände.
»Ich will mich nicht neben dich setzen, denn sonst halte ich dir nur die Hand oder
küsse dich, und kann nicht mehr nachdenken. Komm, versuchen wir mal, diesen
Alptraum zu analysieren.«
»Ich wüßte im Augenblick nicht, wie«, sagte Penelope. »Das ist ja das Problem.
Außerdem wissen wir nicht einmal mit Sicherheit, wie deine Tante gestorben ist.
Es hat noch keine Obduktion gegeben. Aber angenommen, John, nur
angenommen – es stellt sich heraus, daß sie…« sie zögerte kurz und brachte
dann tapfer das Wort heraus, »ermordet worden ist… Was dann?«
»Ja«, sagte John, »was dann? Jeder wird vermutlich auf mich und Millie blicken.«
Penelope spielte mit ihrem Kaffeelöffel und schwieg eine Weile. Dann hob sie den
Blick, und ihre klaren, tiefblauen Augen sahen ihn sehr eindringlich an.
»John«, sagte sie, »sei nicht schockiert, aber bist du – bist du absolut sicher,
was Millie betrifft?«
»Millie? Was meinst du damit?«
»Bist du sicher, daß sie nicht… Ganz sicher, daß nicht sie… Deine Tante hat ihr
das Leben zur Hölle gemacht, weißt du.«
»Um Himmels willen«, sagte John heftig. »Ich bin mir, was Millie betrifft, ebenso
sicher wie meiner selbst.«
»Aber nicht aus den selben Gründen«, erklärte Penelope. »Du bist deiner selbst
sicher… a) weil du es nicht getan hast und b) weil du es gar nicht tun könntest.
Aber was Millie betrifft, so bist du dir da nur sicher, weil du glaubst, die könnte
es nicht getan haben.«
»Sie hat nicht den nötigen Mumm dazu«, sagte John und wiederholte damit
unwissentlich das, was die Köchin in der Küche geäußert hatte.
»Eine Ratte, oder, was das betrifft, sogar eine Maus, bringt erstaunlichen Mut
auf, wenn sie in die Ecke getrieben wird«, sagte Penelope. Sie stand auf, ging
um den Tisch herum und blieb hinter John stehen, die Hände auf seinen
Schultern.
»John«, sagte sie, »weißt du denn nicht, daß, was immer auch geschieht, du dich
dem allem hier fernhalten mußt? Irrtümer geschehen nun einmal auf dieser Welt
– entsetzliche Irrtümer, und es stimmt, daß du möglicherweise in Verdacht gerätst. Wie dem auch sei – ich würde Millie und die ganze übrige Welt den Löwen zum Fraß vorwerfen, wenn es um deinetwillen geschieht, und das weißt du auch.« »Nicht, wenn sie unschuldig wären«, sagte John ruhig. »Aber jemand muß der Schuldige sein«, sagte Penelope eindringlich. »Du fragst gar nicht, ob ich es bin oder nicht«, sagte John. »Nein«, sagte Penelope, drückte seinen Kopf an sich und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Ich frage dich nicht. Das wäre albern und absurd.« John griff nach ihrer Hand und zog sie an die Lippen. »Da kommt Daddy«, sagte Penelope. »Jetzt fängt alles wieder von vorn an.« John stand auf. Sie umarmten einander einen Augenblick lang schweigend, dann ging Penelope hinaus und öffnete ihrem Vater die Tür, noch bevor er klingeln konnte. Der Arzt stapfte erschöpft ins Speisezimmer, warf den Hut auf den Tisch und ließ sich in einen Sessel sinken. »Penelope«, sagte er, »du gehst besser nach Hause, Liebes. Hier wird sich allerhand Unerfreuliches abspielen. Wir müssen Mrs. Farland aus dem Haus und in die Leichenhalle schaffen; es muß der Termin für eine gerichtliche Untersuchung festgesetzt werden. Billingham wird jeden Augenblick hier
eintreffen, und es wird ein Riesenspektakel geben, ein richtiges Tamasha.«
Dr. Cheedle war während des Kriegs in Indien gewesen und einige Ausdrücke aus
dem Leben des ›pukka sahib‹ waren noch immer haften geblieben. Es waren
sozusagen seine unsichtbaren Kriegsorden.
»Ich werde nicht nach Hause gehen«, sagte Penelope, »oder allenfalls nur, um
zu baden und mich umzuziehen. Du vergißt, daß ich ein berufstätiges Mädchen
bin. Ich werde wie gewöhnlich zu Mr. Walton gehen. Vermutlich hat sich dort
eine Menge Arbeit angehäuft. Außerdem möchte mich der Inspektor sprechen.«
In den Augen des Arztes lag ein Schimmer von Stolz und zärtlicher Zuneigung,
als er das Mädchen ansah.
»Ja, stimmt«, erwiderte er. »Und du tust ohnehin das, was du für das Beste
hältst, daran ist nicht zu zweifeln. He – wer kommt denn da in einem Taxi an?«
»Es ist ein Bahnhofstaxi«, sagte Penelope. »Und Gepäck ist auch dabei. Schau –
da steigt ein Mädchen aus.«
Sie standen alle drei am Fenster, geschützt durch die weißen Spitzen vorhänge,
und spähten hinab.
»Wer immer das ist, sie läßt das Taxi warten«, bemerkte John. Es klingelte an
der Haustür, John traf Anstalten, hinzugehen, blieb dann aber stehen.
»Es ist besser, wenn Florence aufmacht«, sagte Penelope, die ihn durch eine
kaum wahrnehmbare Berührung seines Arms zurückgehalten hatte. »Wir müssen
uns heute so normal wie nur möglich benehmen – und wahrscheinlich auf viele
Tage hinaus. Du darfst keine Haustüren aufmachen, John.«
»O Gott«, stöhnte John. »Was für ein Dasein.«
Sie hörten Florences schnelle Schritte im Korridor, die Haustür wurde geöffnet,
dann folgte Stimmengemurmel. Gleich darauf trat Florence ins Speisezimmer.
»Da ist eine junge Dame. Sie hat nach Mrs. Farland gefragt. Ich habe ihr gesagt,
sie könne sie nicht sehen.«
»Haben Sie ihr gesagt, daß sie tot ist?« fragte John.
»Ich habe gesagt, sie sei verschieden«, erwiderte Florence in tadelndem Ton.
»Danach hat sie gefragt, ob sie jemand anderen von der Familie sprechen könne.
Ich glaube, Sie möchte sich mit Ihnen unterhalten, Mr. John.«
»Na gut«, sagte John. »Führen Sie sie herein. Wie heißt sie eigentlich?«
»Sie hat gesagt, sie sei eine Miß Joan Cliff.«
Die drei im Speisezimmer sahen einander verdutzt an. Der Name sagte keinem
von ihnen irgend etwas.
»Also führen Sie sie herein«, wiederholte John ungeduldig.
»Miß Cliff«, verkündete Florence, zog sich äußerst zögernd zurück und schloß die
Tür hinter sich.
An dem Mädchen, das eingetreten war, war nichts besonders Auffallendes. Sie
war klein und zierlich. Die weichen Wellen des braunen Haars verschmolzen
praktisch mit dem Braun des kleinen Hutes, den sie, wie im Augenblick alle
Mädchen, mit einiger Selbstachtung, tief übers rechte Ohr gezogen hatte. Ihre
Augen, groß, dunkel und mit langen Wimpern versehen, waren das
Bemerkenswerteste an ihr. Ihr Knochenbau war zart, und sie bewegte sich
anmutig. Aber neben der blendenden Schönheit Penelopes wirkte sie wie ein
Spatz neben einem Paradiesvogel. Sie blieb einen Augenblick lang zögernd
stehen und ging dann auf John zu.
»Sie sind doch sicher Mr. Farland«, sagte sie. »Es tut mir so leid, Sie zu einem
Zeitpunkt wie diesem stören zu müssen, aber ich hatte keine Ahnung, daß Ihre
Tante gestorben ist, bis mir es das Mädchen mitgeteilt hat.«
Sie hatte eine weiche Stimme, von der Art, die John früher, als kleiner Junge, als
›dunkle Stimme‹ bezeichnet hätte.
»Sie ist gestern nacht gestorben. Wir sind alle ziemlich – aufgeregt«, sagte John.
»Das hier sind Dr. Cheedle und Miß Penelope Cheedle. Und Sie?«
»Ich bin Schwester Pontings Nichte. Dr. Walton hat mich gestern abend
angerufen, und ich bin mit dem frühesten Zug heute hierher gekommen.«
»Haben Sie schon gefrühstückt?« fragte Penelope schnell.
»Nein.«
»Aber dann müssen Sie ein bißchen frischen Kaffee und Toast zu sich nehmen.«
Sie ging schnell zur Tür und traf dort – wie sie erwartet hatte – Florence
unmittelbar dahinter vor.
»Es besteht für Sie keine Notwendigkeit, vor der Tür zu warten, Florence«, sagte
Penelope trocken. »Bitten Sie die Köchin, frischen Kaffee und Toast zu machen
und bringen Sie beides für Miß Cliff herein.«
»Ja, Miß«, sagte Florence mit ungewohnter Demut und feuerrotem Gesicht.
Penelope kehrte ins Speisezimmer zurück und schloß die Tür.
»Es muß ein schrecklicher Schock für Sie gewesen sein«, sagte sie. »Es tut mir
so leid.«
Das Mädchen lächelte ihr schnell und dankbar zu.
»Ja, es war ein Schock, obwohl sich Tante Hilda natürlich schon nicht wohl fühlte,
als sie London verließ. Ich sagte gleich, sie solle nicht fahren. Es ging ihr schon
seit einiger Zeit nicht gut, aber sie konnte es sich einfach nicht leisten, einen Job
abzulehnen, und sie ist eine ausgezeichnete Pflegerin – ich meine, sie war eine.«
Joan Cliffs Unterlippe begann ein bißchen zu zittern.
»Schon gut, schon gut«, sagte Dr. Cheedle vage und tätschelte ihr den Rücken.
»Sie hatten Ihre Tante vermutlich sehr gern?«
»Sie hat alles für mich getan«, erwiderte das Mädchen. »Sie hat mich praktisch
aufgezogen. Ihre Schwester heiratete meinen Vater, der Arzt war. Er und meine
Mutter starben nach dem Krieg an Spanischer Grippe.«
Dr. Cheedle schnalzte mitfühlend mit der Zunge, und Penelope sagte, während
sie den inzwischen eingetroffenen Kaffee einschenkte, mit Festigkeit: »Das
müssen Sie jetzt aber wirklich trinken.«
»Sie war wundervoll«, sagte das Mädchen. »Das war sie wirklich, und die Leute
waren oft scheußlich zu ihr, weil…« Sie zögerte und verstummte.
»Ja, ja«, sagte Dr. Cheedle, »ich weiß – sie war in diesen Fall von Vergiftung
verwickelt. Sie hat mir davon erzählt. Dabei hat sie lediglich ihre Pflicht als gute
Staatsbürgerin erfüllt.«
»Natürlich!« rief Joan dankbar. Eine Spur von Farbe kam in ihre Wangen. »Das
habe ich ihr ja auch immer gesagt. Natürlich hatte sie danach eine sehr schwere
Zeit, und was sie ohne Mr. Waltons Freundlichkeit getan hätte, weiß ich nicht. Es
wurde erst alles leichter als ich anfangen konnte, Geld zu verdienen.«
»Und was tun Sie?« fragte Penelope, während sie ein paar Toasts mit Butter
bestrich.
»Ich bin in einer Apotheke angestellt. Auch dabei hat mir Dr. Walton geholfen. Es
ist ein sehr guter Job.«
John, der unbehaglich im Zimmer auf- und abgegangen war, sagte jetzt: »Da ist
der Inspektor. Sie werden nicht umhin können, ihn kennenzulernen, Miß Cliff.«
»Ich fühle mich jetzt, dank Ihres Kaffees, schon viel besser«, sagte das Mädchen
und lächelte Penelope dankbar zu.
Inspektor Billingham trat ein, wurde dem Neuankömmling vorgestellt und gab
jedem der Anwesenden die Hand. Joan gefiel er sofort. Er hatte nichts von einem
Sherlock Holmes an sich, fand sie. Seine ruhigen grauen Augen waren
anziehend, und sie mochte sein klares, frisches Gesicht.
»Hm, das ist eine üble Sache«, sagte der Inspektor, lehnte den Kaffee ab,
zündete sich aber eine Zigarette an. »Die Ärzte – korrigieren Sie mich, wenn ich
mich irre – halten es für mehr als wahrscheinlich, daß Mrs. Farland keines
natürlichen Todes gestorben ist.«
Joan Cliff blickte auf. Sie schien etwas sagen zu wollen, hielt sich aber zurück.
»Das weiß ich«, sagte John. »Aber das muß doch Unsinn sein. Wer um alles in
der Welt sollte so etwas getan haben?«
»John, Liebster«, sagte Penelope, »es hat keinen Sinn, darauf zu beharren. Am
besten warte ab und beantworte die Fragen, die dir der Inspektor stellen wird.
Sie sind ja doch wohl gekommen, um uns allen Fragen zu stellen, Inspektor,
oder nicht?«
Ganz instinktiv schob sich Penelope neben John und berührte seine Hand mit der
ihren. Sie hat Courage, dachte der Inspektor, ohne sich seine Gedanken
anmerken zu lassen.
»Ja, ich würde gern jeden einzelnen von Ihnen hier allein sprechen«, erwiderte
er. »Es ist eine reine Routineangelegenheit, verstehen Sie.«
»Vielleicht gehen Sie am besten ins Herrenzimmer hinüber, und wir kommen
einzeln zu Ihnen herein.«
»Das ist eine gute Idee, Miß Cheedle. Wenn Sie jetzt mitkommen, so werden wir
die leidige Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen. Und wenn danach
Sie folgen würden, Dr. Cheedle. Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann.«
»Natürlich«, erwiderte der Arzt. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Dr. Parry
kümmert sich heute vormittag um meine Patienten. Er wartet darauf, daß ich ihn
später ablösen kann.«
John hielt die Tür auf und Penelope lächelte ihm beruhigend zu, während sie an
ihm vorüber und über den Korridor ins Herrenzimmer ging. Der Inspektor folgte
ihr, schloß die Tür und zog einen der großen Ledersessel für das Mädchen heran,
das sich erleichtert hineinsinken ließ. Sie spürte plötzlich, wie müde sie war.
»Miß Cheedle«, sagte Billingham ohne Umschweife, »wo waren Sie am
Sonntagnachmittag?«
Er beobachtete sie eindringlich, und obwohl ihr keinerlei Schrecken anzusehen
war, hatte er doch den Eindruck, als zucke sie bei der Frage innerlich irgendwie
zusammen.
»Ich war einfach aus«, sagte sie. »Ich habe einen Spaziergang gemacht.«
»Im Regen?«
Sie ließ ihm ihr strahlendes Lächeln zukommen.
»Moderne junge Frauen fürchten sich nicht vor dem Regen, Inspektor. Wenn ich
Lust auf einen Spaziergang habe, hält mich ein bißchen Nässe von oben nicht
davon ab.«
»Wann sind Sie nach Hause zurückgekehrt?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»So rechtzeitig, daß Sie Schwester Ponting noch antrafen?«
Er sah, wie das Lächeln auf ihrem Gesicht langsam schwand. Sie senkte flüchtig
den goldblonden Kopf, runzelte die Stirn und biß sich auf die Unterlippe.
Dann sagte sie in leisem, ernsthaftem Ton: »Es ist dumm, Sie täuschen zu
wollen, Inspektor. Ich erzähle Ihnen besser die Wahrheit. Ich bin am
Sonntagnachmittag gar nicht ausgegangen. Ich war die ganze Zeit über zu
Hause.«
Er spürte, wie sein Herz einen Sprung machte.
»Warum haben Sie dann vorgegeben, weggegangen zu sein, Miß Cheedle – nicht
nur mir, sondern auch Mr. Farland gegenüber?«
Ihre blauen Augen sahen ihn wieder an.
»Mr. Farlands wegen. Es ist so schrecklich, daß ich Angst davor habe, Ihnen alles
zu sagen – für den Fall, daß Sie den falschen Eindruck bekommen könnten.«
»Sie müssen mir alles sagen, Miß Cheedle.«
»Ich – ich weiß. Nun ja…«, ihre Stimme hob sich in Verzweiflung ein bißchen,
»mein Vater wußte, daß John zu uns kommen würde, um mich zu einer kleinen
Autofahrt abzuholen, und er wollte nicht, daß er Schwester Ponting antreffen
würde.«
»Warum nicht?«
»Weil«, antwortete Penelope mit einem unerwarteten kleinen Schluchzer, »John
doch zu den Verdächtigen gehört, nicht wahr? Er und Millie, beide.«
Der Inspektor starrte sie an, eine Menge von Möglichkeiten und
Verdachtsmomenten schossen ihm durch den Kopf. Diese Erklärung klang
plausibel. War sie auch wahr? Plötzlich entsann er sich einer Sache in Dr.
Cheedles Aussage.
