Gilles Deleuze
Differenz und Wiederholung Aus dem Französischen von Joseph Vogl
Wilhelm Fink Verlag
Titel der franzö...
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Gilles Deleuze
Differenz und Wiederholung Aus dem Französischen von Joseph Vogl
Wilhelm Fink Verlag
Titel der französischen Originalausgabe: Gilles Deleuze, Différence et répétition 0 by Presses Universitaires de France, Paris, 1968; 6. Aufl. 1989 Für die Übersetzung wurde der deutsch-französische Übersetzerpreis 1988 der DVA-Stiftung vergeben.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Deleuze, Gilles : Differenz und Wiederholung / Gilles Deleuze. Aus dem Franz. von Joseph Vogl. - München : Fink, 1992 Einheitssacht. : Differente et répétition
ISBN 3-7705-2730-5
ISBN-3-7705-2730-5 0 der deutschen Ausgabe: Wilhelm Fink Verlag, München, 1992 Gesamtherstellung: Hofmann-Druck Augsburg GmbH
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . .................11 EINLEITUNG: WIEDERHOLUNG UND DIFFERENZ . . . . . . . 15 Wiederholung und Allgemeinheit: erste Unterscheidung unter dem Gesichtspunkt der Verhalten, 15. - Die zwei Ordnungen der Allgemeinheit: Ähnlichkeit und Gleichheit, 17. - Zweite Unterscheidung, unter dem Gesichtspunkt des Gesetzes, 18. - Wiederholung, Gesetz der Natur, Sittengesetz 19. Programm einer Philosophie der Wiederholung nach Kierkegaard, Nietzsche, Péguy, 20. - Die wahre Bewegung, das Theater und die Repräsentation, 23. Wiederholung und Allgemeinheit: dritte Unterscheidung unter dem Gesichtspunkt des Begriffs, 28. - Der Inhalt des Begriffs und das Phänomen der ,,Blockierung“, 28. - Die drei Fälle der ,,natürlichen Blockierung“ und die Wiederholung: Nominalbegriffe, Begriffe der Natur, Begriffe der Freiheit, 29. Die Wiederholung wird nicht durch die Identität des Begriffs expliziert; ebensowenig durch eine bloß negative Bedingung, 33. - Die Funktionen des ,,Todestriebs“: die Wiederholung in ihrem Verhältnis zur Differenz und mit ihrer Forderung nach einem positiven Prinzip (am Beispiel der Begriffe der Freiheit), 34. Die beiden Wiederholungen: durch Identität des Begriffs und negative Bedingung; durch Differenz und Exzeß in der Idee (am Beispiel der Natur- und Nominalbegriffe), 37. - Das Nackte und das Verkleidete in der Wiederholung, 42. Begriffliche Differenz und begrifflose Differenz, 45. - Aber der Begriff der Differenz (Idee) läßt sich nicht auf eine begriffliche Differenz reduzieren, und ebensowenig das positive Wesen der Wiederholung auf eine begrifflose Differenz, 46.
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ERSTES KAPITEL: DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST. . . . . . . 49 Die Differenz und der dunkle Untergrund, 49. - Muß die Differenz repräsentiert werden ? Die vier Aspekte der Repräsentation (vierfache Wurzel), 50. - Der glückliche Augenblick, die Differenz, das Große und das Kleine, 51. Begriffliche Differenz: die größte und beste, 51. - Die Logik der Differenz nach Aristoteles und die Verwechslung des Begriffs der Differenz mit der begrifflichen Differenz, 53. - Artdifferenz und Gattungsdifferenz, 54. - Die vier Aspekte oder die Unterordnung der Differenz: unter die Identität des Begriffs, die Analogie des Urteils, den Gegensatz der Prädikate, die Ähnlichkeit des Wahrgenommenen, 55. - Die Differenz und die organische Repräsentation, 57. Univozität und Differenz, 58. - Die zwei Verteilungstypen, 59. Unmögliche Vereinbarkeit zwischen Univozität und Analogie, 61. - Die Momente des Univoken: Duns Scotus, Spinoza, Nietzsche, 63. - Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft definiert die Univozität des Seins, 65. Die Differenz und die orgische Repräsentation (das unendlich Große und unendlich Kleine), 66. - Der Grund als ratio, 67. - Logik und Ontologie der Differenz nach Hegel: der Widerspruch, 69. - Logik und Ontologie der Differenz nach Leibniz: die Vize-Diktion (Stetigkeit und Ununterscheidbares), 71. - Wie die orgische oder unendliche Repräsentation der Differenz nicht den vorigen vier Aspekten entkommt, 74. Die Differenz, die Bejahung und die Verneinung, 76. - Die Illusion des Negativen, 79. - Die Aussonderung des Negativen und die ewige Wiederkunft, 81. Logik und Ontologie der Differenz nach Platon, 87. - Die Figuren der Methode der Teilung: die Bewerber, die Grund-Prüfung, die ProblemFragen, das (Nicht)-Sein und der Status des Negativen, 88. Was im Problem der Differenz entscheidend ist: das Trugbild, der Widerstand des Trugbilds, 94.
INHALTSVERZEICHNIS
ZWEITES KAPITEL: DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST. Die Wiederholung: etwas hat sich geändert, 99. - Erste Synthese der Zeit; die lebendige Gegenwart, 100. - Habitus, passive Synthese, Kontraktion Betrachtung, 102. - Das Problem der Gewohnheit, 103. Zweite Synthese der Zeit: die reine Vergangenheit, 110. - Das Gedächtnis, die reine Vergangenheit und die Vergegenwärtigung der Gegenwarten, 111. - Die vier Paradoxa der Vergangenheit, 113. - Die Wiederholung in der Gewohnheit und im Gedächtnis, 114. - Materielle und geistige Wiederholung, 116. Kartesianisches Cogito und kantisches Cogito, 118. - Das Unbestimmte, die Bestimmung, das Bestimmbare, 119. - Das gespaltene Ego, das passive Ich und die leere Form der Zeit, 120. - Unzulänglichkeit des Gedächtnisses: die dritte Synthese der Zeit, 121. - Form, Ordnung, Gesamtheit und Reihe der Zeit, 122. - Die Wiederholung in der dritten Synthese: ihre defiziente Bedingung, ihr Handelndes in der Metamorphose, ihr unbedingter Charakter, 123. - Das Tragische und das Komische, die Geschichte, der Glaube, unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung in der ewigen Wiederkunft, 125. Die Wiederholung und das Unbewußte: ,,Jenseits des Lustprinzips“, 130. -
Die erste Synthese und die Bindung: Habitus, 13 1. - Zweite Synthese: die virtuellen Objekte und die Vergangenheit, 133. - Eros und Mnemosyne, 137 . - Wiederholung, Verschiebung und Verkleidung: die Differenz, 138. - Folgen für die Natur des Unbewußten: serielles, differentielles und fragendes Unbewußtes, 142. - Der dritten Synthese oder dem dritten ,,Jenseits“ entgegen: das narzißtische Ich, der Todestrieb und die leere Form d e r Z e i t , 147. - Todestrieb, Gegensatz und materielle Wiederholung, 148. - Todestrieb und Wiederholung in der ewigen Wiederkunft, 149. Ähnlichkeit und Differenz, 154. - Was ist ein System?, 156. - Der dunkle Vorbote und das ,,Differenzierende“, 157. - Das literarische System, 159. - Das Phantasiegebilde oder Trugbild, die drei Gestalten des Identischen im Verhätnis zur Differenz, 163. Der wahre Beweggrund des Platonismus liegt im Problem des Trugbilds, 166. - Trugbild und Wiederholung in der ewigen Wiederkunft, 167.
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DRITTES KAPITEL: DAS BILD DES DENKENS . . . . . . . . . . . 169 Das Problem der Voraussetzungen in der Philosophie, 169. - Erstes Postulat: das Prinzip der Cogitatio natura univenalis, 171. Zweites Postulat: das Ideal des Gemeinsinns, 173. - Das Denken und die Doxa, 174. - Drittes Postulat: das Modell der Rekognition, 176. - Ambiguität der Kantischen Kritik, 178. - Viertes Postulat: das Element der Repräsentation, 179. Differentielle Theorie der Vermögen, 181. - Der diskordante Gebrauch der Vermögen: Gewalt und Grenze eines jeden, 182. - Ambiguität des Platonismus, 184. - Denken: seine Genese im Denken, 186. Fünftes Postulat: Dummheit, 195.
das
,,Negative” des Irrtums, 192. - Problem der
Sechstes Postulat: das Privileg der Bezeichnung, 198. - Sinn und Satz, 199. - Die Paradoxa des Sinns, 200. - Sinn und Problem, 202. - Siebentes Postulat: die Modalität der Lösungen, 204. - Die Illusion der Lösungen in der Lehre der Wahrheit, 206. - Ontologische und epistemologische Bedeutung der Kategorie des Problems, 209. Achtes Postulat: das Resultat des Wissens, 212. - Was bedeutet ,,Lernen“, 213. - Zusammenfassung der Postulate als Hindernisse für eine Philosophie der Differenz und der Wiederholung, 215.
VIERTES KAPITEL: IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ . . . 217 Die Idee als problematische Instanz, 217. - Unbestimmtes, Bestimmbares und Bestimmung, 2 19. Das Differential, 220. - Die Quantitabilität und das Prinzip der Bestimmbarkeit, 221. - Die Qualitabilität und das Prinzip der Wechselbestimmung, 222. - Die Potentialität und das Prinzip durchgängiger Bestimmung (die serielle Form), 224. Unbrauchbarkeit des unendlich Kleinen in der Differentialrechnung, 226. - Differentielles und Problematisches, 230. - Theorie der Probleme: Dialektik und Wissenschaft, 232.
INHALTSVERZEICHNIS
Idee und Mannigfaltigkeit, 233. - Die Strukturen: ihre Kriterien, die Ideentypen, 235. - Verfahren der Vize-Diktion: das Singulare und das Reguläre, das Ausgezeichnete und das Gewöhnliche, 241. Die Idee und die differentielle Theorie der Vermögen, 243. - Die Imperative und das Spiel, 247. - Problem und Frage, 250. Die Idee und die Wiederholung, 254. - Die Wiederholung, das Ausgezeichnete und das Gewöhnliche, 255. - Die Illusion des Negativen, 256. Differenz, Negation und Gegensatz, 258. - Genese des Negativen, 261. Idee und Virtualität, 264. - Die Realität des Virtuellen: ens omni modo ..‘) 265. - Differentiation und Differenzierung; die beiden Hälften
des Objekts, 266. - Die beiden Aspekte jeder Hälfte, 267. - Die Unters c h e i d u n g des Virtuellen vom Möglichen, 267. - Das differentielle Unbewußte; das Deutlich-Dunkle, 269. Die Differenzierung als Aktualisierungsprozeß der Idee, 271. - Die Dynamiken oder Dramen, 273. - Universalität der Dramatisierung, 276. Der komplexe Begriff der Differentiation/zierung, 278.
FÜNFTES KAPITEL: ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .281 Die Differenz und das Verschiedene, 281. - Differenz und Identität, 282. Die Tilgung der Differenz, 283. - Gesunder Menschenverstand Gemeinsinn, 284. - Die Differenz und das Paradox, 287.
und
Intensität, Qualität, Extension: die Illusion der Tilgung, 289. - Die Tiefe oder spatium, 291. Erstes Merkmal der Intensität: das Ungleiche an sich, 294. - Rolle des Ungleichen in der Zahl, 295. - Zweites Merkmal: Bejahung der Differenz, 296. - Die Illusion des Negativen, 297. - Das Sein des Sinnlichen, 299. - Drittes Merkmal: die Implikation, 300. - Wesensdifferenz und graduelle Differenz, 30 1. - Die Energie und die ewige Wiederkunft, 304. - Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist weder qualitativ noch extensiv, sondern intensiv, 305. Intensität und Differential, 308. - Rolle der Individuation in der Aktualisierung der Idee, 310. - Individuation und Differenzierung, 311. - Die Individuation ist intensiv, 3 12.
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Individuelle Differenz und individuierende Differenz, 3 15. - ,,Perplikation” , ,,Implikation“, ,,Explikation“, 3 17. Evolution der Systeme, 320. - Die Umhüllungszentren, 321. - Individuierende Faktoren, Ego und Ich, 322. - Natur und Funktion des Anderen in den psychischen Systemen, 326.
SCHLUSS: DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG . . . . . . . . . . 329 Kritik der Repräsentation, 329. - Unbrauchbarkeit der Alternative end-
lich/unendlich, 330. - Identität, Ähnlichkeit, Gegensatz und Analogie: wie sie die Differenz entstellen (die vier Illusionen), 333. - Wie sie aber auch die Wiederholung entstellen, 337. Der Grund als ratio: seine drei Bedeutungen, 340. - Vom Grund zum Ungrund, 342. - Unpersönliche Individuationen und präindividuelle Singularitäten, 345. Das Trugbild, 346. - Theorie der Ideen und der Probleme, 348. - Der Andere, 350. - Die beiden Typen des Spiels: ihre Merkmale, 351. - Kritik der Kategorien, 354. Die Wiederholung, das Identische und das Negative, 355. - Die beiden Wiederholungen, 357. - Pathologie und Kunst, Stereotypie und Refrain: die Kunst als Raum der Koexistenz aller Wiederholungen, 360. - Einer dritten, ontologischen Wiederholung entgegen, 362. Die Form der Zeit und die drei Wiederholungen, 365. - Selektive Kraft der dritten: die ewige Wiederkunft und Nietzsche (die Trugbilder), 368. Was nicht wiederkehrt, 369. - Die drei Bedeutungen des Selben: die Ontologie, die Illusion und der Irrtum, 372. - Analogie des Seins und Repräsentation, Univozität des Seins und Wiederholung, 3 75. BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SACHREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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KONKORDANZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
VORWORT Die Schwächen eines Buchs sind oft der Ausgleich für leere Intentionen, die
sich nicht verwirklichen ließen. In diesem Sinne zeugt eine Absichtserklärung von einer echten Bescheidenheit hinsichtlich des idealen Buchs. Oft wird gesagt, Vorreden dürften nur zum Schluß gelesen werden Umgekehrt muß der Sch luß jeweils zu Begi nn gelesen werden; dies trifft auf unser Buch zu, in dem der Schluß die Lektüre des Rests erübrigen könnte. Das hier verhandelte Thema liegt ganz offenbar im Geist der Zeit. Die Zeichen dafür lassen sich festhalten: die immer schärfere Ausrichtung Heideggers auf eine Philosophie der ontologischen Differenz; die Anwendung strukturalistischer Verfahren, die auf einer Verteilung differentieller Merkmale in einem Raum von Koexistenz beruhen; die Kunst des zeitgenössischen Romans, der um Differenz und Wiederholung kreist, und zwar nicht nur in seiner abstraktesten Reflexion, sondern auch in seinen handgreiflichen Techniken; die in allen möglichen Gebieten vollzogene Entdeckung einer Macht, die der Wiederholung eignet und ebensogut dem Unbewußten, der Sprache, der Kunst zukäme. All diese Zeichen können einem verallgemeinerten Antihegelianismus zugeschlagen werden: Die Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten.* Denn nur in dem Maße, wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert sie das Negative und ‘laßt sich bis zum Widerspruch treiben. Der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefaßt sein mag, definiert die Welt der Repräsentation. Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Die moderne Welt ist die der Trugbilder [simulacres]. Hier überlebt der Mensch nicht Gott, überlebt die Identität des Subjekts nicht die der Substanz. Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein optischer ,,Effekt“ durch ein tieferliegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Differenz und Wiederholung. Wir wollen die Differenz an sich selbst und den Bezug des . Differenten zum Differenten denken, unabhängig von den Formen der
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Repräsentation, durch die sie auf das Selbe zurückgeführt und durch das Negative getrieben werden. Unser modernes Leben ist so beschaffen, daß wir ihm angesichts von vollendet mechanischen und stereotypen Wiederholungen in uns und außerhalb unaufhörlich kleine Differenzen, Varianten und Modifikationen abringen. Umgekehrt stellen geheime, verkleidete und verborgene Wiederholungen, hervorgerufen durch die fortwährende Verschiebung einer Differenz, in uns und außerhalb wiederum nackte, mechanische und stereotype Wiederholungen her. Im Trugbild beruht die Wiederholung bereits auf Wiederholungen, beruht die Differenz bereits auf Differenzen. Es wiederholen sich die Wiederholungen, es differenziert sich das Differenzierende. Das Geschäft des Lebens besteht darin, alle Wiederholungen in einem Raum koexistieren zu lassen, in dem sich die Differenz verteilt. Am Ursprung dieses Buchs stehen zwei Untersuchungsrichtungen: Die eine betrifft einen Begriff negationsloser Differenz, gerade weil die Differenz, insofern sie nicht dem Identischen untergeordnet ist, nicht bis zum Gegensatz und zum Widerspruch reichen würde oder ,,dürfte“; die andere betrifft einen Begriff von Wiederholung der Art, wie etwa die physischen, mechanischen oder nackten Wiederholungen (Wiederholung des Selben) ihren Grund in den tieferliegenden Strukturen einer verborgenen Wiederholung finden würden, in der sich ein ,,Differentielles“ verkleidet und verschiebt. Diese beiden Untersuchungen haben sich von selbst miteinander verschränkt, weil sich diese Begriffe einer reinen Differenz und einer komplexen Wiederholung unter allen Umständen zu vereinigen und zu verschmelzen schienen. Die permanente Divergenz und Dezentrierung der Differenz ist eng mit einer Verschiebung und einer Verkleidung in der Wiederholung verbunden. Es ist durchaus gefährlich, sich auf reine, vom Identischen befreite und vom Negativen losgelöste Differenzen zu berufen. Die größte Gefahr besteht darin, den Vorstellungen [représentations} der schönen Seele zu verfallen: nichts als Differenzen, miteinander vereinbar und versöhnbar, fernab von blutigen Kämpfen. Die schöne Seele sagt: Wir unterscheiden uns voneinander, sind einander aber nicht entgegengesetzt . . . Und auch der Begriff des Problems, den wir mit dem der Differenz verknüpft sehen werden, scheint die Gemütslage der schönen Seele zu nähren: Es zählen einzig die Probleme und Fragen . . . Wenn jedoch die Probleme den ihnen eigenen Grad an Positivität erreichen und wenn die Differenz zum Gegenstand einer entsprechenden Bejahung wird, so setzen sie, wie wir glauben, eine Aggressions- und Selektionsmacht frei, die die schöne Seele zerstört, indem sie diese ihrer Identität selbst beraubt und ihren guten Willen bricht. Das Problematische und das Differentielle bewirken Kämpfe oder Zerstörungen, denen gegenüber die des Negativen nur Schein sind und die frommen Wünsche der schönen Seele ebensoviele im Schein befangene Mystifikationen. Das Trugbild ist nicht etwa ein Abbild, reißt vielmehr alle Abbilder nieder, indem es auch die Urbilder stürzt: Jeder Gedanke wird zur Aggression.
VORWORT
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Ein philosophisches Buch muß einesteils eine ganz besondere Sorte von Kriminalroman sein, anderenteils eine Art science fiction. Mit Kriminalroman meinen wir, daß sich die Begriffe mit einem gewissen Aktionsradius einschalten müssen, um einen lokalen Sachverhalt zu lösen. Sie verändern sich selbst mit den Problemen. Sie besitzen Einflußsphären, auf die sie, wie wir sehen werden, in Verbindung mit ,,Dramen” und mittels einer gewissen ,,Grausamkeit” einwirken. Sie müssen untereinander kohärent sein, aber diese Kohärenz darf ihnen nicht entspringen. Sie müssen ihre Kohärenz anderswoher beziehen. Dies ist das Geheimnis des Empirismus. Der Empirismus ist keineswegs eine Reaktion gegen die Begriffe oder ein bloßer Appell an die gelebte Erfahrung. Er bewerkstelligt vielmehr die verrücktesten Begriffsschöpfungen, die man je gesehen oder gehört hat. Der Empirismus ist der Mystizismus des Begriffs, sein Mathematismus. Aber er behandelt den Begriff eben als Gegenstand einer Begegnung, als ein Hier-und-Jetzt, oder eher noch als ein Erewhon, aus dem in unerschöpflicher Folge die immer neuen und anders verteilten ,,Hier“ und 7 Jetzt“ ausfließen. Nur der Empirist kann sagen: Die Begriffe sind die Dinge selbst, aber in einem freien und wilden Zustand, jenseits der ,,anthropologischen Prädikate“. Ich verfertige, erneuere und zerlege meine Begriffe ausgehend von einem schwankenden Horizont, von einem stets dezentrierten Zentrum und einer immer verschobenen Peripherie, die sie wiederholt und differenziert. Es gehört zu den Merkmalen moderner Philosophie, daß sie die Alternativen zeitlich/zeitlos, historisch/ewig, besonders/allgemein hinter sich läßt. Im Gefolge Nietzsches entdecken wir, daß das Unzeitgemäße tiefer reicht als Zeit und Ewigkeit: Die Philosophie ist weder Philosophie der Geschichte noch Philosophie des Ewigen, sondern unzeitgemäß, immer und einzig unzeitgemäß, und das heißt, ,,gegen die Zeit [. . .] und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit“ gewendet. Im Gefolge Samuel Butlers entdecken wir das Erewhon, das zugleich das ursprüngliche ,,Nirgendwo“ wie das verschobene, verkleidete, veränderte und immer neu erschaffene ,,Hierund-Jetzt“ bedeutet. Weder empirische Besonderheiten noch abstraktes Universales: Cogito für ein aufgelöstes Ich. Wir glauben an eine Welt, in der die Individuationen unpersönlich und die Singularitäten präindividuell sind: die Herrlichkeit des ,,MAN“. Daher der Aspekt von science fiction, der sich notwendig von jenem Erewhon ableitet. Was dieses Buch hätte vergegenwärtigen sollen, ist also das Nahen einer Kohärenz, die der unseren, der des Menschen, ebensowenig entspricht wie derjenigen Gottes oder der Welt. In diesem Sinne hätte dies ein apokalyptisches Buch sein sollen (die dritte Zeit in der Reihe der Zeit). Science fiction auch in einem anderen Sinn, in dem die Schwächen hervortreten, Wie läßt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiß? Gerade darüber glaubt man unbedingt etwas zu sagen zu haben. Man schreibt nur auf dem vordersten Posten seines eigenen Wissens, auf jener äußersten Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwis-
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sen trennt und das eine ins andere übergehen läßt. Nur auf diese Weise wird man zum Schreiben getrieben. Behebt man die Unwissenheit, so verschiebt man das Schreiben auf morgen oder macht es vielmehr unmöglich. Vielleicht existiert hier eine noch bedrohlichere Beziehung als diejenige, die das Schreiben, wie man sagt, zum Tod, zum Schweigen unterhält. Wir haben also über science auf eine Weise gesprochen, von der wir - leider - doch ahnen, daß sie nicht wissenschaftlich war. Die Zeit naht, in der es kaum mehr möglich sein wird, ein philosophisches Buch so zu schreiben, wie man es über so lange Zeit hinweg getan hat: ,,Ach ja! der alte Stil . . .“ Die Suche nach neuen philosophischen Ausdrucksmitteln wurde von Nietzsche eingeleitet und muß heute entsprechend den Neuerungen in manchen anderen Künsten, im Theater oder im Film etwa, fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht können wir von nun an die Frage nach der Verwendung der Philosophiegeschichte stellen. Die Philosophiegeschichte muß, wie uns scheint, eine ganz ähnliche Rolle wie die Collage in einem Gemälde übernehmen. Die Geschichte der Philosophie ist die Reproduktion der Philosophie selber. Die Nacherzählung sollte in der Philosophiegeschichte als eine regelrechte Kopie wirken und die der Kopie entsprechende maximale Modifikation enthalten. (Man stelle sich einen Hegel mit -philosophisch - aufgemaltem Bart, einen philosophisch kahlrasierten Marx vor, ganz wie eine schnurrbärtige Mona Lisa). Man sollte dahin gelangen, ein wirkliches Buch der vergangenen Philosophie so zu erzählen, als ob es ein imaginäres und fingiertes Buch wäre. Bekanntlich zeichnet sich Borges durch die Nacherzählung imaginärer Bücher aus. Aber er geht noch weiter, wenn er ein wirkliches Buch, den Don Quixote etwa, als imaginäres Buch behandelt, das selber von einem imaginären Autor wiedergegeben wird, von Pierre Menard, den er seinerseits wiederum für wirklich hält. Die exakteste, die strengste Wiederholung korreliert dann mit dem Maximum an Differenz (,,Die Texte von Cervantes und Menard sind im Wortlaut identisch, der letztere aber ist auf nahezu unermeßliche Weise reicher . . .“ ). Die Nacherzählungen der Philosophiegeschichte müssen eine Art Zeitlupe, Erstarrung oder Stillstand des Textes darstellen: nicht nur des Textes, auf den sie sich beziehen, sondern auch des Textes, in den sie sich einfügen. So daß sie eine Doppelexistenz führen und einem doppelten Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten und des gegenwärtigen Textes entsprechen. Aus diesem Grund mußten wir in unseren eigenen Text bisweilen historische Anmerkungen einbinden, um dieser doppelten Existenz 1 nahezukommen. 1
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WIEDERHOLUNG UND DIFFERENZ Die Wiederholung ist nicht die Allgemeinheit. Die Wiederholung muß von der Allgemeinheit in mehrfacher Hinsicht unterschieden werden. Jede Formel, die ihre Verwechslung nahelegt, ist fatal: Etwa wenn wir sagen , zwei Dinge ähneln einander wie ein Ei dem anderen; oder wenn wir den Satz ,,es gibt Wissenschaft nur vom Allgemeinen“ gleichsetzen mit: ,,es gibt Wissenschaft nur von dem, was sich wiederholt”. Es besteht ei n wesentlicher Unterschied zwischen der Wiederholung und jeder noch so großen Ähnlichkeit. Die Allgemeinheit macht zwei große Ordnungen geltend, die qualitative Ordnung der Ähnlichkeiten und die quantitative Ordnung der Äquivalenzen. Zyklen und Gleichheiten sind deren Symbole. In jedem Fall aber bringt die Allgemeinheit einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, demgemäß ein Term gegen einen anderen ausgetauscht oder durch einen anderen Term ersetzt werden kann. Tausch oder Ersetzung von Besonderem definiert ein Verhalten, mit dem wir der Allgemeinheit entsprechen. Darum haben die Empiristen nicht unrecht, wenn sie die allgemeine Idee als eine an sich selbst besondere darstellen, wenn man nur zugleich glaubt, sie könne durch jede andere besondere Idee ersetzt werden, die ihr in bezug auf ein Wort ähnelt. Demgegenüber erkennen wir genau, daß die Wiederholung eine notwendige und begründete Verhaltensweise nur im Verhältnis zum Unersetzbaren ergibt. Als Verhaltensweise und als Gesichtspunkt betrifft die Wiederholung eine untauschbare, unersetzbare Singularität. Die Spiegelungen, Echos, Doppelgänger, Seelen gehören nicht zum Bereich der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz; und SO wenig echte Zwillinge einander ersetzen können, so wenig kann man seine Seele tauschen Ist der Tausch das Kriterium der Allgemeinheit, SO sind Diebstahl und Gabe Kriterien der Wiederholung. Zwischen beiden besteht also eine ökonomische Differenz. Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist. Und vielleicht ist diese Wiederholung als äußeres Verhalten ihrerseits Widerhall
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eines noch heimlicheren Bebens, einer inneren und tieferen Wiederholung im Singulären, das sie beseelt. In der Gedenkfeier liegt gerade dieses Paradox offen zutage: ein ,, Unwiederbringliches “ wiederholen. Nicht ein zweites und ein drittes Mal dem ersten hinzufügen, sondern das erste Mal zur ,,n-ten“ Potenz erheben. Mit diesem Bezug zur Potenz verkehrt sich die Wiederholung, indem sie sich nach innen stülpt; es ist, wie Péguy sagt, nicht die Feier des 14. Juli, die den Sturm auf die Bastille erinnert oder repräsentiert, vielmehr ist es der Sturm auf die Bastille, der im voraus alle Jahrestage feiert und wiederholt; oder es ist die erste Seerose Monets, die alle weiteren wiederholt’. Man stellt also die Allgemeinheit als Allgemeinheit des Besonderen der Wiederholung als Universalität des Singulären gegenüber. Man wiederholt ein Kunstwerk als begrifflose Singularität, und nicht zufällig muß ein Gedicht auswendig [par cetir-/ gelernt werden. Der Kopf ist das Organ der Tauschakte, das Herz [ceur] aber das in die Wiederholung verliebte Organ. (Freilich betrifft die Wiederholung auch den Kopf, aber nur als dessen Schrecken oder Paradox.) Mit vollem Recht unterschied Pius Servien zwei Sprachen: die Sprache der Wissenschaft, vom Gleichheitszeichen beherrscht, in der jeder Term durch andere ersetzt werden kann; und die lyrische Sprache, in der jeder Term unersetzbar ist und nur wiederholt werden kann2. Die Wiederholung läßt sich stets als eine äußerste Ähnlichkeit oder eine vollendete Äquivalenz ,,repräsentieren“. Aber die Tatsache, daß man in winzigen Schritten von einer Sache zur anderen gelangt, verschlägt nicht, daß eine Wesensdifferenz zwischen beiden besteht. Zudem gehört die Allgemeinheit zur Ordnung der Gesetze. Aber das Gesetz bestimmt nur die Ähnlichkeit der ihm unterworfenen Subjekte und deren Äquivalenz mit Termen, die es bezeichnet. Weit davon entfernt, die Wiederholung zu begründen, zeigt das Gesetz vielmehr, auf welche Weise die Wiederholung für reine Gesetzessubjekte - die Besonderen - unmöglich bliebe. Es verurteilt sie zum Wandel. Als leere Form der Differenz, als invariable Form der Variation nötigt das Gesetz seine Subjekte dazu, das Gesetz nur um den Preis ihrer eigenen Veränderungen zu illustrieren. Zweifellos enthalten die vom Gesetz bezeichneten Terme Konstanten ebenso wie Variablen; und in der Natur Beharrlichkeit und Perseverationen ebenso wie Ströme und Variationen. Aber eine Perseveration ergibt genausowenig eine Wiederholung. Die Konstanten eines Gesetzes sind ihrerseits die Variablen eines noch allgemeineren Gesetzes, ähnlich wie die härtesten Felsen im geologischen Maß einer Jahrmillion weiche und flüssige Stoffe werden. Und auf jeder Ebene sind es große und beharrliche Objekte in der Natur, vor denen ein Gesetzessubjekt seine eigene Unfähigkeit zur Wiederholung erfährt und entdeckt, daß diese Unfähigkeit bereits im Objekt enthalten, im beharrlichen Objekt reflektiert I Vgl. Charles Péguy: Clio, Paris (1917) 1931, S. 45 u.114. 2 Pius Servien: Principes d’esthétique, Paris 1935, S. 3-5; Science et poésie, Paris 1947, s. 44-47.
