Terra Astra 135
Doktor Methusalem von L. RON HUBBARD
INHALT Die Rache einer Königin (HER MAJESTY'S ABERRATION)...
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Terra Astra 135
Doktor Methusalem von L. RON HUBBARD
INHALT Die Rache einer Königin (HER MAJESTY'S ABERRATION)................................ Seite 2 Gefährliche Sklaven (THE EXPENSIVE SLAVES).......................................... Seite 22 Doc und der Kindergarten (OLE MOTHER METHUSELAH)................................... Seite 42 Das Luftmonopol (THE GREAT AIR MONOPOLY)................................... Seite 78
Die Rache einer Königin Zerstreutheit hat gewisse Nachteile. Diese bedauerliche Tatsache war dafür verantwortlich, daß sich Doc Methusalem, das hochverehrte Mitglied der UNIVERSAL MEDICAL SOCIETY, plötzlich fünfundvierzig Lichtjahre vom ursprünglichen Kurs entfernt wiederfand und sich bemüßigt sah, auf Dorcon im System Algol zu landen. Hippokrates hatte ihn wiederholt und ausdrücklich gefragt, ob er auf Spico neuen Reaktorbrennstoff gebunkert hätte. Und der Doc hatte geistesabwesend bejaht. Neunzig Lichtjahre weiter 2
stellte es sich jedoch heraus, daß die MORGUE nur noch aus gutem Willen flog und daß das gute alte Schiff für drei oder vier Hupfer Energie in ihren goldenen Reaktorkammern mit sich führte. Zweifellos ein unbefriedigender Zustand, stellte Hippokrates fest. Mit den vier kurzen Armen fuchtelnd, repetierte er wie ein Lehrautomat die zweihunderttausend Worte lange Vorschrift über Brennstoffe und ihre Bedeutung für die Weltraumfahrt. Das tat er mit so penetranter Stimme, daß der Doc, der vorn in der Kanzel saß, das Bordradio abschaltete, mit dem Pilot und Maschinist verbunden waren. Doch Methusalem ließ also Hippokrates weiter aus seinem unerschöpflichen Gedächtnis zitieren und schaltete die Trägheitskonverter ein, um eine Landung im Algol-System zu versuchen. In dieser Gegend der Galaxis war der Arzt noch nie gewesen. Das war eigentlich sonderbar, da das Algol-System gar nicht so sehr weit von der Erde entfernt war. Natürlich hatte der Doc schon von Algol gehört; schließlich kommt einem Mann von 750 Jahren so allerhand zu Ohren. Doc Methusalem war nicht abergläubisch, dies also konnte es nicht sein, was ihn von einem Besuch Algols abgehalten hatte - oder doch? Algol hatte einen miserablen Ruf. Seit Tausenden von Jahren war Algol unter Seefahrern und Astrologen als Stern des Bösen bekannt, weil er alle drei Tage die Helligkeit änderte. Dieser Aberglaube war so tief verwurzelt, daß Algol selbst Jahrhunderte, nachdem Raumfahrt und Planeten-Kolonisation üblich geworden waren, von Raumpionieren und Auswanderungsbehörden links liegengelassen wurde. Man untersuchte noch nicht einmal, ob Algol Planeten hatte. Aufgeklärte Leute wußten natürlich, daß Algol eine Zwillingssonne war, mit einem dunklen Begleiter, der um seinen helleuchtenden Partner kreiste. Als jedoch eine Expedition auf einem der Algol-Planeten bruchlandete, als die erste Kolonie unterging, als ein transgalaktisches Schiff im 3
Algol-System verbrannte, da fiel den Leuten Algols schlechter Ruf ein, und sie begannen diesen Stern wie die Pest zu meiden. Kein Wunder, daß Algol sich zu einem ausgezeichneten Schlupfwinkel für Verbrecher und lichtscheues Gesindel entwickelte. Es konnte nicht ausbleiben - jedenfalls stand es so im ALLGEMEINEN & SPEZIELLEN HANDBUCH FÜR DIE VEREINTEN PLANETEN, das der Doc gerade studierte -, daß sich ein skrupelloser Anführer etablierte, der seit 319 Jahren die sechs Planeten von Dorcon aus regierte. Das Handbuch erwähnte außer Flugrouten auch Reparaturmöglichkeiten, Werften und Großhandelsmärkte, die in Ringo, der Hauptstadt von Dorcon, konzentriert waren. Sicherlich gäbe es dort so eine Kleinigkeit wie Reaktorbrennstoff. Der Doktor schaltete das Bordradio wieder ein, um Hippokrates zu sagen, wo die Fahrt hinging. Aber aus dem Lautsprecher tönte noch immer die schrille Stimme: "... die manuell zu betätigenden Schaltkreise müssen von drallkompensierten Valadium-Separatoren angesteuert werden. Fünf erg/sec Injektio..." Offensichtlich war Hippokrates unzufrieden. Der Doc grinste gequält. Vor hundert Jahren hatte er das verrückte kleine Wesen auf einer Auktion ersteigert. Eigentlich, weil er dessen Metabolismus studieren wollte, der auf Kalziumsulfat basierte. Doch der Gnom und sein Gedächtnis hatten sich als derart aufnahmefähig herausgestellt, daß der Doc fast augenblicklich seine ursprünglichen Absichten vergaß. In der Folge erlag er, zwar bewundernd, aber auch verdammt hilflos, immer wieder wahren Sintfluten von Informationen. Ein Gong ertönte. Eine Sirene heulte. Ein großer Bildschirm flackerte und zeigte dem Arzt rasch hintereinander mehrere mögliche Landeplätze. Aus dem Beschleunigungsmesser schnippte ein metallener Finger und drückte die Annäherungsbremse. Die chemischen Brennkammern spuckten 4
Feuer und bremsten das Schiff ab. Ein dumpfer Bums, die MORGUE war gelandet. Die Sicherheitsschotte öffneten sich, klappernd fuhren Verbindungsleitern aus, klickend säuberten sich die Instrumente, bevor sie in der Konsole verschwanden. Doc Methusalem nahm den Sturzhelm ab, stand auf und räkelte sich. Die Abdeckungen der Backbordluken fächerten auf und ließen ein grünes Feld, ein kleines Wäldchen und das Plastikgebirge einer dahinterliegenden Stadt sichtbar werden. Aber noch waren nicht alle Instrumente inaktiv. Der Analysator schob sich heraus, eine kompakte Masse roter und grüner Fluidkristalle, der die Präsenz gesundheitsschädlicher, umweltfremder oder feindlich gesinnter Subjekte anzeigte. Atmosphäre, Schwerkraft, Vegetation, Nahrungsmittel, Klima, Wetter, Oberflächentemperatur, Bodentemperatur, Radioaktivität und noch ein paar tausend andere Dinge zeigten GRÜN. Aber ROT ROT ROT flimmerte die Anzeige bei Soldaten, Waffen, Kadavern, Feindseligkeit. Die Endanzeige leuchtete: RELATIV UNSICHER, ABFLUG EMPFOHLEN. Nun verdankte der Doc sein langes Leben nicht zuletzt der Tatsache, den Instrumenten blind zu vertrauen. Instrumente waren dazu da, beachtet zu werden. Und wenn sie Empfehlungen oder Trends anzeigten, war es ratsam, ihnen zu folgen. Deshalb hob er gerade die Hand, um mit Flüssigraketen zu starten und woanders hinzufliegen, als Hippokrates seine wütend wackelnden Fühler in die Kanzel steckte. "... momentanes Außerachtlassen der Fissionstemperaturen kann zur Farundium-Ionisation führen und nachfolgend geschil..." "AUFHÖREN", sagte der Doc. Hippokrates schwieg. Aber nicht, weil er etwa gehorchte. Seine Augen lasen "RELATIV UNSICHER, ABFLUG EMPFOHLEN.". Das war es, was ihn stocken ließ. Und während sein Dissertationsdrang gegen diesen psychischen Block ankämpfte, rutschte der Doc die Kletterstange in das 5
Eßzimmer hinunter und trank die Milch, die dort auf ihn wartete. Hier waren alle Luken geöffnet. Den Salon hatte Siraglio kurz nach der Jahrhundertwende eingerichtet. Siraglio war recht verschwenderisch mit Gold und Obsidian umgegangen und hatte die Wände mit ausgesuchtem Geschmack gestaltet. Die Bullaugen waren so raffiniert angeordnet, daß sich Außenansichten harmonisch in die Dekoration einfügten. Leider war dies heute nicht der Fall. 619 Gehängte baumelten an den Bäumen, die den Flugplatz umsäumten. Die Luftwirbel der landenden MORGUE ließen die Körper hin und her pendeln, als tanzten sie einen uralten, unhörbaren Totentanz. Der Doc stellte das Milchglas hin. Seine Blicke wanderten von den Blumenrabatten, dem gepflegten Rasen und den geschmückten Wegen zu den Gehängten. "Hippokrates!" Sofort tauchte der Gnom auf. Seine 500 Kilo waren nicht zu übersehen. "Paß auf das Schiff auf! Wenn außer mir jemand heranwill, schaltest du einen ALPHA-Schirm ein. Halte Verbindung mit mir und bleibe startbereit. Noch Fragen?" Hippokrates war zu überrascht, um antworten zu können. Der Arzt warf sich die goldene Tunika um, einen Orcron-Mantel darüber, nahm Blastergürtel und Köfferchen und kletterte die Leiter hinunter auf den Flugplatz. Jeder Mensch entwickelt nach ein paar Lebensjahren einen gewissen Spürsinn, den man allerdings nicht unbedingt als einen weiteren Sinn erkennt. Aber wenn dieser Mensch für die UMS arbeitet, schärft sich dieses Empfindungsvermögen ungeahnt. Denn obschon die Mitglieder der SOCIETY das Monopol des gesamten verbotenen und geheimen medizinischen Wissens unter sich vereinigten und obwohl sie niemandem Untertan und unantastbar waren, ließ sich der Lauf 6
der Welt dadurch nicht immer beeinflussen. Über hundert Ebenholzsärge, die in der kleinen Kapelle der Sonnensoldaten stehen, zeugen davon. Kein Wunder also, daß der Doc sein ganzes Trachten darauf richtete, schnellstmöglich Reaktorbrennstäbe zu erwerben und Ringo zu verlassen. Er folgte dem Geräusch von Niethämmern und Schneidbrennern und fand bald die halb unter der Erde gelegenen Reparaturwerkstätten. Überrascht blieb er im Eingang stehen. Zehn oder zwölf Mechaniker arbeiteten hier - aber sie waren aneinandergekettet, und die Ketten waren mit Alarmkontakten versehen, die einen Bruch der Kette sofort meldeten. Die Mechaniker wurden nicht etwa von einem Diplomingenieur überwacht, sondern von einem Militärposten, den die Umgebung nicht im geringsten interessierte. Wenn die Wache ihn nicht aufgehalten hätte, wäre der Doc sofort umgekehrt und hätte selbst nach dem Ersatzteil-Lager gesucht. "Sie da! Bleiben Sie sofort stehen!" Die Wache kam näher. "Heh, Eddie! Läute mal!" Irgendwo hinten im Dunkel der Werkstatt hämmerte ein Gong. Die Chancen standen 50:50, ob der Doc schießen, oder stehenbleiben und alles erklären konnte. Aber schon eine Sekunde später bohrte sich der Lauf einer Schußwaffe in seinen Rücken. Sicher, der Doc wurde nicht immer sehr herzlich empfangen, aber niemals hatte er erlebt, daß man offenbar überhaupt nicht wußte, wen man in ihm vor sich hatte. Schließlich gab es keinen, der nicht von den unsterblichen Sonnensoldaten gehört hatte, die sogar Königen befehlen konnten. Bis auf diese zwei. Sie hatten nicht viel Menschliches an sich. Kreuzung aus Menschen und Scorponern. Beide trugen die Brandmale vor. Gefängnissen auf der Stirn. 7
"Er hat gar keine Kette", meinte Eddie. "Ist wohl gelandet", spekulierte der andere Wächter. "Wenn Sie bitte die Güte hätten...", begann der Doc. "In 'ner Minute sind sie hier, Buddie", sagte Eddie und stellte seine unförmigen Stiefel genau in Docs Weg. Sie kamen schneller als angekündigt. Ein ganzer Zug. Ohne Ausnahme in dreckigen Uniformen, unrasiert, mit gelben Augen und bis an die Zähne bewaffnet. "Steig ein, Jungchen", sagte Eddie und nahm dem Arzt im gleichen Augenblick die beiden Blaster ab. "Ist er nicht schön", staunte ein Obergefreiter. "Einsteigen", drängte Eddie. Der Doc sah keinen Sinn darin, einen Massenmord zu veranstalten. Er kletterte also in den Flugschlitten, der sofort in etwa drei Meter Höhe auf die Stadt zuflog. Die blaugrünen Straßen und gelben Häuser machten einen verkommenen Eindruck. Viele Einwohner sahen wie Mongolen aus; die Architektur unterstrich diesen Eindruck noch. Aber die einst farbenfrohen Pagoden erschienen dem Arzt wie Grabmäler; die ummauerten Gärten hatte Unkraut erstickt, und die japanischen Krüppelbäumchen wucherten in die Höhe. Das Elend wurde noch durch den Anblick einiger alter Bürger betont, die sich furchtsam und mit unsicheren Schritten vor dem Luftschlitten in Sicherheit brachten. Doc Methusalem war schockiert: Jeder schleppte eine Eisenkugel mit Kette hinter sich her. Der Schlitten wackelte auf die blauen Türme zu. Aber als er sich den Gebäuden näherte, wurde aus dem scheinbaren Palast ein graues Gefängnis. Die Regierungsgebäude waren von vielen Mauern eingeschlossen. Alle Gebäude hatten getrennte Verteidigungsringe. Die Wachen standen in Türmen, wie es bei irdischen Gefängnissen üblich war. Ein Hauskomplex lag im anderen, und den Mittelpunkt stellte nicht ein prachtvoller 8
Palast dar, sondern eine Panzerkuppel. Dorthin jedoch flog der Schlitten nicht. Er landete holpernd vor dem Wachhaus des äußeren Ringes, wo der Doc einem liederlichen jungen Mann übergeben wurde. Mit halb geöffnetem Jackenkragen, so daß sein ungewaschener Hals zu sehen war, das Haar ungekämmt, so saß er vor dem Schreibtisch, die Beine zwischen Schnapsgläsern und Flaschen ausgestreckt. "Wo'sch h' Persnalsweis", stammelte er. Natürlich hatte der Doc keinen. Normalerweise genügte der Anblick des Sonnenordens, um ihm Eintritt in die stolzesten Königreiche des Universums zu verschaffen. "Was' das", fragte der junge Mann. "Mein Paß", sagte der Doc. "Ich bin Mitglied der UNIVERSAL MEDICAL SOCIETY." "Der was?" "Ich bin Arzt", erklärte Doc Methusalem geduldig. Das Benehmen des jungen Mannes änderte sich schlagartig. Seine Miene hellte sich auf. Er zeigte Interesse. Er nahm die Beine vom Schreibtisch, stieß dabei etliche Gläser und Flaschen um und griff nach einem seltsamen Apparat, den der Arzt als Telefon identifizierte. "Ich habe einen Arzt aufgegabelt. Sir Pudno. Was sagen Sie nun?... Klar, er sieht ganz danach aus... Warum hätte ich Sie sonst angerufen?... Okay, Sir Pudno. Sofort." * Im Schlepptau des jungen Offiziers wurde der Doc durch achtzehn getrennte Schutzmauern geführt, bis sie schließlich eine Treppe erreichten, die in die Tiefe führte. Der Offizier hatte den Doc ohne hinzufallen bis hierher navigiert. Jetzt stieß man den Doktor in einen Salon aus blauer Seide. Ein besonders düsteres Zimmer, das nur mit einem Bett und einem Stuhl 9
möbliert war. Sir Pudno kletterte gerade aus dem Bett - ein schlaffer, fetter Mongole. Er wickelte sich in einen bekleckerten Morgenrock, setzte sich ächzend auf den Stuhl und starrte den Arzt an. "Sind Sie wirklich ein Doktor, Mäxchen?" fragte Sir Pudno. "So ist es. Wenn Sie jemanden haben, der behandelt werden muß, werde ich Ihnen gern zu Diensten sein. Jedoch sorge ich mich derzeit um den Reaktor meines Schiffes. Ich landete hier..." "Mund zu, Mäxchen", erwiderte Sir Pudno. "Wir gehen gleich zu Ihrer Majestät." Er zwängte sich in eine Uniform, deren Nähte bedrohlich knackten. Dann wurde der Doc in einen Raum, gebracht, der eher einem Pulvermagazin als einem Thronsaal glich. Der Saal war überdurchschnittlich groß, aber sein Glanz war verblichen. Statt Gemälden und Gobelins waren Panzerplatten aufgehängt. Kein Sonnenstrahl fiel herein. Nur der schwache bläuliche Schimmer von Entladungslampen geisterte durch den düsteren Raum. Das Podium war dicht verhängt. Ein Teil des Vorhangs war ausgeschnitten worden und durch eine Einwegscheibe ersetzt. Jemand - oder etwas - saß auf dem Thron. Sir Pudno salutierte und verbeugte sich. "Eure Majestät, begünstigt durch glückliche Umstände, ist es mir gelungen, einen Arzt herbeizuschaffen." "Wieviel erhält er von dem Lohn des Arztes?" fragte die Person hinter dem Vorhang. "Über Entlohnung wurde nicht gesprochen, Eure Majestät", sagte der Doc. "Desgleichen nicht über Dienste. Ich bin Mitglied der UMS und darf nicht arretiert werden. Wenn Sie einen Patienten haben, werde ich tun, was ich kann. Ohne Entgelt. Außer einem Reaktorkern für mein Schiff. Ich wiederhole, ich darf nicht behindert werden." "Er redet, als ob er wer weiß was wäre", sagte die Person. 10
"Nun, zeige er ihm den jungen Dummkopf. Und er soll nicht vergessen, daß er ihn nicht ganz kurieren darf. Was sagte er, welcher Gesellschaft er angehöre?" "Der UNIVERSAL MEDICAL SOCIETY", erklärte der Doc. "Wir haben etwas gegen Staaten, die unsere Mitglieder behindern." "Er versteht sein Geschäft, hoffe ich?" fragte Majestät. "Man ist allgemein dieser Ansicht", entgegnete der Doc. "Führen Sie mich jetzt zu dem Kranken. Meine Zeit ist kostbar." "Behandelt er auch - Verrückte?" fragte Majestät. "Auch diese Tätigkeit kennt man von mir", sagte der Doc und starrte auf den Vorhang. "Er scheint ziemlich jung zu sein. Sein Haar ist lockig, seine Wangen sind rosig. Ob er sich auch auf die Kunst versteht, jemanden in den Wahnsinn zu treiben?" "Kann sein." "Kann er eine Maschine bauen, mit deren Hilfe man der Leute Geist verwirrt?" wollte Majestät genauer wissen. "Das ist möglich. Manchmal gelingt das allerdings besser ohne Maschine." "Aber mitnichten. Ich entlohne ihn fürstlich, wenn er so etwas täte." "Was täte?" "Jemandes Geist zerstören", sagte die Stimme hinter dem Vorhang. "Das kann ich nicht", entgegnete der Doc. "Nun, Pudno, zeige er Ihm trotzdem den Patienten", befahl Ihre Majestät. Sir Pudno führte ihn einen beschwerlichen Weg entlang. Der Doc mußte vorangehen, und Pudno folgte ihm mit zwanzig Wachen. Schließlich standen sie etwa sechzig Meter tief unter der Erde vor einem Kerker. Der Kerker war dreifach gesichert und bewacht und entpuppte sich schließlich als düsteres, 11
feuchtes Loch, in dem es nach ungewaschenen Menschen und verfaultem Stroh stank. Der Doc bekam einen Stoß, prallte gegen die Mauer, verlor die Besinnung, merkte aber, daß man ihm Tasche und Funksprech abnahm. Dann krachten die Gitter hinter ihm ins Schloß. * Er zog an der Schnur seines Umhangs. Ein Knopf leuchtete auf und erhellte mit kegelförmigem Schein die staubige Zelle. Das Licht fiel auf eine junge Frau, die sich an die gegenüberliegende Wand klammerte und die Augen ihres kleinen Kindes mit der Hand abschirmte. Sie trug ein zerlumptes Abendkleid, das die lange Gefangenschaft gebleicht und verschmutzt hatte. Aber offenbar war ihr Wille ungebrochen. Mit hocherhobenem Kopf und blitzenden Augen starrte sie in das Licht. Doc leuchtete nach links und rechts, bis der Lichtkegel auf den Mann fiel. Er lag auf schmutzigem Stroh und hatte den Arm vor das Gesicht geschlagen. Sein Rüschenhemd war zerrissen, die scharlachrote Schärpe starrte vor Schmutz, Beinkleid und zierliche Schuhe waren weiß von Kalk und voller Stroh. Doc Methusalem machte einen Schritt auf den Mann zu. Die Frau trat dazwischen. "Rühren Sie ihn nicht an!" Behutsam löste der Doc ihre Hand vom Umhang. "Ich bin Arzt. Man hat mich hereingelassen, weil man weiß, daß er krank ist." Sie glaubte ihm nicht ganz, ließ ihn aber näher kommen. Er löste einen Knopf vom Talar und legte ihn auf einen herausragenden Mauerstein, damit das Licht auf den im Stroh ausgestreckten jungen Mann fiel. Die scharf umrandeten roten Flecken auf den Wangen, das 12
Rasseln in der Lunge und die abgemagerten Hände sprachen Bände. Der Arzt erkannte die Zeichen: Tuberkulose. Im letzten Stadium. Seit mehr als zweihundert Jahren hatte er keinen derart fortgeschrittenen Fall gesehen. "Es ist sehr gefährlich", sagte er, "wenn ein Kind mit einem Kranken im gleichen Raum lebt. Wie lange sind Sie schon hier?" Die Frau hob den Kopf und sagte stolz: "Seit sechs Umläufen. Mein Kind ist drei." "Wer sind Sie?" wollte der Doc wissen. "Das ist Rudolf, der ungekrönte König von Algol. Ich bin Ayilt, die Königin." "So", sagte der Arzt und wunderte sich, daß es noch Dinge gab, über die er sich wundern konnte. "Wer ist denn der Regent?"' "Seine Mutter, die Gattin von Conore, der vor sechs Umläufen starb." Der Doc warf einen Blick auf die Gitter. Er fragte sich, wieviel er wissen durfte, ohne ein Risiko einzugehen. Aber er nahm sich ein Herz, als sein Blick auf das furchtsame Kind fiel. "Erzählen Sie. Von Anfang an." "Es ist mir nicht entgangen, daß Ihnen unser Reich unbekannt ist", sagte Ayilt und ließ sich auf dem Stroh nieder. "Auch wir wissen wenig über unsere Nachbarn im All. Denn wir sind weder wohlhabend noch klug. Unsere Planeten sind klein und unfruchtbar. .Kein Wunder, daß man uns vergessen hat. Wir stammen von Verbrechern ab. Unsere Vorfahren waren in der Hauptsache Orientalen, die sich gut angepaßt haben. Und unsere Regierungen waren undespotisch. Der letzte große Umsturz liegt schon mehr als 200 Jahre zurück. Danach konnte diese Familie", sie wies auf den Jüngling, "die Gesellschaft stabilisieren. König Conore herrschte gerecht und klug und war beliebt. Wegen unserer anrüchigen Vorfahren bauten wir den 13
Raumhandel nicht aus. Das war gut so, weil wir kaukasisches und scorponisches Blut in den Adern haben, das oft negativ aus der Art schlägt. Wir haben viele Strafkolonien, aber es gibt nur wenig schwere Verbrechen. König Conore war gerecht zu den Gestrauchelten, wie es seine Vorfahren auch gewesen waren. Er ließ sie ihre eigene Gesellschaftsform finden. Und wenn er sie auch nicht zurückkehren ließ, so kamen sie dennoch zu eigenem Wohlstand. Der König beging jedoch einen großen Irrtum, als er auch Frauen in die Strafkolonien schickte. Ich schäme mich, es zu sagen, aber weibliche Wesen scheinen stets sämtliche schlechten Eigenschaften zu erben. Die Strafkolonien waren fast immer überbevölkert. Wir betrachten Verbrecher als unverbesserlich. Unter ihren Kindern trafen wir jedoch eine gewisse Auswahl. Wir meinen, daß angewandte Eugenik bald Früchte tragen muß. Dennoch irrten wir uns manchmal. Ein Fehler war zum Beispiel die Heirat von König Conore mit der Prinzessin von Olin. Er vergaß, daß sie aus einer Strafkolonie stammte. Sie war eine geistreiche und schöne Frau. Beide regierten gut und weise, bis neue Verbrecher auftauchten. Niemand weiß bis heute, woher sie kamen und warum. Sie stammten nicht aus unserem Sonnensystem. Inzwischen sind alle tot, aber man sagt, daß der Anführer ein Erdenmensch gewesen sein soll. Jedenfalls wiegelten sie unsere Mongolen auf und nutzten die Gunst der Stunde. Während unserer Hochzeitsparade warf jemand eine Bombe in die Kutsche des Königs. König Conore war sofort tot. Pauma, seine Frau, wurde schwer verletzt und verlor ein Auge. Sie ließ 600 Wachen exekutieren, die gesamte Dienerschaft töten. Und meinen Mann und mich warf sie in diesen Kerker. Mehr als eine Million Menschen stellte sie vor Gericht und quälte sie zu Tode, bis sich die achtbaren Bürger erhoben und sie absetzen wollten. 14