»Dann hat Ihr Vater also an diesem Nachmittag die Pflegerin erwartet?«
Sie nickte. »Ja. Deshalb wollte er mich dabei haben. Sie hatte eine lange Fahrt
hinter sich, und Männer sind immer ein bißchen ungeschickt mit Frauen, die sie
nicht kennen. Vielleicht hätte sie eine Dusche nehmen wollen oder so was. Aber
sie war gar nicht so lang da. Sie trank ihren Tee und ging dann wieder.«
»Sie tranken Tee mit ihr?«
»Ja.« »Warum wollten Sie mir nicht sagen, daß Sie die ganze Zeit über im Haus waren?« »Weil ich natürlich John nicht wissen lassen wollte, daß ich ihn angelogen hatte – oder vielmehr, daß ich das Vater für mich tun ließ.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Bitte sagen Sie John nichts davon, wenn Sie nicht unbedingt müssen!« flehte sie. »Sie können sich doch vorstellen, wie schrecklich es auf ihn wirken würde, wenn er Bescheid wüßte. Es sähe ganz danach aus, als ob Vater und ich überzeugt wären, daß er seine Tante umgebracht hat, und als ob wir sozusagen eine Verschwörung angezettelt hätten, um ihn in eine Falle zu locken.« »Ja, das kann ich verstehen«, antwortete Billingham ruhig und zwang sich, sie anzulächeln. »Na schön, ich werde Ihr Geheimnis bei mir behalten, wenn ich das kann. Die Tatsache, daß Sie im Haus waren, scheint mir ohnehin nicht sonderlich wichtig zu sein. Aber nun, sagen Sie mir bitte – ich verlange natürlich nicht von Ihnen, Mr. Farland oder sonst jemanden zu belasten – aber was halten Sie ganz allgemein von der Sache? Ich meine, ist Ihnen irgend etwas aufgefallen, das Ihnen verwirrend vorkommt?« Sie schien durch diesen Wechsel des Themas erleichtert zu sein – ganz wie er beabsichtigt hatte. »Da ist etwas«, sagte sie ernst. »Ich glaube wirklich, daß Dr. Parry sich getäuscht hat, als er sagte, es handle sich nicht um die gleiche Flasche mit Sleepine. Ich konnte keinen Unterschied feststellen.« »Sie kennen natürlich die Sleepine-Flaschen Ihres Vaters gut vom Ansehen?« »Oh, sie sehen genauso aus wie andere Flaschen auch. Wissen Sie, mein Vater hat mir selbst Sleepine gegeben, als ich vor kurzem Grippe hatte und nicht schlafen konnte. Es gibt so eine Redensart, daß wenn man einmal von einer Sache hört, sie einem insgesamt dreimal zu Ohren kommt. Da war nun die arme Schwester Ponting, die das Mittel genommen hat, und ich und Mrs. Farland. Ich möchte von dem elenden Zeug nichts mehr hören.« »Das kann ich gut begreifen«, sagte der Inspektor mitfühlend. »Übrigens – Schwester Ponting hat nicht zufällig Sleepine genommen, als Sie bei Ihnen in Ihrem Haus war?« Penelope schüttelte den goldblonden Kopf. »Soviel ich weiß, nicht. Sie nahm mehrere Kapseln aus einer Schachtel – die Schachtel, in der man die Sleepine-Kapsel gefunden hat – aber sie sagte mir, es sei ein Mittel gegen Erkältung, und natürlich habe ich darüber nicht weiter nachgedacht.«
»Natürlich nicht«, pflichtete der Inspektor bei. »Und als sie wegging, wirkte sie wohlauf?« »Sie wirkte eigentlich genauso wie zu dem Zeitpunkt als sie ankam. Daddys chinesischer Tee schmeckte ihr nicht und er sagte: ›Penelope macht sich ihren schwarzen Gifttrank gern selbst. Sie gibt Ihnen sicher eine Tasse, wenn Sie zu ihr in ihr Zimmer hinaufgehen‹. Ich war natürlich sehr begierig, sie kennenzulernen, denn ich wußte ja, warum sie hierhergeschickt worden war, und sie gefiel mir sofort. Sie schien eine sehr nette Frau zu sein, ich machte ihr Tee und wir unterhielten uns zehn Minuten lang. Ich erzählte ihr, daß Mr. Farland sie am Bahnhof abholen wollte, und sie sagte, sie müsse dorthin, um ihren Koffer abzuholen, und der Spaziergang würde ihr gut tun. Dann kam aber diese schreckliche Nachricht, daß sie tot sei, und so kam ich hierher, um zu sehen, ob ich bei Mrs. Farlands Pflege nicht helfen könnte. Millie war ziemlich am Ende ihrer Kräfte und, wirklich, Inspektor, ich kann Ihnen über Mrs. Farland überhaupt nichts erzählen, nur daß Schwester Cran fortging und Millie und ich zusammen zu Abend aßen, und danach ging Millie zu Mrs. Farland hinauf. Ich wartete unten und Dr. Parry traf mit der neuen Flasche mit Sleepinekapseln ein. Er fuhr wieder weg, und ich brachte sie hinauf zu Mrs. Farland.« »Was taten Sie dann?« fragte der Inspektor. »Millie ging weg, um ein Bad zu nehmen, und ich las Mrs. Farland vor. Dann kam Millie zurück und…« »Lassen Sie Miß Pink beiseite. Was haben Sie getan?« »Oh, ich sagte zu Mrs. Farland gute Nacht und verließ sie. Auf dem Weg hier herunter begegnete ich Millie, und dann saß ich da und wartete auf John, er kam hierher und…« Sie hielt inne. »Ja?« »Na ja, wir saßen da und redeten lange Zeit. Leider können wir nur immer sehr wenig Zeit miteinander verbringen, Inspektor.« Der Inspektor überlegte, daß John seine volle Sympathie hatte, wenn er dieses schöne Geschöpf so lange wie möglich an seiner Seite haben wollte. »Wo saßen Sie denn?« fragte er. »Im Speisezimmer. Es gab Sandwiches, und John trank etwas, und dann kam plötzlich Millie heruntergerannt und sagte, Mrs. Farland sei schrecklich übel. Hinterher kommt mir alles wie ein entsetzliches Durcheinander vor. Schwester Cran kam zurück und Dr. Parry auch und dann traf Daddy ein, alle rannten herum, aber es nützte nichts, Mrs. Farland starb.« »Das einzige, was mich dann noch interessiert«, sagte der Inspektor, »ist, daß Sie mir sagen müssen, weshalb Sie glauben, daß Dr. Parry sich geirrt hat, als er sagte, die Flasche sei gegen eine andere ausgetauscht worden?« »Ich bin sicher, daß er sich getäuscht hat«, sagte Penelope. »Außerdem, warum sollte Millie sie ausgewechselt haben? Warum?« »Nun kommen Sie schon«, sagte der Inspektor energisch. »Kein Mensch hat behauptet, es sei Miß Pink gewesen, die die Flasche ausgetauscht hat – vorausgesetzt, daß es überhaupt geschehen ist. Nun, jedenfalls vielen Dank, Miß Cheedle.« Er stand auf und öffnete die Tür. »Vielleicht bitten Sie jetzt Ihren Vater herein, und danach sollte Mr. Farland und anschließend Miß Pink kommen. Übrigens, wer ist die neue junge Dame?« »Das ist Joan Cliff«, sagte Penelope. »Sie ist Schwester Pontings Nichte – Angestellte in einer Apotheke.« Als Penelope gegangen war, ging der Inspektor zum Fenster und starrte auf die tropfnassen Lorbeerbüsche hinaus. Er war nervös und niedergeschlagen. Penelope hatte also Schwester Ponting am Sonntagnachmittag gesehen! Schlimmer noch, sie und die Schwester hatten allein miteinander Tee getrunken.
Und Penelope war mit im Rennen, was die Erbschaft von Mrs. Farlands Vermögen betraf. Und Penelope hatte ihr Bestes getan, ihn glauben zu machen, Millie Pink sei die Mörderin… Der Inspektor war menschlich genug, um sich der flüchtigen Hoffnung bewußt zu werden, daß ein solch schönes Mädchen nicht zwei ältere Frauen umgebracht hatte… Schließlich, so sagte er sich, gibt es in diesem Fall eine Menge Leute, die Zugang zu Medizinen aller Art haben. Selbst diese einfältige Miß Pink hatte in einer Schule Naturwissenschaften gelehrt, John Farland war ein großes Tier in den Pharmazeutischen Werken – dann gab es da diese beiden Ärzte und Joan Cliff, die Angestellte in einer Apotheke war… Das Ganze war das reine Vorratslager für alle möglichen Drogen. Zudem, auch wenn es höchst unwahrscheinlich war, selbst Joan Cliff, so harmlos sie aussah, konnte möglicherweise den Wunsch gehegt haben, ihre Tante aus dem Weg zu räumen, so daß die beiden Morde doch in keinerlei Zusammenhang miteinander standen. Denn, das hatte des Inspektors langjährige Erfahrung ihn gelehrt, man konnte über Menschen nicht das geringste wissen, solange man die Geheimnisse ihrer privaten Verhältnisse nicht kannte. Und ruhige, völlig unauffällige Leute konnten die seltsamsten Skelette in ihren so alltäglich wirkenden Schränken haben.
ANMERKUNGEN
Ich bin zu dem Schluß gekommen, das einzige, was bei diesem Buch noch schwieriger ist als Autor des letzten Kapitels zu sein, das ist, Autor des vierten Kapitels sein zu müssen. Miß Sayers konfrontiert mich (die nie in der Lage war, das Konzept eines Fahrplans zu begreifen) mit Unmengen komplizierter Gedankengänge. Trotzdem, ich bin ein viel zu großer Fan von Miß Sayers, um mich zu beschweren. Mr. Freeman Wills Crofts, den ich ebenso glühend verehre, präsentiert mir ein oder zwei Dinge, die ich einfach nicht schlucken kann, wie zum Beispiel die Tatsache, daß eine Krankenschwester, die bereits in einen Mordfall verwickelt war, von einem völlig Fremden sich ein widerliches kaltes Getränk in einem widerlichen kalten Wald aufschwatzen lassen kann. Mr. Valentine Williams, den ich sowohl als Leser wie auch als Freund außerordentlich schätze, stimmt mit Mr. Freeman Wills Crofts überein, daß es ein guter Gedanke wäre, John Farland zum ›falschen Helden‹ zu machen. Nein. Hier, mein lieber Valentine und hier, meine beiden anderen Vorgänger, lasse ich Sie mit allem Nachdruck im Stich. Es gibt nur eine mögliche Person, die das Verbrechen begangen haben kann, womit ich meine, daß es nur eine gibt, durch die der Leser am Ende wirklich überrascht wird, die jedoch auch bis jetzt in der Situation war, die ganze schmutzige Arbeit zu erledigen. Die raffinierten Ablenkungsmanöver mit Gepäckträgern und Bahnhofsvorstehern, die Miß Sayers inszeniert hat, sind lediglich dafür gedacht, uns zu verwirren, dessen bin ich gewiß. Was immer weiterhin geschieht, wir dürfen keinen Zufall zu Hilfe nehmen. Aber es gibt eine Person, auf die kein Verdacht fällt und auch bis zum letzten Kapitel keiner fallen darf, eine Person, die in der Lage war, die Krankenschwester zu treffen, ihr das Gift einzugeben, zu wissen, wer sie war und wozu man sie hergeschickt hatte, eine Person, für die es von äußerster Wichtigkeit war, daß die alte Dame starb, damit John in den Genuß der Erbschaft kommen würde, und diese einzige Person ist – Penelope. Erinnern wir uns, Mrs. Farland wurde mit Arsen vergiftet. Kein Arzt würde auf den Gedanken kommen, mit Arsen zu vergiften (das Gift der Dummköpfe), womit Dr. Cheedle und Dr. Parry aus dem Schneider wären. Das gleiche gilt für John Farland, der in einem pharmazeutischen Werk arbeitet. Arsen wird benutzt, weil es das einzige ist, an das armselige Laien – wie wir zum Beispiel – herankommen; genauso wie Krankenschwestern nun mal Tee trinken, weil dies das einzige anregende Getränk ist, das man ihnen zugesteht. Meiner Ansicht nach ist es sehr wichtig, in einer Kriminalgeschichte die menschliche Natur nicht zu vergewaltigen. Nun gibt es nur noch sehr wenige Spannungsmomente in einer Kriminalstory und wenn Sie, meine lieben Mitarbeiter(innen) sich an A. E. W. Masons ausgezeichnetes ›House of the Arrow‹ zurückerinnern, so wird Ihnen der ungeheure Nervenkitzel einfallen, als klar wurde, daß die Schuldige die junge und schöne Heldin des Buches, und daß zudem der psychologische Aspekt einleuchtend und die Lösung in nichts erzwungen worden war. Ich gebe zu, daß im Fall von Penelopes Schuld der Gesichtspunkt der Liebe unberücksichtigt bleibt (im übrigen etwas, das mich persönlich bei einer Kriminalgeschichte nicht sonderlich interessiert). Wie dem auch sei, ich habe ein weiteres Mädchen eingeführt, das im weiteren Verlauf der Story an Einfluß gewinnen kann. Das wirkt vielleicht ein bißchen abrupt und aufgesetzt, aber Sie wissen, was ich damit
bezwecken will. Sie ist die Paulina Home de Bassompierre gegenüber Penelopes Ginevra Fanshawe. Da Dr. Cheedle ein ehrenwerter praktischer Arzt ist, der seinen Giftschrank verschlossen hält, kann Penelope genau wie wir anderen gewöhnlichen Sterblichen ihr Arsen nur über unseren alten Freund, den Unkrautvertilger beziehen. Sie ist Sekretärin des Anwalts Mr. Walton, weiß infolgedessen alles über seine Korrespondenz und sie weiß genau, weshalb sein Sohn, Dr. Walton von der Harley Street, diese bestimmte Pflegerin zu Mrs. Farland schickt. Penelope hat von ihrem Vater Sleepinekapseln verschrieben bekommen, als sie Grippe hatte, und so hat sie, als die Krankenschwester an dem betreffenden Nachmittag zum Tee zu ihr heraufkommt und über Kopfschmerzen klagt, das Zeug in den sehr schwarzen und stark gesüßten Tee praktiziert, den Schwester Ponting getrunken hat. Die eine harmlose Kapsel gibt sie ihr in einer Schachtel mit, wobei sie ihr erklärt, es handle sich um eine von ihrem Vater gegen Grippe verschriebene Medizin. Auf diese Weise ist Penelope abgesichert, denn angenommen, die Pflegerin stirbt nicht, sondern wird nur von der Überdosis schwer krank, so könnte die Kapsel analysiert und für unschädlich befunden werden, und die Krankenschwester hätte einfach angenommen, sie habe eine Idiosynkrasie gegen bestimmte Grippemedikamente . Ich sehe keinen Grund, weshalb Dr. Cheedle John gegenüber so tun sollte, als sei die Schwester gar nicht in seinem Haus gewesen. Das scheint mir keineswegs normal und natürlich zu sein. Ganz gewiß wäre Schwester Ponting doch sehr überrascht gewesen, daß niemand da war, um sie abzuholen? Ganz gewiß hätte doch Dr. Cheedle sie in sein Haus eingeladen, um mit ihr über seine seltsame Patientin zu sprechen, bevor sie dort hinfährt? Vergessen Sie nicht, Dr. Cheedle weiß gar nicht, daß es in dem Fall einen ernsthaften Verdacht gegen jemand gibt und auch nicht den Grund, weshalb diese spezielle Pflegerin zu Mrs. Farland geschickt wird. Jedenfalls, wenn Schwester Ponting nicht abgeholt wird, halte ich es für eine für sie völlig normale Reaktion, geradewegs zu Dr. Cheedle zu gehen, und da der Arzt John aufgefordert hat, später noch einmal vorbeizukommen, hätte er ihn dann doch sicher gebeten, sie zu Mrs. Farland hinauszubringen. Ich erkenne eine Schwierigkeit: Da das Gift meiner Ansicht nach der Schwester im Haus Dr. Cheedles von Penelope eingegeben worden ist, so würde sie in Johns Wagen sterben, und das wäre schlecht. Aber ich glaube, diese Schwierigkeit kann dadurch umgangen werden, daß Penelope Schwester Ponting erklärt, John habe sich bezüglich des Zugs geirrt und würde sie im Bahnhof Creepe abholen. Die Schwester, die sich bereits ein bißchen schwindlig fühlt, sagt, sie würde den Weg zum Bahnhof gern zu Fuß zurücklegen. Das scheint für mich völlig problemlos zu sein. Ich sehe nichts Merkwürdiges darin, wenn die Krankenschwester herausfindet, daß der Bahnhofsvorsteher verheiratet ist. Ich persönlich scheine kaum je an einen Gepäckträger oder Taxifahrer zu geraten, ohne die näheren Umstände seines Daseins zu erfahren. Dem einen geht es so, dem anderen nicht. Genau genommen könnte ich mir vorstellen, daß Miß Sayers dieses ganze Drum und Dran auf dem Bahnhof als ein einziges gewaltiges Ablenkungsmanöver eingebaut hat. Die Sache mit der im Wartesaal gefundenen Flasche erkläre ich mir so, daß Schwester Ponting bereits den Verdacht gehegt hat, sie litte an einer Grippe. Als ihr dann Dr. Walton diesen Job verschafft, schließt sie sozusagen einen
Kompromiß mit ihrem Gewissen, indem sie sich einredet, sie könne das Ganze leicht mit Aspirin und Rum oder Whisky kurieren und würde dann ihre Patientin schon nicht infizieren. Man muß sich darüber klar sein, daß Schwester Ponting finanziell nicht gut daran ist und sich verzweifelt bemüht, auf keinen Arbeitsplatz verzichten zu müssen. Da sie sich nun durch das ihr von Penelope in dem starken, süßen Tee eingegebene Sleepine krank und schwach fühlt, trinkt sie einen Schluck Whisky aus der Flasche – das heißt, sofern diese Flasche in der Story überhaupt beibehalten wird. Meiner Ansicht nach spielt sie eine wichtige Rolle und muß beibehalten werden. Sie lenkt den Verdacht vom Cheedle’schen Haushalt ab. Ich pflichte Mr. Freeman Wills Crofts und Mr. Valentine Williams darin bei, daß die beiden Morde zweifellos miteinander in Zusammenhang stehen, und daß die Person – wer immer sie ist – die Mrs. Farland vergiftet, entschlossen ist, Schwester Ponting den Antritt ihrer Pflege gar nicht erst erleben zu lassen. Der Einfall Mr. Crofts’, daß Schwester Ponting schon vorher einmal mit einem Giftmordprozeß zu tun hatte, ist großartig. Schließlich darf man nicht vergessen, daß Mrs. Farland durch Arsen vergiftet wird, und selbst wenn die Person, die es ihr eingibt, sich in einer Aufwallung von Furcht zurückhält, so würden Spuren dieses Arsens doch im Haar, in den Fingernägeln und in den Gewebeproben, die die neue Pflegerin untersuchen lassen würde, gefunden werden. In Johns beharrlichem Entschluß, die Krankenschwester abzuholen, sehe ich nichts Ungewöhnliches. Was mir jedoch ungewöhnlich erscheint, ist, daß zwischen ihm und Dr. Cheedle nicht fest vereinbart worden ist, Schwester Ponting abzuholen. Ich stimme mit Miß Sayers überein, am wahrscheinlichsten ist, daß Dr. Cheedle sie gebeten hat, einen früheren Zug zu benutzen, um bei ihm zu Hause eine Tasse Tee zu trinken und sich mit ihm über ihre zukünftige Patientin zu unterhalten. Wenn natürlich meine Lösung bezüglich Penelopes angenommen wird, so bringt John Schwester Ponting nicht in den Wald, und sie hat ganz offen oben bei Penelope Tee getrunken, nachdem sie sich mit dem Arzt unterhalten hatte. Ich finde, das Wichtigste bei einer Kriminalgeschichte ist, daß sich jeder so menschlich begreiflich und natürlich benehmen sollte wie möglich. Wenn (und Dr. Cheedle hat da zweifellos recht) Schwester Ponting eine Überdosis Sleepine genommen hat, die ungefähr eine halbe Stunde später ihre Wirkung entfaltet, so ist ganz klar, daß Penelope sie so schnell wie möglich aus dem Haus hinausbringen muß; die Zeit wird dann überaus passend durch ihren Gang zum Bahnhof ausgefüllt, wo John sie abholen will, sie trinkt dort ihren Whisky, da sie sich krank fühlt, und verfällt dann ins Koma. Wie Miß Sayers ganz richtig betont, hängt die Wirkung von Barbituraten von der individuellen Reaktion ab, und die Annahme der Polizei (da sich ja die Tatsache, daß die Pflegerin Tee bei den Cheedles getrunken hat, nicht verheimlichen läßt), daß sie ihre Überdosis mit ein paar Schlucken aus der Flasche im Bahnhof genommen hat, wäre ganz normal. Für die Autoren – wenn auch wahrscheinlich nicht für die Leser – ist natürlich offensichtlich, daß Joan Cliff, überzeugt, daß ihre Tante vergiftet wurde, nach Whitestones kommt, um auf eigene Faust ein bißchen Detektivin zu spielen. Die einzige Person, die das vermutet, ist Penelope, die dann zu dem Schluß kommt, für einen weiteren Mord könne sie auch nur einmal gehängt werden, und Joan nach dem Leben trachtet, was ihr dann auch beinahe gelingt. Mit diesem kleinen Problem hätte sich der unglückliche Mitautor des vorletzten Kapitels
auseinanderzusetzen. Wie dem auch sei, John, der ebenfalls begonnen hat, Verdacht zu hegen, rettet Joan, und damit strebt das Ganze seiner Lösung zu. Ich hoffe, es ist jemand speziell damit befaßt, all die Kapitel durchzugehen und zu überprüfen, ob keiner von uns irgendwelche widersprüchlichen oder überflüssigen Tatsachen übersehen hat. Diese Art zu schreiben ist außerordentlich schwierig. Ich mußte mir zum Beispiel einfach die Unverschämtheit herausnehmen, meinen Vorgängern vorzuschlagen, hier und dort einiges zu ändern. Es muß sich also jemand an die Sache heranmachen, der, wie Gott, ein alles sehendes Auge hat. Das ist bis jetzt meine einzige Kritik. Meine Vorgänger haben mich mit einer Menge verschiedener Charaktere konfrontiert, ich lasse ihnen also meinen Dank zukommen und meinem Nachfolger drücke ich mein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Die unglücklichen Autoren, die die beiden letzten Kapitel zu schreiben haben, sollten so etwas wie eine Verdienstmedaille erhalten.