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ist, in dem es seine Verurteilung liest. Das Gesetz vereinigt den Wechsel des fließenden Wassers mit der Beharrlichkeit des Flusses. Elie Faure sagt von Watteau : ,,Er hatte das Flüchtigste dorthin gebannt, wo unser Blick dem Daurerhaftesten, dem Raum und den großen Wäldern, begegnet.” Dies ist die Methode des 18. Jahrhunderts. In LU Noudk ffdo%e hatte Wolmar daraus ein System gemacht: Die Unmöglichkeit der Wiederholung, der Wandel als zu der das Gesetz der Natur alle besonderen allgemeine Verfassung, Geschöpfe zu verurteilen scheint, wurde im Verhältnis zu feststehenden Termen erfaßt (die zweifellos selbst wiederum variabel im Verhältnis zu anderen Beharrlichkeiten, in Abhängigkeit von anderen, noch allgemeineren Gesetzen sind). Und dies ist der Sinn der Baumgruppe, der Grotte, des ,,heiligen” Gegenstands. Saint-Preux erfährt, daß er nicht wiederholen kann, nicht nur aufgrund seiner und Julies Veränderungen, sondern aufgrund der großen Beharrlichkeiten der Natur, die einen symbolischen Wert gewinnen und ihn nichtsdestoweniger von einer echten Wiederholung ausschließen. Wenn die Wiederholung möglich ist, so entspricht sie eher dem Wunder als dem Gesetz. Sie steht gegen das Gesetz: gegen die ähnliche Form und den äquivalenten Gehalt des Gesetzes. Wenn die Wiederholung selbst in der Natur noch vorgefunden werden kann, so im Namen einer Macht, die sich gegen das Gesetz manifestiert und unter, vielleicht auch über den Gesetzen wirksam ist. Und wenn die Wiederholung existiert, so drückt sie jeweils eine Singularität gegen das Allgemeine aus, eine Universalität gegen das Besondere, ein Ausgezeichne’ tes gegen das Gewöhnliche, eine Augenblicklichkeit gegen die Variation, eine Ewigkeit gegen die Beharrlichkeit. Die Wiederholung ist in jeder Hinsicht Überschreitung. Sie stellt das Gesetz in Frage, sie denunziert dessen nominalen oder allgemeinen Charakter zugunsten einer tieferen und künstlerischeren Wirklichkeit. Dennoch erscheint es schwierig, aus der Perspektive des wissenschaftlichen Experiments selber jeden Bezug der Wiederholung zum Gesetz zu leugnen. Wir müssen allerdings danach fragen, unter welchen Bedingungen das Experiment eine Wiederholung, garantiere. Die Naturphänomene geschehen unter freiem Himmel und lassen in weitläufigen Zyklen von Ähnlichkeit alle möglichen Schlußfolgerungen zu: In diesem Sinne reagiert alles mit allem, ähnelt alles allem (die Ähnlichkeit des Verschiedenen mit sich). Das Experiment entwirft aber relativ geschlossene Milieus, in denen wir ein Phänomen in Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl ausgewählter Faktoren definieren (zumindest zweier Faktoren, des Raumes und der Zeit etwa, um die Bewegung eines Körpers allgemein im Vakuum zu bestimmen). Es besteht folglich kein Grund, nach der Anwendung der Mathematik in der Physik zu fragen: Die Physik ist unmittelbar mathematisch, da die berücksichtigten Faktoren oder geschlossenen Milieus ebensogut geometrische Koordinatensysteme konstituieren. Unter diesen Bedingungen erscheint ein Phänomen notwendig gleichgesetzt mit einer bestimmten quantitativen Relation zwischen ausgewählten Faktoren. Es handelt sich also beim Experiment darum, eine Ordnung von
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Allgemeinheit durch eine andere zu ersetzen: eine Ordnung von Ähnlichkeit . durch eine Ordnung von Gleichheit. Man zerlegt die Ähnlichkeiten, um eine Gleichheit zu entdecken, die es erlaubt, ein Phänomen unter den besonderen Bedingungen des Experiments zu identifizieren. Die Wiederholung erscheint hier nur im Übergang von einer allgemeinen Ordnung zur anderen und tritt nur zugunsten und gelegentlich dieses Übergangs zutage. Alles geschieht so, als ob die Wiederholung für einen Augenblick zwischen und unter zwei Allgemeinheiten hervorstechen würde. Aber auch hier läuft man Gefahr, eine Wesensdifferenz für eine bloß graduelle zu halten. Denn die Allgemeinheit Wiederholung: Wenn die repräsentiert und bedingt nur eine hypothetische gleichen Um stände gegeben sind, dann .. . Diese Formel meint: Bei ähnlichen Totalitäten wird man immer identische Faktoren erhalten und auswählen können, die das Gleichsein des Phänomens repräsentieren. Damit aber unterschlägt man, wodurch die Wiederholung gebildet wird , ebens o das Kategorische daran und das, was sich in der Wiederholung von Rechts wegen Geltung verschafft (nämlich ,,n“ Mal als Potenz eines einzigen Mals, ohne daß man ein zweites, ein drittes Mal durchlaufen müßte). Die Wiederholung verweist in ihrem Wesen auf eine einzigartige Macht3, deren Natur von der Allgemeinheit abweicht, selbst wenn sie, um zur Erscheinung zu gelangen, vom künstlichen Übergang von einer allgemeinen Ordnung zur anderen profitiert. Der ,,stoische“ Irrtum besteht darin, die Wiederholung vom Naturgesetz zu erwarten. Der weise Mann muß sich in einen tugendhaften verwandeln; der Traum, ein Gesetz zu finden, das die Wiederholung ermöglichte, wird auf das Sittengesetz übertragen. Immer muß im täglichen Leben eine Aufgabe wieder begonnen, eine Anhänglichkeit erneuert werden, in einem Leben, das mit der wiederholten Bejahung der Pflicht verschmilzt. Büchner läßt seinen Danton sagen: ,,Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den anderen zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß Millionen es schon so gemacht haben, und daß Millionen es wieder so machen werden, und daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so daß alles doppelt geschieht - das ist sehr traurig.“ Wozu aber diente das Sittengesetz, wenn es nicht die Reiteration heiligte und sie vor allem ermöglichte, um uns eine gesetzgebende Gewalt zu verleihen, von der uns das Naturgesetz ausschließt? Es kommt vor, daß der Moralist die Kategorien des Guten und des Bösen folgendermaßen darstellt: Immer wenn wir die Wiederholung der Natur nach anstreben, und zwar als Naturwesen (die Wiederholung einer Lust, eines Vergangenen, einer Leidenschaft), stürzen wir uns in eine teuflische und schon fluchbeladene Versuchung, die nur in Verzweiflung oder Langeweile münden kann. Das Gute dagegen würde uns die Möglichkeit
3 Frz. puissance, d. h. Potenz, Macht, Fähigkeit, im Sinne von lat. potentia
[A.d.Ü.].
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der Wiederholung, Erfolg und Geistigkeit der Wiederholung verschaffen, weil cs von einem Gesetz abhinge, das nicht mehr dem Naturgesetz, sondern dem der Pflicht entspräche und dem wir, als sittliche Wesen, nur als zugleich Gesetzgebende unterworfen wären. Und was ist die höchste Prüfung, wie Kant es nennt, anderes als eine Gedankenprobe, die bestimen soll, was von Rechts wegen reproduziert werden kann, d. h. widerspruchsfrei unter der Form des Sittengesetzes wiederholt werden kann? Der Mann der Pflicht hat eine ,,Prüfung” der Wiederholung erfunden, er hat bestimmt, was vom Standnunkt des Rechts aus wiederholt werden konnte. Er glaubt also, das Teuflische und das Langweilige gleichermaßen besiegt zu haben. Und liegt hierin, in diesem Echo auf Dantons Kummer, in dieser Antwort auf jenen Kummer, nicht ein Moralismus, der bis zum erstaunlichen Sockenhalter reicht, den Kant sich angefertigt hatte, bis zu jener Wiederholungsmaschine, die seine Biographen so präzise beschreiben, die Unveränderlichkeit seiner täglichen Spaziergänge etwa (ein Moralismus in dem Sinne, wie die Vernachlässigung der Toilette und der Mangel an Disziplin zu Verhaltensweisen gehören, deren Maxime nicht widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz gedacht und darum nicht Gegenstand einer rechtmäßigen Wiederholung werden kann)? Die Ambiguität des Gewissens aber besteht darin: Es kann sich selbst nur dann denken, wenn es das Sittengesetz außerhalb, oberhalb und unabhängig vom Naturgesetz ansiedelt, es kann aber die Anwendung des Sittengesetzes nur denken, wenn es in sich selbst das Bild und das Modell des Naturgesetzes wiederherstellt. So daß uns das Sittengesetz keineswegs eine echte Wiederholung bietet, sondern uns noch innerhalb der Allgemeinheit festhält. Die Allgemeinheit ist hier nicht mehr die der Natur, sondern der Gewohnheit als zweiter Natur. Es ist müßig, sich auf die Existenz unsittlicher, schlechter Gewohnheiten zu berufen; das wesentlich Sittliche, das formal Gute entspricht der Form der Gewohnheit oder, wie Bergson sagte, der Gewohnheit, Gewohnheiten anzunehmen (das Ganze der Verpflichtung). Nun stoßen wir in diesem Ganzen oder in dieser Allgemeinheit der Gewohnheit wiederum auf die beiden großen Ordnungen: die der Ähnlichkeiten, und zwar in der wechselnden Konformität von Handlungselementen im Verhältnis zu einem vorausgesetzten Modell, solange die Gewohnheit nicht angenommen ist; und die der Äquivalenzen, und zwar mit der Gleichheit von Handlungselementen in verschiedenen Situationen, sobald die Gewohnheit Fuß gefaßt hat. SO daß die Gewohnheit niemals eine echte Wiederholung bildet: Einmal verändert und vervollkommnet sich die Handlung, während die Intention konstant bleibt; das andere Mal bleibt die Handlung bei unterschiedlichen Intentionen und in verschiedenen Kontexten gleich. Auch hier erscheint die Wiederholung, sofern sie möglich ist, nur zwischen und unter diesen beiden Allgemeinheiten der Vervollkommnung und der Integration, immer auf die Gefahr hin, sie zu stürzen und dabei eine ganz andere Macht zu bekunden. Die Wiederholung ist nur gegen das Sittengesetz wie gegen das Naturgesetz möglich. Bekanntlich gibt es zwei Arten, das Sittengesetz zu stürzen. Einer-
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seits durch einen Wiederaufstieg in der Prinzipienreihe: Man ficht die Ordnung des Gesetzes als sekundär, abgeleitet, entlehnt, ,,allgemein“ an; man denunziert im Gesetz ein Prinzip zweiter Hand, das eine ursprüngliche Kraft verfälscht oder eine ursprüngliche Macht usurpiert. Dagegen wird andererseits das Gesetz um so sicherer zu Fall gebracht, wenn man zu den Folgen hinabsteigt, wenn man sich ihm mit übergenauer Sorgfalt unterwirft; mit dieser Anschmiegung an das Gesetz gelingt es einer heuchlerisch unterwürfigen Seele, das Gesetz zu umgehen und in den Genuß der Lüste zu kommen, die es doch verbieten sollte. Dies zeigt sich in allen apagogischen Beweisführungen, im minutiösen Dienst nach Vorschrift, aber auch in manchen masochistischen Verhaltensweisen voll unterwürfigen Spotts. Die erste Art, das Gesetz zu stürzen, ist ironisch, und die Ironie erscheint hier als eine Kunst der Prinzipien, als eine Kunst, zu den Grundsätzen hinaufzusteigen und sie zu Fall zu bringen. Die zweite Art besteht im Humor, das heißt, in einer Kunst der Folgen und Abstiege, der Schwebe und des Falls. Muß man die Tatsache, daß die Wiederholung in dieser Schwebe und in jenem Aufstieg auftaucht, so begreifen, als ob sich die Existenz selbst erneuern und ,,wiederholen“ würde, sobald sie nicht mehr dem Zwang der Gesetze unterliegt? Die Wiederholung ist Sache des Humors und der Ironie; sie ist ihrer Natur nach Überschreitung, Ausnahme und behauptet immer eine Singularität gegen die dem Gesetz unterworfenen Besonderheiten, ein Universales gegen die Allgemeinheiten, die als Gesetz gelten.
Kierkegaard und Nietzsche haben eine Kraft gemeinsam. (Man müßte noch
Péguy hinzufügen, um das Triptychon aus Pastor, Antichrist und Katholik zu bilden. Auf seine Art machte jeder der drei die Wiederholung nicht nur zur eigentlichen Macht der Sprache und des Denkens, zu einem Pathos und einer höheren Pathologie, sondern auch zur Grundkategorie der zukünftigen Philosophie. Mit jedem von ihnen verbindet sich ein Testament und überdies ein Theater, ein theatralisches Konzept, und eine Hauptfigur in diesem Theater, die als Held der Wiederholung agiert: Hiob-Abraham, Dionysos-Zarathustra, Jeanne d’Arc-Clio.) Das Trennende zwischen ihnen ist beträchtlich, offensichtlich und weitgehend bekannt. Nichts aber wird jene ungeheure Begegnung im Umkreis eines Denkens der Wiederholung auslöschen: Sie stellen die Wiederholung allen Formen der Allgemeinheit gegenüber. Und sie begreifen das Wort ,,Wiederholung“ nicht metaphorisch, im Gegenteil, in gewisser Hinsicht begreifen sie es buchstäblich und lassen es in den Stil eindringen. Man kann, man muß zunächst die wichtigsten Aussagen aufzählen, die die Übereinstimmung zwischen ihnen kennzeichnen: 1. Aus der Wiederholung selbst etwas Neues machen; sie an eine Prüfung, an eine Selektion, an eine selektive Prüfung knüpfen; und sie als höchsten Gegen-
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stand des Willens und der Freiheit darstellen. Kierkegaard präzisiert: der Wiederholung nicht etwas Neues abgewinnen, nichts Neues entlocken. Denn nur die Betrachtung, der von außen betrachtende Geist ,,entlockt“. Demgegenüber geht es hier um das Handeln, geht es darum, aus der Wiederholung als solcher eine Neuheit zu machen, d.h. eine Freiheit und eine * Aufgabe der Freiheit. Und Nietzsche: den Willen von allen Fesseln befreien, indem die Wiederholung gerade zum Gegenstand des Wollens gemacht wird. Zweifellos ist bereits die Wiederholung die Fessel; aber wenn m a n an der Wiederholung stirbt, so ist es doch wiederum sie, die rettet und heilt und zunächst von der anderen Wiederholung heilt. In der Wiederholung vollzieht sich also zugleich das ganze mystische Spiel von Verderben und Heil, das ganze theatralische Spiel von Tod und Leben, das ganze positive Spiel von Krankheit und Gesundheit (vgl. Zarathustra, der an ein und derselben Macht erkrankt und genest, an der Macht der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr). 2. Folglich die Wiederholung den Gesetzen der Natur gegenüberstellen. Kierkegaard erklärt, daß er gar nicht einmal von der Wiederholung in der Natur spreche, von Zyklen und Jahreszeiten, von Austausch und Gleichheiten. Vielmehr: Wenn die Wiederholung das Innerste des Willens betrifft, so deshalb, weil sich dem Naturgesetz zufolge alles um den Willen herum ändert. Gemäß dem Naturgesetz ist die Wiederholung unmöglich. Darum verurteilt KierkeWiederholung jede Anstrengung, die auf .gaard unter dem Namen ästhetische die Wiederholung der Naturgesetze abzielt, wie es nicht nur der Epikureer, sondern auch der Stoiker tut, wenn er sich mit dem gesetzgebenden Prinzip identifiziert. Man wird einwenden, bei Nietzsche sei die Lage nicht so klar. Dennoch sind Nietzsches Erklärungen nachdrücklich. Wenn er die Wiederholung in der Physis selbst entdeckt, so deshalb, weil er in der Physis auf etwas stößt, das über der Herrschaft der Gesetze steht: einen sich selbst über alle Veränderungen hinweg wollenden Willen, eine gegen das Gesetz gerichtete Macht, einen Erdinnenraum der sich den Gesetzen der Oberfläche widersetzt. Nietzsche stellt ,,seine“ Hypothese der zyklischen Hypothese gegenüber. Er begreift die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft als Sein, stellt aber dieses Sein jeder gesetzmäßigen Form, dem Ähnlichsein ebenso wie dem Gleichsein gegenüber Und wie könnte der Denker, der die Kritik am Begriff des Gesetzes am weitesten vorangetrieben hat, die ewige Wiederkunft als Gesetz der Natur wiedereinführen? Und wie könnte er, als Kenner der Griechen, sein eigenes Denken mit gutem Grund für gewaltig und neu halten, wenn er sich damit begnügte, jene naturwüchsige Platitüde, jene seit der Antike altbekannte All gemeinheit der Natur zu formulieren? In zwei Ansätzen korrigiert Zarathustra die falschen Interpretationen der ewigen Wiederkunft: im Zorn, gegen seinen Dämon (,,DU Geist der Schwere [. . .] mache dir es nicht zu leicht!“); und mit Milde gegenüber seinen Tieren (,,O ihr Schalksnarren und Drehorgeln! [. . .] ih r machtet schon eine Leier-Lied daraus?“). Das Leier-Lied ist die ewige Wiederkunft als Zyklus oder Kreislauf, als Ähn-
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lichsein und Gleichsein, kurz: als naturwüchsige tierhafte Gewißheit und sinnliches Gesetz der Natur selbst. 3. Die Wiederholung dem Sittengesetz gegenüberstellen, sie zur Suspension der Ethik, zum Denken jenseits von Gut und Böse machen. Die Wiederholung erscheint als Logos des Einzelgängers, des Einzelnen, als Logos des ,,privatisierenden Denkers“. Bei Kierkegaard wie bei Nietzsche entwickelt sich der Gegensatz des privatisierenden Denkers, des kometenhaften Denkers und Trägers der Wiederholung zum Professor publicus und Gesetzeskundigen, dessen Diskurs zweiter Hand die Vermittlung bemüht und seine moralisierende Quelle in der Allgemeinheit der Begriffe findet (vgl. Kierkegaard gegen Hegel, Nietzsche gegen Kant und Hegel, und Péguy, in dieser Hinsicht, gegen die Sorbonne). Hiob ist der unendliche Protest, Abraham die unendliche Resignation, aber beide sind ein und dasselbe. Hiob stellt das Gesetz ironisch in Frage, weist alle Erklärungen aus zweiter Hand zurück, entmächtigt das Allgemeine, um das Singulärste als Prinzip, als Universales zu erlangen. Abraham unterwirft sich humoristisch dem Gesetz, findet aber gerade in dieser Unterwerfung wieder die Singularität des einzigen Sohns, dessen Opferung das Gesetz befahl. Die Wiederholung, wie Kierkegaard sie versteht, ist das gemeinsame transzendente Korrelat von Protest und Resignation als psychischer Intentionen. (Und beide Aspekte wird man auch in Péguys Zweiteilung finden: Jeanne d’Arc und Gervaise.) Im krassen Atheismus Nietzsches prägen Gesetzeshaß und amor fati, Aggressivität und Einverständnis das doppelte Gesicht Zarathustras, der Bibel entnommen und gegen sie gewendet. In gewisser Weise wenigstens sieht man Zarathustra mit Kant rivalisieren, und zwar hinsichtlich der Prüfung der Wiederholung im Sittengesetz. Die ewige Wiederkehr wird so formuliert: Du sollst, was immer du willst, so wollen, daß du auch dessen ewige Wiederkunft willst. Es liegt hier ein ,,Formalismus“ vor, der Kant auf dessen eigenem Boden zu Fall bringt, eine Prüfung, die weiter reicht, da sie anstatt die Wiederholung auf ein angenommenes Sittengesetz zu beziehen aus der Wiederholung selbst die einzige Form eines Gesetzes jenseits der Moral zu machen scheint. In Wirklichkeit aber ist dies noch komplizierter. Die Form der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr ist die brutale Form des Unmittelbaren, die Form, in der sich Singuläres und Universales vereinigen, und die jedes allgemeine Gesetz entthront, die Vermittlungen zerschmelzen und die dem Gesetz unterworfenen Besonderen untergehen läßt. Es gibt ein Jenseits und ein Diesseits des Gesetzes, die sich in der ewigen Wiederkehr wie die schwarze Ironie und der schwarze Humor Zarathustras vereinen. 4. Die Wiederholung nicht nur den Allgemeinheiten der Gewohnheit, sondern auch den Besonderheiten des Gedächtnisses gegenüberstellen. Denn vielleicht ist es die Gewohnheit, der es gelingt, einer von außen betrachteten Wiederholung etwas Neues ,,abzugewinnen”. Wir handeln in der Gewohnheit nur unter der Bedingung, daß in uns ein kleines betrachtendes Ich existiert: Dieses Ich
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gewinnt das Neue, d. h. das Allgemeine, aus der Pseudo-Wiederholung der besonderen Fälle. Und vielleicht spürt das Gedächtnis die in die Allgemeinheit eingeschmolzenen Besonderen. auf. Diese psychologischen Bewegungen sind nicht weiter wichtig; bei Nietzsche wie bei Kierkegaard verblassen sie a n g e s i c h t s d e r Wiederholung, verstanden als doppelte Verdammung von Gewohnheit und Gedächtnis. Damit ist die Wiederholung das Denken der Z u k u n f t : S i e t r i t t der antiken Kategorie der Wiedererinnerung und d e r modernen Kategorie des Habitus gegenüber. In der Wiederholung und durch die Wiederholung wird das Vergessen zur positiven Macht und das Unbewußte zu einem positiven höheren Unbewußten (so ist etwa das Vergessen als Kraft integrierender Bestandteil der gelebten Erfahrung der ewigen Wiederkunft). Alles vereinigt sich in der Macht [puissance]. Wenn Kierkegaard von der Wiederholung als zweiter Potenz [puissance] des Bewußtseins spricht, so meint ,,zweite“ nicht ein zweites Mal, sondern das Unendliche, das von einem einzigen Mal ausgesagt wird, die Ewigkeit, die von einen Augenblick, das Unbewußte, das vom Bewußtsein ausgesagt wird, die ,,n-t6 Potenz. Und wenn Nietzsche die ewige Wiederkunft als unmittelbaren Ausdruck des Willens zur Macht vorführt, so meint Wille zur Macht keineswegs ,> Machtstreben“, sondern im Gegenteil: das Gewollte, was immer man will, zur ,,n-ten“ Potenz erheben, d.h. dessen höhere Form freisetzen, und z w a r dank des selektiven Verfahrens des Denkens in der ewigen Wiederkunft, dank der Singularität der Wiederholung in der ewigen Wiederkunft selbst.
’ Höhere Form dessen, was ist: Dies ist die unmittelbare Identität von ewiger Wiederkunft
und Übermensch4.
’ Im vorangehenden Vergleich gehören die Texte, auf die wir uns beziehen, zu den bekanntesten Texten Nietzsches und Kierkegaards. Bei Kierkegaard handelt es sich um folgende: Die Wiederholung (Gesammelte Werke, Düsseldorf u. Köln 1956 ff., 5. Abt.f; Passagen aus dem Tagebuch (IV, B 117, nicht in deutschen Ausgaben von Kierkegaards Tagebüchern enthalten; im Anhang der französischen Übersetzung von Tisseau veröffentlicht: La répétition, Paris 1843; d.Ü.); Furcht und Zittern (4. Abt.); und die äußerst wichtige Anmerkung aus Der Begriff der Angst (11. U. 12. Abt., s. 14-16). U n d zur Kritik des Gedächtnisses vgl. Philosophische Brocken und Stadien LZRf dem Lebensweg (10. bzw. 15. Abt.). - Was Nietzsche angeht, so handelt es sich um Also sprach Zarathustra (in* . Werke, hg. v. K.Schlechta, München 1969 (6), Bd. 2; darin vor allem ,,Von der Erlösung“ aus dem Zweiten Teil; und die beiden großen Passagen des Dritten Teils: ,,Vom Gesicht und Rätsel” und ,,Der Genesende“, von denen die eine den kranken und mit seinem Dämon streitenden Zarathustra, die andere den genesenden und mit seinen Tieren streitenden Zarathustra betrifft); aber auch um die Aufzeichnungen aus den Jahren 1881-1882, (in denen Nietzsche ausdrücklich ,,seine” Hypothese der zyklischen Hypothese gegenüberstellt und alle Vorstellungen von Ähnlichkeit, Gleichheit, Gleichgewicht und Identität kritisiert; vgl. Werke Leipzig 1901 ff Bd 12 (Nachgelassene Fragmente), $, 106, S. 58 ff.). - Bei Péguy wird man sich schließlich im wesentlichen auf Jeanne d’Arc und Clio beziehen.
