Der Tod aus dem Norden
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 111 von Jason Dark, erschienen am 12.06.1990, Titelbild: Ste...
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Der Tod aus dem Norden
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 111 von Jason Dark, erschienen am 12.06.1990, Titelbild: Steve Crisp
Orkan über Westeuropa! Die Hölle hatte ihre Pforten geöffnet. Der Sturm wütete, er vernichtete, er hinterließ eine Spur des Grauens und brachte gleichzeitig den Schrecken einer vergangenen Epoche. Wikinger überfielen während des Orkans ein kleines englisches Küstendorf. Sie kamen, um zu morden. Sie waren schlimm, denn ihr Anführer hieß nicht grundlos Leif, der Grausame! Suko und ich fuhren nach Seabrake. Während sich mein Freund in der Gegenwart um die Brut kümmerte, reiste ich in die Vergangenheit und erlebte dort, daß die Wikinger bereits über Voodoo verdammt gut Bescheid wußten...
Die Hölle hatte ihre Pforten geöffnet! Westeuropa erlebte einen Orkan wie lange nicht mehr. Einen Jahrhundertsturm, der mit seiner zerstörerischen Wucht nicht nur das Meer zu turmhohen Wellen hochpeitschte und Schiffe in höchste Seenot brachte, nein, er wütete auch an Land wie ein vom Himmel gefallenes Raubtier. Aus wechselnden Richtungen fegte der Orkan heran. Meist aus Westen kommend, hoch über dem Atlantik aufgebaut, und die Britischen Inseln standen ihm als erstes Bollwerk im Wege. Er kannte keine Gnade. Erbarmungslos schlug er zu, zertrümmerte Häuser und riß Schornsteine um. Er wütete in Waldbeständen und hinterließ dort ebenso ein Chaos wie in Städten und Dörfern, wo Menschen zu Spielbällen wurden und einfach durch die Gegend wirbelten. Es gab Tote. Eine Familie starb in ihrem Fahrzeug, als dieses unter einem vom Sturm umgerissenen Baum begraben wurde. Auf dem Meer sah es nicht anders aus. Das Wasser kochte. Wenn der Orkan es gegen die Küste wuchtete, schien die Welt in einem gewaltigen Krachen, Donnern und Losen unterzugehen. Himmelhohe Gischtwolken verdeckten die Sicht. Schiffe, die nicht in die schützenden Häfen geflohen waren, wurden Opfer der Wellen, die sie mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit gegen die Felsen und Klippen warfen. Bei einem derartigen Orkan verkrochen sich die Menschen in ihren Häusern. Da warteten sie zitternd und betend ab, daß der Kelch noch einmal an ihnen vorbeistrich. Viele Familien verloren ihr Hab und Gut. Wie mit einem Handstreich deckte der Orkan die Dächer der küstennahen Häuser ab, aber er wütete auch tiefer im Landesinneren, wo er Schneisen in die Natur zeichnete und das Chaos noch vergrößerte. Ein Ende war nicht abzusehen. Er konnte fünf Stunden, zehn Stunden oder noch länger anhalten. Nur die älteren Menschen erinnerten sich an einen ähnlichen Orkan und erzählten dann, wie es damals gewesen war. Nach draußen wagte sich kaum jemand, abgesehen von den Fahrzeugen der Rettungstrupps. Wer eben konnte, blieb zu Hause. Diejenigen, die sehr hoch wohnten, in den Wohnsilos der Großstädte, spürten die Schwankungen besonders deutlich und hörten den Sturm trotz der geschlossenen Fenster wie ein schauriges Orgelkonzert. Wie gesagt, wer eben konnte, blieb in seinem Haus. Nur wir nicht! Es war zum Heulen. Suko und ich waren unterwegs, wir hatten London verlassen und bewegten uns im Dienstrover Richtung Süden. In seinem BMW wollte Suko nicht fahren. Der stand sicher in der Tiefgarage. Sogar das Meckern über den Dienstrover hatte er gelassen und hockte leicht grinsend neben mir, weil er wohl an sein Fahrzeug dachte.
Wie Hammerschläge erwischten uns die Böen. Sie schüttelten den Rover durch. Uns kam es vor, als würden wir in einem tanzenden Kessel auf dem Jahrmarkt sitzen, aber nicht in einem verhältnismäßig sicheren Fahrzeug auf vier Rädern. Die Geräuschkulisse war kaum zu beschreiben. Es heulte, orgelte und pfiff. Dazwischen erklang immer wieder ein lautes Rauschen, wenn mit einer gewaltigen Macht die Bäume gepackt und gebogen wurden. Auch unser Wagen wurde nicht verschont. Äste und Zweige waren an der Karosserie abgeprallt. >Nur< Lackschäden waren zurückgeblieben. Eigentlich hatten wir aber auch einen >Schaden<, daß wir bei einem derartigen Unwetter noch in Richtung Küste fuhren. Aber Sturm ist Sturm, und Job ist Job. Es ging um ein verdammt heißes Thema: Mord, Spuk und geisterhafte Gestalten, die als Wilde Horde über einen Landstrich hergefallen waren. Diese Wilde Horde war bekannt aus alter Zeit. So hatte man vor Jahrhunderten die Wikinger genannt, die auf ihren weiten Reisen die Länder brutal überfallen und schwer gewütet hatten. Um Wikinger ging es! Aus dem Sturm hervor waren sie erschienen, hatten sich am Himmel gezeigt als gespenstische Kulisse und waren dann überfallartig auf die Erde gelangt. Eigentlich zum Lachen, doch die zahlreichen Opfer sprachen dagegen. Man hatte uns Bilder gezeigt, die mir auf den Magen geschlagen waren. Da braute sich etwas Fürchterliches zusammen. Wir mußten unbedingt diesen Horror stoppen. Unser Ziel war die Südküste. Ein Streifen zwischen Hastings und Folkstone, wo der Kanal England von Frankreich trennt. Dort gab es Gegenden, wo der Sturm besonders heftig getobt hatte, und wir erlebten es nun am eigenen Leibe mit. Den Motorway hatten wir verlassen müssen. Obwohl wir tagsüber fuhren, kam es uns vor, als würden wir in die Dämmerung eines frühen Abends hineinrollen. Der Himmel sah entsprechend aus. Er zeigte ein Muster, das kaum zu beschreiben war. Dunkel, mal heller. Fast alle Grautöne mischten sich ineinander, dazwischen jedoch schimmerte es an manchen Stellen schwefelgelb, als hätte ein gewaltiges Monster seinen höllischen Atem ausgeblasen. Wolken fegten über das Firmament, waren aber kaum als solche zu erkennen. Auf uns wirkten sie wie mächtige Felsblöcke, die der Wind in unterschiedliche Höhen verteilte. Wir hatten wenig miteinander gesprochen. Unsere Gesichter zeigten Besorgnis. Während ich mich auf den Verkehr konzentrierte, behielt Suko mehr die Umgebung im Auge. So manches Mal beugte er sich nach vorn und zur Seite, um aus dem Fenster schauen zu können, denn er mußte den Himmel unter Kontrolle halten.
Wir hatten es relativ gut, denn Suko und ich fuhren durch eine nicht sehr waldreiche Gegend. Dafür erwischte uns der Orkan mit seiner elementaren Wucht. Ich mußte mich anstrengen, um den Rover überhaupt auf der Straße halten zu können. Die Scheinwerfer entsandten lange Lichtbahnen und tauchten die Umgebung in eine gespenstische Helligkeit. Ab und zu öffnete der Himmel seine Schleusen. Dann rauschte Regen nieder und trommelte waagerecht auf das sturmgepeitschte Land. Auch unser Rover wurde nicht verschont. Da schlugen die Tropfen wie Hammerschläge gegen die Scheiben und die Karosserie. Menschen sahen wir nicht. Dafür zwei Fahrzeuge, die im Graben lagen. Kleine Autos, die es von der Fahrbahn gedrückt hatte. Die Fahrer waren nicht zu sehen. Wir mußten in die Nähe von Folkstone. Der Ort, ungefähr zehn Meilen östlich, wurde von den mörderischen Sturmböen fast überschwemmt. Wie wir erfahren hatten, war er nicht besonders gesichert. Telefonleitungen waren zusammengebrochen. Trotzdem hatte uns die Nachricht erreicht, daß Schiffe von der immensen Wucht der Wellen gegen das Land geschleudert worden und dort zerbrochen waren. Wirklich eine Hölle! Manchmal kam es mir wie ein kleines Wunder vor, daß wir noch normal fahren konnten. Aber es änderte sich blitzschnell, als uns der Sturm von der Seite traf. Diesmal schaffte ich es nicht, den Wagen zu halten. Ich hörte Suko noch fluchen, bevor uns eine unsichtbare Faust mit quietschenden Reifen über die Straße schleuderte. »Verdammt, der Graben!« Ich hatte meine Wut herausgeschrien, kurbelte das Lenkrad nach links, wobei es mir soeben noch gelang, den Rover zu halten. Zwar stellte sich der Wagen quer und drehte sich noch einmal, jedoch er rutschte nicht in den Graben hinein, sondern hämmerte mit dem Heck gegen einen starken Mast, an dessen Spitze einmal die Überlandleitung gehangen hatte. Sie war längst zerstört worden. Wir standen! Allerdings nicht still, denn der Orkan kannte kein Erbarmen. Er rüttelte weiter an unserem Rover, als wollte er das Fahrzeug in die Höhe schleudern. Ich drehte mich um, schaute durch die Heckscheibe und sah den Mast wie einen langen, starren Finger in die Höhe wachsen. Suko hatte die gleiche Haltung eingenommen wie ich. »Ich schätze, daß wir raus müssen.« »Du oder ich?« »Beide.«
Ich zeigte ihm ein schiefes Grinsen. »Wie schön, dann können wir uns wenigstens gegenseitig festhalten.« »Wollte ich gerade sagen.« Ich stemmte die Tür auf, denn der Wind drückte genau dagegen. Suko hatte es besser, kam beim ersten Versuch aus dem Wagen — und wurde von einem seitlichen >Tref-fer< erwischt. Suko fand sich auf dem Boden liegend wieder. Am Wagen zog er sich auf die Füße. Ich hatte das Heck schon erreicht und besah mir den Schaden. Groß war er nicht. Der Sturm hatte den Rover zwar herumgeworfen, aber größerer Schaden war nicht entstanden. Nur die Stoßstangc hing schief. Wir standen beide gebückt, um dem Wind so wenig Widerstand zu bieten wie möglich. »Mit dem kommen wirabernoch weiter,John.«Suko hatte sich aufgerichtet und schaute gegen den Himmel. Dort bewegten sich die Wolken in einem furiosen Wirbel. Der Wind hatte sie zu tanzenden Spielbällen gemacht. Manchmal riß der Wind regelrechte Löcher. Wir kamen uns vor, als könnten wir in die Tiefe des Alls blicken. »Los, laß uns wieder starten.« »Mit Rückenwind?« »Scherzkeks.« Flach wie ein Brett war das Land hier. Kaum Wälder, keine Ortschaften, nur Felder, hin und wieder ein einzelner Baum, der von der Wucht der Schläge geschüttelt wurde und froh sein konnte, nicht geknickt zu werden. Ich nutzte eine günstige Gelegenheit aus und lenkte den Rover wieder auf das schmale graue Band der Straße. Bisher hatten wir tatsächlich Glück gehabt, keine Hindernisse versperrten uns den Weg. Das richtige Wetter für Wikinger, um über das Land herzufallen und eine blutige Spur zu hinterlassen . . . Ich schüttelte über meine Gedanken den Kopf. Welch ein haarsträubender Unsinn - normalerweise. Die echten Wikinger waren längst ausgestorben. Ihre Nachfahren lebten in Skandinavien. »Bin mal gespannt, ob wir auch Frik, den Wikinger, sehen«, meinte Suko. »Den aus dem Film?« »Nein, den echten.« »Da gab es noch andere Häuptlinge wie Leif und Olaf.« »Und alle waren sie gleich schlimm.« »Richtig.« Suko schüttelte den Kopf. »Es ist sowieso ein Wahnsinn. Ich kann es nicht glauben.« »Ich glaube, es wird sich etwas ändern.« »Wieso?« Suko hatte nicht sehen können, was ich sah, weil er sich mit dem Handschuhfach beschäftigte. »Dann sieh doch mal hoch.«
Sukos Augen weiteten sich, als er nach oben blickte. »Von wegen, keine Wikinger, mein Freund. Da sind sie!« Suko konnte nur nicken. *** Wir hatten den Sturm vergessen, denn was wir zu sehen bekamen, war unfaßbar. Vor uns war der Himmel aufgerissen, als hätte ihn eine gewaltige Axt gespalten. Der Wind hatte die Wolkenwände wie zwei Teile eines Vorhangs zur Seite gedrückt, damit Platz für ein atemberaubendes Bild geschaffen werden konnte. Es stand eine gespenstische Projektion am Himmel. Ein gewaltiges und voll ausgerüstetes Kriegsschiff der Wikinger. Mast mit Rahsegel, ein mit Schnitzwerk verzierter Bug, was darauf hindeutete, daß ein König oder Häuptling mitfuhr. Das Heck lief spitz zu, war stark in die Höhe gezogen und mit zahlreichen Ruderriemen bestückt, an denen die starken Männer saßen. Uns blieb tatsächlich die Luft weg, weil wir mit einem derartigen Anblick nicht gerechnet hatten. Wir entdeckten keine Krieger, nur das Schiff. Es stand dort und machte auf uns den Eindruck, als würde es jeden Augenblick vom Himmel auf die Erde fallen. Suko wischte über seine Augen, hob die Schultern und meinte: »Eine Halluzination ist es nicht.« »Das kannst du wohl sagen.« »Was dann? Echt — oder . . .« »Das ist echt, Suko. Ein Wikingerschiff aus den Wolken, das eigentlich hätte auf dem Meer fahren müssen.« »Nicht bei diesem Sturm«, erwiderte Suko nicht ohne Humor. Er schüttelte den Kopf. »Sollte es der Orkan geschafft haben, Lücken in Dimensionen zu reißen?« »Glaube ich kaum. Wenn wir schon davon ausgehen, daß sich Dimensionen geöffnet haben, hätte es einen anderen Grund. Nur kann ich dir den beim besten Willen nicht nennen.« »Stimmt.« Das Schiff mit dem aufgeblähten Segel bewegte sich nicht. Es stand dort tatsächlich wie ein Hologramm. Man hätte an einen Scherz denken können, nur war das nicht der Fall gewesen, denn es hatte Tote gegeben, und mir kroch bei dem Gedanken eine Gänsehaut über den Rücken. »Was machen wir?« Ich hob die Schultern. »Bestimmt nicht entern.« »Das versuch mal.«
Die weiteren Worte erstickte der Orkan mit seiner tosenden Musik. Er hatte erneut Atem geholt, brauste heran, schüttelte unseren Rover durch und fuhr in den Himmel, um die Wolken durcheinander zu wirbeln. Sie verdeckten das Schiff. Wie ein Vorhang schoben sie sich in die Lücke. Suko und ich bekamen noch mit, wie es sich bewegte. Es schnellte aus der Lücke hervor, wurde über den Himmel getrieben — oder bewegten sich nur die Wolkenwände? Jedenfalls war das Kriegsschiff plötzlich verschwunden, und die Lücke hatte sich geschlossen. Wir hielten mitten auf der Straße und blieben noch sitzen. »Ich sehe es als eine erste Warnung«, meinte Suko. »Für wen?« »Für uns.« »Dann rechnest du damit, daß die Krieger uns entdeckt haben, obwohl wir sie nicht sahen.« »Darauf kannst du wetten, John.« Ich seufzte. »Okay, fahren wir weiter. Vielleicht setzt es noch zur Landung an.« »Aber nicht auf der Straße, bitte.« »Keine Sorge, die ist ihnen bestimmt zu schmal.« »Der Tod aus dem Norden«, sagte mein Freund. »Hast du gesehen? Das Boot stand im Norden.« »Genau da war die Heimat der Wikinger, bevor sie zu ihren Raubzügen aufbrachen, die sie bis an die amerikanische Küste führten.« »Vergiß Rußland und Germany nicht.« »Stimmt.« Ich startete den Rover. Gegen die Kühlerfront wehte der starke Wind. Ich hatte Mühe, wegzukommen. »Wie weit noch?« fragte ich. Suko schaute auf die Karte. »Nicht mehr als sieben, acht Meilen. Dann sind wir an der Küste.« »Okay.« Ich gab wieder Gas. Schon oft hatten wir uns in dieser Gegend befunden, aber das Meer bei einem derartigen Orkan zu erleben, war uns bisher nicht vergönnt gewesen. Da verwandelte sich die See tatsächlich in eine kochende Hölle. Noch mußten wir fahren. Der Regen hatte aufgehört. Die Luft schien uns glasklar zu sein. Wenn das Grau der Wolkendecke aufriß, erfaßten unsere Blicke die gesamte Weite des vor uns liegenden Landes. Seine Formation änderte sich etwas. Es blieb nicht mehr so eben. Wir schauten zwar auf keine Berge, doch es gab unzählige Hügel, die der Gegend einen Mittel-gebirgscharakter verliehen. Auch Gebäude konnten wir sehen. Mehr Schuppen oder Scheunen als Häuser, die dem Sturm schutzlos ausgeliefert waren und dementsprechend aussahen. Dächer waren zum Teil abgedeckt. Der Orkan hatte Stücke von ihnen wie mit einer Riesenhand einfach weggeputzt. Zwei andere Schuppen
waren komplett zerstört worden. Was übrig geblieben war, verteilte sich in einem großen Umkreis. Das Haus nahe der Straße stand noch. Seine Mauern waren aus dicken Steinen errichtet worden. Darüber befand sich das mit Reet gedeckte Dach, das auch gehalten hatte, aber jetzt aussah wie eine völlig zerwühlte Frisur. Wir wären vorbeigefahren, hätte uns nicht das Licht aufmerksam werden lassen, das hinter den Scheiben tanzte. »Da wohnt jemand«, sagte Suko. Ich ging bereits vom Gas und ließ den Rover ausrollen. »Den werden wir uns ansehen.« »Vielleicht weiß er mehr über die Wikinger.« Von der Straße ab führte ein schmaler Weg zum I laus. Er war mit Gras bewachsen, aber auch mit vom Sturm losgerissenen Ästen und Zweigen übersät. Eine ungastliche Stätte, besonders bei diesem Wetter. Ich parkte den Rover ein Stück vom Haus entfernt. Wir stiegen aus, duckten uns tief und liefen der Haustür entgegen, die glücklicherweise noch vorhanden war. Sie hatte dem Winddruck standgehalten. Der Orkan pfiff um die Hausecken. Ergab Geräusche von sich, die mich an das hohl klingende Pfeifen einer alten Panflöte erinnerten. Suko war bis zur Scheibe vorgegangen. Ich duckte mich und wurde laufend von Strohstücken getroffen, die der Sturm aus dem Reetdach löste. Irgendwann würde er das ganze Dach abgedeckt haben. »Hast du jemanden gesehen, Suko?« brüllte ich gegen den Sturm an. »Nein.« Suko kam auf mich zu. Ich war vor der Haustür stehengeblieben, wo weder eine Klingel noch ein Klopfer vorhanden waren. Deshalb rammte ich die Tür kurzerhand auf. Da der Wind genau in diese Richtung blies, hatte ich Mühe, die Klinke zu halten. Der Sturm fand freie Bahn. Das Licht flackerte, einige Kerzenflammen verlöschten, und dann war auch schon Suko im Haus und hatte die Tür zugerammt. • »Wenn ihr weitergeht, kille ich euch!« Mit dieser Begrüßung hatte keiner von uns gerechnet. Die Stimme des Mannes hörte sich an, als verstünde er keinen Spaß. Wir sahen ihn links von uns. Dort befand sich der wohl einzige Raum. In ihm wurde gekocht, geschlafen und gewohnt. Der Mann hockte an einem Tisch. Im Hintergrund brannten noch einige Kerzen. Der Kamin war kalt. Das Gewehr hatte der Mann aufgestützt. Eine alte Jagdflinte, ziemlich schwer. Das schwarze Mündungsloch bewegte sich zitternd, zeigte einmal aul muh, dann auf Suko. Beide hatten wir sicherheitshalber die Hände erhoben. Der Mann war in der Dunkelheit schwer zu erkennen. »Was wollt ihr liier?«
»Wir sahen Licht«, sagte Suko. »Na und?« »Da hatten wir eben das Gefühl, nachschauen zu müssen.« Die Erwiderung blieb aus. Wir hörten ihn schwer atmen. »Dann . . . dann gehört ihr nicht zu denen?« »Wie meinen Sie das?« fragte ich. »Die Gestalten, die aussahen wie Wikinger. Verdammt, sie waren hier, Sie haben . . .« Er konnte nicht weitersprechen. Die Waffe war zu schwer für ihn geworden. Zuerst zitterte sie nur, dann schwankte sie und fiel schließlich auf die Tischplatte, über deren Kante sie hinwegrutschte und auf dem Steinfußboden liegenblieb. Der Mann weinte. Er saß steif am Tisch. Aus seinen Augen flössen die Tränen wie Rinnsale, der Mund zuckte. Dann senkte er sehr, sehr langsam den Kopf und vergrub sein Gesicht in den auf dem Tisch liegenden angewinkelten Armen. Wir schauten uns an. Dieser Mensch mußte Schlimmes erlebt haben, daß er so reagierte. Obwohl draußen der Orkan wütend tobte, kam es uns hier im 1 laus still vor. Von zwei Seiten näherten wir uns dem Weinenden. Neben ihm stoppten wir. »Wollen Sie uns nicht erzählen, was geschehen ist?« fragte ich, während Suko die Dochte der Kerzen wieder anzündete. »Nein.« »Aber.. .« ■»John, komm her.« Sukos Stimme klang beängstigend ruhig. Ich ging zu ihm. Durch das Kerzenlicht hatte er eine bessere Sicht bekommen, und ich sah sehr bald, was er gemeint hatte. Auf einem Feldbett lag eine Tote in ihrem Blut! Sie war von einer mörderischen Waffe umgebracht worden, wahrscheinlich einer Streitaxt. Ich ballte vor Wut die Hände zu Fäusten. Das sah mir nach einem brutalen Überfall der Wikinger aus. Hinter uns war das Orgeln des Sturms lauter zu hören. Es lag daran, daß eine Leiter zu einer offen Dek-kenluke hochführte. Der Kerzenschein leuchtete den Raum unter dem Dach zwar nicht aus, reichte jedoch so weil, daß ich das Schreckliche sehen konnte: Am Rand der Luke pendelten zwei Füße! Ich atmete hörbar tief durch, bevor ich Suko anstieß und in die Höhe deutete. »Mein Gott«, hauchte er nur. »Ich schaue nach.« »Okay.« Mein Freund ging auf den weinenden Mann zu, um ihn zu trösten und gleichzeitig etwas zu erfahren. Die Leiter war so stabil gebaut, daß sie mein Gewicht hielt. Beim Hochsteigen bogen sich die Sprossen nicht einmal durch. Ich war sehr
vorsichtig. Im Nacken spürte ich das Ziehen, so etwas wie eine Warnung vor einer bestimmten Gefahr. Mit der Beretta in der Rechten schob ich die Hand und meinen Kopf über den Lukenrand hinweg, schaute sofort nach links und rechts, nahm aber nur den Geruch des feuchten Strohs und das Jaulen des Windes wahr. Der Mann hing rechts von mir. Man hatte ihn kurzerhand aufgeknüpft. Sein Gesicht sah schlimm aus, denn in den starren Zügen spiegelte sich noch die Anstrengung des Todeskampfes wider. Es kostete mich Überwindung, aber ich fühlte nach der Körpertemperatur. Der Tote war schon kalt, demnach mußte er schon einige Stunden hier oben hängen. Die Wikinger, die Wilde Horde, die blutrünstige Schar - die Begriffe jagten durch meinen Kopf. Sie waren gekommen, hatten vielleicht geplündert, aber auch getötet. Ich dachte an das Schiff und daran, daß wir an Deck keine Krieger gesehen hatten. Sie waren aber da, denn diese Spuren ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Mir gefiel die Düsternis hier oben nicht. Das Dach zeichnete sich als Schatten über meinem Kopf ab. Manchmal bewegte es sich. Der Sturm zerrte an dem harten Reetstroh. Ein paar Lücken hatte er bereits gerissen. Ich holte die Lampe hervor und leuchtete den Speicher aus. Hier oben standen alte Truhen und Kartons. Sie waren gefüllt mit allerlei Krempel, und auch eine alte Liege entdeckte ich. Daneben stand eine Truhe im spitzen Winkel zur Wand. Die Truhe bewegte sich plötzlich. Ich hatte sie nicht angeschoben. Hinter ihr mußte jemand hocken. Ich ging einen Schritt zurück, fast bis an den Rand der Luke, und zielte mit der Beretta in diese Richtung. Gleichzeitig leuchtete ich noch hin. Die Truhe rutschte nicht mehr. Von unten hörte ich Sukos und die Stimme des Fremden. Was sie besprachen, war für mich nicht zu verstehen. Ich wollte näher an die Truhe heran. Der durch die Ritzen fegende Wind hatte sie bestimmt nicht bewegt und schleuderte sie auch nicht in die Höhe, was jetzt plötzlich geschah. Sie flog auf mich zu, war nicht so schnell wie ein Messer, dafür größer von den Umrissen her, und ich hatte Mühe, dem kompakten Geschoß auszuweichen. Fast hätte ich mich in die falsche Richtung geworfen, fing mich aber noch und sprang nach links, wo ich gegen das Gebälk krachte und mitbekam, wie eine furchterregende, mit einem Fell bekleidete Gestalt vom Boden her in die Höhe schnellte und sich mir entgegenwarf. Bewaffnet war der langhaarige Wikinger-Krieger mit einer Streitaxt, deren Klinge einen Schädel spalten konnte.
Er hämmerte die Waffe nach unten, ohne mich überhaupt treffen zu können. Wahrscheinlich wollte er mir nur eine Demonstration seiner Macht zeigen. Ich trat ihm seitlich in den Bauch. Er keuchte nicht einmal, sondern fuhr herum und holte zu einem erneuten Schlag aus. Noch einmal trat ich zu. Diesmal erwischte ich ihn zwischen den Beinen. Der Treffer schleuderte ihn zurück, über den Rand der Luke hinweg, gegen die schräge Leiter, deren Sprossen federten, als er nach unten stürzte und auf den Rücken krachte. Natürlich hatte Suko den Kampf mitbekommen. Blitzschnell war er auf den Beinen, während der trauernde Mann starr hockenblieb. Auch der Wikinger stand auf. »Pack ihn, Suko!« schrie ich. »Und ob!« Mein Freund warf sich dem Krieger entgegen, als dieser wieder zuschlug. Der Inspektor packte dessen Arm in halber Höhe, drehte ihn. Ich hörte es knacken. Er bückte sich und schleuderte den Wikinger mit einem Schulterwurf derart schwungvoll über sich hinweg, daß der Mann dicht neben der Tür zu Boden prallte. Aber er war sofort wieder auf den Füßen. Fr packte die Streitaxt und holte aus, wobei er sich um seinen lädierten Arm nicht kümmerte. Er zielte auf den Mann am lisch. Da schoß ich. Die Beretta zeigte über den Lukenrand hinweg schräg in die Tiefe. Ich konnte ihn nicht verfehlen. Schwer durchschlug die Kugel das Fell und klatschte in seinen Körper. Er schrie nicht einmal, als ihn die Wucht des Silbergeschosses gegen die Tür schmetterte, an der er für einen Moment wie angenagelt zu stehen schien, bevorer in die Knie sackte und mit dem Gesicht zuerst auf den Boden knallte. Reglos blieb er liegen. Ich schluckte hart, bevor ich die noch heil gebliebene Leiter nach unten stieg. »Das war der Killer«, sagte ich leise zu meinem Freund. Suko schwieg und nickte. Er hatte seinen Blick auf den Mann gerichtet, der nicht mehr weinte und ins Leere stierte. »Er heißt Clive Braddock und ist der Sohn der beiden Leute, die hier wohnten. Er hat die Eltern tot vorgefunden.« »Das dachte ich mir.« Einen Kerzenständer hatte der Wikinger bei seinem Fall umgerissen. Ich stellte ihn wieder auf. Neben dem Wikinger blieb ich stehen. Die geweihte Silberkugel hatte sich tief in seinen Körper gebohrt. Wenn er ein Zombie, ein Untoter war, mußte sie sein Dasein entgültig ausgelöscht haben.