FÜNFTER TEIL
von
Anthony Armstrong
ANMERKUNGEN
Offen gesagt, dies ist die schrecklichste Aufgabe, der ich mich je zu unterziehen hatte! Der Erfindungsreichtum meiner Vorgänger läßt mich, nach Luft schnappend, zurück wie ein Fisch auf dem Trockenen, vor allem bei dieser speziellen Sparte von Romanen. Die Story scheint von potentiellen Mördern so zu wimmeln, daß sich mir alles vor den Augen dreht, und ich habe bereits begonnen, Pearn, Pollinger oder Higham zu verdächtigen, deren Namen zwar ohne weitere Anhaltspunkte, dafür aber mit enormer Häufigkeit im ersten Kapitel auftauchen. (Es handelt sich um Dorothy L. Sayers’ Literaturagenten, deren Namen auf jeder dritten oder vierten Seite ihres Manuskripts abgedruckt sind.) Genau wie F. Tennyson Jesse, hoffe ich inständig, daß es ein ›Alles sehendes Auge Gottes ‹ geben wird, das die Story hinterher durchforstet (und ich hege den Verdacht, dieses ›ASAG‹ könnte Miß Sayers sein), denn es muß darauf geachtet werden, daß unser letztendlicher Mörder nicht jemand ist, in dessen so offensichtlich arglose Gedankengänge zu irgendeinem maßgeblichen Zeitpunkt, wenn er gerade nicht in Betracht kommt, der Leser Einblick erhält. Ich nehme deshalb an, ohne vor greifen zu wollen, daß in unseren jeweiligen Fortsetzungen verschiedene Änderungen vorgenommen werden müssen, um alles auf eine Linie zu bringen. Jedermann steht es frei, meinen Teil nach Belieben zu ändern. Ich vererbe also meine Anmerkungen und dieses Kapitel meinem Nachfolger, und Gott möge seiner Seele gnädig sein. 1. Mir bleibt natürlich keine andere Wahl, als mit dem fortzufahren, womit F. Tennyson Jesse gut und richtig begonnen hat, nämlich mit Billinghams Vernehmung aller Leute im Haus. In deren Verlauf müssen die Verdachtsmomente weiterhin gut verteilt werden. Die Frage ist: Wer hat es nun wirklich getan? Und hier, wenngleich ich F. Tennyson Jesses brillanten Vorschlag bewundere, Penelope als einzige in Frage kommende Person, auf die kein Verdacht fällt, dafür auszusuchen, kann ich damit doch nicht ganz einverstanden sein. Es fällt vorwiegend deshalb kein Verdacht auf sie, weil nirgendwo an angemessener Stelle erwähnt wurde, daß die Krankenschwester bei Penelope Tee getrunken hat; es wird lediglich berichtet, daß Cheedle sie, wie vorher angegeben, um drei Uhr nachmittags aus dem Haus hinausbegleitet hat, während nicht davon die Rede war, daß Penelope sie überhaupt zu Gesicht bekommen hat. Das müßte natürlich, wie F. Tennyson Jesse in ihren Anmerkungen vorschlägt, geändert werden. Aber ich gebe zu bedenken, daß, wenn verschiedene Fakten – nämlich daß eine Überdosis Sleepine den Tod herbeiführen kann, daß man es jemandem unbemerkt in starkem Tee eingeben kann, und daß dies um 15.30 Uhr geschehen sein muß, daß außerdem Penelope zu diesem Zeitpunkt mit dem Opfer allein Tee getrunken hat – wenn diese Fakten zusammengenommen werden, was ganz natürlich ist, es sehr schwierig sein wird, keinen Verdacht auf Penelope fallen zu lassen. Zudem, ein weiterer Grund, weshalb wir sie bisher noch nicht verdächtigt haben, ist der, daß Valentine Williams alle ihre Wahrnehmungen – das Geräusch von Schritten, das Schließen der Tür etc. – aus Penelopes subjektiven Empfindungen heraus geschildert hat, was immer ein Anzeichen für die Unschuld der betreffenden
Person darstellt. Und selbst, wenn wir sie doch zur Mörderin machen wollten, finde ich nicht, daß sie versuchen sollte, Joan Cliff ebenfalls umzubringen. Sie kann nicht einfach auf eine impulsive, kleinmädchenhafte Weise alles abmurksen, was ihr möglicherweise auf die Schliche kommen könnte, sonst bekommt das Ganze eher den Anstrich des Professionellen als des Amateurhaften. Aus diesen Gründen bin ich persönlich gegen Penelope als die Schuldige. Aber ich finde doch, daß F. Tennyson Jesses Vorschlag an sich zu gut ist um vergeudet zu werden, und so würde ich sie (Penelope natürlich, nicht F. T. J.) gern in wesentlichen Teilen meines Kapitels falsch verdächtigen um damit zu versuchen, ein bißchen vom Nervenkitzel des ›House of Arrow‹ hineinzubringen. In diesem Zusammenhang sollte ASAG (bei entsprechender Überarbeitung dieses früheren Teils) so freundlich sein, Penelope, die Krankenschwester und Cheedle an jenem Sonntagnachmittag angeblich gemeinsam Tee trinken zu lassen, statt die beiden Frauen allein, und zudem versuchen, den Verdacht abzuwenden, daß Vater oder Tochter das Zeug in die Tasse geschüttet haben – vielleicht indem die Möglichkeit geschaffen wird, daß jemand anderer das getan haben oder die Pflegerin es selbst genommen haben könnte. Und würde ASAG sich auch mit dem Problem befassen, daß Penelope erst jemand im Ankleideraum herumhantieren und anschließend sich über die Treppe hinab entfernende Schritte gehört hat und es trotzdem später nicht für nötig hielt, diesen sehr verdächtigen Punkt Inspektor Billingham gegenüber zu erwähnen? Könnte es nicht so sein, daß die kranke Mrs. Farland, die glaubt, ein Geräusch gehört zu haben, sie in den Ankleideraum schickt, um nachzusehen? Und könnte nicht Penelope ebenfalls glauben, etwas gehört zu haben, aber sich dessen nicht sicher zu sein? Auf diese Weise würde Penelope das Ganze nicht für so wichtig gehalten und tatsächlich vergessen haben, es Billingham gegenüber zu erwähnen. Sie könnte sich dann später – im Kapitel meines Nachfolgers – wieder daran erinnern und ihm damit vielleicht einen wichtigen Hinweis geben? 2. Ich persönlich neige dazu, mich, was die Ermordung Mrs. Farlands betrifft, für den falschen Helden John Farland als Täter zu entscheiden, so wie Freeman Wills Crofts es vorgeschlagen hat und dem sich Valentine Williams in seinen Anmerkungen (z.B. denen, die Parrys Motorrad betrafen etc.) auf geschickte Weise angeschlossen hat. Und ich stimme auch mit ihm überein, daß die Polizei annehmen wird, die Morde seien beide von der gleichen Person ausgeführt worden. Aber: Ich meinerseits glaube, daß das eine völlig falsche Annahme sowohl der Polizei als auch der Leser ist. Und ich würde Farland nicht den Mörder der Krankenschwester Ponting sein lassen! Schließlich ist die Theorie, daß die Krankenschwester sich ›ein widerlich kaltes Getränk in einem widerlich kalten Wald aufschwatzen läßt‹ wie F. Tennyson Jesse sagt, tatsächlich schwer zu schlucken. So verlassen Creepe an regennassen Sonntagen auch sein mag, es bedürfte (während einer längeren Periode) nur einer einzigen Person, die ihn, der in der Stadt weithin bekannt ist, gesehen hat und zwar in Begleitung der später ermordeten Krankenschwester in ihrer auffallenden Tracht, und seine Schuld stünde gußeisern fest. So etwas würde er niemals riskieren! Daher würde ich Dr. Cheedle als den tatsächlichen Mörder der Schwester Ponting vorschlagen. Er weiß schon seit längerem, was John Farland plant, hat aber nichts gesagt; jedoch hat er bei Farland durchblicken lassen, daß er ein Auge zudrücken würde, wenn er später ›beteiligt‹ würde – sein Motiv sind Geldschwierigkeiten. Das wird dazu beitragen, einen Punkt zu klären, der meine Vorgänger anscheinend nicht beunruhigt hat, aber mich sehr: Wenn Cheedle
unschuldig ist, warum hat er dann nicht, konfrontiert mit einer Frau, die darauf beharrt, vergiftet zu werden – so daß sogar nach einer mit solchen Fällen vertraute Pflegerin engagiert wird – die normalen medizinischen Maßnahmen ergriffen, um wenigstens die Möglichkeit einer Arsenvergiftung zu untersuchen? Meine Enzyklopädie informiert mich darüber, daß ›die Ähnlichkeit der Symptome bei Arsenvergiftung mit denen bei Cholera sehr ausgeprägt ist, aber daß bei vorliegendem Verdacht dies durch die Analyse von Sekreten geklärt werden kann‹. Ein Arzt hat mir zudem gesagt, daß jeder praktische Arzt unter denselben Umständen – es sei denn, er wäre schuldig oder ein Trottel – fast mit Sicherheit irgendwelche Schritte unternommen hätte, um die Möglichkeit einer Arsenvergiftung auszuschließen, also Blut, Sekrete oder Gewebeteile für einen Rheinsch oder, noch wahrscheinlicher, einen Marsh Test eingeschickt hätte. Die Antwort auf diese Frage ist meiner Ansicht nach, daß Cheedle beim ursprünglichen Verbrechen zwar ein stiller Teilhaber ist, jedoch beim Auftauchen der Pflegerin begreift, daß das Spiel ein Ende haben könnte, aktiv eingreift und sie beseitigt. Natürlich war er willens und bereit, für Mrs. Farland eine Sterbeurkunde auszustellen, aber Parry war als erster da! Ich muß sagen, so gefällt mir das Ganze. Um hier hilfreich zu sein, würde ASAG hier in Betracht ziehen, alle früheren spezifischen Hinweise auf Arsen wegzulassen? Sie tragen dazu bei, Verdacht auf Cheedle zu lenken, weil er nichts dagegen unternommen hat, und darüber hinaus ist – nachdem Mrs. Farland Sleepine genommen hat, durch das schon jemand ums Leben gekommen ist – das Überraschungsmoment eines Todes durch Arsen um so größer. 3. Da, soviel ich weiß, nur noch ein unglücklicher Kapitelschreiber nach mir kommt und damit die Sache zu einem Ende bringt, werde ich die Story ziemlich rasch weiterführen müssen, und ich werde nach der fälschlicherweise zu Penelope führenden Spur einen sehr entscheidenden Hinweis auf Cheedle als meinen abschließenden Knüller bringen. Dies wird hoffentlich meinen Nachfolger nicht allzu sehr in seiner Autorenfreiheit einschränken, sondern ihm die Chance geben, die Polizei aufgrund ihrer naheliegenden Annahme, die beiden Frauen müßten von einem einzigen Täter umgebracht worden sein, mit John Farland ein gutes Überraschungsmoment zu landen. (Oder auch mit jemand anderem?) Der Schmutz am Motorrad, die Benzinknappheit, Penelope, die Schritte gehört hat – alles könnte dazu beitragen, und ich wäre nicht überrascht, wenn John Farland im Konzert zwischen 21.30 Uhr und 22.00 Uhr für einen Gesangsvortrag oder eine Rede aufgefordert worden wäre, jedoch nicht aufgefunden werden konnte. Ich finde, es könnte am Schluß einen gründlichen Krach zwischen Farland und Cheedle geben. Penelope kann dann natürlich mit Parry zusammengespannt werden. In jedem Fall mache ich mit der Story weiter, so wie ich sie sehe… Als Dr. Cheedle ins Zimmer trat, war Inspektor Billingham nicht in seiner gewohnten seelischen Verfassung, sondern erregt und bedrückt. Er verabscheute den Gedanken, Penelope könnte die Schuldige sein, aber die Verdachtsmomente gegen sie wurden immer stärker. »Ich habe gerade mit Ihrer Tochter gesprochen, Sir«, sagte er, als der Arzt ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Schreibtischs saß. »Was sie mir erzählt hat, steht in einer ernsthaften Diskrepanz zu Ihren früheren Aussagen.« Cheedles Blick schien unruhig zu werden. Er öffnete den Mund, schloß ihn wieder, starrte auf den Boden und sagte dann: »Na schön, was hat sie Ihnen erzählt?«
»Daß sie bei Ihnen zu Hause war, als Schwester Ponting Sie am Sonntag aufgesucht hat.« Cheedle nickte gelassen. »Das stimmt. Ich habe Sie hierin getäuscht, aber nicht, weil ich Ihnen Ihre Arbeit erschweren wollte, sondern weil Penelope und ich unsere Gründe hatten, so zu tun, als sei sie ausgegangen. Es schien für die Angelegenheit völlig irrelevant zu sein.« »Ah so«, sagte Billingham. »Würden Sie mir jetzt bitte genau erzählen, was am Sonntagnachmittag in Ihrem Haus vorgefallen ist?« Cheedle räusperte sich. »Also – ich muß gleich sagen, ich wußte, daß Schwester Ponting den früheren Zug nehmen würde, weil ich sie telegrafisch gebeten hatte, das zu tun.« »Ach – wirklich?« »Ich wollte mich ein paar Minuten lang mit ihr unterhalten, bevor sie hier heraus nach Whitestones käme, und ich wollte nicht, daß irgendeiner der in Frage kommenden Verdächtigen erfuhr, daß ich vorher mit ihr gesprochen hatte. Unglücklicherweise hatte sich Penelope mit John Farland bei uns zu Hause verabredet, und zwar zu dem Zeitpunkt, als ich auch die Pflegerin dort erwartete. Obwohl ich ihn nie auch nur einen Augenblick lang für schuldig gehalten habe, gehört er zweifellos zu denen, die in Verdacht geraten sind, und ich wollte ihn nicht zusammen mit Schwester Ponting im Haus haben.« »Na, und?« sagte Billingham. »Es war schwierig, Penelope eine plausible Begründung dafür zu geben, daß sie ihre Verabredung mit Farland nicht einhalten dürfe. Sie ist nicht der Typ, dem man leicht ein U für ein X vormachen kann. Ich mußte mich ihr anvertrauen, und sie war natürlich wütend und entsetzt, zu erfahren, daß ich ihren Verlobten als einen Verdächtigen betrachtete.« Er lächelte düster. »Ich machte ihr klar«, sagte er, »daß auch sie einen Grund habe, Mrs. Farland aus dem Weg geräumt zu wissen, und das machte sie noch wütender. Aber schließlich beruhigte sie sich und ließ zu, daß ich Farland belog, als er anrückte. Aber sie nahm mir das Versprechen ab, niemandem zu verraten, daß sie in Wirklichkeit die ganze Zeit über im Haus gewesen sei, weil sonst auch er dahinterkommen könnte.« Das klang einleuchtend, fand Billingham und fühlte sich in bezug auf Penelope etwas erleichtert. Jedenfalls paßte Cheedles Version in jedem Punkt zu der ihren. Er begann den Arzt über Mrs. Farlands Tod auszufragen, aber in diesem Punkt konnte der Arzt nicht viel sagen. Erstens war er eingetroffen, als Mrs. Farland bereits gestorben war, und zweitens war er nicht bereit, sich über die Todesursache zu äußern, bevor eine Autopsie stattgefunden hatte, und schon gar nicht, bevor er die Angelegenheit mit Dr. Parry besprochen hatte, der bei ihrem Tod anwesend gewesen war. Letzterer war kurz nach Eintreffen seines Partners zu einem dringenden Fall weggerufen worden – denn Geburt, Tod, Krankheit und Rekonvaleszenz gingen in Creepe weiter, und Mrs. Farland würde nie mehr zwei Ärzte auf einmal an ihrem Bett benötigen. Zudem war Cheedle, wie Billingham selbst erkennen konnte, völlig erschöpft und sogar geneigt, scharf zu werden. »Die Autopsie«, sagte er in entschiedenem Ton, »wird uns endgültig verraten, was wir wissen wollen; bis dahin, Inspektor, kann ich, offen gestanden, nicht einsehen, wozu meine Vermutungen gut sein sollen.« »Durchaus – durchaus«, sagte Billingham und behielt den Gedanken, daß der größte Teil ärztlicher Tätigkeit ohnehin aus Vermutungen zu bestehen schien, für sich. »Übrigens, was diese Sleepine-Flasche betrifft, haben Sie da irgendeine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, ob sie wirklich ausgetauscht worden ist, so
wie Dr. Parry behauptet?« »Allerdings«, erwiderte Cheedle grimmig. »Denn wenn sich bei der Analyse der Kapseln, die Sie im Augenblick vornehmen lassen, herausstellt, daß am Inhalt herumgedoktert wurde, dann kann es sich ganz offensichtlich nicht um die Flasche handeln, die ich für Mrs. Farland hinterlassen habe.« »Natürlich… Nun ja, ich glaube, ich möchte Sie derzeit nicht länger belästigen. Das Ganze ist eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit.« »So ist es. Sehr merkwürdig. Und ich kann nur wiederholen, Inspektor, was ich schon gestern nacht am Telefon zu Ihnen gesagt habe: Meiner und Dr. Parrys Ansicht nach ist meine Patientin keines natürlichen Todes gestorben. Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen – ich bin ebenso sicher, daß sie sich nicht selbst umgebracht hat.« »Bleibt nur Mord, wie?« sagte Billingham. »Bleibt nur Mord«, pflichtete Dr. Cheedle bei und stand auf, um zu gehen. Billingham blieb sitzen, um nachzudenken. Im Bemühen, Penelope zu entlasten, kehrten seine Gedanken plötzlich wieder zu der Whiskyflasche zurück, die Tom Tadman im Wartesaal gefunden hatte. Hatte sie Schwester Ponting gehört? Wenn ja, so mußte sie sie mitgebracht haben. Sie konnte sie nicht in Creepe erworben haben, denn dort waren alle Pubs geschlossen gewesen. Oder hatte jemand anderer sie ihr an diesem Nachmittag gegeben? Er hatte natürlich einen Mann durch alle Kneipen und Lebensmittelläden geschickt, damit er herausfinden sollte, wer in den vergangenen beiden Tagen eine solche Taschenflasche gekauft haben könnte, aber viel erwartete er sich davon nicht. Trotzdem, eines war sicher, Schwester Pontings Tod stand mit dem von Mrs. Farland in Verbindung. Er hatte Gewissensbisse, wenn er an sein gestriges Gespräch mit ihr dachte. Sie hatte geahnt, daß sie nicht mehr lange zu leben hätte. Aber was hätte er in dieser Sache schon tun können? Er hatte alle großen Mordprozesse der letzten fünfzig Jahre verfolgt oder darüber gelesen, und er wußte sehr wohl, wie oft die alte Phrase ›cui bono‹ gerechtfertigt war. Neunundneunzig Morde von hundert – ausgenommen die aus Rache oder von Sexualtätern begangenen – waren erfolgt, um jemanden auszuschalten, der zwischen dem Mörder und etwas stand, was dieser haben wollte; ob es sich nun um Geld, Freiheit, Geheimhaltung, eine geliebte Person oder dergleichen handelte. Und wem gereichte es zum Vorteil, in Creepe oder Umgebung, Schwester Ponting auszuschalten? Offensichtlich der gleichen Person, die versucht hatte, Mrs. Farland zu beseitigen – genau so, wie sie selbst ihm das gestern gesagt hatte – und die natürlich wünschte, daß ihre Bemühungen unentdeckt bleiben sollten und nun befürchtet hatte, daß durch Schwester Pontings Eintreffen ihre ganzen Pläne zunichte gemacht würden. Billingham war im Augenblick bereit, hundert Pfund darauf zu wetten, daß beide Morde durch den gleichen Täter verübt worden waren. Und das – so bedauerlich der zweite Mord war – erleichterte ihm seine Aufgabe eher, denn, einmal angenommen, daß ein Mörder eine zwanzigprozentige Chance hat, im einen Fall ungeschoren wegzukommen, so verringert sich seine Chance auf fünf Prozent, wenn er gezwungen – oder dumm genug – ist, einen weiteren Mord zu begehen. Zu wessen Vorteil – wirklichem oder vermutetem, denn auch Mörder irren sich zu ihrem Pech manchmal – gereichte es nun, wenn Mrs. Farland beseitigt war? Ein Hinweis darauf, überlegte Billingham, würde bald durch den Inhalt ihres Testaments gegeben werden. Einer der Verdächtigen mußte einen beträchtlichen Happen abbekommen, und es würde sehr interessant sein zu erfahren, wer das war. Nicht, daß er, der Inspektor, einfältig genug war, um sich durch dieses Wissen zu ungerechtfertigten Vorurteilen hinreißen zu lassen, aber – nun ja, er hielt nun einmal viel von dem guten alten ›cui bono‹, zumindest als Hinweis.