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Wir wollen keinerlei Ähnlichkeit zwischen Nietzsches Dionysos und dem Gott Kierkegaards unterstellen. Im Gegenteil, wir nehmen an, wir glauben, daß der Unterschied unüberwindlich ist. Um so mehr aber: Woher rührt die Übereinstimmung hinsichtlich des Themas der Wiederholung, hinsichtlich jenes grundlegenden Ziels, selbst wenn dieses Ziel auf unterschiedliche Weise gefaßt wird? Kierkegaard und Nietzsche gehören zu denjenigen, die die Philosophie um neue Ausdrucksmittel bereichern. Mit Blick auf sie . spricht man gerne von einer Überschreitung der Philosophie. Was nun in ihrem gesamten Werk verhandelt wird, ist die Bewegung. Hegel werfen sie vor, bei der falschen Bewegung, bei der abstrakten logischen Bewegung, d.h. bei der ,,Vermittlung”, stehenzubleiben. Sie wollen die Metaphysik in Bewegung, in Gang setzen. Sie wollen sie zur Tat zu unmittelbaren Taten antreiben. Es genügt ihnen folglich nicht, bloß eine neue Repräsentation der Bewegung vorzulegen; die Repräsentation ist bereits Vermittlung. Es handelt sich im Gegenteil darum, im Werk eine Bewegung zu erzeugen, die den Geist außerhalb jeglicher Repräsentation zu erregen vermag; es handelt sich darum, aus der Bewegung selbst - und ohne Zwischenschritt - e i n Werk zu machen; die mittelbaren Repräsentationen durch direkte Zeichen zu ersetzen; Schwingungen, Rotationen, Drehungen, Gravitationen, Tänze oder Sprünge auszudenken, die den Geist direkt treffen. Dies ist die Idee eines Theatermanns, eines Regisseurs - seiner Zeit voraus. Gerade in diesem Sinne beginnt mit Kierkegaard und Nietzsche etwas völlig Neues. Sie reflektieren über das Theater nicht in Hegelscher Manier. Sie betreiben nicht länger philosophisches Theater. Sie erfinden in der Philosophie ein unglaubliches Äquivalent zum Theater und begründen damit jenes Theater der Zukunft und gleichzeitig eine neue Philosophie. Man wird einwenden, daß zumindest vom Standpunkt des Theaters aus nichts dergleichen realisiert wird; weder Kopenhagen um 1840 und der Pfarrersberuf, noch Bayreuth und der Bruch mit Wagner stellten günstige Bedingungen dar. Eines ist jedoch gewiß: Wenn Kierkegaard vom antiken Theater und modernen Drama spricht, ist man bereits in einem anderen Element, befindet sich nicht mehr im Element der Reflexion. Man entdeckt einen Denker, der das Problem der Masken lebt, der jene innere Leere erfährt, die der Maske eigentümlich ist, und der sie auszugleichen, aufzufüllen versucht, und sei es durch das ,,absolut Verschiedene“, d. h. dadurch, daß er die ganze Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem dorthin verlegt und damit die Idee eines Theaters des Humors und des Glaubens erschafft. Wenn Kierkegaard erklärt, der Glaubensritter sehe einem Spießbürger im Sonntagsstaat zum Verwechseln ähnlich, so muß man diesen philosophischen Hinweis als Szenenanweisung lesen, die angibt, wie der Glaubensritter gespielt werden soll. Und wenn er Hiob oder Abraham kommentiert, wenn er sich die Varianten der Sage von Agnes und dem Wassermann ausmalt, so trügt die Art, wie er dies tut, nicht, es ist die Art eines Szenarios. Bis hin zu Abraham und Hiob hallt Mozarts Musik wider; und es geht darum, zur Melodie dieser Musik
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zu ,,springen”. ,,[I]ch achte bloß auf die Bewegungen“ - hier der Satz eines Regisseurs, der das höchste Theaterproblem aufwirft, das Problem einer Bewegung, die die Seele direkt treffen, die Bewegung der Seele selbst sein soll5. Dies gilt mit noch größerem Recht für Nietzsche. Die Geburt der Tragödie ist keine Reflexion über das antike Theater, sondern die praktische Gründung eines Theaters der Zukunft, die Offnung eines Wegs, auf dem es Nietzsche noch möglich scheint, Wagner weiterzutreiben. Und der Bruch mit Wagner ist keine Sache der Theorie; er ist ebensowenig eine Sache der Musik; er betrifft die jeweilige Rolle des Textes, der Geschichte, der Geräusche, der Musik, des Lichts, des Lieds, des Tanzes und der Ausstattung in jenem von Nietzsche erträumten Theater. Zarathustra greift die beiden dramatischen Versuche über Empedokles auf. Und wenn Bizet besser ist als Wagner, so aus der Perspektive des Theaters und für die Tänze Zarathustras. Nietzsche wirft Wagner vor, die ,,Bewegung“ verkehrt und verfälscht zu haben: Er habe uns platschen und schwimmen, ein nautisches Theater, und nicht schreiten und tanzen gemacht. Zarathustra ist ganz und gar philosophisch, aber auch gänzlich für die Bühne konzipiert. Hier ist alles vertont, verbildlicht, in Bewegung, in Gang und zum Tanzen gebracht. Und wie läßt er sich lesen, ohne nach dem exakten Laut für den Schrei des Übermenschen zu suchen, wie läßt sich die Vorrede lesen, ohne den Seiltänzer zu inszenieren, mit dem die ganze Geschichte beginnt? In manchen Momenten ist dies eine opera buffa über schreckliche Dinge; und nicht zufällig spricht Nietzsche von der Komik des Übermenschen. Man erinnere sich an das Lied Ariadnes, das dem alten Zauberer in den Mund gelegt wurde: Zwei Masken überlagern sich hier - die einer jungen Frau, fast einer Kore, die sich über eine abstoßende Greisenmaske stülpt. Der Schauspieler muß die Rolle eines Greises spielen, während er zugleich die Rolle der Kore spielt. Und auch hier geht es Nietzsche darum, die innere Leere der Maske in einem Bühnenraum auszufüllen: indem er die übereinandergestülpten Masken vervielfältigt, indem er die Allgegenwart des Dionysos in diese Überlagerung einschreibt, indem er in sie das Unendliche der realen Bewegung wie die absolute Differenz in der Wiederholung der ewigen Wiederkunft hineinträgt. Wenn Nietzsche sagt, der Übermensch ähnle eher Borgia als Parsifal, wenn er nahelegt, der Übermensch gehöre dem Jesuitenorden wie dem preußischen Offizierskorps gleichermaßen an, so kann man auch hier 5 Vgl. Kierkegaard: Furcht und Zittern a.a.O., S. 36ff. Zur Natur der wirklichen \ Bewegung, die ,,Wiederholung“ und nicht Vermittlung ist und sich der falschen ’ abstrakten logischen Bewegung Hegels gegenüberstellt, vgl. die Bemerkungen im Tagebuch, a bge druc k t im Anhang zur französischen Übersetzung von Die wiederholung (I, d répéition, a.a.O.). - Auch bei Péguy findet man eine tiefgreifende Kritik d er ,,logischen Bewegung”. Péguy denunziert diese als eine konservierende, akkumulierende und kapitalisierende Pseudo-Bewegung: vgl. Clio, a.a.O., s. 45ff. Dies kommt der Kritik Kierkegaards nahe.
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diese Texte nur verstehen, wenn man sie als das nimmt, was sie sind, als Szenenanweisungen, die angeben, wie der Übermensch ,,gespielt“ werden soll. Das Theater ist die reale Bewegung; und aus allen Künsten, die es verwendet, gewinnt es die reale Bewegung. Da wird uns also gesagt: Diese Bewegung, das Wesen und die Interiorität der Bewegung ist die Wiederholung, nicht der Gegensatz, nicht die Vermittlung. Hegel wird als derjenige angeprangert, der an Stelle der Bewegung der Physis und der Psyche eine Bewegung des abstrakten Begriffs vorführt. Hegel ersetzt das wahre Verhältnis zwischen Singulärem und Universalem in der Idee durch das abstrakte Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Begriff überhaupt. Er bleibt also beim Reflexionselement der ,,Repräsentation“, bei der bloßen Allgemeinheit stehen. Er repräsentiert Begriffe, anstatt die Ideen zu dramatisieren: Er macht ein falsches Theater, ein falsches Drama, eine falsche Bewegung. Man muß erkennen, wie Hegel das Unmittelbare entstellt und verfälscht, um auf diesem Unverständnis seine Dialektik zu begründen und die Vermittlung in eine Bewegung einzuführen, die nurmehr die seines eigenen Denkens und der Allgemeinheiten dieses Denkens ist. Die spekulativen Abfolgen ersetzen die Koexistenzen, die Gegensätze überdecken und verbergen die Wiederholungen. Wenn man behauptet, die Bewegung sei dagegen die Wiederholung und unser wahres Theater spiele sich gerade in ihr ab, so spricht man nicht vom Bemühen des Schauspielers, der nur in dem Maße ,,repetiere“, wie das Stück noch nicht eingelernt sei. Man denkt an den Bühnenraum, an die Leere dieses Raums, an die Art und Weise, wie er durch Zeichen und Masken erfüllt und bestimmt wird, mit denen der Schauspieler eine Rolle und diese wiederum andere Rollen spielt, man denkt daran, wie sich die Wiederholung von einem ausgezeichneten Punkt zu einem anderen entspinnt und dabei die Differenzen in sich einschließt. (Wenn Marx ebenso die falsche abstrakte Bewegung oder Vermittlung der Hegelianer kritisiert, so wird er selbst auf eine Idee gebracht, die er eher andeutet als entwikkelt, auf eine wesentlich theatralische Idee: Sofern die Geschichte ein Theater ist, bilden die Wiederholung, das Tragische und Komische in der Wiederholung eine Bedingung der Bewegung, unter der die ,,Akteure“ oder ,,Helden“ etwas wahrhaft Neues in der Geschichte hervorbringen.) Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber, wie die Bewegung dem Begriff und der Repräsentation gegenübertritt, durch die sie auf den Begriff bezogen wird. Im Theater der Wiederholung erfährt man reine Kräfte, dynamische Bahnen im Raum, die unmittelbar auf den Geist einwirken und ihn direkt mit der Natur und der Geschichte vereinen, eine Sprache, die noch vor den Wörtern spricht, Gesten, die noch vor den organisierten Körpern, Masken, die vor den Gesichtern, Gespenster und Phantome, die vor den Personen Gestalt annehmen - den ganzen Apparat der Wiederholung als ,,schrecklicher Macht“. Mühelos lassen sich nun die Unterschiede zwischen Kierkegaard und Nietzsche ansprechen. Aber selbst diese Frage darf nicht mehr auf der spekulativen Ebene einer letzten Natur von Abrahams Gott oder des Dionysos aus dem
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Zarathustra gestellt werden. E s handelt sich eher um die Frage, was ,,die Bewegung machen” meint, oder was es heißt, ZU wiederholen, die Wiederholung zu erlangen. Handelt es sich um den Sprung, wie Kierkegaard glaubt? Oder handelt es sich um den Tanz, wie Nietzsche denkt, der die Verwechslung von Tanzen und Springen vermeiden will (einzig der Affe Zarathustras, sein Dämon, sein Zwerg, sein Possenreißer, springt6. Kierkegaard bietet uns ein Theater des Glaubens; und der logischen Bewegung stellt er die spirituelle Bewegung, die Bewegung des Glaubens gegenüber. Daher kann er uns auffordern, jede ästhetische Wiederholung ZU überschreiten, die Ironie und selbst den Humor zu überschreiten, während er sich doch schmerzlich bewußt ist, daß er uns nur das ästhetische, ironische und humoristische Bild einer derartigen Überschreitung bietet. Bei Nietzsche ist es ein Theater des Unglaubens, d e r Bewegung als Physis, schon ein Theater der Grausamkeit. Humor und Ironie sind hier unüberschreitbar und wirken im Grund der Natur. Und was w ä r e die ewige Wiederkunft, wenn man vergäße, daß sie eine schwindelerregende Bewegung ist, daß sie über eine Kraft verfügt, die auswählt, ausstößt und er-schafft, zerstört und erzeugt, nicht aber das Selbe überhaupt wiederkehren läßt? Nietzsches großer Gedanke liegt darin, daß er die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft auf den Tod Gottes und auf die Auflösung des Ich zugleich gründet. Im Theater des Glaubens aber herrscht ein ganz anderes Bündnis; Kierkegaard erträumt es sich zwischen einem wiedergefundenen Gott und einem wiedergefundenen Ich. Alle möglichen Unterschiede schließen sich daran an: Vollzieht sich die Bewegung in der Sphäre des Geistes oder in den Eingeweiden der Erde, die weder Gott noch Ich kennt? Wo wird man besser gegen die Allgemeinheiten, gegen die Vermittlungen geschützt sein? Ist die Wiederholung übernatürlich, und zwar insofern, als sie über den Naturgesetzen steht? Oder ist sie das Natürlichste, Wille der Natur an sich selbst und sich selbst als Physis wollend, weil die Natur durch sich selbst über ihren eigenen Reichen und ihren eigenen Gesetzen steht? Hat Kierkegaard mit seiner Verurteilung der ,,ästhetischen” Wiederholung nicht die verschiedensten Dinge durcheinandergebracht: eine Pseudo-Wiederholung, die man den allgemeinen Gesetzen der Natur zuschreiben muß, eine echte Wiederholung in der Natur selbst; eine Wiederholung von Leidenschaften nach einem pathologischen Modus eine Wiederholung in der Kunst und im Kunstwerk? Wir können an dies’er Stelle keines dieser Probleme lösen* wir haben uns damit begnügt, die theatralische Bestätigung eines irreduziblen Unterschieds zwis chen Allgemeinheit und Wiederholung zu finden.
6 W - Nietzsche: Also spch Zarathustra, Dritter Teil, ,,Von alten und neuen Tafeln”, $ 4: ,,Ab er nur ein Possenreißer denkt: ,der Mensch kann auch übersprungen werden
“’ (a.a.O., S. 446).
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Wiederholung und Allgemeinheit traten einander unter dem Aspekt des Verhaltens und unter dem Aspekt des Gesetzes gegenüber. Es muß nun noch der dritte Gegensatz präzisiert werden, der sich unter dem Gesichtspunkt des Begriffs oder der Repräsentation ergibt. Wir wollen eine Frage quid juris aufwerfen: Der Begriff kann sich von Rechts wegen auf ein existierendes besonderes Ding beziehen und hat dann einen unendlichen Inhalt. Der unendliche Inhalt ist Korrelat einer Extension = 1. Es ist von großer Wichtigkeit, daß dieses Unendliche des Inhalts als aktuell und nicht als virtuell oder bloß unbestimmt gesetzt wird. Gerade unter dieser Bedingung bewahren sich die Prädikate als Momente des Begriffs und wirken im Subjekt, dem sie sich zuschreiben. Der unendliche Begriffsinhalt ermöglicht somit das Erinnern und die Rekognition, das Gedächtnis und das Selbstbewußtsein (selbst wenn diese beiden Vermögen ihrerseits nicht unendlich sind). Repräsentation nennt man den Bezug zwischen Begriff und seinem Objekt unter diesem doppelten Gesichtspunkt, wie er in jenem Gedächtnis und in jenem Selbstbewußtsein verwirklicht wird. Daraus lassen sich die Grundsätze eines allgemeinverständlichen Leibnizianismus gewinnen. Einem Differenzprinzip - zufolge ist jede Bestimmung in letzter Instanz begrifflich, oder sie ist aktualiter Teil des Inhalts eines Begriffs. Einem Prinzip zureichenden Grunds zufolge gibt es stets einen Begriff pro besonderem Ding. Der Umkehrung, dem Prinzip des Nichtzuunterscheidenden zufolge gibt es pro Begriff ein und nur ein Ding. Die Gesamtheit dieser Prinzipien bildet die Darstellung der Differenz als begrifflicher Differenz oder die Entfaltung der Repräsentation als Vermittlung. Allerdings kann ein Begriff auf der Ebene jeder seiner Bestimmungen, jedes der Prädikate, die er enthält, blockiert werden. Das Prädikat als Bestimmung hat die Eigenschaft, im Begriff unveränderlich zu bleiben, im Ding aber ein anderes zu werden (,,Tier“ wird beim Menschen und beim Pferd jeweils ein anderes, ,,Menschheit” bleibt nicht dasselbe bei Peter und bei Paul). Gerade darum ist der Inhalt des Begriffs unendlich: im Ding ein anderes geworden, ist das Prädikat gleichsam das Objekt eines anderen Prädikats im Begriff. Darum aber bleibt auch jede Bestimmung allgemein oder definiert eine Ähnlichkeit, insofern sie unveränderlich im Begriff und von Rechts wegen einer Unendlichkeit von Dingen zukommt. Der Begriff wird hier so gebildet, daß in seiner realen Anwendung sein Inhalt gegen unendlich geht, in seiner logischen Anwendung aber stets eine künstliche Blockierung erfahren kann. Jede logische Beschränkung des Begriffsinhalts versieht diesen mit einer Extension, die größer als 1, von Rechts wegen unendlich ist, versieht ihn folglich mit einer Allgemeinheit, die so beschaffen ist, daß ihr kein existierendes Individuum hic et nunc entsprechen kann (Regel der indirekten Proportion von Inhalt und Extension). Auf diese Weise stellt sich das Prinzip der Differenz - als Differenz im Begriff - der Apprehension von Ähnlichkeiten nicht entgegen, sondern läßt ihr im Gegenteil den größtmöglichen Spielraum. Schon von den Ratespielen aus betrachtet läßt sich die Frage ,,welcher Unterschied besteht?“
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immer umwandeln in: Welche Ähnlichkeit besteht? Vor allem in den Klassifikationen aber impliziert und bedingt die Bestimmung der Arten eine konti. . nuierliche Taxierung der Ähnlichkeiten. Sicher ist die Ähnlichkeit keine partielle Identität; dies aber nur, weil das Prädikat im Begriff kraft seines Anderswerdens im Ding kein Teil dieses Dings ist. Wir mochten den Unterschied zwischen diesem künstlichen Blockierungstyp und einem ganz anderen Typ kennzeichnen, den man natürliche Blockierung des Begriffs nennen muß. Der eine verweist auf die einfache Logik, der andere aber auf eine transzendentale Logik oder auf eine Dialektik der Existenz. Nehmen wir nun an, es wird einem Begriff, der in einem bestimmten Moment, an dem sein Inhalt endlich ist, erfaßt wird, gewaltsam ein Ort in Raum und . Zeit zugewiesen, d. h. eine Existenz, die normalerweise der Extension = 1 entspricht. Man würde dann sagen, daß eine Gattung, eine Art hic et nunc ohne Vergrößerung des Begriffsinhalts in die Existenz übergeht. Diese dem Begriff vorgeschriebene Extension = 1 und die Extension = 00, die sein schwacher Inhalt prinzipiell verlangt, werden auseinandergerissen. Das Resultat wird eine ,,diskrete Extension“ sein, d.h. ein Wuchern von Individuen, die hinsichtlich des Begriffs völlig identisch sind und an derselben Singularität in der Existenz partizipieren (Paradox der Doppelgänger oder Zwillinge7). Dieses Phänomen diskreter Extension impliziert eine natürliche Blockierung des Begriffs, die wesentlich von der logischen Blockierung differiert: Sie bildet eine echte Wiederholung in der Existenz, anstatt eine Ähnlichkeitsordnung im Denken zu errichten. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Allgemeinheit, die stets eine logische Macht des Begriffs bezeichnet, und der Wiederholung, die von seiner Ohnmacht oder seiner realen Grenze zeugt. Die Wiederholung ist das reine Faktum eines Begriffs mit endlichem Inhalt, der als solcher zum Übergang in die Existenz gezwungen wird: Kennen wir Beispiele eines derartigen Übergangs? Das Atom Epikurs wäre eines dieser Beispiele; als im Kaum verortetes Individuum besitzt es nichtsdestoweniger einen dürftigen lnhalt, der mit einer diskreten Extension wettgemacht wird, so daß eine Unendlichkeit von Atomen gleicher Form und gleicher Größe existiert. Es läßt sich allerdings an der Existenz des Epikurschen Atoms zweifeln. Dagegen Iäßt sich nicht an der Existenz der Wörter zweifeln, die in gewisser Weise sprachliche Atome darstellen. Das Wort besitzt einen notwendig endlichen Begriffsinhalt, da es ja von Natur aus Gegenstand einer bloß nominalen Definition ist. Hiermit ist uns ein Grund gegeben, weswegen der Inhalt des Begriffs nicht gegen unendlich gehen kann: Ein Wort wird nur durch eine begrenzte Anzahl von Wörtern definiert. Jedoch verschaffen Rede und Schrift, mit denen es untrennbar verbunden ist, dem Wort eine Existenz hic et nunc; die Gattung geht damit als solche in die Existenz über; und auch hier wird die 7 Formel und Phänomen der diskreten Extension werden in einem demnächst erscheinenden Text von Michel Tournier deutlich herausgearbeitet [Les météores, Paris 1975; dt . . Zwillinsterne, Hamburg 1977; A.d.Ü.]. l
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Extension durch Verstreuung, durch Diskretheit wettgemacht, und zwar im Zeichen einer Wiederholung, die die reale Macht der Sprache in der Rede und in der Schrift darstellt. Die Frage lautet: Gibt es noch andere natürliche Blockierungen als die der diskreten Extension oder des endlichen Inhalts? Nehmen wir einen Begriff mit unbestimmtem (virtuell unendlichem) Inhalt. So weit man diesen Inhalt auch abschreiten mag, man wird stets denken können, er subsumiere völlig identische Objekte. Im Gegensatz zu dem, was im aktuellen Unendlichen geschieht, in dem der Begriff von Rechts wegen zur Unterscheidung seines Objekts von jedem anderen Objekt hinreicht, sehen wir uns nun mit einem Fall konfrontiert, in dem der Begriff seinem Inhalt auf unbestimmte Weise folgen kann und dabei stets eine selbst unbestimmte Pluralität von Objekten subsumiert. Auch hier ist der Begriff für verschiedene Objekte das Selbe, auf unbestimmte Weise derselbe. Wir müssen dann die Existenz nicht-begrifflicher Differenzen zwischen diesen Objekten anerkennen. Am deutlichsten kennzeichnete Kant die Korrelation zwischen Begriffen mit einer bloß unbestimmten Spezifikation und nicht-begrifflichen, rein raum-zeitlichen oder gegensätzlichen Bestimmungen (Paradox der symmetrischen Objekte)! Gerade diese Bestimmungen aber sind nur die Figuren der Wiederholung: Raum und Zeit sind selbst Medien der Wiederholung; und der reale Gegensatz ist nicht ein Maximum an Differenz, sondern ein Minimum an Wiederholung, eine auf zwei reduzierte Wiederholung, Wiederkehr und Echo ihrer selbst, eine Wiederholung, die das Mittel zu ihrer eigenen Definition gefunden hat, Die Wiederholung erscheint folglich als die begrifflose Differenz, die sich der unbestimmt kontinuierlichen begrifflichen Differenz entzieht. Sie drückt eine spezifische Macht des Existierenden aus, eine Hartnäckigkeit des Existierenden in der Anschauung, die jeder Spezifikation durch den Begriff widersteht, so weit man diese auch treiben mag. So weit man im Begriff auch voranschreiten mag, sagt Kant, man wird immer wiederholen, d. h. ihm mehrere Objekte 8 Bei Kant gibt es zwar eine unendliche Spezifikation des Begriffs; weil aber dieses Unendliche nur virtuell (unbestimmt) ist, kann man daraus kein Argument zugunableiten. - Im sten der Aufstellung eines Prinzips des Nichtzuunterscheidenden Gegenteil, Leibniz zufolge ist es von großer Wichtigkeit, daß der Inhalt des Begriffs eines (möglichen oder wirklichen) existierenden Dings aktualiter unendlich ist: Leibniz bekräftigt dies ganz klar in über die Freiheit (,,Gott sieht [. . .] nicht das Ende der Auflösung - denn ein solches Ende gibt es nicht”; in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. E.Cassirer u. A.Buchenau, Bd. 2, Leipzig 1924, S. 501). Wenn Leibniz das Wort ,,virtuell“ benutzt, um die Inhärenz des Prädikats im Fall der faktischen Wahrheiten zu charakterisieren (vgl. etwa Metaphysische Abhandlung, § 8, ebd.), so darf virtuell nun nicht als Gegenteil von aktuell, es muß vielmehr im Sinne von ,,eingehüllt”, ,,impliziert”, ,,eingedrückt” verstanden werden, was die Aktualität keineswegs ausschließt. Zwar beruft sich Leibniz im strengen Sinn auf den Begriff des Virtuellen, allerdings nur hinsichtlich einer Art notwendiger Wahrheiten (nichtreziproke Sätze); vgl. über die Freiheit.
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zuordnen können, zumindest -aber zwei, eines für die linke und eines für die rechte Seite, eines für das Mehr und eines für das Weniger, eines für das positive und eines für das Negative. Eine derartige Situation läßt sich besser begreifen, wenn man bedenkt, daß die Begriffe unbestimmten Inhalts die Begriffe der Natur sind. Als solche befin. den sie sich stets in etwas anderem: Sie sind nicht in der Natur, sondern im Geist, der diese betrachtet oder beobachtet und sie sich vorstellt [représente]. Darum sagt man, die Natur sei entfremdeter Begriff, entfremdeter Geist, sich selbst entgegengesetzt. Derartigen Begriffen entsprechen Objekte, die selber ohne Gedächtnis sind, d.h. ihre eigenen Momente nicht besitzen und in sich aufnehmen. Man fragt, warum die Natur wiederhole: weil sie partes extra partes, mens momentanea ist. Die Neuheit geht an den sich vorstellenden Geist über: Weil der Geist ein Gedächtnis besitzt oder Gewohnheiten annimmt, vermag er Begriffe überhaupt zu bilden und der von ihm betrachteten Wiederholung etwas Neues abzugewinnen, etwas Neues zu entlocken. Die Begriffe mit endlichem Inhalt sind die Nominalbegriffe; die Begriffe mit unbestimmtem Inhalt, aber ohne Gedächtnis, sind die Begriffe der Natur. Nun sind mit diesen beiden Fällen die Beispiele natürlicher Blockierung noch nicht erschöpft. Gegeben sei eine individuelle Notion oder eine besondere Vorstellung [représentation] mit unendlichem Inhalt, die zwar Gedächtnis, aber kein Selbstbewußtsein besitzt. Die begriffliche Vorstellung ist zwar an sich, die Erinnerung ist vorhanden und umfaßt die ganze Besonderheit eines Akts, einer Szene, eines Ereignisses, eines Seins. Aus einem bestimmten naturlichen Grund fehlt aber das Fürsich des Bewußtseins, die Rekognition. Es fehlt dem Gedächtnis das Erinnern, oder besser die Durcharbeitung. Zwischen der Vorstell ung und dem Ego’ errichtet das Bewußtsein eine Beziehung, die wesentlich tiefer reicht als diejenige, die im Ausdruck ,,ich habe eine Vorstelung“ erscheint; es bezieht die Vorstellung auf das Ego wie auf ein freies Vermögen, das sich in keines seiner Produkte einschließen läßt, für das aber jedes Produkt bereits als vergangen gedacht und wiedererkannt ist, Anlaß einer im inneren Sinn bestimmten Veränderung. Wenn das Bewußtsein des Wissens oder die Durcharbeitung der Erinnerung fehlt, so ist das Wissen als Wissen an sich nurmehr die Wiederholung seines Objekts: Es wird gespielt, d. h. wiederholt, agiert anstatt erkannt. Die Wiederholung erscheint hier als das Unbewußte des freien Begriffs, des Wissens oder der Erinnerung, als das unbewußte der Vorstellung. Freud war es, der den natürlichen Grund einer derartigen Blockierung festgemacht hat: die Verdrängung, der Widerstand, der aus der Wiederholung sogar eine regelrechte ,,Nötigung”, einen ,,Zwang“ macht, Hier liegt also ein dritter Fall von Blockierung vor, der nun die
’ Frz. Je; die terminologische Unterscheidung zwischen einem aktiven Ego [/e/ und einem passiven Ich (moi/ wird im Folgenden - wenn nicht anders angegeben ‘? beibehalten [A.d.Ü.].