Wir hatten alle vergessen, wessen Blutes sie war. Wir hatten vergessen, wie ungerecht eine schöne Frau werden kann, wenn sie plötzlich verkrüppelt wird. Wir hatten die Strafkolonien vergessen. Wir wurden von Sträflingen heimgesucht. Mein Mann und ich waren gefangen. Die Wehrmacht, die Leibgarde, alle Würden- und Amtsträger waren Paumas Verrat zum Opfer gefallen. Sträflinge und Zuchthäusler traten an ihre Stelle. Die befreiten Verbrecher waren unwissend und plagten und verdarben Volk und Land. Aber es gelang ihnen, weil jedem Verbrecher nur drei Bürger gegenüberstanden. Mein Mann und ich verdanken unser Leben Paumas Furcht, einer unserer Planeten könne sich erheben. Denn unser Volk glaubt, Rudolf würde aus dem Verlies auferstehen und gerecht regieren, wie sein Vater vor ihm." "Sie schämt sich also nicht, ihren leiblichen Sohn einzukerkern", stellte Doc fest. "Rudolf war es, der ihren ersten Verirrungen Widerstand entgegensetzte. Er wollte ihr die Augen öffnen, damit sie sah, daß die Tragödie von außen in das Land getragen worden war. Aber sie war eifersüchtig auf ihn, weil Conore seinen Sohn mehr liebte als sie. Sie glaubte, Rudolf wolle sie aus dem Weg schaffen. Aber sie muß ihn im Gefängnis am Leben erhalten, denn solange er lebt, wagt keiner, die Hand gegen sie zu erheben. Das ist der Grund, warum Sie uns in dieser entsetzlichen Lage finden, Doktor. Können Sie bitte etwas für meinen Mann tun?" "Ich werde es versuchen", sagte der Doc. Er rief nach den Wachen und verlangte nach seiner schwarzen Tasche. * Sir Pudno, der hinter der dreifachen Barriere stand, hatte etwas dagegen. Er wähnte sie voller Waffen und meinte, sie sähe gar 15
nicht wie eine Arzttasche aus. Als der Doc aber schließlich damit drohte, er würde dann eben überhaupt nichts tun, reichte man ihm das Köfferchen durch die Gitterstäbe. Der Doc stellte das Knopflicht schwächer und setzte dem jungen Mann eine kleine milchige Platte auf die Brust. Er schob das Scheibchen hin und her, bis er die gesamte Lunge untersucht hatte. Das dauerte eine Weile, denn der Röntgenschirm war nur fünfundzwanzig Quadratzentimeter groß. Der Doc schüttelte den Kopf. Von der Lunge war nicht mehr viel funktionsfähig. Ein Wunder, daß der Mann überhaupt noch am Leben war. Doc Methusalem nahm eine Kapsel mit mutierten Bakterien und steckte sie dem Kranken zwischen die Lippen. Die Mundschleimhaut würde die gesamte Dosis absorbieren. Dann kümmerte er sich um die junge Frau. Der Röntgenschirm zeigte eine Lunge ohne Befund. Die Frau war geringgradig unterernährt. Für das Kind galt das gleiche. Es weinte, als der Doc ihm eine Kapsel in den kleinen Mund schob. "Ich empfehle Ihnen", sagte der Arzt anschließend, "sich nunmehr die Nase zuzuhalten. Was jetzt kommt, riecht nicht gut." Er nahm eine daumengroße Patrone aus der Tasche, ließ sie fallen, und sie explodierte auf dem Boden. Eine dichte weiße Wolke dehnte sich aus und füllte den Kerker. Der Wächter schrie, riß die Gitter auf, stürzte herein, packte den Arzt, schleppte ihn hinaus und stieß ihm den Lauf seiner Waffe in die Rippen. Klirrend fielen die Gitter hinter dem Doktor ins Schloß. Er wurde den langen Gang hinaufgeschleppt und wieder in den Thronsaal gebracht. Der Vorhang bewegte sich sacht. Jetzt wußte der Arzt, was sich dahinter verbarg, und eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Sir Pudno salutierte und verbeugte sich. "Eine Behandlung fand statt, Majestät." 16
"Wird er sich erholen?" fragte Pauma hinter dem Vorhang. "Ihretwegen bestimmt nicht", sagte der Doc. "Der Junge wäre ums Haar einer gefährlichen Infektion erlegen. Ich wäre nicht überrascht, wenn dieselbe Krankheit auch hier im Palast grassierte." Schweigen. Die Wachen fröstelten. Ein Lachen ertönte hinter dem Vorhang. "Wenn Sie meinen, daß Sie das nichts angeht", sagte der Doc, "dann sollten Sie wissen, daß Krankheit nicht vor Rang und Stand haltmacht. Ich spüre diese Krankheit bereits hier oben." Stille. Der Vorhang bewegte sich leise. "Was ist es?" "Schizophrenie. Dementia praecox verbunden mit Persekutionsdelusionen. Eine sehr gefährliche und grauenhafte Krankheit. Sie entspringt einem psychischen Schock. Ich spüre hier ganz deutlich eine Schizoide, die unter Verfolgungswahn leidet. Eine Paranoikerin, die sich selbst und ihre Umwelt zu zerstören droht." Doc Methusalem meinte, er habe deutlich genug gesprochen. Aber er täuschte sich. "Ich denke, er versucht, mich zu beleidigen", tönte es hinter dem Vorhang. "Keineswegs", sagte der Doc. "Ich will nur helfen. Ich weiß, wovon ich spreche. Warten Sie. Ich werde es Ihnen zeigen." Er drehte sich zu einer Wache um. Wie aus der Luft gezaubert, wirbelte ein glitzerndes Scheibchen in der Hand des Arztes. Er hielt es dem Soldaten vor die Nase und sprach rasch ein paar abgehackte Worte. "Bau, wau! Wuff!" machte der Soldat und begann auf allen vieren durch den Saal zu kriechen und die Stiefel zu beschnuppern. Der Doc wandte sich zum Podium. "Sehen Sie? Die Krankheit ist ansteckend. Der Soldat wird 17
zum Hund, kaum daß man ihn hart anfaßt." Die Person hinter dem Vorhang schien sich zu fürchten. "Man bringe den Soldaten sofort hinaus! Rede er, Doktor! Wer hier ist noch befallen? Sprechen Sie. Wer hier ist außerdem erkrankt?" Langsam merkte der Doc, mit welchen Geisteskindern er es zu tun hatte. Er sah Sir Pudno ins Gesicht. "Hier erkenne ich die ersten Anzeichen." "Nein!" jammerte Sir Pudno und wich stolpernd zurück. Aber schon flimmerte ihm die Scheibe ins Gesicht. Nur sein Unterbewußtsein vernahm die leisen Worte, die der Doc flüsterte. "Wuff! Bau, wau!" sagte Sir Pudno und rannte durch den Saal. Furcht und Schrecken breiteten sich aus, und plötzlich rannten die Wachen davon. Die Stimme hinter dem Vorhang schrie. Aber die Wächter gehorchten nicht. Der Doc war vorsichtig. Er war sicher, daß die Frau eine Waffe bei sich hatte. Er blieb zehn Schritte vor dem Vorhang stehen. "Es tut mir leid", sagte er einschmeichelnd. "Ich bedaure außerordentlich, was ich Ihnen jetzt eröffnen muß. Ich weiß, was Sie erleiden und was auf Sie zukommt. Nur ein intelligenter Mensch kann das begreifen. Es muß schrecklich sein, wenn man von solchen Leuten umgeben ist und weiß..." Und die kleine Scheibe flimmerte in seiner Hand. Eine starke Persönlichkeit kann diesen Trick in kurzer Zeit lernen. Und der Doc bediente sich dieses Tricks seit über 700 Jahren. Kein Wunder, daß er ihn beherrschte. Die Person hinter dem Vorhang seufzte. Der Doc schlug die Portiere beiseite. Was er sah, war schrecklich! Die Bombe, die vor sechs Jahren explodiert war, hatte ganze 18
Arbeit geleistet. Doc Methusalem nahm eine Kapsel aus dem Gürtel und zerbrach sie. Das Narkotikum beendete, was das Hypnoscheibchen eingeleitet hatte. Die Frau mußte die ganzen sechs Jahre hinter dem Vorhang verbracht haben! Hier standen ihr Bett, ihre Garderobe, ein kleiner Kosmetiktisch. Aber anstelle des Spiegels leuchtete ein Gemälde, das zeigte, wie schön diese Frau vor ihrem Unfall gewesen war. Der Doc kramte in seinem Köfferchen und fand schließlich, was er suchte. Es ging leicht, weil er einen Katalysator benutzte. Sir Pudno bewachte unterdessen knurrend den Eingang und ließ niemand herein. Der Doc nahm ihr Schmuck und Kleider ab und entblößte ihren Rücken. Sein Spezialskalpell arbeitete wie das Werkzeug eines Bildhauers. Dann und wann nahm er an dem Gemälde Maß. Der Katalysator drang in die Skalpellschnitte ein, und bevor die Rückenoperation beendet war, waren die meisten Schnitte verheilt. Der Katalysator regte die Zellen zu vermehrter Teilung an. Der Arzt arbeitete sicher und zielstrebig. Drei Stunden später trat er von der Patientin zurück. Er hatte ein Meisterwerk vollbracht und schüttelte sich fast selbst die Hand. Er schaffte die blutbefleckten Laken beiseite und setzte die Patientin aufrecht auf den Thron. Leise und beschwörend redete er auf sie ein. Langsam klärten sich ihre Blicke. Sie folgte ihm mit den Augen und nahm jedes seiner Worte in sich auf. Doc Methusalem beobachtete die Schnitte. Langsam verloren sie die dunkelrote Farbe, wurden immer blasser und 19
verschwanden schließlich ganz. Die Wangen röteten sich. Jetzt war es Zeit, an andere Dinge zu denken. * Sir Pudno bellte zustimmend und ging nach draußen, um Arbeiter zu holen. Bald wimmelte der Thronsaal von Gestalten, die Ketten hinter sich her schleppten, bis dem Arzt das Klirren auf die Nerven ging und er sie kurzerhand abnehmen ließ. Die Handwerker brachten die alten Spiegel, Gemälde und Gobelins wieder an. Möbel wurden aus dem Magazin herbeigeschafft, die Beleuchtung wurde verbessert, neue Uniformen wurden ausgeteilt. Jedesmal, wenn jemand in den Thronsaal kam und auf neue Befehle wartete, steckte der Doc den Arm hinter den Vorhang und zog eine handschriftliche Order heraus. Schließlich erlöste er den rechtmäßigen König, dessen Gemahlin und den Infant. Die guten Nachrichten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Mehr und mehr Bürger kamen und drängten sich vor dem Palast, in den Korridoren und Höfen. Von Stadt zu Stadt flogen Gerüchte, von Planet zu Planet. Rudolf hatte eine Menge Fragen. Aber der Doc war kurz angebunden. "In etwa fünf Minuten wirst du den Thron besteigen, Junge. Du wirst deiner Mutter kein Sterbenswörtchen davon erzählen, wie es während der letzten sechs Umläufe zugegangen ist. Das mußt du mir versprechen. Am besten schickst du sie in eines deiner Sommerschlösser und läßt sie dort den Rest ihres Lebens im Luxus vertrödeln. Dein Wort darauf!" "Ja, natürlich, aber..." "Du achtest bitte darauf, daß er sein Wort hält." Damit wandte sich der Arzt an Ayilt. "Machen Sie sich keine Sorgen. Wir tun, was Sie sagen. Ich 20
kann es noch gar nicht fassen. Vor wenigen Tagen war Rudolf noch todkrank... Sie müssen wirklich ein Engel sein." "Ich fürchte, nicht alle sind deiner Meinung, Ayilt", sagte der Doc lächelnd. "Halte es uns Sonnensoldaten zugute. Der Universal Medical Society. Und sprich gefälligst nicht darüber, daß ich mich hier in die allerhöchste Politik eingemischt habe. Noch Fragen?" Sie sahen ihn stumm an, aber es schien, als spürten sie langsam Lebensfreude und Hoffnung wiederkehren. "Wir stehen vor einem entsetzlichen Erbe. Aber wir werden es schaffen", sagte Rudolf und schüttelte dem Doktor die Hand. Der Doc mußte Ayilt daran hindern, vor ihm auf die Knie zu fallen. Brüsk führte er das Königspaar zum Thron. Dann holte er Pauma aus dem Versteck. Unterwürfig sah Pauma den Doc an, bis er die Hypnose löste. Jetzt kam der große Auftritt. König und Königin neigten gnädig das Haupt, als die Königinmutter ihnen die Reverenz erwies. Doch dann gingen die Tore auf, und Volk strömte in den Thronsaal. Bürger und Soldaten berichteten von fliehenden Garnisonen, von Menschen, die das Joch der Sklaverei abschüttelten. Niemand beachtete den Doc. Verstohlen beobachtete er die alte Königin. Auch sie stand am Rande des Geschehens. Aber sie war damit beschäftigt, sich im Spiegel zu bewundern und drehte kokett den Kopf von links nach rechts. Kurze Zeit darauf brachte man den Doc mit dem Flugschlitten zum Raumhafen. Das Materiallager war verwaist. Zwei Wachen lagen tot am Boden. Überall waren zerbrochene Ketten verstreut. Aber die Regale waren aufgeräumt und ordentlich, so daß der Doc bald einen passenden 2-MilliardenKilopond-Reaktor fand und einsteckte. Der Tag schien heller, als der Doktor auf das Flugfeld trat. Und die MORGUE stand golden funkelnd inmitten einer friedlichen Szene. 21
Doc Methusalem ging ins Schiff. Hippokrates wartete mit mürrischer Miene und warf den Wälzer über kosmische Strahlung, in dem er gelesen hatte, auf den Boden. Mit schriller Stimme hielt er seinem Meister eine Gardinenpredigt, was er sich eigentlich einbilde, so lange fortzubleiben. "War es wirklich so schwer, einen passenden Reaktor zu bekommen?" beklagte er sich. "Diesen schon", entgegnete der Doc. "Zeig mal", sagte Hippokrates ungläubig. Der Doc nahm ihn aus der Tasche, und der kleine Bursche strahlte. Er sprang in den Maschinenraum, um den Reaktor einzubauen, und trällerte dabei das nicht ganz stubenreine Lied von dem Bläser aus Saphi. Bald darauf steuerte die MORGUE auf das Zentrum der Galaxis zu. An Bord war alles friedlich. Der Reaktor arbeitete einwandfrei.
Gefährliche Sklaven Miles Jasper Rantzau bildete sich ein, der Gründer eines Imperiums zu sein. Mit zehn Jahren war er nach Mizar im Großen Bären gekommen und aufgrund seines übermenschlichen Überlebenswillens in Dorab zu großem Ansehen gelangt. Seine massige Gestalt trotzte Dorabs eisigem Klima, und mit seiner unerschöpflichen hanseatischen Lebenskraft hatte er bald die Regierungsgewalt an sich gerissen. Ja, man konnte mit Fug und Recht behaupten, daß Rantzau Dorab war. Denn dort geschah nichts ohne seinen ausdrücklichen Willen. Es war ihm gelungen, die Schwierigkeiten dieses unwirtlichen Planeten zu überwinden. Und damit hatte er sich 22
eine fast unerschöpfliche Geldquelle erschlossen. Während der ersten Jahre des zweiten RaumfahrtJahrtausends, als die Menschheit in kleinen unerschrockenen Expeditionen die bewohnbaren Planeten eroberte, war Grundbesitz für einen Apfel und ein Ei zu haben, wie man so schön sagt - es gab einfach zuviel Land. Aber es gibt bis heute auch ein ökonomisches Gesetz, das besagt, daß, wenn Land spottbillig zu haben ist, Arbeitskräfte um so teurer werden, weil es kaum genügend Menschen gibt, die dieses preiswerte Land ausbeuten können. So kommt es, daß in solchen Zeiten Reichtum weniger in der Anhäufung großer Ländereien besteht, als vielmehr in der Anzahl der Arbeitskräfte, mit denen man sie bewirtschaftet. Und es bleibt nicht aus, wenn Menschen und nicht Grundstücke rar sind, daß Kapitalisten Kapital in menschliche Wesen investieren und Sklaverei praktiziert wird - egal, wie viele Gesetze dabei gebeugt und gebrochen werden. Miles Jasper Rantzau jedoch, der großmäulige Pfeffersack von Dorab, hatte zwei Schlußfolgerungen gezogen und war reich geworden. Die erste war ein Transportprogramm, das Leuten aus "weniger begünstigten" Gegenden freien Transport nach Dorab bewilligte und freies Land, vorausgesetzt, sie arbeiteten sieben Jahre lang für ihn. Er hatte eine ansehnliche Raumflotte aufgebaut und konnte sie sich auch leisten. Aber früher oder später stellte sich heraus, daß der Mensch, der auf Dorab leben konnte, noch nicht geboren war. Bald fielen die Siedler nicht mehr auf Rantzaus vielversprechende Werbung herein. Seine Werbeplakate wurden immer häufiger mit faulen Eiern und Tomaten oder einfach mit Dreck aus der Gosse beworfen. Die Universal Medical Society kümmerte sich herzlich wenig darum. Der Mensch änderte sich nicht, und die kleinen Fische wurden eben von den größeren gefressen. Nein, es war sein zweiter Einfall, der die Sonnensoldaten 23
veranlaßte, eines ihrer Mitglieder auf die Spur des unvergleichlichen Rantzau zu setzen. Und es war der alte Doc Methusalem, den sie dazu bestimmten. Es gibt in der Milchstraße etliche Welten, die für Menschen nicht bestimmt sind, weil sie darauf nicht leben können. Trotzdem erforschten die Menschen dann und wann diese Welten in besonders ausgerüsteten Raumschiffen, beobachteten die seltsamen Bewohner, staunten über unbekannte physiologische Fakten und machten, daß sie wieder wegkamen. Denn mit einem Wesen von einem halben Meter Größe, das zwei irdische Tonnen wiegen mochte, hatte der Mensch etwa soviel gemein wie ein Roboter mit einer Kuh. Deshalb also ließ man solche Planeten generell in Ruhe. Aber gerade hier bewies sich Rantzaus Genie. Er hatte Expeditionen zu den umliegenden Planetensystemen geschickt, hatte geforscht und Tatsachen gesammelt und bewertet und war schließlich auf die Bewohner von Sirius 68 gestoßen. Diese hatte er untersucht, ein paar Musterexemplare entführt, analysiert und schließlich erobert und unterdrückt. 900 Sirianer hatte er nach Dorab verfrachtet, damit sie in der Öde arbeiteten - bis plötzlich seine Angestellten und Aufseher und auch andere Bürger erkrankten und starben. Rantzau reagierte mit Gewalt. * Doc Methusalem, der mit seinem Schiff, der MORGUE, in wichtiger Mission unterwegs war, erhielt einen dringenden Funkspruch vom Medical Centre: FALLS MOEGLICH SEHEN SIE SICH AUF DORABMIZAR UM WO UNBEKANNTE KRANKHEIT BEVOELKERUNG DEZIMIERT. DR. HOLDEN GEWANN INTERGALAKTISCHE TAMERLANSCHACH-MEISTER24
SCHAFT. MISS ROGERS BITTET UM EINEN FLACON MIZAR NO. 5 WENN SIE DORT LANDEN SOLLTEN. MFG FOLLINGSBY. Der Doc änderte den Kurs und ging zum Essen in den Salon. Zwar konnte er von dort nur Notbremse, Geschwindigkeit und Umkehrkontrolle bedienen, doch vor kurzem hatte man die MORGUE mit einem SPEARY-Automatik-Navigator ausgerüstet. Der Doc hatte dem neumodischen Kram nicht getraut und sich 120 Jahre lang gegen den Einbau gesträubt. Aber schließlich hatte er sich breitschlagen lassen, und der Navigator wurde installiert. Der SPEARY reagierte prompt auf Doc Methusalems neues Kommando und flog die MORGUE in Richtung "Hauptstadt Dorab/Mizar". Hippokrates, des Doktors ewig junger Sklave, hüpfte erwartungsvoll auf und ab, holte das Geschirr, deckte den Tisch und zitierte aus seinem unerschöpflichen Gedächtnis ein Kapitel Boccaccio. Als er den Hauptgang auf einem massiv goldenen Teller serviert hatte und bemerkte, daß sein über alles verehrter Doc der exquisit zubereiteten Peking-Ente so zusprach, wie es das Mahl verdiente, begann er die Geschichte von Rappacchinis Tochter zu erzählen. Vielleicht erinnern Sie sich, daß in dieser Geschichte ein alter Arzt, der sich an einem Rivalen rächen will, seiner Tochter systematisch immer stärkere Dosen eines Giftes eingab, bis sie dagegen immun wurde. Wenn sich dies auch verteufelt nach moderner Kalbsmast und so weiter anhört, so lagen die Motive des alten Quacksalbers etwas anders: Er stellt seine Tochter dem Sohn seines Widersachers vor, der natürlich der doppelten Virulenz der schönen Tochter nichts entgegensetzen kann und dahinsiecht. Obwohl diese Geschichte aus des Docs Bibliothek stammte, deren Inhalt Hippokrates unermüdlich nach und nach in sich aufnahm, hatte der Arzt die Geschichte seit mehr als 25
dreihundert Jahren nicht mehr gehört. Er dachte darüber nach, welche Vorteile er doch dem mittelalterlichen Schriftsteller gegenüber hatte. In der Tat, der Doc kannte wenigstens tausend Methoden, einem anderen ein plötzliches Ableben zu bescheren. Vielleicht, dachte er, während er das Dessert genoß, war es ganz gut, daß die Leute heutzutage kaum noch in alten Büchern schmökerten und lieber die Dutzendware der Fernsehserien konsumierten. Nach all den Grausamkeiten, Kriegen und dem Provinzialismus der Regierungen, die Doc Methusalem bislang erlebt hatte, könnten solche antiken Machenschaften ganze Planetensysteme entvölkern. Der Bordlautsprecher unterbrach seine Gedanken. "Wir sind soeben auf Dorab/Mizar gelandet und befinden uns auf dem Flughafen der Hauptstadt Nanty. Die Außenverhältnisse sind gut, aber es herrscht subarktische Kälte." Es war die MORGUE, die da sprach. Der Doc konnte sich einfach nicht an die honigsüße Stimme gewöhnen, die man seinem Schiff gegeben hatte. Hippokrates half ihm in den bleigefütterten Schutzanzug, setzte ihm den Helm auf und versah den Doktor mit Arztköfferchen und zwei Blastern. Dann trat er zurück, bewunderte sein Werk und kontrollierte gleichzeitig die Funktionen des Schutzanzugs. Hippokrates war klein, hatte vier Arme und sah einfach grauenhaft aus. Aber soweit es den Doc anging, war das kleine Wesen unersetzlich. Doc Methusalem trat durch die Luftschleuse und blieb stehen. In seiner sechshundertjährigen Praxis hatte er noch nie eine düsterere Gegend gesehen. Der Planet Dorab kreiste auf einer unregelmäßigen Bahn um eine Doppelsonne. Sein Orbit führte den Planeten zwischen den Sonnen hindurch, und da sie sich gegeneinander bewegten, zog bald die eine, bald die andere Sonne Dorab mit sich. Kein 26
Wunder, daß das Klima manchmal mörderisch war. Die Temperatur auf der Oberfläche des Planeten schwankte zwischen plus 95 und minus 35 Grad Celsius. Und von Jahreszeiten konnte man überhaupt nicht reden. Die Flora hatte sich gut angepaßt und eine seilartige, isolierende Rinde entwickelt, die ihr allerdings ein abstoßendes Äußeres verlieh. Außerdem schützten sich alle Pflanzenarten mit Dornen oder Gift. Wenn es kalt war, dämmerte das Leben im Winterschlaf. Aber sobald es wärmer wurde, begann es überall ungebändigt zu wuchern. Die Eiswüsten verwandelten sich in Sümpfe, aus den gewaltigen Bäumen wuchsen neue Zweige, neue Äste, die sich ineinanderkrallten, bis die gemäßigten Zonen unter einem gewaltigen natürlichen Dach verschwanden. Jetzt jedoch, wo ein Winter fast vorüber war, standen die Bäume wie dicke schwärzliche Ruinen auf der unendlichen Ebene aus blauem Eis. Es war viel zu kalt zum Schneien. Der Himmel stand schwarz um den fernen Lichtpunkt von Mizar. Kein Grabgewölbe sah düsterer oder lebloser aus. Die Bäume schienen unfruchtbar, die Flüsse tot, der Himmel schien ohne Leben zu sein. Und die eisige Kälte hatte allem den letzten Odem geraubt. Der Doc stellte die Heizung höher, hüllte sich unwillkürlich in seine goldene Tunika, stemmte sich gegen den heulenden Sturm und schlug sich zu der kleinen dunklen Hütte durch, die allein davon Kenntnis gab, daß hier so etwas wie ein Flugplatz sein mußte. Der Doc folgerte sofort, daß sich das normale Leben unter der Erde abspielen mußte. Er täuschte sich nicht. Als er den langen schräg abwärts führenden Tunnel betrat, traf er erst tief unten auf den ersten Menschen. Der Junge sprang auf und rief atemlos: "Sie sind ein Sonnensoldat! Ich warte schon seit fünf Tagen auf Sie! Kommen Sie schnell. Wir sterben! Einer nach dem anderen..." 27
Er lief voraus und wartete ungeduldig an jeder Biegung des Tunnels auf den Arzt. Sie kamen durch verlassene Geschäftsstraßen; die Läden waren geschlossen, die Schaufenster mit Brettern zugenagelt. Nur wenige Lampen brannten und spendeten müdes Licht. Immer wieder fanden sie Leichen, die in der Gosse verfaulten und die Luft verpesteten. Die Häuser standen leer, viele waren verfallen. Schließlich erreichten sie eine große Burg, die direkt aus dem Gestein gemeißelt worden war. Der Doc stieg hinter dem jungen Mann die Obsidian-Stufen hinauf. Das Wachlokal war unordentlich; die Büroräume standen leer, und überall lagen Papiere herum. Der Junge blieb vor einer Tür mit dem Namen MILES JASPER RANTZAU stehen und weigerte sich, weiterzugehen. Der Arzt ging an ihm vorbei und stand plötzlich vor dem Mann, den er suchte. Rantzau hatte Augen wie ein gefangener Löwe. Struppiges Haar fiel ihm als Mähne in die Stirn. Rantzau war ein ungeschlachter Mann, aber jeder Zoll seines Körpers sprach von Stärke und Entschlossenheit. Nur ein Mann seines Kalibers konnte Dorab zu dem machen, was es heute war. "Ich bin Rantzau", sagte er und sprang von dem Feldbett, auf dem er einen Augenblick zuvor geschlafen hatte. "Sie sind also einer der berühmten Sonnensoldaten. Keine Angst. Ich habe Geld und kann bezahlen. Aber eine solche Katastrophe! Und das mir! Gott sei Dank haben Ihre Leute meinen Funkspruch bekommen. Also los. Gehen Sie an die Arbeit!" "Nicht so schnell!" sagte der Arzt lächelnd. "Es stimmt schon, ich bin ein Sonnensoldat. Aber wir arbeiten unentgeltlich. Ich verspreche auch nicht, daß ich Sie von der Pest erlöse. Von welcher auch immer. Ich bin hier, um aus medizinischen Gründen Ihren Zustand zu diagnostizieren." "Unsinn! Jeder einzelne Mensch ist der Menschheit verpflichtet! Was Sie hier vor sich sehen, ist Dorab, wie es 28