In diesem Augenblick betrat John Farland das Zimmer, und bald nachdem er seine Unternehmungen der vergangenen Nacht noch einmal kurz bestätigt hatte, entdeckte der Inspektor plötzlich einen der Hinweise, nach denen er suchte. »Sie dürfen mir diese Fragen nicht verübeln«, hatte er freundlich gesagt, »aber die Sache ist wirklich sehr ernst.« »Ich bin durchaus geneigt, Ihnen beizupflichten«, erwiderte der junge Mann bedrückt. »Und meiner Ansicht nach ist eines vom Schlimmsten, daß wir meine Tante nie wirklich ernst genommen haben. Dr. Parry, zum Beispiel, war überzeugt, daß sie hysterisch sei – aber nun sieht es ganz so aus, als ob sie die ganze Zeit über recht gehabt hätte. Wir haben uns sogar darüber lustig gemacht. Lieber Himmel, ich erinnere mich, daß ich an dem Nachmittag, als wir diese arme Pflegerin kommen lassen wollten – für den Fall, daß da irgendwas an der Sache dran war…« Er brach plötzlich ab. »Nun, Sir?« sagte Billingham. »Was ist?« »Nichts. Mir ist nur gerade eingefallen, daß all das nicht viel mit dem Ganzen zu tun hat.« »In einem Fall wie diesem kann alles hilfreich sein.« »Na ja,- ich wollte bloß sagen, daß ich Millie geneckt habe – ich meine Miß Pink – indem ich sagte, dies sei ihre letzte Chance, die alte Dame um die Ecke zu bringen. Ziemlich schrecklich, nicht wahr? Aber ich hätte diesen Witz ebenso gut auch in bezug auf mich selbst machen können. Ich war oft genug unter Tante Emmas Verdächtigten.« Billingham nickte und entsann sich des Fensters in John Farlands Wohnzimmer. Es wäre ganz einfach für ihn gewesen, am Sonntagnachmittag das Haus ungesehen zu verlassen und sich mit Schwester Ponting irgendwo zu treffen. »Sie standen natürlich als nächster Verwandter Ihrer Tante und mutmaßlicher Erbe im Verdacht?« erkundigte er sich geschickt. »Vermutlich ja. Nicht, daß sie dagegen viel hätte unternehmen können. Tatsächlich hat es sie geärgert, daß ich der einzige Mensch war, dem sie nicht damit drohen konnte, ihm keinen Shilling zukommen zu lassen, wenn sie das wollte. Ich bekomme in jedem Fall fünfzehntausend Pfund von meinem verstorbenen Onkel.« Ah, dachte der Inspektor nun, da ist trotzdem noch ein ›cui bono‹. Laut sagte er: »Aber das war doch nicht alles, was sie besaß?« »O nein. Da gibt es noch eine ganze Menge mehr. Ich glaube, ich war auch einmal eine Zeitlang im Rennen. Aber in letzter Zeit hat sie ihre Versprechungen – na ja, ehrlich gesagt, als eine Art Schwert über Miß Pinks Kopf geschwungen,
um sich an sklavischer Unterwerfung zu sichern, was sie bekommen konnte.
Wissen Sie, während der vergangenen Woche stand Millie wohl in ihrer Gunst,
aber morgen sollte sie schon wieder enterbt werden. Und in der nächsten Woche
hätte es dann schon wieder gänzlich anders sein können…«
»Es bestand also die Gefahr, daß Miß Pink wieder enterbt werden sollte?« fragte
Billingham und studierte eingehend seine Fingernägel.
John Farland zögerte mit gerunzelter Stirn.
»Wenn Sie mich schon fragen, so weit ich weiß – ja. Aber…« er war plötzlich
verlegen, »das ist für mich eine schrecklich peinliche Frage. Beinahe hätte ich
gesagt, ich wüßte es eigentlich gar nicht.«
»Warum, Sir?« fragte Billingham milde. Er schien nun doch weiterzukommen –
wieder ein ›cui bono‹! »Es lohnt sich nicht, die Polizei zu belügen.«
»Ja, ich weiß.«
»Warum also?«
»Aus zwei Gründen. Erstens einmal darf ich eigentlich gar nichts davon wissen.
Miß Cheedle hat es mir gestern abend erzählt, und das hätte sie nicht tun dürfen
– sie ist Privatsekretärin. Vermutlich dachte sie, ein Verlobter hätte da seine Privilegien.« »Stimmt, das hatte ich ganz vergessen«, log der Inspektor und bewahrte in seinem Herzen, daß es hier in jedem Fall zwei Leute gab, die gewußt hatten, wohin das Gros des Vermögens der Dame Farland gehen würde. »Und ihr zweiter Grund?« fragte er. »Na ja…« John Farland zögerte erneut. »Mir wurde plötzlich klar, daß ich die arme Millie, wenn ich Ihnen das erzähle, in ein sehr schiefes Licht rücken würde. Nicht, daß sie den Mumm aufbrächte, auch nur einer Fliege etwas zuleide zu tun, aber trotzdem, die Schlußfolgerung…« Er brach ab und fühlte sich offensichtlich unbehaglich. Dann platzte er mit offensichtlicher Aufrichtigkeit heraus: »Sie können mir glauben, Millie könnte so etwas gar nicht tun. Sie hat bei Tante Emma eine schlimme Zeit durchgemacht – sie führte ein höllisches Dasein, wissen Sie, aber sie ist die geborene Sklavin, und so weit zu gehen…« »Oh, so etwas wollen wir gar nicht in Betracht ziehen«, unterbrach ihn Billingham und fügte insgeheim: »Jedenfalls jetzt noch nicht« hinzu. »Gibt es noch etwas, das Sie mir erzählen können? Irgend etwas, das in dieser unglückseligen Sache von Belang sein könnte?« »Leider nichts.« John Farland lächelte unbefangen. »Und trotzdem – jemand muß es ja getan haben – vermutlich stehen wir alle im Verdacht?« Der Inspektor erhob sich. »Wie Sie sagen, Sir, jemand muß es getan haben.« Den Rest des Satzes wiederholte er nicht. »Nun, dann will ich jetzt einmal mit Miß Pink sprechen.« Er öffnete die Tür. »Ich werde ihr Bescheid sagen.« John Farland ging hinaus. Billingham blieb einen Augenblick lang stehen und starrte auf die Tür, durch die John Farland soeben verschwunden war. In Wirklichkeit versuchte er, durch die Tür auf den jungen Mann selbst – und weiter noch, in dessen Inneres zu blicken. War John Farland wirklich das, was er zu sein schien – liebenswürdig, leger, nicht allzu angetan von seiner Tante und nicht so heuchlerisch, einen Kummer vorzuspielen, den er nicht empfand? Oder war er ein gerissener, kaltblütiger Mörder, der zwei Menschen aus dem Weg geschafft hatte, nur weil er nicht noch ein paar Jahre länger auf seine fünfzehntausend Pfund warten wollte? Natürlich, angesichts einer Schönheit wie Penelope, die darauf wartete, seine Frau zu werden, sobald er sich eine Ehe finanziell leisten konnte, bekam das Ganze einen anderen Anstrich. »Ich frage mich…«, sagte Billingham laut und ließ sich nieder, um auf Miß Pink zu warten – die, wenn John Farland die Wahrheit gesagt hatte, am heutigen Tag hätte enterbt werden sollen. Aber es war dann doch nicht Millie, die in diesem Augenblick an die Tür klopfte und eintrat. Es war Joan Cliff, und ein paar Minuten später saß sie, wie eine hübsche kleine braune Maus, in einem großen Sessel und redete ernsthaft auf einen aufmerksamen Billingham ein. »Ich hoffte, daß Sie nichts dagegen haben würden«, sagte sie. »Aber ich hatte das Gefühl, ich müßte Sie so bald wie möglich sprechen, und Miß Pink ist immer noch in einem schrecklichen Zustand, in Tränen aufgelöst, voller Nervosität und, weiß der Himmel, was sonst noch.« Sie machte eine Pause. »Es handelt sich um meine Tante; das war Schwester Ponting, wissen Sie das?« »Ich weiß es. Miß Cheedle hat es mir gesagt.« »Ich – ich mochte Tante Hilda sehr gern.« Ihre hübschen Augen wurden feucht, und Billingham wandte verlegen den Blick ab. »Ich weiß nicht, was bei der gerichtlichen Untersuchung herauskommen wird – aber ich weiß, daß sie keines
natürlichen Todes gestorben ist.«
»Da pflichte ich Ihnen bei, Miß Cliff. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber
meiner Meinung nach ist sie ermordet worden.«
Diese kleine, direkte junge Person gefiel ihm sehr, und er hatte nicht das Gefühl,
wie die Katze um den heißen Brei schleichen zu müssen.
»Ja. Deshalb dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht helfen – zum Beispiel habe
ich das hier mitgebracht…« Sie begann in ihrer Handtasche zu kramen. »Ich
habe nicht gesehen, daß es in den Zeitungen erwähnt wurde, da stand nur was
darüber, daß Tante Hilda irrtümlicherweise mit einem zu frühen Zug gekommen
sei, obwohl das nur eine Ausrede war. Das weiß ich, denn wir haben uns das
zuvor ausgedacht.« Sie reichte Billingham ein zerknittertes Blatt Papier.
Er glättete es. »Oh, Dr. Cheedles Telegramm!« rief er.
»Sie wissen das also?«
»Ich habe es eben erst erfahren«, erklärte Billingham und blickte auf das
Telegramm, dessen Inhalt weitgehend dem entsprach, was er erwartet hatte:
›Würde Sie gern vor Übernahme der Pflege in Yowle privat sprechen. Schlage
vor, Sie nehmen Zug um 1.31 Uhr von Paddington statt dem vorher
vereinbarten. Kommen Sie am Nachmittag in mein Haus in Creepe. Dr. Cheedle.‹
»Hm«, brummte Billingham, »das hat ihn eine ganze Stange Geld gekostet.«
»Ich wüßte nicht, wie er sich hätte kürzer fassen können«, wandte Joan ein.
»Sehen Sie, er kannte meine Tante gar nicht. Tatsächlich hatte sie solch einen
Vorschlag erwartet – angesichts der Besonderheit des Falls…«
»Ja, das stimmt«, sagte Billingham. Den Punkt hatte er übersehen.
»Wir beredeten die Sache – Tante Hilda war eigentlich ziemlich unglücklich über
das Ganze – und erfanden diese Ausrede… Aber…«, sie unterbrach sich, »… Es
tut mir leid, Sie belästigt zu haben, da Sie doch schon alles wissen.«
»Das ist völlig in Ordnung, Miß Cliff.«
Sie wirkte plötzlich wesentlich nervöser. »Dann darf ich Ihnen vielleicht auch
noch – wegen dieses letzten Todesfalls ein bißchen auf die Nerven gehen?«
»Deshalb bin ich ja da«, sagte der Inspektor lächelnd. »Nichts ist unwichtig.«
»Miß Pink kam erst herunter, als Miß Cheedle und ihr Vater schon gegangen
waren, und während Sie hier mit Mr. Farland sprachen, stellte ich mich vor, und
wir kamen miteinander ins Gespräch. Sie erzählte mir alles über die gestrige
Nacht, schilderte was vorgefallen war…«
»Nur zu«, drängte Billingham freundlich.
»Nun ja – die Symptome am Ende – die waren…« sie zögerte, dann platzte sie
heraus: »eindeutig die einer Arsenvergiftung.«
»Arsen!« Billingham pfiff durch die Zähne.