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Begriffe der Freiheit betrifft. Und aus der Perspektive eines gewissen Freudianismus läßt sich auch hier das Prinzip der indirekten Proportion zwischen Wiederholung und Bewußtsein, Wiederholung und Erinnern, Wiederholung und Rekognition herausstellen (Paradox der ,,Grabstätte“ oder vergrabenen Objekte): Man wiederholt seine Vergangenheit um so mehr, je weniger man sich wieder an sie erinnert, je weniger bewußt man sich seines Erinnerns ist erinnert euch, arbeitet die Erinnerung durch, um nicht zu wiederholen”. Das Selbstbewußtsein in der Rekognition erscheint als Vermögen der Zukunft oder Funktion des Zukünftigen, als Funktion des Neuen. Stimmt es denn nicht, daß einzig diejenigen Toten wiederkehren, die man zu schnell und allzu tief begraben hat, ohne ihnen die nötige Schuldigkeit zu zollen, und daß das Schuldgefühl weniger von einem Übermaß an Gedächtnis als von einer Ohnmacht oder einem Versagen in der Durcharbeitung einer Erinnerung zeugt? Es gibt eine Tragik und eine Komik der Wiederholung. Die Wiederholung erscheint sogar immer doppelt, einmal im tragischen Geschick, das andere Mal im komischen Charakter. Im Theater wiederholt der Held, eben weil er von einem unendlichen wesentlichen Wissen abgeschnitten ist. Dieses Wissen liegt in ihm, ist in ihn eingesenkt, wirkt in ihm, wirkt aber als ein Verborgenes, als blockierte Vorstellung. Der Unterschied zwischen dem Komischen und dem Tragischen beruht auf zwei Elementen: auf der Natur des verdrängten Wissens, das bald unmittelbares natürliches Wissen, bloße Gegebenheit des Gemeinsinns, bald schreckliches esoterisches Wissen ist; und folglich auch auf der Art und Weise, wie die Figur davon ausgeschlossen ist und ,,nicht weiß, daß sie weiß”. Das praktische Problem überhaupt besteht in Folgendem: Dieses ungewußte Wissen muß als eines vorgestellt werden, das die ganze Bühne überflutet, alle Elemente des Stücks durchtränkt, alle Mächte der Natur und des Geistes in sich einschließt; zugleich aber darf es der Held nicht sich selbst vorstellen, er muß es vielmehr agieren, spielen, wiederholen. Bis hin zu jenem kritischen Augenblick, den Aristoteles ,,Wiedererkennung“ nannte, an dem Wiederholung und Vorstellung einander verschränken, miteinander ringen, ohne jedoch ihre beiden Ebenen zu vermischen, wobei sich die eine in der anderen reflektiert, von ihr zehrt, und das Wissen nun als dasselbe wiedererkannt wird, sofern es auf der Bühne vorgestellt und vom Schauspieler wiederholt wird.
l” Si g mund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: Gesammelte Werke, London 1940ff., Bd. 10, S. 126-136. - Diesem Weg einer negativen Interpretation der psychischen Wiederholung (man wiederholt, weil man sich täuscht, weil man die Erinnerung nicht durcharbeitet, weil man sich nicht bewußt ist, weil man keine Triebe hat) ist Ferdinand Alquie wie kein anderer und mit unvergleichlicher Strenge gefolgt: L.e dksir d’kternitk, Paris 1943, Kap. 2-4.
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Das Diskrete, das Entfremdete, das Verdrängte sind die drei Fälle von natürlicher Blockierung, die den Nominalbegriffen, den Naturbegriffen und den Freiheitsbegriffen entsprechen. In all diesen Fällen aber beruft man sich auf die Form des Identischen im Begriff, auf die Form des Selben in der Repräsentation, um der Wiederholung gerecht zu werden: Die Wiederholung wird von Elementen ausgesagt, die wirklich unterschieden sind und dennoch strikt denselben Begriff besitzen. Die Wiederholung erscheint folglich als Differenz, aber als absolut begrifflose und in diesem Sinne indifferente Differenz. Die Wörter ,,wirklich“, ,,strikt“, ,, absolut“ sollen hier auf das Phänomen der natürlichen Blockierung verweisen, im Gegensatz zur logischen Blockierung, die -- - nur eine Allgemeinheit bestimmt. Dieser ganze Versuch wird jedoch durch einen großen Nachteil gefährdet. Solange wir-uns auf die absolute Identität des Begriffs für verschiedene Objekte berufen, legen wir nur eine negative und defiziente Erklärung nahe. Dabei bleibt es sich-gleich, ob dieser Mangel in der jeweiligen Natur des Begriffs oder der Repräsentation selber begründet ist. Im ersten Fall gibt es Wiederholung, weil der Nominalbegriff von Natur aus einen endlichen Inhalt besitzt. Im zweiten Fall gibt es Wiederholung, weil der Naturbegriff von Natur aus ohne Gedächtnis, entfremdet, außer sich ist. Im dritten Fall, weil der Freiheitsbegriff unbewußt, die Erinnerung und die Vorstellung verdrängt bleiben. In all diesen Fällen wiederholt dasjenige, was wiederholt, nur dadurch, daß es nicht ,,begreift“, sich nicht erinnert, nicht w e i ß oder kein Bewußtsein besitzt. Überall ist es die Unzulänglichkeit des Begriffs und seiner repräsentativen Begleitmomente (Gedächtnis und Selbstbewußtsein, Erinnern und Rekognition), die für die Wiederholung verantwortlich sein soll. Darin liegt folglich der Mangel jedes Arguments, das sich auf die Identitätsform im Begriff gründet: Diese Argumente liefern uns nur eine nominale Definition und eine negative Explikation der Wiederholung. Sicher läßt sich die formale Identität, die der bloßen logischen Blockierung entspricht, der realen Identität (dem Selben) gegenüberstellen, wie sie in der natürlichen Blockierung erscheint. Aber die natürliche Blockierung bedarf selbst einer überbegrifflichen positiven Kraft, die sie und mit ihr zusammen die Wiederholung zu explizieren vermag. Kommen wir auf das Beispiel der Psychoanalyse zurück: Man wiederholt, weil man verdrängt . . . Freud hat sich niemals mit einem solchen negativen Schema zufriedengegeben, in dem man die Wiederholung durch Amnesie erklärt. Freilich bezeichnet die Verdrängung von Anfang an eine positive Macht. Aber diese Positivität entlehnt sie dem Lustprinzip oder dem Realitätsprinzip: eine bloß abgeleitete und über den Gegensatz bestimmte Positivität. Die große Wende der Freudschen Theorie erscheint in Jenseits des Lustprinzips: Der Todestrieb wird nicht in Zusammenhang mit den destruktiven Tendenzen, nicht in Zusammenhang mit der Aggressivität entdeckt, sondern auf Grund einer direkten Berücksichtigung der Wiederholungsphänomene. Seltsamerweise wird der Todestrieb als ursprüngliches positives Prinzip für die Wiederholung namhaft gemacht, hierin liegt sein Gebiet und sein Sinn. Er
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spielt die Rolle eines transzendentalen Prinzips, während das Lustprinzip nur psychologischer Natur ist. Darum ist er vor allem verschwiegen (nicht in der Erfahrung gegeben), während das Lustprinzip Lärm um sich macht. Die erste Frage müßte also lauten: Wie kann das Thema des Todes, das doch das Negativste im psychologischen Leben zusammenzufassen scheint, an sich zum Positivsten, transzendental Positiven werden, und zwar derart, daß es die Wiederholung bejaht? Wie kann es auf einen ursprünglichen Trieb bezogen werden? Aber eine zweite Frage fällt unmittelbar mit dieser zusammen. In welcher Form wird die Wiederholung durch den Todestrieb bejaht und vorgeschrieben? In der tiefsten Schicht handelt es sich um das Verhältnis zwischen der Wiederholung und den Verkleidungen. Verdecken die Verkleidungen in der Traumarbeit oder Symptombildung - die Verdichtung, die Verschiebung, die Dramatisierung - eine rohe und nackte Wiederholung (als Wiederholung des Selben), indem sie sie abschwächen? Schon in der ersten Theorie der Verdrängung wies Freud einen anderen Weg: Dora leistet eine Durcharbeitung ihrer eigenen Rolle und wiederholt ihre Liebe zum Vater nur über andere Rollen, die von anderen besetzt werden, und die sie selbst im Verhältnis zu diesen anderen einnimmt (K., Frau K., die Gouvernante . . .). Die Verkleidungen und Varianten, die Masken oder Travestien werden nicht ,,darüber“ gestülpt, sondern sind im Gegenteil die inneren genetischen Elemente der Wiederholung selbst, ihre integrierenden und konstitutiven Bestandteile. Dieser Weg hätte die Analyse des Unbewußten zu einem wahrhaften Theater hinführen können. Wenn er jedoch nicht ans Ziel gelangt, so liegt dies darin, daß Freud nicht umhin kann, das Modell einer rohen Wiederholung wenigstens tendenziell aufrechtzuerhalten. Man sieht das deutlich, wenn er die Fixierung dem Es zuschreibt; die Verkleidung wird nun aus der Perspektive eines bloßen Kräftegegensatzes begriffen, die verkleidete Wiederholung ist nurmehr die Frucht eines sekundären Kompromisses zwischen den entgegengesetzten Kräften des Ich und des Es. Selbst im Jenseits des Lustprinzips bleibt die Form einer nackten Wiederholung erhalten, da Freud den Todestrieb als eine Tendenz zur Rückkehr in den Zustand unbelebter Materie interpretiert, die am Modell einer gänzlich physischen oder materiellen Wiederholung festhält. Der Tod hat nichts mit einem materiellen Modell zu tun. Es genügt, wenn man demgegenüber den Todestrieb in seinem spirituellen Verhältnis zu den Masken und Travestien begreift. Tatsächlich ist die Wiederholung das, was sich verkleidet, indem es sich konstituiert, und sich nur insofern konstituiert, als es sich verkleidet. Sie liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen, wie von einem ausgezeichneten Punkt zu einem anderen, von einem privilegierten Augenblick zu einem anderen, mit und in den Varianten. Die Masken verdecken nichts, nur andere Masken. Es gibt keinen ersten Term, der wiederholt würde; und noch unsere Kinderliebe zur Mutter wiederholt andere Lieben, die wir als Erwachsene für andere Frauen empfinden, ein wenig wie der Held der Recherche mit seiner Mutter Swanns
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Leidenschaft für Odette nachspielt. Es gibt also nichts Wiederholtes, das von d e r Wiederholung isoliert oder abstrahiert werden könnte, in der es sich bildet, aber auch verbirgt. Es gibt keine nackte Wiederholung, die von der Verkleidung selbst abstrahiert oder erschlossen werden könnte. Dasselbe Ding verkleidet und ist verkleidet. Es war ein entscheidender Moment in der Psychoanalyse, als Freud in gewissen Punkten auf die Hypothese realer Kindheitsereignisse als letzter verkleideter Terme verzichtete, um sie durch die Macht der Phantasie zu ersetzen, die in den Todestrieb eintaucht, wo alles schon Maske und noch Verkleidung ist. Kurz, die Wiederholung ist in ihrem Wesen symbolisch, das Symbol, das Trugbild ist der Buchstabe der Wiederholung selbst. Kraft der Verkleidung und der Ordnung des Symbols ist die Differenz in der Wiederholung enthalten. Darum werden die Varianten nicht von Außen aufgepfropft, drücken sie keinen sekundären Kompromiß zwischen einer verdrängenden und einer verdrängten Instanz aus und dürfen nicht von den noch negativen Formen des Gegensatzes, der Umwendung oder der Verkehrung aus begriffen werden. Die Varianten drücken eher differentielle Mechanismen aus, die zum Wesen und zur Genese dessen gehören, was sich wiederholt. Man müßte selbst die Verhältnisse zwischen dem ,,Nackten“ und dem ,,Bekleideten“ in der Wiederholung verkehren. Gegeben sei eine nackte Wiederholung (als Wiederholung des Selben), etwa ein zwangsneurotisches Zeremoniell oder eine schizophrene Stereotypie: Das Mechanische an der Wiederholung, das offensichtlich wiederholte Handlungselement dient als Decke einer tieferliegenden Wiederholung, die sich in einer anderen Dimension, in einer geheimen Vertikalität abspielt, in der die Masken und Rollen vom Todestrieb gespeist werden. Theater des Schreckens, sagte Binswanger hinsichtlich der Schizophrenie. Und das ,,nie Gesehene“ [jamais vu] ist hier nicht das Gegenteil des-,,De+-vü, beide meinen dasselbe und werden jeweils im anderen erlebt. Nervals .Sylvie führte uns bereits in dieses Theater, und Gradiva zeigt uns, mit einer großen gedanklichen Nähe zu Nerval, den Helden, wie er die Wiederholung als solche und zugleich das erlebt, was sich als stets Verkleidetes in der Wiederholung wiederholt. In der Analyse der Zwangsneurose taucht das Thema des Todes in dem Augenblick auf,‘an dem der Zwangsneurotiker über alle Figuren seines Dramas verfügt und sie in einer Wiederholung vereint, für die das ,,Zeremoniell” nur die äußere Umhüllung darstellt. Überall ist die Maske, die Travestie, das Bekleidete die Wahrheit des Nackten. Die Maske ist das wahre Subjekt der Wiederholung. Weil die Wiederholung ihrer Natur nach von der Vorstellung abweicht, kann das Wiederholte nicht vorgestellt werden, sondern muß immer bedeutet werden, maskiert mit dem, wodurch es bedeutet wird, und selbst Maske dessen, was es bedeutet. Ich wiederhole nicht, weil ich verdränge. Ich verdränge, weil ich wiederhole, ich vergesse weil ich wiederhole. Ich verdränge, weil ich zunächst manche Dinge oder ‘manche Erfahrungen nur im Modus der Wiederholung erleben kann. Ich bin zur Verdrängung dessen bestimmt, was mich daran hindern
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würde, sie so zu erleben: d. h. der Vorstellung, die das Erlebte vermittelt, indem sie es auf die Form eines identischen oder ähnlichen Objekts bezieht. Eros und Thanatos unterscheiden sich darin, daß Eros wiederholt werden muß und nur in der Wiederholung erlebt werden kann, daß Thanatos (als transzendentales Prinzip) aber Eros zur Wiederholung veranlaßt und ihn der Wiederholung unterwirft. Nur ein derartiger Standpunkt kann uns in den ungeklärten Problemen des Ursprungs der Verdrängung, ihrer Natur, ihren Ursachen und der genauen Terme, auf die sie sich bezieht, voranbringen. Wenn nämlich Freud jenseits der ,,eigentlichen“ Verdrängung, die sich auf Vorstellungen [représentations] bezieht, die Notwendigkeit zur Annahme einer Urverdrängung aufzeigt, die zunächst reine Darstellungen [présentations] oder die Art betrifft, wie die Triebe notwendigerweise erlebt werden, so glauben wir, daß er damit einem inneren positiven Grund der Wiederholung am nächsten kommt, der ihm später im Todestrieb bestimmbar erscheinen wird und die Blockierung der Vorstellung in der eigentlichen Verdrängung erklären soll - und keineswegs durch diese erklärt wird. Darum ist das Gesetz einer indirekten Proportion Wiederholung/Erinnern in jeder Hinsicht wenig befriedigend, soweit es die Wiederholung von der Verdrängung abhängig macht. Von Anfang an betonte Freud, daß es zur Unterbrechung der Wiederholung nicht genügte, sich abstrakt (ohne Affekt) zu erinnern oder einen Begriff überhaupt zu bilden oder sich das verdrängte Ereignis in seiner ganzen Besonderheit vorzustellen: Man mußte vielmehr die Erinnerung an ihrer ursprünglichen Stelle aufsuchen, sich sofort in der Vergangenheit einrichten, um die lebendige Verbindung zwischen Wissen und Widerstand, Vorstellung und Blockierung herzustellen. Man kuriert also nicht durch bloße Mnesie, wie man auch nicht an Amnesie erkrankt. Hier wie anderswo hat die Bewußtwerdung nicht viel zu bedeuten. Das ungleich theatralischere und dramatischere Verfahren, durch das man geheilt und auch nicht geheilt wird, hat einen Namen: die Übertragung. Nun ist die Übertragung noch Wiederholung, vor allem Wiederholung”. Wenn uns die Wiederholung krank macht, so werden wir gerade durch sie auch kuriert; wenn sie uns fesselt und zerstört, so werden wir gerade durch sie wiederum befreit, wobei sie in beiden Fällen ihre ,,dämoni11 Freud beruft sich gerade auf die Übertragung, um sein pauschales Gesetz der indirekten Proportion in Frage zu stellen. Vgl. Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 17: Erinnerung und Reproduktion, Erinnern und Wiederholung stehen einander prinzipiell entgegen, in der Praxis aber muß man sich damit abfinden, daß der Kranke in der Kur gewisse verdrängte Elemente von Neuem durchlebt: ,,Das Verhältnis, das sich zwischen Erinnerung und Reproduktion herstellt, ist für jeden Fall ein anderes.“ - Am nachdrücklichsten insistierten Ferenczi und Rank auf den therapeutischen und befreienden Aspekt der Wiederholung, wie er in der Übertragung erscheint: Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Wien 1924.
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sche“ Macht bezeugt. Die Kur insgesamt . ist eine Reise zum Grund der Wiederholung. ES . besteht zwar in der Übertragung eine gewisse Analogie z u m wissenschaftlichen Experimentieren, da ja der Kranke die Gesamtheit seiner Störung unter idealen künstlichen Bedingungen wiederholen soll, indem er die person des Analytikers zum ,,Objekt“ nimmt. Aber die Wiederholung hat in der Übertragung weniger die Funktion, Ereignisse, Personen und Leidenschaften zu identifizieren, als die Echtheit von Rolle zu erweisen und Masken auszuwählen. Die Übertragung ist kein Experiment, sondern ein Prinzip, das die analytische Erfahrung insgesamt begründet Die Rollen selbst sind von Natur aus erotisch, die Prüfung der R ollen aber appelliert an jenes höhere Prinzip, an jenen profunderen Richter - den Todestrieb. Tatsächlich war die Reflexion über die Übertragung ein bestimmendes Motiv der Entdekkung eines ,,Jenseits“. In diesem Sinne konstituiert die Wiederholung aus sich selbst heraus das selektive Spiel unserer Krankheit und unserer Gesundheit, unseres Verderbens und unseres Heils. Wie läßt sich dieses Spiel auf den Todestrieb beziehen? Sicher in einem ähnlichen Sinn, wie es Miller in seinem wunderbaren Buch über Rimbaud sagt: ,,Ich begriff, daß ich frei war, daß mich der Tod, der mir widerfahren war, befreit hatte.“ Es wird deutlich, daß die Idee eines Todestriebs in Abhängigkeit von drei komplementären paradoxalen Forderungen begriffen werden muß: der Wiederholung ein positives ursprüngliches Prinzip, aber auch eine autonome Verkleidungsmacht und schließlich einen immanenten Sinn zu verleihen, in dem sich der Schrecken innig mit der Bewegung der Selektion und der Freiheit vermengt.
Unser Problem betrifft das Wesen der Wiederholung. Es handelt sich um die Frage, warum sich die Wiederholung nicht durch die Identitätsform im Begriff oder in der Repräsentation erklären läßt - in welchem Sinne sie ein höheres ,,positives” Prinzip verlangt. Diese Frage muß sich auf die Gesamtheit der Natur- und Freiheitsbegriffe beziehen. Betrachten wir, an der Grenze zwischen beiden Fällen, die Wiederholung eines Schmuckmotivs: Eine Figur wird unter einem absolut identischen Begriff reproduziert . . . In Wirklichkeit aber verfahrt der Künstler nicht auf diese Weise. Er reiht nicht Exemplare der Figur aneinander, er kombiniert vielmehr jedesmal ein Element eines Exemplars mit einem anderen Element eines folgenden Exemplars. In den dynamischen Konstruktionsprozeß fuhrt er ein Ungleichgewicht, eine Instabilität, eine Asymmetrie, eine Art Aufklaffen ein, die nur in der Gesamtwirkung gebannt sein werden. Im Kommentar zu einem derartigen Fall schreibt Levi-Strauss: ,,Diese Elemente verzahnen sich ineinander, und erst am Ende gewinnt die gesamte Figur eine Stabilität , die den dynamischen Prozeß ihrer Entstehung sowohl bestätigt wie verleugnet‘c12. Diese Bemerkungen gelten für den Kaul2 Claude Lévi-St rauss: Tristes Tropiques, Paris 1955, S. 197-199 (dt.: Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978, s. 181-183).
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salitätsbegriff allgemein. Denn in der künstlerischen oder natürlichen Kausalität zählen nicht die vorhandenen Symmetrieelemente, sondern diejenigen Elemente, die fehlen und nicht in der Ursache liegen - die Möglichkeit, daß die Ursache weniger symmetrisch als die Wirkung ist. Und mehr noch, die Kausalität bliebe auf ewig hypothetisch, eine bloße logische Kategorie, wenn diese Möglichkeit nicht zu einem beliebigen Augenblick wirklich eingelöst würde. Darum läßt sich das logische Kausalitätsverhältnis nicht von einem physikalischen Prozeß der Signalisierung trennen, ohne den es nicht aktiv würde. ,,Signal“ nennen wir ein System, das asymetrische Elemente und Ordnungen disparater Größen enthält; ,,Zeichen“ nennen wir, was in einem derartigen System geschieht, was im Intervall aufblitzt, etwa eine Kommunikation, die sich zwischen den Disparata herstellt. Das Zeichen ist zwar eine Wirkung, aber die Wirkung besitzt zwei Aspekte, einen, mit dem sie als Zeichen die produktive Asymmetrie ausdrückt, einen anderen, durch den sie sie aufzuheben versucht. Das Zeichen entspricht nicht völlig der Ordnung des Symbols; es bereitet sie jedoch vor, indem es eine innere Differenz impliziert (aber die Bedingungen seiner Reproduktion noch außerhalb hält). Der negative Ausdruck ,,Mangel an Symmetrie“ darf uns nicht irreführen: Er bezeichnet den Ursprung und die Positivität des Kausalprozesses. Er ist die Positivität selbst. Das Wesentliche, wie es uns durch das Beispiel des Schmuckmotivs nahegelegt wird, liegt für uns in der Zergliederung der Kausalität, um in ihr zwei Wiederholungstypen zu unterscheiden, einen, der nur die abstrakte Gesamtwirkung betrifft, und andererseits die Wirkursache. Die eine Wiederholung ist statisch, die andere dynamisch. Die eine resultiert aus dem Werk, die andere aber ist gleichsam die ,,Evolution“ der Geste. Die eine verweist auf einen und denselben Begriff, der nur eine äußere Differenz zwischen den gewöhnlichen Exemplaren einer Figur fortbestehen läßt; die andere ist Wiederholung einer inneren Differenz, die sie in jedem ihrer Momente umschließt und von einem ausgezeichneten Punkt zum anderen transportiert. Man kann versuchen, diese Wiederholungen gleichzusetzen, indem man behauptet, daß sich vom ersten zum zweiten Typ nur der Begriffsinhalt geändert habe oder daß sich die Figur anders zusammenfüge. Aber dies wäre eine Verkennung der jeweiligen Ordnung jeder Wiederholung. Denn in der dynamischen Ordnung gibt es weder repräsentativen Begriff noch Figur, die in einem vorgängigen Raum repräsentiert würde. Es gibt nur eine Idee und eine reine schöpferische Dynamik des korrespondierenden Raums. Die Studien zum Rhythmus oder zur Symmetrie bestätigen diese Dualität. Man unterscheidet eine arithmetische Symmetrie, die auf eine Skala von ganzzahligen oder gebrochenen Koeffizienten verweist, und eine geometrische Symmetrie, die auf irrationalen Proportionen oder Verhältnissen beruht; eine statische Symmetrie kubischen oder hexagonalen Typs, und eine dynamische Symmetrie pentagonalen Typs, die sich in einem spiralförmigen Verlauf oder in einer Frequenz mit geometrischer Progression niederschlägt, kurz in einer lebendigen und tödlichen ,,Evolution“. Nun befindet sich der zweite Typ im
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Herzen des ersten, er ist. dessen Herz, dessen aktiver, positiver Prozeß. In einem Netz deckungsgleicher Quadrate entdeckt man strahlenförmige Verläufe, deren asymmetrischer Pol im Zentrum eines Fünfecks oder eines Pentagramms liegt. Das Netz ist wie ein Gewebe über ein Gerüst gebreitet, ,,aber der Schnitt, der Grundrhythmus dieses Gerüsts ist fast immer ein von diesem Netz unabhängiges Thema“: so das asymmetrische Element, das zugleich als Prinzip der Genese und der Reflexion für ein symmetrisches Ensemble dient 13. Die statische Wiederholung im Netz deckungsgleicher Quadrate verweist also auf eine dynamische Wiederholung, die durch ein Fünfeck und ,,die abnehmende Reihe der Pentagramme, die darin von Natur aus eingeschrieben sind ILL, gebildet wird. Ebenso legt uns die Rhythmuslehre eine unmittelbare Unterscheidung zwischen zwei Typen von Wiederholung nahe. Die metrische Wiederholung ist eine regelmäßige Zeiteinteilung, eine isochrone Wiederkehr identischer Elemente. Eine Dauer aber existiert nur dann, wenn sie durch einen betonten Akzent bestimmt, von Intensitäten gesteuert wird. Man würde sich über die Funktion der Akzente täuschen, wenn man behauptete, sie reproduzierten sich in gleichen Intervallen. Die betonten und intensiven Werte wirken im Gegenteil durch die Erzeugung von Ungleichheiten, Inkommensurabilitäten in metrisch gleichen Dauern oder Räumen. Sie schaffen ausgezeichnete Punkte, privilegierte Augenblicke, die stets eine Polyrhythmie kennzeichnen. Auch hier ist das Ungleiche das Positivste. Das Metrum ist nur die Hülle eines Rhythmus und eines Verhältnisses von Rhythmen. Die Reprise von Ungleichheitspunkten, Extrempunkten und rhythmischen Ereignissen reicht tiefer als die Reproduktion homogener gewöhnlicher Elemente; so daß wir überall die metrische Wiederholung und die rhythmische Wiederholung auseinanderhalten müssen, wobei die erste nur die Erscheinung oder die abstrakte Wirkung der zweiten ist. Eine materielle und nackte Wiederholung (als Wiederholung des Selben) erscheint nur insofern, als sich eine andere Wiederholung in ihr verkleidet, sie konstituiert und sich selbst konstituiert, indem sie sich verkleidet. Selbst in der Natur sind die isochronen Rotationen nur die Erscheinung einer tieferliegenden Bewegung, sind die Umlaufzyklen nur abstrakt; im Verhältnis zueinander offenbaren sie evolutive Zyklen, Spiralen mit variablem Krümmungsgrad, deren Trajektorie zwei asymmetrische Aspekte wie die linke und die rechte Seite besitzt. Die Geschöpfe entspinnen ihre Wiederholung stets in dieser Kluft, die nicht mit dem Negativen zusammenfällt, und erhalten zugleich damit die Gabe des Lebens und des Todes. Kommen wir nun zu den Nominalbegriffen zurück. Wird die Wiederholung des Worts durch die Identität des Nominalbegriffs erklärt? Gegeben sei das Beispiel des Reims: Er ist zwar verbale Wiederholung, eine Wiederholung aber, die die Differenz zwischen zwei Wörtern umfaßt und sie ins Innere einer poetischen Idee einschreibt > in einen Raum , den er bestimmt. Daher liegt sein Matila Ghyka: Le nombre d’or, Paris 1931, Bd, 1, S. 65.