ausstirbt! Sie müssen etwas dagegen tun! Und es wird nicht Ihr Schade sein. Aber erzählen Sie mir nicht, daß es einen Menschen gibt, den man nicht kaufen kann. Dorab, mein lieber Doktor, ist gute fünfzehn Billionen Taler wert. Und davon gehört das meiste mir. Ich liefere den gesamten Bedarf an Isolierstoff für die Raumfahrt. Selbst der Anzug, den Sie tragen, besteht aus Dorabfasern. Meinen Sie nicht auch, daß sich das zu retten lohnt?" "Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht versuchen würde", erwiderte der Doc. "Ich sagte, ich könne nichts versprechen. Wo also ist die Epidemie ausgebrochen und wann?" "Es geschah vor drei Monaten. Ich bin sicher, daß wir sie vom Sirius eingeschleppt haben, wo wir unsere Gastarbeiter werben. Sie brach eigentlich schon auf dem Raumschiff aus. Die halbe Mannschaft siechte einfach dahin. Dann breitete sie sich auf Dorab aus. Gegen..." "Gibt es hier noch einen Arzt?" "Nein. Wir hatten auch nur zwei. Natürlich keine Sonnensoldaten. Ganz gewöhnliche Ärzte. Sie starben nach der ersten Krankheitswelle. Doktor, tun Sie etwas, halten Sie die Epidemie auf!" "Zeigen Sie mir die Gegend?" Rantzau wurde blaß. Er war tapfer, aber auf diesem Gebiet gerade nicht. "Ich muß hierbleiben. Die Wachen sind weg, und es könnte zu einem Aufstand kommen." "So. Die Gastarbeiter, wie? Wessen Sklaven eigentlich?" "Die Leute, die wir von Sirius 68 geholt haben. Gute Arbeiter übrigens. Einer so gut wie 30 Immigranten. Und billig außerdem. Keine Kosten, nur für den Transport." "... und die Verpflegung." "Nein", sagte Rantzau. "Das ist doch das Beste. Sie essen nicht, sie trinken nicht. Aber weglaufen lassen können wir sie auch nicht, selbst wenn das Wetter sie bald umbringt. Sie sind ausgezeichnete Holzfäller. Nie werden sie müde. Und was die 29
Krankheit angeht, die unsere Leute von Sirius 68 eingeschleppt haben..." "... nie ein Sklave dran gestorben, wie?" "Nein, nie." "Aha", sagte der Doc. "Haben die Sklaven einen Anführer?" "Nein. Wenigstens nicht direkt. Sie haben einen, den sie 'Kisw' nennen. Eine Art Medizinmann, nehme ich an. Ist gleichzeitig ihr Vorbeter." "Sie haben natürlich mit ihm darüber gesprochen." "Ich? Warum sollte ich mich mit einem Gastarbeiter unterhalten?" "Nun, manchmal kann man eine Menge Neues lernen." "Unsinn! Wir sind ihnen in jeder Beziehung überlegen. Aber auch in jeder! Sie sind eben minderwertig. Ist auch ganz gut so. Hier können sie wenigstens etwas leisten. Wem haben sie denn auf Sirius 68 genützt?" "Wer weiß, wer weiß", sagte der Doc. Langsam ging ihm Rantzau auf die Nerven, obwohl jemand, der siebenhundert Jahre lang gelebt hat, eine ziemlich hohe Toleranzschwelle besitzt. "Ich glaube, ich sehe mich mal um", erklärte der Arzt. "Ich sage Ihnen Bescheid." Gerade als er die Türklinke anfaßte, flammte eine rote Lampe auf Rantzaus Instrumentenbrett auf, und eine hysterische Stimme schrie über den Lautsprecher: "Chef! Sie sind abgehauen!" "Sofort aufhalten!" "Ich kann nicht! Sie gehorchen mir nicht. Sie haben Angst. Sie sagen, daß die Guhguhs verseucht sind. In zwanzig Minuten müssen sie in der Hauptstadt sein." "Ich ziehe meinen Schonbefehl zurück. Schießt, wenn ihr wollt. Aber haltet sie auf!" * 30
Doc Methusalem ging leise hinaus. Nachdenklich blieb er stehen. Eisige Luftstöße drangen die Luftschächte herunter und wirbelten die Papiere durcheinander. Die Filterscheibe seines Helms beschlug. Unbewußt stellte er die Ventilation nach. Durch die angelehnte Tür hörte er Rantzaus Stimme. Er befahl, die entflohenen Sklaven von der Stadt abzulenken und versuchte, die schreckerstarrten Bewohner aus ihrer Lethargie zu reißen. "Sie haben uns einen Doktor geschickt", erklärte Rantzau einem seiner Beamten. "Aber er ist noch ein halbes Kind. Sieht aus wie zwanzig und ist genauso hilflos wie wir. Mit ihm können wir nicht rechnen... Na ja, was wissen wir schon über sie, außer daß sie einen guten Ruf haben... ich habe noch nie einen gesehen, Sie etwa?... das sagen Sie. Aber ohne Sklaven kann ich den Laden dicht machen. Oder wollen Sie sich etwa als Holzfäller betätigen?" Der Doc sah die leeren Korridore entlang. Er wußte nicht, warum er diesen Planeten retten sollte. Er verabscheute Sklaverei in jeder Form und verdammte diejenigen, die daraus Profit zogen. Vor langer, langer Zeit, 1946 mochte es gewesen sein, als er auf der John-Hopkins-Universität von Baltimore, Maryland, promovierte, glaubten die Leute fest daran, daß der Mensch frei sein mußte und ein edles Geschöpf und zu Höherem berufen war. Von diesem Ideal war zuviel in Vergessenheit geraten. Aber der Doc hatte es nicht vergessen. Er rückte die Blaster zurecht und ging den Sklaven entgegen. Er traf sie auf der 18. Ringstraße, in einem niedrigen Tunnel, dessen Kuppel und Sohle mit Eis bedeckt waren. Sie standen einem Hauptmann gegenüber, den die Absperrung eine Menge Nerven gekostet hatte. "Hör mal, mein Junge", sagte der Doc und blickte den Gang hinunter auf die erste Phalanx der Sklaven, "stecke mal schön den Maschinenblaster weg, bevor du jemandem damit weh tust. 31
Mir scheint, daß du ihnen damit sowieso nicht imponierst." Der Hauptmann hatte nicht bemerkt, daß er Gesellschaft bekommen hatte. Seine beiden Wachen fürchteten sich genauso wie er, und alle drei zuckten wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammen, als sie des Doktors Stimme hörten. In dem Zwielicht funkelten Docs Knöpfe wie Katzenaugen. "Was für eine Sprache sprechen sie?" fragte Doc Methusalem. "Weiß der Henker", antwortete der Hauptmann. "Aber sie können Lingua Spatia verstehen. Wer sind Sie denn?" "Nur ein Mediziner, der zufällig vorbeikam", erwiderte der Doc. "Ich habe gehört, daß die Gastarbeiter einen Führer haben, den sie Kisw nennen. Halten Sie es für möglich, daß er mir auf halbem Wege entgegenkommt?" "Sind Sie übergeschnappt?" "Sie werden lachen, aber das habe ich mich auch schon manchmal gefragt", erwiderte der Doc. "Reden Sie mit ihm." Ein kurzes Palaver auf respektvolle Distanz. Die unruhige Menge am anderen Ende des Korridors wich zurück. Ein großes altes Wesen blieb stehen. Der Doc nickte dem Hauptmann zu und stieg über die Barrikade. Der eisige Sturm riß an seinem Umhang. Der Weg lag im Halbdunkel. Auf halbem Wege blieb der Doc stehen. Der Alte kam schwankend näher. Nicht, weil er Angst hatte, sondern weil er sehr alt war. Der Arzt war überrascht, wie menschlich das Wesen aussah. Zwei Augen, zwei Arme, zwei Beine. Von der grauen Hautfarbe und auch davon abgesehen, daß er nicht aus Fleisch und Blut war, hätte er ganz gut in die Rolle eines menschlichen Patriarchen gepaßt. Handgelenke und Stirn waren mit weißen Bändern umwickelt. Die schwere, steife Schürze, die er trug, war mit einer roten Windrose und einem stilisierten Stern bemalt. Seine Augen leuchteten weise und würdevoll. Das sollte ein Sklave 32
sein? Doc Methusalem begrüßte den Alten auf Lingua Spatia. "Es gibt Not", sagte er. "Ich bin dein Freund." Lingua Spatia besteht aus knapp fünfhundert Worten, aber meistens reichen sie aus, um sich verständlich zu machen. Das alte Wesen blieb stehen und erwiderte den Gruß des Arztes. "Die Kufra haben hier keine Freunde." "Ich bin nicht von Dorab/Mizar. Ich begrüße dich als Kisw. Das ist auch mein Name. Du hast Not." "Große Not, Weiser. Mein Volk hungert. Wir sind unabhängig. Wir haben eine Heimat und Söhne und ein Land, wo Licht ist." "Was ist die Nahrung, Kisw?" "Wir essen Kufra, Weiser. Deshalb heißen wir Kufra." "Was ist Kufra, Kisw?" Der Alte dachte nach. Schließlich schüttelte er den Kopf in einer überraschend menschlichen Geste. "Kufra ist Kufra. Hier ist kein Kufra." "Wann eßt ihr Kufra?" "Jedes zweite Jahr feiern wir. Dann essen wir das heilige Kufra." "Wie lang ist dein Jahr, Weiser?" "Ein Jahr hat neunzig ROSS. Mehr weiß ich nicht. Wir gehören nicht dem galaktischen Reich an. Wir kennen Menschen nicht. Wir sehen den Menschen hier. Menschen nennen unsere Heimat Sirius 68. Wir nennen sie Paradies. Wir wollen zurück. Die gefrorene Luft und die toten Gesichter sind nicht für uns." "Ich muß mehr wissen, Kisw. Sind Leute aus deinem Volk krank?" "Nein, Weiser. Wir wissen nicht, was du krank nennst. Wir haben Krankheit erst hier gesehen. Weiser, wenn du unter deinem Volk Macht hast, dann befreie uns von diesem Leben im Nichtleben. Unser Dank ist, daß du ein Gott wirst. Mein 33
Volk errichtet dir einen Tempel. Befreie uns, wenn du mächtig bist." Dem Arzt stieg ein Kloß in die Kehle. Der Alte sprach mit tiefem Ernst. Die einfachen Worte drückten seine Not deutlicher aus als eine flammende Rede. "Kehrt in eure Wohnungen zurück. Ich werde tun, was ich für die Befreiung tun kann", sagte der Doc. Der Alte nickte und drehte sich um. Nach einer kurzen Diskussion mit den anderen Führern verließen die Sklaven den Korridor. Der Doc traf sich mit dem Hauptmann. "Sie gehen in ihre Unterkünfte zurück", sagte der Doc. "Ich muß tun, was ich nur für sie und Sie tun kann." "Wer sind Sie eigentlich?" fragte der Hauptmann. "Ich bin ein Sonnensoldat", antwortete der Doc. Sprachlos blieben der Hauptmann und seine Leute stehen und sahen die goldene Robe hinter einer Straßenecke verschwinden. Vor dem Rathaus, als das sich die Burg entpuppt hatte, wartete Hippokrates auf den Doc. Er hatte seinen Funkspruch empfangen und trug eine Ladung von knapp 750 Kilogramm unter dem Arm. "Wird eine Epidemie festgestellt, müssen zunächst alle Transporter durch die Ausgabe gelber Tickets gestoppt werden. Dann verfahre man nach folgenden Maßregeln...", zitierte Hippokrates das betreffende Handbuch aus seinem unerschöpflichen Gedächtnis und ließ seine Blicke über die verlassenen kalten Straßen der unterirdischen Stadt gleiten. Befriedigt stellte der Doc fest, daß der Kleine in einem Strahlenschutzanzug steckte, der ihm zwar viel zu groß war, aber gegen fast alles Schutz bot - von einem Blasterschuß einmal abgesehen. Bald darauf hatten sie die Instrumente - säuberlich aufgereiht - auf die breiten Stufen gelegt. Ein kleiner Tisch war aufgebaut. Ein Mehrkanalschreiber stand auf der einen, eine Menge 34
verschiedener Analysatoren standen auf der anderen Seite. Hippokrates verschwand wie der Blitz und kam mit ein paar Leichen zurück, die er unzeremoniell auf die Stufen der Burg legte. Methodisch ging der Arzt an die Arbeit. Er nahm das Seziermesser und wies auf die Leiche eines Mädchens. Hippokrates legte den Körper sofort auf den Tisch. Die gefütterten Handschuhe behinderten den Doc, aber er arbeitete unverdrossen weiter und ließ sich von Hippokrates die verschiedenen Instrumente reichen. In einem der oberen Fenster des Rathauses tauchte das Gesicht von Miles Jasper Rantzau auf. Der Anblick, der sich ihm auf den Stufen der Burg bot, ließ ihm die Augen aus dem Kopf treten. Natürlich wurde ihm schlecht; er ließ die Jalousie herunterrasseln. Anfangs waren ein paar Leute neugierig näher gekommen. Aber es bedurfte nicht erst Hippokrates' Aufforderung, daß sie schnell davongingen. Endlich war der Doc allein und konnte sich auf seine Arbeit konzentrieren. "Wäre sowieso an Basedow gestorben", diagnostizierte er und blickte auf den Seziertisch. "Aber daran sind die anderen nicht zugrunde gegangen. Nächste Leiche, bitte, Hippokrates." Das Skalpell funkelte unter der Halogenlampe und Doc Methusalem, dem man nachsagte, er könne nicht nur eine Zelle von der anderen, sondern sogar Moleküle mit seinem Messer voneinander trennen, suchte weiter nach der Ursache der "Pest". "Nächste Leiche." "Nächste." "Nächste, bitte." Und dann: "Hippokrates, schau dir doch mal diese Präparate an." Von jeder Leiche hatte der Doc einen Blutabstrich gemacht, und sein kleiner Freund blickte durch das Okular des Mikroskops und zählte. "Stimmt", sagte der Doc. "Anämie. 35
Hochgradige Anämie. Fragen wir uns, welche Krankheiten Anämie verursachen." Hippokrates gehorchte und begann die neuntausendsiebenhundertundvier heutzutage bekannten Krankheiten aufzuzählen, die man als Anämie verursachend kannte. Doch der Doc hörte gar nicht zu. Nachdenklich betrachtete er den dünnen Leib des Mädchens mit dem Kröpf und sah zu Rantzaus Fenster hinauf. "Nächste Leiche", sagte er dann hoffnungslos. Hippokrates legte die sterblichen Reste einer mageren Frau auf den Tisch, die offensichtlich schon lange an Unterernährung gelitten hatte. Der Arzt seufzte. Die Straße war totenstill. Nur das Knipsen der Schere, das ziehende Geräusch des Skalpells und das unaufhörliche Tropftropf-tropf des Blutes waren zu hören. Plötzlich hielt der Doc inne. Überrascht hob er die Leber näher an die Lampe, sah angestrengt hin, rief Hippokrates einen Befehl zu, rannte die Stufen zur Burg hinauf und stieß die Tür von Rantzaus Büro auf. Der große Mann sprang erschrocken in die Höhe und wich angstvoll zurück, als er das blutige Ding in des Doktors Hand sah. "Sie müssen die Sklaven nach Sirius 68 zurückschicken!" rief der Arzt ohne Vorwarnung. "Zurückschicken? Bringen Sie bloß das Ding raus! Das würde mich ja ein Vermögen kosten! Verschwinden Sie!" "Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, weil ich es Ihnen befehle", erwiderte der Doc. "Wenn das heißt, daß sie meine Leute angesteckt haben und Sie die Krankheit nicht in den Griff bekommen können, lasse ich alle erschießen. Zurückschicken - Sie sind wohl im Kopf nicht ganz in Ordnung!" "Oh, das werden Sie nicht tun", erklärte der Doc fest. "Und wenn Sie sie doch erschießen, dann sagen Sie mir bitte 36
Bescheid, damit ich rechtzeitig verschwinden kann. Wenn Sie sie nämlich töten, dann haben Sie das Gift für ewig auf dem Hals." "Gift!" "Ja, Gift. Es gibt eine uralte Geschichte. Sie handelt von einem Mann, der seine Tochter so langsam vergiftete, daß sie dagegen immun wurde und er sie als tödlichen Köder dem Sohn seines Rivalen in die Arme legen konnte. Ich fürchte, Sie stehen vor einer ähnlichen Situation. Jeder Bewohner dieses Planeten wird sterben, Sie eingeschlossen, wenn Sie die Sklaven erschießen lassen. Aber Sie sterben auch, wenn Sie sie nicht gehen lassen." "Verschwinden Sie!" fauchte Rantzau. Der Doc sah das Beweisstück in seiner Hand an und lächelte spöttisch durch das Helmfenster. "Dann lassen Sie mir keine andere Wahl." "Wahl? Wozu?" Doc Methusalem zog ein Päckchen gelber Formulare aus dem Umhang, legte die blutige Leber auf den Schreibtisch, nahm einen Schreibstift und schrieb. MILES JASPER RANTZAU - Niemals "Was soll das?" "Das, mein Lieber, ist Ihr persönliches Gelbes Ticket. Beruhigen Sie sich. Ihre Raumflotte und die Kapitäne, Ihre Städte, Dörfer und Bürgermeister bekommen auch eines. Hier wird nie wieder jemand starten oder landen. Export und Import sind vorbei. Ich verstoße Sie, und das Reich verstößt Sie. Ich verdamme Sie zu dem Tod, den Sie Ihren Sklaven zugedacht haben. So sei es." Und er warf das Dokument vor Rantzau auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. 37
"Warten Sie. Haben Sie dazu wirklich die Macht? Hören Sie. Seien Sie doch vernünftig. Das können Sie doch nicht machen. Ich habe nicht gegen Sie gearbeitet. Ich will doch kooperieren. Ich werde... Warten Sie! Was habe ich denn falsch gemacht? Welche Krankheit ist es? Welches Gift?" "Dies", sagte der Doc, "sind die Reste eines bösartigen und für gewöhnlich tödlichen Tumors. Man kann es auch Krebs nennen. So, und jetzt werde ich mich um meine persönlichen Angelegenheiten kümmern, da Sie die Ihrigen offenbar nicht erledigen wollen." "Krebs! Aber der ist doch nicht ansteckend! Ich weiß, daß Krebs nicht übertragbar ist!" "Sehen Sie mal her", forderte der Doc ihn auf. Rantzau wandte sich ab. "Was soll ich tun, sagten Sie?" "Ziehen Sie alle verfügbaren Transporter zusammen, und schaffen Sie die Kufra nach Sirius 68 zurück. Alle. Ohne Ausnahme. Nur dann werden Sie überleben. Allerdings muß ich die Mannschaften immunisieren und noch einige Vorbereitungen treffen. Ich kann mein Versprechen nur halten, wenn Sie keinen einzigen Sklaven erschießen oder verletzen. Das ist meine Bedingung. Verstehen Sie?" "Womit habe ich das verdient? Das kostet mich mein halbes Vermögen! Wer soll für mich arbeiten, wenn ich keine Sklaven halten darf? Gibt es keinen..." "Nein", sagte der Doc. "Es gibt keinen Ausweg. Ich schlage vor, daß Sie für den Rest Ihres Vermögens die besten Ingenieure der Galaxis anheuern und von ihnen winter- und tropenfeste Harvester konstruieren lassen. Wenn Sie das geschafft haben, schicke ich Ihnen ein Rezept, wie Menschen die extremen Klimabedingungen für kurze Zeit ohne Schädigung ertragen können. Darauf dürfen Sie rechnen. Und jetzt: Da steht Ihr Funkgerät." Miles Jasper Rantzau schöpfte neuen Mut. Aber es war die Angst, die ihn die Befehle geben ließ. Vier Stunden später 38
konnte der Doc den ersten Repatriierungsschiffen letzte Verhaltensregeln mit auf den Weg geben. Die Mannschaften waren gut und hatten Raumerfahrung. Aufmerksam lauschten sie den Befehlen des Sonnensoldaten, besprühten Kleidung und Helme, wie der Doc es befahl, und begannen mit der Verschiffung der Sklaven, die wieder gehorchten. Im Halbdunkel des unterirdischen Hangars nickte der Doc dem alten Kisw zu. Bald würde das erste Raumschiff Kurs auf Sirius 68 nehmen. Der Alte hätte dem Doc gern die Hand geschüttelt, aber dieser wich ihm lächelnd aus. "Wir sind dankbar", sagte der Kisw. "Sie haben uns befreit. Wir bauen einen Tempel und werden Sie anbeten wie unsere Götter, Sonnensoldat. Sie haben uns erlöst." Der Doc lächelte. Er zog eine gelbe Urkunde aus der Tasche. Auf der Eterna-Seide stand: ALLEN Raumfahrern, Kapitänen, Generälen, Ministern, Prinzen, Königen und Regierenden - gleich welcher Art - kund und zu wissen, daß der Planet SIRIUS 68 heute von mir als unter fortdauernder Quarantäne stehend erklärt wurde, und daß bis ans Ende der Zeit es keinem seiner Bewohner, aus welchem Grund auch immer, gestattet wird, ihn zu verlassen. GEGEBEN durch meine Hand und besiegelt vor dem allwissenden Gott kraft der mir anvertrauten Gewalt. D.M. Sonnensoldat "Lege das in den Schrein", sagte der Doc, als er dem Kisw den Inhalt der Urkunde erklärt hatte. "Lege das Dokument in den Schrein und vergiß den Rest. Aber zeige es denen, die in eure Heimat kommen und wegen eurer menschlichen Gestalt glauben, euch versklaven zu können. Niemand wird den Bann brechen. Denn die Männer, die den Weltraum erforschen und 39
befahren, unterscheiden sich von den Herrschern der Planeten und kennen die Sonnensoldaten. Adieu, also. Gott schütze dich." Der Alte küßte den Saum von des Doktors Umhang, verbarg das kostbare Dokument und ging. Ein paar Minuten später war der Raumhafen leer, und die Sklaven waren fort. Doc Methusalems Arbeit war jedoch noch nicht beendet: Sechzehn Stunden dauerte es, bis er die Bewohner der Stadt behandelt hatte, obwohl er wußte, daß sie nur indirekt mit den Sklaven in Berührung gekommen waren. Er war froh, daß er alle Nebenwirkungen mit den entsprechenden Medikamenten und Therapien in den Griff bekam. Rantzau stand auf der Treppe der Burg und sperrte Mund und Augen auf. "Es ist das erstemal, daß ich einen von euch Sonnensoldaten treffe", sagte er. "Ich habe mich wohl geirrt. Ich dachte, Sie wären ein Grünschnabel. Ihr scheint ja früh damit anzufangen." "Kann man wohl sagen", entgegnete der Doc, der 792 Erdenjahre jung war. "Wie ist es, können Sie mir mehr über die Krankheit erzählen?" "Warum eigentlich nicht", sagte der Doc. "Ist ja niemand mehr von den Krankheitsträgern da. Wissen Sie, Sklaverei ist nicht nur verabscheuungswürdig, Sklaverei kostet auch zuviel. Der billigste Sklave kostet zuviel Anstand und Würde. Der Mensch ist zu besseren Dingen auf der Welt da, als seine Mitbürger zu versklaven. Ich weiß, daß Sie Ihre Industrie auf andere Art leiten werden." "Oh, sicher. Was bleibt mir anderes übrig. Aber können Sie mir nicht verraten, was danebengegangen ist?" "Also gut", sagte der Doc. "Es hing mit dem Stoffwechsel zusammen. Vielleicht wissen Sie, daß nicht alle Lebewesen den gleichen oder einen ähnlichen Metabolismus haben wie der 40
Mensch. Jede Art benötigt einen anderen .Brennstoff. Ein halbes Hundert verschiedene Metabolismen haben wir im Laufe der Zeit entdeckt. Bei Pflanzen, Tieren, Vernunftwesen. Mein kleiner Bursche hier hält sich mit Gips fit. Dann wieder gibt es Arten, die Silikone brauchen. Sie und ich - wir benötigen Kohlenstoff. Vergessen Sie nicht, das ist schon ein ziemlich seltener Stoff. Aber die Erde hat sich nun einmal so entwickelt. Ihre Sklaven schließlich besaßen einen Metabolismus, den wir noch nicht kannten. Ich wußte es sofort, als ich den geheilten Krebs entdeckte." "Wie bitte? Geheilt?" "Ja. Geheilt. Nur ein bißchen zu radikal geheilt." "Was heißt das?" "Nun", sagte der Doc, "das werden Sie gleich verstehen. Ich hatte einen sehr guten Grund, Sie zu bitten, die Kufra weder zu erschießen noch zu behalten." "Also, ich höre." "Die Kufra", begann der Doktor leise, "haben einen Plutonium-Stoffwechsel!" "Einen Plu... Oh, mein Gott!" "Ihr Planet kreist in geringem Abstand um den SiriusZweitstern. Deshalb liegt dort alles ein paar Periodenklassen höher. Wahrscheinlich spielt Plutonium bei ihnen die Rolle, die Kohlenstoff bei uns spielt. Deshalb durften Sie sie weder erschießen noch in ein Massengrab werfen. Ziemlich wertvolle Sklaven, wenn ich es mir so überlege..." Rantzau spürte das erstemal so etwas wie Respekt. "Kann ich mich Ihnen erkenntlich zeigen?" "Nein", sagte der Doc. "Oder vielleicht doch? Haben Sie hier nicht eine berühmte Duftwasserküche? Ich möchte einer Freundin eine Flasche mitbringen." So geschah es. daß Miß Rogers ein volles Oxhoft MIZAR No. 5 bekam. So geschah es aber auch, daß die Sonnensoldaten bis auf den heutigen Tag das Recht haben, den Transport von 41
Sklaven von einem beliebigen Ort zum anderen zu verbieten; selbst auf die Gefahr hin, eine ihrer seltsamen kleinen Methoden anwenden zu müssen,, mit denen sie selbst ihren sonderbarsten Regeln und Gesetzen Nachdruck verleihen. Hin und wieder wenigstens.