Die Gestalt war ziemlich schwer. Es kostete mich Mühe, sie auf den Rücken zu drehen. Dann starrte ich in das Gesicht - und bekam einen Schock! Ich hatte ihn unter dem Dach nicht genau erkennen können, aber so wie jetzt hatte das Gesicht des Kriegers nicht ausgesehen. Es hatte sich in eine schaurige Totenmaske verwandelt, in der die Augen fehlten und nur mehr leere Höhlen zurückgeblieben waren. Es war auch keine Haut vorhanden. Seine Körperoberfläche glänzte eigenartig, so, als hätte ihn jemand mit Fett eingerieben. Mit dem Fingerknöchel klopfte ich dagegen und bekam ein hohles Echo zu hören. Suko trat an mich heran und schaute auf den Krieger. »Er sah zuvor anders aus - oder täusche ich mich?« »Nein. Meine Kugel hat ihn verändert. Sie hat die Haut hart werden lassen.« »Wie'so?« »Ich weiß es nicht.« Um die Festigkeit feststellen zu können, klopfte ich mit dem Berettagriff dagegen. Schon beim ersten Schlag hörten wir das Splittern. Die rechte Gesichtshälfte und ein Teil der Nase waren zerstört worden. Ich nahm eine >Scherbe< hoch, reichte sie an Suko weiter, der sie ebenfalls betastete und keine Lösung wußte. »Sorry, John, ich habe keine Ahnung, was das für ein Material ist.« »So also reagiert geweihtes Silber bei Wikinger-Zom-bies«, murmelte ich. »Vorausgesetzt, es war einer.« »Und ob, mein Lieber!« widersprach ich heftig. »Oder glaubst du, daß sich da jemand verkleidet hat?« »Jetzt nicht mehr.« »Eben.« Ich schob die Gestalt von der Tür weg und hörte Suko murmeln: »Warum nur der Kopf und nicht der Körper?« »Keine Ahnung. Lins aber ist sicher, Alter, wir werden das schon herausbekommen.« »Und was machen wir mit Braddock?« »Wollte ich dich gerade fragen. Wo wohnt er denn? Doch nicht etwa hier im Haus?« »Nein, in Seabrake.« »Trifft sich gut, da wollten wir auch hin.« »Doch er ist nicht ansprechbar.« Suko hob die Schultern. »Kein Wunder, der hat einen Schock bekommen. Er wollte seine Eltern besuchen und hat sich bis hierher durchgeschlagen. Er fand sie tot.« »Was ist mit den Wikingern gewesen? Hat er sie zu Gesicht bekommen?« »Einige.« »Wie das?«
»Sie befanden sich auf dem Rückzug, aber einer ist zurückgeblieben. Wahrscheinlich, um Clive zu töten. Wir sind ihm wohl in die Quere gekommen.« In meiner nächsten Frage klang Spott mit: »Sind die Kerle zu ihrem Schiff gelaufen?« »So ist es John.« »Moment mal, ich ...« »Sag nichts, Alter. Das Schiff ist tatsächlich gelandet oder hat hier auf dem Boden angelegt. Braddock hat davon gesprochen. Er konnte es noch sehen.« Ich strich durch mein Haar. »Wie wir«, murmelte ich. »Verdammt noch mal, das stößt mir bitter auf. Ich komme mir vor, als hätte ich etwas falsch gemacht.« »Was denn?« »Keine Ahnung. Ich hoffe nur, daß er mit uns fährt. Weißt du, ob er Familie hat?« »In Seabrake. Frau und Kinder. Denen ist aber nichts passiert. Ich konnte nicht mehr weiterfragen, er war nicht in der Lage, mir Antworten zu geben.« »Klar.« Ich ging und blieb vor dem alten Tisch stehen, an dem Clive Braddock noch immer hockte. Er mußte mich sehen, nur nahm er mich nicht zur Kenntnis. Seine Pupillen waren glanzlos. Auch als ich ihn berührte, zuckte er nicht einmal zusammen. Kurzentschlossen löschte ich die Kerzen, bis auf zwei. Über den Raum legte sich eine flackernde Düsternis, und die kleinen Fensteröffnungen brachten auch kaum Licht. »Mr. Braddock«, sprach ich ihn leise an. »Es wäre für Sie besser, wenn Sie mit uns kämen.« »Wohin?« »Nach Hause, nach . . .« »Da sind sie auch!« flüsterte er tonlos. »Sie sind überall. Sie kamen aus den Wolken und brachten das Grauen. Unser Pfarrer erzählte, daß sie der Orkan aus den Schlünden der Hölle in diese Welt getrieben hat. Ja, das erzählte er.« »Haben Sie das geglaubt?« »Was sonst?« »Dann werden wir mit dem Pfarrer reden.« Allmählich löste sich der Schock. Er strich über seine Stirn. »Beide sind sie tot«, sagte er. »Meine Eltern haben hier gelebt. Ich wollte nur nach ihnen sehen, jetzt sind sie.. .« »Wir bekommen die Mörder.« Er drehte mir seinen Kopf zu. Dann schaute er mich mit einem Blick an, der mir schon unangenehm war, denn es war zu erkennen, daß er mich für einen Spinner hielt. »Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben, Mr. Brad-dock, tut mir leid.« »Sie sind fremd.« »Sicher.«
»Dann werden Sie vielleicht einen Rat annehmen. Verschwinden Sie am besten. Die Gefahr ist zu groß.« »Vielleicht sind wir gerade ihretwegen gekommen«, sagte Suko, der unserem Gespräch gefolgt war. Braddock gab keine Antwort. Er stand auf und holte seine dicke Jacke von einem Haken. Dabei vermied er es, einen Blick auf seine tote Mutter zu werfen. »Das hat ja einigermaßen geklappt«, flüsterte Suko. »Es bleibt nur noch zu hoffen, daß wir nicht wegfliegen.« Braddock drehte sich. »Wenn wir nach Seabrake fahren, müssen wir an der Küste vorbei. Die Straße ist überschwemmt. Wasser, Schlamm und Geröll liegen dort.« »Also unpassierbar?« fragte Suko. »Bestim nit.« Ich schenkte Braddock ein freundliches Lächeln. »Lassen wir es darauf ankommen.« Er sagte nichts mehr. Vor mir stand ein gebrochener Mann, der in wenigen Minuten gealtert war. Sein braunes Haar hing wirr in die Stirn. Im Nacken wuchs es wie ein dichter Pelz. Die Nase saß etwas schief in seinem aufgequollenem Gesicht, das noch von den Tränenspuren gezeichnet war. Mit der Zungenspitze fuhr er nervös über seine Lippen. Die Hände mit den klobigen Fingern schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich ebenso schnell wieder. Suko umfaßte mit seiner Hand Braddocks Arm. Er wollte den Mann zur Tür führen. Ich hatte die letzten Flammen gelöscht und war schon vorgegangen. Die Leichen mußten ebenfalls abgeholt werden. Das allerdings konnte bei diesem Orkan dauern. Ich wußte, daß es Überschwemmungen gegeben hatte. Glücklicherweise nicht in dieser Gegend. Wir durften nicht klagen, weil wir uns noch relativ gut bewegen konnten. Ich zerrte die Tür auf. Sofort packte mich der Sturm. Er tobte heulend um meinen Kopf. Unzählige unsichtbare Hände griffen in mein Haar, als wollten sie es mir von der Kopfhaut zerren. Der Wind biß in mein Gesicht und brannte in den Augen, die schnell anfingen zu tränen. Das alles kümmerte mich nicht, denn ich starrte nur auf den Gegenstand, der etwa in der Höhe der Straße einen Yard über dem Asphaltbelag schwebte und sich einen Teufel um den Orkan kümmerte. Es war das Schiff der Wikinger! Sie hatten die Toten in Särge gelegt und diese in die Kirche gestellt, die zu einem Ort der Trauer geworden war. Reverend Castor hatte Mühe gehabt, die Menschen zurück in ihre Häuser zu bitten, denn viele wollten Totenwache halten.
Vier Leichen lagen in der Kirche. Unter anderem auch der Konstabier des Ortes. Ein Baumast hatte ihn mit mörderischer Wucht getroffen und erschlagen. Kurz vor seinem Ende hatte er noch eine Alarmmeldung nach London abgeben können, danach war er dann gestorben. Der Orkan tobte noch immer. Was nicht niet- und nagelfest war, hatte dem mächtigen Wind nicht trotzen kein neu und war einfach fortgerissen worden. Viele Häuser standen nur mehr zur Hälfte. Bei anderen waren Dächer weggeflogen, Scheiben eingedrückt und Mauerwerk eingestürzt, als hätten die Fäuste eines Riesen gegen die Häuser geschlagen. Es war für keinen ein Trost, auch für den Reverend nicht, aber der Konstabier war von den vier Toten als einziger auf >natürliche< Art und Weise ums Leben gekommen, die drei anderen nicht. Man hatte sie umgebracht! Aus dem Nichts waren die Gestalten der Wikinger erschienen und über den kleinen Ort an der Küste hergefallen. Der Angriff hatte kaum eine Minute gedauert, drei Menschenleben gekostet und zahlreiche Verletzte gefordert. Dann waren sie ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Sie hatten ihr mächtiges Drachenschiff geentert und sich von den mächtigen Windstößen hinforttragen lassen. Für Reverend Castor war dieser Vorgang ebenso unbegreiflich gewesen wie für die anderen Menschen im Ort. Sicher, er hatte nach einer Erklärung gesucht, aber keine gefunden. Sein Job war es, die Menschen zu Gott zu führen. Er war erst dreißig Jahre, neu im Ort und glaubte nicht an Spukgeschichten oder an die Hölle, wie sie so oft dargestellt wurde. Im Gegensatz zu den Bewohnern. Sie lebten verhältnismäßig einsam und glaubten noch an die Kräfte der Natur, vor allen Dingen an die des Meeres, das ihr ständiger Begleiter war. Von der Geburt an bis hin zum Tod. Was war von diesem Überfall zu halten? Gab es tatsächlich eine Hölle, die Pforten geöffnet und Tote zu Lebenden gemacht hatte, um normale Menschen heimtückisch zu überfallen? Reverend Castor wußte es nicht. Er war ebenso hilflos wie die anderen. Eine Lösung konnte er nicht bieten. Er hatte dafür gesorgt, daß die vier Särge geschlossen wurden, denn der Anblick der Toten war einfach furchtbar. Die Wikinger hatten die zwei Männer und die Frau mit Schwert und Streitaxt getötet. Da waren die Chancen zu überleben gleich Null gewesen. Noch einmal überprüfte der Reverend das Schloß der Kirchentür. Er hatte den Schlüssel zweimal gedreht. Wer jetzt die Kirche auf dem normalen Weg betreten wollte, mußte die Tür schon aufbrechen. Immer noch heulte und tobte der Orkan. Selbst die dicken Mauern des Gotteshauses konnten die Geräusche kaum mildern. Der Wind fegte um die Ecken, schüttelte die nahe an der Kirche stehenden Bäume und
schlug deren Äste gegen das Mauerwerk, an die sie wie mit langen Totenfingern kratzten. Es gab noch einen zweiten Ausgang. Da mußte der Reverend durch die Sakristei gehen. Sie befand sich in einem kleinen Anbau an der Westseite der Kirche. Dort hing auch der dicke Mantel des Pfarrers. Er zog ihn sich an, band sich den Schal um und streifte seine Wollmütze über den Kopf. So gerüstet hoffte er, dem Sturm widerstehen zu können. Er sah es einfach als seine Pflicht an, durch den Ort zu gehen und den Bewohnern - wenn nötig - Trost zu spenden. Der scharfe Wind riß ihm fast die Tür aus der Hand. Er hatte Mühe, die Klinke zu umklammern, die Tür wieder zu schließen und den Schlüssel zweimal zu drehen. Über ihm klapperte das kahle Geäst der Bäume, Zweige schlugen gegeneinander. Er hörte auch das morsche Knarren und sprang instinktiv zurück, damit er sich mit dem Rücken gegen die Kirchenmauer pressen konnte. Das war sein Glück, denn ein wütender Windstoß hatte einige Äste gelöst und zu Boden geschleudert. Nicht weit von Pfarrer Castor entfernt waren sie gelandet. Die hätten ihn nicht nur ankratzen, sondern auch verletzen können. Der Reverend wartete die nächste Minute noch ab. Als sich nichts getan hatte, verließ er seinen Platz. Er hatte vorgehabt, schnell durch das Dorf zu gehen. Leider war es nicht möglich. Auf dem Kirchplatz bekam er den Orkan zum ersten Mal am eigenen Leib zu spüren, denn er konnte dem heranfauchenden Wind nichts mehr entgegensetzen. Der Schwall riß ihn einfach von den Beinen. Castor fiel zu Boden, wo ihn ein erneuter Windstoß erwischte und um die eigene Achse schleuderte. So rollte er weiter bis an die Mauer des Kirchplatzes, wo der Sturm schon einen Haufen Äste und Zweige hingeweht hatte. Bis auf ein paar wenige Kratzer im Gesicht war dem Geistlichen nichts geschehen. Es hätte ihn auch schlimmer erwischen können. Mühsam stemmte er sich auf die Beine und blieb im Windschatten der Kirchplatzmauer, weil er hier mehr Schutz fand als auf der freien Fläche. Langsam und sich gegen den scharfen Wind anstemmend, ging er weiter. Der Sturm konnte einem Menschen den Atem rauben. Manchmal wuchteten die Böen derart stark heran, als wollten sie alles hinwegfegen. Der Sturm steckte mit dem Teufel und seinen Schergen im Bunde. Langsam glaubte auch Castor daran. Die Straße vor dem Kirchplatz führte in südlicher Richtung direkt bis zum Strand. Gesäumt wurden sie von kleinen Häusern, wobei jeder Bau unter dem Orkan gelitten hatte. Auch die Kirche war nicht verschont geblieben.
Von ihr fehlte ein Stück des Turms. Die Trümmer hatten glücklicherweise keinen Menschen verletzt und verteilten sich in einem großen Garten. Wieder wurde es Nacht. Die mächtigen Wolken legten einen dunklen Vorhang über den Himmel. Castor wußte Bescheid, was folgen mußte, da er es schon zweimal erlebt hatte. Und es geschah auch diesmal. Urplötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen. Tonnenweise stürzten die Wassermassen herab. Der Wind packte sie, schleuderte die Wasserwand waagerecht über das Land, so daß sie aussah wie ein gewaltiger Vorhang, der einfach nicht abreißen wollte. Der Reverend ärgerte sich, nicht in der Kirche geblieben zu sein. Er mußte Schutz finden, rutschte das nasse Kopfsteinpflaster der Straße hinab und erreichte schon bald die Uferstraße, die ein Bild des Chaos bot, denn der Orkan hatte einige Bäume gefällt und die mächtigen Riesen quer über die Fahrbahn geschleudert. Die Häuser in Strandnähe litten am meisten. Ihre Fronten waren dem Orkan schutzlos ausgeliefert und zeigten an den Hauswänden auch Beschädigungen von umgestürzten Bäumen, deren Äste sich durch die immense Wucht wie Messerstiche in das Mauerwerk gebohrt hatten. So etwas war eigentlich unvorstellbar, aber geschehen. Der Reverend gab nicht auf. Sein Mantel war längst naß und zu einem Lappen geworden. Castor kämpfte sich bis zu einem bestimmten Haus hin durch, das ebenfalls an der Uferstraße stand, aber nicht so stark beschädigt war wie andere. Bei ihm fehlten nur einige Stücke aus dem Dach. Der Ire Logan führte dort das Regime. Er hatte sich mal aus Spaß als Pubierbezeichnet, weil ihm der Begriff Kneipenwirt nicht so zusagte. Seitdem hieß er nur noch Pubicr. Man hatte den Reverend schon kommen sehen. Logan persönlich, ein rothaariger Riese, half ihm beim Öffnen der schweren Holztür, und Castor stolperte in den von Kerzen erhellten Raum, denn der elektrische Strom war ausgefallen. Die Kerzen standen auf einem Wagenrad, das von der Decke hing. Einige flackerten noch, und Castor atmete tief durch, bevor er sich nahe der Theke auf einen Stuhl fallen ließ. Einige Gäste hockten zusammen. »Sie haben Gottvertrauen, Reverend«, sagte jemand, der als reich galt, weil er drei Boote sein eigen nannte — bis der Orkan sie zertrümmert hatte. »Ich kann mich ja nicht nur verstecken.« »Stimmt.« Die Männer hoben ihre Gläser. Frauen saßen nicht im Pub. Logan brachte dem Mann ein Bier. »Oder wollen Sie lieber einen Gin, Reverend?« »Den zuerst.«
»All right.« Logan stieß hörbar auf. »Noch kann ich das Bier durch Eis kühlen, das wird bald auch vorbei sein.« »Dann gib noch mal 'ne Runde!« rief jemand. »Vielleicht ist es unsere letzte. Wenn die Horde zurückkehrt, sind wir alle geliefert, das schwöre ich euch.« Der Mann, der gesprochen hatte, trug eine Schirmmütze. Sein Gesicht sah aus wie die furchige Oberfläche des Mondes. Er war mal Bürgermeister gewesen. »Du solltest nicht spotten«, rief der Reverend. »Das mache ich auch nicht. Ich sehe die Dinge sogar ziemlich gelassen. Aber was ich sagte, ist eine Tatsache.« Castor konnte nicht widersprechen, kippte den Gin und ließ seine Blicke durch die verräucherte Kneipe wandern, in der das Holz an den Wänden und die Balken unter der Decke schon eine schwarze Patina angesetzt hatten. Die Hinterlassenschaft des Tabaks. Seufzend stellte er das Glas zur Seite. Mit einem Taschentuch wischte er die letzten Tropfen aus dem Gesicht. »Vielleicht haben wir noch eine Chance, gegen die Wikinger-Brut anzugehen.« Zahlreiche Augenpaare starrten ihn an. Auch der Pubiethinter der Theke wirkte wie mit dem Zapfhahn verwachsen. »Sagen Sie das noch mal, Reverend.« »Es haben alle verstanden.« Castor wirkte im Vergleich zu den kernigen Bewohnern schmal und schüchtern. »Aber uns fehlt der Glaube«, meldete sich ein weiterer. »Wir konnten noch eine Nachricht nach London absetzen und um Hilfe bitten.« Nach diesen Worten erdröhnte der Raum unter Gelächter. Keiner wollte es glauben. »Laßt mich ausreden. Ich weiß, was ihr denkt. London kümmert sich nicht um uns. Die haben ihre eigenen Probleme. Wahrscheinlich wissen die Menschen dort nicht einmal, wo Seabrake liegt. Alles gut und schön. Aber in London gibt es auch einen Mann, der auf gewisse übersinnliche Dinge spezialisiert ist. Ich habe selbst in London gelebt und von ihm gehört.« »Wie heißt der Knabe denn?« »John Sinclair.« Damit konnten die Männer nichts anfangen. »Ist das auch ein Pfarrer oder so ähnlich?« »Nein, er ist Polizist, Yard-Mann.« »Ein Bulle!« keuchte der Pubier. »Na und?« »Bullen haben uns noch gefehlt. Diese arroganten Großstadtpinkel, die immer so tun, als müßten sie irgendwelchen Serienstars nacheifern. Nein, damit lockst du uns nicht hinter dem Ofen vor, Reverend, damit nicht.« »Auch nicht, wenn er uns helfen kann?«
Logan breitete die Arme aus. »Wie denn, zum Teufel? Wie soll er uns helfen können? Den Wind beschwören und ihn bitten, daß er einschläft. Soll er uns so helfen?« »Das nicht gerade.« »Wie dann?« Castor hörte deutlich den aggressiveren Tonfall. Das erschreckte ihn aber nicht. Außerdem hatte er den Kon-stabler dazu überredet, sich mit London in Verbindung zu setzen. »Hört zu, Leute, gegen die Gewalten der Natur kommt wohl keiner von uns an. Aber als ich dem Konstabier riet, in London anzurufen, ging es mir nicht um den Orkan. Wir müssen daran denken, daß die Wilde Horde über unsere Stadt gekommen ist. Wikinger, die es eigentlich nicht geben darf, haben drei Tote auf dem Gewissen, und die werden zurückkehren, und wir werden wieder so hilflos sein wie beim ersten Angriff. Dem wollte ich vorbeugen, Männer, nur dem.« Ob die Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren, konnte Castor nicht erkennen. Jedenfalls hatte er die Männer zum Nachdenken gebracht, was immerhin etwas war. »Sind die denn um so vieles besser als wir?« fragte der ehemalige Bürgermeister. »Das weiß ich nicht.« Der Reverend war ehrlich. »Eines haben sie uns allerdings voraus: Erfahrung im Umgang mit unerklärlichen Mächten und Gewalten.« Ein kleiner Mann, der bisher noch nichts gesagt hatte, war aufgestanden. Er wischte über seine Glatze. »Ist das so 'ne Teufelsaustreiber, Reverend?« »Nein, Jorge.« »Was dann?« »Man nennt John Sinclair den Geisterjäger. Er ist auch nicht allein. Bestimmt wird ihn ein Kollege begleiten. Ich glaube einfach daran, daß wir eine Chance haben, wenn sie hier sind.« »Dazu müssen sie durch den Orkan.« »Leider.« »Wann könnten sie denn kommen?« fragte der Pubiemach einer Weile. »Auf eine Zeit wollte man sich nicht festlegen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß sie zu feige gewesen sind. Die Männer sind sicherlich unterwegs. Ich rechne damit, daß wir sie heute abend begrüßen können. Jedenfalls werde ich auf sie warten.« Das lange Sprechen hatte Castor durstig gemacht. Er griff zu seinem Glas und nahm einen langen Schluck vom dunklen Bier. »Ist ja auch egal«, meinte Jorge. »Was soll uns schon groß passieren? Ob da nun zwei mehr oder weniger im Ort sind, spielt wohl kaum eine Rolle.« Die anderen schwiegen. Einige tranken ihr Bier, andere schauten zu den Fenstern, vor denen sich der Sturm nach wie vor mit ungebrochener Wucht austobte.
Der Regen hatte aufgehört. Die Sicht war etwas besser geworden. Bleischwer lagen die Wolken am Himmel. Dazwischen jedoch schimmerten helle Flecken, manche von ihnen sehr breit und streifig. Die Sonne lugte nicht hindurch, aber es fiel trotzdem etwas Licht in die Tiefe und damit auch auf die haushohen Wellen, die mit unverminderter Wucht gegen die Küste getrieben wurden, das Land überschwemmten und gewaltige Gischtfontänen hoch wirbelten, die auch den Ort nicht verschonten und als schwere Brecher über die Uferstraße fegten. Der kleine Hafen lag weiter rechts, vom Pub aus nicht einsehbar. Nur wußte jeder, daß der Sturm auch dort schwere Schäden hinterlassen hatte. Die Kaimauer war nicht mehr als ein Witz gewesen. Sie war kurzerhand überspült worden, und die brodelnde See hatte die Schiffe förmlich gefressen. Manchmal entstanden >Lücken< innerhalb der Sturmhölle. Und eine solche nutzte das Meer, um etwas gegen das Ufer zu spülen, das von den aus den Fenstern schauenden Gästen zuerst nicht identifiziert werden konnte. Es erinnerte sie an einen breiten, teerartigen, dabei glänzenden Gegenstand, der auch eine gewisse Ähnlichkeit mit einem erschlafften Heißluftballon besaß. »Da . . . da . . . kommt was auf uns zu! Ein Ungeheuer!« »Ja!« schrie Jorge. »Das hat die Hölle ausgespien. Jetzt ist es soweit, verflucht!« Keinen hielt es mehr an seinem Platz. Die Männer drängten sich vor den Fenstern zusammen, auch der Reverend wollte einen Blick darauf werfen. Eingebildet hatte sich niemand etwas. Die See steckte dermaßen voller Kraft und war so aufgewühlt worden, daß sie mit den größten Säugetieren so umging wie mit kleinen Fischen. In den Klauen der Wellen befand sich ein kapitaler Blauwal! Er versuchte verzweifelt, der Gefahr zu entwischen, aber die Wellen trugen ihn immer weiter, schleuderten ihn näher auf das Ufer zu. Der Wal kämpfte um sein Leben. Er schaffte es sogar, seinen massigen Körper in die Höhe zu wuchten, und schien auf seiner Schwanzflosse innerhalb der Brecher förmlich zu stehen. Aber es half alles nichts. Krachend schleuderte eine breite Wasserfront gegen ihn und riß das Tier einfach weiter. Die See drückte ihn tiefer, und bestimmt schleifte sein Körper schon über Grund. Wenn nicht ein Wunder geschah, schleuderte die See den Blauwal an Land, wo er elendig verenden würde. Die Gäste hatten ihre eigene Lage vergessen. Sie standen da mit geballten Händen und schauten gebannt dem Ereignis zu. Wieder wühlte das Wasser den mächtigen Körper hoch. Er wuchs vor den Augen der Beobachter in die Höhe, so daß sie Angst bekamen. Eine mächtige Welle bereitete dem grausamen Spiel ein Ende.
Wie ein Stück Treibgut warf sie den mächtigen Blauwal an Land. Der Körper drehte sich. Die tonnenschwere Schwanzflosse traf einen der herumliegenden Baumstämme und schleuderte ihn auf ein Haus zu, in dessen Wand er sich bohrte. Dann zappelte der Wal. Nur glich dieses >ZappeIn< bei ihm einer immensen Gefahr. Wenn er gegen ein Hindernis schlug, zertrümmerte er es mit Leichtigkeit. Gefährlich nahe wehte seine breite und mächtige Schwanzflosse an den Pub heran. Sie tauchte dicht hinter der Scheibe auf, den Zuschauern kam sie zum Greifen nahe vor, dann rutschte sie seitlich weg und hämmerte mit Donnergetöse auf die Straße. Keiner redete. Man war viel zu geschockt und entsetzt, um den Vorgang kommentieren zu können. Die Augen der Männer glichen starren Kugeln, ihre Lippen zitterten ebenso wie die schweißfeuchten Hände. »Das ist nackter Wahnsinn!« sagte jemand. »Das . . . das habe ich noch nie erlebt.« »Es gab auch noch nie einen derartigen Sturm«, meinte ein anderer. Ihm widersprach keiner. Die Gäste schauten nur machtlos dem Überlebenskampf des Säugetiers zu, den es verlieren mußte. »Mit den Wikingern hat das nichts zu tun«, flüsterte jemand. »Gar nichts, verdammt.« »Hör auf, Gregg.« »Ja, schon gut.« Das Tier schaffte es nicht. Zwar wurde es ständig von der Gischt überspült, doch half ihm das kaum. Der Wal mußte verenden. »Haben die Wikinger sich nicht von Walfleisch ernährt?« fragte der Keeper. »Auch«, meinte einer. »Eigentlich bevorzugten sie Heringe. Wolltest du damit sagen, daß sie wieder zu uns kommen und anfangen, den Wal zu zerlegen?« »Alles ist möglich.« Der Reverend schwieg. Er hatte sich von den anderen Gästen abgewandt und an einem Tisch Platz gefunden. In kleinen Schlucken leerte er sein Ale. Castor sah um Jahre älter aus. Was er gesehen hatte, war einfach zuviel gewesen. Wie konnte es gestoppt werden? Der Sturm würde vielleicht noch die Nacht über anhalten. Aber stand er überhaupt mit dem Erscheinen der Wikinger in einem unmittelbaren Zusammenhang? Das genau war die Frage. Aber für ihr Auftauchen mußten sie ein Motiv haben. Möglicherweise hing dies mit dem Ort Seabrake zusammen und lag in einer Vergangenheit begraben, die mehr als tausend Jahre zurücklag. Da hatten die Horden der Wikinger die Küsten Europas unsicher
gemacht und sich nicht gescheut, bis nach Afrika oder an die Ostküste Amerikas zu segeln. Er stand seufzend auf und wischte über seine Stirn. Obwohl es nicht warm war, lag Schweiß auf der Stirn. »Jetzt stirbt der Wal«, sagte jemand. Reverend Castor ging nicht mehr zum Fenster. Er wollte dem Todeskampf nicht zuschauen. Dafür öffnete er die Tür, wäre fast von den Beinen gerissen worden und stemmte sich gegen den Sturm. Vor ihm lag der mächtige Körper. Und ihn wurde wieder einmal bewußt, wie klein er letztendlich war. Möglicherweise hatte auch der Herrgott mit diesem Orkan den Menschen ein Zeichen geben wollen, es nicht zu übertreiben. Etwas flog scheppernd auf die Fahrbahn. Ein altes Fahrrad war von einer Bö erfaßt und weggeschleudert worden. Es rutschte noch über die nasse Fahrbahn hinweg, bis es an den Walkörper prallte und neben ihm liegenblieb. An anderen Küstenteilen waren die Teile der in Seenot geratenen Schiffe angeschwemmt worden. Das Meer gab die Seeleute nicht frei. Es hatte die Körper in die liefe gerissen und möglicherweise den Wikingern dafür die Freiheit gegeben. Ein sehr schlimmer Austausch, wenn es stimmte. Gab es überhaupt noch Hoffnung? Der Reverend war es gewohnt, immer optimistisch zu denken. Für die nähere Zukunft des Ortes sah er jedoch schwarz, auch wenn Hilfe aus London zu erwarten war. Aus dem Pub winkte man ihm zu. Er ging wieder hinein, drosch die Tür ins Schloß und hörte Logans Frage: »Gibt es noch eine Hoffnung für uns, Reverend?« Castor lachte verkrampft. »Darüber habe ich gerade nachgedacht.« »Mit welchem Ergebnis?« »Mit keinem, Männer.« Der Pastor hob die Schultern. Da stand das Schiff wie ein Bühnenbild, mit geblähtem Segel und der mächtigen Bugverzierung, die einen Drachenschädel symbolisierte. Suko und Braddock hielten sich hinter mir auf. Vor allen Dingen Suko stemmte sich gegen die Tür, damit sie nicht zuhämmerte und wir dem Drachenschiff schutzlos ausgeliefert waren. Meiner Schätzung nach war es zwischen fünfundzwanzig und dreißig Yard lang, vielleicht fünf Yard breit und besaß eine sogenannte Klinkerbeplankung sowie einen umlegbaren Mast mit Rahsegel. Das Schiff besaß kein Ruder im landläufigen Sinne, dafür am rechten Schiffsende einen großen Steuerriemen, der in einer Schlinge steckte. Ich hatte mal gelesen, daß die Bezeichnung Steuerbord von diesem Schiffstyp abstammte.
Das Schiff rührte sich kaum. Es widerstand den überfallartigen Böen, schwebte aber über dem Boden wie auf einem Luftkissen. Eine andere Kraft hielt das Drachenschiff in dieser freien Lage. Zu sehen war sie allerdings nicht. Mir flößte das Schiff auch keine Furcht ein. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, denn mir war der Anblick im Laufe der Zeit schon vertraut geworden. Hinter den hohen Bordwänden hielt sich die Besatzung versteckt. Wir mußten davon ausgehen, daß es sich um untote Wikinger handelte, wobei ich mich allerdings fragte, weshalb sie gekommen waren. Wollten sie vielleicht ihren toten Kumpan abholen? Suko beschäftigten die gleichen Gedanken. Erschlug vor, den Toten zu holen. »Okay, macht das!« »Verrückt!«, keuchte Braddock. »Ihr seid beide verrückt. Vom Wahnsinn befallen.« Wir hörten nicht auf ihn. Suko war im Haus verschwunden und schleifte wenig später die Leiche heran, die er vor dem Haus zu Boden sinken ließ, so daß der Tote auch gesehen werden konnte. Wie würden die Wikinger auf diesen Anblick reagieren? Zunächst warteten sie ab. Suko blieb neben der Leiche stehen, als wollte er die Meute auf dem Schiff bewußt provozieren. Ich flüsterte ihm zu, zurückzukommen, doch Suko wollte nicht. »Am liebsten würde ich dem Schiff einen Besuch abstatten«, erwiderte er leise. Es war ungewöhnlich. Wir konnten in einer normalen Lautstärke reden, weil der Sturm eine Pause eingelegt hatte. Er schien sich mit den Untoten verbündet zu haben. Auch der Himmel zeigte eine leichte Änderung. Die Wolken jagten nicht mehr über ihn hinweg. Sie blieben beinahe wie lange, mächtige Streifen liegen und bewegten sich nur langsam. Einiges war anders geworden. Ich hörte Braddock hinter mir reden. Zuerst achtete ich nicht auf die Worte, dann aber wurde ich aufmerksam. »Das habe ich mir gedacht! Sie ... sie sind zurückgekommen, sie mußten es ja ...« Rasch drehte ich den Kopf. »Was haben Sie da gesagt?« »Nichts, gar nichts.« »Doch. Sie sprachen davon, daß die Wikinger zurückkehren mußten. Was hat das zu bedeuten?« Clive Braddock zog den Kopf ein. Die Haut auf seiner Stirn bekam einen Schweißfilm. »Ich habe nur mit mir geredet, Sinclair, nur mit mir selbst.« Suko hatte nichts gehört. Ihm bereitete das Drachenschiff mit den Wikingern Sorge. »Verdammt, John, sie tun nichts. Sie schweben vor
uns. Wenn sie angreifen würden, okay, aber weshalb warten sie ab? Sollen wir ihnen den Toten an Bord schleppen?« »Toll. Dann könnten wir noch mit ihnen fahren.« Wir irrten uns. Die Wikinger wußten sehr wohl, was sie wollten. Es schob sich eine Gestalt über die Bordwand. Sie mußte auf einem erhöhten Gegenstand stehen, anders war ihr Erscheinen nicht zu erklären. Als sich dieser Mensch uns zeigte, da spürten wir beide das Kribbeln, denn wir wußten sofort, daß dies nicht nur irgendein Wikinger war. Es mußte der Anführer sein. Von ihm strahlte etwas ab, das ich mit dem Begriff Aura umschreiben könnte. Ein Fluidum der Gewalt, der Vernichtung und des Todes. Es war eine mächtige Gestalt mit einem sehr großen Schädel, auf dem strohblondes Haar in langen, wirren Strähnen wuchs, die an den Seiten des Kopfes flatterten. Der größte Teil des Haares und auch über die Hälfte der hohen Stirn wurden von einem spitzen Helm verdeckt, an dessen Seiten drei Stäbe in die Höhe führten wie dicke Antennen. Unter dem Helmrand zeichnete sich das Gesicht ab. Nein, eine Fratze! Der wilde Ausdruck darin war einfach nicht zu übersehen. Das Gesicht wirkte gedrungen, die Augen sehr hell, die Nase klein, beinahe schon klumpig. Dafür hatte der Wikinger seinen Mund weit aufgerissen, als wollte er jeden Moment anfangen zu schreien. Der Bart besaß fast die gleiche Farbe wie seine Haare. Dem sonderbaren Leuchtschein war es zu verdanken, daß er so gut zu erkennen war. Die Ansätze der breiten Schultern sahen wir auch. Er trug dicke Fellkleidung, zeigte uns seine Waffen allerdings nicht. Trotzdem stuften wir ihn als sehr gefährlich ein. »Das ist er! Verdammt, daß ist er!« Braddock war völlig aus dem Häuschen. Er schlich auf mich zu und zitterte. Noch immer >schlief< der Wind. Wir kamen uns vor wie auf einer Insel. Da hatte sich eine andere Welt in die normale hineingeschoben. Ich faßte Braddock an. »Sagen Sie, wer ist das? Kennen Sie die verdammte Gestalt?« »Ja.« Er nickte heftig. »Es ist Leif, der Grausame. Ein furchtbarer Häuptling, der vor mehr als tausend Jahren hier an den Küsten gewütet hat. Leif war einer der Schlimmsten.« »Woher kennen Sie ihn so gut?« »Weiß nicht.« Ich wußte, daß er log, kümmerte mich jedoch nicht weiter um ihn. Irgendwann würde ich die Wahrheit schon herausbekommen. Nur fragte ich mich nach den Gründen, die Leif dazu bewegten, sich uns so deutlich zu zeigen.