»Beim Fall Heaviside war es Arsen, wissen Sie, und ich habe von meiner Tante
eine Menge darüber gehört. Es gibt da sehr ausgeprägte Symptome – Brennen
im Magen und Übelkeit, Wadenkrämpfe und noch anderes… Aber natürlich ist das
nur eine Mutmaßung.«
»Das werde ich demnächst erfahren. Ich erwarte eine Analyse. Aber ich muß
gestehen, an Arsen hatte ich nicht gedacht. Ich war auf das infernalische
Sleepine fixiert. Es ist das Mittel, das für den Tod Ihrer Tante verantwortlich war,
und im vorliegenden Fall wurde es ebenfalls eingenommen.«
Er schien in Gedanken versunken, und Joan Cliff stand auf. »Wenn es sonst noch
etwas gibt, das ich Ihnen sagen kann, werde ich das sehr gern tun. Ich stehe zur
gerichtlichen Untersuchung zur Verfügung, und ich werde dableiben müssen bis –
bis die Beerdigung vorüber ist.«
»Gut, dann setze ich mich vielleicht später noch mit Ihnen in Verbindung. Oh,
übrigens«, fügte er hinzu, als sie sich zum Gehen wandte, »etwas können Sie mir
noch sagen. Hat Ihre Tante jemals Whisky getrunken, und wenn ja, welche
Sorte? Black Horse zum Beispiel?« Das Mädchen lächelte schwach. »Nein, sie war eine fanatische Antialkoholikerin. Unglücklicherweise – denn ich bins nicht.« »Danke«, sagte Billingham nachdenklich. Das Mädchen verschwand, und der Inspektor wanderte erneut zum Fenster hinüber. Arsen! Das war durchaus eine Möglichkeit. Diese Joan Cliff schien zu wissen, wovon sie sprach. Und wenn es sich wirklich um Arsen handelte, so schien das auszuschließen, daß einer der Ärzte beim Tod der alten Dame die Hand im Spiel hatte, denn ein Mediziner würde angesichts der Tatsache, daß ihm alle im amtlichen Arzneibuch verzeichneten Mittel zur Verfügung standen, kaum Arsen als Waffe benutzen; Arsen, das eine Gift, das buchstäblich noch nach Jahren dem Grab entsteigen, den Mörder aus seinem vermeintlichen Paradies eines falschen Sicherheitsgefühls herausreißen und direkt an den Galgen bringen konnte. Das Telefon in der Ecke klingelte plötzlich, und als er den Hörer abhob, fragte eine Stimme nach ihm. Es war der Anruf, den er erwartet hatte. Der Analytiker konnte ihm versichern, daß sich in keiner Weise der noch in der neuen Flasche befindlichen Kapseln irgendwelche Spuren von Arsen befänden. Sie enthielten Sleepine und nichts anderes. In diesem Augenblick kam Millie Pink ins Zimmer. Millie hatte sich etwas gefaßt, obwohl ihre wenig attraktive Erscheinung sich durch die fortwährenden Tränenausbrüche in keiner Weise verbessert hatte. Aber wenigstens hatten sie etwas bewirkt: Die Tränen waren so reichlich geflossen, daß sie im Augenblick gar nicht mehr weinen konnte. Auf diese Weise war es dem Inspektor möglich, eine ziemlich zusammenhängende Geschichte zu hören, und da Millie alles andere als unaufmerksam war, eine nützliche dazu. Sie erzählte ihm, wie sie von Penelope die neue Flasche bekommen und sie neben die andere ins Medizinschränkchen im Ankleideraum gestellt hatte, und wie sie eben im Begriff gewesen war, besagten Schrank aufzuräumen, als sie ziemlich abrupt ins Bett geschickt wurde. Dann schilderte sie ihr späteres Zusammentreffen mit Penelope, wobei sie offen sagte, sie habe zuvor gehört, wie Mrs. Farland ihren Namen erwähnte, und sei stehengeblieben, um zu horchen. »Belauschen nennt man so was vermutlich«, gestand sie mit einfältigem Lächeln. »Aber, warum?« »Weil Mrs. Farland an diesem Abend ziemlich gemein zu mir gewesen war, und Mr. Walton wollte sie heute besuchen, und – und deshalb habe ich mich gefragt, ob sie mich wieder aus ihrem Testament streichen wollte. Darüber habe ich dann mit Miß Cheedle gesprochen.« »Und, hatte Mrs. Farland es so vorgehabt?« »Ich – ich weiß nicht«, stammelte Millie. »Ich konnte nichts verstehen, und Penelope wollte mir hinterher nichts sagen.« »Wie dem auch sei«, sagte Billingham und lächelte mit scheinbarer Sorglosigkeit, »es spielt ja jetzt keine Rolle mehr, oder? Ich meine, es ist zu spät dazu.« Während er sie scharf beobachtete, sah er, daß sich ihr unscheinbares Gesicht plötzlich in einem Leuchten von Glück erhellte, das eine wahre Offenbarung für ihn war. »Ich – daran habe ich überhaupt nicht gedacht. All der Trubel… Aber, ich…« Und zu Billinghams Verblüffung brach sie erneut in eine Hut von Tränen aus, ungefähr zum zehntenmal an diesem Vormittag. Da er das Gefühl hatte, doch nicht mehr aus ihr herausholen zu können, ließ er sie gehen und stattete dann dem Zimmer im oberen Stock noch einen kurzen Besuch ab. Dabei kam gar nichts heraus; wie Cheedle gesagt hatte, die Autopsie
war das einzige, was helfen konnte. Dann verließ der Inspektor Whitestones und knatterte in seinem Ford nach Creepe zurück. Von der dortigen Polizeistation aus erstattete er seinem Chef telefonisch Bericht über die Affäre und den derzeitigen Stand seiner Ermittlungen. Er schlug auch in Anbetracht dieser neuen Komplikationen vor, den Coroner um Aufschiebung der für den heutigen Tag angesetzten gerichtlichen Untersuchung bitten zu dürfen, so lange, bis neue polizeiliche Ermittlungsergebnisse vorlägen. Dann fuhr er in Mr. Waltons Kanzlei, um seine beiden ›cui bonos‹ zu überprüfen. Dort, nach einem langen Wortgefecht mit dem mürrischen Mr. Walton, der über die eiserne Diskretion des Anwalts verfügte und fand, auch die Polizei könne warten, bis das Testament eröffnet sei, gelang es ihm schließlich, eine Bestätigung über John Farlands Erbschaft von fünfzehntausend Pfund zu erlangen und auch darüber, daß, abgesehen von einigen kleinen Geldsummen für zeitweilige Favoriten, Millie Pink den Rest bekommen sollte, wobei es sich um rund fünfundzwanzigtausend Pfund handelte. Nach weiterer zäher Diskussion erfuhr der Inspektor zudem, daß John Farlands andere Aussage zutraf; Mrs. Farland hatte tatsächlich beabsichtigt, am heutigen Tag das Testament zu ändern und Millie Pink komplett zu enterben. »Zu wessen Gunsten?« »Das spielt jetzt wohl wirklich keine Rolle«, sagte Walton steif. »Trotzdem würde ich es gern wissen, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Und ich sage, wenn Sie nichts dagegen haben, daß es in keinerlei Zusammenhang mit der unseligen Tragödie stehen kann; es würde sich lediglich um einen leichtfertigen Vertrauensbruch gegenüber meiner toten Klientin handeln.« Billingham, bemüht seinen Ärger unter Kontrolle zu halten, argumentierte weiter, aber der andere blieb eisern, und da es bereits Zeit war, zur gerichtlichen Untersuchung zu gehen, mußte er sich verabschieden. Die gerichtliche Untersuchung dauerte nicht lange. Die Entdeckung der toten Schwester Ponting und die Todesursache wurden formell bestätigt – und danach verkündete der Coroner, daß die Polizei um einen Aufschub von acht Tagen für die weiteren Untersuchungen gebeten hatte. Daraufhin zog sich Billingham in eine ruhige Ecke der Eagle-Kaffeestube zurück, um sich einem wohlverdienten Kotelett und intensiver Gedankenarbeit zuzuwenden. Solide, konsequente Aneinanderreihung von Fakten pflegte ihn im allgemeinen weiterzubringen, und er hatte festgestellt, daß er während des Essens besonders gut denken konnte. Wahrscheinlich trug – wie seine Frau zu sagen pflegte – die rhythmische Bewegung seines Unterkiefers dazu bei, denn sie behauptete, sie kenne keinen Menschen, der so lange an einem Mundvoll Essen herumkaute und es am Ende doch noch hinunterschluckte. Aus den Regalen seines Gedächtnisses wählte er die Flasche mit den SleepineKapseln aus und startete dann von ihr aus, kaute und grübelte aufs intensivste. Obwohl der Analytiker kein Arsen in den verbliebenen Kapseln gefunden hatte, blieb noch immer die Möglichkeit, daß die Kapseln, die Mrs. Farland eingenommen hatte, welches enthalten hatte. Aber selbst abgesehen von dieser Tatsache, so überlegte Billingham, hätte Dr. Cheedle, sofern er seine eigene Patientin hätte vergiften wollen, fast mit Sicherheit kein Arsen benutzt. Und weiterhin schien es sehr unwahrscheinlich, daß er die Kapseln präpariert und sich dann von einem anderen Arzt vertreten lassen hätte. Die Gefahr, daß andere dahinterkommen konnten, wäre zu groß gewesen. Alles viel zu riskant. Es sah demzufolge stark danach aus, als ob die todbringende Flasche ausgewechselt worden war, nachdem er sie herausgegeben hatte. Nun war es höchst unwahrscheinlich, überlegte der Inspektor, daß dies
Parry getan hatte, denn er selbst hatte ja auf die Tatsache hingewiesen, daß die Flasche ausgetauscht worden war. Es sei denn, natürlich, daß es sich dabei um ein raffiniertes Manöver gehandelt hatte, aber auch Parry hätte kaum Arsen benutzt. Im Augenblick sah es ganz danach aus, als ob die Flasche ausgewechselt wurde, nachdem Parry sie Penelope Cheedle ausgehändigt hatte – die wiederum sie mit in den oberen Stock genommen und Millie Pink übergeben hatte, damit sie sie in den Medizinschrank stellte… An diesem Punkt gab Billingham einen plötzlichen Laut von sich, verschluckte sich an einem Stück Kartoffel und kam anschließend einige Minuten lang nicht mehr recht zu sich, abgesehen davon, daß er in der Kaffeestube allerhand amüsierte Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Der Grund zu all dem war, daß er sich plötzlich erinnerte, was Penelope Cheedle gesagt hatte – nämlich, daß Dr. Parry sich getäuscht habe, als er behauptete, es sei nicht die gleiche Sleepine-Flasche gewesen wie die, die er gebracht hatte. Irgend etwas war da merkwürdig: So etwas zu sagen, war in dieser Situation unnatürlich. Denn, so argumentierte Billingham während seiner ständigen Kaubewegungen, wenn jemand sagt: »Ich erinnere mich, daß mir in der Flasche, die ich herausbrachte, ein kleiner Sprung auffiel, und diese hier hat keinen, also ist es nicht die gleiche!«, dann kann man nicht einfach grundlos behaupten, daß er sich geirrt habe, daß es spät und er müde gewesen sei – also praktisch darauf bestehen, er habe sich den Anblick dieses Sprungs lediglich eingebildet! Eine solche Aussage konnte nur glaubhaft wirken, wenn der Sachverhalt genau umgekehrt war, wenn Dr. Parry gesagt hätte: »Die Flasche, die ich gebracht habe, hatte keinen Sprung und diese hier hat einen.« Dann hätte man einwenden können, er habe diesen Sprung eben übersehen, die Flasche habe ihn von vornherein gehabt. Ja, dachte Billingham mit einiger Erregung, wenn Parry behauptet hat, er habe die Beschädigung im Glas bemerkt, so war das entweder gelogen und ein Versuch, so zu tun als sei die Flasche ausgewechselt worden; oder aber der Sprung hatte wirklich existiert, in welchem Fall Penelope Cheedle keinerlei Grund hatte, mit solcher Entschiedenheit darauf zu bestehen, der Arzt habe sich getäuscht. Es sei denn – und Billinghams Unterkiefer hielt vor Erregung in seiner Kauarbeit inne – sie hatte so tun wollen, als sei die Flasche gar nicht ausgewechselt worden und – guter Gott, dachte Billingham – dann hat sie sie vielleicht selbst… Einen Augenblick lang empfand er einen Schock, bei der Erkenntnis, daß sein Verdacht erneut auf ein so schönes Geschöpf wie Penelope gelenkt wurde. Dann machte er sich bedrückt klar, daß die äußere Erscheinung eines Menschen kaum je etwas von der innewohnenden Seele widerspiegelte. Auch wenn er sich natürlicherweise von dem Mädchen angezogen fühlte, er war Polizist und hatte eine Aufgabe zu bewältigen, und Penelope war, als John Farlands Verlobte, ebenfalls ein Fall von ›cui bono‹. Er schluckte seinen lang überfälligen Bissen hinunter und aß und grübelte in dieser Richtung weiter, um sich schließlich zögernd zugeben zu müssen, daß hier die Dinge nur allzu gut zusammenpaßten. Denn Penelope hätte sehr wahrscheinlich Arsen angewandt, eines der wenigen. Gifte, zu denen sie Zugang hatte, ohne allzuviel Verdacht zu erregen. Penelope hatte ausreichend Gelegenheit, an die Kapseln, die ihr Vater seiner Patientin brachte, heranzukommen und ihren Inhalt zu manipulieren. Und Penelope hatte zudem, wie Parry berichtet hatte, ihn zur Tür hereingelassen und die neue Flasche von ihm entgegengenommen. So schrecklich es war, alles schien auf Penelope Cheedle hinzuweisen. An diesem Punkt wischte sich Billingham die Stirn, trank einen gewaltigen Schluck Bier, wechselte vom Kotelett zu Cheddarkäse über und gedanklich gleichzeitig zu Schwester Pontings Tod, denn beide Morde waren so offensichtlich
durch die gleiche Hand erfolgt. Und hier – wie ein Schlag ins Gesicht – folgte ein weiterer Hinweis auf Penelope. Sie hatte allein mit der Pflegerin Tee getrunken, und zwar ungefähr um die Zeit, in der ihr nach Schätzung des Arztes Sleepine verabreicht worden war. Sie hatte gewußt, weshalb die Krankenschwester geholt worden war, und ihr war klargeworden, daß ihre Pläne demnächst zunichte gemacht würden. Zweifellos hatte sie ihrem Vater zugeredet, das bewußte Telegramm abzuschicken. Und sie hatte, seit ihrer Grippe, Sleepine in ihrem Besitz. Mein Gott, dachte Billingham, angenommen das verhält sich wirklich so – und dieses Mädchen hat es trotzdem fertig gebracht, heute morgen dazusitzen und mich mit ihren schönen blauen Augen so aufrichtig anzusehen… Was hatte sie noch über Sleepine gesagt? »Wenn man einmal von einer Sache hört, kommt sie einem gleich dreimal zu Ohren. Da war nun Schwester Ponting, die Sleepine genommen hat, und ich und Mrs. Farland…« Sein schnell funktionierendes Gehirn erfaßte plötzlich einen weiteren kleinen Punkt. Das Mädchen hatte Sleepine in Verbindung mit Mrs. Farland erwähnt, obwohl es doch Arsen gewesen war, das sie umgebracht hatte. Natürlich war das eine Annahme, zu der eine unschuldige Person leicht kommen konnte. Aber es bestand auch die Möglichkeit, daß eine schuldige Person das vorbrachte, um so zu tun, als wüßte sie nicht, was wirklich im Spiel gewesen war. Während ihm dies alles im Kopf herumwirbelte, stand er eilig auf und ging fort. Er mußte sich mit Penelope Cheedle noch einmal unterhalten, und zwar bald… Draußen auf der Straße wurde er von einem zornigen Kellner eingeholt, der ihm mit der Rechnung nachgerannt kam und mit der Polizei drohte. »Die Anwaltskanzlei Walton & Bloomfield hat vor einer Weile angerufen und wollte Sie sprechen, Sir«, verkündete Sergeant Craven. Der Inspektor war kurz in die Polizeistation gekommen um nachzusehen, ob irgendwelche Nachrichten für ihn eingetroffen waren. »Sie haben nicht gesagt, um was es sich handelt.« »Gut. Verbinden Sie mich bitte, ja?« sagte Billingham und setzte sich. Während er wartete, grübelte er über einem neuen Aspekt des Falles. Falls Penelope Cheedle die Flaschen wirklich ausgetauscht hatte, warum, um alles in der Welt, hatte sie sie hinterher nicht wieder umgetauscht, um so jeden Verdacht abzuwenden? Sie hätte dazu, so weit er das beurteilen konnte, reichlich Gelegenheit gehabt, während Mrs. Farland in ihrem letzten tödlichen Koma lag, denn John Farland telefonierte nach dem Arzt, das Mädchen füllte die Wärmflasche; lediglich Millie war anwesend gewesen, aber die mußte in solch einem Zustand der Verwirrung gewesen sein, daß sie ohnehin nichts bemerkt hätte. Seine instinktive männliche Sympathie für das schöne Mädchen lag sich nun mit seinem instinktiven Wunsch, den Mörder zu überführen, in den Haaren, und er hoffte beinahe, dieser neue Gedankengang würde von Penelope wegführen. Aber nach kurzem Überlegen schüttelte er betrübt den Kopf. Das Mädchen wußte, wie er von John Farland erfahren hatte, genau, daß Millie am darauffolgenden Tag aus dem Testament gestrichen werden sollte. Die Flaschen nicht wieder auszutauschen, wäre ein guter Schachzug von ihrer Seite gewesen; alles so zu lassen wie es war, mußte zweifellos den Verdacht auf Millie lenken. Damit schien Millie Pink als mögliche Täterin bereits auszufallen, überlegte er; denn sie hätte aller Wahrscheinlichkeit nach die Flaschen wieder ausgewechselt, wenn sie die Schuldige gewesen wäre. Es bestand allerdings die entfernte Möglichkeit, daß sie, als der Tod Mrs. Farlands nun wirklich eintrat, zu durcheinander war, um so zu reagieren. »Mr. Walton ist noch nicht vom Lunch zurück, Sir«, rief Craven vom Telefon herüber. Er legte die Hand über die Sprechmuschel. »Schon fast drei. Man sollte denken, der alte Besenstiel würde n bißchen Speck ansetzen, wenn er so viel ißt
– aber nein!« Und Craven, seine beste und zumeist einzige Zuhörerschaft, lachte
herzhaft.
»Richten Sie dort aus, er soll mich hier anrufen. Ich warte«, sagte Billingham.
Dann seufzte er. Fast alles wies auf Penelope hin. Natürlich konnte das
unterlassene Zurückwechseln der Flasche auch anderweitigen Verdacht erregen,
beispielsweise hätte es sich ebenso gut um John Farland handeln können, aber
der war den ganzen Abend über, bis nach elf Uhr, im Konzert gewesen und hätte
das Austauschmanöver gar nicht vornehmen können.
»Lieber Himmel, was für ein Durcheinander«, sagte Billingham laut und hatte
dann eine Idee. »Craven!« rief er, »ich habe eine Aufgabe für einen smarten
jungen Konstabier – für Bratton zum Beispiel.«
»Was soll er tun, Sir?«
»Irgendwo drüben in Whitestones befindet sich vermutlich eine Flasche mit
Sleepine-Kapseln, wahrscheinlich ungeöffnet.«
»Verdammt, wieder dieses Zeug!«
»Ja. Das ist die Flasche, die Mrs. Farland eigentlich bekommen sollte, und sie
müßte einen kleinen Sprung oder so was am Hals haben. Ich nehme an, der
Mörder hat alles unternommen, um sie so bald wie möglich loszuwerden, damit
sie nicht bei ihm gefunden wird. Bratton soll die Mülltonne durchsuchen – obwohl
ich nicht glaube, daß die Flasche da drin ist – jeden Teich, jeden Lichtschacht,
Ritzen in den Wänden, Gräben, einfach alles, an Stellen, an die in der
vergangenen Nacht jemand heimlich hingelangen und etwas verstecken konnte.
Er soll es auch im Innern des Hauses versuchen, obwohl sie dort nicht sein wird.
Ich nehme überhaupt an, daß er sie nicht finden wird. Aber wenn doch, so hat er
gute Arbeit geleistet. Ein Sprung im Flaschenhals, vergessen Sie das nicht.«
»Ich werde es ihm sagen, Sir«, erwiderte Craven, überaus beeindruckt von dem,
was in seinen Ohren stark nach Sherlock Holmes klang. In diesem Augenblick
klingelte das Telefon.
»Inspektor Billingham?« Das war Waltons kurz angebundene, energische
Stimme. »Seit unserer Unterhaltung heute vormittag habe ich mit meinem
Partner alles durchgesprochen. Er ist der Meinung, ich hätte mich falsch
verhalten, Ihnen unter den herrschenden Umständen gewisse Informationen zu
verweigern, wie irrelevant sie auch sein mögen.«
»Danke, Sir.« Der Inspektor preßte sein Ohr gegen den Hörer. Was würde nun
kommen?
»Mrs. Farland hegte die Absicht, Miß Pink aus ihrem Testament zu streichen und
dafür Miß Penelope Cheedle einzusetzen.«
»Guter G… ich meine – ist das tatsächlich so?«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt«, antwortete der Anwalt in scharfem Ton.
»Aber – ja – eine Minute, Mr. Walton!« Billinghams Gehirn arbeitete schnell. Ihm
war sofort klar, daß damit der Verdacht gegen Penelope so gut wie zunichte war,
denn wer würde schon jemanden, am Tag bevor er als Erbe eingesetzt wurde,
umbringen?
»Ich warte«, sagte Waltons Stimme.
»Entschuldigung. Was ich wissen möchte, ist folgendes: Wußte Miß Cheedle, als
Ihre Sekretärin, darüber Bescheid?«
»Natürlich nicht. Mrs. Farland hatte mir das persönlich mitgeteilt, und ich habe
es niemandem weitererzählt, schon gar nicht Miß Cheedle. Adieu.«
Billingham zündete sich eine Zigarette an. Er fragte sich, ob nicht vielleicht Mrs.