Doc und der Kindergarten Mit Tempo hundertfünfzig - Lichtjahren, versteht sich klapperte die MORGUE dahin und war gerade im Begriff, in die Galaxis zu fliegen, die von den Menschen "Milchstraße" genannt wird, als der altersschwache Stolz der Universal Medical Society eine seltsame Bitte auffing: AN ALLE UMS SCHIFFE AN ALLE UMS SCHIFFE AN ALLE AERZTE EGAL WELCHER NOTFALL NOTFALL NOTFALL VERBINDUNG AUFNEHMEN MIT UNITED STATES EXPERIMENTALSTATION DREITAUSENDZWO PLANET GORGO BETA URSUS MAJOR WEITERGEBEN WEITERGEBEN NOT-AFF KORR NOTFALL Doc Methusalem war in seinem Salon, hatte die Füße auf einen mit Goldbrokat verzierten Stuhl, den Kopf gegen ein Paneel gelegt, das die Musen bei der Krönung eines Satyrs zeigte, und dachte über den erbarmungswürdigen Zustand seines Weinkellers nach, dessen zwei einsame Flaschen auf einem Bord über der Kaffeemaschine gegeneinanderklapperten. Er hörte den Fernschreiber ticken. Aber das war nichts Neues. Er hörte das unverwechselbare dreifache Klicken des Notrufs. Aber auch das kam öfter vor. 42
"Hippokrates!" brüllte er. Nach zwei Tagen absoluter Stille ließ der plötzliche, laute Schrei den kleinen Assistenten wie einen Sektkorken aus der Kombüse schießen. Hippokrates, mit vier Armen, langen Fühlern und unzerstörbarer Haut nicht gerade ein Musterexemplar extraterrestrischer Schönheit, war sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber jetzt war er sicher, daß sie sich in der Nähe einer ausgebrannten Sonne befinden mußten - ja, daß sie schon in das schwarze Loch gestürzt waren. "Meister?" "Hippokrates", sagte der Doc, "wir haben nur noch zwei Flaschen Wein." Hippokrates bemerkte, daß das Raumschiff mit normaler Kraft vorausflog, daß das Instrumentenbrett, das er von seinem Standort im Gang eine halbe Schiffslänge von Docs Salon entfernt aus sehen konnte, mit seinen grünen Lampchen blinzelte, daß sie mit Reisegeschwindigkeit flogen, daß also, kurz gesagt, alles in schönster Ordnung war. Schuldbewußt wischte er sich mit einem Handrücken die Reste von Senf und Gips vom Mund. Denn seine eigenen Vorräte an Delikatessen hatten so rapide abgenommen, daß er des alten Doktors orthopädisches Zubehör erleichtert hatte. "Das Geheimnis der Weinherstellung", begann Hippokrates aus seinem unerschöpflichen Gedächtnis zu zitieren, "besteht darin, sich Weintrauben zu verschaffen. Die Trauben werden zerdrückt, um ihren Saft zu gewinnen, was man keltern nennt, der Saft wird filtriert und zur Fermentierung beiseitegestellt. Ist der Prozeß der Gärung beendet..." "Wir haben aber keine Weintrauben", sagte der Doc. "Wir haben kein Brennmaterial. Wir haben nichts zu essen - außer Schinken und Trockenei. Meine sämtlichen Hemden sind wieder mal kaputt..." "Dem wäre nicht so, wenn Sie sich enthalten könnten, ständig 43
Notizen auf die Manschetten zu applizieren", sagte Hippokrates rügend. "Ich könnte..." "... und ich bin seit über einem Jahr nicht beim Angeln gewesen. Sieh mal nach, was auf dem Fernschreiben steht. Wenn sie dort gute Fischgründe und ein paar vernünftige Weinstöcke haben, werden wir landen." Hippokrates wußte, daß der Doc sich über etwas anderes Sorgen machte: Es war der Dreierklick des Empfängers. Der Papierbogen schob sich ruckweise aus dem Schlitz. Klickklick-klick; Notfall, Notfall, Notfall! Doc Methusalem dachte über die Musen nach und entspannte sich langsam. Den Satyr hatte Joccini gut hingekriegt, selbst wenn er eine verteufelte Ähnlichkeit mit... "United States Experimentalstation auf Gorgo Beta Ursus Major", sagte Hippokrates. "An die UMS, Meister." Gedankenverloren starrte er auf das dunkle Bullauge, hinter dem die Sterne vorbeihuschten. Der MERIAN FÜR URSUS MAJOR ging ihm durch den Kopf. Hippokrates vergaß nie etwas, und die 18000 engbedruckten Seiten schwirrten an seinem inneren Auge vorbei, stoppten, blätterten eine Seite zurück und: "Besteht aus Dschungel und Flüssen. Viel Wild. Sümpfe. Ein paar Wüsten." Er strahlte. "Keine Frauen!" "Was?" fragte der Doc zerstreut. "Gorgo, in Beta Ursus Major. Viel Fisch. Wirklich viele. Und Wein. Viel Fisch und viel Wein." Der Doktor stand auf, streckte sich und ging in die Kanzel. Er programmierte das automatische Navigationssystem, und nach verschiedenen Schnurr- und Zischgeräuschen leuchtete ein Bildschirm auf, zeigte einen neuen Kurs und gab an, daß man ihn in zwei Lichtjahren einschlagen würde. Vorher brauchte der Doc also den Kurs nicht zu änderen. Der Arzt nahm vor den Instrumenten Platz, stellte den Rechner ab und gähnte. Zwei Tage später landeten sie auf FLUGPLATZ 1 987 806 US ARMY ENG. UNBEM., eine knappe halbe Stunde von 44
Station 3 002 entfernt. Der Doc ließ Hippokrates die Gangway ausfahren und blieb einen Augenblick lang in der Luftschleuse stehen, das obligate Standeszeichen - ein schwarzes Köfferchen - in der Hand. Der Dschungel lag etwa hundert Meter hoch am Rand des Flugplatzes. Es war ein ungezähmter, bösartiger und giftiger Dschungel, dessen saftiges Grün und modriges Gelb von Leben und Tod erzählten. Noch war alles still, während die schnatternden Bremsstöße der Landedüsen verhallten. Aber dann erwachte der Dschungel mit Schreien, Gekreisch, Pfeifen und einem angsterregenden, die Erde erschütternden AA-UUM zu neuer Geschäftigkeit. Hippokrates machte, daß er die Gangway hinaufkam. Oben blieb er stehen. Wieder erschallte das "Aa-uum". Sogar die MORGUE klapperte. Hippokrates ging hinein und kam mit einer 110-mm-Kanone zurück, die er bequem in den rechten Armen trug. Der Doc betätigte einen Schalter, der um das Schiff ein Alpha-Kraftfeld legte, das wilde Tiere abhielt. Dann ging er, nach einem letzten Blick auf die verfallenen Gebäude, die einstmals einen Militärposten beherbergt hatten, die Gangway hinunter und folgte Hippokrates in die dichte Vegetation. Dann und wann richtete Hippokrates einen Fühler auf die hochragenden Äste der Bäume über ihnen und blieb mißtrauisch stehen. Aber er spürte nichts Bedrohliches. Nur hin und wieder erleichterte er seine Gefühle, indem er aus der 110er einen Feuerstoß losließ, der ihnen einen Weg frei- und den Schlamm festbrannte. "Aa-uum!" Der Dschungel zitterte. Jedesmal, wenn der Schrei ertönte, verstummten die Tiere und Vögel für eine Sekunde. Hippokrates wollte gerade einen weiteren Schuß loslassen, als der Doc ihn festhielt. Kurz darauf stürmte ein Mann mit aschfahlem Gesicht durch die Sägezahnbäume und schlang gerührt die Arme um den Doc. "Ich bin O'Hara. Gott sei Dank! Ich bin durchgekommen! Seit 45
sechs Monaten funktioniert mein Empfänger nicht mehr. Ich wußte nicht, ob man mich überhaupt hört. Dem Himmel sei Dank, daß Sie gekommen sind!" Und er näherte sich zu einer weiteren Umarmung, die der Doc mit dem Hinweis auf das dumpfe Aa-uum gerade noch unterbinden konnte. "Ach, das!" sagte O'Hara. "Das ist eine Kutze. Wenn ich Zeit dazu habe, fürchte ich mich vor ihnen. Ach, was waren das noch für Zeiten, als ich mir nur wegen der Kutzen Sorgen machen mußte, die mir mein Vieh wegschnappten, und wegen der Mesofalken, die hinter meinen Schafen her sind. Aber heutzutage..." Und er machte sich auf den Weg. Zweimal waren sie knapp daran, ihr Leben zu lassen, als sich Schwupsvögel, so groß wie altertümliche Flugzeuge, intensiv um sie zu kümmern begannen. Und ein weiteres Mal, als sie fast über einen drei Meter dicken Baumstamm stolperten, der sich als Schlange entpuppte, die mit großem, hungrigem Maul aus dem Schlamm auftauchte. Aber bald hatten sie die Station mit heiler Haut erreicht. "Sie müssen verstehen", keuchte O'Hara, als er merkte, daß der Doc nicht schneller laufen mochte, "ich bin hier der einzige Mann. Natürlich, ich habe ein paar Achneeiden, aber diese achtarmigen Glibberbeutel kann man wirklich nicht als Kameraden bezeichnen, obwohl sie arbeiten und sprechen können. Fünfzehn Jahre bin ich schon hier auf Gorgo. Aber so was ist mir noch nie passiert. Ich soll den Planeten hier bewohnbar machen. Für den Fall, daß die Erde irgendwann einmal eine Kolonie gründen will. Ich leite eine Landwirtschafts- und Viehzuchtstation. Verstehen Sie, ich soll es zukünftigen Kolonisten leichtmachen. Aber bislang sind keine gekommen. Und ich kann's ihnen nicht mal verdenken. Diese Steppe hier ist noch der kühlste Ort des ganzen Planeten. Und doch noch ganz schön heiß, nicht? Ich habe keinen Assistenten oder sonst irgend jemand, und als die Sache passierte..." 46
"Kommen Sie zur Sache, Mann", sagte der Doc. "Was ist denn nun passiert?" "Sie werden schon sehen!" rief O'Hara, dessen Augen vor Erregung und Besorgnis glitzerten. "Kommen Sie." Sie betraten ein Gebäude, das einer Festung ähnlich war. Es stand inmitten einer riesigen Wiese, wodurch O'Hara erreichte, daß er angreifende Tiere früher bemerken und sein Vieh leichter weiden konnte. Als sie das Eingangstor passiert hatten, schloß O'Hara sorgfältig hinter ihnen ab. Die langen Reihen der Ställe, die Helio-Motoren auf den Dächern und die Korrals, in denen fettes Vieh graste, betrachtete der Doc ohne besonderes Interesse. Nur ein Gewächshaus fesselte ihn. Er sah, wie dort ein Achneeide, der einem blauen Kreisel ähnlicher sah als einem "Glibberbeutel", aus einem Beet mit wertlosen Karotten wertvolle Heilkräuter rupfte; jedenfalls sah der Doc die Sache so. Aber O'Hara zog ihn durch die lärmerfüllte Hitze und den Staub mit sich, bis sie vor Schuppen 13 stehenblieben. "Das ist der Löwenstall", erklärte O'Hara. "Interessant", meinte der Doc uninteressiert. O'Hara öffnete. Links und rechts standen in langen Reihen Bruttanks. Leise plätscherte Nährlösung aus einem Behälter in den anderen. Ein fast undurchdringliches Gewirr von Röhren und Schläuchen verband die Tanks miteinander. Ein nacktschnabliger Achneeide ging herum, drehte Ventile auf und zu und las Instrumente ab. "Hm-m", sagte der Doc langgezogen. "Künstliche Uteri." "Ja, ja! Und ob!" rief O'Hara begeistert und freute sich, daß er endlich jemanden mit ein wenig Sachverstand getroffen hatte. "Hier wird unser Vieh geboren. Die Erde schickt uns tiefgefrorenes Sperma und die dazugehörigen Eier oder Fetusse in Stasis, und ich stecke sie in die Tanks und bringe sie zur Geburtsreife. Dann holen wir sie raus und packen sie an Ersatzeuter und -gesäuge. So geht das mit Kälbern, Lämmern 47
und so. Aber hier sind wir eben im Löwenstall." "Im was?" fragte der Doc. "Im Löwenstall", erwiderte O'Hara. "Wir haben herausgefunden, daß Löwen am besten mit den Kutzen fertigwerden. Die Südwüste habe ich schon mit Löwen bevölkert. Eines schönen Tages gibt es keine Kutzen mehr." "Dafür gibt's dann Löwen." "Oh, nein", erklärte O'Hara geduldig. "Wir wollen doch nicht das ganze ökologische Gefüge durcheinanderbringen. Die Löwen kriegen von uns die Pest auf den Hals. Also von mir, meine ich. Schließlich bin ich schon fünfzehn Jahre lang hier." "Meinetwegen", erwiderte der Doc ohne großes Mitgefühl, "aber warum bin ich dann eigentlich hier?" "Oh. Wegen der letzten Lieferung. Ich bekomme meine Kleinen mit Trampschiffen hergebracht. Letztes Jahr kam ein Trampschiff, das Maschinenschaden hatte. Stellen Sie sich vor, sie haben mir einfach die ganze Ladung vor die Tür gekippt. Nun gibt's hier zwar keine Schauerleute, aber Schauer", er lachte verlegen über den ungewollten Scherz, "und die Markierungen und Etiketten sind verwischt und unleserlich, oder einfach weg..." "Aha", sagte der Doc. "Ich soll Ihnen also Sperma und Eier reklassifizieren." "Nein, nein, nein", sagte O'Hara. "Ein Teil der Ladung muß für eine andere Station bestimmt gewesen sein. Ganz sicher. Aber ich habe keine Ladepapiere. Ich tappe im dunkeln. Ich bin schon ganz nervös. Ich..." "Fassen Sie sich, Mann", sagte der Doc. "WAS ist Ihr Problem?" Dramatisch trat O'Hara auf einen Tank zu und klappte den Deckel auf. Die Scharniere knarrten. Licht flammte auf, und dunkelrot glühten die Glaskugeln im Innern. Der Doc erkannte fünf Menschenbabys. Er stieß den Deckel weiter auf und schaute hinein. Die Babys standen kurz vor der 48
Geburt. Sie sahen ganz normal aus. Haare, Fingernägel, die Anzahl der Finger und Zehen stimmte, nichts fehlte, und sie fühlten sich offensichtlich wohl. "Und?" fragte der Doc und sah die Reihe der Tanks entlang. "Sind alle voll", entgegnete O'Hara niedergeschlagen. "Wie viele?" "Etwa 18000", sagte O'Hara. "Nun, wenn das Ihr Problem ist", erwiderte der Doc, "dann würde ich doch vorschlagen, daß Sie sich mit dem Landwirtschaftsministerium in Verbindung setzen. Ihnen fehlt offenbar ein halbes Armeekorps Säuglingsschwestern. Und was die Frage betrifft, wie Sie die Babys gekriegt haben..." "Aber das ist es nicht!" erklärte O'Hara mit Nachdruck. "Sehen Sie, es liegt auch an den verdammten Achneeiden. Sie machen alles nach Schema 'F'. Naja, vielleicht habe ich auch schuld. Ich muß hier auf so viele Dinge achten. Wenn ich mich um alles kümmern müßte, würde ich durchdrehen. Schätze, ich gehe nicht immer rücksichtsvoll mit ihnen um. Mit diesen Erste-Hilfe-Kreiseln. Also, Sie sehen ja, das hier ist der Löwenstall. Alle drei Monate stoßen wir achtzehntausend Löwen aus. Das ist unsere geplante Geburtsrate. Wir stecken die Löwenjungen in die Gehege, wo sie von einer Ersatzlöwin gesäugt werden. Schließlich schicken wir sie hinaus ins feindliche Leben, damit sie unter den Kutzen aufräumen. Ziemlich einfach. Aber die Achneeiden..." "Wann haben Sie den Fehler entdeckt?" "Oh, vor etwa sechs Monaten. Damals hat mich das nicht weiter aufgeregt. Noch nicht. Ich funkte einen Routinebericht zur Erde. Und die Achneeiden machten weiter. Tun sie immer, wenn sie nicht gerade auf ein Problem stoßen. Weil aber die Etiketten fehlten, haben sie die Phiolen mit unserem Stationskode für Löwen gehalten und in den laufenden Brutprozeß einbezogen. Routine, nicht wahr. Soll ja auch so sein. Anders können wir unsere Fauna nicht transportieren. 49
Oder möchten Sie in einem Viehtransporter durch den Raum fliegen? Wäre auch ziemlich teuer bei den Mengen, die wir benötigen. Und um Verwechslungen zu vermeiden..." "Ich glaube nicht, daß sich das vermeiden ließ", sagte der Doc spöttisch. "... haben wir ein höchstspezialisiertes Kodesystem für Verladung und Markierung entwickelt. Offenbar stimmt unser Kode nicht mit dem Bestimmungskode der Babys überein. Die Behörden produzieren eine unheimliche Menge Formulare. Ich habe gar keine Ahnung gehabt, daß in diesem System überhaupt Babys verschifft werden. Ich habe meine ganzen Organisationsmitteilungen durchgesehen, aber ich muß irgendeine falsch abgelegt haben; ich kann nichts über Babys finden." "Sie sagten, daß Sie das Ministerium benachrichtigt haben", erwähnte der Doc. "Was denken Sie. Sie wissen ja, wie die Verwaltung heutzutage funktioniert. Drei Milliarden hausen auf der Erde. Und davon arbeitet die Hälfte in der Verwaltung. Trotzdem werden Kolonien und Raumstationen miserabel verwaltet." "Eine Milliarde", berichtigte der Doc. "Meinetwegen eine Milliarde. Trotzdem schaffen sie die Arbeit nicht. Sie sagten, daß mein Bericht an die zuständigen Stellen weitergeleitet würde. Dann habe ich ihnen ein paar Mahnungen geschickt. Und was war die Antwort? Sie sagten, mein Bericht wäre an die zuständigen Stellen weitergeleitet worden. Vielleicht gibt es gar keine zuständigen Stellen. Darauf will ich auch nicht hinaus. Ich schaffe es schon, die Kinder großzuziehen. Ich habe dreitausend Achneeiden, und schließlich kann ich mir immer noch mein Gewehr schnappen und eine Geisel nehmen, bis man mir weitere zwei- oder dreitausend schickt. Die Achneeiden lernen schnell. Ich habe zwar keine Krankenschwestern, auch keine in Aussicht, und Ärzte auch nicht. Was ich über Kinderkrankheiten weiß, ist 50
gleich Null. Vor sechs Monaten habe ich mir noch eingebildet, daß ich es schaffen könnte." "Jetzt nicht mehr?" "Nein, jetzt nicht mehr. Die Sache ist mir über den Kopf gewachsen. Ich habe schon ernstlich an Massenmord gedacht. Ob man mich hängt, wenn ein paar Kinder verschwinden, oder so?" "Nun, ich glaube, ein gewisser Verlust ist entschuldbar", sagte der Doc. "Ja. Aber wissen Sie, ich habe nicht auf die Achneeiden aufgepaßt. Jetzt ist die Hölle los. Sehen Sie, die ganzen Nährlösungen sind auf Löwen abgestimmt. Offenbar hat das die ganze Sache verschlimmert. Ich dachte, daß nur ein paar Babys versehentlich hierhergeschickt wurden. Wie, weiß ich nicht. Na ja, ich habe sie auf die Welt gebracht. Aber vor drei Tagen, als ich den Notruf funkte, war folgendes passiert: Einmal mußte ich feststellen, daß dieser Stall voller Babys steckte. Zum ändern, daß sie dicht vor der Geburt standen. In drei Monaten, stellen Sie sich das vor!" "Hm-m", machte der Doc. Sein Interesse wuchs. "Kann ich verstehen, daß Sie das aufregt. Eine Reifeperiode von drei Monaten, noch dazu in Löwensaft, wird wohl jeden aufregen. Also..." "Nicht so schnell!" rief O'Hara mit fiebriger Stimme. "Das ist es aber nicht! Ich habe Ihnen das Problem noch gar nicht gezeigt!" "Wie bitte?" fragte der Doc erstaunt. * O'Hara führte sie aus dem Stall und in einen großen Kral aus Beton. In die gegenüberliegende Wand war eine Falltür gebaut. O'Hara schloß das Tor hinter ihnen ab und nahm Doc Methusalem und seinen Begleiter in die Beobachtungskanzel 51
mit. "Hier teste ich die Löwen auf Kampfgeist", erklärte er. "Ich hole eine Kutze und lasse sie in die Arena. Dann stecke ich einen jungen Löwen dazu, den ich wahllos aus der zu untersuchenden Brutgruppe nehme. Muhka! Heh! Muhka! Laß eine Kutze raus!" Ein Achneeide kreiselte heran, richtete respektvoll die Augen auf die Kanzel und zog die Bolzen aus der Falltür. Die Klappe hatte acht Bolzen, und mit seinen acht Händen konnte er sie auf einmal entfernen. "Monströs", schnaubte Hippokrates durch die Nase. Der Achneeide brachte sich über die Mauer in Sicherheit, und die Tür des Käfigs flog krachend auf. Aus dem Käfig stakste ein Biest mit violetter Haut und gewaltigen Reißzähnen. Es sprang in die Arena, stellte sich auf die Hinterbeine, richtete sich zu seiner, vollen Größe von drei Metern auf und stapfte wütend auf der Suche nach einem Gegner umher, bis es sich schließlich mit einem wilden Fauchen auf alle viere fallen ließ. "Reizendes Tier", bemerkte der Doc. "Und das ist noch ein Kleines", erklärte O'Hara. "Eine ausgewachsene Kutze könnten wir nie im Leben fangen. Fünfzig Achneeiden haben sie mir schon weggeholt. Okay, Muhka. Nächste Tür. Laß es raus!" Muhka brauchte nicht noch einmal hinunterzuklettern. Er hatte eine Schnur an die Verriegelung der Stalltür gebunden. Als er daran zog, schlenderte ein Dreikäsehoch heraus. Das Kind war etwa so groß wie Hippokrates, sah aber aus wie ein Zehnjähriger. Das Kind hatte ein Fell um die Hüfte geschlungen. Seine Füße steckten in großen Felltaschen. Die Haare waren wild und struppig, die Augen wild und schlau. Es machte einen kampflustigen, aber auch munteren Eindruck. In der Hand trug der Knabe eine Schleuder. An seinem Handgelenk baumelte in einer Schlinge ein langes Messer. "Heh", protestierte der Doc, "das geht zu weit. Sie werden 52
doch das Kind nicht zu Demonstrationszwecken opfern wollen!" Er zog seinen Blaster so schnell, daß O'Haras Stoß den Schuß nur um Haaresbreite an der Kutze vorbeilenkte. Das Kind sah neugierig auf das Loch, das der Schuß in den Boden gebohrt hatte und warf einen mitleidigen Blick nach oben in die Kanzel. O'Hara hatte das Gleichgewicht wiedergefunden und drückte rasch auf einen Knopf. Eine Scheibe aus schußsicherem Glas schob sich vor die Kanzel. "All right, all right", sagte der Doc. "Also bleibe ich eben stehen und sehe zu, wie ein Kind ermordet wird." Aber er hielt den Blaster schußbereit. Die Kutze hatte den Feind gewittert. Sie erhob sich und tänzelte rasch vorwärts. Ihre Zähne klickten hörbar, der Schwanz wirbelte eine Staubwolke auf. Näher. Immer näher. Das Kind rührte sich nicht. Es packte die Schleuder fester und legte etwas in die Tasche. Die Kutze war hungrig. Das Biest wurde wütend, seine Flanken bewegten sich wie ein Blasebalg, sein nach verfaultem Fleisch stinkender Atem drang bis in die Kanzel. "Aa-uum." Hippokrates war höchst neugierig. Aufgeregt wanderten seine Blicke zwischen dem Doc und dem Kind hin und her. Leider verpaßte er dadurch den Höhepunkt der Schau. Das Kind ließ die Schleuder kreisen und gab ein Ende frei. Knochen knirschten, splitterten, die Schädeldecke der Kutze verwandelte sich in eine blutige Masse. Die Kutze fiel um. Der Knabe trat vor, gab dem auf- und zuklappenden Maul einen Tritt, packte ein Ohr und säbelte es ab. Er steckte das Ohr in den Gürtel, trat ,dem verendenden Biest noch einmal in den Bauch und drehte sich um. Blitzschnell packte es ein Eisenstück in die Schleuder und zielte auf die Sicherheitsscheibe. Zirpend liefen Risse durch das Glas, kleine Splitter spritzten nach allen Seiten. Das Kind zog den Lendenschurz hoch, drehte sich auf dem 53
Absatz um und ging in den Stall zurück. Muhka ließ die Tür zufallen, sprang in die Arena und rief nach Unterstützung. Die Kutze wurde in die Küche geschafft. "Ich habe gewußt, daß es uns unter Beschuß nimmt", sagte O'Hara. "Deswegen der Schutzschild. Nicht Ihretwegen, Sir." Der Doc atmete aus. "Puh." "Jetzt wissen Sie hoffentlich, was mein Problem ist. Davon habe ich achtzehntausend Stück. Alles Knaben. Bei allen Heiligen, Sir, sagen Sie mir, was ich falsch gemacht habe!" "Ihr Fehler ist, daß Sie einen Job beim Landwirtschaftsministerium angenommen haben", entgegnete der Doc trocken. "Ach, ich habe mich zuerst wirklich um sie gekümmert", sagte O'Hara. "Im Löwenhaus waren zuerst nur zwei von den kleinen Dingern. Ich dachte, die verdammten Achneeiden hätten sie irgendwie falsch ausgepackt. Ich hatte ja keine Ahnung, was los war. Natürlich war ich durcheinander. Aber ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Sie wissen vielleicht, daß auf Experimentalstationen die tollsten Dinger passieren. Also habe ich sie mit zu mir ins Haus genommen. Eine Achneeide hat sie mit Kuhmilch großgezogen. Niedlich, wie sie so dagelegen und gequietscht haben. Ach, das war eine schöne Zeit. Aber dann mußte ich einen Monat lang auf den anderen Kontinent, um zu sehen, wie sich meine Kaliforniaholzschonungen entwickelten. 260 Millionen Hektar habe ich schon angepflanzt. Als ich zurückkam, war das Kindermädchen weg, und mein Haus lag in Trümmern. Verflixt, seitdem treiben sie sich draußen herum. Erst dachte ich, sie hätten das Kindermädchen umgebracht, aber nach zwei Wochen kam sie wimmernd angekrochen. Sie hatte sich so lange im Bajonettgras versteckt. So sieht's aus. Offenbar wachsen sie ziemlich schnell." "Offenbar", wiederholte der Doc. "Hoffentlich dauert es noch ein paar Jahre, bis sie erwachsen 54
sind", meinte O'Hara. "Aber jetzt wird's jeden Tag schlimmer. Das Alcatraz, das Sie da drüben sehen, ist meine kleine Altersvorsorge." Der Doc bemerkte eine Mannschaft von zwölf Achneeiden, die in der prallen Sonne eine Burg aus Beton errichteten. "Gefängnis?" "Refugium!" sagte O'Hara. "Schätze, daß in weniger als sechs Monaten hier auf dem Planeten niemand mehr seines Lebens sicher ist. Weder Achneeide, Kutze und Schlammschlange, noch Gargantufant und Schwupsvogel. Von mir ganz zu schweigen." Der Doc sah belustigt zu, wie die Achneeiden den Kadaver der Kutze abtransportierten. "Nun, wenigstens eines dürfte Sie beruhigen..." Ein Achneeide war von dem Gebäude, an dem PFERDE stand, herübergekommen und gab O'Hara aufgeregt einen Bericht. O'Hara wurde blaß und schwankte. "Ich meine", begann der Doc noch einmal, "daß Sie eigentlich der Gedanke beruhigen sollte, daß Sie es erst mit einer Generation zu tun haben. Weibliche Wesen fehlen..." "Sie haben gut reden", entgegnete O'Hara und ging schwankenden Schrittes auf die Pferde-Brutanlage zu. Sie traten ein. Etliche Achneeiden standen um den ersten Inkubator herum. O'Hara schob sie aus dem Weg, sah hin und wurde noch blasser. Er fragte etwas, erhielt eine Antwort. "Nun?" "Zwanzigtausend Inkubatoren", sagte O'Hara. "Dritte Woche." "Babys?" "Weibliche", keuchte O'Hara, "weibliche..." Der Doc sah sich die Sache an und suchte nach Hippokrates. "Wir haben doch ein paar Seen gesehen, als wir landeten. Ich denke, die Unterwasserfauna dürfte genauso interessant sein wie die oberirdische Fauna." 55