Braddock nickte. Sein Gesichtsausdruck zeigte Angst. Es kam mir vor, als wüßte Braddock genau Bescheid. »Ich habe es geahnt, ich war mir sicher, es ist eingetreten.« »Verdammt noch mal, reden Sie!« fuhr auch Suko ihn an. Da handelte Leif, der Grausame. Er reckte sich, ging noch höher, damit wir mehr von ihm erkennen konnten. Dann hob er den rechten, sehr kräftigen Arm und ballte seine Hand in einer zeitlupenhaft anmutenden Bewegung zur Faust. »Ja!« Braddock hatte das Wort gekeucht. »Ja!« wiederholte er noch einmal. Ich wußte, daß Leif und er in einem unmittelbaren Zusammenhang standen, vielleicht sogar in einer geistigen Verbindung. »Machen Sie keinen Mist, Braddock! Seien Sie vorsichtig!« Er hörte mich nicht. Er ging mit staksig wirkenden Schritten vor. Dabei bekam ich einen trockenen Hals. Wenn er die Richtung beibehielt, mußte er das Schiff irgendwann erreichen. Und Leif winkte ihm zu. Er hatte Suko bereits passiert, als mir mein Freund leise die Frage stellte: »Willst du ihn lassen?« »Ich weiß es noch nicht.« »Leif, die Puppe! Ich weiß genau Bescheid. Es geht um die Puppe. Ja, deshalb bist zu uns gekommen. Die Puppe, nicht?« »John, was meint er damit?« Ich hob die Schultern. Für mich waren Braddocks Worte ebenfalls ein Rätsel gewesen. Aber sie hatten uns bewiesen, daß er mehr wußte und seine Familie ebenfalls informiert gewesen sein mußte. Leif, der Grausame, winkte wieder. Braddock wußte, was er zu tun hatte. Und er handelte ohne Vorwarnung. Wie ein Sprinter rannte er los. Mit dieser Aktion hatte er selbst Suko und mich überrascht. Braddock wurde zu einem wirbelnden Schatten, der in die klare Luft hineinjagte, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Er wollte zu den Wikingern, er mußte hin, er war auf sie fixiert und stand möglicherweise in einer Beziehung zu ihnen. Das alles wirbelte mir durch den Kopf, und auch ich zögerte keine Sekunde länger. Ich jagte hinter ihm her. »Bist du wahnsinnig, John?« Auf Suko hörte ich nicht. In diesen Augenblicken war mir alles egal. Wenn ich die Chance bekam, das Schiff entern zu können, mußte ich sie nutzen. Ich hatte bereits einen ziemlich großen Vorsprung zu Suko bekommen, auch die Distanz zu Braddock verringerte sich. Leider würde ich ihn vor Erreichen der Bordwand nicht mehr erwischen können, weil sein Vorsprung einfach zu groß war. »Ich komme!« brüllte er wie von Sinnen. »Ja, ich nehme das Erbe an, Leif. Ich werde . ..«
Plötzlich tauchten sie auf. So schnell, als hätten sie nur auf dieses Zeichen gewartet. Sie schoben sich hinter den Bordwänden in die Höhe. Schlimme, kriegerische und gewalttätige Gestalten, mit wüsten, von zahlreichen Kämpfen gezeichneten Gesichtern. Sie waren bewaffnet. Als ich das Flackern sah, war es bereits zu spät. Da hatten sie die vorn brennenden Pfeile bereitsauf ihre Bögen gelegt und schössen sie ab. Jetzt blieb mir tatsächlich nur noch die Chance, auf das Schiff zuzulaufen. Damit machte ich den Schußwinkel so klein, daß sie mich nicht erwischen konnten. Die Brandpfeile flogen über mich hinweg. Für einen Moment dachte ich an Suko, dann schleuderte jemand ein Seil über die Reling, das wie ein Schlangenkörper peitschte und Braddock zugedacht worden war. Er schrie gewaltig auf, warf sich mit einem Hochsprung nach vom, hatte die Arme ausgestreckt und bekam das Seil mit beiden Händen zu fassen. Ich war noch zu weit entfernt. Aber die Gesichter der Wikinger erkannte ich ziemlich deutlich. Hinter den brennenden Pfeilen wirkten sie wie zitternde Fratzen. Sie zogen Braddock hoch. Ein Pfeil huschte gefährlich nahe an mir vorbei. Ich spürte die Hitze, dann hatte ich die Bordwand des schwebenden Schiffes erreicht. Ich sprang hoch. Es war verrückt, klar, aber ich mußte hier klare Verhältnisse schaffen. Etwas wirbelte mir entgegen und erwischte mich mitten im Sprung. Zu spät erkannte ich die Schlinge. Sie legte sich um meinen Körper. Jemand zerrte an ihr, zog sie zu und riß mich in die Höhe. Ich klatschte gegen das harte Holz der Bordwand, spürte die Stiche im Kopf und hatte den Eindruck, in einen gewaltigen Tornado zu geraten. Es war ein anderer Sturm, als der, den wir erlebt hatten. Ein magischer, rational nicht erklärbar. Und er riß mich fort. Zusammen mit Clive Braddock, dem Drachenschiff und seiner fürchterlichen Besatzung... *** Beim Theater gibt es die Hauptrollen, natürlich die Nebenrollen und auch die Statisten. Wie ein Statist kam sich Suko vor, denn Braddock und John hatten zu schnell gehandelt.
Als Suko eingreifen wollte, war es bereits zu spät. Da war der Vorsprung der beiden so groß geworden, daß er nichts mehr für sie tun konnte. Er hatte schon daran gedacht, die Magie seines Stabes einzusetzen. Er kam jedoch nicht mehr dazu, weil die Wikinger in einer Art und Weise handelten, mit der er nicht gerechnet hatte. Sie erschienen hinter der Bordwand, hatten brennende Pfeile auf die Bögen gelegt und schössen Richtung Haus. Suko geriet in Gefahr. Gleich drei Pfeilen auf einmal mußte er ausweichen. Der Feuertod wirbelte im Bogen auf ihn zu. Suko tauchte nach links weg, schlug einen Bogen und hörte das dumpfe Geräusch, als ein Pfeil dicht neben ihm in den Boden hämmerte und dort verlöschte. Geduckt hetzte der Inspektor weiter, warf sich vor der Hauswand zu Boden, rollte über die Erde und kroch danach blitzschnell hinter die Hausecke. Gerade noch rechtzeitig, denn ein Pfeil klatschte vor die Mauer, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Suko kam sofort wieder auf die Beine und lief etwas vom Haus weg. Seine Sicht war frei. In diesem Augenblick traf ihn der Sturm mit vehementer Wucht. Er hämmerte ihn fast um. Die Zeit trügerischer Stille war dahin. Suko erlebte die normale, schlimme Realität und bekam soeben noch mit, wie das Drachenschiff der Wikinger als fauchender Schatten in den bleifarbenen Himmel hineinfuhr und dort in einer schmalen Lücke verschwand. Mit Clive Braddock und John Sinclair an Bord! Auf einmal war ihm kalt. Er taumelte zurück, mehr vom Wind geschoben, als freiwillig gehend, lehnte sich gegen die Hauswand und preßte für einen Moment seine Handfläche gegen die Stirn. »Der ist verrückt, der Junge. Der . . . der ist wahnsinnig.« Er konnte es nicht begreifen, hob die Schultern und hörte wieder das unheimliche Pfeifen und Orgeln des Orkans, der um die Ecken des Gebäudes fegte. Dann sah er den Toten! Oder das, was von der Leiche des Wikingers noch übrig war. Ein Brandpfeil hatte ihn erwischt und zerstört. Nur mehr Asche fegte der Wind zur Seite, als er die letzten Flammen löschte. Geduckt stemmte sich Suko gegen die Gewalt an. Der Brandgeruch raubte ihm die Sinne. Er hustete, bückte sich und nahm einen der Pfeile auf, um ihn zu untersuchen. Er bestand auf hartem Holz und war bestrichen worden. Eine dunkle, klebrige Masse, die auch das Feuer nicht hatte zusammenschmelzen können. Eine Spitze entdeckte Suko nicht. Sollte eine vorhanden gewesen sein, so war sie umwickelt worden. Er schleuderte ihn zu Boden und stellte fest, daß er hier nichts mehr ausrichten konnte.
Im Rover, der den Sturm bisher unbeschadet überstanden hatte, blieb er sitzen. Sein Blick streifte den Himmel dort, wo das Wikingerschiff verschwunden war. Der Tod war aus dem Norden gekommen und hatte sich zwei Menschen geholt. Wo mochte John jetzt sein? War es den Wikingern gelungen, ein Dimensionsloch zu finden, wo sich die Zeiten aufhoben und die Vergangenheit zur Gegenwart wurde? Eine andere Erklärung besaß Suko nicht. Er konnte sich nichts anderes vorstellen, nur stellte der Inspektor die berechtigte Frage, ob sein Freund John noch lebte. Bei dem Gedanken schien sich sein Herz zu verkrampfen. Über die Wikinger wußte er nicht sehr viel. Sie waren als kriegerisches Volk bekannt, das stets erobern wollte und dies auch in die Tat umgesetzt hatten. Die Weltmeere hatten sie mit ihren Booten unsicher gemacht und sich schließlich an einigen Küsten festgesetzt, wobei auch Großbritannien unter ihrer Herrschaft gelitten hatte. Braddock hatte es gewußt. Bestimmt waren seine Eltern nicht grundlos umgebracht worden, obwohl es für Suko kein Motiv gab, das einen Mord rechtfertigte. Suko ging einfach davon aus, daß die Braddocks die Spur waren, die ihn zu den Wikingern und letztendlich zu John Sinclair führen konnten. Deshalb mußte er mehr über die Familie in Erfahrung bringen. Hier gelang ihm das nicht mehr. Suko wollte so rasch wie möglich nach Seabrake fahren. Dort waren die Braddocks bestimmt bekannt. In diesen kleinen Orten kennt jeder jeden und wußte auch genau über die familiären Verhältnisse seiner Nachbarn Bescheid. Der Chinese startete. Willig sprang der Motor an. Noch immer wühlten Böen gegen das Fahrzeug und erschütterten es. Manchmal stöhnte der Rover auf, als würde er unter Schmerzen leiden. Die Straße drückte sich immer mehr der Küste entgegen und war nicht leicht zu befahren. Suko drückte sich selbst die Daumen, daß nicht irgendwelche Bäume die Fahrbahn blockierten. Ganze Bäume verteilten sich nicht auf der Fahrbahn, dafür mehr Zweige und Äste, die der Sturm abgerissen und durch die Gegend gewirbelt hatte. Sie bildeten ein Muster auf dem feuchten Asphalt. Ab und zu packte der Wind sie, schob sie weiter und schaffte neues Geäst heran. Auch der Rover verwandelte sich in einen Spielball. In einer völlig ungeschützten Gegend, wo der Sturm den nötigen Platz besaß, verlor Suko fast die Kontrolle über das Fahrzeug. Manchmal schlingerte der Wagen dermaßen stark, daß er es kaum schaffte, ihn auf der Fahrbahn
zu halten. Er geriet oft dicht an den Rand und lief Gefahr, darüber hinweggeschleudert zu werden und im Graben zu landen. Zum erstenmal seit der Abfahrt aus London sah er das Meer. Meer? Was da herantoste, verdiente nur mehr den Ausdruck Hölle! Eine Orgie aus turmhohen Wellen, Gischt und mächtigen Brechern, die einen verrückten Tanz aufführten, immer stärker krachten und einen ungeheuren Druck bekamen, der sie voranschleuderte. Sie wirbelten der Küste entgegen, zerschmetterten alles, was sich ihnen in den Weg stellte und schienen die Felsen aus dem Wasser reißen zu wollen. Alle anderen Geräusche wurden von dieser tosenden Wassermasse überdeckt. Suko hörte nicht mehr den Motor des Rovers. Er sah nur mehr Wasser, denn die Gischtfontänen schleuderten wie gewaltige und nie abreißende Vorhänge auf ihn zu und begruben den Rover unter sich. Die Umgebung war ein einziges Meer, überdeckt von jagenden Wolken, mit denen der Wind spielte und sie nach seiner schaurigen Melodie tanzen ließ. Es gab leider keinen anderen Weg, um das Ziel zu erreichen. Da mußte der Inspektor durch. Und er fuhr weiter. Das Licht der Scheinwerfer tanzte, wenn der Wagen mal wieder über die Fahrbahn schlingerte. Manchmal spürte Suko ihn wie von einer mächtigen Faust umklammert, als wollte diese das Fahrzeug samt Inhalt in die Fluten schleudern. Doch er kam weiter. Lichter sah er nicht. Seiner Schätzung nach mußte er sich nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt befinden, denn Seabrake war der typische Küstenort direkt am Meer und von der See praktisch nur durch eine Uferstraße getrennt. Wie mochte es dort aussehen? Hatte der Sturm Häuser zerstört und Dächer abgerissen? Suko bekam es Minuten später zu sehen, als er nicht mehr weiterfahren konnte. Quer über der Straße lag ein mächtiger, runder Gegenstand. Zunächst glaubte Suko an einen Baumstamm. Erst beim näheren Hinsehen erkannte er, daß Baumstämme so nicht aussahen. Und er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als er das Hindernis identifizierte. Ein Blauwal versperrte den Weg. Das tonnenschwere Säugetier machte ein Weiterkommen unmöglich, und seine breite Schwanzflosse lag so, als hätte sie beinahe noch eine Hauswand eingerissen. Es spielte überhaupt keine Rolle, wo Suko den Rover abstellte. Sicher war das Fahrzeug nirgendwo. So gut wie möglich fuhr er den Wagen an den rechten Straßenrand und tauchte hinein in die heulende Hölle, denn der Orkan wehte noch immer die gewaltigen Gischtwolken gegen die Häuser. Suko kam sich vor wie
unter einer nie endenden Dusche stehend. Links von ihm tobte das Meer, rechts sah er die Front der Häuser, die unter dem Orkan unwahrscheinlich gelitten hatten. Es gab kein Gebäude, das nicht beschädigt worden war. Als wäre eine Faust über die Dächer hinweggeweht, hatte der Wind Antennen abgerissen, wie Streichhölzer geknickt und dabei an manchen Stellen gleich ein halbes Dach mitgenommen. Er konnte sich vorstellen, daß es in Seabrake keinen elektrischen Strom mehr gab. In diesem Ort hockten die Menschen angsterfüllt zusammen, um auf das Ende des Sturms zu warten. Schräg vor ihm lag ein Haus, in dem die Fensternoch nicht aus den Offnungen geblasen worden waren. Er sah Licht hinter den Scheiben und erkannte, daß Kerzen brannten. Innerhalb des flackernden Scheins bewegten sich Gestalten. Wie ein Wohnhaus sah das Gebäude nicht aus, eher wie eine Kneipe, bei der das Außenschild fehlte. Es war dem Sturm zum Opfer gefallen. In einer Kneipe erfuhr man immer einiges. Suko schob sich geduckt an der Wand vorbei, sah, daß man ihm von innen zuwinkte. Die Tür wurde geöffnet. Zusammen mit einem Schwall Wind und Nässe stolperte Suko über die Schwelle. Zwei Männer hämmerten die Tür hinter ihm zu, während er sich gegen die Wand lehnte, erst einmal tief Luft holte und das Gischtwasser aus dem Gesicht wischte. Jemand reichte ihm einen Gin. Suko trank so gut wie keinen Alkohol, aber dieses Glas leerte er mit einem Zug, setzte es ab und nickte den Männern zu. Sie standen ihm gegenüber, nur zwei der Gäste waren sitzengeblieben. »Okay, Männer, ich habe mich durchgeschlagen.« »Etwa aus London?« fragte ein ungefähr dreißigjähriger Mann, der sich von den anderen gelöst hatte. »Ja.« »Von Scotland Yard?« »Auch das.« »Ein Chinese?« murmelte jemand im Hintergrund. »Das ist wirklich ein Ding!« »Haben Sie etwas gegen Chinesen?« Der Sprecher schwieg. Dafür trat der andere auf Suko zu und reichte ihm die Hand. Sein schmales Gesicht zeigte ein herzliches Lächeln. »Ich bin Reverend Castor und freue mich maßlos, daß Sie es geschafft haben, trotz dieser Hölle.« Suko grinste schief. »War ja versprochen.« »Trotzdem.« »Okay.« Der Inspektor zog seine nasse Parkajacke aus. »Kommen wir mal zur Sache.« Er hielt die Jacke in der Hand und schwang sie. »Ich
weiß nicht genau, was hier vorgefallen ist, aber wir sind von einem Kollegen angerufen worden, der .. .« »Tot ist!« erklärte der Reverend und fiel Suko ins Wort. Der Inspektor legte die Jacke auf einen Stuhl. »Sagen Sie das noch mal, Mr. Castor. Tot. . .?« »Leider.« »Durch wen?« »Man hat ihn umgebracht mit Waffen, die man heute wohl nicht mehr trägt.« »Die Wikinger?« »Ja.« Die Männer schwiegen. Ihnen war unwohl zumute. Selbst der Wirt sagte kein Wort. Suko ging durch die Stille. Seine Füße hinterließen nasse Spuren auf den Holzbohlen. Er schaute gegen die Deckenbalken, nickte einige Male, atmete tief durch, schlug den Weg zur Theke ein und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Daß diese Wikinger keine Einbildung sind, weiß ich auch. Wir haben sie erlebt, denn sie töteten das Ehepaar Braddock!« Suko hatte es nicht vermeiden können, die Gäste mit dieser Nachricht zu konfrontieren. Jeder sollte wissen, wie ernst die Lage war und daß hier kein Spiel aufgezogen wurde. »Beide?« flüsterte Jorge noch einmal. »Sicher.« »Und wie k . . . kamen sie um?« Der Mann hatte eine Gänsehaut bekommen. Fahrig wischte er über die Tischplatte. »Man hat die Frau mit einer Streitaxt getötet und den Mann aufgehängt. Es war furchtbar. Wir konnten die Leichen nicht mitnehmen und mußten sie im Haus lassen.« Der Reverend schnippte mit den Fingern. »Entschuldigen Sie, Mister .. .« »Ich heiße Suko und bin Inspektor.« »Okay, Suko, aber wo ist Ihr Kollege Sinclair. Man hatte mir zugesichert, daß auch er käme . . .« »Sicher, aber er hatte . . .« Suko hob die Schultern. »Ich will nicht gerade Unfall sagen, aber so etwas Ähnliches war es schon. Übrigens zusammen mit Clive Braddock, den wir bei seinen toten Eltern fanden.« Jetzt schwieg auch der Reverend, aber er suchte nach Worten und stellte Suko eine Frage: »Was ist genau geschehen?« Suko setzte sich hin, überlegte einen Moment und gab dann einen Bericht ab, der die Männer nicht nur in Staunen versetzte, sondern ihnen auch das kalte Grauen lehrte. Als Suko geendet hatte, sprach niemand. Selbst dem Geistlichen waren die Worte im Halse steckengeblieben. Er hockte auf seinem Platz, hatte die Stirn gefurcht und Mühe, das Zittern der Hände zu unterdrücken. »Das Schiff war da!« erklärte Suko. »Es schwebte über dem Boden.« Der Inspektor zeichnete es mit den Händen nach. »Können Sie sich das vorstellen?« »Nein, nein . . .« Die Antwort hatte der Pubier gegeben. »Ist das ein . . . Märchen?«
»Bestimmt nicht!« Sukos Erwiderung klang hart. »Kein Märchen. Ebensowenig wie die Entführung der beiden Personen durch die Horde der Wikinger.« Castor rang nach Atem, hatte sich aber wieder gefangen. »Woher sind sie gekommen?« Suko lächelte knapp. »Ich kann Ihnen die Antwort geben. Sie ist nur ein wenig schwer zu begreifen. Die Wikinger tauchten meiner Ansicht nach durch ein Zeitloch auf. Die einzelnen Zeiten schoben sich zusammen, sie überlappten, sie waren nicht mehr existent. Es gab plötzlich eine Lücke, die von ihnen ausgenutzt wurde.« »Das glauben Sie?« fragte der Wirt skeptisch. »Können Sie mir eine bessere Lösung präsentieren?« Logan schüttelte den Kopf. Zumindest Castor hatte sich wieder soweit gefangen, daß er nachdenken konnte. »Ich habe den Eindruck, als müßte man die Nachforschungen bei den Braddocks beginnen.« »Richtig.« Suko stimmte ihm nickend zu. »Sie sind das Problem. Sie müssen etwas gewußt haben. Ich berichtete Ihnen von Braddocks Worten. Er sprach über eine Puppe, die eine gewisse Bedeutung spielen oder gespielt haben muß. Kann jemand von Ihnen etwas damit anfangen?« Suko hatte bewußt laut gesprochen. Ein jeder sollte seine Worte hören. Die Gäste schauten ihn an, hoben die Schultern und schwiegen. »Bitte, überlegen Sie.« »Wir haben mit Puppen nichts zu tun gehabt!« erklärte der Mann, der einmal Bürgermeister gewesen war. »Puppen!« er lachte kratzig. »Das ist was für Mädchen und Frauen.« »Nicht unbedingt.« Suko griff dankbar nach dem heißen Tee, den der Wirt vor ihn gestellt hatte. »Ich komme nicht aus dieser Gegend. Daß die Horde gerade hier erschienen ist, muß meiner Ansicht nach einen besonderen Grund gehabt haben. Leider bin ich überfragt, wenn es um Details geht. Ich kann mir jedoch vorstellen, daß sie in der Umgebung etwas besitzen, das man als Geheimnis, als alte Sage oder Legende bezeichnen kann. Das könnte gleichzeitig ein Motiv sein.« Nach dieser relativ langen Erklärung brauchte er einen Schluck. Der Tee, den man ihm gebracht hatte, war stark, heiß und ungesüßt. Genau so, wie der Inspektor ihn liebte. Er hatte ein Thema angeschnitten, mit dem sich die Einheimischen beschäftigen sollten. Schließlich kannten sie ihre Umgebung besser und wußten auch über die Vergangenheit Bescheid. »Wer ist denn für Heimatgeschichte zuständig?« wollte er wissen, weil keine Erklärungen kamen. »Niemand.«
»Keinen Chronisten, der sich mit Seabrakes Vergangenheit beschäftigt?« »Nein.« »Wie steht es mit Ihnen, Reverend?« Castor antwortete wieder. »Ich bin noch nicht lange hier und habe mit Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen. Schauen Sie mich an. Ich bin viel zu jung, außerdem stamme ich aus London. Das ist für manche so weit weg wie ein ferner Planet im All. Ich habe mich mehr um die Menschen gekümmert, als um die Historie, die zweifelsohne vorhanden ist, wie ich annehme.« Suko hob die Schultern. »Es muß etwas geben, das mit einer Puppe im Zusammenhang steht. Welche Gründe sollte Braddock gehabt haben, dies zu rufen.« Da meldete sich Logan. »Seine Eltern, Mister. Sie hätten seine Eltern fragen müssen.« »Wie das?« , Der Wirt verzog unbehaglich das Gesicht. Er fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut. »Wissen Sie, ich will nichts Falsches sagen .. .« »Versuchen Sie es trotzdem. Es ist alles wichtig, denn die Wikinger werden zurückkehren. Ich möchte nicht, daß es noch mehr Tote oder Verletzte gibt.« »Klar.« »Rede schon, Logan!« wurde er von den Gästen aufgefordert. »Nun ja, gut.« Er beugte sich halb über die Theke hinweg, um Suko direkt anzuschauen. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die Braddocks recht weit weg vom eigentlichen Ort entfernt wohnen?« »Die alten, meinen Sie?« »Ja, denn Clive lebte hier. Er betrieb eine kleine Reparaturwerkstatt und quälte sich mehr recht als schlecht durch. Jedenfalls war er ein kleines Genie, denn er konnte alles wieder in Ordnung bringen. Nur das Verhältnis zu seinen Eltern nicht.« »Es war also schlecht?« »Beschissen, Inspektor. Er kam nicht mit ihnen zurecht, auch wir haben die Braddocks gemieden. Sie waren ein merkwürdiges Paar, gingen ihre eigenen Wege und wollten mit keinem Menschen aus dem Ort etwas zu tun haben.« »Weshalb nicht?« »Sie kamen auch nie in meine Kirche!« erklärte der Reverend, bevor er sich für seine Zwischenbemerkung entschuldigte. Logan suchte nach Worten, trank einen Schnaps und fand die seiner Meinung nach richtige Erklärung. »Also, das ist so gewesen. Die Braddocks haben sich immer für etwas Besonderes gehalten. Sie hatten sonderbare Vorstellungen, denn sie glaubten an Dinge, über die wir zwar nicht gelacht, auch nicht geschmunzelt, die wir aber abgelehnt haben.
Das waren Naturmenschen. Sie gingen davon aus, daß ein Leben nicht vernichtet werden konnte. Der Geist fing sich irgendwo, verstehen Sie?« »Noch nicht ganz.« »Nun ja, sie wollten eins mit der Natur sein und den Geheimnissen der Welt auf die Spur kommen. Der alte Braddock lief auch mit einer Wünschelrute umher. Er hatte zahlreiche Quellen gefunden und Brunnen angelegt. Die Frau las die Zukunft aus den Karten. Sie war davon überzeugt, das Schicksal eines Menschen aus ihnen erkennen zu können.« »Schön«, sagte Suko. »Haben die Braddocks sich denn auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert?« »Das weiß ich nicht genau.« Jorge meldete sich. »Sie wollen wissen, ob sie nach speziellen Dingen gesucht haben?« »Genau.« Jorge hob die Schultern. »Die Wikinger waren ja mal hier. Vor tausend Jahren und mehr.« »Und die Braddocks haben sich darum gekümmert?« »Genau weiß ich es nicht. Ich gehe davon aus, denn ich habe sie mal im Wald getroffen, der hinter Seabrake anfängt.« »Und?« Jorge hob unbehaglich die Schultern. Er fühlte sich als Mittelpunkt überhaupt nicht wohl. »Sie wurden so komisch, als sie mich sahen. Ich dachte schon fast, sie wollten mich fressen. Anscheinend hat es ihnen nicht gepaßt, daß ich sie überraschte.« »Wobei?« fragte Suko. »Sie haben da gegraben. Mit Spaten und einer Schaufel gruben sie ein ziemlich großes Loch.« »Wie lange ist das her?« »Das war im letzten Jahr, im Herbst, glaube ich.« Suko nickte. »Sie erinnern sich noch an die Stelle, oder nicht?« »Schon, bestimmt. Die ... die habe ich noch in guter Erinnerung. Sie ist nicht schwer zu finden, wenn man sich auskennt.« »Okay, lassen wir das mal außen vor. Was haben Sie noch gesehen? Bitte, erinnern Sie sich an jede Einzelheit. Das kann wichtig für uns alle sein.« »Wirklich nicht viel, Sir. Ich wollte auch weiter und ihnen keine großen Fragen stellen.« »Haben Sie überhaupt mit den ßraddocks gesprochen?« wollte Suko zwischen zwei Schlucken Tee wissen. »Schon. Man riet mir, zu verschwinden, denn dort würde es um Dinge gehen, die ich nicht verstünde.« »Um eine Puppe?« Jorge bekam einen starren Blick. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Die beiden haben auch von keiner Puppe gesprochen. Mir ist nur aufgefallen, daß sie noch etwas mit hatten, außer dem Werkzeug, meine ich.«
»Was war das?« Jorge breitete die Arme aus und führte die Hände danach wieder aufeinander zu, bis sie einen bestimmten Abstand bekommen hatten. »Es waren ungefähr so lange, dünne Gegenstände. Sie sahen aus wie Stricknadeln, vielleicht etwas dünner, dafür aber länger.« »Und das stimmt?« »Ich schwöre es.« Er legte seine Hand gegen die Brust. »Ich schwöre es, so wahr ich Jorge McFlint heiße. Es waren lange Nadeln. Als ich sie mir anschaute, haben die Braddocks sie schnell verschwinden lassen, als hätten sie etwas zu verbergen.« »Besaßen die Nadeln eine bestimmte Farbe?« »Schwarz waren sie, nicht nur dunkel, sondern richtig schwarz, und sie glänzten, glaube ich.« »Mehr wissen Sie nicht, Mr. McFlint?« »Nein, Sir.« Suko warf dem Pfarrer einen längeren Blick zu. »Was meinen Sie, Reverend?« »Sorry, ich hatte davon keine Ahnung.« Suko stand auf. »Es ist klar, daß wir etwas tun müssen. Und wir müssen auch irgendwo anfangen. Es hat doch keinen Sinn, hier zu sitzen und sich die Köpfe heiß zu reden . ..« »Wollen Sie in den Wald?« »Ja.« Castor erbleichte. »Bei . . . bei diesem Wetter? Da kommen wir nicht durch. Der Orkan hat gewütet, der wütet noch. Ich weiß nicht, wie viele Bäume er gefällt hat. Im Wald gibt es kaum Wege. Jetzt werden so gut wie gar keine mehr passierbar sein.« »Da mögen Sie recht haben. Nur gehöre ich zu den Leuten, die trotz gewisser Hindernisse nicht aufgeben, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben.« »Sie wollen also hin?« »Auf jeden Fall. Wahrscheinlich allein. Ich werde es schon schaffen, wenn Sie mir den Weg beschreiben.« »Du kennst ihn am besten, Jorge.« McFlint zögerte. »Ich weiß nicht so recht, Reverend!« quetschte er hervor. »Bitte.« Suko hörte in den folgenden Minuten zu und machte sich einige Notizen. Wenn er die Lage richtig einschätzte, war es nicht allzu schwierig, den Ort im Wald zu finden. »Was haben Sie eigentlich für einen Wagen?« fragte Castor, als Suko den Zettel einsteckte. »Einen Dienst-Rover.« Bitter lachend winkte der Geistliche ab. »Tut mir leid, damit werden wir kein Glück haben.«
»Machen Sie einen besseren Vorschlag.« »Den habe ich schon. Ich besitze eine Geländewagen, einen Jeep. Es ist ein Hobby von mir, mit ihm bei schönem Wetter am Strand entlangzufahren. Der Wagen müßte zumindest einen Teil des Weges schaffen.« Suko schlug dem Geistlichen auf die Schulter. »Das ist ein toller Vorschlag. Versuchen wir es.« »Und wann?« »Sofort. Wenn erst die Dunkelheit hereinbricht, haben wir kaum eine Chance.« Castor zeigte sich einverstanden, wenn auch mit einem bedenklichen Ausdruck im Gesicht. Suko sah die Sache lockerer. Er schaute aus dem Fenster, um zu prüfen, ob der Sturm nachgelassen hatte. Zwar heulte und jaulte er mit unbeschreiblichen Geräuschen noch um das Haus und peitschte das Meer in die Höhe, aber die Geräusche waren leiser geworden. »Er flaut bestimmt ab.« »Das sagten auch die Kenner hier. Morgen werden wir aufräumen können«, meinte der Wirt. »Wo steht Ihr Wagen?« »Bei mir an der Kirche.« »Können wir bis dahin fahren?« »Nein, nicht. Es ist alles versperrt. Wir werden zu Fuß gehen müssen, Inspektor.« »Einverstanden.« Beide gingen zur Tür. Um die Blicke der übrigen Gäste kümmerten sie sich nicht. Die Männer hielten die beiden sowieso für lebensmüde... *** Ich hatte einen Blackout gehabt! Er war über mich gekommen wie ein Blitzstrahl und hatte voll ins Zentrum getroffen. Wie ich an Bord gekommen war und wer mir dabei geholfen hatte, wußte ich nicht zu sagen, als ich die Augen aufschlug und feststellte, daß ich auf dem Rük-ken lag. Ein kurzer Blick reichte. Ich sah neben mir einen Schatten und ging davon aus, daß es sich dabei um die Bordwand handelte. Dann schloß ich die Augen wieder, weil ich mich auf die mich umgebenden Geräusche konzentrieren wollte. Die Wikinger redeten in einer für mich fremden Sprache. Sie palaverten laut, manchmal schrien sie sich auch an, dann wiederum lachten sie. Dazwischen hörte ich ein Klatschen, als würden sie sich gegenseitig auf die Schenkel schlagen.