Farland es an diesem letzten Abend dem Mädchen mitgeteilt hatte. Nur zwei
Personen konnten das wissen – und eine von ihnen war tot, während die andere,
sofern sie schuldig war, wahrscheinlich lügen würde. Er trat auf die Straße
hinaus. Es war wichtiger denn je, noch einmal mit Penelope Cheedle zu sprechen.
Unterwegs passierte etwas Merkwürdiges. Vor sich, auf der Straße, sah der Inspektor Dr. Cheedle. Er eilte hinter ihm her und tippte ihn auf den Arm. Zu seiner Verblüffung fuhr der kleine Arzt heftig zusammen und ließ ein paar Briefe fallen, die er offensichtlich zur Post bringen wollte. »Idiotisch von mir«, entschuldigte er sich. »Meine Nerven sind seit den letzten paar Tagen in einem schlechten Zustand.« »Idiotisch von mir«, gab Billingham zurück und half ihm, die Briefe wieder aufzusammeln. Aber er stellte dem Arzt dann doch keine der beabsichtigten Fragen, sondern ließ ihn, nachdem sie ein paar Minuten lang miteinander geplaudert hatten, seines Weges gehen. Er seinerseits kehrte zur Polizeistation zurück und setzte sich telefonisch mit einer bestimmten Londoner Polizeizentrale in Verbindung. Er hatte nämlich die Adresse eines der Briefe gelesen, die Cheedle hatte fallen lassen, und es hatte sich um die der Firma eines bekannten Geldverleihers gehandelt. Er hatte das Gefühl, mehr über Cheedle in Erfahrung bringen zu können, wenn er Näheres über sein Privatleben erfuhr, und dies hier schien eine gute Gelegenheit zu sein. Innerhalb einer Stunde – und mit der inoffiziellen Hilfe eines Freundes in einer der hauptsächlichen Polizeiabteilungen – hatte er erfahren, daß Dr. Cheedle der Firma Solomon Mactavish zweitausend Pfund schuldete, und daß er erst in der vergangenen Woche dorthin geschrieben hatte, er hoffe, in Kürze in der Lage zu sein, alles zurückzubezahlen. Billingham pfiff wieder leise durch die Zähne, als er auflegte. Für Dr. Cheedle gab es also ebenfalls bis zu einem gewissen Grad ein ›cui bono‹ – über seine Tochter und John Farland. War es nicht seltsam? Eine Patientin blieb beharrlich dabei, sie würde vergiftet, so beharrlich, daß ihr Anwalt tatsächlich eine Krankenschwester kommen ließ, die in einem tödlich verlaufenen Fall von Arsenvergiftung bereits Erfahrungen gesammelt hatte; und alle Symptome der Kranken wiesen auf eine Arsenvergiftung hin. Aber ihrem Arzt war anscheinend nie ein diesbezüglicher Verdacht gekommen und er hatte niemals vorgeschlagen, auch nur den einfachsten medizinischen Test durchzuführen, der die Wahrheit ans Licht gebracht hätte!
NACHTRÄGLICHE FLÜCHTIGE ANMERKUNGEN
FÜR MEINEN NACHFOLGER, WENN ER MEINEN
TEIL DER STORY GELESEN HAT
Hinweise
Cheedle besteht so nachdrücklich auf seiner Auffassung, es handle sich um Mord, daß die Polizei im voraus annehmen wird, er habe mit dem Verbrechen nichts zu tun. Er weiß, daß die Todesursache ohnehin bei der Autopsie herauskommen wird. Er erzählt B. auch von dem Telegramm, von dem er gehofft hat, es würde gar nicht zur Sprache kommen. Aber das plötzliche Auftauchen Joan Cliffs vereitelt das, und um jeden Verdacht zu zerstreuen, rückt er als erster mit der Nachricht heraus. Vielleicht wollen Sie diese Punkte verwenden. Ich habe Farland einen Versprecher machen lassen, der für Sie vielleicht von Wert ist. In seinem Bemühen, darauf hinzuweisen, daß er zu denen gehört hat, die die Pflegerin kommen lassen wollten, vergißt er, daß er angeblich zu dem Zeitpunkt ja gar nicht gewußt hat, warum man sie herschickt. (Natürlich hat Cheedle die Information weitergegeben, was er normalerweise nicht getan hätte.) Farland verstummt, als ihm klar wird, was er gesagt hat, kaschiert es dann aber schnell. Farlands vorhergegangene Bemerkung über Parry habe ich ihn machen lassen, für den Fall, daß Sie letzteren zum Mörder machen wollen. Er ist scheinbar überhaupt nicht in den Fall verwickelt und besteht darauf, daß er unerklärlich sei. Außerdem beharrt er auch darauf, daß die Flasche, die er gebracht hat, gegen eine andere ausgetauscht worden sei. (Um jeden Verdacht von sich selbst abzulenken?) Farland, der die Flaschen nicht wieder ausgetauscht hat, um Millie in Verdacht zu bringen, sorgt nun dafür, daß der Inspektor diesen Verdacht so schnell wie möglich übernimmt. Aber… Er lenkt die Aufmerksamkeit von sich selbst ab, indem er Besorgnis wegen Penelopes Bruch der Vertraulichkeit heuchelt – und später durch einen gutgespielten Ausbruch zugunsten Millies; das wirkt, wie er weiß, ziemlich echt. Joan Cliff, die nun für den Aspekt einer Liebesgeschichte nicht mehr gebraucht wird, ist sehr nützlich, weil sie Cheedle gezwungen hat, die Sache mit dem Telegramm zu gestehen, und auch dadurch, daß sie den (hoffentlich) ersten Hinweis auf eine mögliche Arsenvergiftung liefert. Sie war ohnehin der gerichtlichen Untersuchung wegen gekommen. Ich habe, früher als F. Tennyson Jesse empfiehlt, die leere Whiskyflasche ins Spiel gebracht und weise hier auf die Tatsache hin, daß die Pflegerin nicht daraus getrunken haben kann. Das könnte im weiteren Verlauf der Geschichte hilfreich sein, vielleicht um zu beweisen, daß das Sleepine im Tee eingenommen wurde. Ich habe versucht, die Vernehmung Millies so zu gestalten, daß Sie sie doch noch als Täterin hinstellen können. Schließlich hatte sie die besten Möglichkeiten zur Ausführung der Tat. Wäre sie wirklich unschuldig, würde sie sich dann nicht einfach innerlich beglückwünschen, daß sie auf diese Art zu Geld kommt, statt so zu tun, als sei ihr eben erst ein Licht aufgegangen? Folgerung: Raffiniertes Theater. Andererseits sähe es Millie durchaus ähnlich, daran überhaupt nicht zu denken, bis man es ihr unter die Nase reibt.
Bitte nehmen Sie bezüglich des Inhalts des Testaments jede Änderung vor, die in den Handlungsablauf Ihres Teils der Geschichte paßt. Es könnte gut sein, daß John, zusätzlich zu seinen fünfzehntausend Pfund, erheblich mehr erhält und daß ihm dies am darauffolgenden Tag gestrichen worden wäre, daß aber Walton sagt, dies sei streng vor ihm geheimgehalten worden – vielleicht eine der ›Überraschungen‹ der alten Dame? Auf irgendeine Weise muß er es herausgefunden haben – vielleicht via Cheedle, der es von Penelope gehört hat? Penelopes unlogische Behauptung ist tatsächlich schwer zu erklären – und, offen gestanden, kommt sie mir noch immer absurd vor – aber vielleicht möchten Sie später zur Sprache bringen, daß sie geglaubt hat, Parry habe ein schreckliches Durcheinander verursacht, und sie wollte ihn schützen, weil sie im Grunde ihn liebt. Damit wäre auch der Aspekt Liebe zufriedenstellend gelöst, falls John von der Bildfläche verschwinden sollte. Ich habe diese Szene hereingebracht, für den Fall, daß Sie sie später als Fingerzeig darauf verwenden wollen, daß die ursprüngliche (harmlose) Flasche, die der Mörder gegen die mit Gift versetzte ausgetauscht hat, gefunden wird. Wenn kein Bedarf besteht, kann diese Szene weggelassen werden. Es bleibt für Sie noch immer die Möglichkeit offen, später zu zeigen, daß Penelope eindeutig von ihrer bevorstehenden Erbschaft gewußt hat und damit ihre Unschuld zum guten Teil bewiesen ist. Meiner Ansicht nach müßte sie nun als Verdächtige wegfallen, und obwohl ich John als Täter bevorzuge, habe ich Ihnen noch eine beträchtliche Auswahl als mögliche Mörder Mrs. Farlands gelassen: Parry, John, Cheedle, Millie Pearn, Pollinger und Higham nicht zu vergessen.
SECHSTER TEIL
von
David Hume
Inspektor Billingham betrat die winzige Polizeistation und fand dort Joan Cliff vor, die auf ihn wartete. Das Gesicht der jungen Frau war gerötet, ihre Augen funkelten lebhaft. Sie begrüßte den Inspektor eilig, und beide zogen sich in ein Hinterzimmer zurück. »Was gibts denn Neues, Miß Cliff?« fragte Billingham. »Was Aufregendes?« »Das kommt auf Ihre Einstellung an«, antwortete sie. »Ich wollte eben das Haus verlassen, um zu Fuß nach Yowle zu gehen, als ich Millie Pink im Korridor traf. Sie hielt einen Brief in der Hand und beklagte sich darüber, wie schmutzig die Straße zwischen Whitestones und dem Briefkasten sei. Ich sagte, ich könne den Brief für sie einwerfen und hatte den Eindruck, daß sie das eigentlich lieber selbst getan hätte. Trotzdem, sie gab ihn mir, und als ich die Straße entlangging, sah ich auf den Umschlag – einfach gewöhnliche weibliche Neugier, nehme ich an. Ich fürchte, Sie werden mich für eine schlimme Person halten, aber Miß Pinks merkwürdige Haltung, was den Brief betraf, hatte meine Neugier erregt und ich las die Adresse. Es überraschte mich, Inspektor, daß Miß Pink an einen Mann schrieb. Das sieht ihr eigentlich gar nicht ähnlich. Sein Name ist James Wheeler, und er wohnt in Fasterly. Das ist ungefähr sechzehn Kilometer von hier entfernt, nicht wahr?« »Ja. Aber ich kann an all dem nichts Ungewöhnliches erkennen. Miß Cliff.« »Sie haben noch nicht alles gehört, Inspektor. Am Ende habe ich was ganz Scheußliches getan. Ich habe den Brief geöffnet.« »Was, um alles in der Welt, hat Sie dazu bewogen? Das ist eine sehr, sehr ernste Sache.« »Ich hatte eben eine dieser Ahnungen, die Frauen gelegentlich haben. Jedenfalls habe ich den Brief gelesen. Und dann bin ich sofort hierhergekommen. Hier ist er.« Joan reichte ihm einen malvenfarbenen Umschlag. Billingham nahm den Brief heraus, bemerkte die ordentliche, feste Handschrift und die absolut geraden Zeilen und begann zu lesen. ›Liebster, in achtundvierzig Stunden werde ich wieder das überwältigende Glück haben, in Deinen Armen zu liegen. Das Dasein wäre für mich entsetzlich leer, wenn ich nicht in der Vorfreude auf Deine Umarmungen und das Entzücken durch ihre Erfüllung leben könnte. Mir kommt es immer so vor, Geliebter, als ob die Zeit still stünde, wenn mich Deine Arme so fest umschlungen halten, daß alle anderen Dinge auf dieser unerfreulichen Welt sich in Nichts auflösen. Seit wir zuletzt zusammen waren, haben sich eine Menge unangenehmer Vorfälle ereignet, aber die Erinnerung daran wird unter Deinen Zärtlichkeiten, den beruhigenden Worten aus Deinem Mund, dem Glanz der Liebe in Deinen herrlichen Augen verblassen. Wir treffen uns um fünf Uhr, am Freitagnachmittag, am gewohnten Ort, mein Liebling. Bis dahin muß ich sehnsüchtig darauf warten, daß die Stunden auf bleiernen Füßen dahinschleichen. Mein ganzes Herz gehört Dir, Allerliebster‹ Inspektor Billingham errötete, starrte Joan Cliff mit einiger Verlegenheit an und legte den Brief auf den Schreibtisch. Die junge Frau wartete darauf, daß er etwas sagen würde. Ihre klar geschnittenen Lippen verzogen sich zu einem halben
Lächeln. »Ein ungewöhnlich liebevoller Brief«, sagte Billingham. »Miß Pink muß einen Korrespondenzkurs mitgemacht haben. Aber wozu die Aufregung? Mir scheint das Ganze nichts weiter als eine ziemlich geschmacklose Zurschaustellung von Verliebtheit zu sein.« Joan Cliff hob die Brauen – oder vielmehr deren feingezeichneten Imitationen – und starrte den Inspektor mit amüsiert funkelnden Augen an. »Wollen Sie wirklich behaupten, Inspektor, daß Ihnen dieser Brief gar nichts vermittelt?« »Für mich besagt er lediglich, daß Millie Pink sexhungrig ist, was ein Ventil in ihrer Korrespondenz findet. Ihr Stil ist klebrig, viel zu schwülstig, entsetzlich sentimental. Sollte ich dem Schreiben sonst noch etwas entnehmen?« »Ich würde sagen, ja. Sie haben alles mögliche daraus geschlossen, Inspektor, abgesehen von dem einzigen, was von Belang ist. Werfen Sie noch einmal einen Blick auf den Brief und überlegen Sie eine Weile.« Billingham las den Brief erneut durch und schüttelte dann den Kopf. »Ich werde Ihnen ein bißchen helfen«, sagte Joan. »Sie haben doch eine gute Vorstellung von Millie Pink, so wie Sie sie kennen. Sie entsinnen sich ihrer Unordentlichkeit, ihres konfusen Verhaltens, ihrer Tränenausbrüche, ihres Minderwertigkeitskomplexes, ihrer konstanten Anfälle halber Hysterie, ihres schrecklichen Geschmacks, was ihre Kleidung betrifft, ihrer fast kindischen Launenhaftigkeit. Sehen Sie sie vor sich?« »Natürlich. Und was hat das mit dem Brief zu tun?« »Folgendes.« Joan Cliff senkte die Stimme, beugte sich über den Schreibtisch und trommelte mit den Fingern aufs Holz, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Die Frau, die zu dem Bild paßt, das wir uns von Millie Pink machen, kann einen solchen Brief nicht geschrieben haben!« »Entweder hat sie den Brief gar nicht geschrieben, oder – aber was meinen Sie damit?« »Männer können Frauen nie verstehen«, sagte Joan mit einer Handbewegung leichter Verzweiflung. »Ich bin sicher, daß Millie Pink diesen Brief geschrieben hat. Aber die Person, die ihn verfaßt hat, ist nicht die Millie Pink, die ich kenne und die Sie kennen. Entweder ist die Frau, die diesen Liebesbrief geschrieben hat, die eigentliche Frau oder der Inhalt ist nur eine Pose, die das häßliche, unscheinbare, konfuse, unordentliche, hysterische Geschöpf, das wir kennen, einnimmt. Aber ich kann Ihnen eines sagen, Inspektor, so etwas ist nicht möglich. Sehen Sie sich diesen Brief noch einmal an. Sie finden darin keinerlei Konfusion, keine Spur von Gedankenflucht, dafür eine solide und keineswegs schlampige Handschrift, dazu peinlich gerade Zeilen – und das von einer Frau mit ständig zerzauster Frisur, die vergißt, die Knöpfe an ihren Kleidern zuzumachen. Das paßt einfach nicht zusammen.« »Ich beginne zu verstehen, was Sie meinen. Und inwiefern bringt uns das weiter?« »Ich meine folgendes: Eine Person mit Verstand und kühler Intelligenz, mit Instinkt für Ordnung, mit ausgeglichenem Geschmack und Wortgewandtheit könnte, wenn sie sich sehr bemüht, in die Rolle einer Frau mit allen Eigenschaften der Millie Pink, wie wir sie kennen, schlüpfen. Aber niemand, Inspektor, könnte diese Prozedur umkehren. Mit anderen Worten, die Millie Pink, die wir kennen, ist durch und durch falsch, eine vollendete Schauspielerin, die alle Leute ihrer Umgebung an der Nase herumgeführt hat. Und genau das wollte sie auch. Millie Pink hat, wenn ich mich nicht täusche, mehr Grips als alle Bewohner dieses Distrikts zusammengenommen. Diese Frau ist das genaue Gegenteil von all dem, was Sie je über sie gedacht haben. Nun sagen Sie mir, ob
ich diesen Brief hätte öffnen sollen oder nicht.« »Ich habe im Augenblick etwas anderes zu tun«, sagte Billingham und stand auf. »Bitte kehren Sie ins Haus dort zurück und behalten Sie die Frau im Auge, bis ich eintreffe. Es wird nicht sehr lange dauern. Inzwischen vielen Dank, daß Sie diesen Brief gebracht haben. Es sieht so aus, als gäbe es da gewisse Möglichkeiten. Wir werden Ihnen Ihr Vergehen diesmal nachsehen. Noch einmal, vielen Dank.« Billingham stopfte den Brief in seine Tasche, und eine Minute später heulte der Motor seines Wagens auf. Der Inspektor trat aufs Gaspedal und fegte die Straße in Richtung Fasterley entlang. Als er in die kleine Stadt einfuhr, warf er einen erneuten Blick auf die Adresse auf dem Umschlag und stellte anschließend fest, daß sie ihn zu einer großen, leicht verfallen wirkenden ländlichen Villa führte, die in einiger Entfernung von der Straße in dem noch immer dörflich wirkenden Ende von Fasterley lag. Ein an dem schmiedeeisernen Tor angebrachtes Schild ›GÄSTEHAUS‹ verriet ihm, daß dieses würdevolle alte Gebäude wahrscheinlich seit langen Jahren vermietet war und sich in Bälde in den Klauen einer Abbruchfirma befinden würde. Die Haustür war offen. Dahinter befand sich eine geschlossene Glastür, hinter der eine Diele lag, deren Mobiliar, wenngleich geschmackvoll und gut, deutlich den Stempel einer Pension für retirierte Armeeoffiziere und frustrierte ältere und unverheiratete Damen trug, die ihre letzten Jahre unter dem Eindruck verbrachten, sie seien noch am Leben. Billingham drückte auf den Klingelknopf neben der Glastür und ging hinein. Die Diele roch nach Bienenwachs und Frühstück, und in einer dunklen Ecke tickte schwermütig eine Großvateruhr. Ein Zimmermädchen erschien und schien irritiert, als sie seine Uniform sah. Billingham lächelte sie an. »Ist Mr. James Wheeler da? Es ist nichts Besorgniserregendes.« »Ja, Sir. Er ist im Gesellschaftszimmer. Ich – ich werde ihm Bescheid sagen, Sir.« Sie eilte davon, und Billingham wartete, wobei er die Tür im Auge behielt, durch die sie verschwunden war. Es verging einige Zeit. Dann öffnete sich die Tür wieder, und James Wheeler trat in die Diele heraus. Billinghams erster Eindruck war, daß er einen erfreulichen Anblick bot. Groß, gut gewachsen, jung, blauäugig, mit klaren Gesichtszügen, gut angezogen. »Mr. Wheeler?« fragte Billingham. »Äh – ja.« »Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen. Können wir das hier irgendwo, unter vier Augen, tun?« »Wir können im Gesellschaftszimmer miteinander reden, Inspektor. Dort ist niemand.« Sie traten in einen großen Raum mit verblaßten Cretonnevorhängen, dessen Sitzanordnung irgendwie an die eines Nähkränzchens erinnerte; sie ließen sich einander gegenüber nieder, den Kaffeetisch mit Messingplatte zwischen sich. »Wenn es sich darum handelt, daß ich neulich abends den Wagen vor dem Kino geparkt habe…«, begann Wheeler nervös. »Nein, nein«, antwortete Billingham. »Ich bin nicht hier, um Sie irgendeiner Sache wegen zu beschuldigen, und Ihre Verkehrsverstöße interessieren mich nicht im geringsten. Ich wollte mich nach einer Freundin von Ihnen erkundigen, die auf der anderen Seite von Creepe wohnt.« Wheeler zuckte zusammen und wurde rot. »Was ist mit Millie Turner?« fragte er mißtrauisch.