O'Hara zuckte wie vom Schlag getroffen zusammen. "Angeln!" "Ja", sagte der Doc. "Sie haben doch wohl nichts dagegen. Ich bin's ja nicht, der hier die Verantwortung trägt. Ich bin nur ein armer, unschuldiger Zuschauer." "Oh, bitte!" sagte O'Hara schreckerfüllt. "Sie müssen mir helfen!" Er versuchte, den Doc am Cape festzuhalten, aber der Sonnensoldat wich ihm aus. "Können Sie nicht das Rätsel lösen? Warum beträgt die Reifezeit nur drei Monate? Warum entwickeln sie sich in sechs Monaten zu reißenden Bestien? Warum sind sie so asozial? Was habe ich falsch gemacht? Und wie kann ich es geradebiegen? Helfen Sie mir...!" "Ich", erwiderte der Doc, "gehe jetzt angeln. Zweifelsohne wäre Ihr Problem für einen Bakteriologen, Biochemiker oder Genealogen von höchstem Interesse. Es ist jedoch eben weiter nichts als ein Problem. Ich habe den Eindruck, daß davon das Universum nicht untergehen wird. Guten Tag." O'Hara starrte ihm ungläubig hinterher. Hier war ein Sonnensoldat, die Elite der medizinischen Kunst, ein Mann, der, obwohl er wie dreißig aussah, wenigstens tausend Jahre medizinischer Praxis gesammelt hatte. Hier hatte er also eines der berühmten siebenhundert Mitglieder der Universal Medical Society vor sich, die vor Hunderten von Jahren den Politikern die tödlichen Geschicke aus den Händen genommen und das Universum zu einem sicheren Hafen gemacht hatten und überall nach dem Rechten sahen. Direkt vor seiner Nase. Hier war Beistand, ein Leuchtturm mitten in stürmischer See, das Allheilmittel, der Stein der Weisen, den er brauchte. Er lief neben dem Doc her, der mit großen Schritten auf das Tor der Anlage zuging. "Aber Sir! Es handelt sich schließlich um 38 000 menschliche Wesen! Ich kann sie doch nicht einfach töten! Und auf den Planeten loslassen kann ich sie auch nicht. Ich muß die Station 56
aufgeben!" "Dann geben Sie sie auf", riet der Doc. "Mach das Tor auf, Hippokrates." Und sie ließen den verwirrten O'Hara stehen, dessen bittere Tränen in den Staub fielen. "Hole mir bitte meine Ausrüstung", sagte der Doc. * Hippokrates zögerte. Das tat er gern, wenn keine unmittelbare Gefahr drohte. Seine Fühler tasteten in der Luft umher. Er rückte die 110-mm-Kanone mit drei Händen zurecht und kratzte sich mit der Linken am Kopf. "Was ist?" fragte der Doc unwirsch. Hippokrates sah ihm gerade in die Augen. Er kannte das Raumrecht aus dem Effeff. "Artikel 726 des 2. Gesetzbuches, Paragraph 80, auf Seite 607 der dritte von oben, regelt die Pflichten der Mitglieder der UMS wie folgt: ,Es widerspricht dem Anstand, wenn ein Sonnensoldat eine medizinische Aufgabe anzunehmen verweigert, wenn dadurch die Mehrzahl der Bevölkerung eines beliebigen Planeten gefährdet wird." Unangenehm berührt sah der Doc seinen kleinen Sklaven an. "Wo bleiben meine Ruten und Köder?" "Also?" fragte Hippokrates zurück. Der Doc funkelte ihn an. "Habe ich vielleicht das Landwirtschaftsministerium erfunden? Soll ich für deren Fehler den Kopf hinhalten? Sind die Lodenjacken so hilflos, daß sie nicht einmal ihrem eigenen Personal helfen können?" "Nun", sagte Hippokrates, "ich denke nicht..." "Dann erwartest du auch sicherlich nicht von mir, daß ich ein Jahr lang Babysitter spiele." Nachdenklich wackelte Hippokrates mit den Fühlern. Dann hellte sich seine Miene auf. Er stellte die 110er auf den Boden. Eine verwaschene Silhouette und eine tiefe Delle im Schlamm deuteten an, wo der kleine Sklave soeben noch gestanden hatte. 57
Der Doc ging in aller Ruhe auf den See zu, den er am fernen Ende der Savanne entdeckt hatte. Genau drei Minuten und acht Sekunden später kehrte Hippokrates mit einer halben Tonne Ausrüstung, Angelruten und Proviant in zwei Armen, der 110er und einem Kraftfeldejektor im dritten Arm zurück. In der vierten Hand hielt er einen RATGEBER FÜR FREMDE PLANETEN, aus dem er mit einem Auge ganze Seiten auf einmal verschlang. In dieser glücklichen Urlaubsstimmung erreichten sie den See, trockneten ein paar tausend Quadratmeter Schlamm mit einem Schuß aus der 110er, klappten das Patentzelt mit Lehnstühlen und Tisch am Ufer auseinander, schoben einen Baumstamm als Steg in das flache Wasser und waren, kurz gesagt, bereit zu einer geruhsamen Angelpartie. Hippokrates mixte einen kühlen Drink und steckte einen Köder auf den Haken, während der Doc sich entspannte und seine Nerven mit einem guten Gläschen beruhigte. "Was ich wohl fangen werde", überlegte er laut. Er warf aus und machte es sich auf dem Baumstamm gemütlich. Geruhsam kreiste der motorisierte Köder über das Wasser. Die gewaltigen Bäume des Dschungels beugten sich über den See. Die Luft war still und heiß. Wie Bernstein schimmerte der See unter dem gelben Himmel. Nach und nach fingen sie eine seltsame Schar von Genossen mit Flossen. Eine Zeitlang beschäftigte sich Hippokrates damit, nach den Murksen zu schlagen. Natürlich verbogen sie sich ihre Stechrüssel, wenn sie ihn anzapfen wollten, aber ihr schrilles Summen ging ihm auf die Nerven. Schließlich hatte er einen Einfall -direkt aus dem Buch CAMPEN UND WANDERN AUF FREMDEN WELTEN- und stellte den Kraftfeld-Ejektor auf. Der Ejektor sah aus wie ein langer Hering, aber seine Richtantenne ließ sich in Stärke und Strahlrichtung verändern, bis sie etwa 130 Hektar überstrich. Ganz praktisch, wenn man sich auf Planeten wie Sargo aufhielt, wo die Regentropfen zwei 58
Pfund wiegen. Und natürlich auch praktisch gegen Murksen, die man mit verhältnismäßig schwacher Feldstärke ein paar hundert Meter weiter wegdrücken konnte, wo sie soviel und so wütend ssst-en konnten, wie sie wollten. Hippokrates stellte den Schirm auf volle Kraft, damit er sich indirekt gegen die umstehenden Bäume abstützte, und beschäftigte sich mit dem nächsten Buch aus Docs Bibliothek: WILDE TIERE, DENEN ICH LIEBER NICHT BEGEGNET WÄRE. Und in dieses Idyll schoß eine Jetbombe mit zweitausendfünfhundert km/h. Sie kam geradewegs von einem silbernen Pünktchen, das still im safrangelben Himmel hing. Die Bombe war groß genug, um ein Haus zu zerstören. Sie war scharf. Der Doc hatte gerade eine stieläugige Monstrosität am Haken, Hippokrates las gerade die Stelle, wo Bernward Grczmk lebendig von einem ranamedischen Ramposaurier verschluckt wurde, als die Bombe traf. Sie drang in den Scheitelpunkt des Kraftfelds ein und detonierte. Die Keulen des Feldes spreizten sich und drückten sechs Urwaldriesen um, daß ihre Wurzeln zitternd in die Luft ragten. Das Zelt fiel zusammen. Der Baumstamm schoß ins Wasser, der Rumtopf flog durch die Luft Hippokrates ins Kreuz. Der Doc und Hippokrates hatten keine Ahnung, wie ihnen geschah. Vielleicht waren ein Fisch oder ein Ramposaurier daran schuld. Aber dann stieg ihnen ein bekannter Duft in die Nase, und sie wußten, daß es eine Granate gewesen war. Hippokrates fiel sofort Absatz 9 des 21. Kapitels von WELTRAUMPIONIERE ERZÄHLEN ein, er stieß den Kolben der 110er in den Boden, zielte mit dem Laservisier auf das silberne Pünktchen und drückte mit beiden Daumen ab. Der Himmel über ihnen wurde flammendrot. Die Detonationen warfen sechs weitere Bäume um. Der Doc kam aus dem See geklettert und sah durch den Dunst nach dem Ziel. 59
Obwohl Hippokrates weiterfeuerte, hatte das silberne Pünktchen inzwischen genug Fahrt aufgenommen, um den tödlichen Ladungen zu entkommen. Dann leuchtete das grüne Lämpchen für AUSSER REICHWEITE auf, und Hippokrates stellte das Feuer ein. "Ist die MORGUE eigentlich unter einem Feld?" fragte der Doc. "Gewiß, Meister." "Nun, vielleicht muß der Kraftschirm verstärkt werden. Pack die Sachen zusammen und spute dich." * Während der Doc eilig durch den Dschungel zur Landestelle lief, sich dabei mit zwei Blastern einen Weg freischoß, packte Hippokrates die Überbleibsel zusammen und folgte ihm auf den Fersen. Sie gingen durch den Korridor des Kraftfeldes. "Gott sei Dank alles in Ordnung", seufzte der Doc erleichtert. Hippokrates sprang ins Schiff und verstaute das Gepäck. Der Doc schaltete die Gefechtskonsole ein. Nachdem er immer wieder in verschiedene kleine Zwischenfälle verwickelt worden war, hatte er sich eine komplette Serie von Kraftfeldern einbauen lassen, die er jetzt alle in Betrieb setzte. Er ging nach vorn in die Kanzel. Wie üblich zuckte er zusammen, als ihn das Schiff mit einschmeichelnder Stimme anredete. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, daß ausgerechnet die MORGUE eine Sopranstimme bekommen hatte. Aber ändern hatte er es auch nicht lassen. "Vor achtzehn Minuten flog ein Schlachtschiff über uns weg", berichtete die MORGUE in aller Ruhe. "Es wurde eine Bombe abgeworfen." "Bist du beschädigt?" fragte der Doc das Instrumentenbrett. "Oh, die Bombe galt nicht mir. Man hat auf Sie gezielt." 60
"Größe und Bewaffnung?" "Kein befreundetes Schiff", entgegnete die MORGUE. "Außer der Feindseligkeit konnte ich keine Daten ermitteln. Habe einen Vorschlag zu machen." "Okay. Was?'' "Schalten Sie die optischen Reflektoren ein und bringen Sie mich im Dschungel in Deckung." Der Doc schaltete ab. Heutzutage wurde man sogar schon von seinem Schiff herumkommandiert. Er setzte sich an die Fernbedienung der Gefechtskonsole, drückte den Knopf UNSICHTBAR, und eine Sekunde später schnappten mehrere Reflektoren aus der Schiffswand und ließen die MORGUE relativ unsichtbar werden. Wenn auch nicht fürs Radar, so doch wenigstens für neugierige Augen. Er ließ den Maschinentelegraf UNTERGEWICHT klingeln, damit Hippokrates sich festhalten konnte. Dann lenkte er die MORGUE, ohne sich erst lange in den Sessel zu setzen, in die einzige Lichtung zwischen den riesigen Urwaldbäumen. Die Lichtung war etwa tausend Meter vom ersten Landeplatz entfernt. Lichter blitzten auf, als sich die Schutzschirme kurzfristig abschalteten und der veränderten Landschaft und deren Hindernissen anpaßten. Die MORGUE war in Sicherheit. Wenigstens im Augenblick. Wenn das Schlachtschiff jetzt nach der MORGUE suchen wollte, mußte es tiefer herunterkommen. Und dann würde es eine böse Überraschung erleben. Doc hatte die automatischen Kanonen eingeschaltet, die auf alles schössen, das kein Erkennungssignal zurückfunkte. Er ging in den Salon. Als er aber an einem Bullauge vorbeikam, fiel ihm etwas auf. Nicht nur ihm; auch das elektronische Auge der Steuerbordkanone interessierte sich dafür. Der Doc hörte, wie sich die Kanzel drehte und der Kanonenlauf auf das Objekt gerichtet wurde, das dort im Dschungel steckte. Er erreichte das Bedienungspult gerade noch rechtzeitig, um den 61
Quadranten auf TOTER WINKEL zu schalten. Ein Raumschiff war abgestürzt. Der Doc kontrollierte die beiden Blaster und sprang aus der Luftschleuse ins Freie. Er versank bis zu den Knöcheln im Dreck, stapfte aber unbeirrt auf die schreckliche Szene zu. Das Schiff war tot. Halb im Schlamm versunken und fast vollständig mit Lianen und Schlingpflanzen bewachsen. Es war mehr als tot; es wurde begraben. Vom unersättlichen Leben. Seine Stiefel hafteten magnetisch an der Außenwand, als er sich einen Weg durch die schleimigen Gewächse bahnte. Dann stand er an einer zerbrochenen Luke, die ihn wie ein totes Auge anstarrte. Er leuchtete hinein. Die Reste eines Menschen hingen in den Verstrebungen einer Koje. Ein zweiter Mensch, oder besser das, was von ihm übriggeblieben war, lag zerschmettert an einem Schott. Kleine pelzige Tierchen huschten aus ihren nahrhaften Verstecken, als der Doc hinuntersprang. Das Schiff mußte seit etwa einem Jahr hier liegen. Es war einer schweren Granate zum Opfer gefallen und von fünf Schüssen kreuz und quer durchbohrt worden. Der Doc schmolz eine verbogene Luke auf und verließ die Kanzel. Er stolperte über Kisten. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel auf verschimmelte Bretter: LANDW. MIN. - VERDERBLICH - STASISLAGERUNG - EQUIDEN. Der Doc runzelte die Stirn und stolperte weiter durch das verrottende Durcheinander. In der Kapitänskajüte fand er, was Feuchtigkeit und Bakterien von dem Logbuch übriggelassen hatten. Das Schiff war die WANDERHO aus Boston. Ein Trampschiff, das die Regierung gechartert hatte und das die Versuchsstationen des Landwirtschaftsministeriums mit verderblichen Gütern, Nachschub und Post versorgte. Schnell entschlossen schoß sich der Doc einen Weg ins Freie. Über gestürzte Baumstämme gelangte er in die MORGUE zurück. Er hatte sich ausgerechnet die einzige Lichtung weit 62
und breit ausgesucht. Und diese Lichtung hatte die abstürzende WANDERHO gerissen. Er kam durch die Luftschleuse und drehte alle Schalter der Gefechtskonsole auf Null. Die Abschirmung ließ er laufen. "Wir können jetzt gehen, Meister", sagte Hippokrates strahlend. "Scanner weist nichts Feindliches auf." "Schalte ihn ab und packe mein Köfferchen. Ich brauche einen kompletten Bio-Satz." "Wollen Sie nicht weiterangeln?" Hippokrates staunte. "Nach Artikel sowieso ist ein Sonnensoldat zum Bleiben verpflichtet, wenn die Mehrzahl der menschlichen Bewohner eines Planeten bedroht wird." "Hab ich doch gesagt." "Wann?" fragte der Doc erstaunt. Hippokrates zog es vor, sich in den OP zu verziehen und die 172 Bestandteile des Bio-Satzes zusammenzustellen. Als er sie eingepackt und auf den Rücken geschnallt hatte, rannte er hinter dem Doc her, der schon ein Viertel des Weges zur Station zurückgelegt hatte. Der Doc stapfte die Treppe zu O'Haras Bungalow hinauf, stieß die Tür auf und trat ein. O'Hara blickte auf. Sein Kinn klappte herunter. "Warum haben Sie mir das verschwiegen?" fragte der Doc ungnädig. "Ist was passiert? Hat Sie ein Tier angefallen?" fragte O'Hara. "Ich habe Schüsse gehört, aber ich wußte, daß Sie bewaffnet waren. Ich dachte..." "Ich spreche von der abgeworfenen Ladung!" sagte der Doc ungeduldig. "Was ist damit? Sie haben die Kisten herausgeworfen und sind verschwunden." "Haben Sie sie starten gesehen?" "N-nein. Der Kapitän hat mich besucht und mir von dem Maschinenschaden erzählt. Als ich am anderen Morgen merkte, daß sie nicht mehr da waren, habe ich nachgesehen, ob 63
sie mir wenigstens ein paar Vorräte dagelassen hatten. Dabei fand ich dann die Ladung. Es hatte geregnet und die Etiketten..." "Lagen die Kisten durcheinander?" wollte der Doc wissen. "Warum sollten sie?" "Wie hieß das Schiff?" "Es war die WANDERHO", berichtete O'Hara. "War schon mal hier. Es kommt auch kein anderes Schiff hierher. Ziemlich unzuverlässig. Schon einen Monat überfällig." "O'Hara, es tut mir leid, aber die WANDERHO werden Sie nie wiedersehen. Sie liegt durchlöchert drüben im Dschungel. Die Besatzung ist tot. Das, was Sie vor einem Jahr gehört haben, war kein Start. Das war ein Abschuß." O'Hara wurde blaß. "Aber die Ladung! Die Kisten waren doch draußen aufgestapelt..." "Genau." "Sie meinen... Ich verstehe überhaupt nichts mehr." "Ich auch nicht", sagte der Doc. "Haben Sie Schutzschirme?" "Nein, Warum auch. Wer hat schon Interesse daran, eine Versuchsstation zu stören. Wir haben überhaupt nichts. Geld schon gar nicht." "Keine Schutzschirme", stellte der Doc fest. "Dann müssen wir uns beeilen. Können Sie die Achneeiden bewaffnen?" "Nein. Ich habe nur ein Jagdgewehr und ein Bajonett. Das ist alles." "Hippokrates", sagte der Doc, "du baust sofort zwei Geschütztürme aus und stellst sie auf die Türme der Station. Ist zwar nicht viel, aber damit können wir einen Angriff von Land abschlagen. Und wenn ich mich nicht irre, wird das unsere einzige Sorge sein." Hippokrates sah sich hilfesuchend nach einem Platz um, wo er die Ausrüstung abladen konnte. "Wirf das Zeug irgendwohin", sagte der Doc. "Wir bauen das Labor auf der Veranda auf. Hier ist es wenigstens schön kühl." 64
O'Hara ging ein Licht auf. "Soll das heißen", rief er voller Hoffnung, "daß Sie mir helfen wollen? Ist das wahr?" Doc Methusalem beachtete ihn nicht. Er suchte bereits in dem Stapel nach dem Rasterelektronenmikroskop und den Präpariersets. Er stellte beides auf den Tisch. "Jemand soll mir die Transportbehälter aus dem Stasislager bringen. Ich brauche von jeder Sorte ein Stück." In den darauffolgenden Wochen gab es nur Arbeit. Von Wein war keine Rede. Und der Doc meinte, daß zwei Damoklesschwerter über ihm hingen, die ihn stark daran zweifeln ließen, ob er lebend aus diesem Kindergarten herauskäme. Da war nämlich einmal die Tatsache, daß sich jemand die Mühe gemacht hatte, in der Zwischenzeit die Ionosphäre des Planeten so stark aufzuladen, daß Radiosignale weder hereinkamen noch hinausgingen. Und weil des Docs letzte Standortmeldung etliche Lichtjahre von Gorgo entfernt erfolgt war, sahen die Chancen nach Entsatz nicht sehr rosig aus: Eine Suchmannschaft müßte wenigstens hundert Planeten und ein fast unendliches Raumvolumen nach dem Doc durchkämmen. Zweitens tauchte hin und wieder das bewußte silberne Pünktchen am Himmel auf. Das Schlachtschiff wartete. Außer Reichweite. Drohend. Aber worauf wartete es? Was wollte es? Wer saß darin? "Ich glaube, wir sitzen ganz schön in der Tinte." Hippokrates grinste. Er half Doc mit allen vier Armen. "In ERSTE RAUMPIONIERE ERZÄHLEN steht zum Beispiel eine hübsche Geschichte..." "Die ersten Raumpioniere können mir gestohlen bleiben", sagte Doc Methusalem, dem die Augen brannten. Auch sein Kreuz schmerzte, weil er zu lange gebückt in die Mikroskope gestarrt hatte. "Reich mir lieber den nächsten Behälter herüber!" Sie hatten kaum Fortschritte gemacht. Aber wenigstens sah es 65
auf einem Sektor besser aus. Der Doc hatte sich einige Stunden von seinem Programm abgespart, um mit den "Enfants terribles" in Verbindung zu treten. Achtunddreißigtausend Kinder steckten in den Löwenkäfigen und Pferdeställen. Er hatte zweitausend Dias zusammengestellt, die zwar auf LinguaSpatia-Unterricht abgestimmt waren, die er aber auf Englisch umprogrammierte. Im Schlafen und Wachen trommelte nun der audiovisuelle Unterricht auf die frühreifen Babys ein. Natürlich hielten die Projektoren nicht lange durch und mußten alle paar Tage ausgewechselt werden, wenn ein übereifriges Kind mit der Schleuder nach neuen Zielen gesucht hatte. Die Bilder konnten sie wenigstens nicht kaputtmachen, weil sie auf die kahlen Betonwände projiziert wurden. Immerhin lernten die Kinder "Pferd" und "Kuh" und "Mensch" und "ich habe Hunger" und "wo ist das nächste Postamt". Wenn man nicht gerade lebensmüde war, kam man den Gehegen besser nicht zu nahe. Nur der Doc traute sich manchmal im Schutz eines Feldschirms zu gelegentlichen Untersuchungen hinein. Die tausendstimmigen Spottverse, die er sich anhören mußte, zum Beispiel: "Der Doc hat stets weichen Keks", konnten ihm, wenn nicht wirklich einen weichen Keks, so doch bohrende Kopfschmerzen verschaffen. Am allerersten Tag seines Testprogramms hatte er fünf künstliche Gebärmütter im Bungalow aufgestellt und mit zwei weiblichen und drei männlichen Sprößlingen beimpft. Bis auf zwei hatte er sie nach der Geburt zu den anderen in das Gehege gesteckt. Das Pärchen, das er behielt, blieb im Käfig und wurde von Hippokrates beobachtet, der sich über ihr Benehmen Notizen machte. Nichts Weltbewegendes, aber die Beobachtungen waren trotzdem aufschlußreich. Zwei Monate nach der Geburt aller fünf Experimentierbabys hatten die drei, die der Doc in die Löwen- und Pferdegehege gebracht hatte, gelernt, mit der Schleuder umzugehen. Die beiden anderen jedoch nicht. 66
Das Notizbuch füllte sich. Dann und wann glaubte der Arzt einen Zipfel der Wahrheit in den Fingern zu halten. Etliche Fakten konnte er abstreichen. An diesem Nachmittag jedoch sah Hippokrates, wie der Doc die Augen zusammenkniff, aufstand und einen Objektträger gedankenverloren in kleine Stücke brach. "Lösung gefunden?" erkundigten sich Hippokrates und O'Hara gleichzeitig. Der Doc hörte sie nicht. Er trat an die Regale und nahm verschiedene Flaschen herunter, die er mit Pharmastrahlern bestückte. "Vielleicht vergiften Sie die ganze Bande?" fragte Hippokrates hoffnungsvoll. Aber Doc Methusalem hörte nicht. Er ließ sich mehrere Laborflaschen bringen, füllte sie mit dem Gebräu und fertigte eine Skizze an. "Baue ein Katapult, so wie hier", erklärte er. "In jede Ecke der Gehege stellst du eins. Jedes bestückst du mit einer Flasche. Der Katapultarm wird von diesem Elektromagneten gehalten, der über einen Kondensator abgeschaltet werden kann. Auf Knopfdruck müssen dann die Flaschen in die Gehege fliegen." "Und alle sterben?" fragte Hippokrates neugierig und dachte an die blauen Flecken, die ihm die Babys beigebracht hatten. "Du baust die Katapulte", befahl der Doc, "Ich habe noch einen Tag oder zwei mit dem Rest zu tun." "Warum die plötzliche Eile?" fragte O'Hara. Der Doc zeigte mit dem Daumen in den Himmel. "Sie sind heute hundert Meilen weiter heruntergekommen als sonst." "Was? Wirklich?" staunte O'Hara. "Ich habe nichts gemerkt." "Ihnen entgeht offenbar so manches", erwiderte der Doc trocken. Und er nahm die Pharmastrahler und fing an, sie zu sortieren. Er warf einen Blick in den Hof. Ein Huhn pickte und scharrte im Staub. "Bringen Sie mir das Huhn", sagte der Doc. "Da fällt mir 67
eben ein, wo ist eigentlich Muhka?" O'Hara drehte sich um, als erwarte er, daß der Aufseher hinter ihm stand. "Ja, wirklich. Ich habe ihn seit drei Tagen nicht gesehen. Er muß jeden Tag um 14 Uhr seinen Bericht machen. Das ist schon eine Stunde her." "Aha", machte der Doc. "Golly, kein Wunder, daß ihr so lange am Leben bleibt", sagte O'Hara. Er stieg von der Veranda und brachte das Hühnchen mit. Der Doc nahm das Tier, zeigte mit einem Pharmastrahler darauf, und das Hühnchen kippte flügelschlagend um. Es war tot. Bald darauf lag es unter einem Glassturz und wurde aus mehreren Richtungen bestrahlt. Die Federn verschwanden, seine Gestalt verlor die Form, und nach zehn Minuten hatte es sich in einen Zellhaufen verwandelt. Der Doc brummte befriedigt und kippte die Masse in einen Meßzylinder. Dann steckte er einen Pharmastrahler hinein und ließ die Masse stehen. "Noch ein Huhn, bitte", sagte er. O'Hara lief in den Hof. Wie sein Artgenosse, wanderte das zweite Huhn unter den Glassturz, verwandelte sich in eine schleimige Masse und wurde in ein zweites Meßglas gefüllt. Fünf weitere Hühner mußten ihr Leben lassen, bis schließlich in sieben Gläsern sieben verschiedene Pharmastrahler steckten. "Also", sagte der Doc, "jetzt nehmen wir das erste Baby. Den Knaben." O'Hara schüttelte sich unwillkürlich. Er wußte, daß die Forschung manchmal skrupellos vorgehen mußte, aber es war etwas anderes, wenn man ein Baby unter eine Glasglocke steckte und in ein Stück Gelee verwandelte. Aber in diesem Augenblick ertönte ein gräßliches Gekreisch, und O'Hara half freudig, das strampelnde Scheusal auf dem OP-Tisch festzuhalten. O'Hara wartete darauf, daß der Doc die Glasglocke über das Baby stülpen und die Pharmastrahler einschalten würde. 68
Deshalb war er überrascht, als der Arzt das Baby festschnallte und offenbar eine Operation plante. Aber der Doc ließ das Skalpell liegen. Er nahm eine Injektionsspritze, steckte eine sterile Nadel auf und zog einige Zellen aus dem ersten Meßzylinder auf. Er drückte die Luft aus und beugte sich über das Kind. Er fuhr einmal mit dem Leuchtknopf über den kleinen Körper und stieß dem Säugling die Nadel ins Rückgrat. Dann zog er sie heraus und streifte noch einmal mit dem glühenden Knopf über den Körper. Rasch injizierte er die präparierten Zellen in sechs verschiedene Stellen der kindlichen Anatomie. O'Hara fielen fast die Augen aus dem Kopf, als der Doc die siebte Injektion über dem Auge ins Gehirn vornahm. Vorsichtig zog Doc die Nadel heraus, wedelte mit dem leuchtenden Scheibchen und trat zurück. Das Baby mußte tot sein, dachte O'Hara. Kein Säugling konnte sieben Injektionen in Hinterkopf, Rückgrat, Herz und Hirn überstehen. Aber das Baby gurgelte befriedigt und schlief ein. "Das nächste, bitte", sagte der Doc. "Es gibt kein nächstes", sagte plötzlich eine kühle Stimme. Sie drehten sich um. Hinter ihnen stand ein etwas klein geratener Mann mit lederner Haut. Er trug einen Wildlederanzug. Er lehnte sich lässig gegen eine Verandasäule und zielte mit einer zweifellos tödlichen Waffe auf sie. "Und mit wem habe ich das Vergnügen?" fragte der Doc. "Ich bin Smoaly. Aber das wird Sie kaum interessieren. Haben Sie jetzt genug mit den Kindern gespielt? Gut. Dann treten Sie mal von den Käfigen zurück, und wir machen Schluß mit dem Kindergarten." Der Doc sah Hippokrates an, und Hippokrates sah den Doc an. Nur ein erfahrener Pokerspieler hätte ahnen können, was zwischen ihnen vorging. Aber der Doc wußte Bescheid. Während er die Hühner behandelte, waren seine Befehle 69