Ich kannte die Wikinger als rauhe Horde und wußte, wie kampflustig und gewalttätig sie waren. Nur an eine Rückkehr untoter Gestalten und Krieger hatte ich bisher nicht geglaubt. Befand ich mich tatsächlich an Bord? Beim ersten Öffnen der Augen und bei der raschen Wiederkehr der Erinnerung hatte ich es noch angenommen. Nur vermißte ich jetzt das Heulen des Sturms und auch das Schwanken des Drachenschiffs. Wieder schlug ich die Augen auf, und diesmal schloß ich sie nicht. Was ich als Bordwand identifiziert hatte, war zwar eine Wand, aber sie gehörte nicht zu einem Schiff. Wenn mich nicht alles täuschte, lag ich in einer aus Holz gebauten Hütte, die als Ausgang ein schmales Loch aufwieß, durch das ich nur kriechen konnte. Eine flackernde Mischung aus roten und schwarzen Schatten huschte durch die Öffnung. Ich wußte sofort, daß es der Widerschein eines Feuers war, das vor der Hütte brannte. Feuer? Hütte? Blieb zu vermuten, daß es sich um ein Lager handelte. Klar, man hatte mich in ein Wikingercamp geschafft. Fragte sich nur, ob ich mich in meiner Zeit befand oder in einer tiefen Vergangenheit, die mehr als tausend Jahre zurücklag. Die Horde mußte sich ihrer Sache sehr sicher gewesen sein, denn man hatte mich nicht gefesselt. Ich konnte mich frei bewegen, glaubte allerdings daran, daß die Hütte bewacht wurde. Mich störte besonders der Gestank. Ein widerlich ranziger Öl- oder Fettgeruch, als hätten sich die Krieger mit diesem eklig riechenden Zeug eingerieben. Meine Knochen waren heil, der Schädel hatte auch nichts abbekommen, und ich selbst fühlte mich fit. Natürlich stand ich unter Spannung. Aber in mir keimte auch eine gewisse Neugierde auf, die ich so schnell wie möglich befriedigen wollte. Aufrecht stehen konnte ich nicht. Dafür war die Holzhütte nicht hoch genug. Ich mußte schon den Kopf einziehen, wenn ich nicht gegen das Dach stoßen wollte. Vorsichtig stand ich auf, blieb gebückt stehen, ging wieder auf Hände und Knie nieder und bewegte mich in dieser Haltung auf den Ausgang der Hütte zu. Es gab in diesem Rund weder eine Sitz- noch eine Schlafgelegenheit, nur den sehr harten, festgestampften Lehmboden, von dem aus die Kälte in meinen Körper kroch. Der Ausgang war nur mehr ein Loch. Wenn ich hinausschaute, sah ich Beine, mal eine Hüfte, mehr nicht. Demnach mußten vor der Hütte Wachen aufgestellt sein, die ständig hin- und herpatroullierten. Zum Glück glotzte niemand hinein.
Die Wikinger waren zur Hälfte mit Fellen bedeckt. Eine Art Vorläufer unserer Knieschoner. Auch hatte ich Waffen sehen können. Zumeist Lanzen, Keulen und Äxte. »Ich würde an Ihrer Stelle die Hütte nicht verlassen!« Wispernd war hinter mir die Stimme aufgeklungen, die mich regelrecht erstarren ließ »Braddock?« fragte ich. »Wer sonst?« Verflixt, ihn hatte ich vergessen. Natürlich, er war auf das Schiff zugerannt, und ich hatte ihn verfolgt. Beide waren wir an Bord geholt worden, als menschliche Beute, mit der ciie Wikinger wer weiß was anstellen konnten. »Weshalb soll ich bleiben?« »Wenn Sie den Kopf durch das Loch stecken, schlagen die Kerle Ihnen den Schädel ein!« »Das würde mir nicht gefallen. Wer läuft schon gerne mit weicher Birne durch die Gegend?« »Eben.« Wenigstens hatte Braddock Humor und nahm die Gefangenschaft relativ gelassen. Ich drehte mich auf der Stelle um, blieb allerdings in der Haltung und richtete meinen Blick dorthin, wo kaum Licht hinfiel. Da war es ziemlich düster, und mein Begleiter tauchte in die Schattenecke ein. Deshalb hatte ich ihn nicht gesehen. Jetzt aber bewegte er sich und ging in die Knie. Sein Gesicht schälte sich allmählich wie eine Maske hervor, als er mir zunickte. »Wir sitzen beide im Mist.« »Und das noch freiwillig.« Er gluckste beim Lachen. »Mist, waaim mußten Sie mir auch folgen?« »Gegenfrage: Weshalb sind Sie auf das verdammte Schiff zugelaufen und haben sich an Bord holen lassen?« »Ich hatte meine Gründe.« Er hob den Kopf an und starrte gegen den schmalen Ausgang. »Nur Sie?« »Ja, zum Henker. Sie haben doch mit den Wikingern nichts zu tun gehabt, auch wenn mir Ihr Kollege sagte, daß Sie ihretwegen gekommen sind. Das ... das glaube ich nicht.« »Es stimmt aber.« »Dann erklären Sie sich.« »Nein, Mr. Braddock, das müssen Sie machen. Ich habe meine Erinnerung nicht verloren. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie etwas von einer Puppe gerufen, bevor Sie an Bord gezerrt wurden.« »Ach ja?« Seine Stimme klang abweisend. »Habe ich das?« »Bestimmt sogar.« »Sie müssen sich verhört haben.« Ich wollte mich von ihm nicht auf den Arm nehmen lassen. Er saß links von mir. Ich drehte mich herum und umfaßte seine Schulter. »Hören Sie zu, Mann. Das hier ist kein Spiel. Wir sind zwei Gefangene in einer ver-
dammt üblen Welt. Wenn wir nicht zusammenhalten, können die Wikinger davon nur profitieren. Legen Sie die Karten auf den Tisch. Was war mit der Puppe?« »Sie gehörte meinen Eltern.« Diesmal antwortete Braddock spontan. »Und weiter?« »Sie haben sie vergraben. Sie fanden sie irgendwann einmal. Meine Eltern wußten genau, daß im Wald von Seabrake sich ein magisches Kraftfeld aufgebaut hatte. Mutter und Vater waren sehr sensibel. Nicht grundlos wohnten sie außerhalb von Seabrake. Sie wollten ihre Ruhe haben und den Forschungen nachgehen.« »Bezogen die sich auf die Wikinger?« »Nicht alle, Mr. Sinclair. Meine Eltern waren sensitiv. Die Mutter legte Karten, mein Vater gehörte zu den sichersten Wünschelrutengängern, die Sie sich vorstellen können. Sie haben sich auch für die alte Geschichte ihrer Heimat interessiert, und da mußten sie zwangsläufig auf die Wikinger stoßen, wenn sie das Rad der Zeit um tausend Jahre zurückdrehten. Das ist völlig logisch.« »Bisher gebe ich Ihnen recht. Was aber haben die Wikinger mit Magie zu tun?« »Die war ihnen doch nicht unbekannt! Oder glauben Sie das etwa, Mr. Sinclair?« »Nein.« »Die Wikinger sind gereist, die kamen in der Welt herum, die waren sogar in Afrika.« »Das weiß ich.« »Schön, und sie haben aus Afrika etwas mitgebracht, wie mir meine Eltern einmal berichtet haben.« »Was denn?« »Einen geheimnisvollen Zauber. Dieser Häuptling Leif hat sich an der afrikanischen Küste umgeschaut und ist dort mit den dunkelhäutigen Völkern in Verbindung gekommen. Man nahm die hellen wohl freundlich auf, sonst hätten die Wikinger nicht das mit nach Hause bringen können, was man ihnen damals zeigte.« »Ich warte noch immer auf die Lösung.« Clive Braddock gab sich spöttisch. »Denken Sie mal nach, Mr. Sinclair. Afrika, ein Land mit vielen magischen Riten. Erinnern Sie sich an die Puppe .. .« »Voodoo!« Braddocks Augen leuchteten, als ich das Wort ausgesprochen hatte. »Ja, es war Voodoo. Diese Gruppe von Wikingern brachte aus Afrika den unheimlichen Puppenzauber mit. Ist Ihnen jetzt einiges klargeworden, Sinclair?« »Nicht nur einiges. Mir ist soeben ein ganzer Kronleuchter aufgegangen. Dann haben diese Krieger durch ihre Voodoo-Kenntnisse überleben können, oder wie sehe ich das?« »Genau richtig.«
»Andere Frage. Woher wußten Ihre Eltern davon? Haben sie schon früher Kontakt zu dem Volk gehabt? Konnten sie ihren Geist durch die Zeiten wandern lassen?« »Sie waren sensitiv veranlagt. Das ist che Lösung. Sie haben gespürt, daß die Wikinger damals ein Erbe, ein magisches Kraftfeld hinterließen. Das nutzten sie aus.« »Mit der Puppe?« »So ungefähr.« »Stellten sie eine Voodoo-Puppe her? Oder wie sind sie vorgegangen?« »Sie haben nichts begriffen, Sinclair! Im Wald befand sich das magische Kraftfeld, ausgelöst durch die Voodoo-Puppe. Sie ist vergraben worden, damals, als die Wikinger, aus Afrika kommend, die Küste Englands besetzt hielten.« »Moment, Meister. Wollen Sie damit sagen, daß die alte Voodoo-Puppe das magische Kraftfeld hinterlassen hat, das Ihre Eltern fanden?« »Sehr richtig.« »Was geschah dann? Weshalb hat man sie getötet? Ist die Puppe noch vorhanden?« Braddock hob die Schultern. »Fragen Sie mich nicht so etwas Schweres. Ich habe keine Ahnung davon. Jedenfalls müssen meine Eltern einen Fehler gemacht haben, sonst wären sie nicht umgebracht worden. Die Puppe ist ungemein wichtig. Sie garantierte den Horden ein Leben nach dem Tod. Oder ist das falsch ausgedrückt?« »Im Prinzip nicht. Die Wikinger haben durch das Vorhandensein der Puppe überlebt.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist der helle Wahnsinn, wirklich.« »Man kann es keinem anderen sagen. Aber Sie sind ja deswegen gekommen. Leider zu spät. Jetzt müssen Sie die Folgen tragen. Die Puppe oder ihre Kraft hat ein Zeitloch auf magischem Weg eingerissen. In das sind wir gerutscht. Es wäre ein Wunder, wenn wir da wieder lebend herauskämen.« »Bestimmt.« Ich war mit meinen Gedanken noch immer bei der Puppe. »Hören Sie, Braddock, haben Ihre Eltern mit Ihnen über diese Dinge gesprochen?« »Nicht intensiv. Unser Kontakt war nicht besonders. Ich bin nicht ohne Gründe nach Seabrake gezogen.« »Weichen Sie mir nicht aus. Sie wissen über gewisse Dinge sehr genau Bescheid.« Er hob die Schultern und drückte seine Beine vor. »Das ist nur allgemein.« Ich blieb am Ball. »Bleiben wir mal bei der Puppe, Braddock. Auch wenn Ihre Eltern angeblich nicht viel gesagt haben, so wußten sie doch gut Bescheid. Ich möchte von Ihnen erfahren, aus welchem Material sie
bestand. War es normales Holz, hatte man Ebenholz oder Elfenbein aus Afrika mitgebracht?« »Nichts von dem.« »Aus was bestand die Puppe dann?« Er drehte mir das Gesicht zu. Die Lippen zeichneten ein dünnes Lächeln. »Sie werden es kaum glauben, Sinclair, auch ich kann es nicht fassen, aber es war keine richtige Puppe. Sie wurde nur so genannt. In Wirklichkeit war es ein Mensch, den man präpariert hatte. Ein Mensch, der zirka tausend Jahre alt ist!« Er wunderte sich, daß ich kein Erschrecken zeigte. »Das ist in der Tat außergewöhnlich. Auch bei den Menschen gibt es Unterschiede. Zu wem gehörte er?« »Zu den Wikingern.« »Was war er da?« »Ein Magier, ein Medizinmann, ein Arzt oder was weiß ich nicht alles. Jedenfalls jemand, der aus der Rolle fiel und nicht als normal eingestuft werden konnte. Das war eine Figur, die bestimmte Kräfte besaß, die sich auskannte auf dem weiten Feld der Magie. Ist doch klar. Sie konnten nicht jeden nehmen. Es mußte schon etwas dahinterstecken, kann ich mir vorstellen.« »Sie hat überlebt und ist von Ihren Eltern gefunden worden?« »Richtig! Die beiden Braddocks gruben sie aus.« »Was geschah dann?« »Wieso fragen Sie mich das? Sie haben selbst erlebt, daß die Wikinger kamen. Mein Eltern müssen den magischen Bann gelöst und das Zeitloch geöffnet haben. Das ist alles. Als ich die verfluchten Kerle zum erstenmal sah, war mir einiges klar geworden. Ich bin zu meinen Eltern gefahren und fand sie tot. Die Mörder waren schneller gewesen. Das ist die ganze Geschichte.« »Die ich Ihnen sogar glaube.« »Bleibt uns denn eine Wahl?« »Wohl kaum.« »Viel habe ich nicht sehen können, Braddock, nur eben den Feuerschein. Ich gehe allerdings davon aus, daß wir uns nicht mehr in unserer Zeit befinden.« »Darauf können Sie Gift nehmen.« »Also müssen wir wieder zurück.« Er lachte kichernd. »Klar doch. Nebenan steht der Zug. Steigen Sie ein, Sinclair, und fahren Sie wieder in die Gegenwart, wo man Sie jubelnd empfangen wird.« »Werden Sie nicht albern, Braddock. Sie hätten nicht auf das Schiff zuzustürzen brauchen.« »Sind Ihre oder meine Eltern gestorben, Sinclair? Auch wenn der Kontakt nicht optimal gewesen ist, ich habe doch an ihnen gehangen, und ich wollte diesem verdammten Spuk ein Ende machen.«
»Schon gut.« Wenigstens hatte man mir die Waffen gelassen. Wie es weitergehen sollte, wußte ich nicht. »Feinde haben die früher geköpft. In alten Sagen habe ich gelesen, daß sie sogar auf einen Spieß gesteckt und gebraten worden sind. Es gab auch noch andere Methoden, den Feind vom Leben in den Tod zu befördern. Man klopft ihm mit einer Keule die Knochen zu Brei, man ...« »Es reicht.« »Schwache Nerven?« »Nicht immer.« Ich hatte keine Lust mehr, in der stinkenden Hütte hocken zu bleiben. Auch wenn mich Braddock gewarnt hatte, mußte ich versuchen, das Gefängnis zu verlassen und einen Weg finden, um auf das Drachenschiff zu gelangen. »He, Sinclair, bleiben Sie.« »Ich hole Sie später.« »Ohne Kopf, was?« Er bekam keine Antwort. Mittlerweile hatte ich mich bis dicht an den Ausgang herangeschoben und beobachtete die Wachen. Als ich ihren Rhythmus bemerkte, stellte ich fest, daß sie immer in der gleichen Folge gingen und zwischen ihrem Auftauchen große Lücken blieben. Das mußte ich ausnutzen. Ich wartete noch ab, denn die Krieger waren in der Routine erstarrt. Nicht einmal bückten sie sich, um einen Blick in das kleine Holzhaus zu werfen. Braddock hatte natürlich gesehen, was ich wollte. »Das schaffen Sie nicht, Sinclair!« flüsterte er. »Das geht nicht gut. Verlassen Sie sich darauf.« »Ich verlasse mich lieber auf mein Können!« gab ich ebenso leise zurück. Auf Braddock konnte ich keine Rücksicht nehmen. Ich war ihm dankbar, daß er mich über gewisse Dinge aufgeklärt hatte. Daß die Wikinger schon eine Verbindung zum Voodoo-Zauber gefunden hatten, war mir neu gewesen. Darauf wäre ich nicht im Traum gekommen. Wieder schritten die Aufpasser vorbei. Von links nach rechts ging der Kerl; ein zweiter erschien nicht. Ich wagte es und huschte aus der Hütte. Mein Plan stand bereits fest. Nur nicht auf das Feuer zulaufen, wo man mich sofort entdeckt hätte. Ich mußte weg von den Flammen, in die dunklen Ecken des Lagers, die es bestimmt auch gab. Ich hatte mich dafür entschieden, nach links zu laufen, und geriet in die Dämmerung des allmählich ausklagenden Tages. Als erste Deckung diente mir eine weitere Hütte. An die Außenwand preßte ich mich, so dicht, daß ich mit ihr zu verschmelzen schien.
Mein Herz klopfte schneller. Ich wartete auf Alarmschreie, die nicht zu hören waren. Demnach mußte der erste, wichtige Teil meiner Flucht geklappt haben. Die Wikinger hatten mich aus der Orkanhölle entführt. Von einem scharfen Sturm merkte ich hier nichts, obwohl der Wind noch wehte. Hinter mir klangen die typischen Geräusche einer Brandung auf. Das laute Rauschen, dazwischen ein hartes Donnern, wenn die Wellen gegen die Felsen schlugen. Nachdem ungefähr eine Minute vergangen war, drehte ich mich, um in Richtung Meer zu schauen. Die Küste malte sich felsig, schroff und zerklüftet ab. Die Natur hatte einen natürlichen Hafen geschaffen, in dem das Drachenboot der Wikinger ankerte und schaukelnd auf den auslaufenden Wellen dümpelte. ■ Als scharfe Kulisse hob es sich ab und lag nicht einmal tief im Wasser. Mir war bekannt, daß die Wikinger mit diesen Booten nicht nur die Meere durchkreuzt hatten. Sie waren auch in der Lage gewesen, in die Flüsse hineinzufahren. Deshalb durften die Boote keinen großen Tiefgang besitzen. Die Hütte, die mir als Deckung diente, gehörte zu den äußersten. Vor mir brannten Feuer, hinter mir hatte sich die Dämmerung über den Küstenstreifen gesenkt. Ich warf einen Blick zum Himmel. Bleigrau, aber mit großen Lücken, in denen es hell leuchtete, lag er über mir. Wohin? Fliegen konnte ich nicht, aber mich persönlich interessierte das Boot. Sollte den Wikingern meine Flucht auffallen, würden sie mich natürlich verfolgen. Ich nahm mir nicht mehr die Zeit, noch länger darüber nachzudenken. Ein traniger Geruch schwebte über mir. Auf dem größten der Feuer kochten Wikingerfrauen das Essen. In ihrer Kleidung waren sie von den Männern kaum zu erkennen. Sie sollten ruhig essen und viel trinken. Die anschließende Müdigkeit würde meinen Plänen sehr entgegenkommen. Braddock hätte ruhig mitkommen können. Wie es mit ihm weiterging, wußte ich auch nicht. Hoffentlich rächten sich die Kerle wegen meiner Flucht nicht an ihm. Dann war ich gezwungen, ihn aus der Gefahr zu holen. Einen Strand im landläufigen Sinne gab es nicht. Der Boden bestand aus einer Mischung zwischen Steinen und Gras. Sie waren unterschiedlich hoch und bildeten Stolperfallen. Ich war schnell, achtete dabei auf fremde Geräusche und konnte aufatmen, als ich nur das Rauschen der Wellen mitbekam. Denen lief ich
entgegen. Ihre hellen Schaumstreifen auf den Kämmen schimmerten silberfarben. Um das Schiff zu erreichen, mußte ich ins Wasser. Ich hatte so etwas Ähnliches wie ein Ankertau erkennen können. Jedenfalls hingen dicke Seile über die Bordwand. Sie waren sicherlich mit Steinen oder anderen Gegenständen beschwert. Die See war kalt. Knie-, dann hüfthoch umspielten mich die Wellen. Ich breitete die Arme aus, hielt so mein Gleichgewicht und kämpfte mich weiter. Das Wasser zerrte an meinem Körper und wollte mich wieder gegen den Strand zurückschleudern. Dagegen kämpfte ich an. Mit Kraulstößen schaffte ich es, die Wellen zu überlisten. Wenig später erhob sich die Bordwand vor mir wie ein breiter Schatten. Ich änderte die Richtung etwas und schwamm auf eines der laue zu. Eine Welle packte und schob mich an das Ziel. Mit beiden Händen bekam ich das große Tau zu fassen. An einigen Stellen war es aufgespleißt; nicht gerade gut für die Haut. Ich hielt trotzdem fest und konnte leider nicht vermeiden, daß eine nächste Woge meine Beine gegen die Bordwände prellte. Wie Schüler im Turnunterricht hangelte ich mich hoch. Die Luft war kühl und klar. Sie schmeckte nach Salz. Der Wind trocknete mein Gesicht. Die Kleidung aber hing wie ein nasser, schwerer Sack an meinem Körper. Das Drachenschiff war aus mächtigen Planken geziriimert worden. Wenn jetzt ein Krieger als Wache zurückgeblieben war, hatte er beste Chancen, mich zu erledigen, denn ich hatte keine Deckung, als ich an Bord kletterte. Ich ließ mich über die Bordwand gleiten. Eine Erinnerung an meinen ersten unfreiwilligen Besuch auf dem Schiff hatte ich nicht. Für mich war alles neu, und ich ärgerte mich, als ich auf einer der hölzernen Ruderbänke landete und mir schmerzhaft den Rücken stieß. Die Bänke waren feucht. Ich rutschte noch ein Stück und fiel dann zwischen sie. Ob der Krieger darauf nur gewartet hatte, wußte ich nicht. Jedenfalls hatte er die Gelegenheit als günstig empfunden und war blitzschnell da. Ich schaute in die Flöhe. Der Kerl war klein, stämmig und gefährlich. Letzteres nicht zuletzt deshalb, weil er eine Streitaxt in der rechten Hand hielt, mit der er mir den Schädel spalten wollte... *** Die Wikinger waren Meister im Umgang mit diesen Waffen, das wußte ich.
Um an die Beretta zu kommen, blieb mir nicht die Zeit. Zudem klemmte ich zwischen den Sitzreihen und konnte praktisch nur die Füße bewegen. Das tat ich auch. Ein Tritt erwischte den Wikinger im Leib. Genau in dem Augenblick, als seine verdammte Streitaxt nach unten raste. Er kippte zurück, konnte den Schlag nicht mehr bremsen. Die Streitaxt rutschte ihm aus der Faust. Im hohen Bogen flog sie über die Bordwand. Besser konnte es nicht laufen! Bevor sich der Krieger von seiner Überraschung erholt hatte, war ich freigekommen und jagte ihm bereits einen Faustschlag entgegen, der sein Kinn erwischte. Mir aber schoß der Schmerz durch die Hand hoch zum Ellenbogen. Hoffentlich war nichts gebrochen. Der Krieger fiel nicht. Erstand da, starrte mich dumpf an. Sein langes Haar glänzte fettig. Er stank nach Fisch und Schweiß. Aber er besaß noch eine Waffe. Bevor er die Keule heben konnte, hatte ich schon mit der Handkante zugeschlagen. Diesmal schwankte der Knabe. Handkantenschläge war er nicht gewohnt. Er taumelte über das Schiff und fiel an der gegenüberliegenden Bordwand zwischen die Ruderbänke. Ausgeschaltet war er nicht. Mühsam stemmte er sich nämlich wieder hoch. Ein zweites Mal erwischte ich sein Kinn. Diesmal mit der Fußspitze. Ein dumpfes Knirschen ertönte, und die Augen bekamen einen seltsamen Ausdruck. Dann fiel er in eine Lücke, wo er liegenblieb und sich nicht mehr rührte. Das war geschafft. Ich rieb und betastete meine Knöchel, weil ich feststellen wollte, ob tatsächlich nichts gebrochen war. Nein, sie schmerzten nur. Hatten die Wikinger einen Krieger zurückgelassen, oder befanden sich noch weitere an Deck? Es war noch nicht völlig dunkel geworden, aber die Schatten der Felswände fielen auf das Schiff, so daß ich nicht viel erkennen konnte. Das Segel war gerefft. Sein Mast lag in der Mitte zwischen den Ruderbänken. Am Heck sah ich eine Feuerstelle und auch Fässer, in denen sich wahrscheinlich Proviant befand. Wie ging es weiter? Sollte ich warten, bis jemand kam, oder sollte ich versuchen, den Mast aufzurichten? Allein schaffte ich das nicht. Es gab nichts, was mithätte helfen können. Um den Mast in die Höhe zu bekommen, waren sicherlich zehn oder mehr starke Männer erforderlich. Ich ging durch den Mittelgang zum Bug des Schiffes — und blieb plötzlich stehen, als hätte mich eine Faust gestoppt. Zuerst dachte ich an
einen Krieger, der den Bereich des Bugs überwachte. Beim Näherkommen erkannte ich den Irrtum und bekam eine Gänsehaut. Was da vor mir stand und durch ein Holzgestell gehalten wurde, war kein Mensch, es mußte die Puppe sein, von der mir Clive Braddock berichtet hatte. Das Voodoo-Geheimnis der Wikinger! *** Ich tat zunächst nichts, denn die Überraschung war einfach zu groß. Viele Gedanken schwirrten durch den Kopf. Im Prinzip beschäftigten sie sich mit Braddocks Erzählungen. Er hatte die Puppe erwähnt und kannte sie auch möglicherweise vom Ansehen, aber aus der Gegenwart, aus unserer Zeit. Ich sah sie ebenfalls, doch ich befand mich jetzt in der Vergangenheit, wahrscheinlich im elften Jahrhundert. Das nahm ich hin, denn durch die Zeit zu reisen, war ich mittlerweile gewohnt. Daß ich die Puppe nicht würde zerstören können, war mir klar. Sonst hätte sie es ja nicht auch in meiner Zeit geben können. Aber ich wollte sie mir zumindest genauer anschauen. Die Höhe der Bordwände reichte aus, um mir den entsprechenden Schutz zu geben. Deshalb riskierte ich es auch, die schmale Lampe zu nehmen und die Puppe anzuleuchten. Ihr Schein würde nicht über die Bordwand hinweggleiten. Braddock hatte zwar von einer Puppe gesprochen, sie allerdings auch als einen Menschen angesehen, der aus Afrika mitgebracht worden war. Ein Mensch, möglicherweise ein dunkelhäutiger Zombie, in dessen Gesicht ich zielte. Es war tatsächlich eine dunkelhäutige und böse, widerliche Fratze. Die Haut kam mir vor, als wäre sie von aller Flüssigkeit befreit worden. Sie war zusammengezogen, besaß ein Muster aus Falten, und der Kopf erinnerte mich dabei an einen alten, verschrumpelten Apfel. Haare sah ich nicht. Entweder hatte die Gestalt sie verloren oder sie waren ihr abrasiert worden, um Platz für die dunklen Nadeln zu bekommen, von denen zwei im Schädel der Zombie-Puppe steckten. Zwei weitere steckten im Gesicht der Puppe, die übrigen verteilten sich auf dem Körper. Mir juckte es in den Fingern, eine oder mehrere Nadeln aus dem Körper zu ziehen. Ich beschloß, es zu wagen. Die Lampe hielt ich dabei auf die Augen gerichtet. Es war selbst bei diesem Licht nicht zu erkennen, ob die Augen noch lebten oder überhaupt vorhanden waren. Das Licht verlor sich in den dunklen Höhlen wie in tiefen Trichtern.