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Sinn auch nicht in der Kennzeichnung gleicher Intervalle, sondern eher - wie man es an einer Gestaltung des starken Reims sieht - darin, daß er die Klangwerte in den Dienst des betonten Rhythmus stellt und die Unabhängigkeit der betonten Rhythmen gegenüber den arithmetischen Rhythmen unterstützt. Die Wiederholung ein und desselben Worts nun müssen wir als ,,verallgemeinerten Reim” begreifen; und nicht den Reim als reduzierte Wiederholung. Zwei Verfahren prägen diese Verallgemeinerung: Entweder garantiert ein Wort mit zweierlei Bedeutung [sens] eine paradoxe Ähnlichkeit oder Identität zwischen diesen beiden Bedeutungen. Oder es übt - mit nur einer Bedeutung - eine Anziehungskraft auf die benachbarten Wörter aus und überträgt auf sie eine außerordentliche Gravitation, bis eines dieser angrenzenden Wörter die Nachfolge antritt und seinerseits zum Wiederholungszentrum wird. Raymond Roussel und Charles Péguy waren die großen ,Repetitoren’ der Literatur; sie vermochten die pathologische Macht der Sprache auf ein überlegenes künstlerisches Niveau zu heben. Roussel geht von Wörtern mit zwei Bedeutungen oder Homonymen aus und überbrückt den ganzen Abstand zwischen diesen Bedeutungen durch eine Geschichte und durch Objekte, die selbst zweigeteilt sind und zweimal dargestellt werden; er triumphiert damit über die Homonymie auf deren eigenem Terrain und schreibt das Maximum an Differenz in die Wiederholung wie in den offenen Raum im Innern des Worts ein. Dieser Raum wird von Roussel zudem als Raum der Masken und des Todes dargestellt, wo zugleich eine fesselnde und eine rettende Wiederholung entstehen - eine rettende Wiederholung, die zuallererst vor der fesselnden rettet. Roussel erschafft eine After-Sprache, in der einst, nachdem alles gesagt worden ist, alles sich wiederholt und von Neuem beginnt14. Ganz anders die Technik Péguys: Sie setzt die Wiederholung nicht an die Stelle der Homonymie, sondern der Synonymie; sie betrifft das, was die Linguisten Kontiguitätsfunktion nennen, und nicht mehr die Funktion der Similarität; sie bildet eine Vor-Sprache, eine Sprache der Frühe, in der man mit kleinen Differenzen allmählich den Innenraum der Wörter erzeugt. Dieses Mal münI l4 Zum Verhältnis der Wiederholung zur Sprache, aber auch zu den Masken und zum Tod im Werk Raymond Roussels vgl. das schöne Buch Michel Foucaults, Raymond Roussel, Paris 1963 (dt.: Frankfurt/M. 1989): ,,Die Wiederholung und die Differenz ; sind so gut ineinander verschachtelt und ergänzen sich mit einer solchen Genauigkeit, daß man nicht zu sagen vermag, was zuerst kommt [. . .]“ (S. 35-37; dt.: X--3?). ,,Weit davon entfernt, eine Sprache zu sein, die einen Neubeginn anstrebt, handelt es sich dabei um die zweite Gestalt von bereits gesprochenen Worten: Es geht um die übliche Sprache, die durch die Destruktion und den Tod bearbeitet wurde. [. . .] Von Natur aus ist sie wiederholend. [. . .] [N]icht die laterale Wiederholung der Dinge, die man nachspricht; sondern jene radikale, die über die Nicht-Sprache hinausgegangen ist und dieser überschrittenen Leere ihren poetischen Status verdankt [. . .]“ (S. 61-63; dt: 56-59). - Eb enso wird man den Aufsatz Michel Butors über Roussel (in: Répertoire 1, Paris 1960; dt.: Repertoire 1, München 1961) heranziehen, der den doppelten Aspekt einer fesselnden und rettenden Wiederholung untersucht.
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det alles in das Problem der Frühverstorbenen und des Alters, aber auch hier, bei diesem Problem, in die unerhörte Möglichkeit, eine Wiederholung ZU bejahen, die vor der fesselnden rettet. Beide, Péguy und Roussel, treiben die Sprache an eine ihrer Grenzen (Similarität oder Selektion bei Roussel, das ,,distinktive Merkmal” zwischen billard und pillard; Kontiguität oder Kombi. nation bei Péguy, die berühmten Stickstiche). Alle beide ersetzen die horizontale Wiederholung, die Wiederholung gewöhnlicher Wörter, die man nachspricht, durch eine Wiederholung von ausgezeichneten Punkten, durch eine vertikale Wiederholung, über die man ins Innere der Wörter hinaufsteigt. Die defiziente, mangelhafte Wiederholung des Nominalbegriffs oder der Wortvorstellung durch eine positive, überschießende Wiederholung einer sprachlichen und stilistischen Idee. Auf welche Weise wird die Sprache durch den Tod inspiriert, der immer gegenwärtig ist, wenn die Wiederholung hervortritt? Die Reproduktion des Selben ist kein Beweggrund der Gesten. Bekanntlich enthält bereits die einfachste Nachahmung die Differenz zwischen Innen und Außen. Mehr noch, die Nachahmung übernimmt nur eine sekundäre regulative Rolle im Aufbau eines Verhaltens, sie ermöglicht eine Korrektur von sich vollziehenden Bewegungen, nicht deren Begründung. Der Lernprozeß ergibt sich nicht im Verhältnis zwischen Vorstellung und Handlung (als Reproduktion des Selben), sondern im Verhältnis zwischen Zeichen und Antwort (als Begegnung mit dem Anderen). Das Zeichen umfaßt Heterogenität zumindest in dreierlei Hinsicht: zunächst im Objekt, das es trägt oder aussendet und notwendig eine Ebenendifferenz aufweist, wie zwei disparate Größen- oder Realitätsordnungen, zwischen denen das Zeichen aufblitzt; andererseits an sich selbst, weil das Zeichen ein anderes ,,Objekt“ innerhalb der Grenzen des Trägerobjekts umhüllt und eine Macht der Natur oder des Geistes (Idee) verkörpert; schließlich in der Antwort, die es hervorruft, wobei die Bewegung der Antwort nicht der des Zeichens ,,ähnelt“. Die Bewegung des Schwimmers ähnelt nicht der Bewegung der Welle; und gerade die Bewegungen des Schwimmlehrers, die wir im Trockenen reproduzieren, sind nichtig im Verhältnis ZU den Bewegungen der Welle, die wir nur dadurch abzufangen lernen, daß wir sie in der Praxis als Zeichen auffassen. Darum ist es so schwierig anzugeben, wie jemand lernt: Es gibt eine praktische, angeborene oder erworbene Vertrautheit mit den Zeichen, die aus jeder Erziehung etwas Liebevolles, aber auch Tödliches macht. Wir lernen nichts von dem, der uns sagt: Mache es wie ich. Unsere Lehrer sind einzig diejenigen, die sagen: ,,Mache es mit mir zusammen”, und die, anstatt uns bloß die Reproduktion von Gesten abzuverlangen, Zeichen auszusenden vermochten, die man im Heterogenen zu entfalten hat. Mit anderen Worten Es gibt keine Ideomotorik, sondern bloß Sensumotorik. Wenn der Körper seine ausgezeichneten Punkte mit denen der Welle vereinigt, S O knüpft er das Prinzip einer Wiederholung, die nicht mehr das Selbe betrifft, sondern das Andere umfaßt, die Differenz von einer Geste und einer Woge zur anderen umfaßt und diese Differenz in den so gebildeten repetitiven Raum hineinträgt . Lernen heißt also in der Tat, diesen Raum der
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Begegnung mit den Zeichen zu erstellen, wo sich die ausgezeichneten Punkte wechselseitig aufgreifen und die Wiederholung sich bildet, während sie sich zugleich verkleidet. Und immer gibt es Bilder des Todes im Lernprozeß, begünstigt durch die Heterogenität, die er entfaltet, an den Grenzen des von ihm erschaffenen Raums. In der Ferne verloren, ist das Zeichen tödlich; und ebenso, wenn es uns mit voller Gewalt trifft. Ödipus empfängt das Zeichen einmal aus allzugroßer Ferne, einmal aus zu großer Nähe; und dazwischen entspinnt sich die schreckliche Wiederholung des Verbrechens. Zarathustra empfängt sein ,,Zeichen“ einmal aus zu großer Nähe, einmal aus zu großer Ferne und erahnt erst am Ende die richtige Entfernung, die das, was ihn an der ewigen Wiederkunft krank macht, in eine befreiende, heilbringene Wiederholung verwandeln wird. Die Zeichen sind die wahren Elemente des Theaters. Sie zeugen von den Mächten der Natur und des Geistes, die unter den repräsentierten Wörtern, Gesten, Figuren und Objekten wirken. Sie bedeuten die Wiederholung als reale Bewegung, im Gegensatz zur Repräsentation als falscher Bewegung des Abstrakten. Wir können mit Recht von Wiederholung sprechen, wenn wir identischen Elementen mit absolut demselben Begriff gegenüberstehen. Von diesen diskreten Elementen, von diesen wiederholten Objekten müssen wir aber ein geheimes [secret] Subjekt unterscheiden, das sich über sie hinweg wiederholt, das wahre Subjekt der Wiederholung. Man muß die Wiederholung im pronominalen Sinn denken, das Selbst der Wiederholung finden, die Singularität in dem, was sich wiederholt. Denn es gibt keine Wiederholung ohne ein Wiederholendes, nichts Wiederholtes ohne wiederholende Seele. Eher noch als Wiederholtes und Wiederholendes, Objekt und Subjekt müssen wir schließlich zwei Formen von Wiederholung unterscheiden. In jedem Fall ist die Wiederholung die begrifflose Differenz. In einem Fall aber ist die Differenz bloß als dem, Begriff äußerliche gesetzt, als Differenz zwischen Objekten, die unter demselben Begriff repräsentiert werden, und fällt in die Indifferenz des Raums und der Zeit. Im anderen Fall ist die Wiederholung der Idee immanent; sie entfaltet sich als reine schöpferische Bewegung eines dynamischen Raums und einer dynamischen Zeit, die der Idee entsprechen. Die erste Wiederholung ist Wiederholung des Selben, die sich durch die Identität des Begriffs oder der Repräsentation expliziert; die zweite ist diejenige, die die Differenz umfaßt und sich selbst in der Andersheit der Idee, in der Heterogenität einer ,,Appräsentation“ umfaßt. Die eine ist negativ, aufgrund des Mangels des Begriffs, die andere affirmativ, aufgrund des Überschusses der Idee. Die eine ist hypothetisch, die andere kategorisch. Die eine ist statisch, die andere dynamisch. Die eine ist Wiederholung in der Wirkung, die andere in der Ursache. Die eine ist extensiv, die andere intensiv. Die eine gewöhnlich, die andere ausgezeichnet und singulär. Die eine horizontal, die andere vertikal. Die eine ist entfaltet, expliziert; die andere umhüllt und muß interpretiert werden. Die eine ist revolutiv, die andere evolutiv. Die eine besteht aus Gleichheit, Kommensurabilität, Symmetrie; die andere gründet sich auf das Ungleiche, Inkommensura-
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ble oder Asymmetrische. Die eine ist materiell, die andere spirituell, selbst in der Natur und in der Erde. Die eine ist unbelebt, die andere enthält das Geheimnis unserer Tode und Leben, unseres Gefangenseins und unserer Befreiungen, des Dämonischen und des Göttlichen. Die eine ist eine ,,nackte“ Wiederholung, die andere eine bekleidete Wiederholung, die sich selbst bildet, indem sie sich bekleidet, maskiert, verkleidet. Die eine besteht aus Exaktheit, die andere entspricht dem Kriterium der Echtheit. Die beiden Wiederholungen sind nicht unabhängig voneinander. Die eine ist das singuläre Subjekt, das Herz und die Interiorität der anderen, die Tiefe der anderen. Die andere ist bloß die äußere Hülle, die abstrakte Wirkung. Die asymmetrische Wiederholung verbirgt sich in den symmetrischen Zusammenhängen oder Wirkungen; eine Wiederholung von ausgezeichneten Punkten unter der Wiederholung von gewöhnlichen Punkten; und überall das Andere in der Wiederholung des Selben. Jene ist die geheime, die tiefste Wiederholung: Sie allein ergibt die ratio der anderen, den Grund für die Blockierung der Begriffe. Und auf diesem Gebiet, wie im Sartor Resartus15, sind es die Maske, das Verkleidete, die Travestie, die schließlich die Wahrheit des Nackten ausmachen. Und zwar notwendigerweise, da die Wiederholung nicht durch etwas anderes verdeckt wird, sondern sich bildet, indem sie sich verkleidet, ihren eigenen Verkleidungen nicht vorausgeht und - indem sie sich bildet - die nackte Wiederholung konstituiert, in die sie sich einhüllt. Die daraus resultierenden Folgen sind entscheidend. Wenn wir einer Wiederholung gegenüberstehen, die als maskierte voranschreitet oder Verschiebungen, Beschleunigungen , Verzögerungen , Varianten , Differenzen enthält, die uns im äußersten Fall weit vom Ausgangspunkt fortzuziehen vermögen, so neigen wir dazu, darin einen Mischzustand zu erkennen, in dem die Wiederholung nicht pur, sondern nur annäherungsweise gegeben ist: Selbst das Wort Wiederholung scheint uns dann nur symbolisch, metaphorisch oder analog verwendet zu sein. Freilich haben wir die Wiederholung streng als begrifflose Differenz definiert. Aber wir hätten Unrecht, sie auf eine Differenz zu reduzieren, die in die Exteriorität, in Gestalt des Selben im Begriff, zurückfällt, ohne zu bemerken, daß sie sich im Innern der Idee befinden und an sich selbst über alle Mittel des Zeichens, des Symbols und der Andersheit verfügen kann, die den Begriff als solchen überschreiten. Die oben angeführten Beispiele betrafen die verschiedensten Fälle, Nominalbegriffe, Naturbegriffe oder Freiheitsbegriffe; und man könnte uns vorwerfen, alle möglichen Arten von Wiederholungen, psychische und physische, durcheinandergeworfen zu haben; und noch auf psychischem Gebiet: nackte Wiederholungen vom Typ Stereotypie und latente und symbolische Wiederholungen. Das rührt daher, daß wir die Koexistenz dieser Instanzen in jeder repetitiven Struktur demonstrieren wollten, daß wir zeigen 15
Verweis auf
Opinions
die Kleidermotive in Thomas Carlyles Sartor Resartus. The Life and (1833/34) [A.d.UJ
of Herr Teufelsdröckh
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wollten, wie die manifeste Wiederholung identischer Elemente notwendig auf ein latentes Subjekt verwies, das sich selbst über diese Elemente hinweg wiederholte und dabei eine ,,andere“ Wiederholung im Herzen der ersten ausbildete. Diese andere Wiederholung, so werden wir behaupten, ist also keineswegs approximativ oder metaphorisch. Sie ist im Gegenteil der Geist jeder Wiederholung. Sie ist selbst der Buchstabe jeder Wiederholung, der sich schemenartig oder als konstitutive Chiffre abzeichnet. Sie ist es, die das Wesen der begrifflosen Differenz, der nicht vermittelten Differenz konstituiert und jede Wiederholung zusammensetzt. Sie ist der ursprüngliche, buchstäbliche und spirituelle Sinn der Wiederholung. Der materielle Sinn ergibt sich aus dem anderen, abgesondert [sécréte] wie eine Muschelschale. Wir haben mit der Unterscheidung zwischen Allgemeinheit und Wiederholung begonnen. Dann haben wir zwei Formen von Wiederholung unterschieden. Diese beiden Unterscheidungen greifen ineinander; die erste entfaltet ihre Folgen nur in der zweiten. Wenn wir uns nämlich damit begnügen, die Wiederholung unter Abzug ihrer Interiorität auf abstrakte Weise zu setzen, so bleibt es uns unbegreiflich, warum und wie ein Begriff auf natürliche Weise blockiert werden und eine Wiederholung erscheinen lassen kann, die nicht mit der Allgemeinheit verschmilzt. Wenn wir umgekehrt das buchstäbliche Innere der Wiederholung entdecken, so können wir damit nicht nur die äußere Wiederholung als Decke erfassen, sondern auch die Ordnung der Allgemeinheit einholen (und, dem Wunsch Kierkegaards folgend, die Versöhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen vollziehen). Denn in dem Maße, wie sich die innere Wiederholung durch eine nackte Wiederholung, die sie überdeckt, hindurch abzeichnet, erscheinen die in ihr enthaltenen Differenzen als entsprechend viele Faktoren, die sich der Wiederholung widersetzen, sie abschwächen und nach ,,allgemeinen” Gesetzen variieren lassen. Unter dem allgemeinen Wirken der Gesetze aber hält stets das Spiel der Singularitäten an. Die Allgemeinheiten von Zyklen in der Natur sind die Maske einer Singularität, die durch ihre Interferenzen hindurch aufscheint; und unter den Allgemeinheiten der Gewohnheit im moralischen Leben stoßen wir auf singuläre Lernprozesse. Das Gebiet der Gesetze muß zwar erfaßt werden, stets ausgehend aber von einer Natur und einem Geist, die über ihren eigenen Gesetzen stehen und ihre 1 Wiederholungen zunächst in den Tiefen der Erde und des Herzens entspinnen, dort, wo die Gesetze noch nicht existieren. Das Innere der Wiederholung wird immer von einer Differenzordnung affiziert; und in dem Maße, wie ein Ding auf eine Wiederholung einer von ihm verschiedenen Ordnung bezogen wird, erscheint die Wiederholung ihrerseits außerhalb und nackt und das Ding selbst den Kategorien der Allgemeinheit unterworfen. Die Nichtentsprechung von Differenz und Wiederholung begründet die Ordnung des Allgemeinen. In diesem Sinne legte Gabriel Tarde nahe, daß die Ähnlichkeit selbst nur eine verschobene Wiederholung sei: Die wahre Wiederholung entspricht direkt einer Differenz gleichen Grades. Und wie keinem anderen ist Tarde die Entwicklung einer neuen Dialektik gelungen, indem er in der Natur und im Geist
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das geheime Bestreben entdeckte, eine immer genauere Entsprechung schen Differenz und Wiederholung herzustellen?
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Solange wir die Differenz als begriffliche, als innerlich begriffliche Differenz und die Wiederholung als äußerliche Differenz zwischen Objekten setzen, die unter demselben Begriff repräsentiert werden, so scheint das Problem ihrer Beziehungen faktisch gelöst werden zu können. Ja oder nein, gibt es Wiederholungen? Oder ist jede Differenz in letzter Instanz innerlich und begrifflich? Hegel machte sich über Leibniz lustig, der die Hofdamen einlud, experimentelle Metaphysik auf Gartenspaziergängen zu betreiben, um festzustellen, daß zwei Baumblätter nicht denselben Begriff besitzen. Ersetzen wir die Hofdamen durch wissenschaftliche Polizisten: Es gibt keine zwei völlig identische Staubkörner, keine zwei Hände mit denselben ausgezeichneten Punkten, keine zwei Maschinen mit demselben Anschlag, keine zwei Revolver, die ihre Kugeln auf dieselbe Weise riffeln . . . Was aber läßt uns ahnen, daß das Problem nicht richtig gestellt ist, solange wir das Kriterium eines principium individuationis in den Fakten suchen? Das rührt daher, daß eine Diffferenz eine innere und doch unbegriffliche Differenz sein kann (wie es bereits der Sinn des Paradoxes symmetrischer Objekte ist). Ein dynamischer Raum muß vom Standpunkt eines mit diesem Raum verbundenen Beobachters aus definiert werden, nicht von einer Position außerhalb. Es gibt innere Differenzen, die eine Idee dramatisieren, bevor sie ein Objekt repräsentieren. Die Differenz befindet sich hier innerhalb einer Idee, obwohl sie außerhalb des Begriffs als Objektvorstellung liegt. Darum scheint sich der Gegensatz zwischen Kant und Leibniz in dem Maße abzuschwächen, wie man die dynamischen Faktoren berücksichtigt, die in beiden Lehren vorhanden sind. Wenn Kant in den
”
In Les Zoz~ & lJimitation (Paris 1890) zeigt Tarde, wie die Ähnlichkeit - etwa zwischen Arten unterschiedlichen Typs - auf die Identität des physischen Milieus verweist, d. h. auf einen Wiederholungsprozeß, der Elemente affiziert, die unterhalb
der betrachteten Formen liegen. - Die ganze Philosophie Tardes gründet - wie wir noch genauer sehen werden - auf den beiden Kategorien von Differenz und Wiederholung: Die Differenz ist zugleich der Ursprung und das Ziel der Wiederholung, und zwar in einer zunehmend ,,mächtigen und erfinderischen“ Bewegung, die ,,den Graden von Freiheit mehr und mehr Rechnung trägt“. Diese differentielle und soll nach Tarde in allen Gebieten den Gegensatz differenzierende Wiederholung ablösen. Roussel oder Peguy könnten seine Formel für sich beanspruchen: ,,Die Wi&-holung ist ein wesentlich kraftvolleres und weniger ermüdendes stilistisches Verfahren als die Antithese, und sie ist zugleich besser geeignet, ein Thema ZU erneuern‘c (L’opposition universelle, Paris 1897, S. 119). In der Wiederholung sah Tarde einen typisch franzosischen Gedanken; und tatsächlich sah Kierkegaard in ihr -einen typisch dänischen Begriff . Sie meinten damit, daß sie eine ganz andere Dialektik als die kegelsehe begründet.
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Anschauungsformen äußerliche Differenzen erkennt, die nicht auf die Ordnung der Begriffe reduzierbar sind, so sind diese Differenzen dennoch ,,innere“ Differenzen, obwohl sie kein Verstand als ,,innerliche“ angeben kann und sie nur in ihrem äui3eren Verhältnis zum Raum insgesamt vorstellbar sind”. In Übereinstimmung mit manchen neokantianischen Interpretationen bedeutet dies, daß sich allmählich ein innerer dynamischer Aufbau des Raums ergibt, der der ,,Vorstellung“ [représentation] des Ganzen als Form von Exteriorität vorangehen muß. Das Element dieser inneren Genese scheint uns eher in der intensiven Quantität als im Schema zu liegen und sich eher auf die Ideen als auf die Verstandesbegriffe zu beziehen. Wenn die räumliche Ordnung äußerlicher Differenzen und die begriffliche Ordnung innerlicher Differenzen letztendlich miteinander harmonieren, wie das Schema belegt, so liegt der tiefere Grund dafür in jenem intensiven differentiellen Element, der Synthese des Kontinuums im Augenblick, die in Form einer continua repetitio den Raum in Übereinstimmung mit den Ideen zunächst im Innern erzeugt. Doch appellierte bereits bei Leibniz die Affinität zwischen äußerlichen Differenzen und innerlichen begrifflichen Differenzen an den inneren Prozeß einer continua repetitio, an einen Prozeß, der sich auf ein intensives differentielles Element gründet, das die punktuelle Synthese des Kontinuums vollzieht, um den Raum des Innen zu erzeugen. Es gibt Wiederholungen, die nicht bloß äußerliche Differenzen sind; es gibt innere Differenzen, die nicht innerlich oder begrifflich sind. Wir können damit die Quelle der vorangehenden Ambiguitäten besser lokalisieren. Wenn wir die Wiederholung als begrifflose Differenz bestimmen, so glauben wir auf den bloß äußerlichen Charakter der Differenz in der Wiederholung schließen zu können; wir sind dann der Ansicht, daß jede innere ,,Neuheit“ genügt, um uns vom Buchstaben zu entfernen, und nur mit einer approximativen, das heißt: durch Analogie gegebenen Wiederholung vereinbar ist. Dem ist nicht so. Denn wir wissen noch nicht, welches das Wesen der Wiederholung ist, was durch den Ausdruck ,,begrifflose Differenz“ positiv bezeichnet wird, die Natur der Interiorität, die er zu implizieren vermag. Wenn wir umgekehrt die Differenz als begriffliche Differenz bestimmen, so glauben wir der Bestimmung des Begriffs der Differenz als solcher Genüge getan zu haben. Dennoch verfügen wir auch hier über keinerlei Idee von Differenz, über keinen Begriff der eigentlichen Differenz. Es war vielleicht der Fehler der Philosophie der Differenz von Aristoteles über Leibniz bis Hegel, daß sie den Begriff der Differenz mit einer bloß begrifflichen Differenz verwechselte, indem sie sich mit der Einschreibung der Differenz in den Begriff überhaupt begnügte. In Wirklichkeit hat man, solange man die Differenz in den Begriff überhaupt l7 Zur inneren Differenz, die dennoch keine innerliche oder begriffliche ist vgl. Kant,
§ 13 (in: Werke, hg. v. W.Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. 5, S. 147-149) (vgl. d en Gegensatz zwischen ,,innerer Verscheidenheit“ und ,,innerlicher Verschiedenheit“). Prolegomena,
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einschreibt, keine singuläre Idee der Differenz und bleibt nur beim Element einer bereits durch die Repräsentation vermittelten Differenz stehen. Wir sind also mit zwei Fragen konfrontiert: Welches ist der Begriff der Differenz - der sich nicht auf die bloße begriffliche Differenz reduzieren läßt, sondern eine eigene Idee, gleichsam eine Singularität in der Idee beansprucht? Und welches ist andererseits das Wesen der Wiederholung - das sich nicht auf eine begrifflose Differenz reduzieren läßt, nicht mit dem sichtbaren Merkmal der unter demselben Begriff repräsentierten Objekte verschmilzt, sondern seinerseits die Singularität als Macht der Idee bezeugt? Die Begegnung der beiden Begriffe, Differenz und Wiederholung, kann nicht mehr von Anfang an gesetzt werden, . sie muß vielmehr durch Interferenzen und Überschneidungen zwischen diesen beiden Linien zur Erscheinung gelangen, von denen die eine das Wesen der Wiederholung, die andere die Idee der Differenz betrifft.