ausgeführt worden. Mit einem theatralischen Seufzer legte er die Spritze aus der Hand und lehnte sich wie aus Versehen auf den Knopf. Weit aus der Ferne hörte man leises Klirren. "Ach, wissen Sie", sagte der Doc, "an Ihrer Stelle würde ich mir Zeit lassen, Smoaly." "So? Warum, bitteschön?" "Weil ich dem Kind gerade eine lebensrettende Injektion gegeben habe." "Ja-ah. Sie haben so recht." "Nein, wirklich", erwiderte der Doc. "Natürlich wußte ich nicht, daß Ihre Freunde so rasch auftauchen würden. Aber schließlich kann ich die Kinder nicht reihenweise sterben lassen. Wenn Sie freundlicherweise Ihren Schiffsarzt holen möchten, dann werde ich ihm zeigen, was er tun kann..." "Wogegen?" "Na, gegen die Krankheit", sagte der Doc mit hochgezogenen Brauen. "Eine seltsame Epidemie. Sieht wie eine Löwenkrankheit aus. Ziemlich selten. Befällt das ganze Nervensystem." "Ich finde, die beiden sehen ganz normal aus", protestierte Smoaly, der einen Blick in die Käfige auf der Veranda warf. "Diese sind ja auch fast gesundet, obwohl das Mädchen noch die abschließenden Injektionen braucht. Aber die Kinder in den Gehegen..." "Was ist mit den Gehegen?" wollte Smoaly wissen. "Dort schweben 38 000 Babys zwischen Leben und Tod. Und sie lassen sich nicht so mir-nichts-dir-nichts kurieren. Sie sterben, wenn sie nicht behandelt werden. Aber da Sie ein berechtigtes Interesse an ihrem Wohlergehen zu haben scheinen..." "Sagen Sie mal, woher wissen Sie eigentlich so gut Bescheid?" schnarrte Smoaly. "Ich bin zufälligerweise Arzt", erwiderte Doc Methusalem. 70
"Er ist der alte Doc Methusalem!" sagte Hippokrates streitsüchtig. "Er ist Sonnensoldat." "Was ist das denn?" fragte Smoaly. "Ein Arzt", entgegnete der Doc. "Wenn Sie jetzt bitte Ihren Schiffsarzt herholen würden..." "Und wenn wir keinen haben?" "Nun, das sollte mich doch sehr überraschen", sagte der Doc. "Wie wollen Sie 38000 Babys ohne Onkel Doktor durchbringen?" "Das schaffen wir schon! Passen Sie mal auf, Doc. Sie schnallen jetzt Ihren Blastergürtel ab und gehen hübsch langsam vor mir her zu den Gehegen. Und wehe, wenn Sie nicht die Wahrheit sagen." Der Doc ließ den Gürtel auf den Boden fallen, gab Hippokrates ein Zeichen, daß er einen Meßzylinder mitnehmen solle, und machte sich auf den Weg zu den Gehegen. Hier, unter den langen Strahlen der Nachmittagssonne, wurde es vollends klar, warum kein Achneeide zu sehen war. Überall standen Leute in zerlumpten Uniformen herum, die mit ihren Waffen sämtliche Fluchtwege deckten. "Ich dachte, Sie wollten erst morgen landen", sagte der Doc. "Wie bitte?" fragte Smoaly überrascht. "Oh, ich hab's an den Achneeiden gemerkt. Sie haben sich so seltsam aufgeführt. Und einer meiner Detektoren hat angezeigt, daß Sie vorletzte Woche zweimal im Süden von hier gelandet sind." "Gehen Sie ruhig weiter", befahl Smoaly. "Vielleicht laufen Sie mir davon. Aber das schaffen Sie nicht. Das Tor ist bewacht. Und bevor Sie Ihr Schiff erreichen, erwischen wir Sie. Wir bewachen es seit zwei Monaten, weil wir damit rechneten, Sie dort zu treffen." "Gut, daß ich darauf verzichtete, nicht?" meinte der Doc. "Ihre Ernte wäre sonst restlos verdorben." Sie standen in der Nähe eines Betongeheges. Smoaly, der ein 71
wachsames Auge nach hinten richtete und sich mit äußerster Vorsicht bewegte, ging die Rampe hinauf. Aber im Gegensatz zu Hippokrates' hochgeschraubten Erwartungen zertrümmerte kein Kieselstein Smoalys Schädel. Smoaly erstarrte und staunte. Der Doc trat neben ihn und sah hinunter. So weit die Gehege reichten, lagen die Kinder ausgestreckt auf dem Boden. Einige bewegten sich noch, andere zuckten und zappelten, viele lagen still, und alle waren sehr, sehr krank. Die ersten Kinder hatten große rote Flecken auf dem Körper. Smoaly rief seinen Wachen eine Warnung zu und drehte sich zu Doc Methusalem um. "Also gut. Sie sind krank. Wie kann man sie kurieren?" "Ich war ja schon dabei", erklärte der Arzt. "Aber wenn Sie so scharf darauf sind, mich umzulegen..." "Das hat Zeit. Heilen Sie sie! Machen Sie sie gesund, haben Sie gehört?" Der Doc zuckte die Achseln. "Ganz wie Sie wünschen, Smoaly. Aber meine Ausrüstung muß her." "Na gut. Sollen Sie haben." Der Doc kletterte in das erste Gehege, und Hippokrates reichte ihm die Instrumente. Und der Doktor begann das erste Kind zu impfen. Dann drehte er das Kind herum und nahm die Injektionsspritze. Smoaly war mißtrauisch. Er blieb stehen, wo er stand, und hatte das Schutzglas seines Helmes geschlossen. Zwei seiner Wachen näherten sich, erhielten Befehle und gingen zum Tor zurück, wo sie wachsam stehenblieben. Das erste Kind bekam sieben Injektionen und noch eine Impfung mit der Preßluftpistole. Der rote Ausschlag verschwand, und das Kind schlief. Danach lief alles wie am Schnürchen: O'Hara und Hippokrates packten die Kinder auf den Tisch, hielten sie fest, und Hippokrates verpaßte ihnen vierhändig die Anfangs- und Schlußinjektionen. 72
Die Nacht brach an, und sie stellten Scheinwerfer auf. Die Arbeit ging weiter. Nach den ersten Tausend machte der Doc eine Pause, um etwas zu essen, und ging auf Smoaly zu. "Ziehen Sie mich rauf!" bat er. Smoaly gehorchte, und Doc Methusalem packte seine Hand und kletterte über die Rampe. Fast hatte er O'Haras Bungalow erreicht - wobei ihm eine Wache auf den Fersen folgte -, als Smoaly losbrüllte. Der Doc drehte sich um und ging zurück. "Was ist denn?" fragte er besorgt. "Ich bin vergiftet!" kreischte Smoaly und sackte zusammen. Sein Gesicht färbte sich rot, die Hände waren voller roter Flecken. "Nun, bevor Sie das Bewußtsein verlieren", sagte der Doc, "erklären Sie gefälligst Ihren Gorillas, daß ich Sie impfen muß. Sie dürfen keinesfalls denken, daß ich Sie töten will. Ich möchte nicht aus falsch verstandener Loyalität erschossen werden." "Nicht schießen! Nicht schießen, egal, was er tut!" schrie Smoaly. Die Wachen hielten sich zurück. Aber sie wurden sehr unruhig, als sie sahen, wie der Doc ihrem Führer die lange, funkelnde Nadel in Rückgrat und Kopf stieß. Nach der ersten Impfung verschwand der Ausschlag, die letzte Spritze schläferte Smoaly ein. Danach ging der Doc in den Bungalow, aß und ruhte sich aus. Es folgten viele Stunden angestrengter Arbeit. Es war schließlich mehr als genug, 38000 Kinder gegen eine Allergie zu impfen. Von den anderen Arbeiten einmal abgesehen. Außerdem wurde die ganze Sache insofern verschlimmert, als nach und nach die Besatzung des Schlachtschiffes erkrankte. Schließlich gelangte die Epidemie mittels einer handschriftlichen Notiz, die Smoalys vierter Nachfolger verfaßt hatte, an Bord des Kriegsschiffes. Und als die Besatzung die erkrankten Mannschaften isolieren wollte, 73
erwischte sie es auch. Preßluftinjektion gegen den Ausschlag - sieben verschiedene Impfungen an sieben verschiedenen Stellen - Schlafspritze. Nur der Doc konnte nicht schlafen. Er hielt sich mit Multithyroid auf den Beinen. O'Hara erlitt einen Nervenzusammenbruch, bevor sie den zehntausendsten Fall auf dem Tisch hatten. Der Doc gab ihm Spritze Nummer Zwei, packte ihn in einen leeren Löwenkäfig und ließ ihn schlafen. Hippokrates und der Doc machten weiter. Nach drei Tagen hatten sie es geschafft. Der Doc ließ seine Blicke über das Feld schlafender Babys schweifen. Und über die lange Reihe schlummernder Soldaten. Leider fielen ihm auch die letzten fünf ins Auge, die noch immer bis an die Zähne bewaffnet und mit fiebriger Erwartung das Tor bewachten. Der Doc spielte mit dem Gedanken, ihnen etwas zu verabreichen. Aber er war zu müde. Er ging in den Bungalow, legte sich hin und schlief sofort ein. Achtzehn Stunden später erhob er sich erfrischt und badete. Er sah aus dem Fenster nach den Wachen und seufzte. "Hippokrates, pack ein!" "Hauen wir ab?" "Im Laufschritt", bestätigte der Doc. ZISCH und ZACK und das kleine Wesen hatte die Instrumente zu einem handlichen Gebirge aufgeschichtet. "Jetzt holst du bitte O'Hara." Hippokrates wirbelte davon, um den Leiter der Versuchsstation zu holen, und kehrte zurück, den Mann wie einen Sack über der Schulter. Mit den beiden freien Händen lud er sich den Berg der Ausrüstung auf und stapfte, O'Haras Füße im Staub hinterher schleifend, seinem geliebten Doc nach. Der Doc schnallte sich die Blaster um. Die fünf Wachen am Tor paßten auf. 74
"Stehenbleiben oder wir schießen!" brüllte der Unteroffizier. Gleichgültig berührte der Doc den obersten Knopf seines Umhangs. Der Knopf summte leise. Der Arzt ging weiter. "Stopp!" schrie der Unteroffizier. "Stehenbleiben und zurück! Warten Sie, bis die anderen aufwachen. Oder wir erschießen Sie!'' Der Doc blieb stehen. Mitleidig betrachtete er die fünf, die über ihm auf der Mauer standen. Plötzlich warf er sich nach rechts. Er zog so schnell, daß die Schüsse aufflammten, bevor die Wachen die Blaster erkennen konnten. Drei Männer schossen auf den Doc. Harmlos prallten die Schüsse von seinem Kraftschirm ab. Doc Methusalem sah angestrengt über die hitzeflimmernde Savanne, drehte sich um, um zu sehen, ob der Schutzschild auch Hippokrates gedeckt hatte, und machte sich auf den Weg zur MORGUE. Die Wache an der MORGUE war abgezogen worden, als die Seuche ausbrach. Der Doc kletterte ins Schiff, zeigte auf einen Liegesitz, in den Hippokrates O'Hara legen sollte, und ging nach vorn in die Kanzel, um den Start vorzubereiten. Die MORGUE war unbeschädigt. Doc Methusalem gab das Startsignal, und Hippokrates bestätigte fröhlich, daß alles in Ordnung sei. Dann schoß die MORGUE in die Höhe und blieb in fünftausend Metern auf Kurs. Plötzlich setzte der Doc zu einem Sturzflug an. Er hatte das Schlachtschiff von Smoaly gefunden! Mit fünf gutgezielten Granaten jagte er den Raumer in die Luft. Von dem Kriegsschiff blieb nicht viel übrig. Etwas weiter gegen Süden setzte der Doc zu einem zweiten Sturzflug an und zerstörte das Material- und Munitionslager. Wie ein Kind freute er sich über die dicke schwarze Rauchwolke, die von roten Explosionsblitzen durchzuckt wurde. Der Doc war voll und ganz zufrieden. 75
Endlich zog er die Nase der MORGUE nach oben, donnerte ein letztes Mal über die Station und schoß mit kreischenden Düsen durch die letzten Schichten der Atmosphäre, bis er das schwarze Reich der absoluten Kälte und Stille erreicht hatte. Er programmierte Kurs und Geschwindigkeit für den Heimflug. "Zentrale, bitte melden", sagte er ins Mikrophon. "Zentrale, bitte melden. Methusalem ruft Zentrale." "Krrcks. Piep. Verstanden, hier Zentrale. Methusalem, antworten Sie", sagte die Zentrale. "Methusalem mit Bericht." "Methusalem reicht mir schon", sagte der Doc Kauter, der die Zentrale leitete. "Fünf Raumflotten und die Space-Ranger sind seit Monaten auf der Suche nach Ihnen. Sechs Königreichen haben wir schon auf die Hühneraugen getreten. Wo sind Sie gewesen?" "Ich will nur einen Bericht abgeben, Kauter, altes Haus", sagte der Doc. "Schalten Sie bitte den Verzerrer ein." "Ist eingeschaltet. Sprechen Sie." Der Verzerrer war ein Frequenzmodulator, der fünf nebeneinanderliegende Tonspektren mischte und sämtliche Dechiffrierburos verzweifeln ließ, seit die UMS vor zweihundert Jahren dieses Gerät bei sich eingeführt hatte. "Unbekannte außergalaktische Rasse versuchte Bildung eines Brückenkopfs zu Angriffen auf die Erde. Bislang erster Kontakt mit unabhängigen Raumfahrern. Größe etwa dreiviertel Erddurchschnittsmaß. Kohlenstoff-Metabolismus. Sehr menschenähnlich, bis auf einige fehlende Bindegewebe, die zur emotionellen Balance notwendig sind. Darunter fehlender Gehirnabschnitt für Güte, Mitleid, Gerechtigkeit. Haben Nachschub-Depot eingerichtet, waren jedoch nicht in der Lage, Arbeiter und Soldaten in ausreichender Anzahl zu transportieren. Haben deshalb Experimental-Station des Landwirtschaftsministeriums auf Gorgo infiltriert, Frachter 76
zerstört und Gonadenkonserven ausgetauscht. Offensichtlich gut unterrichteter Nachrichtendienst in dieser Galaxis. Anführer auf selbständige Unternehmungen gedrillt. Sprechen englisch. Erkennbar an überdurchschnittlicher Kraft. Lebensspanne kurz. Aufgrund emotionalen Ungleichgewichts nach sechs Jahren Erdzeit ausgereift. Entsprechend frühreif. In der Gesellschaft auffällig wegen raschen Alterns. Diagnose und Therapie: Genmuster analysiert. Entwicklungsbeschleunigende Zellen isoliert. Zellen synthetisiert und injiziert. ErdbeerAllergie. Sämtliche Eindringlinge geortet und alle künstlichen Züchtungen infiziert um ungestörte Behandlung zu ermöglichen. Behandlung abgeschlossen. Künstlicher Tief schlaf erzeugt. Ausnahme: Fünf Wesen, die nicht mit Erdbeersoße erreicht werden konnten. Empfehlungen: Setzen Sie sich sofort mit dem Landwirtschaftsministerium in Verbindung und teilen Sie ihnen mit, daß Trampschiff WANDERHO zerstört wurde. Gorgo-Station aufgegeben, jedoch nicht verloren. Dortige Achneeiden von Fremden bestochen und unzuverlässig. GorgoStation nunmehr bevölkert mit 38 000 Fremden, die in menschliche Sozialgruppe konvertiert wurden. Entlastungsexpedition nötig, weil keiner über zwölf Jahre alt. Mehrzahl etwa fünf bis sechs Monate und hilfsbedürftig. Empfehle Bewaffnung der Expedition und Mitnahme einiger Dutzend Kinderpflegerinnen. Gorgo als menschlich kolonisiert anzusehen. Setze Normalflug nach Heimathafen fort. Würde es begrüßen, wenn meine Wohnung gelüftet wird. Vorzugsweise von Miß Ellison. Das ist alles. Over und out." Als er den Schalter losließ, hörte er jemand hinter sich laut stöhnen. "Das ist alles!" sagte O'Hara. "Sie verwandeln achtunddreißigtausendeinhundertundix außergalaktische Invasoren in Menschen und sagen 'das ist alles'! Mann, ich habe ja schon einige Stories von euch Sonnensoldaten gehört, 77
aber erst heute weiß ich, was für Supermänner ihr wirklich seid." Der Doc musterte ihn höchst gelangweilt und ignorierte ihn von Stund an. "Hippokrates", sagte er, "wir sind bald zu Hause. Köpfen wir die letzten beiden Flaschen Wein."
Das Luftmonopol Doc Methusalem saß im kühlen Licht der Sonne von Arphon und schmauchte eine duftende Pfeife. Die MORGUE, sein Raumschiff und Labor, lag bis zu den Düsen im saftigen Gras neben einem glitzernden See. Aus ihrer Seite ragte eine Markise, die ihrem Herrn und Meister luftigen Schatten spendete. Sonne 12 stand 30° über dem Horizont. Arphons Herbst saugte die Wärme gierig auf. Fast so, wie der Doc an der Pfeife sog. Schließlich konnte er sich diesen Luxus nicht häufig leisten. Hippokrates, Docs kleiner schwergewichtiger Diener, wieselte geschäftig hin und her und hatte alle vier Hände voll zu tun. Dann und wann nahm er sich Zeit und wedelte mißbilligend mit den Fühlern. Es war die Pfeife, die er nicht mochte. "Weil er Geburtstag hat, sagt er, soll ich sie ihm gönnen", knurrte Hippokrates. "Als Arzt sollte er es eigentlich besser wissen. Nikotin! Ugh! Und das drei Tage vor seiner Rejuvenierung! Nikotin an den Fingern. Langsam vergiftet er sich. Nikotin und Teer in der Lunge. Gift ist das! Und was steht im Arzneibuch...", und er begann eine lange Liste schrecklicher Gifte aufzuzählen, wobei er, wenn erst einmal die Schleusen seines unerschöpflichen Gedächtnisses geöffnet waren, vom 78
Tausendsten ins Millionste kam. Gereizt fuhr er mit den Geburtstagsvorbereitungen fort, die große Ansprüche an seine Kochkünste stellten. Immerhin hatte er 905 Kerzen auf der Torte unterzubringen. Der Doc nahm es dem Kleinen nicht übel. Er saß in der Sonne, paffte eine gute Pfeife und kritzelte dann und wann auf der Manschette seines goldfarbenen Hemdes. Der Aktenschrank war schon bis zum Rand mit abgerissenen Manschetten gefüllt, auf denen Berechnungen standen, die sogar seine Standesbrüder der Universal Medical Society erschüttert hätten. Er hörte die klirrenden Ketten und die lauten Befehle der Aufseher nicht, obwohl die Leute immer näher kamen und ganz dicht an der MORGUE vorbeimarschieren mußten. Doc Methusalem kümmerte es nicht, daß Arphon ein brodelnder Hexenkessel voller Aufruhr und Mord war. Und es war einfach einzusehen, warum dies so war, wenn man wußte, was der Doc in den 880 Jahren seit seiner Promovierung alles gesehen, getan, gefühlt, probiert hatte und gewesen war. Es gab nicht mehr viel, das ihn aufregte oder schockierte. Insgeheim rechnete er damit, daß er eines schönen Tages einmal durchdrehte oder eine Kugel verpaßt bekommen würde, oder für einen Monat seine Rejuvenierung vergaß und man ihn in der stillen Krypta aufbahrte, wo die Särge von neunhundert Brüdern standen, die den Dienst in der UMS auf die einzig mögliche Weise quittiert hatten. Er ließ sich also bei seinen Berechnungen nicht stören und stopfte eine zweite Pfeife. Nachher, wenn das Festmahl vorüber war, würde er an den See gehen, eine künstliche Dämmerung herstellen und die neuen Fliegen ausprobieren. Aber jetzt rechnete er erst einmal. Heute morgen war ihm eingefallen, wie man den Abstoßungseffekt berechnen können müßte. Wenn das stimmte, wäre es sicherlich möglich, bei Amputationen 79
praktische Ergebnisse zu erzielen. Der Vorteil wäre einmal, daß er damit seine Kollegen überraschen würde und außerdem schmerzlos operieren und die Regenerierung des amputierten Gliedes erreichen könnte. Der Doc hatte gerade die 96. Variable ausgerechnet, als Hippokrates die Angeketteten hörte. Der kleine Sklave schämte sich, daß er zu beschäftigt gewesen war, um die Geräusche zu beachten, die er doch seit bereits sechzehn Minuten und zweizehntel Sekunden hörte. Hippokrates sprang an die Instrumententafel, wobei die MORGUE unter seinem beachtlichen Gewicht zitterte, und schaltete mit allen vier Armen eine Phalanx von Schaltern ein. Die MORGUE wurde unsichtbar, der Doc von einem Schutzschirm eingehüllt, etliche 600-mm-Kanonen waren schußbereit, und der Backofen wurde heruntergestellt, damit der Geburtstagskuchen nicht verbrannte. Nachdem er sich um diese vier höchst wichtigen Angelegenheiten gekümmert hatte, stellte Hippokrates sich unsichtbar in die Luftschleuse und sah der näher kommenden Kolonne mit Abscheu entgegen. Dann fiel die Kolonne endlich auch dem Doc auf. Es wäre auch nicht einfach gewesen, sie zu übersehen, weil die Vorhut, ein riesiger Persephonede, jeden Augenblick gegen den Schutzschirm laufen mußte, zu dessen äußerem Rand er sich parallel bewegte. Die Kolonne bot einen schrecklichen Anblick. Weiße menschliche Füße traten das saftige Gras nieder und hinterließen Blutspuren. Über hundert Gefangene, in Lumpen gekleidet, ergaben sich in ihr Schicksal. Sie sahen wie Schatten aus, die eine Hölle zum Jüngsten Gericht ausgespien hatte. Die Aufseher waren tierisch aussehende Humanoiden, die man speziell für diese Aufgabe gezüchtet hatte. Seltsam, dachte der Doc, denn er erinnerte sich, daß er selbst diese medizinische Methode, vor fünfzig oder hundert Jahren ausgerottet hatte. Diese affenarmigen Teufel mit den 80
Reißzähnen einer Großkatze waren entweder Menschen, die man mit einem giftigen Zellstimulans verändert, oder Persephoneden, die man aus ihren Höhlen gezerrt und mit satanischer menschlicher Intelligenz versehen hatte. Ihre spitzen Schädel waren dick wie Sturzhelme. Um die Hälse trugen sie Bänder mit Eigentumsmarken, die Schultern und zottigen Lenden waren mit Blastern und Metallkästen gegürtet, und ihre Elefantenfüße steckten in Spucknapf ähnlichen Schuhen. Wer auch immer Besitzer dieser Bande war und sie beherrschen mochte, er mußte selbst ein ziemlich unangenehmer Bursche sein. Der Doc sah sich die Halsbänder durch ein Teleskop an. Er las aber nicht den Namen einer Privatperson, sondern erkannte den Prägestempel einer Firma. LUFT GMBH. Kann sein, daß sie vorbeimarschiert wären und daß das Logbuch der MORGUE sie überhaupt nicht erwähnt hätte, aber des Docs Blicke fielen auf ein Mädchen - und damit änderte sich der Lauf der Geschichte. Sie war zierlich, aber kräftig genug, um das Halseisen zu tragen. Augen, Nase und Mund bildeten ein Dreieck, das just... nun ja; ihr Haar fiel ihr lang über den Rücken. Der Doc war hingerissen. Die Pfeife fiel ihm aus der Hand. Er starrte das Mädchen an. Die Welt verschwamm. Es gab nur noch dieses eine Mädchen. Er stand auf, und seine Knie zitterten. Sie bemerkte ihn. Eine Sekunde lang zögerte und stolperte sie. Der Sklave hinter ihr taumelte; der Sklave vor ihr wurde an seinem Halsband zurückgerissen. Der Persephonede war inzwischen blindlings in den Schutzschirm gelaufen und drehte sich unfreiwillig um. Natürlich sah er die Bescherung und hob die Metallpeitsche. Die Peitsche traf nie ihr Ziel. Der Doc hatte lange nicht mehr aus der Hüfte geschossen, aber er konnte es noch. Der 81
Persephonede zerplatzte buchstäblich, sein Revolvergürtel explodierte und sprengte Grasbüschel in die Luft. Die anderen Aufpasser rannten herbei und suchten mit gezogener Waffe nach dem Übeltäter. Es war nicht fair. Der Doc hatte den Schirm verlassen, damit er ohne Reflexionen schießen konnte. Erst waren es noch fünf Persephoneden, die auf den Doc schössen, dann vier, drei, zwei und schließlich keiner mehr. Irgendwo schmorte etwas im Gras, sonst war nichts zu hören. Eine letzte Patrone explodierte, dann war Ruhe. Die Sklaven standen still, fröstelten und starrten jämmerlich auf den neuen Unterdrücker, der aus dem hohen Gras auftauchte. Der Doc zitterte vor Erregung und ärgerte sich darüber. Er hob die Pfeife auf, klemmte sie zwischen die Zähne und nahm einen Zug. Die Sklaven schrien und wichen vor dem qualmenden Monstrum zurück. Hippokrates brummte enttäuscht. Er hatte zwar die 600-mm-Kanone herumgerissen, aber nicht eine einzige Salve abfeuern können. * Er kam aus dem Schiff. "Du hättest es besser wissen sollen. Ich habe dir gesagt und gesagt und gesagt und du hast vergessen. Du kriegst noch mal was ab. Warum überläßt du so was nicht den Rockern und Louies?" Er war so durcheinander, daß er sämtliche Kraftschirme abschaltete, nach unten ging und den Doc ohne weiteres ins Schiff geschleppt hätte, um zu starten, wenn sein Meister nicht so intensiv in die Gegend gestarrt und die Pfeife vergessen hätte. Hippokrates hob die Pfeife auf. Der Doc schwieg. Hippokrates umkreiste ihn langsam und starrte ihn an. Sein Meister hatte nur die Sklavin im Sinn. Und sie starrte wie hypnotisiert zurück. "Oh", stöhnte Hippokrates und wußte schon, was sich 82
entwickeln würde, "ein Mädchen!" Eigentlich hatte der Doc gar nicht vorgehabt, den Planeten Arphon von Sonne 12 zu besuchen. Er war auf dem Wege zum Chef des Systems der Galaktischen Nebenspeiche 18, um diesem die Absetzungsurkunde auszuhändigen. Und es ging den Doc überhaupt nichts an, wenn es auf Arphon Sklavenhandel gab. Aber das Mädchen ließ ihn nicht aus den Augen. Der Doc errötete und sah an sich hinunter. Er trug das goldene Cape, ein scharlachrotes Trikot und gelbe Schuhe mit hübschen Schnallen. Er war durchaus korrekt gekleidet. Hippokrates seufzte resignierend. Er ging auf das Mädchen zu und brach die Kette mit bloßen Händen durch. Dann machte er dem Rest der Sklaven scheuchende Handbewegungen. "Husch-husch", sagte er. "Ihr seid frei. Geht." "Unsinn", sagte das Mädchen mit einer Stimme, die dem Doc Schauer über den Rücken jagte. "Wovon sollen sie denn leben? Sie haben kein Geld, um die Luftsteuer zu bezahlen." "Die Luft-...", staunte Hippokrates. "Selber Unsinn. Überall ist Luft, und Luft kostet nichts. Husch. HUSCH! Sie bleiben hier", rief er über die Schulter dem Mädchen zu. "Husch!" Die Sklaven sanken auf die Knie und krochen auf den Kleinen zu. "Nein, nein!" schrien sie, "wir können die Steuern nicht bezahlen. Wir haben kein Geld. Wir sind beschlagnahmt und werden verkauft. Schicken Sie uns nicht weg! Helfen Sie uns! Geld, Geld! Zahlen Sie unsere Schulden. Wir werden für Sie arbeiten..." "Meister", rief Hippokrates und wich zurück. Seine Fähigkeiten waren begrenzt, und in Krisensituationen kannte er nur einen Ausweg. "Meister!" Aber die Sklaven krochen unaufhaltsam auf ihn zu, hoben flehend die Hände, bettelten und heulten, und Hippokrates wich immer weiter zurück. "Luft, Luft! Kaufen Sie uns Luft! Bezahlen Sie unsere 83