Die Nadel an der Wange interessierte mich. Mit den Fingerspitzen berührte ich sie. Mir selbst war durch die feuchte Kleidung ziemlich kalt geworden. Die Nadel aber besaß eine innere Wärme, erklärbar mit dem Begriff >Schwarze Magie<. Ich zog sie heraus. Im gleichen Moment hörte ich das Zischen. Es drang aus dem Loch, das einmal der Mund gewesen war, und ein widerlicher Modergeruch strömte in meine Nase. Unwillkürlich trat ich zurück. Hatte ich durch das Entfernen der Nadel Leben in die Puppe zurückgeholt? Unschlüssig drehte ich sie zwischen den Fingern. Der Lichtstrahl konzentrierte sich jetzt auf den Mund, der an den Rändern zitterte. Mehr geschah nicht. Die Puppe zeigte keine weiteren Lebenszeichen. Wahrscheinlich würde sich dies ändern, wenn ich alle Nadeln herausgezogen hatte. Ich steckte meine Beute ein, verließ den Bug und trat an die Steuerbordseite des Drachenschiffs, um einen Blick zum Ufer zu werfen. Bisher hatten sich die Wikinger ruhig verhalten. Meine Flucht schien noch nicht bemerkt worden zu sein. Ein Irrtum! Nicht grundlos gehörte das Volk der Wikinger zu denen, die überall ihre Spuren hinterlassen hatten. Sie waren kampferprobt, ausgefuchst und kannten alle Tricks. So war es ihnen tatsächlich gelungen, lautlos an ihr Drachenschiff heranzuschwimmen. Als ich über die Bordwand schaute, sah ich die Schatten der ersten beiden. Blitzschnell wich ich zurück, schuf ihnen Platz, und sie sprangen mit geschmeidigen Sätzen an Bord. Ich zog die Waffe. Im gleichen Moment tauchten hinter mir weitere Krieger auf, schrille Schreie ausstoßend, und dann flogen die ersten Keulen .. . Der Sturm packte den Jeep wie mit riesigen Händen. Er zerrte an dem kantigen Fahrzeug, als wollte er es einfach umstoßen oder durch die Gegend schleudern. Reverend Castor hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst zu lenken, und er hielt das Steuer mit beiden Händen so hart umklammert, daß sie seine Knöchel hart unter der Haut abzeichneten. »Das wird die Hölle werden!« keuchte er, als sie durch eine noch einigermaßen befahrbare Dorfstraße rollten, in der nur Scheibensplitter und einige Äste als Hindernisse lagen. »Die Hölle kenne ich!« gab Suko zur Antwort. »Ich nicht.« »Dann wird es Zeit!« »Sie sind gut, Inspektor!«
»Der Job macht einen Menschen bei gewissen Dingen abgebrüht«, erwiderte Suko und klammerte sich ebenfalls mit beiden Händen fest, denn die Windstöße heulten in den offenen Fahrerraum hinein, als wollten sie die Menschen von den Sitzen fegen. Den Wald hatte Suko noch nicht gesehen. Landeinwärts begann er. Ein spitzer Ausläufer erreichte die Grenze von Seabrake, als wollte er sich darin hineindrängen. »Gibt es denn einen Weg dorthin?« fragte Suko mit lauter Stimme. »Nein, wir fahren querbeet.« Auch die Natur gab eine Antwort, und zwar durch ein gewaltiges Höllenspektakel. Der Orkan hauste wie ein böses Tier. Er orgelte über ihnen in den Bäumen, er peitschte durch das Geäst, ließ es knirschen und brechen. Natürlich riß er Äste und Zweige ab. Hoch über dem Jeep taumelten die abgerissenen Teile durch die Luft, bevor sie gepackt und zu Boden geschleudert wurden. Sie krachten "gegen den Wagen, der von Reverend Castor eisern auf der Straße gehalten wurde. Auch die Dachbespannung bekam einiges ab. Sie bog sich zwar durch, hielt aber. »Es wird noch enger!« schrie Castor gegen die Geräuschkulisse an. »Sie werden sich wundern.« »Mal sehen!« Suko saß längst nicht mehr auf seinem Sitz. Er schaute nach vorn, nach links und rechts, immer darauf achtend, ob nicht gefährliche Gegenstände zu Boden wirbelten. Querbeet, hatte der Reverend gesagt. Das war ziemlich untertrieben, denn der Jeep wurde von ihm über eine wahre Rallye-Strecke gescheucht. Der Boden zeigte gewaltige Löcher und Spurrillen, zudem hatte es der Regen geschafft, ihn aufzuweichen, und an manchen Stellen einen sumpfigen Charakter gegeben. Zum Glück beherrschte der Geistliche das Spiel mit Gas und Schaltung, so daß der Wagen nie steckenblieb. Bis sie doch nicht mehr weiterkamen. Da verengte sich der Wald, die Bäume wuchsen so dicht, daß sich ihr Astwerk berührte und manchmal ineinander verschlungen war. Auch in dieser Umgebung hatte der Orkan seine Spuren hinterlassen. Zahlreiche Bäume waren wie von Riesenhänden gefällt worden und zwischen die anderen gefallen. Durch den gewaltigen Druck hatten sie auch an den anderen das Astwerk abgerissen oder sogar das Wurzelwerk halb aus dem Boden gerissen. Der Reverend stellte den Motor ab. Mit breit verzogenem Mund schaute er Suko an. »Ich weiß, wir müssen raus.« »Ja, zu Fuß durch die Hölle.«
»Solange der Teufel nicht erscheint, juckt es mich wenig«, erklärte der Inspektor. Suko gab der Tür mit dem Knie noch einen zusätzlichen Stoß und rammte sie nach außen. Er verließ den Jeep als erster. Sofort nahm ihn der Wind gefangen. Wie mit gewaltigen Schaufeln griff er nach ihm, weil er ihn von den Beinen holen wollte. Suko mußte sich tatsächlich am Wagen festklammern, um den nötigen Halt zu finden. Dem Reverend erging es ebenso. Über ihnen krachte und splitterte es im Geäst. Da schlugen die Zweige gegeneinander, als wollten sie sich mit einem besonderen Konzert Gehör verschaffen. Rinde, Zweige, Gras und Blätter bildeten einen Durcheinander, dem so leicht keiner entgehen konnte. Vor dem Kühlergrill trafen sie sich. »Wohin?« schrie Suko. Castor deutete geradeaus. »Bleiben Sie immer hinter mir.« »Okay, dann fangen Sie die Äste ab.« »Mal sehen.« Die Böen wechselten die Richtung. Mal hämmerten sie von vorn gegen die beiden Männer, dann wiederum drehten sie sich blitzartig und überfielen sie von der Seite. Castor gab einmal nicht acht. Ein Schwall erwischte ihn und schleuderte den Mann gegen einen querliegenden Baum, den sie überklettern mußten, um weiterzukommen. »Und das ohne Bezahlung!« keuchte Suko. »Für Gottes Lohn, Inspektor. Ist das nichts?« »Wenn Sie das sagen, okay.« »Meine ich auch.« Die beiden verstanden sich. Suko war froh, Reverend Castor getroffen zu haben. Das Krachen ließ nicht nach. Es erinnerte Suko an die Kendo-Kämpfer, wenn sie mit ihren Stöcken aufeinander einschlugen und die Echos von den Wänden der Trainingshallen schallten. Aufgewirbeltes Laub nahm ihnen die Sicht. Dazwischen mischten sich Grassoden, und sogar Müll wirbelte der Sturm heran. Alte Büchsen, nasse Pappe, Papier, Holz. Irgendwelche Umweltsünder hatten es im Wald versteckt oder vergraben. Die beiden Männer kamen trotzdem weiten Der Himmel über ihnen bot ein wechselndes Schauspiel. Mal düster wie eine dämonische Fratze, dann wieder an einigen Stellen so hell, daß eine gelbe Farbe durchschimmerte, die an den Rändern zu den dunklen Feldern einen schwefligen Glanz bekommen hatte. Das Gesicht des Himmels deutete auf Gewitter und Regen hin. Sie erklommen einen kleinen Hügel. Der starke Wind hatte die Hänge vom Humus befreit. Kahl präsentierte sich die schmutzige Erde. Sehr tief geduckt nahmen die Männer das Hindernis und fluchten dabei über den Lehm, der gegen ihre Gesichter geschleudert wurde. »Wann sind wir denn da?« rief Suko.
»Keine Ahnung, aber wir packen das schon.« Sie packten es tatsächlich. Jenseits des Hügels standen die Bäume nicht so dicht. Allerdings waren einige umgekippt und hatten Hindernisse gebildet. »Das ist es!« rief der Reverend, richtete sich auf — und kippte zurück, als ihn der Sturm frontal erwischte. Suko streckte seine Arme aus. Er fing den Mann ab. »Danke.« »Wo denn nun?« Diesmal ging Castor den Versuch vorsichtiger an. Suko hatte seine Lampe aus der Tasche geholt. In der Düsternis war nur schwer etwas zu erkennen. Erst als der Lichtfinger kreiste, entdeckten die beiden die Stelle, von der Jorge gesprochen hatte. Trotz der Sturmschäden war zu erkennen, daß an diesem Ort gegraben worden war. Die Erde zeigte sich aufgewühlt; die alte Humusschicht war verschwunden. Möglicherweise hatte sich noch vor dem Sturm hier ein Loch befunden. Jetzt war es allerdings fast zugeschwemmt worden. Suko wäre um ein Haar über das Werkzeug gestolpert. Es steckte zur Hälfte in der Erde und war deshalb leicht zu übersehen gewesen. »Sehen Sie, Reverend, wie für uns gemacht!« Castor schaute kopfschüttelnd auf Hacken und Spaten, die fast wie geordnet zusammenlagen. Suko steckte die Lampe weg. Er hatte genug gesehen und fragte den Geistlichen: »Sie haben die Wahl. Spaten oder Hacke?« »Wollen Sie wirklich . ..?« »Wir müssen! Sollte sich die Puppe tatsächlich hier befinden, müssen wir sie rausholen und möglicherweise auch vernichten, denn nur durch sie ist es den verdammten Untoten gelungen, die Zeiten zu überwinden.« »Das will mir noch immer nicht in den Kopf.« »Man gewöhnt sich an vieles, Reverend.« »Das sagen Sie.« »Was nehmen Sie?« »Den Spaten.« »Okay, dann fange ich damit an, den Boden aufzuhacken.« Suko griff nach dem Werkzeug. Castor suchte eine Stelle, wo er einigermaßen vor den heranjagenden Böen sicher war. Er fand den Platz in einer Lücke zwischen zwei umgekippten Baumstämmen. Hochgetürmtes Astwerk deckte ihn vor den peitschenden Windstößen. Suko hatte einen kleinen Kreis geschlagen und suchte nach einer bestimmten Stelle, wo er beginnen konnte. Irgendwo mußte ein Mittelpunkt vorhanden sein. Er schritt das Terrain ab und fand weiche Stellen, ein Zeichen, daß hier jemand gegraben hatte. Das tat auch Suko. Die Hacke packte er mit beiden Händen, lehnte sich zurück und hämmerte die Spitze in den weichen Waldboden.
Er wollte dem Geistlichen so weit helfen, daß dieser ohne viel Kraftanstrengung weitergraben konnte. Suko durfte nicht zu forsch an die Arbeit herangehen, da er sonst vielleicht etwas zerstört hätte. Er wunderte sich darüber, wie weich die Erde war. Das Ehepaar Braddock hatte vor ihm doch ziemlich tief gegraben und war möglicherweise ans Ziel gelangt. Suko arbeitete wie eine Maschine. Mit der Hacke riß er die Erde auf, wartete einen Augenblick und winkte dann den Geistlichen herbei. Der Reverend quälte sich hoch. »Haben Sie schon einen Erfolg . . .?« »Wir müssen jetzt aufpassen.« Suko hielt den Hakenstiel umklammert, weil wieder eine Bö heranfuhr und ihn durchschüttelte. Neben der aufgewühlten Erde stoppte Castor. Über ihnen heulten die Windstöße. Wieder schafften sie es, einige Zweige abzureißen und sie durch die Gegend zu schleudern. Ein Ast streifte Sukos Arm, bevor er irgendwo im Gras verschwand. Reverend Castor hatte sich mit einem Spaten bewaffnet. Suko nahm eine Schaufel. Von zwei verschiedenen Seiten fingen sie an zu graben. Der Inspektor gab die Anweisungen. Er achtete darauf, daß sie nicht zu tief in das feuchte Erdreich hineinstießen und möglicherweise noch etwas zerstörten. Sie schaufelten es hoch und schleuderten die Ladungen zur Seite. Nur feuchte Erde, Lehm und Humus lagen auf den beiden Blättern der Werkzeuge. Manchmal böte der Wind mächtig heran, daß er die Schaufeln fast leerte, bevor sie noch gekippt werden konnten. Aber sie kämpften sich weiter. Schon bald spürte Suko, der sein Blatt besonders tief in das Loch gerammt hatte, einen leichten Widerstand. Sofort gab er dem Reverend das Zeichen, mit seiner Arbeit zu stoppen. »Haben Sie was gefunden, Inspektor?« Castors Stimme zitterte vor Aufregung. »Ich hoffe es.« Suko bückte sich. Vorsichtig kniete er am Rand des Loches nieder. Dabei hatte er den Blick gehoben und bekam mit, daß Castor zusammenzuckte. »Was ist los?« Der Geistliche winkte ab, schritt aber um die Stelle herum und rümpfte schnüffelnd die Nase. »Ich . . . ich rieche etwas!« Er blieb stehen, seine Augen starrten gebannt in die Tiefe. »Es ... es riecht wie Feuer oder Schwefel.« Suko erhob sich. »Hier brennt nichts.« Castor deutete gegen das Loch. »Nicht im Wald, Suko, sondern aus der Tiefe.« Der Inspektor nickte. Er drängte Castor zur Seite. »Lassen Sie mich bitte.«
Suko hatte schon nach der Schaufel gegriffen. »Das werden wir gleich haben.« Im schrägen Winkel stieß er das Schaufelblatt in die Öffnung hinein und grub nicht mehr weiter. Was er tat, glich mehr einem behutsamen Schaben. Noch war der Gegenstand von einer Lehmkruste bedeckt, die naß glänzte. Daß der Geistliche sich nicht geirrt hatte, stellte auch Suko fest, denn der verbrannte Geruch strömte direkt aus dem Loch. Er hatte erlebt, daß die Menschen des Mittelalters recht hatten, wenn sie beim Erscheinen des Teufels von einem Schwefelgeruch sprachen. So ähnlich roch es auch hier. Die Länge der Schaufel reichte gerade aus, um den vergrabenen Gegenstand von der Erd- und Lehmhülle zu befreien. Suko sann schon jetzt über die Form nach. Breit war er nicht, mehr länglich. Er konnte durchaus die Maße eines Menschen besitzen. War die Puppe so groß? »Ich helfe Ihnen, Suko!« Auch der Reverend war vom Jagdfieber angesteckt worden. Beide Männer hatten die sie umtosende Hölle vergessen. Jetzt zählte nur der Erfolg. Sie gingen behutsam zu Werke, und sie legten tatsächlich etwas frei, das die Größe eines Kopfes besaß. Allerdings schauten sie von oben auf den Schädel. Wenn Haare vorhanden wären, dann besaßen sie eine dunkle, verschmierte Farbe. Jahrtausende altes Erdreich hatte sie regelrecht zusammengeklebt. Und noch etwas fiel ihnen auf. Innerhalb des Schädels steckten zwei Nadeln, die Aussahen wie dunkle Antennen. »Voodoo!« keuchte Suko. »Verdammt noch mal, das müssen einfach Voodoo-Nadeln sein.« »Meinen Sie?« »Klar.« »Und was geschieht, wenn Sie die entfernen?« Über das Loch hinweg warf der Inspektor seinem Helfer einen Blick zu und sah in dessen Augen das Weiße leuchten. »Wünschen Sie sich das besser nicht, Reverend, denn dann werden die wirklichen Kräfte des Teufels frei! Ich nehme an, daß wir dadurch die verfluchten Wikinger herholen können.« »Haben das die Braddocks getan?« »Keine Ahnung. Jedenfalls sind sie wieder fest.« »Moment mal, Inspektor. Sollten die tatsächlich kommen, könnten wir auch Ihren Freund Sinclair und den jungen Braddock wieder in unsere Zeit zurückholen.« »Das wäre eine Chance.«
»Dann lassen Sie uns .. .« »Noch nicht, Reverend. Wir werden die Puppe vorsichtig herausholen. Es darf um Himmels willen nichts zerstört werden, sonst ist es mit der Magie vorbei.« »Und was wäre mit den Männern?« »Sie würden in der Vergangenheit bleiben, glaube ich.« Castor erbleichte und gab keinen Kommentar mehr ab. Er richtete sich voll und ganz nach Suko, der versuchte, die eingegrabene Puppe an den Seiten vom Lehm zu befreien. Es war sehr schwierig, denn die Erde klebte an der Gestalt wie zäher Leim. Zudem wühlte der Wind immer wieder Laub und Zweige auf und schaufelte sie heran. Suko war es schließlich leid. Der Reverend mußte ihn an den Beinen halten, als er sich auf den Bauch legte, den Oberkörper weit hineindrückte, die Arme ausstreckte, um nach der Puppe zu greifen. Vielleicht gelang es ihm durch vorsichtiges Ziehen, den Gegenstand aus dem Gefängnis zu befreien. Als er die Puppe in Höhe der Schultern umfaßte, durchzuckte es ihn wie ein Stromstoß. Sie fühlte sich widerlich weich an. Sie mußte mit irgendeinem Material einbalsamiert worden sein. Worum es sich dabei handelte, wußte der Inspektor auch nicht. »Klappt es?« »Einen Augenblick noch, Reverend.« Der Inspektor verstärkte seinen Griff. Er achtete darauf, daß in der Puppe nichts zerstört wurde. Dann zog er sie behutsam in die Höhe. Es glich einer Eiligranarbeit. Dem Chinesen stand der Schweiß auf der Stirn. Die Widrigkeiten der Umwelt hatte er völlig vergessen, für ihn zählte nur der Erfolg, denn er wußte genau, daß alles davon abhing, ob er die Puppe freibekam. Noch klemmte sie in der Tiefe fest, als wären ihre Füße mit dem Boden verwachsen. Suko gab nicht auf. Hinter sich hörte er das Keuchen und Stöhnen des Geistlichen, der mit seinem Gewicht gegen Sukos Waden zog, nur um ihn in der Lage zu halten. Suko drehte die Puppe etwas, ruckte dann zweimal — und hätte jubeln können, als er feststellte, daß sie sich bewegte. Sie löste sich vom Boden, blieb zwischen Sukos Händen, und er schaffte es, sie weiter in die Höhe zu ziehen. »Sie sind ein Genie, Inspektor!« »Nur ein kleines.« Suko grinste verzerrt und machte weiter. Er besaß eiserne Nerven. Andere hätten die Puppe vielleicht fallen lassen, nicht aber Suko. Sehr vorsichtig ging er zu Werke, hielt sie vorsichtig, aber dennoch fest und schaffte es, sie immer höher zu ziehen. Ersah auch die Nadeln in der Brust und eine im Gesicht. Die dünnen schwarzen Gegenstände
wippten, als Suko die Puppe noch höher hob, sie auch vom scharfen Wind erfaßt wurde und der Inspektor achtgeben mußte, daß sie ihm nicht entglitt. Es klappte. Die Arme ausgestreckt und mit den Händen die alte Puppe umklammernd, drehte er sich auf die Seite, nachdem er Castor gebeten hatte, ihm dabei zu helfen. »Da, nehmen Sie!« Der Geistliche zögerte, das Geschöpf anzufassen. Erst als Suko sie ihm im Liegen fast in die Hände legte, nahm er sie an sich. Suko stand auf. Der scharfe Wind peitschte in sein Gesicht, zerrte an der Kleidung und trocknete den Schweiß der Anstrengung von seinem Gesicht. Es war geschafft — endlich! »Und jetzt?« »Kommen Sie, Reverend. Wir werden sie dort ablegen, wo Sie gewartet haben. Da ist es einigermaßen geschützt.« Gemeinsam transportierten sie die kostbare Beute an den Ort zwischen den beiden umgekippten Bäumen, wo sich so etwas wie eine kleine Mulde gebildet hatte. Sie war groß genug, um die Puppe niederlegen zu können. Mittlerweile hatte sich die Dämmerung über das Land gelegt. Vom Meer her wehte das tierische Brüllen heran, über ihnen krachte das Geäst, aber der Wind hatte an Stärke verloren. Wieder holte Suko seine Lampe hervor und strahlte die auf dem Rücken liegende Voodoo-Puppe an. Beide Männer schauten sehr genau hin. Reverend Castor schüttelte als erster den Kopf. »Haben Sie was?« »Das ist... das ist... ein Schwarzergewesen, Inspektor. Verflixt, es gibt keinen . . .« »Richtig.« Castor schaute auf. »Und wieso?« »Denken Sie daran, daß die Wikinger auch die Küsten Afrikas bereist haben.« »Himmel, wie konnte ich das vergessen. Klar, sie sind überall herumgekommen.« Der Geruch war geblieben. Auch der Wind konnte den Gestank von Schwefelgasen nicht vertreiben. Die Nadeln steckten in einem Körper, der bis auf einen lederartig wirkenden Lendenschutz nackt war. Von der Statur her war der Schwarze eher zu klein. Suko konnte sich vorstellen, daß er einmal ein Medizinmann oder Zauberer gewesen war. »Wollen wir ihn nicht hierlassen und untersuchen?« erkundigte sich der Geistliche. »Das wäre nicht gut.« »Wohin dann mit ihm?«
»Das ist die Frage. Ich würde gern ein ruhiges Plätzchen suchen. Bei diesem Sturm aber...« »Doch, Inspektor, das finden wir.« »Und wo?« Castor antwortete diesmal nicht spontan. »Wissen Sie, manchmal heiligt der Zweck die Mittel. Ich dachte da an meine Kirche. Wäre das nichts für uns?« Der Chinese staunte, dann lächelte er. »Sie sind gut, Reverend. Ich bin mir sogar sicher, daß es der richtige Ort ist, wo er seine Magie nicht einsetzen kann.« »Sie reden so, als würde er leben.« Suko nickte und deutete auf die Nadeln. »Ja, Reverend. Dieser Mensch, der seit tausend Jahren tot ist, liegt zwar bewegungslos und wie tot vor uns, er lebt aber trotzdem und wartet eigentlich nur darauf, von uns geweckt zu werden.« »Wie ist das möglich?« »Schwarze Magie, Reverend. Es gibt tatsächlich die Wesen, die wie tot aussehen, es aber nicht sind. Man bezeichnet sie auch als Zombies!« »Zombies?« Castor wischte über seine Stirn. »Das will mir nicht in den Kopf!« rief er. »Da bricht bei mir eine Welt zusammen, Inspektor. Ich . . . ich kann da nicht folgen.« »Mir fiel es damals auch schwer, doch glauben Sie mir, Reverend, man muß sich damit auseinandersetzen. Nur wenn man darüber Bescheid weiß, kann man etwas tun.« »Das sollten wir auch!« Mit dieser Bemerkung hatte der Geistliche das Kommando gegeben. Beide Männer wußten, daß ihnen noch ein langer Weg bevorstand. Sie mußten die Puppe durch den Wald zu ihrem Wagen schleppen und darauf achten, daß sie keine der Nadeln verloren. Suko nahm sie an den Schultern, Castor hielt die Beine fest. Schon beim Aufstehen erwischte sie die Bö. Brutal schlug der Wind gegen ihre Körper, brachte sie ins Schwanken. Sie hatten große Mühe, die Gestalt zu halten. In der nächsten halben Stunde schafften die beiden Männer so etwas wie ein Wunder. Ohne daß die Puppe einen Kratzer bekommen oder eine Nadel verloren hätte, erreichten sie den Jeep, wo nur der Platz auf der schmalen Rückbank blieb. Jetzt erwies es sich als Vorteil, daß der Schwarze von der Körpergröße her kleiner war. Er paßte auf den Sitz, wobei zu hoffen war, daß er keine der Nadeln verlor. Der Reverend hatte die Tür nicht geschlossen. Neben dem Fahrzeug war er stehengeblieben. Suko saß bereits auf dem Beifahrersitz, als Castor die Nadel mit spitzen Fingern berührte. Mehr durch Zufall zog er die Nadel heraus.
Das sah auch Suko. Fr wollte den Geistlichen warnen, doch es war zu spät. Über dem Fahrzeug entstand ein Blitz, und die Luft begann zu flimmern. Wie aus heiterem Himmel fielen die beiden schwerbewaffneten Wikinger aus dem Zeitloch und griffen an... *** Zum Glück befand ich mich im Training. Der Job verlangte mir körperlich alles ab. So war ich es auch gewohnt, innerhalb kürzester Zeit zu reagieren. Ich spürte schon den Luftzug der schädelzerschmetternden Keulen, als ich auf die Planken schlug. Die Keulen verfehlten mich. Ich war neben den Ruderbänken liegengeblieben, nicht weit von der Mastplattform entfernt. Im Liegen hatte ich die Beretta gezogen und feuerte auf den ersten Wikinger. Die Kugel erwischte ihn dicht unter dem Haaransatz. Sofort kam ich wieder hoch. Über die Bordwände kletterten weitere Krieger. Einer zielte mit einem Pfeil auf mich. Er stand auf der Bordwand und hielt sich mit einer artistischen Geschicklichkeit. Meine Kugel war schneller. Der Aufprall fegte ihn zurück in der Wasser, wo er gurgelnd versank. Von der Seite her wirbelte eine weitere Keule auf mich zu. Ich zog den Kopf ein, der Wikinger fiel mir entgegen. Ich hämmerte ihm die Beretta gegen das Kinn, was er nicht mehr verkraftete und schreiend liegenblieb. Zwei sprangen mir in den Rücken. Die Treffer trieben mich nach vorn. Schließlich räumte ich noch einen weiteren aus dem Weg und dachte für einen Moment daran, daß ich mich ebenso gewalttätig benahm wie auch die übrigen Krieger. Nur mußte ich hier mit den Wölfen heulen. Ich konnte mich abrollen und wollte nur so schnell wie möglich von Bord. An Land gab es Verstecke, hier auf dem Schiff würden sie mich überwältigen können. Und sie bekamen mich. Zwei packten meine Arme. Sie hatten sich unbemerkt in meinem Rücken angeschlichen. Tun konnte ich nichts. Die Griffe waren so hart, daß ich regelrecht chancenlos war. Sie zerrten mich zurück. Zwei weitere erschienen vor mir. Einer mit blutigem Gesicht. Es war derjenige, den ich mit der Beretta erwischt hatte. Beide wollten mir mit ihren Streitäxten die Arme in Höhe der Schultern abhacken. Mein Tritt erwischte sie nicht.
Sie holten aus — und . . . Nein, sie trafen nicht. Vor meinen Augen ereignete sich etwas Unglaubliches. Der Himmel riß für den Bruchteil einer Sekunde auf. In dieser kaum meßbaren Zeitspanne war jedoch so etwas wie ein Zeitloch entstanden. Und darin verschwanden die Wikinger! Nicht nur ich hatte diesen Vorgang mitbekommen, auch die übrigen Krieger hatten ihn beobachten können. Für sie mußte er eine schlimme Bedeutung haben, anders waren ihre Schreie nicht zu deuten. Nach allen Seiten wichen sie aus. Sie starrten mich dabei an, als wäre ich ein Geist. Dann flohen sie. Für mich kam es sehr überraschend, diese blutrünstigen und rauflustigen Krieger in einer derartigen Panik zu erleben. Sie konnten nicht schnell genug über Bord kommen. Ich aber suchte nach einer Erklärung. Wie hätte ich auch wissen können, daß ein Geistlicher zum gleichen Zeitpunkt in einer anderen Dimension eine Nadel aus einer menschengroßen Puppe gelöst hatte? Innerhalb kürzester Zeit hatte ich das Drachenschiff wieder für mich allein. Ziemlich dumm schaute ich aus der Wäsche. Am Ufer leuchteten die Feuer. Fs war dunkler geworden, die Krieger hatten den Flammen mehr Nachschub gegeben. Die langen Feuer/ungen reckten sich, als wollten sie Löcher in den Himmel brennen. Trotz des Widerscheins konnte ich die Szenerie am Lagerplatz relativ gut beobachten. Ich hörte auch die Schreie. Eine Stimme kam mir bekannt vor. Sie gehörte Clive Braddock. Was die Wikinger bei mir nicht erreicht hatten, würden sie bei Braddock versuchen. Vorwürfe darüber, daß er mich nicht begleitet hatte, konnte ich ihm nicht machen. Jetzt ging es allein darum, sein Leben zu retten. Ich sprang auf die Bordwand und hechtete kopfüber in die kalte See... *** Wie aus dem Nichts waren die beiden Krieger gekommen. Sie hätten schon zuschlagen können, doch ihre Arme verfingen sich für einen Moment im Geäst eines umgestürzten Baumes. Die Zeit nutzte Suko. Er zog seine Beretta, ließ sich seitlich aus dem Fahrzeug fallen, hing zwar noch im Gurt, schoß aber dennoch. Wie ein Gluthauch strich die geweihte Silberkugel am Gesicht des Geistlichen vorbei und erwischte einen der Wikinger an der Hüfte.