Millie Turner! Also hatte sie Wheeler einen falschen Namen angegeben!
»Ich möchte alles erfahren, was Sie über sie wissen«, sagte Billingham in
höflichem Ton.
»Was? Bei Gott, das ist aber ein starkes Stück!« rief der junge Mann. »Weshalb
wollen Sie denn was über sie wissen?«
»Das spielt keine Rolle. Sie brauchen mir nicht zu antworten, wenn Sie nicht
wollen, aber wenn Sie sich weigern, werde ich mich fragen, weshalb, und in
jedem Fall kann ich auch über andere Leute herausfinden, was ich wissen
möchte.«
Der junge Mann runzelte die Stirn und biß sich nervös auf die Unterlippe.
»Na schön. Ich weiß nichts Nachteiliges über Millie, und ich bin verdammt sicher,
daß sie nichts getan hat, was Ihnen verdächtig erscheinen könnte… Übrigens –
es ist ihr doch nichts zugestoßen, oder?«
Der Inspektor lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nein. Beschreiben Sie sie mir bitte einmal. Vielleicht bin ich an das falsche
Mädchen geraten.«
»Das halte ich für sehr wahrscheinlich«, antwortete Wheeler sarkastisch. »Eine
Beschreibung von Millie Turner?«
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte zur Decke empor.
»Sie gehört zu diesen auf geheimnisvolle Weise schönen Frauen, die eigentlich
nicht unbedingt schön sind, aber trotzdem bei jedem den Eindruck erwecken, sie
seien es doch. Sie ist mittelgroß, ihr Haar ist fast lohfarben, ihre Augen liegen
ziemlich tief und sind von faszinierendem Grau – fast stahlgrau. Sie ist charmant
und brillant, eine der intelligentesten Frauen, die ich je kennengelernt habe.«
Billingham schluckte und sah Wheeler scharf an. Der junge Mann wirkte völlig
aufrichtig. Seine Stimme hatte während der Schilderung Millies einen nahezu
lyrischen Unterton bekommen.
»Wie zieht sie sich an?« fragte der Inspektor.
»Mit allerbestem Geschmack«, erwiderte Wheeler prompt. »Sie ist der Typ
Mädchen, mit dem zusammen sich jeder Mann voller Stolz sehen lassen kann –
adrett, anspruchsvoll, mit Haltung, gelassen. Und nie ein gelöstes Schuhband
oder eine unordentliche Haarsträhne.«
»Ah so«, sagte Billingham und spürte, wie ihm die Erregung ein bißchen den
Atem benahm. »Sie hat eine Narbe im Gesicht, nicht wahr?«
»Ja, aber nur sehr klein, und ich finde, es trägt noch zu ihrer Attraktivität bei.
Wie ein Schönheitspflästerchen.«
»Aber ihr Kneifer«, rief der Inspektor, »beeinträchtigt doch wohl ihr Aussehen?«
Wheeler starrte ihn an und lachte dann.
»Ein Kneifer? Damit ist alles klar – Sie haben Millie Turner mit jemand anderem
verwechselt. Millie hat in ihrem ganzen Leben noch keine Brille getragen.«
»Oh.« Billingham schluckte erneut. Der Boden unter seinen Füßen drohte
wegzugleiten. »Na ja, vielleicht. Aber sagen Sie mir eines – ist das eine
ernsthafte Affäre zwischen Ihnen und Millie Turner?«
»Oh, ja. Wir hoffen, bald heiraten zu können. Ich bin Schauspieler, wissen Sie,
aber die Dinge stehen in diesem Beruf im Augenblick nicht zum Besten. Millie hat
eine kleine Erbschaft zu erwarten. Es gibt noch eine Menge juristischer Probleme
damit, aber sie wird ihr bald zugesprochen werden. Dann werden wir heiraten
und zusammen nach Hollywood gehen. Ich habe dort Beziehungen, und ich bin
sicher, daß ich beim Film Erfolg haben werde.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Billingham diplomatisch. »Nun ja, es sieht so
aus, als ob ich an der falschen Adresse wäre, aber ich mußte mich überzeugen.
Wenn Sie nicht allzu beschäftigt sind, wäre ich froh, wenn Sie mit mir nach
Creepe zurückführen und mir endgültig bestätigten, daß die junge Frau, an der
ich interessiert bin, nicht Millie Turner ist.« »Oh, gern«, sagte Wheeler und stand auf. »Ich habe nichts zu tun. Mit dem bißchen, was ich verdiene, wohne ich hier. Es ist nett, in Millies Nähe zu sein. Wir treffen uns einmal in der Woche. Sie ist Gesellschafterin bei einer widerwärtigen alten Frau in Yowle. Sie behandelt Millie wie eine Sklavin und erlaubt nicht, daß sie Freunde mit ins Haus bringt. Mrs. Rustable heißt das alte Mädchen. Sie muß um fünfundneunzig herum sein, glaube ich. Kennen Sie sie?« »Äh – ja und nein«, sagte Billingham. »Gehen wir zu meinem Wagen.« »Ich wollte, Sie würden offen mit mir sprechen«, sagte Wheeler, »und mir erzählen, worum es sich dreht. Da es ganz offensichtlich nicht Millie ist, hinter der Sie her sind, besteht doch kein Grund, daß ich es nicht wissen dürfte, oder?« »Leider – die Vorschriften«, antwortete der Inspektor und verschanzte sich hinter der Ausrede, die ihm in Situationen wie diesen stets hilfreich war. »Sie erlauben mir nicht, mich Ihnen zu diesem Zeitpunkt anzuvertrauen.« »Na ja, schon gut«, sagte Wheeler gut gelaunt. Billingham mochte ihn gern, und er tat ihm zutiefst leid. Sie fuhren schweigend nach Creepe. In der Polizeistation überließ Billingham seinen Gefährten der Obhut eines Sergeanten und ging weg, um sofort mit Joan Cliff zu telefonieren, die nach Whitestones zurückgekehrt war. »Hier Billingham, Miß Cliff. Behalten Sie Millie im Auge. Ich kommte gleich hinüber. Lassen Sie sie ja nicht unbeobachtet.« Danach ging Billingham ins Vorzimmer hinaus und winkte dem Sergeanten. »Ich bringe in rund dreiviertel Stunden eine Dame mit«, flüsterte er. »Wenn wir die Station betreten, sorgen Sie dafür, daß sie, wie rein zufällig, einen Blick auf diesen Wheeler werfen kann. Aber die beiden dürfen nicht miteinander sprechen, wenn wir hier durchgehen. Wenn ich hinterher irgend etwas zu Ihnen sage, achten Sie nicht darauf. Ich habe in den letzten zwei, drei Tagen so viel Theater gesehen, daß es mir an der Zeit scheint, einmal selbst etwas zu inszenieren.« Der Sergeant nickte, und Billingham fuhr eilig nach Whitestones hinaus. Millie und Joan saßen beide im Salon. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen, die Atmosphäre des Todes lastete nach wie vor auf dem Haus. Beide Frauen machten einen hoffnungslos deprimierten Eindruck. Der Inspektor hatte unterwegs über das Problem seiner einleitenden Worte nachgegrübelt und war zu dem Schluß gekommen, daß Finessen hier sinnlos seien. Er mußte seine Karten direkt ausspielen. Also starrte er die bebrillte Millie geradewegs an. »Miß Pink, Sie müssen mich sofort nach Creepe begleiten. Kommen Sie.« Die Frau blickte nervös auf und begann zu jammern. Die Lippen des Inspektors strafften sich zu einer dünnen, geraden Linie. Joan Cliff warf ihm einen Blick zu und blinzelte ihm kaum merklich zu. »Was, um Himmels willen, ist denn los, Inspektor?« fragte Millie tränenschwer. »Eine ganze Menge. Ziehen Sie Ihren Mantel an und setzen Sie den Hut auf, dann fahren wir los. Schnell.« Sie erhob sich langsam und verließ das Zimmer, wobei sie mit einem winzigen Taschentuch das Gesicht betupfte. Joan stand ebenfalls auf und begleitete sie. Billingham ging rastlos auf dem Teppich auf und ab, ballte die Hand zur Faust und streckte die Finger wieder aus. Millie weinte nicht mehr, als sie zurückkehrte, und keiner der beiden sprach ein Wort, als sie mit dem Inspektor zum Wagen hinausging. Als sie eine Weile gefahren waren, wandte sich Billingham ihr plötzlich zu, deutete auf ihren Kneifer und fragte abrupt: »Seit wann tragen Sie das, Miß Pink?« »Das? Oh, seit ungefähr einem Jahr. Ich mußte ihn mir anschaffen.« Wortlos streckte Billingham die Hand aus, nahm ihr den Kneifer von der Nase
und steckte ihn in seine Tasche.
»Was, um Himmels willen, tun Sie da?« fragte Millie. »Geben Sie ihn mir sofort
zurück.«
»Sie können genau so gut ohne ihn sehen«, bemerkte der Inspektor kurz. »Ich
schicke ihn jedenfalls sofort zu einem Optiker, damit er mir mitteilen kann, wie
die Gläser beschaffen sind.«
Millie Pink öffnete den Mund, um etwas zu sagen, änderte dann aber plötzlich
ihre Ansicht und verfiel in Schweigen.
Der Inspektor sprach als erster wieder.
»Wo bewahren Sie Ihre eleganten Kleider auf, Miß Pink?«
»Elegante Kleider? Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich – elegante Kleider,
Inspektor?«
»Ich meine die Kleider, die Sie tragen, wenn Sie sich nicht in Whitestones
aufhalten. Ich bin sicher, Ihr Freund würde Sie nicht gerne so sehen, wie Sie
jetzt sind.«
Millie starrte ihn erschreckt an. Billingham bemerkte zum erstenmal, daß ihre
Augen glänzend und von stählernem Grau waren.
»Wo bewahren Sie also diese Kleider auf, Miß Pink?« wiederholte er seine Frage.
»Sie sprechen in Rätseln, Inspektor. Ich habe keinerlei elegante Kleidung.«
»Meinen Sie, Ihr Freund aus Fasterley würde es schätzen, wenn er Sie so zu
Gesicht bekäme wie Sie jetzt sind? Mir gefällt es nicht und Sie wissen ganz
genau, daß es ihm auch nicht gefiele.«
»Mein Freund aus Fasterley…?« fragte Millie dumpf.
Der Inspektor warf ihr von der Seite her einen Blick zu und erwartete, daß ihre
Lippen zitterten. Da täuschte er sich. Um ihren Mund lag ein fester Zug. Das hier
war keine hysterische Person mit labilem Gemütszustand und konfuser
Denkweise.
»Glauben Sie nicht«, sagte Billingham nun freundlicher, »daß für Sie die Zeit
zum Reden gekommen ist, Miß Pink? Ich will nichts versprechen, aber Sie sind
intelligent genug, um zu erkennen, wenn mit Ihren Karten kein Spiel mehr zu
gewinnen ist.«
»Was für Karten?«
»So gut wie alle Karten in Ihrer Hand taugen nichts mehr«, log der Inspektor.
»Reden könnte Ihnen vielleicht helfen.«
»Ich wüßte nicht, worüber ich reden sollte.«
»Überlegen Sie es sich noch einmal, Miß Pink. Es wird ein übler Augenblick für
Sie werden, wenn ich anfange, Ihnen mitzuteilen, was ich weiß, statt daß Sie mir
erzählen, was Sie wissen. Übrigens – ich hatte eine sehr lange und interessante
Unterhaltung mit Mr. Cheedle.«
»Was hat er gesagt?« fragte Millie mit plötzlichem Interesse, das fast etwas
Dramatisches hatte.
»Ungefähr zwanzigmal mehr als Sie bis jetzt gesagt haben, Miß Pink. Aber
wahrscheinlich verfügt er über mehr Vernunft als Sie und weiß, daß Sie
keinesfalls den Mund halten werden, wenn Sie damit Ihre Haut retten können.«
»Ah so«, sagte Millie und preßte einen Fingernagel gegen die Zähne.
Als sie auf den Creepe Square einbogen, hielt der Inspektor und winkte einem
Konstabier. Er gab ihm den Kneifer.
»Bringen Sie das hier zu Jackson und sagen Sie ihm, ich möchte so schnell wie
möglich wissen, was für Gläser das Ding hier hat. Und dann berichten Sie mir in
der Station.«
Millie sah dem Konstabier nach und schauerte leicht. Billingham lächelte grimmig
und schwieg. Vor der Polizeistation öffnete er die Tür, ließ Millie eintreten und
folgte ihr.
Als sie durch das Vorzimmer gingen, stand dort Wheeler in der Ecke und unterhielt sich mit dem Sergeanten. Millie sah ihn, schlug sich mit dem Handrücken gegen den Mund und blieb abrupt stehen. Wheeler starrte sie an und zog die Brauen zusammen, aber bevor einer von beiden etwas sagen konnte, nahm Billingham Millie am Arm und schob sie ins Büro hinein. Sie zitterte, als sie sich in einen Sessel sinken ließ. »Na schön, Miß Pink«, sagte der Inspektor. »Sie können nun wohl allmählich erkennen, wie der Hase läuft und in welcher Situation Sie sind. Finden Sie nicht, daß jetzt Zeit zum Reden wäre?« »Wozu haben Sie diesen Mann auf die Polizeistation geholt?« fragte sie. »Er hat nichts damit zu tun, überhaupt nichts.« »Womit hat er nichts zu tun, Miß Pink?« fragte Billingham ruhig. Die Frau bemerkte den konzentrierten Ausdruck in seinen Augen und erschrak. »Er hat mit der ganzen Sache nichts zu tun«, erwiderte sie matt. »Haben Sie auch nichts damit zu tun, Miß Pink? Denn wenn es so ist, können Sie kaum über Leute sprechen, die in die Affäre verwickelt sind oder nicht. Natürlich mußte ich Wheeler hierherholen, nachdem ich gehört hatte, was Sie vorhatten, sobald Sie nach Mrs. Farlands Tod das Geld einkassiert hatten. In gewisser Weise macht ihn das zum Mitschuldigen.« »Guter Gott, nein!« schrie Millie. »Er wußte nichts davon. Das ist wahr.« »Nun, dann erzählen Sie mir, wieviel Sie davon wußten, Miß Pink. Aber entschuldigen Sie mich erst für einen Augenblick.« Billingham stand auf, ging zur Tür und rief dem Sergeanten zu: »Lasen Sie die Aussage von Dr. Cheedle abtippen und bringen Sie sie herein, so schnell es geht.« Er kehrte zu seinem Stuhl zurück. Millie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, biß sich auf die Unterlippe und bewegte nervös die Hände. »Ich habe Sie vorhin schon gefragt, Inspektor, was hat Dr. Cheedle Ihnen gesagt?« »Unglücklicherweise, Miß Pink, bin ich nicht in der Lage, Ihnen das zu beantworten. Ich kann Ihnen nur raten, Ihrerseits eine Aussage zu machen. Natürlich weiß ich alles über Ihre Verbindung zu Wheeler und seine an das Geld, das Ihnen Ihrer Meinung nach zufallen sollte, geknüpften Hoffnungen. Glauben Sie, er hätte Sie auch geheiratet, wenn Sie das Geld nicht bekommen würden? Vermutlich war das der wichtigste Punkt, über den Sie nachgedacht haben, oder nicht?« »Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit zu überlegen, Inspektor«, sagte Millie. Billingham zündete sich seine Pfeife an. Der Sergeant brachte ein mit Schreibmaschinenschrift bedecktes Formblatt herein. Es handelte sich um die Liste der regionalen Kneipen, die für die Beratung über Alkohollizenzvergaben aufgestellt worden war. Der Inspektor las das Blatt mit offensichtlicher Sorgfalt durch, machte gelegentlich eine Pause, um mit dem Kopf zu nicken und befriedigt zu lächeln. Millie blickte erst auf Billingham, dann auf das Formular. Sie glaubte zu wissen, was darin stand – Dr. Cheedles Aussage. »Nun gut«, sagte sie plötzlich. »Ich habe Mrs. Farland ermordet und…« »Augenblick mal«, sagte Billingham scharf und hob die Hand. »West!« rief er. Der Sergeant kam herein. »Holen Sie ein Notizbuch und einen Federhalter und nehmen Sie diese Aussage auf. Millicent Pink, ich beschuldige Sie der Ermordung Mrs. Emma Farlands und mache Sie darauf aufmerksam, daß jede Aussage, die Sie machen, aufgenommen und als Beweis gegen Sie verwendet werden kann. Würden Sie bitte weitermachen, Miß Pink?« Ihr Gesicht war gespensterhaft bleich, die Narbe flammend karminrot, ihre Augen tödlich starr.