Steuern! Schicken Sie uns nicht weg!" "MEIH... STERRR!" * Der Doc kümmerte sich weder um seinen Hippokrates, noch um die pathetischen Rufe, die herankriechende Menge oder sonst etwas. Er starrte das Mädchen an, das ihrerseits errötete und die Kleiderfetzen enger um sich zog. Das genügte. "Bringe das Mädchen ins Schiff, befahl der Doc. "Und ihr verschwindet gefälligst. Geht nach Hause. Los, zieht Leine!" Aber der Rückfall in den Jargon seiner Jugend beeindruckte die Menge nicht. Plötzlich griff sich ein alter Mann an die Kehle, stand schwankend auf und schrie: "Luft! Luft! Ahhh...", und fiel der Länge nach ins Gras. Kurze Zeit später folgten die nächsten zwei. Der Doc schnupperte. Er warf einen Blick auf den dritten Knopf seines Capes, aber der Knopf schimmerte golden. An der Luft konnte es also nicht liegen. Er schnupperte noch einmal. "Lufttest, bitte", sagte er zu Hippokrates. Der kleine Bursche sprang freudig in die MORGUE. Während der Tests wurde die MORGUE wieder sichtbar. Hippokrates untersuchte die Luft, und siehe da, sie war in Ordnung. Der Doc klappte die Sichtscheibe seines Helms herunter und trat vor. Er rollte den bewußtlosen Alten auf den Rücken und untersuchte ihn gründlich. Er nahm eine Speichelprobe und gab sie Hippokrates. "In den Brutschrank", sagte er. "Negativ", berichtete Hippokrates sechs Minuten später, Mikroskop und Schnellbrüter noch in den Händen. "Keine Bakterien." "Luft!" kreischte der Alte, der sich etwas erholt hatte. Kurz darauf fiel das Mädchen ins Gras und rührte sich nicht. 84
Zehn Sekunden später hatte der Doc sie in das Schiff gebracht. Hippokrates schaltete einen Sperrzaun ein, der die Sklaven umgab, besprühte sie zweihändig mit einem Desinfektionsmittel und zerbrach ihre Ketten mit den anderen beiden Händen. "Sir", jammerten und japsten sie, "Luft, Luft, Luft." Der Doc sah das Mädchen traurig an, das jetzt auf dem OPTisch lag. Sie war zart und schön. Ihre Gestalt stand in seltsamem Kontrast zu den glitzernden Instrumenten und Schränken, den funkelnden Sonden und gnadenlosen Analysatoren. Der Doc seufzte, schüttelte den Zauber ab und wurde sachlich. "Unterernährung findet man fast überall", sagte er zu Hippokrates. "Aber Unterbelüftung ist mir neu. Ihre Lunge... ach, was ist denn das?" In ihr Ohrläppchen war eine Blechmarke geknipst: EIGENTUM LUFT GMBH - BESCHLAGNAHMT 43. JUDUAR 53. LEM TOLLIVER PRÄS. Irgendwie fühlte sich der Doc dadurch beleidigt. Er entfernte die Marke und legte eine Heilkompresse auf die kleine Wunde. Nach fünf Sekunden war schon nichts mehr zu sehen. Der Doc las noch einmal die Schrift und zertrat ärgerlich das Stückchen Blech. Er begann mit den Vorbereitungen. Bald lag das Mädchen unter der Narkosemaske, durch die sie rhythmisch Sauerstoff und ein wenig psi-ionisierte Luft einatmete. Zufrieden bemerkte er, wie ihre Lider flatterten und sie sich erholte Plötzlich stürzte Hippokrates in den OP. "Ein Schiff landet! Alles schußbereit! Warte auf Feuerbefehl!" "Sapperment!" bemerkte der Doc. "Halte sie uns mit einem Kraftschirm vom Leibe, bis du weißt, wer sie sind." Das Mädchen setzte sich hin und nahm die Maske ab. Sie hatte offenbar keine Ahnung, wo sie war, bis sie ihre 85
Leidensgenossen draußen nach Luft schreien hörte. Sie sah den Doc an, und der Doc seufzte. "Ugh!" machte Hippokrates. "Erst Nikotin, jetzt Weiber! Ich wette, so werden Sie nie tausend Jahre alt! Was kommt als nächstes? Rum?" "Gar keine schlechte Idee", sagte der Doc. "Wenn Sie bitte hierherkommen würden, meine Liebe..." Hippokrates fiel auf, daß der Doc ihr die Tür öffnete. Er wußte, daß er sie in die Luxuskabine brachte, wo sie duschen und des Docs Kimono anziehen würde. Danach würde er sie in den Salon bringen und sich im Dämmerschein bei Kerzenlicht mit ihr über das Gejaule von Geigen unterhalten. UGH! Es wäre genau neunzehn Jahre und sechs Tage her, daß der Doc sich zuletzt um eine Frau gekümmert hatte... Der kleine Sklave dachte nach. Er lächelte. Nun ja, heute hatte der Doc Geburtstag. Sollte er ruhig feiern und dreimal hoch! Er kletterte in den Geschützturm. * Das fremde Schiff riß Hippokrates in die Wirklichkeit zurück. Ja, er war wirklich wütend auf den Doc. Weiber! Schon saßen sie deswegen in der Tinte. Das Schiff war ein Patrouillenkreuzer für Flüge in der unteren Atmosphäre. Es war ausreichend bewaffnet, um eine mittelgroße Stadt auszuradieren. Die Mannschaft sah bereits auf diese Entfernung höchst vertrauensunwürdig aus. Das Schiff landete am Rande des Kraftschirms. Fünf Wachen sprangen mit gezogenen Blastern heraus und gaben einem breitschultrigen Mann in schwarzem Gewand Deckung. Hippokrates fühlte sich an Graf Dracula erinnert und bildete sich ein, Fledermäuse zu riechen. Er schaltete das innere Feld ein. Die fünf Gorillas durchsuchten das Gras, fanden die 86
Brandflecken, wo einst die Aufpasser gestanden hatten, und kleine Stücke geschmolzenen Metalls. Sie blieben stehen und starrten die Sklaven an, die bei Landung des Kreuzers zu jammern angefangen hatten und auf die Soldaten zukrochen. Der große Schwarze blieb stehen und betrachtete die MORGUE. Doc Methusalems Schiff stand mit dem Heck zu ihm, so daß er das Emblem der UMS und den Namen des Schiffes nicht erkennen konnte. "Bleiben Sie lieber stehen", sagte Hippokrates ins Mikrophon. Die Männer hielten inne. Der Große sah nach oben. Eine Handbewegung, seine Männer schwärmten aus, und sein Schiff fuhr eine großkalibrige Kanone aus. Hippokrates zitterte ein wenig, weil er ahnte, daß der Kraftschirm diesem Kaliber nicht widerstehen konnte. "Ich bin Big Lem Tolliver!" schrie Dracula. "Ich spreche als Repräsentant der LUFT GMBH. Ich hoffe, Sie haben eine gute Entschuldigung für den Tod meiner Persephoneden auf Lager. Reden Sie. Sonst schieße ich!" "Machen Sie, daß Sie wegkommen", sagte Hippokrates spöttisch. "Wenn mein Chef Sie sieht, schneidet er Ihnen den Bauch auf, um zu sehen, welche Laus Ihnen über die 'Leber gelaufen ist. Oder er bohrt Ihnen ein Loch in den Schädel, um das Vakuum auszugleichen. Also verschwinden Sie." "Es sind 115 Sklaven", sagte ein Leutnant, der Tolliver nur bis zum Ellenbogen reichte. "Nach der telegrafischen Meldung fehlt also einer." "Durchsucht das Schiff", befahl Tolliver. Hippokrates schwenkte die Kanone herum. "Stopp. Nicht näher kommen. Dies ist U.M.S.S. MQRGUE, und wir sind auf Tote namens Lem Tolliver spezialisiert." Hippokrates war stolz, daß diese Bemerkung so trefflich paßte. Er hatte nie damit gerechnet, daß er einmal die Redewendungen aus den ABENTEUERN DER ERSTEN 87
RAUMPIONIERE an den Mann bringen konnte. Er hatte Erfolg. Die Soldaten blieben stehen. "Raumschaum!" fluchte Tolliver. "Ihr seid kein UMS-Schiff! Sonst würdet ihr keine Sklaven rauben!" "Sklaven gehen auch uns etwas an, mein Junge", sagte Hippokrates. "Und wenn nicht, dann machen wir sie zu unserer Angelegenheit. Du gehst jetzt schön nach Hause und läßt dir von Mammi die Nasi putzen. Sonst putze ich sie dir mit ein paar Granaten. Hau ab!" Er konnte heute den Text wirklich gut gebrauchen. "Komm her, Kleinlich. Durchsuche das Schiff. Und wenn sie den fehlenden Sklaven an Bord haben, holst du ihn raus. Dann rechnen wir die Morde an den Aufpassern ab." Kleinlich zögerte. Der Zwerg hatte etwas gegen 600-mmKanonen. Das war etwas für Möchtegern-Helden. Ihm war seine tägliche Ration Moost lieber. Hippokrates durchschaute die Situation und wurde mutig. Er schoß der Truppe ein Dutzend Granaten vor die Füße und hätte noch ein paar hundert Warnschüsse losgelassen, wenn der Patrouillenkreuzer nicht scharf zurückgeschossen hätte. Ein Schuß genügte. Die MORGUE taumelte, als das Kraftfeld nachgab. Der Geschützturm kollabierte und begann zu qualmen. Das seitliche Bullauge zerschmolz. Glutflüssige Legierung tropfte auf den Boden. Big Lem Tolliver war indigniert, weil dadurch die Chance, den fehlenden Sklaven zurückzubekommen, flöten ging. * Die Soldaten trieben die Sklaven zusammen und stellten sie in Marschformation auf. Sie ärgerten sich, weil die teuren Ketten zerbrochen waren und sie die Leute mit Stricken aneinanderbinden mußten. "Luft!" stöhnten die Gefangenen. 88
"Aufhören!" sagte Big Lem. "Wir werden euch schon helfen, Luft zu atmen, die ihr nicht bezahlen könnt! Macht euch auf die Socken, Jungs. Das Raumschiff ist mir zu heiß." "Sie können mich doch nicht zwingen, sie zu eskortieren", protestierte Kleinlich. "Bis Minga ist es ganz schön weit. Ich habe extra Persephoneden gekauft, damit sie sie begleiten." "Wenn ich sage, du gehst, dann gehst du", sagte Big Lem. "Und wenn ich befehle, daß du schnurstracks in die Hölle gehst, dann gehst du auch. Und wenn ich sage, du marschierst zu Fuß nach Galaktropolis, dann läufst du jedes mickrige Lichtjahr zu Fuß! Wo kommen wir denn hin, wenn mir jeder widerspricht! Wer hat die GmbH gegründet? Wer hält sie in Gang? Wer kümmert sich um den Papierkrieg? Wer, zum Teufel, hält den ganzen lausigen Planeten in Schwung und füllt eure Bäuche? Ich werd's dir sagen. Ich bin es; Lem Tolliver. Und was wäre die Luft GmbH ohne mich? Und Arphon? He? Mann, ich b i n Arphon!" Tolliver fand diese Schlußfolgerung großartig. Er holte tief Luft, stellte sich auf die Hacken und starrte auf Kleinlich hinunter. "So ist es. Ich b i n Arphon. Beinahe wenigstens. Nun, Kleinlich, werden Sie gehen?" "Glaube schon, Arphon", murmelte Kleinlich und schien sehr niedergeschlagen. Er war zu gerissen, als daß er Freude über den willkommenen Ausflug zeigen würde. Wenn er nicht widersprochen hätte, hätte ein anderer den Befehl bekommen und er hatte Sehnsucht, mal etwas anderes als die nach Ozon stinkende Luft des Patrouillenkreuzers zu atmen. Außerdem hatte er Gelegenheit, unterwegs einen oder auch zwei Sklaven zu verkaufen, was er später mit einem Ausfall-Bericht kaschieren konnte. "Muß ja wohl", brummte Kleinlich also. "Aber ich brauche zwei Gefreite und einen Marineinfanteristen. Nur, zwingen Sie mich nicht, Connolly mitzunehmen." "Sie nehmen Connolly und zwei Marineinfanteristen mit", befahl Tolliver. "Jetzt machen Sie endlich, und..." 89
"Moment", sagte Kleinlich. Er vergaß Connolly einen Moment lang, der natürlich wie immer dafür sorgen würde, daß sie den weiten Weg in Hängematten zurücklegen würden, und starrte auf die MORGUE. "Da rührt sich noch etwas." Tatsächlich. Eine angesengte Gestalt kam rückwärts aus dem Qualm gekrochen und zerrte einen leblosen Körper hinter sich her. Kleinlich wurde aktiv, rannte mit angehaltenem Atem in den Rauch und packte den Überlebenden. Hustend und mit der Hand eine brennende Stelle auf seiner Uniform ausklopfend, ließ er die Gestalt ins Gras fallen. "Da haben wir den fehlenden Sklaven", sagte er. "Jetzt sind wir marschbereit." Big Lem sah sich das Mädchen an und zog eine verächtliche Grimasse. In diesem Zustand konnte sie keines Mannes Auge mehr reizen. Kleinlich warf einen Blick auf das Schild am Knöchel und suchte nach dem Beschlagnahme-Siegel am Ohrläppchen. "Das ist Dotty Grennan, die eigentlich für Sie bestimmt war. Taugt nicht mehr viel." "Soll zu den anderen. Manche Männer kaufen ja alles, was sie kriegen können." "Sie wird's nicht lange aushalten." "Na und? Nehmen Sie sie mit. Hauptmann! Hauptmann! Kommen Sie mal, Fester. Gehen Sie zum Hauptmann. Er soll Connolly und zwei Marinesoldaten zu mir schicken und das Schiff startklar machen." Foster verschwand. Bald darauf kam er zurück, um bei Aufstellung der Marschkolonne zu helfen. "Luft!" stöhnten die Sklaven. "Luft!" "Maul halten, ihr beschlagnahmten Muttersöhnchen", sagte Kleinlich und trieb sie zusammen. "In die Reihe, in die Reihe, oder ich versorge euch mit mehr Luft, als ihr atmen könnt." Er hielt Tolliver die offene Hand hin. "Ich brauche ein paar Gaspatronen", sagte er. "Es ist schon 90
ohne hundertsechzehn Ohnmächtige schwer, nach Minga zu kommen." "Reine Geldverschwendung", erwiderte Big Lem. Aber er gab Connolly, ein Zeichen, der aus dem Schiff kam. Connolly machte kehrt und kam mit den Patronen zurück. Die Patronen sahen wie kleine Zylinder aus. Sie explodierten um die Gruppe der Sklaven und setzten grünlichen Qualm frei, der eine Weile in der Luft hing. Kleinlich wich der Spraywolke aus und wartete, bis der Dunst verflog. Big Lem sah ihnen eine Weile nach. Er wußte, daß Kleinlich und Connolly den meisten Weg in einer Tragbahre zurücklegen würden. Und er wußte auch, daß sie unterwegs mit einigen jungen Sklavinnen schäkern und ein Dutzend Sklaven verkaufen und als ausgefallen melden würden. Aber er schätzte diese Art Loyalität, weil er selbst nichts anderes kannte und gelernt hatte. Er lächelte, als die Letzten zwischen den Bäumen verschwanden. Ohne einen weiteren Blick auf das qualmende Raumschiff zu verschwenden, stieg er in den Patrouillenkreuzer und startete. * Als der Doc eine Stunde später zu sich kam, fand er sich im Gras vor der MORGUE wieder. Er blieb eine Weile liegen und genoß die kühle Luft und den frischen Duft. Es war schön, zu leben, und er freute sich, daß er überlebt hatte. Schließlich stemmte er sich auf die Ellenbogen und sah nach der MORGUE. Die Außenlegierung war erstarrt, der Qualm hatte sich verzogen. Das alte Schiff war fast reif für den Schrotthaufen. Der obere Geschützturm war aus der Verankerung gerissen, unter dem Kiel klaffte ein drei Meter großes Loch in der Erde. Der Kiel selbst war verbogen, und die sichtbare Flanke war hübsch gewellt. Doch des Docs Stimmung hob sich. Die Düsen und die Messe waren 91
unversehrt. Er wollte aufspringen, aber die rechte Hand versagte ihm den Dienst. Ihm wurde übel. Er sah sich die Hand an. Die Handfläche war verbrannt. Das Handgelenk war verstaucht, wenn nicht gar gebrochen. Er tastete Schultern und Brustkorb ab, aber das Cape hatte ihn geschützt. Von einem Schuh waren nur noch kümmerliche Reste übriggeblieben, doch Fuß und Knöchel waren heil. Von einigen Sengstellen und der angeknacksten Hand abgesehen, hatte er das Feuer ganz gut überstanden. Rasch erhob er sich und ging durch die noch glühendheiße Luke ins Schiff. Die junge Frau war fort. Plötzlich wußte der Doc, wie er aus dem brennenden Schiff gekommen war. Kein Raummatrose hätte einen Pfifferling für ihn gegeben, es war also entweder das Mädchen oder Hippokrates... "Hippokrates!" ... Hippokrates... krates... ates... tess echoten die leeren Kabinen. Der Doc rannte in die Messe und suchte. Er lief in den Reaktorraum. Leer. Langsam kam er zu dem Schluß, daß man seinen kleinen Gefährten verschleppt hatte, bis ihm plötzlich der Geschützturm einfiel. Die Leiter war verbogen und glühte noch. Die Klappe an ihrem oberen Ende war von einem Volltreffer zugeschweißt worden. Der Doc stand da und sah unschlüssig nach oben. Ein Kloß steckte ihm in der Kehle. Er fürchtete sich davor, was er hinter der Klapptür finden würde. Suchend ging er im Schiff hin und her. Aber im ganzen Schiff schien es keinen Schneidbrenner zu geben. Er zuckte zusammen. In der Kombüse hatte es geschnurrt und geklappert. Hoffnungsvoll stieß er die Tür auf. Aber der kleine Hippokrates war nicht da. Pfannen, Löffel und Messer lagen so, wie er sie hingelegt hatte. Eine Schale mit Gips und Senf, Hippokrates' Lieblingsspeise, stand halb gegessen in der Spüle. Das Schnurren und Klappern war der Elektroofen gewesen, 92
der den fertigen Geburtstagskuchen aus der Röhre geschoben hatte. Der Kuchen brauchte nur noch mit Zuckerguß, der Verzierung und den neunhundertfünf Kerzen versehen zu werden. Aber es war kein Hippokrates da, der das Werk vollenden würde. Leise schloß der Doc die Tür der Kombüse. Es kam ihm vor, als wäre er in das Privatleben von Hippokrates eingedrungen. Nachdenklich blieb er mit der Hand auf der Klinke stehen. Er hatte den Gedanken immer weit von sich geschoben. Aber ein Leben ohne Hippokrates könnte er nicht lange ertragen. Er fluchte knapp. Im OP fand er endlich das, was er unbewußt gesucht hatte: Einen Amputator, mit dem man selbst Diamanten schneiden konnte. Solange die Leiter stand, konnte er die Falltür nicht erreichen. Der Doc verbrannte sich ein paarmal die Finger, bis er die verbogenen Rohre aus dem Weg geschafft hatte. Dann fiel ihm ein, daß er ohne Leiter keine Chance hatte, den metergroßen, aber eine halbe Tonne schweren Hippokrates herunterzuholen. * Der Doc suchte nach Seilen und Matratzen und stellte sich schließlich mit laufendem Amputator auf einen Stuhl. Aber er senkte den Schneidstrahl. Was, wenn Hippokrates gerade auf der Trennlinie lag? Mit einer IR-Sonde tastete er die Decke ab und markierte die etwas wärmere Stelle, die Hippokrates' Umrisse zu zeigen begann. Der Amputator war fast ausgebrannt, als noch ein fünf Zentimeter langer Schnitt zu machen war. Aber das Gewicht zog die Klappe von allein nach unten und der Doc brauchte nur noch ein wenig nachzuhelfen. Kurze Zeit später kroch er in den Turm. Hippokrates hatte sich zusammengerollt, als schliefe er. Das eiserne Stützgerüst war geschmolzen und auf ihn gefallen. Seine graue Haut war versengt und rußgeschwärzt. Rasch legte 93
der Doc ein Pulsometer an Hippokrates' Brust. Erleichtert atmete er auf, als die Anzeigenadel schwach, aber regelmäßig hin und her pendelte. Er stand auf und spürte, wie seine Lebensgeister langsam zurückkehrten; es schien alles nicht so schlimm. Er riß die eisernen Stäbe beiseite. Vorsichtig rollte der Doc den kleinen Sklaven in die Hängematte. Er wußte nicht, wie es im Innern von Hippokrates aussah. Eigentlich hatte er ihn gerade deswegen vor etlichen Jahrzehnten gekauft: um seine Anatomie zu studieren. Nun ja, alles rächt sich, dachte der Doc, als er das schwere Bündel langsam über einen zerborstenen Raketenschlitten in die Tiefe sinken ließ. Dann dauerte es noch einmal zwanzig Minuten, bis er ihn auf dem OP-Tisch liegen hatte. Und als der Doc auch dies schließlich geschafft hatte, mußte er den Kopf schütteln. Was wußte er eigentlich von Hippokrates - außer daß er Gips und Senf aß? Die Fühler waren heil. Hippokrates' vier Arme wiesen zwar Abschürfungen auf, waren aber nicht gebrochen. Die Beine schienen auch in Ordnung. Aber der Brustkorb sah irgendwie angeknackst aus. Weil Hippokrates seine Wehwehchen sonst immer selbst kurierte, sah sich der Doc noch einmal in der Kombüse um. Er entdeckte ein paar nach Zauberei aussehende Amulette und eine Flasche mit verdünnter Tinte, obwohl das Etikett eine medizinische Dosierungsangabe trug. Außerdem fand er einige Kompressen und weiße Kalkfarbe. Niedergeschlagen kehrte er in den OP zurück und setzte sich neben den Tisch. Hippokrates' Herz schlug schwächer. Langsam gewann die Angst Oberhand. Des Docs Kehle schnürte sich zusammen. Er lief in die Kombüse. Hippokrates hatte manchmal einen über den Durst getrunken; also mußte es irgendwo ein Stimulans geben. Aber der Doc fand etwas ganz anderes. 94
Der Brief war in Lingua Spatia geschrieben. "An Bestin Kardschoi, p.A. Milbright & Diggs Importgesellschaft, MINGA/Arphon via Universum-Faksimile-Funk - à conto UMS/D.M. Liebe Menschen, vor 46 Jahren beschäftigten Sie einen Bestin Kardschoi aus meinem Volk als Buchhalter. Bitte, übermitteln Sie diesem diese Mitteilung. Hallo Bestin. Wie geht es Dir? Mir geht es gut. In letzter Zeit habe ich mich nicht so gut geröhrt. Die alte Geschichte, Du weißt. Wenn Dein Vater noch mit Dir zusammenarbeitet, dann sage ihm bitte, daß ich ihn sprechen muß. Ich brauche seinen Rat. Mein Herr hat heute Geburtstag, und ich werde ihm eine schöne Feier mit 905 Kerzen machen. Das mag Euch sehr menschlich vorkommen, aber ihr müßt wissen, daß er sehr angesehen und ein großartiger Mensch ist. Ich werde versuchen, Euch mit der Gig zu besuchen. Ich schlage vor, wir treffen uns gegen Morgengrauen im Park, weil ich nicht genau weiß, wo Du wohnst. Dein Vater..." Der Brief brach mit einem Klecks ab. Offenbar hatte Hippokrates sich um den Kuchen kümmern müssen. "Junge, Junge", sagte der Doc, "und das bei fünf Dollar pro Wort." Aber als er den Brief durchgelesen hatte, hätte er auch fünfzig Dollar pro Wort bezahlt. Er ging rasch zum OP-Tisch zurück, stellte Gips, Senf und den Topf mit der verdünnten Tinte neben Hippokrates' Kopf und legte das Funksprechgerät dazu, das er auf seine Frequenz eingestellt hatte. Das Ganze krönte er mit einer Notiz: HALTE 95
AUS, ALTER JUNGE. ICH HOLE BESTIN ODER SEINEN VATER. ICH BIN AUF DER EINGESTELLTEN FREQUENZ. DOC. Die verletzte Hand hinderte ihn am Schreiben. Als er mit dem Schreiben fertig war, steckte er sie bis zum Ellenbogen in den Katalysatortopf. Die Wunden prickelten schmerzhaft, weil sie zu schnell heilten und vernarbten. Aber das war ihm egal. Gott sei Dank lag die Gig auf der dem Treffer abgewandten Seite. Sie war einsatzbereit. Vor dem Abflug fiel ihm noch ein, daß er in seinem jetzigen Zustand wohl kaum etwas erreichen würde. Rasch zog er sich um, packte Köfferchen und Blaster ein und verlor weiter keine Zeit. * Die Gig war ein kleines Boot zum Flug im Weltraum, hatte konventionellen Antrieb und war gepanzert. Sie konnte mit etwa 6 bis 8 LJ fliegen und war deshalb natürlich für den Flug in der Atmosphäre denkbar ungeeignet. Prompt schoß der Doc zweimal über Minga hinweg, bevor er den Landeplatz richtig erkannt hatte. Er schaffte es, die Gig bei 600 km/h zu landen. Dem BAEDEKER FÜR PLANETEN zufolge war Minga eine Stadt von 90 000 Einwohnern und bot "begrenzte Einkaufsmöglichkeiten für Reaktorkerne, Eis, Frischwasser, Kolonialwaren und Schiffsausrüstungen", hatte "Reparaturstätten für Schiffe bis 100 Tonnen" sowie ein "Regierungshospital unter Leitung der Marine von Sonne 12 mit kleiner angeschlossener Apotheke, zwei Hotels, drei Restaurants, deren Möglichkeiten dem unregelmäßigen Touristenaufgebot angepaßt sind." Also eigentlich nicht gerade eine Stadt, in der man gutgekleidete Herren älteren Semesters trifft, die umsichtig, aber unverkennbar auf Katzenjagd gehen. Der Doc holte tief Luft und ging auf den Gentleman zu. Der 96
Alte sah ihn und hielt das Netz mit der gefangenen Katze hoch. "Ein guter Bissen, nicht wahr, Sir?" sagte er. "Es ist schon mehr als drei Wochen her, daß wir Katze auf dem Tisch hatten. Fauche nicht, mein gutes Kaninchen, das hilft doch nichts. Ach, ja, das war eine anstrengende Jagd. Zehn Häuserblocks. Und so aufregend. Hätte dich doch jeden Augenblick ein Prolet erwischt. Schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste. Ach nein." Der Doc entdeckte an ihm keine Anzeichen von Schwachsinn. Aber er hatte jetzt keine Zeit, sich um die Besonderheiten arphonischen Benehmens zu kümmern. Eine dringendere Aufgabe wartete im Wrack der MORGUE. Besorgt schaute er auf das Funksprechgerät. Das Tick-tick-tick des Herzschlags von Hippokrates war noch langsamer geworden. "Sir", sagte der Doc, "wenn ich auch Ihren Enthusiasmus nicht teilen kann, so möchte ich mir doch Ihre Ortskenntnis zunutze machen. Ob Sie mir wohl verraten, wo ich eine Firma namens Malbright und Diggs finde? Ich glaube, ihr Hauptgeschäft ist hier in Minga." "Rasch, mein Bester. Wo finde ich einen Repräsentanten dieser Firma?" Der Alte schneuzte sich noch einmal. "Nun", sagte er, "mit etwas Phantasie würden Sie im Himmel nach ihm suchen. Oder vom Standpunkt seiner Gläubiger aus in der Hölle. Wo auch immer, dort finden Sie meinen alten Billardpartner und dessen traurigen kleinen Teilhaber Diggs. Aber Arphon ist nicht die Hölle. In der Tat befindet diese sich zwei Haltestellen weiter." "Also ist die Firma erloschen. Wo hatte sie ihr Büro?" "Oh, Malbright und Diggs sind zwar erloschen, aber Sie können sich an die LUFT GMBH wenden, wenn Sie die Spur aufnehmen wollen. Malbright, der arme Kerl, hat damit angefangen. Er brauchte immer mehr und mehr Luft und konnte die Gebühren nicht mit seinem Anteil decken. 97