Genau an der Stelle strahlte es für einen Moment auf, dann kippte der Mann zurück und blieb starr liegen. Der andere griff an. Für Suko war der Schußwinkel ungünstig. Er brauchte jetzt Zeit, um sich vom Gurt zu befreien und den Wagen zu verlassen. »Paß auf, Castor!« Suko konnte nur hoffen, daß seine Warnung fruchtete. Schließlich war der Geistliche nicht so kampferprobt. Vermutlich kannte er Gewalt nur von der Mattscheibe her. Castor reagierte überraschend gut. Er bückte sich und rammte seinen Kopf in den Magen des Kriegers. Die Wikinger besaßen zwar Mut, Entschlossenheit und waren auch grausam, aber von einer guten Kampftechnik hatten sie noch nie gehört. Der Krieger hatte den Stoß abbekommen und war auf dem Boden gelandet. Als er Anstalten machte, erneut anzugreifen, schoß Suko. Hart schlug die geweihte Silberkugel ein. Der Krieger schlug hin, als hatte man ihm die Beine weggeschlagen. Nicht einmal ein Zucken lief durch seinen Körper. Tot blieb er auf dem Rücken liegen, und Suko ging hin, um sich den Kerl näher anzuschauen. Schon einmal hatte er den endgültigen Tod eines Kriegers erlebt. Da hatte sich die Haut verändert, da waren die Augen verschwunden, und er wollte wissen, ob das auch bei diesem Wikinger-Zombie der Fall sein würde. Er untersuchte ihn nicht normal, sondern klopfte ihn ab. Anhand des Echos hörte er, daß sich die Haut tatsächlich verändert hatte. Sie war hart geworden wie gebrannter Ton und sah auf der Oberfläche aus, als hätte sie eine Glasur bekommen. Der Reverend bekreuzigte sich. Zitternd hockte er neben der Leiche und schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht, Inspektor, tut mir leid. Es will einfach nicht in meinen Kopf.« »Kann ich mir denken, Reverend. Auch für mich ist es in gewisser Hinsicht unverständlich, aber mein Freund John Sinclair und ich haben uns leider daran gewöhnen müssen.« Castor mußte einfach reden, nur so konnte er die Vorgänge verarbeiten. »Das ist für mich alles zuviel. Ich .. . ich habe sogar den Eindruck, als hätte der Teufel seine Hand im Spiel.« »So können Sie es auch sehen. Nur ist es ein anderer Teufel als der, den wir kennen. Diese Krieger sind in das Feld der Schwarzen Magie hineingeraten, die ihren Ursprung in Afrika hat, sich Voodoo nennt und mit lebenden Leichen zu tun hat, den sogenannten Zombies. Denn darauf läuft es letztendlich hinaus.« »Wie sind die Wikinger denn zu lebenden Leichen geworden, Inspektor? Können Sie mir das sagen?« »Leider nein. Ich war nicht dabei. Ich weiß nur, daß die Puppe eine Rolle gespielt haben muß.«
»Ja, bestimmt.« Castor schaute zum Jeep hin, wo die Türen noch offenstanden. Selbst der scharfe Wind hatte sie nicht zugedrückt. »Wir werden trotzdem dabei bleiben, Reverend, und die Puppe in Ihre Kirche schaffen.« »Wie Sie meinen. Fahren Sie, bitte. Ich fühle mich nicht in der Lage. Es war ein wenig zuviel.« »Klar doch.« Bevor Suko einstieg, gab er dem Geistlichen noch den Rat, nur keine Nadeln mehr aus dem Körper zu zupfen. »Darauf können Sie sich verlassen.« Sie saßen nebeneinander; der Reverend hatte die Hände gefaltet. Möglicherweise betete er stumm. Suko ließ den Motor an. Er lief zunächst etwas stotternd, aber man konnte sich auf ihn verlassen. Der Wagen wurde durchgeschüttelt, und Suko ließ ihn rückwärts aus der Lücke rollen. Dann erst konnte er drehen. Castor hatte sich unbequem hingesetzt. Sein Blick war über die Schulter in den Fond gerichtet, wo die Puppe lag und nicht zwischen die Sitzbänke gerutscht war. Der Inspektor hatte sich den Weg eingeprägt, so kam er auch ohne die Hilfe seines Begleiters zu recht. Die Wucht des Sturms hatte tatsächlich nachgelassen. Was jetzt an Bäumen noch stand, würde nicht mehr geknickt werden und auch kein Geäst mehr verlieren. Die Reifen des Wagens waren noch in Ordnung. Sie kamen überall durch, denn das Unwetter hatte es geschafft, den Wald innerhalb von Minuten in ein Chaos zu verwandeln. Castors Haltung war gespannt, wie die eines Läufers kurz vor dem Start. Es war ihm anzusehen, wie sehr es hinter seiner Stirn arbeitete. Er dachte wahrscheinlich über das eigentlich Unmögliche nach, hütete sich jedoch, weitere Fragen zu stellen. Beide Männer atmeten auf, als sie den Wald ohne Schaden hinter sich gelassen hatten. Der Kirchturm ragte in den grauen Himmel. Von seinem Dach fehlte ein Stück. Der Geistliche war sicher, daß es Ende des Jahres eine neue Turmeinwcihung geben würde. »Den nächsten Weg fahren Sie links hinein. Wir können den Haupteingang nehmen.« »Gut.« »Wissen Sie, Inspektor, so etwas hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Wenn wir die verdammte Puppe in die Kirche bringen, kommt es mir vor, als würden wir den Teufel hineinschleppen. Sehr recht ist mir das nicht, das müssen Sie mir glauben.« »Sicher, nur, haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Leider nein.«
Auch jetzt, wo der Sturm etwas abgeflaut war, ließ sich keiner der Bewohner im Freien blicken. Die Menschen waren gewarnt worden. Sie hatten Angst davor, die Häuser zu verlassen. Noch immer flogen Schindeln und große Reetstücke von den Dächern. Neben dem Eingang stoppte Suko den Wagen. Der Geistliche verließ ihn als erster. Den Schlüssel hielt er bereits in der Hand. Er mußte ihn zweimal drehen, dann war die Tür offen. Suko hatte die Puppe mittlerweile hervorgeholt. Sehr vorsichtig trug er sie auf seinen Armen. Eine kostbare Statue hätte er nicht behutsamer angefaßt. Über den Kirchplatz heulte der Wind und zerrte an allem, was sich ihm in den Weg stellte. Auch die Puppe wollte er aus den Händen des Inspektors reißen. Das schaffte er nicht, weil Suko sie mit seinem Rük-ken deckte. Der Reverend hielt ihm die Tür auf, so konnte Suko die Kirche ohne Schwierigkeiten betreten. Das Schiff präsentierte sich in einem düsteren Halb-dämmer. Blaß wirkten die Umrisse der Fenster. Wie durch ein Wunder hatten alle Scheiben gehalten. Nur über ihnen, wo der Wind einen Teil des Turms abgerissen hatte, pfiff der Wind durch die Öffnung. »Wollen Sie die Puppe auf eine Kirchenbank legen?« »Sicher.« Suko hatte sich die letzte ausgesucht. Alle Nadeln steckten. Sie wippten zwar, aber sie fielen nicht aus dem Körper. Dem Inspektor war klar, daß er mit dieser Puppe das Zentrum der Magie vor sich liegen hatte. Sie allein war der Schlüssel zwischen den Zeiten. Sie schaffte es, Gegenwart und Vergangenheit zusammenzubringen oder die entsprechenden Lücken zu reißen. Der Reverend war neben Suko stehengeblieben. Unbehaglich schabte er über seinen Kopf. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sie etwa, Inspektor?« Suko runzelte die Stirn. »Nicht genau, da bin ich ehrlich genug. Fest steht, daß mein Freund und Kollege John Sinclair verschwunden ist. Das Drachenschiff der Kriegerhorde hat ihn entführt. Er wird wahrscheinlich an diesem Ort sein, nur um tausend oder mehr Jahre zurückversetzt.« Castor schüttelte den Kopf. »Unglaublich ist das.« »Stimmt, aber es entspricht den Tatsachen.« »Sie wollen ihn zurückholen?« »Das hatte ich vor.« »Aber nicht ihn allein — oder?« Suko verzog den Mund. »Ich glaube kaum, daß es klappen wird. Oder was meinen Sie?« »Ich bin jedenfalls skeptisch.« Castor schaute nach vorn, wo sich der schmucklose Altar befand. »Sinclair wird nicht allein hier erscheinen, das
steht fest. Er wird die Horde mitbringen, die über unseren Ort herfällt und grausam wüten wird.« »Das müßten wir verhindern.« »Wie denn?« rief der Reverend erregt. »Wissen Sie die Lösung? Ich nicht. Kommen Sie mit, Inspektor.« Er umklammerte Sukos Arm und zerrte ihn weiter. »Bitte, schnell.« Suko tat ihm den Gefallen. Castor hatte auch ein Ziel gehabt. Vor den vier Särgen blieben sie stehen. »Soll ich sie öffnen, Inspektor?« »Weshalb?« »Der Gendarm hat sich der Meute in den Weg gestellt. Sie brachten ihn auf grausame Weise um. Eine Streitaxt spaltete ihm den Schädel. Er hat furchtbar gelitten. Seine verzweifelten Schreie waren überall im Ort zu hören gewesen. Wollen Sie das vielleicht wiederholen?« »Nein.« »Dann müssen Sie die Brut lassen, wo sie ist. Der Tod aus dem Norden darf Seabrake nicht noch einmal überfallen. Leif, der Grausame, ist ihr Anführer. Er kennt kein Pardon. Jeder, der sich ihm in den Weg stellt, wird vernichtet.« »Das weiß ich alles, Reverend. Leider müssen wir es in Kauf nehmen. Wir können nichts daran ändern. Es gibt nur eine Chance.« »Ja, wir, aber nicht die anderen Menschen. Sie sind nicht so gut ausgerüstet wie Sie. Die Leute werden vor Angst schreien. Sie werden zusehen müssen, wie die Brut den Ort dem Erdboden gleichmacht. Es wird keinen Überlebenden geben. Vielleicht sehe ich es auch zu düster, aber ich bin mir ziemlich sicher.« Sukos Gesicht zeigte einen nachdenklichen Ausdruck. »Wir sollten sie Ihrer Meinung nach also noch in der Vergangenheit lassen.« »Ja.« »Auch Sinclair?« »Inspektor — ich wäre der letzte, der die Opfer gegeneinander aufrechnet. Das ist wider die Moral. Aber ist es nicht besser, wenn nur einer verschwunden bleibt, als daß die Bewohner einer ganzen Ortschaft ums Leben kommen?« »Nein. Ich will alles oder nichts.« Castor hob den Zeigefinger. »Sie spielen mit Menschenleben, Suko. Sie spielen damit.« »Es mag brutal und unmenschlich klingen, Reverend, aber das bin ich gewohnt.« »Ach ja?« »Leider.« »Und wie viele haben Sie dabei auf dem Gewissen? Sagen Sie es mir. Wie viele?« »Fragen Sie mich anders herum. Wie viele haben wir schon bei derartigen Aktionen gerettet?«
»Das hört sich überheblich an.« »Mag sein, aber es ist nicht der Fall. Wir haben tatsächlich sehr viele Menschenleben retten können, auch wenn das nicht in Ihren Kopf hineingeht, was ich verstehe.« Der Reverend hob die Schultern. »Ich selbst kenne Ihren Ruf, ich muß Ihnen glauben.« Suko deutete auf die Särge. Innerhalb der düsteren Kirche wirkten sie noch schauriger. »Es ist schlimm genug. Ich möchte nicht, daß es noch schlimmer wird. Mein Plan steht fest. Wir werden die Zeitparadoxen auflösen. Wir ziehen die Nadeln aus der Puppe, dann sind die Wikinger gezwungen, ihre Zeit zu verlassen, und sie können sich nicht mehr auf die Magie der Puppe verlassen.« Der Reverend freundete sich mit dem Gedanken allmählich an. »Nur die Nadeln herausziehen? Was geschieht mit der Puppe? Ich glaube nicht, daß sie damit zerstört wäre.« »Dann helfen wir nach.« »Wie? Etwa verbrennen?« »Zum Beispiel.« Der Geistliche schaute in die Kirche hinein, ohne bewußt etwas wahrzunehmen. Schließlich hob er die Schultern. »Ich kann mich nicht einmischen. Meine Bedenken kennen Sie, Inspektor, aber Sie sind der Fachmann, nicht ich.« »Noch einmal. Es ist ein Wagnis, Reverend. Nur bleibt uns keine andere Chance.« »Dann tun Sie es, in Gottes Namen!« Und Suko begab sich an die ungemein schwierige Aufgabe, von der er selbst nicht wußte, ob sie klappte. *** Wieder war ich klatschnaß geworden und durchgefroren. Aber ich hatte das Ufer erreicht und war von der Horde nicht verfolgt worden. Ihnen steckte der Schock noch zu tief in den Knochen. Sie konnten einfach nicht nachvollziehen, was da abgelaufen war. Ich — ein Fremder — hatte sie mit ihrer eigenen Magie überrascht und geschlagen, wobei ich mir selbst noch nicht darüber im klaren war, wie alles abgelaufen war. Jedenfalls hing es mit der Puppe zusammen. Von ihrbesaß ich eine Nadel, die ich weiterhin hüten wollte wie einen Schatz. Die letzten Yards watete ich an Fand. Ich kam aus dem Dunkel der Nacht, während vor mir die Feuer flak-kerten. Sie schufen gewaltige Inseln aus langen Flammenarmen, breiteten ihr gespenstisch flackerndes Licht aus, das schattenhaft über die einfachen Holzbauten der Wikinger fiel und den Felsen ein geisterhaftes Aussehen gaben.
Diese Felsen waren auch für mich wichtig, denn sie konnten mir die entsprechende Deckung geben. Über nasse Steine sprang ich hinweg, bis ich den schmalen Sandstreifen erreichte, aus dem auch zahlreiche Grasinseln hervorschauten. Die Felsblöcke wuchsen hoch genug, um für mich als Verstecke dienen zu können. Zunächst einmal wollte ich nichts tun und nur beobachten. Ich mußte mir einfach ein Bild verschaffen und herausfinden was die Wikinger vorhatten. Zunächst einmal konnte ich froh darüber sein, nicht in meiner Zeit zu stecken. Da hätten die Wikinger geraubt und geplündert, auch gemordet. Hier verhielten sie sich ziemlich friedlich. Die Krieger, die an Bord geklettert und das Schiff dann so überstürzt verlassen hatten, waren längst wieder an Land gegangen und hatten sich zu den anderen der Gruppe gesellt. Ich blieb noch hocken, denn ich dachte auch an Clive Bracidock, der im Dorf zurückgeblieben war. Entdeckt hatte ich ihn noch nicht. Bestimmt lag er in der Hütte und wartete darauf, daß er befreit wurde. Mir fiel auf, daß einige Männer große Holzpflöcke schleppten und sie zu einem bestimmten Ort brachten, der für mich leider nicht einsehbar war. Es lag auf der Hand, daß sie dort etwas vorhatten. Möglicherweise würde ein Ritual beginnen, eine magische Beschwörung, die in eine Opferung gipfelte. Bei dem Gedanken spürte ich den kalten Schauer über meinen Rücken rinnen. Für mich gab es nur eine Person, die möglicherweise geopfert werden konnte. Braddock! Aus diesem Grund mußte ich ihn so schnell wie möglich aus der Hütte herausholen, da er mit mir zusammen den Rückweg in unsere Zeit antreten mußte. Die Krieger waren mit sich selbst beschäftigt. Zum erstenmal waren mir auch die Frauen der Wikinger aufgefallen. In ihrer Kleidung unterschieden sie sich kaum von den Männern, auch vom Körperbau her glichen sie den männlichen Geschlechtsgenossen. Sie waren ziemlich klein und stämmig. Nur die blonden Haare fielen mir auf. Ich hatte mich auf den Weg gemacht und lief tief geduckt. Der Wind pfiff über meinen Rücken hinweg. Die nasse Kleidung setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Neben der ersten Hütte blieb ich stehen. Sie lag ziemlich abseits und wurde auch nicht vom Restlicht des Feuers umschmeichelt. Jemand befand sich in ihrem Innern. Der Eingang war durch ein Fell verhängt worden. Ich kroch auf ihn zu und hob das Fell an, damit ich in den Bau hineinschauen konnte.
Dort brannte ein Talglicht. In seinem Dunstkreis hockten mehrere junge Mädchen. Sie paßten auf Kleinkinder auf, die eingewickelt in farbigen Holzwiegen lagen. Die Mädchen besaßen ziemlich breite Gesichter, wobei mir wieder das blonde Haar und die hellen Augen auffielen. Sie unterhielten sich, kicherten, nähten und spielten mit Perlen, die sie auf Schnüre reihten. Ich ließ die Klappe wieder fallen und blieb so dicht am Boden liegen, daß ich mit ihm verschmolz. Wichtig war einzig und allein Clive Braddock. Ich wollte auf keinen Fall, daß die verfluchten Wikinger ihn töteten. Immer die Feuer umgehend näherte ich mich der Flutte, in der auch ich mal gefangen gewesen war. Vor den Eingang hatte noch niemand ein Fell gehängt. Es patroullierten auch keine Wächter mehr, was mich wiederum mißtrauisch machte und den Verdacht in mir aufkeimen ließ, daß Clive Braddock gar nicht mehr da war. Vergewissern wollte ich mich jedenfalls und legte auch die letzten Yards zurück. Dabei schleifte ich über den Boden, hatte Glück, weil niemand auf mich achtete, und kroch in die Hütte. Keine Spur von Braddock. Aber eine andere Person saß dort eingehüllt in eine Decke, das lange, dichte blonde Haar zu Zöpfen geflochten und mich anstarrend wie einen Geist. Ich mußte ähnlich aus der Wäsche geschaut haben, dachte allerdings auch an die Gefahr, die mein Kommen heraufbeschworen hatte. Wenn die Kleine einen Warnschrei ausstieß, war ich möglicherweise geliefert. Vor ihr flackerte ebenfalls ein Talglicht. Deshalb konnte ich ihr Gesicht auch gut erkennen. Plötzlich öffnete sich der Mund. Der Schrecken und das Staunen auf dem Gesicht blieben zwar, nur in den Augen leuchtete die Furcht. Ich rechnete mit einem Warnschrei. Deshalb war ich schneller. Nur ein dumpfes Geräusch quetschte sie hervor, als ich ihr meine Hand auf die Lippen legte. Die Frau wollte sich wehren, sie besaß sogar Kraft und war erst ruhig, als ich meinen Silberdolch gezogen hatte und ihn ihr unters Kinn drückte. Eine derartige Waffe kannte sie, wenn auch nicht aus dem Material. Sie gab auf und fiel nach hinten. Dabei löste sich die Decke von ihren Schultern. Darunter trug sie ein bleiches, kittelähnliches Kleid. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Die Kleine konnte fünfzehn, aber auch fünfundzwanzig Jahre alt sein. Das Gesicht war fein geschnitten, nur der breite Mund paßte nicht dazu.
Unbeweglich blieb sie liegen, den Blick auf meinen Silberdolch gerichtet. Sie wußte auch, ohne daß ich ein Wort verlor, wie sie sich verhalten mußte. Als ich sie ansprechen wollte, wurde mir erst bewußt, daß sie mich gar nicht verstehen konnte. Trotzdem sagte ich drei Worte. »Wer bist du?« Zuerst flackerte ihr Blick, dann gab sie mir Antwort. Einen Satz, mit dem ich nichts anfangen konnte, aber es gab ein Wort, das sie mehrmals wiederholte. Freya! Ich brauchte nicht lange zu überlegen, denn mir fiel ein, daß Freya ein nordischer Name war. Deshalb ging ich davon aus, daß diese junge Frau Freya hieß. Auch ich wiederholte den Namen mehrere Male, und sie nickte jedesmal dabei. Wir verstanden uns also. Nur hätte ich gern gewußt, wo Braddock steckte, und dachte darüber nach, wie ich ihr das begreiflich machen konnte. Mit Handbewegungen und irgendwelchen Zeichen. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, nur fühlte ich mich als der große Künstler und Pantomime. Ich schaute in die hellen Augen des Mädchens. Die Pupillen kamen mir klar wie Bergseen vor. Sie wirkten wie mit dem Pinsel hineingetupft. Das Gesicht blieb ohne Bewegung, die breiten Lippen schimmerten, weil auf ihnen kleine Speichelbläschen lagen. »Verdammt, wo steckt Braddock? Was habt ihr mit ihm vor?« Ich hatte kurzerhand losgeredet und bekam mit, wie sie meinen Worten lauschte. Freya gab Antwort. Sie redete schnell und flüsternd. Natürlich verstand ich nicht, was sie meinte. Ich achtete nur auf das Gesicht, dessen Ausdruck mir nicht gefiel, denn er zog sich in die Breite und kam mir verbissen vor. Wußte sie mehr? Zum Schluß lachte sie. Egal, in welcher Zeit Menschen gelebt hatten, das Lachen hatte sich nicht verändert. So auch hier, denn sie lachte sehr schrill und irgendwie bösartig. Dabei hatte ich ihr nichts getan. Möglicherweise lag es an meinem Dolch, der auch weiterhin vor ihrem Gesicht zitterte. Ich wollte etwas unternehmen, als ich am Eingang Schritte hörte. Dann waren sie da. Sie quollen in die Hütte hinein, waren bewaffnet und wollten sich auf mich stürzen. Ich handelte blitzschnell, riß Freya hoch, die einen Schrei ausstieß, und zerrte sie gleichzeitig herum, so daß ich sie von hinten her packen konnte.
Plötzlich lag das Messer an ihrer Kehle. Es ging mir selbst gegen den Strich, nur sah ich keine andere Möglichkeit, die vier Krieger in Schach zu halten. Dieses Zeichen mußten sie verstehen! *** Sie verstanden es auch, denn sie standen auf der Stelle, ohne auch nur Anstalten zu machen, mich anzugreifen. Ich hatte Freya auf die Zehenspitzen ziehen müssen, um sie in der Lage zu halten, weil sie ziemlich klein war. Ihre lautes Atmen hallte durch die einfache Hütte. Wie eine bleiche Silbersichel hing der Dolch vor ihrer Kehle. Die vier Krieger hatten hier >aufräumen< wollen. Sie waren in die Hütte gestürzt wie die Wilden und mußten nun erkennen, daß ich die besseren Karten besaß. Ich sagte kein Wort; es wäre sowieso sinnlos gewesen. Meine Haltung ließ keine Diskussionen zu. Dafür redete Freya, und das wiederum wunderte mich. Andere Frauen wären vermutlich völlig verschüchtert gewesen. Sie aber fing sich ziemlich schnell und zischelte den Kriegern etwas zu. Einer antwortete ihr. Danach sprach Freya wieder. Wenn ich mich nicht sehr irrte, hatte ihre Stimme sogar erleichtert geklungen. Das wiederum gefiel mir nicht besonders. Trotz meiner augenblicklich guten Situation war ich noch lange nicht gerettet. Ich befand mich auf feindlichem Gebiet, auf dem die Schlinge immer enger gezogen wurde. Freya bewegte den Kopf kaum, dafür die Augen. Sie versuchte mir etwas zu sagen. Dem Klang ihrer Worte nach zu urteilen, fühlte sie sich nicht sehr bedroht, obgleich das Messer ihre Haut am Hals berührte. Und sie lachte leise, als vorder Hütte Stimmen erklangen. Eine stach besonders hervor. Sie besaß einen befehlenden, herrischen Klang und konnte gut einem Anführer gehören. Von den vier bewaffneten Kriegern vor uns bewegten sich zwei. Sie traten zur Seite, damit sie den Eingang frei gaben und die Person mit der herrischen Stimme die Hütte betreten konnte. Es war Leif, der Grausame! Ohne es zu wollen, packte ich die Frau fester. Der Dolch in meiner Hand zitterte nicht. Ich schaute über Freyas Kopf hinweg auf den Anführer und konzentrierte mich auf dessen Augen. Es war komisch, aber ich glaubte fest daran, keiner Täuschung zum Opfer gefallen zu sein. Der Häuptling und die Frau hatten die gleiche
Augenfarbe. Auch sonst fand ich Gemeinsamkeiten in ihren Gesichtern, wie die Form des Kinns oder des Mundes. Bruder und Schwester? Möglich - es konnte auch Vater und Tochter sein. So genau waren sie für mich altersmäßig nicht einzuschätzen. Jedenfalls hatte ich mit meiner Geisel voll ins Schwarze getroffen und mir die richtige ausgesucht. Stellte sich allerdings das Problem des Austauschs. Gern hätte ich die Frau freigelassen und gegen meinen Begleiter Braddock ausgetauscht. Dem Häuptling das allerdings klarzumachen, würde schwer genug sein. Er schüttelte seinen Kopf, auf dem der Helm mit den drei Stäben saß. Das Gesicht erinnerte mich in diesem Augenblick an eine zerklüftete Landschaft. Die Lippen lagen hart aufeinander, der Mund zeigte einen dünnen Strich. »Tu es nicht!« flüsterte ich, und mir war es egal, ob er mich verstand. Ich rechnete damit, daß er mich verstand, denn zusätzlich bewegte ich noch den Dolch, ohne allerdings die Haut anzuritzen. Die Geste mußte auch so reichen. Leif blieb stehen. Aus seinem Mund drang ein keuchendes Geräusch. Er schüttelte den Schädel und sah Freya an, die schnell und hastig antwortete. Leifs Rechte fiel nach unten. Die Finger umklammerten den Griff der mächtigen Streitaxt an seiner blanken Seite. Eine derart große Waffe hatte ich noch bei keinem Wikinger gesehen. Zog er sie? »Hüte dich!« rief ich. Plötzlich grinste er. Es war ein hinterhältiger Ausdruck, gemein und wissend gleichzeitig. Er fuhr die vier Krieger mit harten Worten an, die auf der Stelle kehrtmachten und die Hütte verließen. Leif, der Grausame, blieb. Er fixierte mich mit harten Blicken. Dann schnellte sein rechter Arm vor wie eine Lanze. Der ausgestreckte Finger deutete auf mich, und über seinen Arm hinweg sprach er mich mit rauher Stimme an. Ich verstand kein Wort, entnahm jedoch dem Klang der Stimme, daß es sich um eine wüste Drohung handeln mußte. Dann endete er, drehte sich herum und ging mit festen Schritten weg. Freya und ich blieben zurück. Weshalb hatte Leif die Hütte verlassen? Warum ließ er uns allein? Die Frau gab mir die Antwort. Sie sprach schnell und flüsternd. Es brachte nichts, weil ich kein Wort verstand. Mir war natürlich klar, daß ich nicht ewig hierbleiben konnte. Ich mußte raus aus der Hütte. Zwischen diesen Wänden kam ich mir doppelt gefangen vor. Um wegzukommen, mußte ich das Drachenschiff und die Puppe in die Hände bekommen, was verdammt schwer sein würde.
Ich ließ einige Zeit verstreichen und dachte über mein weiteres Vorgehen nach. Was immer ich auch tat, auszurechnen war nichts. Ich würde stets Überraschungen erleben. Freya war in meinem Griff einfach zu schwer geworden. Ich hatte sie wieder normal hingestellt, bedrohte sie allerdings weiterhin, und sie traf auch keine Anstalten einer Gegenwehr. Ich fror. Die nasse Kleidung klebte an meinem Körper. Gleichzeitig verspürte ich Durst. Meine Kehle kam mir vor wie ein ausgetrocknetes Flußbett. Bevor ich mich zu einer Entscheidung überwinden konnte, passierte etwas anderes. Es hatte weder mit Freya noch mit mir zu tun. Von draußen vernahm ich die dumpfen, dröhnenden Echos der Frommein und kam mir plötzlich vor wie in einer anderen Welt. Voodoo . . .! Das dumpfe Hämmern der Hände auf die straffe Bespannung der Trommeln. Der sonderbare Klang, der nicht hart war, sondern als weiche, eindringliche Botschaft über das Land und zu den Menschen geschickt wurde. So begannen die Rituale, die großen Beschwörungen, die mit dem Tod und der Überwindung des Todes endeten und aus Menschen Zombies machten. Ich hätte Freya gern gefragt, weshalb die Trommeln geschlagen wurden. Das war nicht möglich. So mußte ich mir den Grund eben zusammenreimen. Ich konnte ihn mir vorstellen. Mich hatten sie nicht als Opfer, aber Clive Braddock. Wahrscheinlich wurden die Trommeln seinetwegen geschlagen. Gesehen hatte ich ihn in der letzten Zeit nicht. Ich ging davon aus, daß sie ihn auf den Dorfplatz geschafft hatten, wo sich sein Schicksal erfüllen sollte. Allmählich ging ich davon aus, daß Freya noch etwas länger meine Geisel bleiben würde. Ich legte die Hand mit dem Messer auf die rechte Schulter und kantete die Klinge. Die Spitze zeigte jetzt auf ihre Wange. Die andere Handfläche drückte ich in ihr Kreuz. Die Geste mußte sie einfach begreifen. Freya ging vor. Es war ein Risiko, die Hütte durch den normalen Eingang zu verlassen. In der Nähe versteckt konnten Krieger lauern, die nur auf mich warteten. Das aber war zum Glück nicht der Fall. Wahrscheinlich war ich als zweites Voodoo-Opfer vergessen worden. Jedenfalls entdeckte ich keine unmittelbare Gefahr. Es kam mir vor, als hätten die Wikinger bewußt Abstand genommen.
Mir sollte es recht sein. Freya hatte ich wieder fester gepackt. Auch das Messer lag dichter an der Kehle. Wir gingen langsam. Ich wollte ihr nicht durch unüberlegte Bewegungen schaden. Töten wollte ich sie schließlich nicht. Die Feuer hatten neue Nahrung bekommen und brannten knisternd und funkensprühend. Kleine Glutteile zerplatzten und sprühten wie eine Wunderkerze in der Dunkelheit. Eine schaurige Szenerie aus Feuer und tanzenden Schatten hatte uns empfangen. Und über allein schwebte der dumpfe Klang der VoodooTrommeln. Wo sie geschlagen wurden, konnte ich nicht erkennen. Der Klang hatte sich nur verstärkt und übertönte sogar das Rauschen des Wassers. Wahrscheinlich mußten der oder die Trommler dort stehen, wo die Felsen eine hohe Mauer bildeten, denn der Klang ertönte von dort. Ob wir beobachtet wurden, war ebenfalls nicht festzustellen. Ich jedenfalls gab höllisch acht, schaute auch öfter zurück, weil ich im Rücken keine Augen hatte und nicht unbedingt angegriffen werden wollte. Bisher hatte alles gut geklappt. Niemand verfolgte uns. Auch Leif, den Grausamen, sah ich nicht. Wie es schien, wollte er sich um seine Tochter oder Frau nicht kümmern, was mich bedenklich stimmte. Wir schritten dem Klang der Trommeln entgegen. Freya traf keinerlei Anstalten, sich zu befreien. Sie kam mir gleichgültig vor und sagte kein Wort. Der Platz zwischen den Hütten wurde von den flak-kernden Feuerstellen ausgeleuchtet. Auf dem Boden malten sich die huschenden Schatten ab. Einmal kam ein Krieger ziemlich dicht an uns heran, blieb stehen, machte sofort kehrt und lief auf die Felswand zu. Und dort entdeckte ich Clive Braddock! Der Widerschein des Feuers strich über seine am Boden liegende Gestalt. Er hing in einem Netzwerk aus Tauen das ihn in der Lage hielt. Aus eigener Kraft kam er nie frei; diese Fesselung war mehr als teuflisch. In mir stieg ohnmächtige Wut auf, auch deshalb, weil ich Krieger in seiner Nähe sah, über deren blanke Waffen das Schattenspiel der Flammen hinweghuschte. Auch die Trommler entdeckte ich. Es waren zwei. Sie hockten zu beiden Seiten Braddocks am Boden und schlugen mit ihren flachen Händen auf die straffe Bespannung. In mir kochte es. So einfach bekam ich Clive Braddock niemals frei, das stand fest. Ich konnte nicht einmal erkennen, ob er noch lebte oder schon tot war. In diesem Moment kam ich mir verdammt allein vor und verfluchte mein Schicksal.
Freya lachte leise. Sie hatte gespürt, was in mir vorging, und glaubte fest daran, daß sie gewinnen würde. »Keine Sorge, Mädchen, noch bin ich da. Wenn Braddock stirbt, geht es auch dir schlecht!« Sie reagierte nicht mehr und ließ sich von mir wieder vorschieben. Ich schaute rasch in die verschiedenen Richtungen und entdeckte die Wikinger, die den Kreis um uns enger gezogen hatten. Die Lage spitzte sich zu. Ohne Pause trommelten die beiden Krieger weiter. Vom Klang her war es das gleiche Geräusch, wie ich es aus Haiti kannte. Wo steckte Leif? Für mich war es einfach unvorstellbar, daß er alles seinen Untergebenen überlassen würde. Wenn jemand Befehle gab, dann mußte er es einfach sein. Die Trommeln waren vorhanden, die Krieger ebenfalls. Auch das Opfer. Es fehlte meiner Ansicht nach aber noch etwas sehr Wichtiges, vielleicht das Wichtigste überhaupt. Die Puppe! Sie sah ich ebensowenig wie Leif, den Grausamen. Ich konnte mir vorstellen, daß er unterwegs war, um die Puppe zu holen. Vielleicht blieb mir diese Spanne als Galgenfrist. Auf dem direkten Weg näherte ich mich dem Gefangenen nicht. Ich hätte dann durch das Feuer gehen müssen, was ich auch nicht wollte. Freya zeigte auch jetzt noch keinen Widerstand. Möglicherweise wartete sie auf eine günstige Gelegenheit, die bestimmt kommen würde, wenn Leif, der Häuptling, erschien. Den Bogen hatten wir geschlagen. Ich stand nicht mehr weit vom Netz entfernt, das von mehreren schräg stehenden Stöcken gehalten wurde. Sie waren ebenfalls durch Taue und Bänder mit den Felsen verbunden und gaben dem Gestell den nötigen Halt. Die Trommler machten weiter. Wenn Braddock mich hören sollte, mußte ich schreien. Darauf konnte ich verzichten. Ich wollte meine Lage nicht noch mutwillig verschlechtern. Clive Braddock hatte seinen Kopf nach hinten gedrückt. Er konnte nur schräg in den Himmel schauen. Mich würde er erst sehen, wenn ich dicht vor ihm stand. Wer war wichtiger? Freya oder Braddock? Ich entschied mich für ihn. Freya würde mich bei meiner Arbeit nur behindern. Sie bekam von mir zum >Abschied< einen Stoß, taumelte zur Seite, und ich huschte auf das Netz zu. Um die Trommler kümmerte ich mich nicht. Wichtig war Braddock, der einen Ruf der Überraschung ausstieß, als ich fast in das
gespannte Netz hineinfiel und mit meinem Dolch an den Stricken säbelte. »Sind Sie okay, Clive?« »Mehr oder weniger!« keuchte er. »Was haben die mit Ihnen vorgehabt?« »Keine Ahnung. Die sind mit sich selbst beschäftigt. Das ist die Nacht der Nächte für sie.« Ich säbelte weiter, der Körper federte hoch und mir entgegen. »Wie soll ich das verstehen?« »Die Nacht des Todes. Wir haben uns den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Heute werden sie zu Zombies. Die haben die Puppe vom Schiff geholt, da werden wir noch Spaß bekommen.« Ich zerrte Braddock von den Resten des Netzes weg. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die harte Fesselung hatte für einen Blutstau gesorgt. Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt blieb er stehen. Da war er zunächst in Sicherheit. Ich kam überhaupt nicht mehr zurecht. Wieso war das die Nacht der Nächte? Was hatten die Wikinger vor? Das Trommeln würde ich als Echo noch lange in den Ohren behalten, auch wenn es nicht mehr zu hören war. Es war so gleichmäßig, so daß ich mißtrauisch wurde und auf den rechten der beiden Trommler zuging. Er nahm mich nicht zur Kenntnis. Selbst als ich dicht vor ihm stand, hörte er nicht damit auf, seine Arme zu bewegen. Er schaute nicht einmal hoch. Ich trat gegen die Trommel. Sie kippte und rollte fast in das Feuer hinein. Dann zerrte ich den Kerl auf die Füße, sah in sein Gesicht — und erkannte den toten Blick der Augen. Ja, leer und tot! Dafür gab es nur eine Erklärung. Dieser Trommler war kein Mensch mehr. Der unheimliche Zauber der Voodoo-Magie hatte ihn längst in einen Zombie verwandelt. Ich ließ ihn los. Er prallte mit dem Rücken auf, kein Laut drang aus seinem Mund. Ich verkniff es mir, den zweiten Trommler zu untersuchen. Bei ihm hätte ich das gleiche festgestellt. Braddock kam mir mit unsicheren Schritten entgegen. »Na, Sinclair, habe ich recht gehabt?« »Ja, er war bereits tot gewesen.« »Klar, und so wird es den anderen auch ergehen, darauf können Sie sich verlassen.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe es gespürt, diese Nacht wird ihnen das ewige Leben geben.« »Unsinn, das ist. ..« »Hören Sie, Sinclair. Vergessen Sie nicht, was in unserer Zeit geschehen ist. Meine Eltern haben sich mit den Wikingern beschäftigt.