ERSTES KAPITEL
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST Die Indifferenz hat zwei Aspekte: den undifferenzierten Abgrund, das schwarze Nichts, das unbestimmte Lebewesen, in dem alles aufgelöst ist - aber auch das weiße Nichts, die wieder ruhig gewordene Oberfläche, auf der unverbundene Bestimmungen wie vereinzelte Glieder treiben, Kopf ohne Hals, Arm ohne Schulter, Augen ohne Stirn. Das Unbestimmte ist völlig indifferent, ebenso unbestimmt aber sind frei treibende Bestimmungen im Verhältnis zueinander. Vermittelt die Differenz zwischen diesen beiden Extremen? Oder ist sie nicht das einzige Extrem, der einzige Moment von Präsenz und Präzision? Die Differenz ist jener Zustand, in dem man von DER Bestimmung sprechen kann. Die Differenz ,,zwischen“ zwei Dingen ist bloß empirisch, und die entsprechenden Bestimmungen sind nur äußerlich. Stellen wir uns aber anstatt eines Dings, das sich von einem anderen unterscheidet, etwas vor, das sich unterscheidet - und doch unterscheidet sich das, wovon es sich unterscheidet, nicht von ihm. Der Blitz zum Beispiel unterscheidet sich vom schwarzen Himmel, kann ihn aber nicht loswerden, als ob er sich von dem unterschiede, was sich selbst nicht unterscheidet. Man könnte sagen, der Untergrund steige zur Oberfläche auf, bleibe aber weiterhin Untergrund. ES liegt auf beiden Seiten etwas Grausames, ja Ungeheuerliches in diesem Kampf gegen einen unfaßbaren Gegner in dem sich das Unterschiedene einer Sache entgegensetzt, die sich nicht von ihm unterscheiden kann und immer weiter mit dem vereinigt, was sich von ihr absetzt. Die Differenz ist diese Fassung der Bestimmung als einseitiger Unterscheidung. Von der Differenz muß also gesagt werden daß man sie macht oder daß sie sich macht, entsprechend des Ausdrucks ,,einen Unterschied machen“. Diese Differenz oder DIE Bestimmung ist zugleich die Grausamkeit. Die Platoniker sagten, das Nicht-Eine unterscheide sich vom Einen nicht aber umgekehrt, da sich das Eine nicht dem entzieht was sich ihm entzieht* und die Form unterscheide sich, auf der Gegenseite, von der Materie oder vom Untergrund, nicht aber umgekehrt, da die Unterscheidung selbst eine Form ist. Eigentlich lösen sich alle Formen auf,
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wenn sie sich in jenem aufsteigenden Untergrund reflektieren. Er selbst ist nicht länger das reine Unbestimmte, das im Hintergrund bleibt, aber auch die Formen sind nicht länger koexistente oder komplementäre Bestimmungen. Der aufsteigende Untergrund ist nicht mehr im Hintergrund, sondern gewinnt autonome Existenz; die Form, die sich in diesem Grund reflektiert, ist keineForm mehr, sondern eine abstrakte Linie, die unmittelbar auf die Seele einwirkt. Wenn der Untergrund zur Oberfläche aufsteigt, zerfällt das menschliche Gesicht in jenem Spiegel, in dem das Unbestimmte wie die Bestimmungen nun zu einer einzigen Bestimmung verschmelzen, die den Unterschied ,,macht“. Es ist ein dürftiges Rezept zur Herstellung eines Ungeheuers, verschiedenartige Bestimmungen aufzuhäufen oder das Tier überzudeterminieren. Besser läßt man den Untergrund aufsteigen und die Form schwinden, Goya arbeitete mit Aquatinta und Radierung, mit den Grautönen der einen und der Strenge der anderen. Odilon Redon mit dem Helldunkel und der abstrakten Linie. Im Verzicht auf die Modellierung, d.h. auf das plastische Symbol der Form, gewinnt die abstrakte Linie ihre ganze Kraft und partizipiert umso gewaltsamer am Untergrund, als sie sich von ihm unterscheidet, ohne daß dieser sich von ihr unterscheidet’. So daß sich in einem derartigen Spiegel die Gesichter verformen. Und es ist nicht sicher, ob es nur der Schlaf der Vernunft ist, der die Ungeheuer gebiert. Ebenso ist es das Wachen, die Schlaflosigkeit des Denkens, denn das Denken ist jener Moment, in dem die Bestimmung eins wird, und zwar durch die Stützung eines einseitigen und präzisen Bezugs zum Unbestimmten. Das Denken ,,macht” den Unterschied, die Differenz aber ist das Ungeheuer. Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß die Differenz verflucht erscheint, als Verstoß oder Sünde, als die der Sühne anheimgestellte Gestalt des Bösen. Die einzige Sünde besteht darin, den Untergrund aufsteigen zu lassen und die Form aufzulösen. Man erinnere sich der Idee Artauds: die Grausamkeit ist nichts anderes als DIE Bestimmung, genau jener Punkt, an dem das Bestimmte seine wesentliche Beziehung zum Unbestimmten unterhält, jene strenge abstrakte Linie, die vom Helldunkel gespeist wird. Das Projekt der Philosophie der Differenz scheint nun darin zu liegen, die Differenz ihrem Stand der Verfluchung zu entreißen. Kann die Differenz nicht ein harmonischer Organismus werden und die Bestimmung auf andere Bel Vgl. Odilon Redon: A soi-mhe. Journal, Paris 1961, S. 63 (dt.: Selbstgespräch. Tagebücher und Aufzeichnungen 1867-1915, München 1971, S. 2): ,,Lassen sie mich hier indes ansprechen, daß sich keine plastische Form in meinen Werken finden läßt ich meine, ihre objektive Erfassung -, die, nach den Gesetzen des Schattens und des Lichts, mit den konventionellen Mitteln der Modellierung ausgeführt würde. [. . l 1 Meine gesamte Kunst beschränkt sich auf die alleinigen Hilfsmittel des Helldunkels; viel verdankt sie auch den Wirkungen der abstrakten Linie, dieser aus tiefen Quellen kommenden Kraft, die unmittelbar auf den Geist wirkt” [Übersetzung leicht verändert; d.Ü.1.
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stimmungen in erner Form beziehen, d. h. im kohärenten Element einer organischen Repräsentation? Als ,,ratio” besitzt das Element der Repräsentation vier Hauptaspekte: die Identität in der Form des unbestimmten Begriffs, die Analogie im Verhältnis zwischen letzten bestimmbaren Begriffen, den Gegensatz im Verhältnis der Bestimmungen im Innern des Begriffs, die Ähnlichkeit im bestimmten Objekt des . Begriffs selbst. Diese Formen sind gleichsam die vicr Häupter oder das vierfache Band der Vermittlung. Man wird von einer ,,vermittelten“ Differenz sprechen, insofern es gelingt, sie der vierfachen Wurzel der Identität und des Gegensatzes, der Analogie und der Ähnlichkeit zu unterwerfen. Ausgehend von einem ersten Eindruck (die Differenz ist das Übel) nimmt man sich vor, die Differenz zu ,,retten”, indem man sie repräsentiert, und sie zu repräsentieren, indem man sie auf die Erfordernisse des Begriffs überhaupt bezieht. Es handelt sich also darum, einen glücklichen Augenblick zu bestimmen - den glücklichen Augenblick der Griechen -, in dem die Differenz mit dem Bergriff versöhnt erscheint. Die Differenz muß ihre Höhle verlassen und darf nicht länger ein Ungeheuer bleiben; oder es darf zumindest nur das als Ungeheuer fortbestehen, was sich dem glücklichen Augenblick entzieht und bloß eine schlechte Begegnung, eine schlechte Gelegenheit darstellt. Der Ausdruck ,,einen Unterschied machen” wechselt hier seine Bedeutung. Er bezeichnet nun eine selektive Prüfung, die bestimmen soll, welche Differenzen auf welche Weise in den Begriff überhaupt eingetragen werden können. Tatsächlich scheint eine derartige Prüfung, eine derartige Selektion durch das Große und das Kleine verwirklicht. Denn das Große und das Kleine werden naturgemäß nicht dem Einen, sondern zuerst der Differenz zugeschrieben. Man fragt also, wie weit die Differenz reichen kann und muß wie groß, wie klein? -, um in die Begrenzung des Begriffs einzutreten, ohne sich diesseits zu verlieren oder jenseits zu entweichen. Selbstverständlich läßt sich nur schwer in Erfahrung bringen, ob das Problem auf diese Weise richtig gestellt ist: War die Differenz tatsächlich ein Übel an sich? War es nötig, die Frage in diesen moralischen Begriffen zu stellen? Mußte die Differenz ,,vermittelt“ werden, um sie erträglich und denkbar zugleich zu machen? Mußte die Selektion in jener Prüfung bestehen? . Mußte die Prüfung auf diese Weise und mit diesem Ziel begriffen werden ? Wir werden aber diese Fragen nur dann beantworten können, wenn wir die mutmaßliche Natur des glücklichen Augenblicks genauer bestimmen.
Aristoteles sagt: Es gibt eine Differenz, die zugleich die größte wie auch vollendetste ist (p~y~oq> ‘~&lo~. Die Differenz allgemein unterscheidet sich von der Verschiedenheit oder Andersheit; denn zwei Terme differieren voneinander, wenn sie nicht durch sich selbst, sondern durch etwas unterschieden
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sind, wenn sie also auch in etwas anderem zusammenpassen, in einer Gattung hinsichtlich der Artdifferenzen, oder selbst in einer Art hinsichtlich der Differenzen der Zahl, oder noch im ,,Sein gemäß der Analogie“ hinsichtlich der Gattungsdifferenzen. - Welche Differenz ist unter diesen Bedingungen die größte ? Die größte Differenz ist immer der Gegensatz. Aber welche unter all den Gegensatzformen ist die vollendetste, die vollständigste, diejenige, die am besten ,,paßt “ ? Die relativen Glieder sagen sich wechselseitig aus; der Widerspruch sagt sich bereits von einem Subjekt aus,, um allerdings dessen Bestand unmöglich zu machen, und qualifiziert nur die Veränderung, in der es zu existieren beginnt oder aufhört; und auch die Privation bringt noch eine bestimmte Ohnmacht des existierenden Subjekts zum Ausdruck. Einzig der konträre Gegensatz repräsentiert die Fähigkeit eines Subjekts, Entgegengesetztes zu erfahren und dabei doch substanziell dasselbe zu bleiben (hinsichtlich der Materie oder der Gattung). Unter welchen Bedingungen jedoch überträgt die Kontrarietät ihre Vollendetheit auf” die Differenz? Solange wir das konkrete Sein in seiner Materie betrachten, sind die konträren Gegensätze, die es affizieren, körperliche Modifikationen, die uns bloß den akzidentiellen empirischen Begriff einer noch äußerlichen Differenz verschaffen (extra quidditatem). Das Akzidens läßt sich vom Subjekt abtrennen wie ,,weiß“ und ,,schwarz” von ,,Mensch“, oder es ist untrennbar mit ihm verbunden wie ,,männlich“ und ,,weiblich“ mit ,,Lebewesen“: Je nach Fall wird die Differenz communis oder propria heißen, aber sie wird stets akzidentiell sein, sofern sie von der Materie herrührt. Einzig eine Kontrarietät im Wesen oder in der Form gibt uns also den Begriff einer selbst wesentlichen Differenz (differentia essentialis aut propriissima). Die konträren Entgegensetzungen sind also Modifikationen, die ein fragliches Subjekt hinsichtlich seiner Gattung affizieren. Im Wesen nämlich liegt das Eigentümliche der Gattung darin, daß sie durch Differenzen wie ,,befußt“ oder ,,geflügelt“ eingeteilt ist, die sich als konträre Entgegensetzungen einander zuordnen. Kurz, die vollendete und maximale Differenz ist die Kontrarietät in der Gattung, und die Kontrarietät in der Gattung ist die Artdifferenz. Jenseits und diesseits davon strebt die Differenz wieder zur bloßen Andersheit zurück und entzieht sich fast der Identität des Begriffs: Die Gattungsdifferenz ist zu groß, errichtet sich zwischen nicht-kombinierbaren Gliedern, die keine konträren Bezüge ergeben; die individuelle Differenz ist zu klein und besteht zwischen unteilbaren Glied dern, die ebenfalls keine Kontrarietät aufweisen2.
2 Aristoteles: Metaphysik, X, 4, 8 und 9. Zu den drei Arten von Differenz, der gemeinen, eigentümlichen und wesentlichen, vgl. Porphyrios: Isagogos, 8-9 (frz. Übersetzung von J.Tricot, Paris 1947), und die thomistischen Lehrbücher, etwa das Kapitel ,,de differentia“ in Joseph Gredts Elementa philosophiae aristotelico-thomisticae (Freiburg i. Br. 1937’, Bd. 1, S. 122-125).
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Dagegen scheint es tatsächlich,: als entspreche die Artdifferenz allen Erfordernissen eines harmonischen Begriffs oder einer organischen Repräsentation. Sie ist rein, weil formal; innerlich, da sie im Wesen wirkt. Sie ist qualitativ; und in dem Maße, wie die Gattung das Wesen bezeichnet, ist die Differenz sogar eine ganz spezielle Qualität, ,,dem Wesen gemäß”, eine Qualität des Wesens selbst. Sie ist synthetisch, weil die Spezifikation eine Zusammensetzung ist, und die Differenz tritt aktualiter zur Gattung hinzu, die sie nur potentialiter enthält. Sie ist vermittelt, sie ist selbst Vermittlung, Mittelbegriff schlechthin. Sie ist produktiv, denn die Gattung teilt sich nicht in Differenzen auf, sondern wird durch Differenzen aufgeteilt, die in ihr die entsprechenden Arten hervorbringen. Darum ist sie stets Ursache, formale Ursache: Der kürzeste Weg ist die Artdifferenz der geraden Linie, das Verdichtende die Artdifferenz der schwarzen Farbe, das Auflösende die der weißen Farbe. Darum ist sie auch ein Prädikat so besonderen Typs, da sie sich ja der Art zuschreibt, ihr zugleich aber die Gattung zuschreibt und die Art konstituiert, der sie sich zuschreibt. Ein solches synthetisches und konstitutives Prädikat, das eher zuschreibt als zugeschrieben wird, eine wahre Produktionsregel, hat schließlich eine letzte Eigenschaft: die nämlich, daß s i e d a s v o n ihr Zugeschriebene mit sich reißt. Denn die Qualität des Wesens ist speziell genug, um aus der Gattung etwas anderes zu machen, nicht bloß etwas, das eine andere Qualität besitzt3. Der Gattung ist also eigentümlich, daß sie für sich dieselbe bleibt, während sie in den Differenzen, durch die sie eingeteilt wird, zu einem anderen wird. Die Differenz transportiert die Gattung und alle Zwischendifferenzen mit sich. Als Transport der Differenz, Diaphora der Diaphora, verknüpft die Spezifikation die Differenz mit der Differenz in den sukzessiven Ebenen der Einteilung, bis eine letzte Differenz, die der species infima, in der gewählten Richtung die Gesamtheit des Wesens und seiner fortgesetzten Qualität verdichtet, diese Gesamtheit in einem Anschauungsbegriff zusammenfaßt und ihn mit dem zu definierenden Term verschmelzen läßt und dabei selbst unteilbares einziges Ding w i r d (&copov, &61otcpo~ov &og). Die Spezifikation garantiert damit die Kohärenz und die Kontinuität im Inhalt des Begriffs. Kommen wir zum Ausdruck ,,die größte Differenz“ zurück. Es wurde deutlich, daß d i e Artdifferenz nur ganz relativ die größte ist. Absolut gesprochen ist der Widerspruch größer als die Kontrarietät - und insbesondere die Gattungsdifferenz größer als die Artdifferenz. Schon die Art und Weise, wie Aristoteles die Differenz von der Verschiedenheit oder Andersheit unterscheidet, bringt uns auf die Spur: Nur in bezug auf die vorausge-
Isagogos 8 20: ,,Die Differenz des Vernünftigen, die zum Sinnenwesen macht es ‘zi einem anderen, während die Differenz der Bewegung es gegenüber dem ruhenden Lebewesen nur mit einer anderen Qualität versieht.”
3 PorPhyriw:
hinzutritt,
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setzte Identität eines Begriffs wird die Artdifferenz die größte genannt. Mehr noch, gerade in bezug auf die Identitätsform im Gattungsbegriff reicht die Differenz bis an den Gegensatz, wird sie bis zur Kontrarietät ’ getrieben. Die Artdifferenz repräsentiert also keineswegs einen universalen Begriff für alle Singularitäten und die Wendepunkte der Differenz (d.h. einer Idee), sondern bezeichnet einen besonderen Moment, an dem sich die Differenz nur mit dem Begriff überhaupt versöhnt. Daher ist auch die Diaphora der Diaphora bei Aristoteles nur ein falscher Transport: Niemals sieht man die Differenz hier ihre Natur ändern, niemals entdeckt man in ihr ein Differenzierendes der Differenz, das das Universalste und das Singulärste i n ihrer jeweiligen Unmittelbarkeit aufeinander bezöge. Die Artdifferenz bezeichnet nur ein ganz relatives Maximum, einen Akommodationspunkt für das griechische Auge, und zudem für das griechische Durchschnittsauge, das den Sinn für den dionysischen Taumel [transports] und die Metamorphosen verloren hat. Dies ist das Prinzip einer Verwechslung, die für jede Philosophie der Differenz fatal ist: Man verwechselt die Zuweisung eines eigenen Begriffs der Differenz mit der Einschreibung der Differenz in den Begriff überhaupt - man verwechselt die Bestimmung des ( Differenzbegriffs mit der Einschreibung der Differenz in die Identität eines unbestimmten Begriffs. Dies ist das im glücklichen Augenblick implizierte Taschenspielerstück (und vielleicht rührt der Rest daher: die Unterordnung . der Differenz unter den Gegensatz, unter die Analogie, unter die Ähnlichkeit, all die Aspekte der Vermittlung). Damit kann die Differenz nur noch ein Prädikat im Inhalt des Begriffs sein. Diese prädikative Natur der Artdifferenz ruft Aristoteles beständig in Erinnerung; er ist allerdings gezwungen, ihr sonderbare Kräfte zu verleihen, die Kraft der Zuschreibung ebenso wie diejenige, zugeschrieben zu werden, oder die Kraft zur Abwandlung der Gattung ebenso wie diejenige, deren Qualität zu modifizieren. Ausgehend von der grundlegenden Verwechslung offenbaren sich somit all die Weisen, mit denen die Artdifferenz die Erfordernisse eines eigenen Begriffs zu erfüllen scheint (Reinheit, Inwendigkeit, Produktivität, Transport . . .), als trügerisch und gar widersprüchlich. Die Artdifferenz ist also klein im Verhältnis zu einer größeren Differenz, die die Gattungen selbst betrifft. Selbst in der biologischen Klassifikation wird sie vollends klein im Verhältnis zu den großen Gattungen: sicher keine materielle Differenz, aber dennoch eine bloße Differenz ,,in“ der Materie, die über das Mehr und das Weniger verfährt. Das rührt daher, daß die Artdifferenz das Maximum und die Vollendung ist, aber nur unter der Bedingung der Identität eines unbestimmten Begriffs (Gattung). Dagegen ist sie geringfügig, wenn man sie mit der Differenz zwischen den Gattungen als letzten bestimmbaren Begriffen (Kategorien) vergleicht. Denn diese unterliegen nicht mehr der Bedingung, daß sie ihrerseits einen identischen Begriff oder eine gemeinsame Gattung aufweisen müßten. Behalten wir den Grund im Auge, weswegen das Sein selbst keine Gattung ist: weil nämlich,
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wie Aristoteles sagt, die Differenzen sind (die Gattung müßte sich also . . ihren Differenzen an sich zuschreiben können: als ob das Sinnenwesen einmal von der Menschenart, ein anderes Mal aber von der vernunftmäßigen Differenz ausgesagt würde, indem es eine andere Art bildet . . .)4. Dieses Argument ist also der Natur der Artdifferenz entnommen, von der aus auf eine andere Natur der Gattungsdifferenzen geschlossen werden kann. Dies alles geschieht so, als ob es zwei von Natur aus verschiedene ,,Logoi” gäbe, die sich jedoch miteinander vermischen: Es gibt den Logos der Arten, den Logos dessen, was man denkt und sagt, einen Logos, der auf der Bedingung von Identität oder Univozität eines Begriffs überhaupt, als Gattung verstanden, beruht; und den Logos der Gattungen, den Logos dessen, was sich durch uns hindurch denkt und aussagt, einen Logos, der sich, von der Bedingung befreit, in der Äquivozität des Seins wie in der Verschiedenheit der allgemeinsten Begriffe regt. Wenn wir das Univoke aussagen, sagt sich . dann nicht noch das Aquivoke in uns aus.? Und muß man hierin nicht eine Art Riß erkennen, der dem Denken zugefügt wurde und sich weiter in eine andere (nicht-aristotelische) Atmosphäre fortgraben wird? Ist dies aber vor allem nicht schon eine neue Chance für die Philosophie der Differenz? Wird sie sich nicht einem absoluten Begriff annähern, wenn sie erst einmal von der Bedingung befreit ist, die sie in einem gänzlich relativen Maximum festhielt? Nichts davon jedoch bei Aristoteles. Tatsache ist, daß die gattungsmäßige oder kategoriale Differenz eine Differenz im aristotelischen Sinne bleibt und nicht in die bloße Verschiedenheit oder Andersheit zurückfällt. Das kommt folglich daher, daß ein identischer oder gemeinsamer Begriff weiterhin Bestand hat, wenn auch auf ganz spezielle Art und Weise. Dieser Seinsbegriff ist nicht kollektiv, wie eine Gattung im Verhältnis zu ihren Arten, sondern nur distributiv und hierarchisch: Er besitzt keinen Inhalt an sich, sondern bloß einen Inhalt, der nach dem Verhältnis der formal verschiedenen Terme bemessen ist, mit denen er prädiziert wird. Diese Terme (Kategorien) bedürfen keines gleichmäßigen Bezugs zum Sein; es genügt, daß der Bezug eines jeden davon zum Sein ihm jeweils inwendig ist. Die beiden Merkmale des Seinsbegriffs - daß er einen gemeinen Sinn nur in distributiver Hinsicht und einen ersten Sinn in hierarchischer Hinsicht besitzt - zeigen deutlich, daß er im Verhältnis zu den Kategorien nicht die Rolle einer Gattung im Verhältnis zu univoken Arten einnimmt. Aber sie zeigen ebenso, daß die Äquivozität des Seins ganz und gar besonders ist: Es handelt sich um eine Analogie? Wenn man nun danach fragt, welche Instanz den Begriff
Aristoteles: Metaphysik, 111, 3, 998 b, 20-27; und Topik, VI, 6, 144 a, 35-40. 5 Bekanntlich spricht Aristoteles nicht selbst von Analogie hinsichtlich des Seins. Er bestimmt die Kategorien als JQ+S EV und sicher auch als Erp&@ig (außerhalb der reinen Äquivozität sind dies die beiden Fälle, in denen ,,Differenz“ ohne gemeinsame
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nach dem Verhältnis von Termen oder Subjekten, mit denen er affirmiert wird, zu bemessen vermag, so ist die Antwort klar: die Urteilskraft. Denn die Urteilskraft hat eben zwei wesentliche Funktionen, und nur zwei: die Verteilung, die sie durch das Teilen des Begriffs gewährleistet, und die Hierarchisierung, die sie durch das Maß der Subjekte garantiert. Der einen entspricht dasjenige Vermögen in der Urteilskraft, das man Gemeinsinn nennt; der anderen dasjenige, das man gesunden Menschenverstand (oder ersten Sinn) nennt. Alle beide bilden das rechte Maß, die ,,Gerechtigkeit“ als Wert der Urteilskraft. In diesem Sinne nimmt die ganze Philosophie der Kategorien die Urteilskraft zum Vorbild - wie man es bei Kant und selbst noch bei Hegel sieht. Mit ihrem Gemeinsinn und ihrem ersten Sinn aber läßt die Analogie des Urteils die Identität eines Begriffs fortbestehen, sei es in einer impliziten und verworrenen Form, sei es in einer virtuellen Form. Die Analogie ist selbst das Analogon der Identität in der Urteilskraft. Die Analogie ist das Wesen der Urteilskraft, aber die Analogie des Urteils ist das Analogon der Identität des Begriffs. Darum können wir von der gattugsmäßigen oder kategorialen Differenz ebensowenig wie von der Artdifferenz erwarten, daß sie uns einen eigenen Begriff der Differenz liefert. Während sich die Artdifferenz damit begnügt, die Differenz in die Identität des unbestimmten Begriffs überhaupt einzuschreiben, begnügt sich die (distributive und hierarchische) Gattungsdifferenz ihrerseits damit, die Differenz in die Quasi-Identitäten der allgemein-
Gattung besteht). - Die ZQOC CY werden im Verhältnis zu einem einzigen Term ausgesagt. Dieser ist ein gemeiner Sinn; aber dieser Gemeinsinn ist keine Gattung. Denn er bildet nur eine distributive (implizite und verworrene) Einheit und nicht wie die Gattung eine kollektive, explizite und distinkte Einheit. Wenn die Scholastik die 3tQO& mit ,,Analogie der Verhältnismäßigkeit“ übersetzt, so hat sie folglich recht. Freilich darf diese Analogie nicht im strikt mathematischen Sinn begriffen werden und bedingt keinerlei Gleichheit im Verhältnis. Sie definiert sich - und dies ist etwas gänzlich anderes - durch eine Inwendigkeit des Verhältnisses: Das Verhältnis jeder Kategorie zum Sein ist jeder Kategorie immanent, sie ihrerseits besitzen jeweils Einheit und Sein dank ihrer eigenen Natur. Dieser distributive Charakter wird von Aristoteles deutlich hervorgehoben, wenn er die Kategorien mit thaq&mg gleichsetzt. Und entgegen manchen neueren Deutungen besteht tatsächlich eine Aufteilung des Seins, die den Weisen entspricht, wie es sich auf ,,Seiendes“ verteilt. - Aber in den J& EY ist der einzige Term nicht bloß das Sein als gemeiner Sinn, sondern bereits die Substanz als erster Sinn. Daher die Bedeutungsverschiebung hin zur Idee von Erp&?&, die eine Hierarchie impliziert. Die Scholastik wird hier von ,,Analogie der Verhältnismäßigkeit“ sprechen: Es gibt keinen distributiven Begriff mehr, der sich formal auf verschiedene Terme bezieht, sondern einen seriellen Begriff, der sich in formal-herausragender Weise auf einen Hauptterm und nur in geringerem Mai3 auf andere bezieht. Das Sein ist zuerst, in actti, Analogie der Verhältnismäßigkeit; stellt es aber nicht ebenso , ,,virtuell“, eine Verhältnisanalogie dar?