Schließlich griff er", und der Alte schnaubte wieder ins Taschentuch, "daneben. In die Ladenkasse, könnte man sagen. Eines Tages war es dann soweit. Die Firma ging pleite. Armer Malbright. Er brauchte die Luft so dringend. Und hatte kein Geld. Selbst Diggs, der doch sein Kompagnon war, konnte das Konto nicht ausgleichen. Das war das Ende. Und was war es doch für ein schönes Geschäft gewesen. Bis Malbright der Luft verfiel. Alles vorbei, vergessen." Und er sah sich um, als läge die Landschaft in melancholischem Nebel. Der Doc runzelte die Stirn. "Luft? Was soll dieser Unsinn mit Luft? Ich habe schon einmal davon gehört. Aber meine Zeit drängt. Vielleicht erinnern Sie sich auch an einen kleinen Außerirdischen, der Malbrights Bücher führte. Hatte wahrscheinlich vier Arme, hieß Bestin Kardschoi..." "Ach, du meine Güte! Malbright und Diggs hatten Hunderte von Angestellten. Der Umsatz ging in die Millionen. Große Kundschaft. Gutgehende Gesellschaft. Armer Malbright." Wieder trompetete er in das Taschentuch. Der Doc wurde langsam ungeduldig. "Wie kann eine so große Firma wegen ein bißchen Luft in die Luft gehen? Mein lieber Mann, der ganze Planet ist mit einer Lufthülle umgeben!" Wütend stapfte der Doc weiter. Erst jetzt fiel ihm das Elend rings umher auf. Die Leute machten einen apathischen und abgestumpften Eindruck, als wären sie halbverhungert und hätten alle Hoffnung aufgegeben. Die Schaufenster waren voll mit staubigem Gerumpel. Fensterläden klapperten im Wind. Die Stadt sah aus, als hätte man sie geplündert und mit Geistern bevölkert. Vor ihm lag ein kleiner Park. Eine bedauernswerte kleine Oase mit kaputtem Springbrunnen, verwilderten Wegen. Zwei Hunde schlichen scheu durch die Büsche und kratzten im Unrat. Der Doc stellte fest: Die Stadt war am Verhungern. Die Kinder in den Eingängen hatten geblähte Bäuche und roten 98
Ausschlag. Als der Doc auf sie zuging, versuchten sie davonzulaufen. Er schaute in das Fenster einer ebenerdigen Wohnung und sah, daß die Kinder sich um das Bett einer Frau drängten., Sie bemerkte seinen Schatten und drehte sich um. Sie verstand und winkte ihrem Ältesten. "Geh mit, Jims. Zeige dem Herrn, was er sucht." Mißtrauisch schaute sie die Münze an und hob sie auf. Der Doc verzog schmerzlich das Gesicht, als er sehen mußte, daß sie nur noch Haut und Knochen war. Er packte die Druckluftpistole aus, lud sie und impfte die ganze Familie. Sie fürchteten sich vor dem blasterähnlichen Instrument und wußten nicht, daß er ihnen eine Nährlösung eingespritzt hatte. Der Doc winkte dem Jungen und ging auf die Straße. Jetzt wußte er, was der Alte gemeint hatte. Er hätte den Ort selbst finden können. Ein Angestellter kam auf ihn zu. "Dies ist der Privateingang, Mister. Wenn Sie Steuern, Mieten oder Kautionen bezahlen wollen, benutzen Sie bitte die Tür nebenan. Außerdem..." "Ich möchte Einblick in die Personalakten", sagte der Doc. "Ich suche nach einem Extraterrestrier namens Bestin Kardschoi. Und halten Sie mich gefälligst nicht auf. Wo ist das Personalbüro?" "Jawohl, Sir. Sofort, Sir. Nur eine Minute, Sir. Was Big Lem wünscht..." "Wer sagt, daß Big Lem etwas wünscht?" dröhnte eine Stimme im Hintergrund. "Ich", sagte Big Lem und kam mit vorgeschobenem Kinn näher, "kann es nicht leiden, wenn Leute sich auf Befehle berufen, die ich nie gegeben habe. Und nun, mein Lieber, möchte ich gern wissen, warum Sie meinen Namen mißbrauchen." Der Doc sah ihn gelangweilt an. Er tastete in der Tasche nach der Hypnopistole. Aber Tollivers Leibwache hatte einen sechsten Sinn. Der Doc wurde gepackt und festgehalten. Tolliver krempelte des Docs Taschen um. 99
Instrumente, Indikatoren, Pillendöschen, selbst die Hypnopistole interessierten Tolliver nicht sehr. Aber des Docs UMS-Kette. Tolliver wollte die Kette aus purem Gold haben und zog. Aber die Kette hielt, und Tolliver konnte sie nur anstarren. "U, M, S", las Tolliver. "Hrrmph." Ein zweiter Angestellter kam seinem Schicksalgenossen zu Hilfe, der unter den widerstreitenden Befehlen ohnmächtig geworden war. "Universal Medical Society", übersetzte er unbewußt. Und als er merkte, was er ausgesprochen hatte, ließ er vor Schreck seinen Kollegen fallen. Mit offenem Mund starrte er den Doc an. "Univ...", stotterte Tolliver. Er wurde blaß. "Unsinn", sagte er dann. "Ein Angeber ist das. Der ist doch nie im Leben ein Sonnensoldat. Wo sind denn seine Berater?" "Sie... sie arbeiten allein", sagte der Angestellte. "Ich... ich habe gelesen..." "Staub! Was kümmert Arphon die UMS?" behauptete Tolliver. "Die UMS ist nur hinter dicken Fischen her. Hör mal, du Angeber, ziehe bloß keine Schau ab. Du bist doch nur ein mieser kleiner Schieber, das sehe ich doch auf hundertfünfzig Meter. Davon verstehe ich nämlich was. Und nun will ich mal sehen, wie du dich aus der Klemme ziehst. Mach schon!" "Ach, halten Sie doch den Mund", sagte der Doc. Tolliver stockte der Atem. Seit Jahrzehnten hatte ihm niemand widersprochen. Big Lem sah sich den Doc genauer an. "Sagen Sie mal, wer sind Sie denn nun wirklich?" "Vor einer Weile schienen Sie das noch gewußt zu haben. Ich bin Arzt." "Ach", sagte Big Lem. Seine Miene hellte sich auf, und er rieb sich die Hände. "Ein Arzt. Ein Pillendreher, der UMSSoldat spielt. Schau mal an." Diese Sprache verstand er. Der Bursche spielte also einen 100
Sonnensoldaten und wollte ihn um ein paar Scheinchen erleichtern. Und weil Tolliver zu den Männern gehörte, die nur verstehen, was sie selbst sind und tun, war er vollauf zufrieden. Grinsend befahl er, den Doc zu filzen. Aber dann bat er ihn mit großer Herzlichkeit in sein überdimensionales Büro. "Setzen Sie sich, setzen Sie sich", sagte Big Lem, der in einem riesigen Sessel hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte. "Verstehen Sie was von Ihrem - Beruf?" Der Doc beherrschte sich mühsam. Er setzte sich auf einen großen Lederstuhl. "Andere sicherlich mehr", seufzte er. "Wann und wo haben Sie's gelernt?" "Nun... das ist schon eine Weile her. Vielleicht bin ich nicht auf dem laufenden." "Aber studiert haben Sie?" "Ja. Wie ich schon sagte, ist eine Weile her." "In etwa." "Sie bringt so leicht nichts aus der Ruhe. Das gefällt mir. Sehr sogar. Ich werde Ihnen mal was verraten. Ich bin gerade auf der Suche nach einem Arzt. Muß nicht gleich eine Kapazität sein. Nein, so einer wie Sie reicht mir schon." "Ich dachte, hier gibt es Ärzte." "Ach, die von der Marine. Haben sich alle aus dem Staub gemacht. Einer ist sogar mein Partner gewesen. Er soll ganz gut gewesen sein. Aber dann haben ihn Wein und Weib geschafft. Vor fünf Jahren ist er gestorben. Und Sie wissen vielleicht, daß wir hier ein wenig abgeschieden leben. Ich kann also einen neuen Leibarzt gebrauchen. Am besten einen, der ab und zu mal sein ethisches Auge zudrückt." "Und was liegt drin?" "Etliche Tausender. Oh, ich zahle nicht schlecht. Die LUFT GMBH ist ein gutgehendes Unternehmen, mein Freund." Er strahlte gewinnend. "Mit Ihrem Halsband haben Sie mir einen schönen Schreck eingejagt. Die UMS. Junge, Junge, Sie haben Ihre Geschichte wirklich gut vorbereitet. Aber glauben Sie mir, 101
Sie würden nicht hier vor mir sitzen, wenn ich Ihnen die Geschichte abgenommen hätte. Sie haben ja noch nicht einmal ein Stethoskop in der Tasche. Statt dessen einen Blaster. Ich weiß Bescheid." "Was habe ich denn falsch gemacht?" fragte der Doc unschuldig. "Na, der Blaster hat Sie verraten. Die UMS wendet nie Gewalt an. Oh, ich weiß Bescheid. Bin ja nicht ganz blöd. Und die Chance, daß ausgerechnet hier ein UMS-Kreuzer auftaucht, steht zehn Millionen zu Eins. Arphon ist der absolute Hinterhof der Geschichte. Und die Konföderation von Sonne 12 ist schon längst passe. Außerdem haben wir keine ansteckenden Krankheiten und keine gelben Karten. Also hat die UMS keinen Grund, ihre Nase in unsere Angelegenheiten zu stecken. Und wenn wirklich eins von ihren 100-Mann-Schiffen kommt, dann will ich schon mit mir reden lassen. Damit zum Geschäft. Ich habe den Eindruck, daß Sie auch nicht auf den Kopf gefallen sind." "Moment. Sind Sie denn die Regierung?" "Nun, irgendwie schon. Jedenfalls gibt es im Augenblick auf Arphon keine Regierung. Und weil wir eine gute Organisation haben, beschäftigen wir uns mit dem Finanzkram und treiben die Gebühren für die Maschinen ein." "Was für Maschinen?" "Die Gesundheitsmaschinen, natürlich." Big Lem lachte. "Vielleicht können wir ins Geschäft kommen", sagte der Doc. "Aber erst muß ich eine persönliche Sache in Ordnung bringen. Ich suche einen Extraterrestrier, der Bestin Kardschoi heißt. Ich muß ihn finden. Dann komme ich zurück..." Big Lem sah ihn schelmisch an. "Alter Geschäftspartner, wie? Nun, Doc, wenn's weiter nichts ist, dann sollen Sie ihn kriegen." "Sofort", sagte der Doc. "Erst müssen wir etwas klarstellen. Werden Sie für mich 102
arbeiten?" "Darüber reden wir, wenn Sie mir Bestin Kardschoi geholt haben", sagte der Doc. "Es eilt." "Ich fürchte, so schnell geht das nicht, mein Lieber. Machen Sie mit?" "Dazu weiß ich zuwenig", sagte der Doc und beherrschte sich nur mit Mühe. "Zum Beispiel?" "Was sind das für Steuern? Was ist mit der Luft? Was machen Sie überhaupt?" "Wir verkaufen Luft", sagte Tolliver. "In kleinen Flaschen oder großen. Ein Monatsbedarf kostet hundert Dollar. Ist doch ganz legal - oder?" "Aber warum gerade Luft?" "Warum nicht? Alle Menschen müssen atmen, nicht?" "Und die Steuern...?" "... halten die Maschinen in Gang. Haben Sie das große Maschinenhaus nicht gesehen, als Sie in die Stadt kamen?" "So genau habe ich nicht darauf geachtet." "Warum denn das?" "Weil wir billige Arbeitskräfte brauchen. Neun Zehntel der Bürger werden lieber Sklaven, als daß wir die Maschinen stillegen. Also, auf geht's!" "Das heißt wohl eher, daß neun Zehntel zu Sklaven geworden sind. Nun reden Sie mal, Tolliver. Was machen die Maschinen?" "Sie verhindern, daß die Weltraumgase die Atmosphäre vergiften. Deshalb lassen wir die Maschinen laufen. Sie drücken die Gase nach oben. Und die Luftflaschen, die wir verkaufen, helfen den Leuten, wenn sie zuviel Gas eingeatmet haben." "Was für Gas?" Tolliver sah den Doc verschlagen an. "Dazu brauche ich eben einen Arzt", gab Tolliver zu. "Sie brauchen nur mitzumachen 103
und ein paar Befehle zu befolgen..." "Das will ich mir erst einmal ansehen. Geld ist Geld. Es kann ja sein, daß ich gerade davon nichts verstehe." Vorsicht und Mißtrauen konnten nicht schaden. Tolliver stand auf und wollte gerade nach jemand rufen, als Kleinlich ins Zimmer trat. Er schwitzte nach dem langen Marsch. Als er den Doc sah, schluckte er seinen Bericht hinunter. "Neuer Rekrut", erklärte Tolliver. "Alle mitgebracht, Kleinlich?" "Zwölf haben's nicht geschafft", sagte Kleinlich. "Die Persephoneden übertreiben immer, wenn sie die Leute antreiben sollen." "Wieviel haben Sie verdient?" fragte Tolliver. Kleinlich war beleidigt, sein Boß lachte. "Nun, dann lassen Sie sie in den Pferch bringen und... nein, warten Sie. Nehmen Sie diesen Mann mit und zeigen Sie ihm alles." Kleinlich sah den Doc von der Seite an. Tolliver gab ihm ein geheimes Zeichen: ... paß auf ihn auf... zeig ihm nicht alles... bei Flucht töten... "Ich brauche diesen Mann", fügte Tolliver laut hinzu. Der Doc stand auf. "Wenn Sie mir sagen, wo ich Bestin finde..." "Später, später. Begleiten Sie ihn. Kleinlich." Als sie draußen waren, versuchte der Doc, seine Sachen und sein Funksprechgerät wiederzubekommen. Man lehnte ab. Wenn er nicht die Sklaven vor der Tür gesehen hätte, hätte er seinem Wunsch mehr Nachdruck verliehen. "Kommen Sie her, Sie", sagte Kleinlich. Er stolperte die Treppe hinunter und packte den Doc von hinten. Der Arzt wehrte sich nicht. "Was'n das für 'ne Krähe?" fragte Connolly, als sie ihn weit genug zurückgezerrt hatten. "Ein Neuer, sagt der Boß. Hat uns gerade noch gefehlt", brummte Kleinlich. "Der Anteil wird immer kleiner. Viel zu 104
viele auf der Lohnliste. Connolly, Du schaffst die Schweine in den Stall. Ich muß für diesen Heini Fremdenführer spielen. Nie kriege ich meine Ruhe. Wann kann ich mir endlich mal einen ansaufen...", er ließ den Satz unvollendet. "Kommen Sie mit. Was sollen Sie eigentlich machen?" "Ich soll die Maschinen reparieren", antwortete der Doc. "Na, dann kommen Sie mal." Kleinlich stolperte voraus, und der Doc folgte ihm. Die Maschine sah aus wie ein großes gelbes Faß und stand mitten auf dem Verwaltungsgebäude. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Das Faß summte. Instinktiv hatte der Doc den Schutzhelm übergestülpt, und es überraschte ihn, daß auch Kleinlich eine Atemmaske aufsetzte, bevor er aus dem Fahrstuhl stieg. "Was hat sie denn?" fragte Kleinlich nach einer Weile. Der Doc ließ sich irgend etwas einfallen. "Die Drehkos." "Ich brauche ein paar Sachen, die ich im Büro gelassen habe", sagte der Doc. Kleinlich ging telefonieren. Bald darauf kam ein Angestellter mit einer Papiertüte nach oben. Keine Spritze, kein Blaster - der Doc breitete seine paar Sachen aus. "Sieht nicht wie Werkzeug aus." "Ich bin Chemiker", erklärte der Doc. "Oh, verstehe. Ich habe ihm ja gesagt, daß die Mischung zu konzentriert ist. Selbst ich merke das." Der Doktor lächelte und nickte. "Wir werden sehen." Vorsichtig näherte er sich im Halbdunkel dem ersten Tank. Er sah sich um. Die Mechanik war ganz einfach. Im Tank stand eine Zentrifuge, in die ein Düsenrohr hineinblies. Ringsherum waren Klappen, durch die das Aerosol nach draußen entweichen konnte. Er ging die kurze Treppe hinauf und nahm eine Probe. Mit dem Taschenanalysator untersuchte er die Flüssigkeit auf Viren und Bakterien. Nichts. Des Docs Neugier war geweckt, und sofort machte er eine Untersuchung auf anorganische Substanzen. Wieder nichts. Also organische 105
Materie. Er ging hinaus und sah nachdenklich auf die Stadt hinunter. Die Aerosol-Sprays reichten bis an den Stadtrand, der Wind konnte die Wolken noch weiter treiben. Am Ostrand der Stadt entdeckte er mehrere Treibhäuser. Ein Blick durchs Monokular zeigte ihm, daß die Glashäuser von Persophoneden bewacht wurden. Ein hoher elektrischer Zaun schloß die Gärtnerei ein. Logisch, dort wurde das Unkraut gezüchtet. "Nun?" erkundigte sich Kleinlich. "Ich werde wohl ganz auf mein Bier verzichten müssen." "Sie hatten recht", sagte der Doc. "Zu stark. Gehen wir." Kleinlich brummte zufrieden und wollte nach unten fahren. Aber er änderte seine Meinung und ließ den Doc zuerst einsteigen. Nach unten kam Kleinlich schneller, als er dachte. Er lief dem Doc in einen wunderschönen Uppercut und sank lächelnd in sich zusammen. Der Doc rieb sich die Knöchel und drehte Kleinlich mit dem Fuß um. Kleinlichs Kopfform verriet, daß er von der Erde stammte und sicherlich auch dort aufgewachsen war. "Unkraut", murmelte der Doc. "Ganz gewöhnliches Unkraut. Je älter die Menschheit wird, um so mehr leidet sie an Allergien. Kleinlich, Connolly, selbst Big Lem - alles Menschen von der Erde." Er durchsuchte Kleinlichs Taschen und fand ein so altes und bekanntes Gegenmittel, daß er zuerst glaubte, es handele sich um Kokain. Aber der Analysator belehrte ihn eines Besseren. Es war Benadryl, ein Antihistamin. Langsam nickte er mit dem Kopf. Es paßte alles zusammen. Menschen von der Erde, halten sich zuerst mit Benadryl auf den Beinen, das gegen Asthmaanfälle schützt. Luft - Asthma - Sauerstoff gegen Asthma, Benadryl gegen Asthma. Aber in den Luftflaschen konnte kein Sauerstoff sein. Und Benadryl auch nicht. Er drückte auf den BASEMENT-Knopf und fuhr abwärts. Als die Tür aufging, stand er einem Wächter gegenüber. Kleinlichs 106
Blaster versah den Persophoneden mit einem Loch. Dann brannte der Doc die Tür zum Lagerraum auf. Der Doc schnappte sich eine schwarze LUFT-GMBH-Bombe und rannte zum Fahrstuhl. Die Tür schloß sich vor seiner Nase. Der Fahrstuhl trug den bewußtlosen Kleinlich als Beweis nach oben. Der Doc nieste. Er befürchtete, daß man die Lagerräume zusätzlich unter Gas gesetzt hatte. Aber er merkte, daß sein Helm nicht dicht schloß. Rasch beseitigte er den Fehler. Er mußte niesen, weil Pollen am Handschuh klebten. Gott sei Dank war die Dosis nicht groß gewesen, sonst hätte er bestimmt vergeblich nach Luft geschnappt. Immerhin tränten ihm die Augen, und er suchte halbblind nach der Tür zum Treppenhaus. Die Tür flog ihm entgegen. Drei Persephoneden stürzten sich auf ihn. Es war nicht fair, was der Doc mit ihnen machte. Dann packte er den glühend heißen Blaster fester, nahm den Gefallenen die Waffen ab, stieg über die Toten und ging die Treppe hinauf. Die obere Tür war zugesperrt. Er schoß die Tür auf. Die Angestellten schrien und wichen ihm aus. Big Lem stand wie erstarrt in der Tür seines Büros. Und die Alarmglocke machte immer KLANG KLANG KLANG. "Was ist hier drin?" schrie der Doc und hielt die schwarze Bombe hoch. "Nehmen Sie die Waffe runter!" kreischte Big Lem. "Was zum Teufel ist in Sie gefahren...?" Das empfindliche Mikrophon seines Helms ließ den Doc das leise Knirschen von Leder hören. Er wirbelte herum. Der Schuß, der ihm galt, verbrannte den Türrahmen neben Tolliver. Connolly legte ein zweites Mal an. Der Doc schoß. Der Blasterblitz traf Connolly in die Brust und er stürzte rückwärts die Treppe hinunter. Die Fahrstuhltür zischte zu, und Tolliver war verschwunden. 107
Der Doc lief zur Treppe und rannte mit wehendem Umhang hinauf. Er hatte viel Zeit vertrödelt. Aber er durfte Tolliver nicht verlassen, bevor er... Im dritten Stock fand er den Schaltkasten für den Fahrstuhl, zerschmetterte die Glasscheibe und schoß. Dann ging er beruhigt weiter. Die einzigen Persephoneden, die er traf, flohen entsetzt die Feuerleiter hinunter. Der Doc ging weiter. Die Tür zum Dach war geschlossen - er sprengte sie auf. Big Lem Tolliver mochte zwar der bedeutendste Mann von ganz Arphon sein, aber mutig war er nicht. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an der Maschine stand, und streckte abwehrend die Hände aus. "Sie spielen unfair!" jammerte er. "Sie wollen alles auf einmal. Sie halten sich nicht an die Regeln! Ich teile mit Ihnen..." "Umdrehen", sagte der Doc. "Wo ist Ihre Waffe? Jetzt wollen wir mal übers Geschäft reden. Sie verstoßen gegen..." "Sie wollen mir alles wegnehmen!" schrie Tolliver und sprang in das Schott des Turmes. Er wollte es schließen, aber der Doc schoß auf die Halterungen. Der Schuß kam Tolliver zu nahe. Er zuckte zusammen, stolperte und fiel in einen Tank. Er schrie. Er wollte sich am Rand festhalten. Der Doc blieb stehen, legte die Bombe hin und hielt Tolliver ein Rührpaddel entgegen. Tolliver griff zu. Grüner Schlamm hing ihm in langen Fäden am Körper. Er machte den Mund auf, aber kein Wort kam heraus. Er griff sich mit der Hand an die Kehle, mit den Fingern in die Augen. Er wollte schreien. Aber mit jedem Atemzug atmete er mehr Gift ein. Seine Haut färbte sich scharlachrot. Der Doc warf ihm die Bombe vor die Füße und wartete darauf, daß Tolliver den grünen Dampf einatmete. Aber Tolliver konnte nicht. Er starb. 108
Im Fahrstuhl kämpfte Kleinlich mit der Ohnmacht. Langsam kam er zu sich. Als er den Doc über sich stehen, seinen Blaster auf sich gerichtet sah, glaubte er, daß nur eine Sekunde vergangen war. Der Anblick von Tollivers Leiche ließ seine Streitsucht verfliegen. Tolliver war tot - damit war auch Kleinlich am Ende. "Was werden Sie mit mir machen?" schnüffelte er. "Sie werden das Durcheinander auf Arphon wieder in Ordnung bringen. Aber zuerst schalten Sie den verdammten Spray ab." Kleinlich schaltete die Maschine ab, und der Schlammspiegel der Tanks kam zur Ruhe. Dann gingen die beiden Männer hinunter. "Hört alle her", rief der Doc. "Im Namen der Universal Medical Society erkläre ich hiermit alle Geschäfte und Unternehmungen der Luft GmbH für beendet. Und jetzt suche mir Bestin Kardschoi, den Extraterrestrier." Mit 16 000 km/h dauert es nicht lange, von einem Punkt des Planeten zum anderen zu kommen. Die Gig mußte die tausend Kilo von Bestin und seinem Vater, Kleinlich, das Mädchen, den neunmalklugen Angestellten und den Doc tragen - und schaffte es. Bestins Vater machte großes Wesen beim Ausladen der Pakete, die er mitgebracht hatte, und der Doc beeilte sich, ihm dabei zu helfen. Der betagte Außerirdische humpelte in den OP der MORGUE. Aber als der Doc hinein wollte, verwehrten ihm acht Arme den Zutritt. Doc Methusalem stand draußen im zertrampelten Gras und starrte auf die MORGUE. Drinnen krachte es, als hatte ein Klempner sein Werkzeug fallen gelassen. Rohre klapperten. Viel Zeit verging. Die Sonne sank. Der Doc erwachte aus der Trance. Das Mädchen fiel ihm ein. Er mußte dreimal gegen die Tür klopfen, bevor Bestin ihm endlich mit zwei Armen den roten OP-Kasten herausreichte. Bei der ersten Berührung zuckte das Mädchen zusammen. 109
Aber der Doc gab ihr eine Narkose und arbeitete rasch und unbeteiligt. Das Mädchen rührte sich nicht. Selbst als der Doc die verbrannte Haut von ihrem Gesicht und den Armen löste. Er gab dem Mädchen eine zweite Injektion. Die Patientin wachte auf und drehte sich um, so daß Kleinlich ihr Gesicht sehen konnte. Er war sprachlos. Keine einzige Narbe war zu sehen. Kein Fleck verriet, wo ein Kratzer gewesen war. Und das Madchen war schön, sehr schön. "Fühlen Sie sich besser?" fragte der Doc. "Ist es jemand, den Sie lieben?" fragte sie. "Der beste Freund, den man sich wünschen kann", antwortete der Doc. "Ich erinnere mich..." Aber er schwieg plötzlich und lauschte. "Der beste Freund, den ein Mensch je hatte", schloß er rasch. Als die Sonne unter den Horizont gesunken war, horten die Geräusche im Schiff endlich auf. Langsam wurde die Tür geöffnet, und der Alte kam mit seinen Bündeln und Paketen heraus. Er ging ohne Umweg auf die Gig zu. Der Doc sah Bestin und dessen Vater an, und sein Herz stockte. Er stand auf und ging auf den Alten zu. "Ich kann verstehen, daß es Ihnen nicht leichtfällt, einen Patienten zu verlieren", sagte der Doc. "Aber ich weiß, daß Sie ihr Bestes getan haben. Ich fliege Sie nach Minga .. " "Nein, das tust du nicht!" schrie Hippokrates und sprang aus der MORGUE. "Das mache ich! Und die Menschen da sollen gefälligst inzwischen das Schiff aufräumen. Macht klar Schiff, ihr Banditen! Meine MORGUE kaputtmachen - das gefallt euch wohl! Sie hat mehr Verstand als ihr!" Er fuchtelte mit den vier Fausten und strahlte den Doc zufrieden an. Der kleine Bursche steckte vom Hals bis zum Bauch in Gips, war aber ganz der alte geblieben. "Neue Rohren!" jubelte er. "Hui, huh-huh! Hort ihr? Eine neue 110
Installation!" "Macht klar Schiff!" rief er und sprang in die Gig. "Und daß mir ja keiner an den Kuchen geht! Die Feier startet um sechs! Ich fliege jetzt los. Bin bald wieder da." Und die Gig schoß rauschend davon. Der Doc wischte sich die Lachtränen aus den Augen und nahm selber eine Pille. "Ich halte es für besser, wenn ihr ihm gehorcht. Noch eins, Kleinlich. Morgen schalten wir die restlichen Maschinen ab und zerstören sie. Dann können wir Arphon wieder auf Vordermann bringen. Los jetzt! Sie haben gehört, was Hippokrates gesagt hat." Der Angestellte und das Madchen kletterten ins Schiff. Kleinlich zögerte. "Na, los", ermunterte ihn der Doc. "Ja, gleich", sagte Kleinlich. "Eine Frage noch, Mister, Sir Doktor. Ich weiß, daß Sie ein Sonnensoldat sind und ich nur ein kleines Licht bin. Aber..." "Nun?" "Sir", nahm Kleinlich sich ein Herz, "es sind die Bomben. Wir hatten Anti-Allergene. Aber die Bomben waren auch ganz gut. Wenn sie soviel kosteten, wie er behauptet hat, wie können wir dann jemals genügend..." "Mein lieber Mann", klärte der Doc ihn auf, "die berühmten Bömbchen sind einer der ältesten medizinischen Schwindel, die es gibt. Ein bißchen Druckluft und Ephedrin. Mehr war's nicht. Für einen echten Allergiker ist Ephedrin viel zu schwach. Sie haben keine L-u-f-t verkauft. Nur eine billige, schwache Droge, die etwa 60 Cents pro hundert Liter kostet. Die Leute nehmen sie und brauchen immer mehr. Tja, leider hat dieser mittelalterliche Unsinn mit Pollen und Ephedrin genügt, den ganzen Planeten ins Elend zu stürzen. So, und jetzt gehen Sie und helfen beim Aufklären. Mir wird 111
schlecht, wenn ich noch langer über die Geschichte nachdenke. Außerdem, wenn Hippokrates zurückkommt und die MORGUE ist nicht tipptopp in Ordnung, dann werden Sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Beeilen Sie sich. Ich glaube, da kommt er schon." ENDE
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