Sie waren es, die die Puppe ausgruben. Sie kannten den Zauber, sie haben es gespürt.« »Okay, Clive, okay. Noch mal von vorn, ich bin heute etwas begriffsstutzig.« »In dieser Nacht werden die Wikinger sterben, um das Leben zu bekommen. So meine ich das. Und wir können zuschauen.« Er schob sein Gesicht nahe an mich heran. »Ja, Sinclair, wir, die Zeitreisenden, sind Zeugen. Ist das nicht irre?« »Es kommt darauf an.« »Und dann werden wir in der Vergangenheit verschollen bleiben. Es gibt keine normale Zukunft mehr für uns. Wir haben zwar im zwanzigsten Jahrhundert gelebt, werden aber tausend Jahre früher sterben. Ist doch auch was, oder nicht?« »War das Ihre Absicht, als Sie auf das verdammte Drachenschiff zu rannten?« »Nein, bestimmt nicht. Ich war nur unheimlich geschockt über den Tod meiner Eltern. Ich habe plötzlich durchgedreht, Sinclair. Ihr I'ech, daß Sie mir gefolgt sind.« »Wir müssen hier raus.« »Klar, dafür bin ich auch. Erklären Sie mir nur den Weg. Sollen wir uns ein Boot entern und in die Gegenwart rudern? Ist es das, was Sie vielleicht wollen?« »Reden Sie keinen Unsinn, Mann.« »Machen Sie einen besseren Vorschlag.« »Erst mal ist wichtig, daß wir uns beide aufeinander verlassen können und einer nicht aus der Reihe tanzt. Ich bin der Ansicht, daß die Puppe eine wichtige Rolle spielt.« »Ich auch.« »Wo ist sie?« »Keine Ahnung, ich habe sie nicht gesehen. Vielleicht befindet sie sich auf dem Schiff.« »Da habe ich sie gesehen.« »Dann müßte sie noch dort sein.« Ich starrte Braddock an. »Nein, das glaube ich nicht. Sie werden die Puppe an Land geholt haben, um .. .« Er hatte an mir vorbeigeschaut und streckte den Arm aus. »Da ist sie doch, zum Henker!« Ich drehte mich um. Das war mein Fehler, denn Braddock hatte schon ausgeholt und hämmerte mir die Faust in den Nacken. Der Treffer schleuderte mich nach vorn. Raste der Boden auf mich zu, raste ich ihm entgegen? Es war nicht herauszufinden. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, weggeschwemmt zu werden. Als letztes hörte ich das Lachen des Mannes und auch seinen knappen Kommentar.
»Du wirst uns nicht stören, Sinclair, du nicht...« *** Ich störte sie auch nicht, denn ich konnte mich nicht bewegen. Es war einer dieser Zufallstreffer gewesen, der mich an den Rand der Bewußtlosigkeit gebracht hatte. Ich bekam einiges von dem mit, was in meiner Umgebung geschah, konnte aber selbst nicht eingreifen. Ich war durch den Hieb paralysiert worden. Bewegungslos lag ich auf dem Bauch, merkte kaum, daß ich atmete, hörte Stimmen aus weiter Ferne und wußte dennoch, daß die Sprecher sich in meiner Nähe befanden. Hände faßten mich an der Schulter und drehten mich auf den Rücken. Jemand fingerte unter meiner Jacke und holte die Beretta hervor. Das konnte nur Braddock sein. Die Augen hielt ich seltsamerweise offen, schielte in die Höhe und sah das Gesicht des Mannes wie einen schweißglänzenden Klumpen über mir schimmern. Dann verschwand es. Dafür erschienen andere Gesichter in meinem Blickfeld. Von Fratzen wollte ich nicht sprechen. Sie blieben glatt und gehörten den Kriegern. Hände packten und schleiften mich zur Seite. Ich spürte die Warme des Feuers im Rücken, bevor ich gegen einen harten Gegenstand gelehnt wurde. Das Feuer zeichnete Schatten in die Luft und auf den Boden. Dazwischen bewegten sich die Körper der Wikinger. Den verräterischen Braddock sah ich nicht. Was hatten sie vor? Mir fiel wieder ein, daß von der Nacht der Nächte gesprochen worden war. Tot konnten die Wikinger nicht sein. Ich hörte sie miteinander reden, und manchmal erklang ihr rauhes Lachen. Jemand trat unmittelbar vor mich. Es war Freya. Böse blickte sie zu mir hinab. Mit beiden Händen hielt sie ein mächtiges Schwert umklammert. Hinter ihr zeichnete sich die Gestalt des Häuptlings ab. Wie ein böser Schatten wirkte er. Sein Gesicht schimmerte rötlich. Fr sagte etwas zu Freya, die nur nickte, das Schwert bewegte — und die Klinge auf mich zustieß! Sie hätte meine Brust in der Mitte getroffen, wäre sie nicht eine Handbreit davor gestoppt worden. Noch immer machte mir der Schlag zu schaffen. Mein Körper war steif geworden, als hätte man ihn in Eis gelegt. Nur einer trommelte noch.
Das nicht ohne Grund, denn hinter Leif, dem Grausamen, entstand Bewegung. Mehrere Gestalten schälten sich aus der Finsternis, und sie trugen auf ihren Schultern ein Gestell. Es mußte so etwas wie einen Thron darstellen, denn auf ihm stand, ebenfalls durch Seile gehalten, die Puppe. Meine Augen weiteten sich. Der alte Medizinmann aus dem Schwarzen Erdteil wirkte im Licht der Flammen noch schauriger und scheußlicher. Das Feuer tanzte über sein Gesicht, die schwarzen Nadeln wippten bei jeder Bewegung, und der Widerschein verlieh dem Gesicht ein unheimliches Leben. Ich schüttelte mich. Die Starre ließ nach . . . Freya hatte nicht zugestoßen und sich wieder zurückgezogen. Die Krieger kamen von überall her, nur Männer, keine Frauen. Auch Freya zog sich zurück. Was hatten sie vor? Sollte jetzt endlich das eintreffen, vor dem mich Braddock, der Verräter, gewarnt hatte? Ich mußte warten und bekam mit, wie die Puppe abgestellt wurde. Die Krieger traten zur Seite; mein Blick traf die unheimliche Mumie direkt. Lebte das Gesicht? Oder waren es nur Schatten, die ein Leben vortäuschten? Schleifende Geräusche unterbrachen meine Gedanken. Zuerst wußte ich nicht, was sie zu bedeuten hatten, dann aber bekam ich es zu sehen und konnte es kaum glauben. Die Wikinger wollten sich töten! Sie hatten ihre Arme angehoben und die Messer gegen sich selbst gerichtet. Wenn sie die Waffen von einer Seite zur anderen zogen, würden sie sich selbst die Kehlen durchschneiden. Ich wollte schreien, sie von diesem Wahnsinn abhalten und wußte, daß es keinen Sinn hatte. Leif, der Grausame, gab den Befehl. Er brüllte irgend etwas — und zog die Klinge von links nach rechts. Sie berührte seinen Hals. Ich sah die dunkle Flüssigkeit hervorquellen. Vor meinen Augen töteten sich auch die anderen Krieger und gaben ihre Seelen in die Obhut des Voodoo-Priesters, dieser uralten Mumie, die Ähnlichkeit mit einer Puppe besaß. Sie starben, ohne ein Wort zu verlieren. Sie brachen zusammen und fielen zu Boden, wo sie mit verrenkten Gliedern regungslos liegen blieben. Obwohl sich die Starre gelöst hatte, war es mir unmöglich, zu sprechen. Mein Magen hatte sich zusammengezogen. Was ich hier sah, war eine der schlimmsten Szenen gewesen, an die ich mich erinnerte. Aber die Krieger vertrauten voll und ganz auf die schwarzafrikanische Kraft. Andere Fälle hatten mir dies bewiesen. Da waren sie als Zombies
zurückgekehrt. Und zwar genau an dem Platz, den sie sich in dieser Zeit zum Sterben ausgesucht hatten. Nur hatte da noch kein Ort namens Seabrake existiert. Lebte ich noch als einzige männliche Person im Lager? Waren alle Krieger tot? Das konnte gut sein, aber was war mit Braddock? Er kam. Ich sah ihn, wie er sich von der Seite her anschlich. »He, Sinclair, wie fühlen Sie sich?« »Jetzt kommen Sie sich wohl verdammt überlegen vor, wie?« »Nein, überhaupt nicht. Ich habe das tun müssen, sonst wären Sie jetzt auch tot.« »Tatsächlich?« »Ja. Die wollten, daß Sie sich Ihre eigene Kehle durchschneiden.« »Gut. Ich will Ihnen das mal so glauben.« Er hatte sich gebückt und umklammerte meine Schultern. »Meine Güte, ich mußte Sie auf diese Art und Weise beschützen, glauben Sie mir. Es ging nicht anders. Wir wollen doch wieder hier wegkommen. Ich . . . ich habe Sie für tot erklärt.« Überzeugt hatte er mich noch nicht. »Okay, dann verraten Sie mir bitte, weshalb Sie noch leben?« »Ich habe mich mit ihnen arrangieren können.« »Sie beherrschen die Sprache?« »Ein wenig.« »Wie das?« »Durch meine Eltern. Sie haben sich mit der Erforschung des Volkes beschäftigt und auch Bruchstücke ihrer alten Sprache lernen können, die sie mir beibrachten. Sie brauchen keine Furcht mehr zu haben, Sinclair, die Sache ist erledigt.« »Wir müssen nur noch zurück.« »Klar, das schaffen wir auch. Es ist mit der Puppe möglich. Die Wikinger haben auf diese komische Voodoo-Puppe all ihre Hoffnungen gesetzt.« »Wir können sie nicht zerstören.« »Das stimmt.« Er nickte zweimal. »Vielleicht gelingt es uns, daß sie für uns arbeitet.« »Toll — und wie?« »Kennen Sie sich in der Voodoo-Magie aus, Sinclair?« »Ein wenig.« »Dann müssen Sie . . .« Er öffnete den Mund, seine Augen weiteten sich ebenfalls, und ich sah einen Ausdruck in ihnen, der auf das Schlimmste schließen ließ. Plötzlich strömte Blut aus seinem Mund. Es tropfte mir auf die Brust. Ich sah hinter ihm einen Schatten, dann ruckte Clive Braddock, bevor er einen Stoß bekam, der ihn zur Seite beförderte. Zwischen mir und der Puppe blieb er liegen. Genau dort starb er mit einem letzten Röcheln auf den Lippen, während mein Blickfeld freigegeben worden war und ich die Person erkannte, die ihn mit einem Schwert getötet hatte. Es war Freya! Aufrecht wie eine Rachegöttin stand sie vor mir, starrte auf die Klinge, an der noch das Blut des Getöteten klebte.
Sie hatte Clive ermordet; er war der erste gewesen. Es lag auf der Hand, daß sie mich als zweites Opfer ausgesucht hatte. Verdammt noch mal, hatte ich gewußt, daß der Fall in eine derartige Grausamkeit münden würde, ich hätte wohl das Schiff nicht geentert und wäre bei Suko geblieben. Verständigen konnten wir uns nicht. In diesem Fall spielte es keine Rolle, denn ich erkannte in ihren Augen, was sie vorhatte. Die Krieger halten den Tod gesucht, ich lebte noch. So etwas konnte Freya nicht begreifen und fassen. Dem mußte sie einfach einen Riegel vorschieben. Sie wischte das Blut von der Klinge, indem sie diese an der Kleidung reinigte. Auf dem Fell blieb ein braunroter Streifen zurück. Konnte ich es überhaupt schaffen, sie vom Gegenteil zu überzeugen? Nicht durch Worte, auch nicht durch Bitten. Diese Person war auf Mord eingeschworen. Man soll Toten nichts Schlechtes nachsagen, aber Braddock hätte sich wirklich eine andere Lösung aussuchen können, als mich niederzuschlagen. Die Schwäche nahm meinen Körper immer noch gefangen. Es würde mir kaum in diesem Zustand gelingen, dem Schwertstreich auszuweichen. Andere Menschen bemerkte ich nicht. Nur Freya und ich lebten, abgesehen von der Puppe, die in unserer Nähe stand und in deren Körper die Nadeln noch immer steckten. Ich konnte sie sehen. Dabei überkam mich wieder der Eindruck, einer lebenden Person gegenüberzustehen, was an den Schatten liegen konnte, die über ihre Gestalt tanzten. Freya ging noch einen Schritt vor. Sie wollte so dicht wie möglich an mich heran. Okay, meine Beretta trug ich noch bei mir, aber ich fühlte mich einfach zu schwach, um an die Waffe heranzukommen. Um jetzt noch etwas reißen zu können, hätte ich che Pistole mit einer blitzschnellen Bewegung ziehen müssen. Freya wirkte auf mich zu allem entschlossen. Sie streckte den rechten Arm vor. Diese Bewegung machte auch das Schwert mit. Ich erkannte, daß sich mir die Klinge gefährlich näherte. Sie zielte genau auf meine Brust. Wenn Freya die Richtung beibehielt, würde sie meinen Körper durchstoßen. Ich verkrampfte mich, schielte auf das Metall und flüsterte ihr zu: »Das kannst du nicht machen, Mädchen. Sei nicht verrückt. Ich bin nicht gekommen, um zu sterben, ich . . .« Sie gab mir keine Antwort. Aber in ihrem Gesicht malte sich etwas ab, was ich nicht verstand. War es ein Schrecken, war es vielleicht die Angst? So genau wußte ich es nicht. Ich tippte fast auf eine Irritation. Nur — was hatte sie verwirrt? Sie drehte sich so weit um, daß ich ihr Profil sehen konnte. Es war so hart und kantig, wie das eines Mannes. Ihr Blick glitt über die kleine
Bucht hinaus, um sich schießlich auf den Wellen des Meeres zu verlieren. Dort lag das Drachenboot! Es schaukelte am äußeren Rand der Brandung. Jemand hatte den Segelmast aufgestellt, das Segel selbst zeigte sich gebläht, obwohl kein Wind in das Leinen fuhr. Warum? Freya schaute mich wieder an. Sie flüsterte einige Worte. Für mich hörten sie sich an wie ein Fluch. Dann ballte sie die freie Hand zur Faust und legte die Stirn in Falten. Schließlich hob sie die Waffe an und deutete auf das Schill. Es mußte etwas Besonderes sein. Dieses Drachenschiff besaß ein Geheimnis. An ihm zerrten Kräfte, die von mir nicht erklärt werden konnten. Sollten sie dazu beitragen, daß mein Leben gerettet wurde? Ich wartete ab und merkte auch, daß meine erste Todesangst verschwunden war. Jemand anderer hatte die Regie übernommen. Ob eine Person oder eine Kraft, das wußte ich nicht. Das Schiff zitterte. Über ihm zeigte der Himmel einen ungewöhnlichen Schein. Die Dunkelheit der Wolkendecke riß auf wie ein breites Maul und ließ eine klare helle Farbe erkennen. Von allein und ohne Grund geschah so etwas nicht. Es mußte etwas dahinterstecken. Ich sprach Freya an, obwohl sie mich nicht verstand. Aber ich wollte ihre Reaktion mitbekommen und deutete gleichzeitig gegen den dunklen Himmel. Freya verstand mich nicht, was auch nicht nötig war, da ich nur ihre Reaktion beobachten wollte. Sie hob das Schwert an, fuhr nicht herum, um mir die Klinge in die Brust zu stoßen, sondern zeigte mit der Spitze gegen den Himmel und auf das darunter befindliehe Drachenschiff. Lag es im Wasser oder schwebte es schon über den Wellen? So genau war es für mich nicht zu erkennen. Wichtiger im Augenblick war Freya. Deren Unruhe wuchs. Sie redete ziemlich laut. Vielleicht wollte sie sich Mut machen; wer konnte das schon wissen? Sie schüttelte auch einige Male den Kopf, blickte mich an, fuchtelte mit dem Schwert und richtete ihr Augenmerk schließlich auf die Voodoo-Puppe. Beim ersten Hinsehen konnte ich keine Veränderung bei ihr feststellen. Sie stand noch immer starr, und Freya schleuderte plötzlich die Waffe weg, als wäre ihr diese zu schwer geworden. Dann lief sie auf die Puppe zu, packte sie mit beiden Händen und hob sie hoch. Was hatte sie vor?
Mit langen Schritten hetzte sie von mir weg und tauchte in der Dunkelheit unter. Warum hatte sie mich allein gelassen? Ich freute mich darüber. Der Wille, der Lebensmut waren zurückgekehrt. Ich würde es ihr zeigen, das stand für mich fest. Um mich kümmerte sie sich nicht mehr. Ich hörte sie, konnte anhand der Geräusche aber nicht erkennen, was sie tat. Dumpfe, klatschende Laute drangen an meine Ohren. Zudem quälten mich andere Sorgen. Ich wollte endlich diese verdammte Lähmung überwinden. In meinem Kopf tobte ein Gewitter, so hatte ich zumindest den Eindruck. Aber die Stiche ließen sich ertragen. Viel wichtiger war die Reaktion meiner Glieder, in denen sich Kraftlosigkeit ausgebreitet hatte. Für mich war es nicht einfach, auf die Füße zu kommen. Zuerst kroch ich auf Händen und Knien. Neben dem toten Clive Braddock ruhte ich mich aus. Dieser Fall würde mir unvergeßlich bleiben, vorausgesetzt, ich schaffte es, zu überleben. Die Wikinger waren als wildes, kämpf- und mordlüsternes Volk in die Geschichte eingegangen. Ich hatte hautnah diesen Tod aus dem Norden erlebt und konnte bestätigen, daß sich die Historiker nicht geirrt hatten. Trotz der Kälte schwitzte ich. Mein Kopf fühlte sich so heiß an, als hätte ich Fieber. Als ich auf die Beine kam und dabei zuviel Schwung genommen hatte, drehte sich der Boden im Kreis. Soeben noch konnte ich mich halten, taumelte zur Seite, fing mich wieder und atmete tief durch. Okay, es klappte. Ich blieb zumindest auf den Beinen, und meine Waffen trug ich ebenfalls. Wenn Freya jetzt kam, würde ich ihr anders gegenüberstehen als vorhin. Ich hatte jetzt eher eine Chance. Ich sah die Frau nicht. Aber dafür starrte ich auf das leere Gestell. Weshalb hatte sie die Mumie oder Puppe mitgenommen? Sicherlich nicht, um mit ihrzu spielen. Ich wußte, in welcher Richtung sie sich abgesetzt hatte, und ging ebenfalls dorthin. Fast wäre mir der Vergleich mit einem historischen Schlachtfeld in den Sinn gekommen, als ich die ersten Schritte durch die Finsternis ging. Die Feuer gaben nicht mehr den Schein ab wie sonst. Sie waren ziemlich heruntergebrannt und bekamen auch keinen Nachschub an Holz mehr. Trotzdem beleuchteten sie ein schreckliches Bild. Kein Wikinger hatte überlebt. Die meisten von ihnen hatten noch ihre Messer in den Händen, mit denen sie sich selbst gerichtet hatten. Ich versuchte, möglichst an ihnen vorbeizuschauen, und suchte die Frau oder Tochter des Anführers. War der Grausame Leif auch tot? Hatte er sich ebenfalls geopfert?
Ich hatte ihn unter den Toten nicht entdecken können. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Kalt blies mir der Wind ins Gesicht. Er durchdrang die feuchte Kleidung und hinterließ auf meinem Körper eine Gänsehaut. Ich kam näher an Freya heran, denn ich hörte sie schon reden. Sie sprach mit sich selbst, oder unterhielt sie sich mit einem anderen? Mit einer müden Bewegung wischte ich über meine Augen, ging weiter und hatte sogar die Beretta gezogen, weil ich mit der Kugel schneller sein wollte, als die Frau mit dem Schwert. Dann sah ich sie. Freya war nicht mehr allein. Sie stand mit jemandem zusammen, dessen Helm mir schon bei der ersten Begegnung aufgefallen war. Leif, der Grausame, redete mit ihr. Die Puppe entdeckte ich nicht. War sie zerstört oder an einen anderen Platz gebracht worden? Ich schlug einen kleinen Bogen und duckte mich dabei. Wenn eben möglich, wollte ich sehr spät gesehen werden. Die beiden ließ ich nicht aus den Augen. Bei Leif fiel die Bewegung auf. Ich hatte sie noch in guter Erinnerung, denn auch die anderen Wikinger hatten so gehandelt. Der Griff zur Kehle, der schnelle Schnitt... Alles lief in einer winzigen Zeitspanne ab. Dann kippte der Körper des Anführers nach hinten. Ich stand auf der Stelle und hatte die Augen geschlossen. Es wollte mir einfach nicht in den Sinn, was da geschehen war. Frcya, die neben dem letzten toten Mann stand, kam mir unwahrscheinlich groß vor. Sie war die einzige Überlebende bei diesem grausamen Ritual. Alle Männer waren tot, aber nur, um später als Zombies wieder über Menschen herfallen zu können. Mittlerweile hatte ich diese teuflischen Machenschaften durchschaut. Leider war es mir nicht gelungen, sie zu stoppen. Jetzt existierte nur noch sie. Freya hatte mich gehört. Sehr langsam drehte sie sich auf der Stelle und schaute mich an. Ich hielt meine Beretta; sie war mit dem Schwert bewaffnet. Line Kugel hätte alles klarmachen können. Den Zeigefinger krümmte ich dennoch nicht. Ich schaute Freya nur an und wartete darauf, ob sie etwas unternehmen würde oder ob alles erledigt war. Die Frau fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lippen. Mich widerte diese Geste an. Ich empfand sie einfach als obszön. Dann senkte sie den Blick und machte mir klar, daß auch ich dieser Richtung folgen sollte.
Zwischen uns befand sich ein Loch. Das hatte ich zuvor nicht gesehen. Fs war ein kleiner Schacht, senkrecht in den Boden gegraben, und in ihm steckte die Flippe. Mit der Schwertspitze deutete Freya auf die Stelle und erklärte mir etwas. Ich verstand kein Wort. Was sie damit hätte meinen können, mußte ich mir zurechtreimen. Wahrscheinlich wollte sie mir erklären, daß der Voodoo-Mann hier sein Grab gefunden hatte. Ein Grab, das erst ein Jahrtausend später entdeckt wurde. War dies die Lösung? Wind kam auf. Freya drehte sich ab und schaute zum Meer. Auch ich sah in diese Richtung. Hatte sich das Segel des Drachenschiffes noch mehr gebläht? So genau war es nicht erkennbar, aber das Schiff lag oder schwebte nicht mehr so ruhig wie zuvor. Wenn mich nicht alles täuschte, war es angehoben worden. Der Wind böte noch stärker auf und verwandelte sich in einen Sturm. Die an sich ruhige Umgebung erlebte ein Brausen und Pfeifen, wenn der Wind seinen Weg um die Kanten der Klippen und Felsen fand. Fr gischtete die See zu mächtigen Wogen hoch und schleuderte sie wuchtig gegen den Strand. Ich merkte, daß etwas geschehen würde. Auch Freya reagierte völlig anders. Beide Arme warf sie hoch in die Luft, stieß einen Schrei aus und lief fort. Im gleichen Augenblick entstand die Brücke! Vom Drachenschiff aus reichte sie wie ein krummer Regenbogen bis zum Land hin. Es war keine normale Brücke, vielmehr eine magische Zone, die sich aufgebaut hatte und angefüllt war mit einer Kraft, der keiner mehr entkommen konnte. Zuerst erwischte es das Drachenschiff. Plötzlich wurde es in die Höhe gerissen. Die nähere Umgebung um das Schiff herum war in ein schwefelgelbes Licht getaucht, durch das dunklere Blitze zuckten und ein wirres Muster bildeten. Das Schiff raste hinein. Sein Segel blähte sich bis zum Zerreißen. Noch immer umtobte mich das Heulen des Sturms. Er schüttelte auch das Schiff durch, rüttelte am Mast, an den Planken, und es schien mir, als sollten sie im nächsten Moment zerfetzt werden. Das Schiff raste in einem Halbbogen in die Wolken hinein, wo es für einen Sekundenbruchteil verharrte, und dann auf uns zuschoß. Zum Land hin, auf uns zu! Ich trotzte dem Wind.
Die Fahrt des Drachenschiffs über den dunklen Nachthimmel wurde von einem finsteren Heulen und Brausen begleitet. Töne, die Angst einjagen konnten. Ich duckte mich tiefer, um nicht weggezerrt zu werden. Dabei hörte ich Freya schreien. Sie lief dem Schiff entgegen, aber eine gewaltige Sturmbö riß sie mitten im Lauf von den Beinen. Wie ein welkes Blatt flatterte sie über den Boden. Ich stand noch! Und ich bekam das Unwahrscheinliche mit, denn das Drachenschiff verwandelte sich. Magie und die magische Brücke machten es möglich, daß die Toten, die verteilt auf dem Boden lagen, in die Höhe gerissen wurden. Die Leichen gerieten in den Strom, als hätten sie gewaltige Hände gepackt. Die Kräfte spielten mit ihnen. Sie schleuderten sie gegen das Schiff, so daß sie vor den beiden Bordwänden auftauchten und darüber hinweggehievt wurden. Leiche für Leiche sammelte dieser mächtige Sturm auf. Ich konnte mir die Lage nur damit erklären, daß die Puppe... Meine Gedanken brachen ab, denn die magische Woge war auch an mich herangekommen. Während sie den toten Anführer in die Höhe schaufelte, packte sie auch mich. Ich hörte mich selbst schreien; unternehmen konnte ich aber nichts. Die fremde Kraft war einfach zu stark und degradierte mich zu ihrem Spielball. Ich geriet hinein in den Strudel, der mich gepackt hatte und wieder ausspie. Neben Leif, dem Grausamen, prallte ich auf die Planken des Wikingerbootes, rollte mich herum und rutschte in die Lücke unter einer der Ruderbänke, wo ich regelrecht festklemmte. An meine Ohren drangen die dumpfen Geräusche der Aufschläge, wenn die anderen Krieger an Bord geschleudert wurden. Alle, die sich selbst getötet hatten, erwischte es. Die Magie war dabei, das Drachenschiff wieder mit der >neuen< alten Besatzungzu füllen. Stimmen hörte ich nicht. Nur das Heulen und Orgeln des Sturms und das Flattern des Segels, in das der Wind brauste. Ich hatte keine andere Erklärung, aber für mich war das Ganze nichts anderes als eine phantastische Reise von einer Zeit in die andere. Ich blieb so lange hocken, bis ich die Aufschläge der Körper auf den Planken nicht mehr hörte. Dann erst kroch ich vorsichtig aus meiner Deckung hervor, stützte mich mit einer Hand an der Kante der Ruderbank ab und schaute mich um. Die Toten lagen verstreut an Bord. Jede Bewegung des Drachenschiffs veränderte auch ihre Lage. Sie rutschten hin und her, schlugen zusammen, drückten sich gegenseitig wieder weg — jedenfalls sah es
so aus —, fielen gegen Ruderbänke oder näherten sich mit einer fatalen Geschwindigkeit dem Mittelpunkt, dem Mast. Über uns tobte der Wind. Seltsamerweise >griff< er nur in das Segel hinein, über die Bordwand wehte er nicht hinweg, so daß ich relativ ruhig lag. Hoch über dem Mast sah ich in den Himmel. War es wirklich ein Himmel oder hatte sich da eine andere Welt geöffnet? Die Farben verwischten ineinander. Sie bestanden aus einem Schwarz und Grau, durchzogen von hellen Streifen, die schwefelgelb schimmerten und wie lange Einschlüsse wirkten. Obwohl gewaltige Kräfte das Drachenschiff umklammerten, schoben sie es nur in eine bestimmte Richtung. Wenn mich nicht alles täuschte, jagten wir nach vorn, hinaus aus der Vergangenheit und wieder hinein in andere Zeitströmungen. Wann die Grenze überschritten war, merkte ich nicht. Ich konnte es nur anhand der Reaktionen der anderen feststellen, denn die Wikinger, eigentlich tot, bewegten sich plötzlich. In diesem Moment hatte ich den Beweis bekommen. Die Mannschaft war von der Magie erfaßt worden. Sie hatte es fertiggebracht, die Toten in Untote zju verwandeln und aus ihnen lebende Leichen — Zombies — zu machen. Und ich war Zeuge! Nicht weit von mir entfernt lag Leif, der Grausame. Er schaffte es als erster, sich zu erheben. Schon als Lebender hatte er die meisten Kräfte besessen. Das war auch jetzt nicht anders. Er kam auf die Füße, blieb breitbeinig stehen und glotzte aus starren Augen umher. Dann hob er eine Hand und faßte sich an den Hals, wo eine Wunde klaffen mußte. Nicht mehr, denn sie hatte sich tatsächlich geschlossen. Sie war verschwunden. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte grell auf. Das Gelächter schüttelte ihn regelrecht durch. Es übertönte sogar den Sturm und war lauter als das Knattern des Segels. Die Augen waren verdreht. Er fand das Gleichgewicht wieder und streckte die Arme aus, als wollte er die anderen Krieger durch seine Bewegungen segnen. Die bewegten sich ebenfalls. Um mich kümmerte sich niemand. Ich konnte als einzig normaler Mensch mitansehen, wie die Zombies zunächst mit langsamen Bewegungen über das Deck krochen und sich dann hinstellten. Sie schwankten noch, suchten irgendwo Halt und zogen ihre Waffen. Mir war klar, was dies bedeutete. Die Wikinger waren bereit, den Kampf wieder aufzunehmen. Diesmal nicht als normale Menschen, sondern als Zombies, gegen die es nur wenige Waffen gab.
Das Drachenschiff raste weiter. Es tauchte ein in eine graue, fahlhellc Umgebung, die wie lange Schatten dicht an den Bordwänden vorbeihuschten. Ein Zeittunnel? Alles war möglich, doch eines stand für mich fest. Wenn wir das Ziel erreichten, würden wir uns in einer anderen Zeit befinden, nicht mehr in der Vergangenheit, sondern an dem Ort, von dem aus wir auch gestartet waren. In Seabrake, das einmal aus einer alten Wikingersiedlung entstanden war... *** Suko hatte gewußt, daß es keine leichte Aufgabe für ihn sein würde, die Nadeln aus dem Körper der Puppe zu entfernen. Was würde wohl geschehen? Es kam ihm vor, als wäre die Magie der Wikinger gebannt. Wenn er die Nadeln entfernte, würden sie freiwerden. Er hoffte nur, daß er es damit schaffte, seinen Freund John und Clive Braddock wieder in die normale Zeit zurückzuholen. Die Kirche war für Suko zu einer schauerlichen Umgebung geworden. Das mochte an der Düsternis liegen, aber auch an den brausenden Geräuschen des Sturms. Er hatte sich zwar etwas abgeschwächt, konnte aber noch immer als ungemein stark angesehen werden. Manchmal rüttelte er auch an den Fenstern, ohne die Scheiben allerdings aus den Rahmen zu schleudern. Reverend Castor war verschwunden. Suko hörte ihn im Hintergrund der Kirche, wo er leise betete. Als er zurückkehrte, hielt er einen Kerzenleuchter in den Händen. Die Flammen rissen eine unruhige Insel des Lichts in die Dämmerung. Durch irgendwelche Ritzen drang stets Wind, der die Zungen tanzend bewegte, sie aber nicht verlöschte. Castor stellte den Leuchter ab und fragte mit leiser Stimme: »Wie weit sind Sie, Inspektor?« Suko schaute nur kurz hoch. Es paßte ihm nicht, aus der Konzentration gerissen worden zu sein. »Noch drei Nadeln.« Castor schaute auf die übrigen. Sie lagen nebeneinander auf der Kirchenbank und hoben sich kaum vom dunklen Holz ab. »Haben Sie schon etwas gespürt?« »Leider nein.« Suko sah Castor nicken. Der Reverend kam ihm wie ein Fremdkörper vor. Das merkte dieser auch. Er stellte keine weiteren Fragen und beobachtete den Chinesen. Suko hatte die Nadeln stets mit den Fingerspitzen angefaßt und den entsprechenden Druck gegeben, um sie auch beim ersten Versuch aus dem alten Körper ziehen zu können.