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sten bestimmbaren Begriffe einzuschreiben, das heißt: in die Analogie des Urteils selbst. Die ganze aristotelische Philosophie der Differenz hängt an dieser doppelten komplementären Einschreibung, die auf einem und demselben Postulat beruht und die willkürlichen Grenzen des glücklichen Augenblicks zieht. Zwischen den Gattungs- und Artdifferenzen knüpft sich das Band eines geheimen Einverständnisses in der Repräsentation. Weit gefehlt, daß sie gleicher Natur wären: Die Gattung läßt sich nur von außen durch die Artdifferenz bestimmen, und diese Identität der Gattung im Verhältnis zu den Arten steht im Gegensatz dazu, daß das Sein unmöglich eine ähnliche Identität im Verhältnis zu den Gattungen selbst ausbilden kann. Es ist aber gerade die Natur der Artdifferenzen (die Tatsache, daß sie sind), die diese Unmöglichkeit begründet und die Gattungsdifferenzen daran hindert, sich auf das Sein wie auf eine gemeinsame Gattung zu beziehen (wenn das Sein eine Gattung wäre, so wären seine Differenzen mit Artdifferenzen vergleichbar, aber man könnte nicht mehr sagen, sie ,,seien“, da sich ja die Gattung nicht ihren Differenzen an sich zuschreibt). In diesem Sinne verweist die Univozität der Arten in einer gemeinsamen Gattung auf die Äquivozität des Seins in den verschiedenen Gattungen: Die eine reflektiert die andere. Man wird dies deutlich an den Erfordernissen des Ideals der Klassifikation sehen: Die großen Einheiten ~E:YY) @ylo’ca, die man schließlich Stämme nennen wird - bestimmen sich nach Analogieverhältnissen, die eine durch die Urteilskraft in der abstrakten Vorstellung [représentation] getroffene Merkmalsauswahl bedingen, und zugleich bestimmen sich die kleinen Einheiten, die kleinen Gattungen oder Arten, in einer direkten Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, die eine Kontinuität der sinnlichen Anschauung in der-konkreten Vorstellung bedingt. Selbst der NeoEvolutionismus wird diese beiden Aspekte in ihrer Verbindung mit den Kategorien des Großen und des Kleinenwiederfinden, wenn er die Unterscheidung zwischen großen Differenzierungen im embryonalen Frühstadium und kleinen innerartlichen oder artbildenden Differenzierungen des späteren adulten Stadiums treffen wird. Obwohl nun diese beiden Aspekte in Widerstreit miteinander geraten können, je nach dem, ob die großen Gattungen oder die Arten als Begriffe der Natur verstanden werden, konstituieren alle beide die Grenzen der organischen Repräsentation und Requisita, die gleichermaßen zur Klassifikation notwendig sind: Die methodische Kontinuität in der Wahrnehmung der Ähnlichkeiten ist ebenso unabdingbar wie die systematische Verteilung im Analogieurteil Unter beiden Gesichtspunkten aber erscheint die Differenz nur als refelxiver Begriff. Denn die Differenz ermöglicht den Übergang von benachbarten ähnlichen Arten zur Identität einer Gattung, die sie subsumiert, ermöglicht also die Entnahme oder den Ausschnitt von Gattungsidentitäten aus dem Fluß einer sinnlich gegebenen kontinuierlichen Reihe. Am anderen Ende ermöglicht sie den Übergang von jeweils identischen Gattungen zu den Analogieverhältnissen, die sie untereinander im Intelligiblen unterhalt en* Als Reflexionsbegriff zeugt die Differenz von ihrer vollständigen Unter-
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werfung unter alle Erfordernisse der Repräsentation, die eben durch sie zur ,,organischen Repräsentation” wird. Im Reflexionsbegriff nämlich unterwirft sich die vermittelnde und vermittelte Differenz mit vollem Recht der Identität des Begriffs, dem Gegensatz der Prädikate, der Analogie des Urteils, der Ähnlichkeit der Wahrnehmung. Man stößt hier wiederum auf den notwendig vierteiligen Charakter der Repräsentation. Die Frage lautet., ob die Differenz unter all diesen reflexiven Aspekten nicht ihren eigenen Begriff und ihre eigene Realität zugleich verliert. Denn die Differenz bleibt weiterhin ein reflexiver Begriff und gewinnt einen wahrhaft realen Begriff nur in dem Maße zurück, wie sie Katastrophen bezeichnet: seien es Kontinuitätsbrüche in der Reihe der Ähnlichkeiten, seien es unüberschreitbare Verwerfungen zwischen den analogen Strukturen. Sie bleibt reflexiv nur, um katastrophisch zu werden. Und sicher kann sie das eine nicht ohne das andere sein. Zeugt aber nicht gerade die Differenz als Katastrophe von einem irreduziblem aufrührerischen Untergrund, der unter dem scheinbaren Gleichgewicht der organischen Repräsentation fortwirkt?
Es gab immer nur einen ontologischen Satz [proposition]: Das Sein ist univok. Es gab immer nur eine Ontologie, die des Duns Scotus, die dem Sein eine einzige Stimme verleiht. Wir nennen Duns Scotus, weil er das univoke Sein zu höchster Subtilität zu erheben wußte, sei es auch um den Preis der Abstraktheit. Doch von Parmenides bis Heidegger wird immer wieder dieselbe Stimme aufgenommen, in einem Widerhall, der schon für sich allein die ganze Entfaltung des Univoken darstellt. Eine einzige Stimme erzeugt das Gebrüll des Seins. Ohne Mühe können wir begreifen, daß das Sein, wenn es absolut gemein ist, deswegen noch keine Gattung ist; es genügt, daß man das Modell des Urteils durch dasjenige des Satzes ersetzt. Im Satz, begriffen als komplexe Entität, unterscheidet man: die Bedeutung [sens] oder das Ausgedrückte des Satzes; das Bezeichnete (was sich im Satz ausdrückt); das Ausdrückende oder Bezeichnende, die numerische Modi darstellen, d. h. differentielle Faktoren, die die bedeutung- oder bezeichnungtragenden Elemente kennzeichnen. Man bemerkt, daß Namen oder Sätze nicht dieselbe Bedeutung besitzen, während sie doch strikt dieselbe Sache bezeichnen (den berühmten Beispielen zufolge: Abendstern/Morgenstern, Israel/Jakob, plan/blanc). Die Unterscheidung zwischen diesen Bedeutungen ist zwar eine reale Unterscheidung (distinctio realis), sie hat aber nichts Numerisches und noch weniger Ontologisches an sich: Sie ist eine formale, qualitative oder semiologische Unterscheidung. Die Frage, ob die Kategorien unmittelbar mit solchen Bedeutungen gleichzusetzen sind oder sich mit noch größerer Wahrscheinlichkeit daraus ableiten, muß vorläufig hintangestellt werden. Das Entscheidende ist, daß man mehrere formal
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geschiedene Bedeutungen auffassen kann, die sich aber auf das Sein als ein einziges - ontologisch eines - Bezeichnetes beziehen. Freilich reicht ein derartiger Gesichtspunkt noch nicht hin, um uns davon abzuhalten, diese Bedeutungen als analoge Glieder und diese Einheit des Seins als Analogie zu betrachten. Es muß hinzugefügt werden, daß das Sein, dieses gemeinsame Bezeichnete, sofern es sich ausdrückt, seinerseits in ein und derselben Bedeutung von all den numerisch geschiedenen bezeichnenden oder ausdrückenden Elementen ausgesagt wird. Im ontologischen Satz ist also nicht nur das Bezeichnete für qualitativ geschiedene Bedeutungen ontologisch dasselbe, ebenso ist die Bedeutung für individuierende Modi, für numerisch geschiedene bezeichnende oder ausdrückende Elemente ontologisch dieselbe: Dies ist die Zirkelbewegung im ontologischen Satz (Ausdruck in seiner Gesamtheit). Allerdings liegt das Wesentliche der Univozität nicht darin, daß sich das Sein in ein und derselben Bedeutung aussagt. Vielmehr darin, daß es sich in ein und derselben Bedeutung von all seinen individuierenden Differenzen oder innerlichen Modalitäten aussagt. Das Sein ist für all diese Modalitäten dasselbe, aber diese Modalitäten sind nicht dieselben. Es ist für alle ,,gleich“, sie selbst aber sind nicht gleich. Es sagt sich in einer einzigen Bedeutung von allen aus, sie selbst aber haben nicht dieselbe Bedeutung. Es gehört zum Wesen des univoken Seins, daß es sich auf individuierende Differenzen bezieht, diese Differenzen aber besitzen nicht dasselbe Wesen und variieren das Wesen des Seins nicht - wie sich das Weiß auf verschiedene Intensitäten bezieht, wesentlich aber dasselbe Weiß bleibt. Es gibt nicht zwei ,,Wege” [voies], wie man im Gedicht des Parmenides geglaubt hatte, sondern eine einzige ,,Stimme“ [voix] des Seins, die sich auf all seine Modi, die verschiedensten, verschiedenartigsten, differenziertesten, bezieht. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung von all dem aus, wovon es sich aussagt, das aber, wovon es sich aussagt, differiert: Es sagt sich von der Differenz selbst aus. Sicher gilt auch im univoken Sein eine Hierarchie und eine Verteilung, die die individuierenden Faktoren und ihre Bedeutung betreffen. Aber ,,Verteilung“ und selbst ,,Hierarchie“ werden auf zwei völlig verschiedene, unmöglich vereinbare Weisen verwendet; ebenso die Ausdrücke logos, nomos, sofern sie selbst auf Verteilungsprobleme verweisen. Zunächst müssen wir eine Verteilung unterscheiden, die ein Aufteilen des Verteilten impliziert: Es handelt sich um die Zuteilung des Verteilten als solchem. Die Analogieregeln in der Urteilskraft sind hierin allmächtig. Der Gemeinsinn [sens commun] oder der gesunde Menschenverstand [bon sens] als Qualitäten der Urteilskraft werden somit als Zuteilungsprinzipien repräsentiert, die sich selbst zu den bestverteilten erklären. Ein derartiger Verteilungstyp verfährt über feste und propositionale Bestimmungen, die mit ,,Besitztümern”” oder begrenzten Territorien in der Repräsentation gleichzusetzen sind. Möglicherweise hatte die Agrarfrage 6 Frz. propriété Besitz; Eigenschaft [A.d.Ü.].
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eine große Bedeutung für diese Organisation der Urteilskraft als Vermögen zur Unterscheidung der Teile (,,einesteils und andernteils“). Selbst unter den Göttern hat jeder sein Gebiet, seine Kategorie, seine Attribute, und sie alle verteilen unter den Sterblichen Grenzen und Anteile, die dem Schicksal gemäß sind. Ganz anders eine Verteilung, die man nomadisch nennen muß, ein nomadischer nomos, ohne Besitztum, Umzäunung und Maß. Hier gibt es kein Aufteilen eines Verteilten mehr, sondern eher die Zuteilung dessen, was sich verteilt, in einem unbegrenzten offenen Raum, in einem Raum, der zumindest keine genauen Grenzen kennt’. Niemand hat Anspruch und Eigentumsrecht auf etwas, alle aber sind hier und dort angeordnet, und zwar so, daß sie den größtmöglichen Raum bedecken. Selbst wenn es sich um den Ernst des Lebens handelt, würde man von einem Spielraum, von einer Spielregel sprechen, im Gegensatz zum Raum wie zum nomos der Seßhaftigkeit. Einen Raum ausfüllen, sich in ihm aufteilen, ist sehr verschieden von einer Aufteilung des Raums. Jenes ist eine umherschweifende und gar ,,wahnsinnige“ Verteilung, in der sich die Dinge über die ganze Ausdehnung eines univoken und ungeteilten Seins hinweg ausbreiten. Es teilt sich nicht das Sein gemäß den Erfordernissen der Repräsentation auf, vielmehr verteilen sich in ihm alle Dinge in der Univozität der bloßen P räsenz (das All-Eine). Eine derartige Verteilung ist eher dämonisch als göttlich; denn die Besonderheit der Dämonen besteht darin, daß sie in den Zwischenräumen zwischen den Aktionsfeldern der Götter wirken, über die Barrieren oder Umzäunungen springen und die Besitztümer in Unordnung bringen. Der Chor des Ödipus ruft aus: ,,Welcher Dämon sprang mit größeren als den weitesten Sprüngen [. . .] ?“ Hier zeugt der Sprung von den verwirrenden Erschütterungen, die die nomadischen Verteilungen in den seßhaften Strukturen der Repräsentation stiften. Und man muß dasselbe von der Hierarchie sagen. Es gibt eine Hierarchie, die die Wesen nach ihren Grenzen und nach dem Grad ihrer jeweiligen Nähe oder Ferne im Verhältnis zu einem Prinzip bemißt. Ebenso aber gibt es eine Hierarchie, die die Dinge und Wesen unter dem Gesichtspunkt der Macht berücksichtigt: Es handelt sich nicht um absolut betrachtete Grade an Macht, sondern nur um die Frage, ob ein Wesen möglicherweise ,,springt”, d. h. seine Grenzen überschreitet, indem es bis an das Ende seiner Fähigkeit geht, was immer auch deren Grad sein mag. Man 7 Vgl. E. Laroche: Histoire de la racine nem- en grec ancien, Paris 1949. - E. Laroche zeigt, daß die Idee der Verteilung in YOIJOC-Y+,O nicht in einem einfachen Verhältnis zu derjenigen des Aufteilens (z6pv0, Mo, GLcqEo) steht. Der pastorale Sinn von YE~o (weiden lassen) impliziert erst später ein Aufteilen des Lands. Die homerische Gesellschaft kennt weder Umzäunung noch Besitz des Weidelands: Es handelt sich nicht um eine Verteilung des Lands auf das Vieh, sondern im Gegenteil darum, das Vieh selbst zu verteilen, es hier und dort über einen unbegrenzten Raum, Wald oder Berghang hinweg aufzuteilen. Der YO~OC bezeichnet zunächst einen besetzten Ort, allerdings ohne genaue Grenzen (etwa das Umland einer Stadt). Daher auch das Thema des ,,Nomadischen“.
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wird einwenden, ,, bis an das Ende“ definiere immer noch eine Grenze. Aber die Grenze, &~ac, bezeichnet hier nicht mehr das, wodurch das Ding unter einem Gesetz festgehalten und begrenzt oder abgetrennt wird, sie bezeichnet vielmehr dasjenige, von dem aus es sich ausbreitet und seine ganze Macht entfaltet; die Hybris ist nicht länger bloß verdammenswert, und das Kleinste gleicht nun dem Größten, sobald es nicht mehr von dem, wozu es fähig ist, abgeschnitten ist. Dieses umhüllende Maß ist für alle Dinge dasselbe, dasselbe auch für die Substanz, die Qualität, die Quantität usw., denn es bildet das alleinige Maxium, an dem die entwickelte Verschiedenheit aller Grade an die Gleichheit rührt, die sie umhüllt. Dieses ontologische Maß steht der Maßlosigkeit der Dinge näher als dem ursprünglichen Maß; diese ontologische Hierarchie steht der Hybris und der Anarchie der Wesen näher als der ursprünglichen Hierarchie. Sie ist das Ungeheuerliche aller Dämonen. Die Worte ,,Alles ist gleich” können nun ertönen, aber als fröhliche Worte, vorausgesetzt sie werden von dem ausgesagt, was in diesem univoken gleichen Sein nicht gleich ist: Das gleiche Sein ist in allen Dingen unmittelbar gegenwärtig, ohne Vermittler und Vermittlung, obwohl sich die Dinge auf ungleiche Weise in diesem gleichen Sein aufhalten. Alle aber stehen in absoluter Nähe zueinander, und zwar dort, wohin die Hybris sie treibt, und ob groß oder klein, niedrig oder hoch - keines von ihnen partizipiert mehr oder weniger am Sein oder erhält es durch Analogie zugesprochen. Das univoke Sein ist nomadische Verteilung und gekrönte Anarchie’ zugleich. Läßt sich jedoch nicht eine Vereinbarkeit zwischen Analogie und Univozität erkennen? Wenn nämlich das Sein an sich selbst, als Sein, univok ist, ist es dann nicht ,,analog“, sobald man es mit seinen innerlichen Modi oder individuierenden Faktoren erfaßt (die wir weiter oben das Ausdrückende, das Bezeichnende nannten)? Wenn es an sich selbst gleich ist, ist es dann nicht ungleich in den Modalitäten, die sich in ihm aufhalten? Wenn es eine gemeinsame Entität bezeichnet, geschieht dies dann nicht für jeweils Existierendes, das ,,in Wirklichkeit“ nichts gemein hat? Wenn es eine metaphysische Verfassung von Univozität hat, hat es dann nicht eine physische Verfassung von Analogie? Und wenn die Analogie einen identischen Quasi-Begriff anerkennt, erkennt dann nicht die Univozität ein analogisches Quasi-Urteil an, und sei es nur, um das Sein jeweils auf jenes besondere Existierende zu beziehen’? Derartige Fragen aber laufen Gefahr, die beiden Thesen, die sie einander annähern wollen, zu verfälschen. Denn das Wesentliche der Analogie beruht, wie wir gesehen haben, auf einem gewissen Einverständnis (trotz ihrer Wesensdifferenz) zwischen Gattungsdifferenzen und Artdifferenzen: Das Sein kann nicht 8 Anspielung auf A. Artauds Text Héliogabale ou L’anarchiste couronné (1934), in: Oeuvres complétes, Paris 1982, Bd. 2 [A.d.Ü.]. 9 Etienne Gilson wirft alle diese Fragen in seinem Buch über Duns Scotus auf (Jean Duns Scot, Paris 1952, S. 87-88, 114, 236-237, 629). Er insistiert auf den Bezug der Analogie zum Urteil und ganz besonders zum Existenzurteil (S. 101).
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als eine gemeinsame Gattung gesetzt werden, ohne den Grund zu vernichten, warum man es auf diese Weise setzt, d. h. die Seinsmöglichkeit der Artdifferenzen . . . Man wird sich also nicht wundern, daß sich unter dem Gesichtspunkt der Analogie alles über Vermittlung und Allgemeinheit - Identität des Begriffs allgemein und Analogie der allgemeinsten Begriffe - in den mittleren Gebieten der Gattung und der Art vollzieht. Unvermeidlich gerät daher die Analogie in eine ausweglose Schwierigkeit: Sie muß das Sein wesentlich auf besonderes Existierendes beziehen, zugleich aber kann sie nicht angeben, was dessen jeweilige Individualität bildet. Sofern sie nämlich im Besonderen nur das einbehält, was mit dem Allgemeinen (Form und Materie) übereinstimmt, sucht sie das Individuationsprinzip in diesem oder jenem Element der bereits konstituierten Individuen auf. Wenn wir dagegen sagen, daß sich das univoke Sein wesentlich und unmittelbar auf individuierende Faktoren bezieht, so verstehen wir darunter sich nicht die in der Erfahrung konstituierten Individuen, sondern das, was in ihnen als transzendentales Prinzip, als bildnerisches, anarchisches und nomadisches Prinzip wirksam wird, das mit dem Individuationsprozeß gleichzeitig ist und die Individuen ebenso aufzulösen und zu vernichten wie vorübergehend zu konstituieren vermag: innerliche Modalitäten des Seins, die von einem ,,Individuum” zum anderen übergehen und unter den Formen und Materien zirkulieren und kommunizieren. Das Individuierende ist nicht das bloß Individuelle. Unter diesen Bedingungen genügt es nicht, daß man sagt, die Individuation unterscheide sich naturgemäß von der Spezifikation. Es genügt nicht einmal, dies auf die Art des Duns Scotus zu tun, der sich doch nicht mit der Analyse der Elemente eines bereits gebildeten Individuums begnügte, sondern sich bis zum Entwurf einer Individuation als ,,letzter Aktualität der Form“ erhob. Man muß nicht nur zeigen, wie die individuierende Differenz wesentlich von der Artdifferenz abweicht, sondern zuerst und vor allem, wie die Individuation von Rechts wegen der Form und der Materie, der Art und den Teilen und jedem anderen Element des konstituierten Indidividuums vorausgeht. Sofern sie sich unmittelbar auf die Differenz bezieht, verlangt die Univozität des Seins, daß man nachweist, wie die individuierende Differenz im Sein den Gattungsdifferenzen, Artdifferenzen und noch den individuellen Differenzen vorausgeht - wie ein vorgängiges Individuationsfeld im Sein sowohl die Spezifikation der Formen, als auch die Bestimmung der Teile und ihre individuellen Variationen bedingt. Wenn sich die Individuation weder über die Form noch über die Materie, weder qualitativ noch extensiv vollzieht, so deshalb, weil sie durch die Formen, Materien und extensiven Teile bereits vorausgesetzt wird (und nicht nur, weil sie sich wesentlich davon unterscheidet). Allgemein vermitteln sich die Gattungs- und Artdifferenzen in der Analogie des Seins hinsichtlich der individuellen Differenzen also keineswegs auf dieselbe Weise, wie sich in der Univozität das univoke Sein unmittelbar von den individuierenden Differenzen aussagt, oder wie sich das Universale unabhängig von jeder Vermittlung vom Singulärsten aussagt. Wenn es stimmt, daß die
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Analogie das Sein als eine gemeinsame Gattung zurückweist, weil die (artbildenden) Differenzen ,,sind”, so ist umgekehrt das univoke Sein tatsächlich gemein in dem Maße, wie die (individuierenden) Differenzen ,,nicht sind“ und nicht sein dürfen. Sicher werden wir sehen, daß sie in einem ganz besonderen Sinn nicht sind: Wenn sie nicht sind, so deshalb, weil sie im univoken Sein von einem negationslosen Nicht-Sein abhängen. Es wird in der Univozität aber bereits deutlich, daß nicht die Differenzen sind oder sein müssen. Vielmehr ist es das Sein, das Differenz ist, und zwar in dem Sinne, wie es sich von der Differenz aussagt. Und nicht wir sind es, die univok in einem Sein sind, das es selbst nicht ist; vielmehr bleiben wir, bleibt unsere Individualität äquivok in einem Sein, für ein univokes Sein. Die Geschichte der Philosophie bestimmt drei Hauptmomente in der Ausarbeitung der Univozität des Seins. Für den ersten steht Duns Scotus. Im Opus Oxoniense, dem größten Buch reiner Ontologie, wird das Sein als univok gedacht, aber das univoke Sein wird als neutral, neuter, indifferent gegenüber dem Unendlichen und Endlichen, dem Singulären und Universalen, dem Erschaffenen und Nicht-Erschaffenen gedacht. Scotus verdient also den Titel eines ,,Doctor subtilis”, weil sein Blick das Sein diesseits der Verflechtung von Universalem und Singulärem ausmacht. Um die Analogiekräfte im Urteil zu neutralisieren, kommt er ihnen zuvor und neutralisiert zuerst das Sein in einem abstrakten Begriff. Darum hat er das univoke Sein bloß gedacht. Und man erkennt den Feind, dem zu entkommen er sich - gemäß den Forderungen des Christentums - abmüht: den Pantheismus, in den er verfallen würde, wäre das gemeinsame Sein nicht neutral. Er vermochte indessen zwei Typen von Unterscheidung zu definieren, die jenes indifferente neutrale Sein auf die Differenz bezogen. Denn die formale Unterscheidung ist zwar eine reale Unterscheidung, da sie im Sein oder im Ding gründet, sie ist aber nicht notwendig eine numerische Unterscheidung, weil sie sich zwischen Wesenheiten oder Bedeutungen, zwischen ,, formalen Gründen“ errichtet, die die Einheit des Subjekts, dem sie zugeschrieben werden, fortbestehen lassen können. Auf diese Weise setzt sich nicht nur die Univozität des Seins (im Verhältnis zu Gott und den Geschöpfen) in der Univozität der ,,Attribute“ fort, sondern es kann auch Gott, seine Unendlichkeit vorausgesetzt, die formal geschiedenen univoken Attribute besitzen, ohne daß seine Einheit irgend beeinträchtigt wurde. Der andere Unterscheidungstyp, die modale Unterscheidung, errichtet sich zwischen dem Sein oder den Attributen einerseits und den intensiven Variationen, zu denen sie fähig sind, andererseits. Diese Variationen, wie etwa die Abstufungen des Weißen, sind individuierende Modalitäten, deren singuläre Intensitäten gerade durch das Unendliche und das Endliche gebildet werden. Unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Neutralität impliziert das univoke Sein also nicht nur qualitative Formen oder distinkte Attribute, die selbst univok sind, sondern es bezieht sich und bezieht sie auf intensive Faktoren oder individuierende Grade, die seinen und ihren Modus variieren, ohne sein und ihr Wesen als Sein zu verändern. Wenn es stimmt,
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daß die Unterscheidung überhaupt das Sein auf die Differenz bezieht, so sind die formale Unterscheidung und die modale Unterscheidung die beiden Typen, unter denen sich das univoke Sein an sich und durch sich selbst auf die Differenz bezieht. Mit dem zweiten Moment bewirkt Spinoza einen beträchtlichen Fortschritt. Anstatt das univoke Sein als neutrales oder indifferentes zu denken, macht er aus ihm ein Objekt reiner Bejahung. Das univoke Sein verschmilzt mit der einzigen, universalen und unendlichen Substanz: Es wird als Deus sive Natura gesetzt. Und der Kampf, den Spinoza gegen Descartes aufnimmt, ist nicht ohne Beziehung zu demjenigen, den Duns Scotus gegen den heiligen Thomas führte. Gegen die ganz von Analogie durchdrungene kartesianische Theorie der Substanzen, gegen das kartesianische Konzept der Unterscheidungen, das das Ontologische, das Formale und das Numerische innig vermischt (Substanz, Qualität und Quantität), organisiert Spinoza eine bewundernswerte Aufteilung der Substanz, der Attribute und Modi. Schon auf den ersten Seiten der Ethik macht er geltend, daß die realen Unterscheidungen niemals numerisch, sondern nur formal sind, d.h. qualitativ oder wesentlich (wesentliche Attribute der einzigen Substanz); und daß umgekehrt die numerischen Unterscheidungen niemals real sind, sondern nur modal (innerliche Modi der einzigen Substanz und ihrer Attribute). Die Attribute verhalten sich in Wirklichkeit wie qualitativ verschiedene Bedeutungen [sens], die sich auf die Substanz als ein und dasselbe Bezeichnete beziehen; und diese Substanz verhält sich ihrerseits wie eine ontologisch eine Bedeutung im Verhältnis zu den Modi, die sie ausdrücken und in ihr individuierenden Faktoren oder intensiven innerlichen Graden entsprechen. Daraus entspringen eine Bestimmung des Modus als Grad an Fähigkeit [puissance] und eine einzige ,,Verpflichtung“ für den Modus, nämlich seine ganze Fähigkeit oder sein Sein in der Grenze selbst zu entfalten. Die Attribute sind also der Substanz und den Modi absolut gemein, obwohl Substanz und Modi nicht dieselbe Wesenheit besitzen; das Sein selbst sagt sich in ein und derselben Bedeutung von der Substanz und den Modi aus, obwohl Modi und Substanz nicht dieselbe Bedeutung besitzen oder dieses Sein nicht auf dieselbe Weise (in se und in alio) innehaben. Jede Hierarchie, jeder Vorrang wird verneint, sofern die Substanz von allen Attributen derem Wesen gemäß auf gleiche Weise bezeichnet wird, von allen Modi gemäß ihres Grads an Fähigkeit auf gleiche Weise ausgedrückt wird. Seit Spinoza ist das univoke Sein nicht länger neutralisiert, wird vielmehr expressiv und zu einem wahrhaften bejahenden expressiven Satz. Trotzdem bleibt noch eine Indifferenz zwischen der Substanz und den Modi bestehen: Die spinozistische Substanz erscheint als unabhängig von den Modi, und die Modi hängen von der Substanz ab, allerdings als von etwas anderem. Die Substanz müßte sich selbst von den Modi, und nur von den Modi aussagen. Eine derartige Bedingung kann nur um den Preis einer allgemeineren kategorischen Umkehrung erfüllt werden, derzufolge sich das Sein vom Werden, die Identität vom Differenten, das Eine vom Vielen usw. aussagt. Daß die
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Identität nicht primär ist, daß sie als Prinzip, aber als sekundäres Prinzip, als Prinzip existiert; daß sie um das Differente kreist - dies ist die Natur einer kopernikanischen Revolution, die der Differenz die Möglichkeit ihres eigenen Begriffs eröffnet, anstatt sie unter der Herrschaft eines-Begriffs überhaupt festzuhalten, der bereits als identisch gesetzt ist. Mit der ewigen Wiederkunft wollte Nietzsche nichts anderes sagen. Die ewige Wiederkunft kann nicht die Wiederkehr des Identischen meinen, da sie im Gegenteil eine Welt (die Welt des Willens zur Macht) voraussetzt, in der alle vorgängigen Identitäten abgeschafft und aufgelöst sind. Wiederkehren ist das Sein, aber nur das Sein des Werdens. Die ewige Wiederkunft läßt nicht ,,das Selbe” wiederkehren, die Wiederkehr bildet vielmehr das einzige Selbe dessen, was wird. Wiederkehren ist das Identisch-Werden des Werdens selbst. Wiederkehren ist folglich die einzige Identität, die Identität aber als sekundäre Macht [puissance], die Identität der Differenz, das Identische, das sich vom Differenten aussagt, um das Differente kreist. Eine solche, durch die Differenz hervorgebrachte Identität wird als Wiederholung bestimmt. Daher besteht auch die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr darin, das Selbe ausgehend vom Differenten zu denken. Aber dieses Denken ist keine theoretische Repräsentation mehr: Es vollzieht praktisch eine Selektion von Differenzen gemäß dessen produktivem Vermögen, d.h. wiederzukehren oder der Prüfung der ewigen Wiederkunft standzuhalten. Der selektive Charakter der ewigen Wiederkehr tritt deutlich in der Idee Nietzsches zutage: Was wiederkehrt, ist nicht das Ganze, das Selbe oder die vorgängige Identität überhaupt. Ebensowenig sind es das Kleine oder Große als Teile des Ganzen oder Elemente des Selben. Einzig die extremen Formen kehren wieder - jene Formen, die sich, ob klein oder groß, in der Grenze entfalten und bis ans Ende der Fähigkeit gehen, sich transformieren und ineinander übergehen. Einzig das Extreme, Exzessive kehrt wieder, dasjenige, was ins andere übergeht und identisch wird. Darum sagt sich die ewige Wiederkunft nur von der Theaterwelt der Metamorphosen und Masken des Machtwillens aus, von den reinen Intensitäten dieses Willens als den individuierenden beweglichen Faktoren, die sich nicht mehr in den künstlichen Grenzen dieses oder jenes Individuums, dieses oder jenes Ichs festhalten lassen. Die ewige Wiederkunft, die Wiederkehr drückt das allen Metamorphosen gemeine Sein aus, das Maß des gemeinsamen Seins all dessen, was extrem ist, aller Grade von Macht, sofern sie verwirklicht sind. Sie ist das Gleich-Sein all dessen, was ungleich ist und seine Ungleichheit vollständig verwirklichen konnte. Alles, was extrem ist und das Selbe wird, kommuniziert in einem gleichen und gemeinsamen Sein, das dessen Wiederkunft bestimmt. Darum ist der Übermensch definiert durch die höhere Form all dessen, was ,,ist”. Man muß durchschauen, was Nietzsche vornehm nennt: Er belehnt die Sprache des Energiephysikers, er nennt vornehm die Energie, die sich zu transformieren vermag. Wenn Nietzsche sagt, die Hybris sei das wahre Problem jedes Herakliteers, oder die Rangordnung sei das Problem der freien Geister, so meint er ein und dasselbe: daß jeder in der Hybris das Sein findet,
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das ihn wiederkehren läßt, und ebenso jene Art gekrönter Anarchie, jene umgekehrte Rangordnung, die, um die Selektion der Differenz zu gewährleisten, mit der Unterordnung des Identischen unter das Differente beginnt”. Unter diesen Aspekten ist die ewige Wiederkunft die Univozität des Seins, die tatsächliche Verwirklichung dieser Univozität. In der ewigen Wiederkunft ist das univoke Sein nicht nur gedacht und sogar bejaht, es ist vielmehr tatsächlich verwirklicht. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung aus, diese Bedeutung aber ist die der ewigen Wiederkunft als Wiederkunft oder Wiederholung dessen, wovon es sich aussagt. Das Rad in der ewigen Wiederkunft ist zugleich Erzeugung der Wiederholung ausgehend von der Differenz, und Selektion der Differenz ausgehend von der Wiederholung.