»Ich gebe es zu«, sprudelte sie heraus. »Ich habe Mrs. Farland ermordet. Aber ich werde nicht alle Verantwortung auf mich nehmen, Inspektor. Dr. Cheedle hat mehr zu ihrer Ermordung beigetragen als ich.« »Einen Augenblick bitte, Miß Pink«, sagte Billingham hastig. Er stürzte aus dem Büro, trieb hinten in der Polizeistation einen Konstabier auf und schnauzte ihn an: »Suchen Sie Dr. Cheedle. Bringen Sie ihn her. Sagen Sie ihm gar nichts, bringen Sie ihn einfach her. Mir ist egal, ob er nach Irland gereist ist oder sonstwas, ich will ihn hier haben!« Innerhalb einer Minute saß er wieder Millie Pink gegenüber und lächelte ihr beruhigend zu. »Ich will Ihnen alles erzählen, was ich weiß«, sagte sie. »Ich hatte bei meiner Tante ein schreckliches Dasein, aber ich konnte es ertragen, bis ich Jim Wheeler kennenlernte. Da erkannte ich, wie leer mein Leben war und daß es auf immer ruiniert sein würde, wenn ich nicht mit einigem Geld in der Tasche aus diesem Haus verschwinden könnte. Sie haben keine Ahnung, was ich in Whitestones durchgemacht habe. Meine Tante wußte, daß ich eine attraktive Frau war und sie genoß es, mich zu demütigen und mich zu zwingen, mich wie eine alte Schachtel anzuziehen und ihre Sklavin zu sein. Dann wurde sie krank, und für mich wurde alles noch schlimmer als vorher. Ich konnte ihr nichts recht machen, und ich wußte, ich müßte mich beeilen, wenn ich sie umbringen wollte, denn sie wechselte fortgesetzt ihre Ansicht darüber, ob sie mir nun Geld hinterlassen sollte oder nicht; und ich mußte sie ermorden, solange mein Name noch im Testament stand. Das war zu dem Zeitpunkt, als Dr. Cheedle anfing, mit mir über Mrs. Farland zu reden. Ich begegnete ihm jeden Tag, als sie krank war, und er pflegte immer zu sagen, wie scheußlich ich behandelt würde, und was für ein Jammer es wäre, wenn sie ihr Testament noch vor ihrem Tod änderte und mich völlig enterbte. Wir sprachen häufig über diesen Punkt und ich begann zu begreifen, worauf er hinauswollte. Dann erzählte er mir eines Tages, er wisse mit Sicherheit, daß mir in dem derzeit gültigen Testament Mrs. Farland ungefähr fünfundzwanzigtausend Pfund hinterlassen würde. Während ich noch darüber nachdachte und davon träumte, wie glücklich ich mit Jim sein könnte, wenn ich nur dieses Geld hätte, fing Dr. Cheedle an, mir zu erzählen, daß er in schrecklichen finanziellen Schwierigkeiten stecke und sich in der Hand von Geldverleihern befände und nahezu alles tun würde, um aus dieser Situation herauszukommen. Er schlug mir vor, wir sollten uns zusammentun, um Mrs. Farland zu vergiften. Er sagte, er würde das Gift beschaffen, ich solle es ihr eingeben, und er würde hinterher die Sterbeurkunde ausfüllen und unterschreiben. Es sah ganz so aus, als könne der Plan gar nicht schiefgehen. Ich fragte ihn, welchen Anteil er dafür verlangte und er sagte, wir würden uns das Geld teilen.« Millie Pink machte eine Pause und strich eine Träne weg, die ihr über die Wange lief. »Ich liebe Jim sehr«, fuhr sie leise fort, »und das Geld bedeutete für mich nur eines – daß ich ihn für mich allein haben würde. Also erklärte ich mich bereit, Mrs. Farland umzubringen. Dr. Cheedle entschied nun, sie müsse jeden Abend vor dem Schlafen Sleepine-Kapseln nehmen, die er mit Arsen versetzte. Wir beschlossen, sie sehr langsam umzubringen, damit niemand Verdacht schöpfte. Zuerst gaben wir ihr nur winzige Dosen Arsen und erhöhten sie dann wöchentlich. Ich bekam die Sache ein bißchen satt, denn ich hatte gelesen, daß Arsen in kleinen Dosen eine Person auf die Dauer fast immun gegen die entsprechende Vergiftung machen kann. Ich sagte das Dr. Cheedle, und er meinte, wir würden noch zwei oder drei Wochen so weitermachen und meine Tante dann mit einer einzigen großen Dosis umbringen. Ich bat ihn, mir eine mit
ausreichend Arsen versetzte Kapsel zu geben, damit ich sie ihr im günstigsten Augenblick eingeben könnte. Er gab sie mir auch und schärfte mir ein, ich dürfe sie nicht verwenden, bevor er es mir nicht ausdrücklich sagen würde. So war die Situation bis zum letzten Wochenende. Dann passierte alles Mögliche. Zuerst hörte ich, wie meine Tante John Farland erzählte – das war am Samstagabend – daß sie beabsichtige, mich am Montag oder Dienstag aus ihrem Testament zu streichen und meinen Anteil Penelope Cheedle zu hinterlassen. Das zog mir förmlich den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte noch zwei Tage Zeit, um meine Tante zu ermorden, bevor das Testament geändert werden konnte. Ich wollte am Abend mit Dr. Cheedle darüber sprechen, unterließ es dann aber aus naheliegenden Gründen. Wenn seine eigene Tochter meinen Anteil am Geld erbte, war es besser für ihn, wenn Tante Emma am Leben blieb, bis sie das Testament geändert hatte. Ich war wirklich in einer aussichtslosen Lage und konnte mich an niemanden um Hilfe wenden. Als Dr. Cheedle am Samstagabend wegging, erzählte er mir, daß diese Krankenschwester kommen würde und daß sie erfahren genug sei, um Mrs. Farlands Erkrankung als Arsenvergiftung zu erkennen. Wir müßten also unter allen Umständen das Eintreffen dieser Pflegerin verhindern. Er sagte, er wolle ihr empfehlen, mit einem früheren Zug zu kommen, so daß niemand von ihrer Ankunft wisse, und er würde sie auffordern, ihn sofort aufzusuchen. Er meinte, wenn sie einmal im Haus sei, so würde er sie überreden, mit ihm Tee zu trinken, und dann würde er ihr so viel Sleepine damit eingeben, daß sie nicht mehr zu sich käme, bis ihr Tod einträte. Er hatte alles wunderbar arrangiert. Für den Fall, daß sie bei Bewußtsein bleiben würde, bis sie irgendeinen sicheren Ort erreicht hatte, wollte er ihr sagen, ich wüßte mehr über die Patientin als irgend jemand sonst, und habe dafür gesorgt, daß sie mich noch sprechen könne und daß strengste Verschwiegenheit erforderlich sei. Aus diesem Grund wollte er Schwester Ponting überreden, sich mit mir um Viertel nach drei in der Nähe des Güterhofs, hinter dem Bahnhof, zu treffen. Dr. Cheedle sagte mir, die Schwester würde zu dem Zeitpunkt, wenn sie bei mir einträfe, schon fast schlafen, und meine Aufgabe sei es dann, sie in den Wartesaal am Bahnsteig zu lotsen und bei ihr zu bleiben, bis sie ins Koma geriete. Ich wußte, daß sich zu dem Zeitpunkt niemand auf dem Bahnsteig aufhalten würde, und der Plan schien so gut wie narrensicher. Natürlich wollte Cheedle, daß ich bei der Krankenschwester bliebe, für den Fall, daß etwas schief ginge. Sie hätte zum Beispiel Verdacht schöpfen und ein starkes Brechmittel einnehmen können. Es war meine Aufgabe, darauf zu achten, daß nichts dergleichen geschah. Das schien nicht sehr schwierig zu sein. Ich fuhr mit John Farland nach Creepe, und er setzte mich vor der Kirche ab. Ich war ein bißchen verängstigt und gab vor, krank zu sein. Auf diese Weise bekam ich einen Sitzplatz neben der Tür. Nachdem ich mir eine halbe Stunde lang die Musik angehört hatte, ging ich hinaus und hinüber zum Güterbahnhof. Ich war noch keine drei oder vier Minuten dort, als Schwester Ponting eintraf. Sie sah sehr elend aus und war benommen. Ich machte eine Bemerkung über ihr Aussehen und schlug ihr vor, sich für eine Weile hinzusetzen. Dann brachte ich sie in den Wartesaal. Dort redete ich über Mrs. Farland und ihre Krankheit, bis sie einschlief. Als ich mir sicher war, daß sie für eine Zeitlang Ruhe geben würde, nahm ich eine kleine Whiskyflasche aus meiner Handtasche und trank den Rest, der noch drinnen war, was mich zu stabilisieren schien. Ich schaute in den anderen Warteraum. Er war leer, und ich ließ die Flasche dort, in der Hoffnung, das würde die Situation vielleicht noch mehr verwirren. Dann sah ich mir die Krankenschwester noch einmal genau an, merkte, daß sie nicht mehr zu wecken war und schleppte sie in die Toilette. Danach nahm ich eine fast leere Flasche mit
Sleepine-Kapseln – die von Tante Emma stammte – und steckte sie in die Tasche der Pflegerin, damit es wie ein Selbstmord aussehen würde.« Millie Pink hielt inne, beinahe atemlos. Sie hatte ihr Geständnis blitzschnell hervorgebracht, ihre Worte hatten sich fast überstürzt. »Und was nun Mrs. Farland betrifft?« fragte Inspektor Billingham. Er hatte beschlossen, Millie wegen des Todes der Pflegerin fürs erste nicht festnehmen zu lassen. »Vermutlich können Sie erraten, was geschehen ist«, sagte Millie. »Ich war begierig darauf, Tante Emma sterben zu lassen, bevor sie ihr Testament würde ändern können. Und ich war überzeugt, daß Dr. Cheedle, falls er von der geplanten Änderung gehört hatte, mit ihrer Ermordung nicht einverstanden sein würde. Ich wußte, daß seine Behauptung, er habe vergessen, daß der Sleepinevorrat zu Ende ginge, nicht wahr war. Und als dann auch noch Dr. Parry die neue Flasche brachte, konnte ich nicht anders, als annehmen, daß Dr. Cheedle mich hereinlegen wollte. Am Sonntagnachmittag hatte er alles so arrangiert, daß es Penelope war, die Schwester Ponting das Sleepine eingab. Penelope selbst wußte natürlich nichts davon. Cheedle schickte unter einem Vorwand die beiden aus Penelopes Zimmer und schüttete dann das Zeug in den Tee der Pflegerin. Wenn er bereit war, sogar seine eigene Tochter in die Sache hineinzuziehen, so konnte ich mich auf ihn überhaupt nicht mehr verlassen. Nicht nur das – zu dem Zeitpunkt war es für ihn nur vorteilhaft, Mrs. Farland so lange am Leben zu lassen, bis sie ihr Testament geändert und mich enterbt hatte. In der betreffenden Nacht kam er ins Haus. Ich hörte ihn leise die Zufahrt heraufkommen, öffnete meine Tür und sah ihn. Ich glaube, Penelope sah ihn auch, denn sie ging ins Erdgeschoß hinunter und sah aus dem Fenster. Ich wußte, weshalb er gekommen war. Er mußte irgendwie von der geplanten Änderung des Testaments erfahren haben und wollte nun die vergifteten Kapseln holen, für den Fall, daß ich versuchen würde, Mrs. Farland in dieser Nacht zu erledigen. Als ich das Medizinschränkchen öffnete, sah ich, daß er genau das getan hatte. Er hatte die alte Flasche mit der einzelnen Kapsel darin weggenommen und eine neue Flasche gegen die mit dem Sprung am Hals ausgetauscht – die, die Dr. Parry zuvor gebracht hatte. Aber ich tat etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Ich öffnete die neue Flasche, nahm die oberste Kapsel heraus und ersetzte sie durch die Kapsel mit der tödlichen Dosis Arsen, die Cheedle mir schon vor längerer Zeit gegeben hatte. Es war die Kapsel, die Penelope meiner Tante um zehn Uhr, zusammen mit dem Nachttrunk, eingab.« »Aber Dr. Cheedle war doch in dieser Nacht zu einer Entbindung bei den Morrisons in Cobling«, wandte Billingham ein. Millie Pink warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Haben Sie denn dieses Alibi bis jetzt noch nicht widerlegt? Er sagte der Hebamme, er brauchte noch mehr Äther und verließ das Haus dort für eine Stunde. Aber statt in seine Praxis zu fahren, fuhr er nach Whitestones. Na gut, ich bin fertig, Inspektor. Was werden Sie nun mit mir machen?« »Einen Augenblick«, sagte Billingham. »Warum hat Penelope behauptet, die Flasche sei gar nicht ausgewechselt worden?« »Sie war sich wegen John nicht sicher und wollte ihm helfen.« »Haben Sie seit jener Nacht mit Dr. Cheedle gesprochen, Miß Pink?« »Nein«, sagte sie in heftigem Ton. »Und ich weiß, daß er auch nicht wagen wird, mit mir zu sprechen. Schaffen Sie mich von hier fort. Ich möchte die Sache hinter mich bringen.«
»Sergeant«, befahl der Inspektor, »fahren Sie Miß Pink ins Gefängnis von Waling. Ich rufe dort an, wenn Sie hier weg sind.« Inspektor Billingham saß allein in seinem Büro, ein befriedigtes Lächeln auf den Lippen, als Dr. Cheedle hereingeführt wurde. »Setzen Sie sich, Doktor«, sagte der Inspektor, und als Cheedle dies getan hatte, fuhr er mit ruhiger Stimme fort: »Wofür haben Sie die zweitausend Pfund gebraucht, die Sie sich von Mactavish geliehen haben, und weshalb waren Sie so sicher, sie in Kürze zurückzahlen zu können?« Cheedles Unterlippe sank schlaff herab, seine Augen wurden schmal, und er schien in seinem Stuhl zusammenzusinken. Billingham beobachtete ihn scharf. »Woher wissen Sie das?« flüsterte Cheedle. »Millie Pink hat geredet«, antwortete der Inspektor. »Hier ist ihre Aussage. Am besten lesen Sie es durch.« Er schob einen Durchschlag von Millie Pinks Aussage über den Schreibtisch. Die Hände des Arztes zitterten, als er das Blatt nahm, und während er las, wurde sein Gesicht bleich. Bevor er noch am Ende angelangt war, zitterte er so heftig, daß das Papier wie Vogelschwingen raschelte. Plötzlich ließ er das Formular fallen und lehnte sich in den Stuhl zurück, die Hände vor dem Gesicht. »Ich fürchte, es nützt nichts, wenn ich das alles bestreite«, sagte er heiser. »Leider nicht«, pflichtete Billingham bei. »Ich verhafte Sie wegen der Ermordung von Schwester Ponting, und mache Sie darauf aufmerksam, daß jede Aussage, die Sie machen…« »Hören Sie auf damit!« knurrte Cheedle mit plötzlicher Wut und nahm die Hände vom Gesicht. »Ich weiß, wenn ich geschlagen bin. Verdammtes Weibsstück! Ich hätte gleich wissen müssen, daß sie nicht den Mumm hat, weiterhin die Dumme zu spielen und den Mund zu halten. Ich gebe alles zu, was in ihrer Aussage steht. Es ist sinnlos, es zu bestreiten. Natürlich wollte ich nicht, daß Mrs. Farland ermordet wird, als ich hörte, daß meine eigene Tochter in der Neufassung des Testaments fünfundzwanzigtausend Pfund erben sollte. Ich traf John Farland, als ich auf dem Weg zu Mrs. Morrisons Entbindung war, und er sagte es mir. Die Flasche Sleepine, die ich Parry hinterlassen hatte, damit er sie nach Whitestones hinausbringen sollte, war mit Arsen versetzt, deshalb mußte ich sie mir zurückholen – es war genau, wie Millie Pink es geschildert hat. Die Flasche, die ich weggenommen habe, finden Sie irgendwo im Fluß Trell, in der Nähe der dritten Brücke. Dort habe ich sie hineingeworfen.« Es war zehn Uhr am Abend des gleichen Tages, als Billingham auf den Bahnhof zuwanderte. Als er dort fast angelangt war, hielt vor dem Eingang ein Taxi. Die zierliche Gestalt Joan Cliffs schlüpfte heraus. Der Inspektor winkte ihr, und sie wartete auf ihn. »Gratuliere, Inspektor«, sagte sie. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet.« »Das Lob steht eigentlich Ihnen zu, Miß Cliff. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ohne Sie hätte ich den Fall nie aufgeklärt. Wann werden Sie uns wieder einmal besuchen?« »Vielleicht, wenn ich meinen Jahresurlaub bekomme. Sie vergessen, daß ich eine hart arbeitende Frau bin.« »Ich würde Ihnen gern mal bei der Arbeit zusehen.« »Das haben Sie bereits getan.« »Ich kann Ihnen nicht folgen.« »Vielleicht nicht. Sehen Sie, ich habe geschwindelt. Statt in einer Apotheke arbeite ich bei der Strafverfolgung. Ich gehöre zum CID der L-Division bei der Polizei der Landeshauptstadt. Aber Schwester Ponting war meine Tante. Leben Sie wohl.«
ANMERKUNGEN (in einem Brief an seine Agentin) ›Liebe Miß Hughes, in getrenntem Umschlag werden Sie mein Schlußkapitel für die Sechs-AutorenStory erhalten. Ich schreibe diesen einigermaßen ausführlichen Brief, weil ich gern möchte, daß Sie ihn an Mr. Lees von den Allied Newspapers weiterleiten, zusammen mit der ganzen Geschichte. Er wird dann genauer verstehen, was ich auf dem Herzen habe. Lassen Sie mich als erstes sagen, daß derjenige, der die Arbeit des ›Verarztens‹ der Kapitel auf sich nimmt, diese verdammenswerte Pflichtübung mit phänomenaler Sorgfalt, beträchtlicher Brillanz und einem Scharfblick vornehmen muß, mit dem er auf zehn Meter durch die Öse einer Nähnadel durchsehen kann. Da die Autoren sich mit jeweils verschiedenen potentiellen Mördern durch die Geschichte gewunden und demzufolge verschiedene Fährten gelegt haben, haben sich daraus notwendigerweise eine Reihe unverständlicher Widersprüche ergeben. Ich glaube, Mr. Crofts’ Anwendung der subjektiven Methode, wenn es sich um die Gedanken der handelnden Personen dreht, sollte besonders sorgfältig überprüft werden. Wie F. Tennyson Jesse habe ich die raffiniert eingefädelten Pläne und Entwürfe von Sayers und Crofts fallengelassen. Ich könnte mir vorstellen, daß der Leser sowieso mit einer Unmenge massiver Ablenkungsmanöver konfrontiert wird, ohne auch noch durch ein Labyrinth wie das des britischen Gesamtfahrplans und die Kniffligkeit von Crofts’ topographischen Abenteuern geführt zu werden. Es würde gewiß eine neue Note in Krimiserien bringen – oder überhaupt in jede Form von Kriminalgeschichten – wenn jeweils die Anmerkungen der Autoren dem Text beigefügt würden. Zumindest wäre es eine faire Geste gegenüber dem Leser, ihn einmal hinter die Kulissen schauen zu lassen. Und es würde auch nicht die Spannung zerstören, da ja jeder der Mitautoren sich auf andere Spuren und andere Mörder stürzt. Aber das zu entscheiden ist natürlich Mr. Lees’ Sache. Ich mache lediglich den Vorschlag. Jeder, der den Wunsch hegt, etwas in meinem Textbeitrag zu verändern, ist selbstverständlich herzlich eingeladen. Mit diesen wenigen Worten und einem tiefen Seufzer der Erleichterung sende ich meinen Beitrag zur Story ab. Möge mich der Himmel künftig vor solchen Schicksalsschlägen bewahren! Ihr ergebener David Hume.‹