Bisher war es ihm gut gelungen, auch die drittletzte Nadel zupfte er hervor und behielt dabei die dunkle, leicht ölige Haut im Auge, die jedesmal, wenn eine Nadel hervorgezogen wurde, sich wieder zusammenzog. Es war eine Filigranarbeit, bei der Suko auch das Gesicht der mumienhaften Puppe nie aus den Augen ließ. Dort tat sich nichts. Es blieb starr. Kein Muskel zuckte. Die vorletzte Nadel umfaßte Suko ebenso sorgfältig wie alle anderen zuvor. Der kleine Ruck, sie war weg. Er legte sie zu den anderen und sah Castors Nicken. Der Geistliche war für ihn weit weg, so stark konzentrierte sich der Inspektor auf die wichtige Aufgabe. Er hatte damit gerechnet, daß die Wikinger nach dem Entfernen de Nadeln erscheinen würden, wie schon einmal. Das war diesmal nicht der Fall. Die Zombies aus dem Norden hielten sich zurück. Sollte die Magie diesmal nicht funktionieren? Hatten sie etwas falsch gemacht? »Sie zweifeln?« fragte Castor leise. »Ein wenig.« »Ich auch.« »Dennoch werde ich die letzte Nadel hervorholen, darauf können Sie sich verlassen.« Nach dieser Antwort wich Castor ein wenig zurück. Er wollte nicht in der unmittelbaren Umgebung sein. Suko umfaßte auch die letzte Nadel. Sie steckte in der linken Wade der Voodoo-Mumie. Seit Beginn seiner Aktion war er nicht so aufgeregt gewesen wie jetzt. Wenn es diesmal nicht klappte, waren sie voll und ganz einem Irrtum erlegen. In diesem Moment schien selbst der Sturm eine Atempause eingelegt zu haben. Die Stille innerhalb des Kirchenschiffs lag beinahe greifbar über ihnen. Selbst die Kerzenflammen brannten ruhiger als noch vor wenigen Sekunden. Suko zog! Er zupfte die Nadel aus der dunklen, öligen Haut hervor, drehte die Hand und hielt die letzte beinahe triumphierend in die Höhe. »Das war es, Reverend.« Castor kam näher. Sein Gesicht war bleich geworden. In der Farbe glich es einer der Figuren, die in den Winkeln der Kirche verteilt standen. Die Lippen des Mannes bewegten sich beim Sprechen kaum, als er fragte: »Es ist doch nichts passiert — oder?« »Keine Ahnung.« »Wir müßten etwas merken, Inspektor.« »Vielleicht draußen.« »Dann lassen Sie uns nachschauen.« Der Geistliche wollte wegrennen, aber Suko hielt ihn zurück.
»Nicht so schnell. Lassen Sie es uns behutsam angehen. Das ist unter Umständen besser. Ich werde die Kirche als erster verlassen.« »Rechnen Sie mit einem Angriff?« »Das ist durchaus möglich.« Eine Antwort gab der Reverend nicht. Er hatte sowieso den Eindruck, fehl am Platze zu sein, und trat zur Seite, um Suko Platz zu schaffen. Der warf noch einen letzten Blick auf die Mumie. Sie lag regungslos auf der Kirchenbank. Die Haut zitterte nicht mehr und war dort zusammengewachsen, wo die Nadeln hervorgezogen worden waren. Sie zeigte zudem keine Anzeichen von Zerstörung. Nur die Oberfläche glänzte matt wie angestrichen. Der Geistliche schaute auf den Rücken des Inspektors, als dieser zum Ausgang schritt. Kurz vor der Tür blieb er stehen, legte zwar die Hand auf die Eisenklinke, traute sich jedoch nicht, sie nach unten zu drücken. Statt dessen spähte er durch eines der Fenster. »Haben Sie etwas, Inspektor?« »Im Prinzip nicht. Mir kommt es nur so vor, als hätte sich der Himmel erhellt.« »Wie denn?« »Schauen Sie selbst.« Castor lief zu einem anderen Fenster. Er blickte schräg in die Höhe und sah ebenfalls die hellgelbe Farbe, die eine Lücke in die Wolken gerissen hatte. »Das ist ungewöhnlich.« Suko lächelte. »Vielleicht haben wir Erfolg gehabt. Wir werden es bald sehen.« Nach dem letzten Wort drückte er die schwere Klinke und zerrte die Für auf. Der Wind stand noch auf der Kirche. Er brauste und stieß Suko die Tür entgegen, so daß dieser Mühe hatte, sie zu halten. Über den Kirchplatz wirbelte noch immer das alte Laub, vermischt mit zahlreichen Zweigen und Aststücken. Die war trotzdem ziemlich frei, weil auf dem Platz selbst keine Bäume wuchsen. Suko konnte einen Teil des Himmels sehen — und glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. An einer Stelle war die bleigraue Wolkendecke aufgerissen. Dort schimmerte die gelbe Farbe durch, und sie bildete einen wunderbaren Hintergrund für den Gegenstand, der sich dort abzeichnete, als wäre er frisch gemalt worden. Suko wußte, daß es keine Kulisse war. Das dort mit geblähtem Segel stehende Drachenschiff war echt und stammte aus der Vergangenheit. Durch Magie hatte es seinen Weg in diese Welt gefunden. Auch der Reverend war an Suko herangetreten und sah das gleiche Bild.
»Mein Gott, das ist es. Ja, das ist dieses verfluchte Schiff. Wir . . . nein, Sie haben es geschafft.« Suko nickte nur. Er wollte nicht sprechen, nur beobachten. Auf dem Schiff entdeckte er keine Bewegung. Es schien leer zu sein und ohne Besatzung die Reise angetreten zu haben. Plötzlich durchlief ein Ruck den gewaltigen Rumpf. Das Drachenschiff sah aus, als wollte es sich schütteln, dann senkte es sich mit dem Bug nach vorn und sackte tiefer. Wie von zahlreichen Fäden gehalten, schwebte es allmählich auf den Ort Seabrake zu. Der Reverend stöhnte auf, als hätte ihm jemand ein Leid angetan. »Sehen Sie doch, das Schiff, die Menschen bei uns . ..« »Wir müssen hin!« »Ich werde . . .« Was der Reverend noch wollte, sagte er nicht. Er blieb stehen, und Suko erkannte die Gänsehaut auf seinem Gesicht. Langsam drehte Castor sich um. Auch Suko machte die Bewegung mit. Zugleich erkannten sie, was den Geistlichen gewarnt hatte. Es waren Schritte gewesen. Da sie als einzige Menschen die Kirche betreten hatten, konnte die Gestalt nicht normal sein. Und das war sie auch nicht, denn mit langsamen und roboterhaften Bewegungen schritt die Voodoo-Mumie auf sie zu... *** Sie ging ohne die in ihrem Körper steckenden Nadeln. Und sie schritt so zielsicher, daß dem guten Castor alle Farbe aus dem Gesicht wich. »Ich weiß, was Sie verlangen, Reverend. Alles, nur keine Erklärung, noch nicht.« »Was sollen wir denn tun?« »Gar nichts.« »Wieso? Was heißt das?« »Wir lassen sie an uns herankommen. Ich bin mir last sicher, daß sie einen bestimmten Auftrag hat und auch nur einen bestimmten Weg einschlagen kann.« »Wohin?« »Das werden wir früh genug merken.« Suko drückte den ängstlichen Castor zur Seite, um der Mumie den nötigen Platz zu verschaffen. Auch er bewegte sich von der Kirchentür weg, gegen die der Wind schlug und sie zum Zittern brachte, aber nicht zuschlug. Die Mumie ging unbeirrt ihren Weg. Durch nichts ließ sie sich aufhalten. Sie schaute weder nach Suko noch in die andere Richtung, wo Castor
stand, der nur Augen für dieses schreckliche Wesen mit der schwarzen, ölig glänzenden Haut hatte. Kurze Zeit später hatte die Mumie die Türschwelle erreicht, wo sie für einen Moment stehenblieb, schwankte, als ein Windstoß sie packte, aber nicht fiel. Es war ein Schreiten, anders konnte man diese Gehbewegungen nicht bezeichnen. Der Wind nahm keine Rücksicht, wehte weiterhin böig, und schaffte zudem immer neuen Nachschub an Zweigen, Laub, aufgewirbeltem Abfall und Unrat herbei. Suko warf einen Blick zum Himmel. Das Drachenschiff war verschwunden! Erst als die Mumie die Hälfte des Kirchenplatzes hinter sich gelassen hatte, wagte der Reverend zu sprechen. »Wollen Sie die wirklich gehen lassen?« »Warum nicht?« »Und wenn sie mordet?« Suko schüttelte den Kopf. »Das wird sie nicht. Ich rechne sogar mit ihr. Sie können sicher sein, Reverend, die wird uns ans Ziel unserer Wünsche führen.« »Sie meinen das Drachenschiff?« »Was sonst, Reverend?« Castor sagte nichts mehr. Er hatte eingesehen, nur Statist sein zu können. Das Kommando hatten andere übernommen. Suko schaute ihn an. »Wollen Sie mitkommen, oder in der Kirche abwarten.« Castor blickte fast böse, als er sein aufgewirbeltes Haar zurückstrich. »Für wen halten Sie mich? Für einen Feigling? Für einen, der jetzt kneift?« »Nein, Reverend, ich halte Sie für einen vernünftigen Menschen.« »Dann lassen Sie mich auch bei Ihnen bleiben.« »Ich habe nichts dagegen...« *** Andersen schrieb das Märchen Nils Holgerson, dem es gelang, mit Hilfe von Schwänen durch die Lüfte zu fliegen und weite Reisen zu unternehmen. So ähnlich wie der kleine Nils kam auch ich mir vor. Nur verließ ich mich nicht auf Schwäne, sondern auf die Kraft einer fremden Magie, die das Schiff führte und seinen Weg durch die Dimensionen schießen ließ.
Der Begriff Zeit existierte für mich nicht mehr. Er war einfach gegenstandslos geworden. Ich konnte nichts anderes, als mich treiben lassen. Was umgab mich? War es eine klare Luft, von der Menschen nur träumen konnten? Oder war es die Durchsichtigkeit einer Dimension, die mit dem Verstand nicht zu begreifen war? Ich lag auch weiterhin eingeklemmt unter der Ruderbank und spähte durch eine Lücke. Die Luft hatte sich verändert. Sie schien aus Glas zu bestehen, durch das wir rasten, ohne allerdings ein Splittern zu hören. Alles war anders geworden. Heller. Klarer. Freier. Ich sah auch die Wikinger. Sie verkrochen sich nicht so wie ich. Sie standen als Zombies aufrecht an Deck und warteten darauf, ihr Ziel zu erreichen. Schwerbewaffnet und ohne körperliche Wunden, drängten sie sich zusammen. Leif, ihrem Anführer, überließen sie die Spitze. Auf ihn und auf die Magie eines afrikanischen Voodoo-Priesters setzten sie und gingen davon aus, daß sie nicht im Stich gelassen würden. Wir jagten weiter durch die Dimensionen, überquerten Grenzen, ohne es zu merken, und wurden von der faszinierenden Klarheit eines Himmels begleitet. Ich spürte keine Schmerzen mehr und kam mir ungewöhnlich leicht vor, als wäre ich selbst dabei, meinen Körper durch die Lüfte zu steuern. Das war so herrlich, so einmalig, bis die Magie uns dorthin brachte, wo das richtige Ziel lag. In meine Zeit, in der Gegenwart! Ein jeder von uns spürte den Ruck, der das Schiff durchlief. Ich hatte es jetzt besser, weil ich unter der Ruderbank lag. Die Wikingcr-Zombies konnten ihn nicht so schnell ausgleichen. Sie kippten oder fielen gegeneinander. Wir standen. Nur umgab uns keine Stille. Das Brausen, Pfeifen und Heulen hatte ich noch in bester Erinnerung. Über England wütete einer der schlimmsten Stürme, hatte Spuren der Vernichtung hinterlassen und kochte das Wasser zu einer Hölle auf. Zwar hörte ich das Tosen der Wellen sehr deutlich, aber keine krachten gegen die Bordwände. Die aufgewühlte See bildete nur mehr eine Geräuschkulisse. Meiner Ansicht nach konnten wir nicht auf dem Wasser gelandet sein, sonst hätten uns die haushohen Brecher überrollt. Ich blieb so lange in meiner Deckung, bis sich die Krieger zusammengefunden hatten und mit Leif an der Spitze über die Bordwand kletterten, um das Drachenschiff zu verlassen.
Diesmal bewegten sie sich nicht wie eine zusammengewürfelte, mordgierige Horde, sondern ziemlich gesittet. Nebeneinander hergehend bildeten sie eine breite Reihe. Wir befanden uns am Strand von Seabrake! Das schwere Drachenschiff lag nicht auf dem Trockenen. Es schwebte darüber hinweg, als würde ein Luftkissen von unten her gegen den Kiel drücken. Schwerfällig stemmten sie sich gegen den Sturm an, die Körper nach vorn gebeugt, um nicht durch eine plötzliche Bö von den Beinen gerissen zu werden. Ich schaute dabei auf ihre Rücken und dachte über das Verhalten der Zombies nach. Ziellos kamen sie mir nicht vor. Sie wußten haargenau, wohin sie sich wenden sollten. Auch ich hatte die Bordwand überklettert. Der Wal lag noch immer auf der Fahrbahn. Gischtwolken sprühten gegen die Fassaden der Häuser. Wolken jagten über den Himmel. Die Wikinger hatten ihre Richtung geändert. Selbst der Wal störte sie nicht. Sie kletterten über ihn und schlugen dabei ihre Äxte in das dicke Fleisch, die sie benutzten wie Bergsteiger ihre Haken. Ich suchte nach den Menschen von Seabrake. Wenn sie den Ort nicht verlassen hatten, war es ihnen gelungen, sich zu verstecken. Wahrscheinlich hockten sie in ihren Häusern und Wohnungen, lauerten hinter den Fenstern und sahen der schrecklichen Zombie-Invasion zitternd entgegen, ohne eine Chance zu haben, etwas dagegen unternehmen zu können. Ich nahm den gleichen Weg wie die Krieger. Nur verkniff ich es mir, über den Wal zu steigen, sondern drückte mich dort an ihm vorbei, wo seine mächtige Schwanzflosse fast eine Hauswand berührte. Hinter den Fenstern entdeckte ich fahle, ängstliche Gesichter, denen mein Lächeln auch nichts half. An verschiedenen Stellen mündeten Gassen in die Uferstraße. Auf eine hatten sich die Wikinger-Zombies konzentriert und schritten in sie hinein. Wenn sie den Weg beibehielten, würden sie irgendwann das Zentrum des Ortes erreichen. Möglicherweise wollten sie sich dort versammeln und beraten. Waren sie bisher ruhig gewesen, so änderten sie ihr Verhalten schlagartig. Ich wußte selbst nicht, was der Grund war. Möglicherweise das vom Sturm umgekippte Fahrzeug. Es war ein Lancer, der auf der Seite lag. Der Wagen sah so aus, als wollte er jeden Moment aufs Dach kippen. Der Wind jaulte in die Gasse. Er hatte auch einige Fensterläden abgerissen, wie ich erkennen konnte. Er wühlte gegen das Blech des
Wagens, das dann von den Wikingern angegangen wurde, keif machte den Anfang. Mit seiner Streitaxt drosch er auf das Fahrzeug ein. Ich hatte nicht eingegriffen und dachte mir nur, daß es besser war, wenn sie das Auto zerstörten, als Menschen zu töten. Bestimmt warihrWerk der Vernichtung von zahlreichen Augen beobachtet worden. Glücklicherweise hielten sich die Zeugen zurück. Keiner war so lebensmüde, um es mit der Horde aufnehmen zu wollen. Mich irritierte an ihrem Marsch nur, daß sie nicht schrien. Sie verhielten sich unnatürlich ruhig und diszipliniert, das widersprach eigentlich ihrer Natur. Nichts in Seabrake war mehr als hundert Yards von der Kirche entfernt. Ihr Turm schwebte mir vor Augen. Er zeichnete sich in der grauen Dämmerung deutlich ab. Eigentlich hätten jetzt die Lichter brennen müssen. Das war nicht mehr möglich, weil es keinen elektrischen Strom gab. Der Sturm hatte alles zerstört. Seabrake war von der Außenwelt abgeschnitten und somit ein ideales Opfer für die Brut aus dem Norden. Wenn sie ihre Richtung beibehielten, würden sie bald die Kirche erreicht haben. Zombies in einer Kirche? Normalerweise undenkbar, doch bei den Wikingern rechnete ich mit allem. Die Krieger hatten sich verteilt. Sie stemmten sich gegen den Sturm an, schwangen dabei ihre Waffen, und ich hörte das Klirren, wenn Metall auf Metall stieß. Sie ließen sich durch nichts aufhalten und fingen plötzlich eine streunende Katze. Ich schluckte und fragte mich, wie ich es als einzelne Person schaffen sollte, die Brut zu stoppen? War das überhaupt möglich? Ich brauchte Hilfe und dachte natürlich an meinen Freund und Kollegen Suko, den ich zurückgelassen hatte. Er mußte den Ort mittlerweile erreicht haben. Unser Rover war mir bisher nicht aufgefallen. Oder hatte es ihn auch erwischt? Am Ende der Gasse blieben die Wikingerstehen. Vor ihnen befand sich ein Platz, der von Hauswänden eingerahmt wurde. Ein auf ihm stehender Baum wardurch den Sturm arg gerupft worden und stand zudem noch schief. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick auf das Kopfsteinpflaster kippen. Weshalb blieb die Horde hier stehen? Warteten die Wikinger-Zombies auf ein besonderes Ereignis? Auch ich rührte mich nicht. Mit dem Rücken lehnte ich an einer Hauswand, einigermaßen geschützt vor dem scharfen Wind, der noch immer wehte.
Schräg hinter mir hörte ich ein Knarren, drehte mich um und entdeckte in Augenhöhe ein bleiches Gesicht innerhalb des Fürspalts. Eine Frau schaute mich an. Sie war schon älter, wollte etwas fragen. Ich kam ihr zuvor. »Bleiben Sie im Haus — bitte!« »Das werde ich auch, Mister. Ich wollte Ihnen nur sagen, das ich keine Furcht habe. Ich wußte, daß es so kommen würde. Ich habe die Braddocks gut gekannt.« »Die alten?« »Sicher.« Sie lächelte kurz. »Ich wußte auch, daß Fremde aus London kommen sollten, um mit dem Spuk aufzuräumen. Sie sind ein Fremder. Kommen Sie aus London?« »So ist es.« »Dann will ich Ihnen sagen, daß es der Brut um die Puppe geht. Nur um die Puppe.« Mir fiel bei diesen Worten wieder die Vergangenheit ein, als ich das Begräbnis der Puppe erlebt hatte. »Sie existiert noch?« »Ja, sie ist nicht vergangen. Solange sie ist und lebt, wird die Brut weiter töten. Es ist ein unheimlicher Fluch, der uns getroffen hat. Die Braddocks haben es gewußt. Sie hätten ihn nicht lösen sollen. Jetzt können wir nur beten.« »Ich werde alles versuchen.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen, die wie eine weiße Vogelkralle aussah. »Das müssen Sie auch. Stoppen Sie die Brut, sonst sind wir alle verloren.« »Ja«, flüsterte ich, »das glaube ich auch.« Die alte Frau zog sich zurück. Ich bekam wieder Gelegenheit, mich um die Zombie-Krieger zu kümmern. Sie hatten ihre Reihe zwar nicht aufgelöst, aber die Formation verändert. So hatte sich Leif, der Grausame, abgesondert. Er war vorgegangen und schlug den Weg abermals in Richtung Kirche ein. Ich stand zu weit entfernt, um etwas erkennen zu können, wollte aber ungesehen an die Gruppe heran. Da gab es nur eine Möglichkeit: durch die Gärten oder über die Dächer klettern. Niedrig genug waren die Häuser. Ich drückte mich an einen sehr schmalen Einschnitt zwischen zwei Bauten. Selbst in diesen engen Tunnel hatte der Wind den Abfall geweht. Ich stieg durch den Dreck hinweg. Eine Katze huschte an mir vorbei. Dann gelangte ich einen kleinen Garten. Die anderen verteilten sich in unterschiedlicher Größe hinter den Häusern, abgesichert durch Zäune, die nicht mehr standen. Der Wind hatte sie einfach umgerissen. Er spielte auch noch jetzt mit den Resten, obwohl er an Stärke einiges verloren hatte. Parallel zur Straße lief ich weiter. Wenn ich Glück hatte, endete der letzte Garten dort, wo auch der Platz begann. Dieses Glück war mir nicht
beschieden, denn ein barackenähnlicher Bau versperrte mir den weiteren Weg. Für mich gab es nur die Möglichkeit, auf das Dach zu klettern, um freie Sicht auf die andere Seite zu bekommen. Zum Glück war die Außenwand nicht zu glatt. Der Putz besaß kleine Löcher und Risse, wo ich mich abstützen konnte. Am Haken eines Fensterladens hielt ich mich fest, zog mich hoch und stemmte mich auf einer schmalen Fensterbank ab und rollte mich wenig später auf das Dach. Wie eine Schlange wand ich mich weiter. Auf der anderen Seite blieb ich liegen. Der Wind heulte in meinen Ohren. Irgendwo hatte er Staub in die Höhe gewirbelt, der in mein Gesicht schlug, so daß ich gezwungen war, die Augen zu schließen. Ich hatte diesmal Glück gehabt und genau den richtigen Weg gewählt, denn mein Blick fiel über den Dachrand hinweg auf den freien Platz, der sich vor der Kirche befand. Über ihn fegte der Wind. Die Wikinger hatten sich zurückgehalten, bis auf einen. Ihr Häuptling marschierte mutterseelenallein und gegen den Wind gestemmt über den Platz. Von der anderen Seite löste sich eine düstere Gestalt aus der Dämmerung. Ich traute meinen Augen nicht und konnte es schon gar nicht fassen, aber es war kein Irrtum. Ich kannte das Wesen. Es war die Puppe! *** Und jetzt lebte sie! Sie ging mit steifen, wie mechanisch wirkenden Schritten über das Pflaster, hatte den Blick nach vorn gerichtet und fixierte dabei eine einzige Person. Den Grausamen Leif! Vor tausend oder mehr Jahren hatten er und seine Männer wegen dieser Puppe sich selbst umgebracht. Jetzt, die vielen Jahrhunderte später, trafen sie wieder zusammen. Ein Wahnsinn! Ich blieb noch auf dem Dach, um zu beobachten, was beide voneinander wollten. Die Wikinger-Zombies bildeten hinter ihrem Anführer eine Mauer, in der sich nichts bewegte. Allein Leif ging vor, den Helm auf seinem Schädel, bewaffnet mit einem Schwert, der Streitaxt, aber keinem Bogen oder Pfeilen.
Daß dieses Treffen wichtig war, stand fest. Beide mußten darauf hingearbeitet haben und hatten selbst eine dermaßen lange Zeitspanne überstanden. Noch trennten sie ungefähr fünf Schritte. Keiner von ihnen traf Anstalten, stehenzubleiben. Etwas hatte mich schon seit Beginn meiner Entdek-kung irritiert. Erst beim weiteren Nachdenken kam ich auf die Lösung. In der Puppe oder lebenden Mumie steckte keiner dieser dunklen Pfeile mehr. Entweder hatte die Gestalt sie verloren, oder es war jemand dagewesen, der sie ihr hatte rausziehen können. Wer kam dafür überhaupt in Frage? Hinter der Voodoo-Puppe und nicht weit vom Rand der Mauer entfernt bewegte sich etwas. Das waren keine Zweige, die der Wind schüttelte. Es erschien eine Gestalt. Trotz des schlechten Lichts erkannte ich den Mann. Seine Haltung war charakteristisch. Auch die Bewegungen konnte ich einfach nicht vergessen, auch wenn noch mehr als tausend Jahre dazwischenlagen. Suko war es! Er hatte mich nicht gesehen. Jedenfalls traf er keine Anstalten, mir irgendein Zeichen zu geben. Das wiederum wollte ich und riskierte es, mich aufzurichten. Mein Freund blieb stehen. Es kam mir beinahe schon ungläubig vor. Dann hob er für einen Moment den rechten Arm und winkte zurück. Wunderbar! Ich grinste breit. So etwas wie ein neues Feuer der Kraft durchströmte mich. Meine Chance war durch Sukos Erscheinen um fast hundert Prozent gestiegen. Jetzt würden wir es den Wikinger-Zombies zeigen. Das jedenfalls nahm ich mir vor. Ich hockte mich wieder hin. Den Kriegern war wohl nichts aufgefallen. Um so besser .. . Ich drückte mich hoch. Eine Bö erwischte mich und hätte mich beinahe vom Dachrand gestoßen. So eben konnte ich mich noch drehen und stieß mich dann ab. Ich sprang auf den Platz. Genau in dem Augenblick, als die VoodooMumie den untoten Wikinger-Häuptling erreichte. Beide mußten etwas von der neuen Lage bemerkt haben. Sie reagierten nämlich plötzlich. Die Mumie drehte sich Suko zu. Leif, der Grausame, starrte mir direkt ins Gesicht. Obwohl er mich nicht verstehen konnte, mußte ich ihn einfach ansprechen, es war wie ein innerer Drang. »Ich freue mich, daß wir uns wiedersehen und nun endlich eine alte Rechnung begleichen können, mein Lieber...«
*** Er war auf der einen, ich auf der anderen Seite. Suko atmete tief durch. Jetzt sah es wesentlich besser aus, denn so recht daran glauben, daß sein Freund John die Zeitreise überleben konnte, wollte er nicht. Er hörte in seiner Nähe Schritte und wußte, daß es nur der Reverend sein konnte, der sich näherte. »Bleiben Sie weg, Mr. Castor!« Suko sprach ihn an, ohne sich nach dem Mann umzudrehen. Dessen Schritte verstummten. Der Inspektor hatte seine Waffe hervorgeholt. Es war die Dämonenpeitsche, mit der er einmal einen Kreis über den Boden schlug, so daß die drei Riemen aus der Öffnung rutschen konnten. Die Peitsche war angefüllt mit einer sehr starken magischen Kraft, gegen die kaum ein Dämon etwas ausrichten konnte. , Suko hoffte natürlich, die lebende Voodoo-Puppe damit zerstören zu können, und er fächerte die Riemen kurz auf, um die Gestalt abzulenken. Sie kam ihm vor wie ein Golem, einer der ersten Untoten, die es überhaupt gab. Suko schlug zu. Viel Wucht und Kraft hatte er in diesen Hieb hineingelegt, aber auch genau gezielt. Es klatschte sehr laut, als die drei Riemen gleichzeitig den Körper regelrecht umfingen. Das Wesen mußte sich wie eingewickelt vorkommen, und Suko vernahm auch Geräusche, als würde dicker Stoff reißen. Stoff zerplatzte nicht, dafür die dünne, ölig glänzende Haut der Mumie. Sie sprang an den Stellen, wo sie erwischt worden war, auf wie splitternder Lack. Das Wesen selbst riß sein Maul auf und stieß dem Inspektor eine Wolke entgegen, die derart nach Verwesung stank, daß ihm beinahe übel wurde. Er tauchte zur Seite, weil er der Wolke entwischen wollte, und hörte plötzlich die Schreie der untoten Wikinger, die sich zu einem einzigen vereinten. Griffen sie an? Ja, sie setzten sich in Bewegung, um dem zu helfen, der sie anführte und gegen John Sinclair kämpfte. Ich hatte mir bewußt Leif, den Grausamen, ausgesucht, denn ich war mir plötzlich sicher, daß ich ihn schaffen würde. Er war zu einem Monstrum geworden, das einfach nicht in die heutige Welt hineingehörte. Wesen wie er mußten in der Vergangenheit begraben bleiben, denn nur dort gehörten sie hin.
Mit der Streitaxt konnte er am besten Umgehen. Er zog sie mit einer mechanisch anmutenden Bewegung. Ich holte die Beretta hervor, wollte es kurz machen, zielte auf den Kopf und schoß. Klick! machte es. Siedendheiß fiel es mir ein, daß ich vergessen hatte, nachzuladen. Beim Kampf auf dem Boot und eingekesselt in der tiefen Vergangenheit hatte ich meine Munition verschossen. Ich schleuderte die Waffe weg, weil sie mir hinderlich war und ich den ersten Angriff des Häuptlings abwehren mußte. Als er zudrosch, hämmerte ich die Handkante gegen seinen Arm. Schmerzen verspürte er als Zombie nicht mehr. Aber es war mir gelungen, seinen Hieb abzuwehren. Zwar hielt er seine Streitaxt noch fest, doch nutzte sie ihm nichts gegen meinen Tritt, der das Gesicht dicht unter dem Helmrand traf und ihn zurückstieß. Leif fiel auf den Rücken; seinen Beine wirbelten in die Höhe. Ich stürzte vor, hörte einen Schrei, der aus zahlreichen Kehlen der Untoten drang, und bekam mit, wie sich die Masse vorwärtsbewegte. Noch hatte ich Zeit. Im Hechtsprung flog ich Leif entgegen. Der war dabei, sich aufzurichten. Kraft besaß er, aber keine Technik. Das war mein Glück, denn diesmal schlug er nicht zu. Ich aber hatte etwas hervorgeholt, das ich seit einiger Zeit bei mir trug. Die Voodoo-Nadel, die ich an Bord des Schiffes der Puppe entrissen hatte. Wie ein dünnes, schwarzes Messer stach sie aus meiner Faust hervor. Meine rechte Faust mit der Nadel rammte nach unten und traf genau. Es war die Stirn des Häuptlings. Genau zwischen den Augen erwischte ich ihn. Die Nadel verschwand in der breiten Stirn des Zom-bies. Sie schaute nur mehr fingerbreit heraus. Ich warf mich sofort zurück. Suko huschte an mir vorbei auf die untoten Wikinger zu, brauchte aber nicht einzugreifen, denn sie gingen keinen Schritt weiter. Auch ihr Anführer rührte sich nicht mehr. Der Grausame Leif lag am Boden, sein Mund klappte auf, und eine gelblich grüne Masse strömte hervor, als würde er Galle spucken. Im gleichen Augenblick hörten wir einen sehr lauten Knall, der selbst das Pfeifen des Sturms übertönte. Er echote über das Dorf und war wie ein Abschluß. Genau dort, wo das Schiff der Wikinger gestanden hatte, breitete sich ein mächtiger Feuerball aus, der als gewaltiger Pilz in die Höhe stieg und sich mit dem Himmel vermischte. Ein magischer Sturm wehte über uns, denn wir waren eingehüllt in das gelbfahle Licht. Zog es uns wieder in die Vergangenheit?
Nein, diese magische Brücke stellte sich gegen sie. Sie erinnerte mich an einen Regenbogen, der eine derartige Kraft besaß, daß er die untoten Wikinger zu sich heranholte. In einem Halbkreis wirbelten sie nach dem Abheben vom Boden in die magische Brücke hinein und wurden von ihr zerstört. Wir konnten zusehen, wie ihre Körper zerfielen und als Staubfahnen verschwanden. Zuletzt löste sich die Brücke auf. Ich kniete am Boden, spürte Sukos helfende Hand, die mich hochzerrte. »Alles klar, Alter?« »Bis jetzt ja.« »Und wie war die Reise?« Ich lachte. »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin froh, nicht vor tausend oder mehr Jahren als Nordmann auf die Welt gekommen zu sein.« »Wenn du das sagst.« Er grinste und schlug mir auf die Schulter. Aus dem Schatten der Kirchenmauer hatte sich Reverend Castor gelost. Suko stellte mich vor und erklärte dem Geistlichen, daß ich soeben aus der Vergangenheit gekommen war. »Ich glaube Ihnen alles, Gcntlemen, jetzt ja.« Der Reverend starrte ins Leere, drehte sich um und ging zurück in seine Kirche, um ein Gebet des Dankes zu sprechen. »Und was machen wir?« fragte Suko »Schluß, Ende, aus, finita.« »Du willst wieder nach London?« »Auch.« »Und zuvor?« »Werde ich mir ein verdammt großes Bier genehmigen, dazu ein Stück Fleisch essen und danach einen Whisky trinken. Dabei erzähle ich den Leuten hier, daß sie. ..« »Oder willst du nicht lieber schlafen?« Ich lachte. »Das auch, aber nicht mit einer Person, die Freya heißt.« Suko schüttelte den Kopf. »Wer ist denn das schon wieder?« »Du kennst Freya nicht?« »Nein, zum Henker.« »Sei froh, Alter. Ich habe sie kennengelernt und muß sagen, daß sie mehr als emanzipiert war.« »Verstehe.« Suko holte tief Luft. »Dann ist das alles nicht so neu mit der Emanzipation.« »Es war halt alles schon mal da...«
ENDE