Die Prüfung des Kleinen und Großen schien uns die Selektion zu verfäl- i schen, weil sie zugunsten der Erfordernisse der Identität des Begriffs überhaupt auf einen eigenen Begriff der Differenz verzichtete. Sie legte nur die Grenzen fest, zwischen denen die Bestimmung Differenz wurde, indem sie sich in den identischen Begriff oder in die analogen Begriffe (Minimum und Maximum) einschrieb. Darum schien uns die Selektion, die darin besteht, den Unterschied zu machen, einen anderen Sinn zu haben: die extremen Formen in der bloßen Präsenz eines univoken Seins erscheinen und sich entfalten zu lassen - und weniger die mittleren Formen nach den Erfordernissen der organischen Repräsentation abzumessen und aufzuteilen. Können wir jedoch sagen, daß wir alle Mittel des Kleinen und Großen erschöpft haben, sofern sie auf die Differenz angewendet werden? Werden wir sie nicht als eine charakteristische Alternative der extremen Formen selbst wiederfinden? Denn das Extreme scheint sich über das Unendliche im Kleinen oder im Großen zu definieren. Das Unendliche bedeutet in diesem Sinne sogar die Identität des Großen und Kleinen, die Identität der Extreme. Wenn die Repräsentation in sich das Unendliche findet, so er-
10 Vgl. Nietzsche: ,,J enes gefährliche Wort, Hybris, ist in der Tat der Prüfstein für jeden Herakliteer” (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Werke, hg. v. K. Schlechta, München i969”, Bd. 3, S. 376). Und zum Problem der Hierarchie, zum ,,Problem der Rangordnung”, das ,,unser Problem ist, wir freien Geister,“ Erster Band, Vorrede, § 6-7 (Werke, a.a.O., vgl. Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 1, S. 442-444). - Un d zum Übermenschen als ,,höchste Art alles Seienden“: Ecce Homo (Also sprach Zarathustra, § 6; in: Werke, Bd. 2, S. 1135).
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scheint sie als orgische, und nicht mehr als organische Repräsentation: Sie entdeckt in sich den Aufruhr, die Unruhe und die Leidenschaft unter der scheinbaren Ruhe oder den Grenzen des Organisierten. Sie stößt wieder auf das Ungeheuer. Es handelt sich dann nicht mehr um einen glücklichen Augenblick, der den Eintritt und den Austritt der Bestimmung im Begriff überhaupt markierte, das relative Minimum und das relative Maximum, den punctum proximum und den punctum remotum. Es ist vielmehr ein kurzsichtiges Auge, ein weitsichtiges Auge gefordert, damit der Begriff für alle Momente einsteht: Der Begriff ist nun das Ganze, sei es, daß er seinen Segen auf alle Teile hin ausdehnt, sei es, daß sich die Spaltung und das Unglück der Teile in ihm reflektieren, um eine Art Absolution zu erhalten. Der Begriff folgt also und vereinigt sich mit der Bestimmung von einem Ende zum anderen, in all ihren Metamorphosen, und repräsentiert sie als reine Differenz, indem er sie einem Grund ausliefert, hinsichtlich dessen die Frage bedeutungslos geworden ist, ob man sich nun vor einem relativen Minimum oder einem relativen Maximum, vor einem Großen oder einem Kleinen oder vor einem Anfang oder einem Ende befindet, da beide im Grund als einem und demselben ,,totalen“ Moment zusammenfallen, in einem Moment, in dem ebenso die Differenz verlöscht und erzeugt wird, verschwindet und erscheint. Man wird in diesem Sinne feststellen, wie sehr Hegel - nicht weniger als Leibniz - der unendlichen Bewegung des Verlöschens als solchem Gewicht verleiht, d.h. dem Moment, in dem die Differenz schwindet, der mit dem zusammenfällt, in dem sie entsteht. Der Begriff der Grenze selbst erhält eine völlig andere Bedeutung: Er bezeichnet nicht mehr die Schranken der endlichen Repräsentation, sondern im Gegenteil die Matrix, in der die endliche Bestimmung fortwährend verschwindet und entsteht, sich fortwährend in der orgischen Repräsentation umhüllt und entfaltet. Er bezeichnet nicht mehr die Beschränkung einer Form, sondern die Konvergenz auf einen Grund hin; nicht mehr die Unterscheidung der Formen, sondern die Korrelation von Begründetem und Grund; nicht mehr das Aussetzen der Macht, sondern das Element, in dem die Macht verwirklicht und gegründet ist. Die Differentialrechnung ist nämlich ebenso wie die Dialektik eine Sache der ,,Macht”” und der Macht der Grenze. Wenn man die Schranken der endlichen Repräsentation als zwei abstrakte mathematische Bestimmungen behandelt, die denen des Kleinen und des Großen entsprechen, so bemerkt man wiederum, daß Leibniz (und Hegel) die Frage völlig gleichgültig ist, ob das Bestimmte klein oder groß, das Größte oder das Kleinste ist; die Berücksichtigung des Unendlichen macht das Bestimmte von dieser Frage unabhängig, indem sie es einem architektonischen Element unterstellt, das in allen Fällen das Vollendetste oder
11 Vgl. Anmerkung 3, S. 18 [A.d.Ü.].
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Bestbegründete offenbart12. In diesem Sinne muß von der orgischen Repräsentation gesagt werden, sie mache die Differenz, da sie sie durch die Einführung dieses Unendlichen auswählt, das sie auf den Grund bezieht (sei es eine Begründung durch das Gute, das als Wahl- und Spielprinzip wirksam wird, sei es eine Begründung durch die Negativität, die als Schmerz und Arbeit wirksam wird). Und wenn man die Schranken der endlichen Repräsentation, d. h. das Kleine und das Große selbst, im konkreten Merkmal oder Inhalt verhandelt, der ihnen durch die Gattungen und Arten verliehen wird, so macht auch hier die Einführung des Unendlichen in die Repräsentation das Bestimmte unabhängig von der Gattung als bestimmbarer und von der Art als Bestimmung, indem sie die wahre Universalität, die sich der Gattung entzieht, und ebenso die authentische Singularität, die sich der Art entzieht, in einem Mittelbegriff festhält. Kurz, das Prinzip der orgischen Repräsentation ist der Grund und ihr Element das Unendliche - im Gegensatz zur organischen Repräsentation, die als Prinzip die Form und als Element das Endliche bewahrte. Das Unendliche ist es, wodurch die Bestimmung denkbar und auswählbar wird: Die Differenz erscheint folglich als orgische Repräsentation der Bestimmung, nicht mehr als ihre organische Repräsentation. Anstatt Urteile über die Dinge hervorzurufen, macht die orgische Repräsentation aus den Dingen selbst entsprechend viele Ausdrücke, Sätze: unendliche analytische oder synthetische Sätze. Warum aber besteht eine Alternative in der orgischen Repräsentation, während die beiden Punkte, das Kleine und das Große, das Maximum und das Minimum, indifferent oder identisch im Unendlichen und die Differenz völlig unabhängig von ihnen im Grund geworden ist? Dies rührt daher, daß das Unendliche nicht der Ort ist, an dem die endliche Bestimmung verschwunden ist (das hieße, die falsche Auffassung der Grenze ins Unendliche zu projizieren). Die orgische Repräsentation kann das Unendliche in sich nur dadurch entdecken, daß sie die endliche Bestimmung fortbestehen läßt, und mehr noch, daß sie das Unendliche von dieser endlichen l2 Zur Indifferenz gegenüber dem Kleinen oder Großen vgl. Leibniz: Tentamen anagogicum, in: Die philosophischen Schriften, hg. v. C. J-Gerhardt, Berlin 1890 (Nachdruck: H’ld 1 e s heim u. New York 1978), Bd. 7. - Man wird feststellen, daß sich für Leibniz wie für Hegel die unendliche Repräsentation nicht auf eine mathematische Struktur reduzieren läßt: Es gibt in der Differentialrechnung und in der Stetigkeit ein architektonisches, nicht-mathematisches oder über-mathematisches Element. Umgekehrt scheint Hegel in der Differentialrechnung tatsächlich die Anwesenheit eines wahrhaften Unendlichen zu erkennen, das das Unendliche des ,,Verhältnisses“ ist; sein Vorwurf gegenüber dem Kalkül lautet nur, daß es dieses wahrhafte Unendliche in der mathematischen Form der ,,Reihe” ausdrückt, die selbst ein falsches Unendliches ist. Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik 1, in: Werke, hg. v. E. Mollenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt 1986, Bd. 5, S. 279 ff. - Die moderne Interpretation verhandelt die Differentialrechnung bekanntlich in den Begriffen der endlichen Repräsentation; wir analysieren diesen Gesichtspunkt im vierten Kapitel.
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Bestimmung selbst aussagt, daß sie sie nicht als verloschen und verschwunden repräsentiert, sondern als verlöschend und im Augenblick ihres Verschwindens und damit auch im Prozeß ihres Entstehens im Unendlichen. Diese Repräsentation ist so beschaffen, daß das Unendliche und das Endliche darin dieselbe Unruhe besitzen, die es gerade ermöglicht, das eine im anderen zu repräsentieren. Wenn sich aber das Unendliche vom Endlichen selbst unter den Bedingungen der Repräsentation aussagt, so kann es dies auf zwei Arten tun: entweder als unendlich Kleines oder als unendlich Großes. Diese beiden Arten, diese beiden ,,Differenzen“ sind keineswegs symmetrisch. Auf diese Weise wird die Dualität wieder in die orgische Repräsentation hineingetragen, und zwar nicht mehr in Form einer Komplementarität oder einer Reflexion von zwei zuschreibbaren unendlichen Momenten (wie dies bei der Artdifferenz und der Gattungsdifferenz der Fall war), sondern in Form einer Alternative zwischen zwei unendlichen und nicht zuschreibbaren Prozessen - in Form einer Alternative zwischen Leibniz und Hegel. Wenn es stimmt, daß sich das Kleine und das Große im Unendlichen treffen, so treten das unendlich Kleine und das unendlich Große erneut auseinander, und das umso hartnäckiger, als sich das Unendliche vom Endlichen aussagt. Leibniz und Hegel entkommen jeweils gesondert der Alternative des Großen und des Kleinen, beide aber verfallen von Neuem der Alternative zwischen unendlich Kleinem und unendlich Großem. Darum öffnet sich die orgische Repräsentation auf eine Dualität hin, die ihre Unruhe verdoppelt oder gar deren wahrhafte ratio darstellt und sie in zwei Typen teilt. Es zeigt sich, daß der ,,Widerspruch“ nach Hegel kaum ein Problem darstellt. Er hat eine ganz andere Funktion: Der Widerspruch löst sich und löst, indem er sich löst, die Differenz dadurch auf, daß er sie auf einen Grund bezieht. Die Differenz stellt das einzige Problem. Seinen Vorgängern wirft Hegel vor, bei einem gänzlich relativen Maximum stehengeblieben zu sein, ohne das absolute Maximum zu erreichen, d. h. den Widerspruch, das Unendliche (als unendlich Großes) des Widerspruchs. Sie wagten nicht, bis ans Ende zu gehen: ,,Der Unterschied überhaupt ist schon der Widerspruch an sich. [. . .] Die Mannigfaltigen werden erst auf die Spitze des Widerspruchs getrieben regsam und lebendig gegeneinander und erhalten in ihm die Negativität, welche die innewohnende Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit ist. [. . .] Näher den Unterschied der Realität genommen, so wird er aus der Verschiedenheit zum Gegensatze und damit zum Widerspruch und der Inbegriff aller Realitäten überhaupt zum absoluten Widerspruch in sich selbst“13. Wie Aristoteles bestimmt Hegel die Differenz durch den Gegensatz der Extreme oder des Entgegengesetzten. Aber der Gegensatz bleibt abstrakt, solange er nicht bis 13 Hegel* . Wissenschaft der Logik, Bd. 1, in: Werke, a.a.O., Bd. 6, S. 65 u. 78. Vgl. auch Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke Bd. 8, § 116-122. - Zu diesem Übergang von der Differenz zum Gegensatz und zum Widerspruch vgl. die Kommentare Jean Hyppolites: Logique et existence, Paris 1953, S. 146-157.
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ins Unendliche geht, und das Unendliche bleibt abstrakt immer dann, wenn man es außerhalb endlicher Gegensätze setzt: Die Einführung des Unendlichen zieht hier die Identität des Entgegengesetzten nach sich oder macht aus dem Entgegengesetzten des Anderen ein Entgegengesetztes des Selbst. Freilich repräsentiert die Kontrarietät nur im Unendlichen die Bewegung der Inwendigkeit; diese läßt Indifferenz fortbestehen, weil jede Bestimmung, sofern sie das Andere enthält, unabhängig vom Anderen wie von einem Bezug zum Außen ist. Zudem muß jedes Entgegengesetzte sein Anderes aus sich heraustreiben, sich also aus sich selbst heraustreiben und zum Anderen werden, das es heraustreibt. Dies ist der Widerspruch als Bewegung der Äußerlichkeit oder der realen Objektivierung, der die wahre Pulsation des Unendlichen bildet. In ihm wird also die bloße Identität des Entgegengesetzten als Identität des Positiven und Negativen überschritten. Denn Positives und Negatives sind nicht auf gleiche Weise das Selbe; das Negative ist nun das Werden des Positiven, wenn das Positive verneint wird, und zugleich die Wiederkehr des Positiven, wenn es sich selbst verneint oder ausschließt. Sicher war keines der als positiv und negativ bestimmten Entgegengesetzten bereits der Widerspruch, ,,[a]ber das Positive ist nur an sich dieser Widerspruch; das Negative dagegen der gesetzte Widerspruch“. Die Differenz erfährt im gesetzten Widerspruch ihren eigenen Begriff, wird in ihm als Negativität bestimmt, wird in ihm rein, innerlich, wesentlich, qualitativ, synthetisch, produktiv und läßt keine Indifferenz fortbestehen. Im Aushalten, in der Erregung des Widerspruchs liegt die selektive Prüfung, die den Unterschied ,,macht“ (und zwar zwischen dem Tatsächlich-Realen und dem flüchtigen oder kontingenten Phänomen). Auf diese Weise wird die Differenz bis zum Ende getrieben, d. h. bis zum Grund, der ihre Wiederkunft oder Reproduktion ebenso wie ihre Vernichtung ist. Obwohl es sich vom endlichen Gegensatz oder von der endlichen Bestimmung aussagt, ist dieses Hegelsche Unendliche noch das unendlich Große der Theologie, des Ens quo nihil majus . . . Man muß sogar bedenken, daß die Natur des realen Widerspruchs, sofern er ein Ding von all dem, was es nicht ist, unterscheidet, zuerst von Kant formuliert wurde, der ihn mit dem Namen ,,durchgängige Bestimmung“ von der Setzung eines Ganzen der Realität als Ens summum abhängen läßt. Es besteht also kein Grund, eine mathemathische Verhandlung dieses unendlich Großen der Theologie, dieser Erhabenheit des unendlich Großen zu erwarten. Anders bei Leibniz. Denn aufgrund der Bescheidenheit der Geschöpfe, und um jede Vermischung von Gott und den Geschöpfen zu vermeiden, kann Leibniz das Unendliche nur in Form d e s unendlich Kleinen ins Endliche einführen. Man wird in diesem Sinne jedoch mit der Behauptung zögern, er ginge ,,weniger weit“ als Hegel. Auch er überschreitet die organische Repräsentation auf eine orgische Repräsentation hin, wenngleich auf anderem Weg. Wenn Hegel in der heiteren Repräsentation die Trunkenheit und Unruhe des unendlich Großen entdeckt, so entdeckt Leibniz in der endlichen klaren Idee die Unruhe des unendlich Kleinen, die
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ebenso aus Trunkenheit, Taumel, Verlöschen und gar Tod besteht. Es scheint also, als rühre der Unterschied zwischen Hegel und Leibniz an zwei Arten, das Organische zu überschreiten. Sicherlich sind das Wesentliche und das Unwesentliche nicht voneinander zu trennen, ebensowenig das Eine und das Viele, das Gleiche und das Ungleiche, das Identische und das Differente. Hegel aber geht vom Wesentlichen als Gattung aus; und durch das Unendliche wird die Spaltung in die Gattung und die Aufhebung der Spaltung in die Art gebracht. Die Gattung ist also sie selbst und die Art, das Ganze ist es selbst und der Teil. Sie enthält demnach das Andere in essentia, sie enthält es wesentlich14. Leibniz dagegen geht, was die Phänomene betrifft, vom Unwesentlichen aus - von der Bewegung, vom Ungleichen, vom Differenten. Dank des unendlich Kleinen ist es das Unwesentliche, das nun als Art und als Gattung gesetzt wird und sich als solche in der ,,entgegengesetzten QuasiArt“ vollendet: Das bedeutet, daß es das andere nicht in essentia, sondern nur als Eigenschaft, als Fall enthält. Es ist falsch, der infinitesimalen Analyse folgende Alternative aufzuzwingen: Ist sie eine Sprache von Wesenheiten oder eine bequeme Fiktion ? Denn die Subsumierung unter den ,,Fall“ oder die Sprache der Eigenschaften besitzen ihre eigene Originalität. Dieses Verfahren des unendlich Kleinen, das die Unterscheidung der Wesenheiten aufrechterhält (sofern eine im Verhältnis zur anderen die Rolle des Unwesentlichen übernimmt), ist völlig verschieden von der Kontradiktion; man muß ihm daher einen besonderen Namen, den Namen ,,Vize-Diktion“ geben. Im unendlich Großen steht das Gleiche in Kontradiktion zum Ungleichen, sofern es dieses in essentiu besitzt, und widerspricht sich selbst, sofern es sich selbst negiert, indem es das Ungleiche negiert. Im unendlich Kleinen aber steht das Ungleiche in Vize-Diktion zum Gleichen, in Vize-Diktion zu sich selbst, sofern es das, wodurch es in essentia ausgeschlossen wird, als Fall einschließt. Das Unwesentliche umfaßt das Wesentliche als Fall, während das Wesentliche das Unwesentliche in essentia enthielt. Muß man sagen, die Vize-Diktion gehe weniger weit als die Kontradiktion, unter dem Vorwand, sie betreffe nur die Eigenschaften? In Wirklichkeit weist der Ausdruck ,,unendlich kleine Differenz“ zwar darauf hin, daß die Differenz im Verhältnis zur Anschauung verlischt; aber sie findet ihren Begriff, und es ist eher die Anschauung, die selbst zugunsten des Differentialquotienten verlischt. Man weist dies nach, indem man sagt, dx sei nichts im Verhältnis zu x, u’y nichts im Verhältnis zu y, aber dyldx sei das innere qualitative Verhältnis, das das Universale einer Funktion losgelöst von seinen besonderen Zahlenwerten ausdrückt. Wenn aber das Verhältnis keine numerischen Bestimmungen besitzt, so hat es dennoch Variationsgrade, die mit verschiedenen Formen und Gleichungen übereinstimmen. Diese Grade entsprechen selbst den Ver-
l4 Zum Unendlichen, zur Gattung und Art vgl. Phänomenologie des Geistes, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 130-133, 140-143, 221-225.
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hältnissen des Universalen; und die Differentialquotienten werden in diesem Sinne vom Prozeß einer Wechselbestimmung erfaßt, der die Interdependenz der variablen Koeffizienten wiedergibt? Wiederum aber drückt die Wechselbestimmung nur den ersten Aspekt eines wahrhaften Vernunftprinzips aus; der zweite Aspekt ist die vollständige, die durchgängige Bestimmung. Denn jeder Grad oder jedes Verhältnis, verstanden als das Universale einer Funktion, bestimmt die Existenz und die Auftei lung von ausgezeichneten Punkten der entsprechenden Kurve. Wir müssen hier große Sorgfalt darauf wenden, nicht das ,,Vollständ ige“ mit dem ,,Ganzen“ zu verwechseln; denn etwa für die Gleichung einer Kurve verweist der Differentialquotient nur auf gerade Linien, die durch die Natur der Kurve bestimmt sind; er ist bereits vollständige Bestimmung des Objekts und drückt dennoch nur einen Teil des ganzen Objekts aus, den als ,,abgeleitet“ betrachteten Teil (der andere Teil, der durch die sogenannte primitive Funktion ausgedrückt wird, kann nur durch Integration gefunden werden, die sich keineswegs damit begnügt, die Umkehrung der Differentiation darzustellen; ebenso ist es die Integration, die die Natur der vorher bestimmten ausgezeichneten Punkte definiert). Darum kann ein Objekt duchgängig bestimmt sein - ens omni modo determinutum -, ohne darum schon über seine integrale Beschaffenheit zu verfügen, die allein seine aktuelle Existenz ausmacht. Aber unter dem doppelten Gesichtspunkt der Wechselbestimmung und der durchgängigen Bestimmung wird bereits offenbar, daß der Grenzwert mit der Macht selbst zusammenfällt. Der Grenzwert wird durch die Konvergenz definiert. Die Zahlenwerte einer Funktion finden ihre Grenze im Differentialverhältnis; die Differentialquotienten finden ihre Grenze in den Variationsgraden; und bei jedem Grad sind die ausgezeichneten Punkte die Grenze von Reihen, die sich analytisch ineinander fortsetzen. Nicht nur ist das Differentialverhältnis das reine Element der Potentialität, vielmehr ist die Grenze die Macht des Stetigen, wie die Stetigkeit die der Grenzen selbst. Die Differenz erhält damit ihren Begriff in einem Negativen, in einem Negativen reiner Beschränkung aber, einem nihil respectivum (dx ist nichts im Verhältnis zu x). Aus all diesen Perspektiven bildet die Unterscheidung zwischen Ausgezeichnetem und Gewöhnlichem, Singulärem und Regulärem im Stetigen die beiden eigentlichen Kategorien des Unwesentlichen. Sie rufen die ganze Sprache der Grenzen und Eigenschaften16 ins Leben, sie konstituieren die Struktur des Phänomens als solchen; in diesem Sinne werden wir sehen, was alles die l5 Vgl. Leibniz: Nova calculi differentialis applicatio . . . (1694), in: Mathematische Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Halle 1858 (Nachdruck: Hildesheim u. New York 1971), Bd. 5, S. 301-396. - Zu einem Prinzip von Wechselbestimmung, wie es Salomon Maimon Leibniz entnimmt, vgl. M. Guéroult: La philosophie transcendentale de Salomon Maihzon, Paris 1929, S. 75ff. (aber weder Maimon noch Leibniz unterscheiden die Wechselbestimmung der Verhältnisse und die durchgängige Bestimmung des Objekts). 16 Vgl . Anmerkung 6, S. 59 [A.d.Ü.].
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Philosophie von einer Verteilung von ausgezeichneten und gewöhnlichen Punkten hinsichtlich der Beschreibung der Erfahrung zu erwarten hat. Aber schon die beiden Arten von Punkten bahnen und bestimmen im Unwesentlichen die Konstitution der Wesenheiten selbst. Das Unwesentliche bezeichnet hier nicht das Bedeutungslose, sondern im Gegenteil das Tiefste, den Stoff oder das universale Kontinuum, woraus die Wesenheiten selbst schließlich gemacht sind. Tatsächlich hat Leibniz seinerseits nie einen Widerspruch zwischen dem Gesetz der Stetigkeit und dem Prinzip des Nichtzuunterscheidenden gesehen. Das eine reguliert die Eigenschaften, die Affektionen oder vollständigen Fälle, das andere die Wesenheiten, die als ganze individuelle Notionen verstanden werden. Bekanntlich drückt jede dieser ganzen Notionen (Monaden) die Totalität der Welt aus; aber sie drückt sie gerade in einem gewissen Differentialverhältnis und in der Umgebung gewisser ausgezeichneter Punkte aus, die diesem Verhältnis entsprechen ‘. In dieser Hinsicht zeigen die Differentialquotienten und die ausgezeichneten Punkte bereits im Stetigen Umhüllungszentren an, mögliche Implikations- oder Involutionszentren, die durch die individuellen Wesenheiten verwirklicht werden. Es genügt der Nachweis, daß das Kontinuum von Affektionen und Eigenschaften rechtmäßig, in gewisser Weise, der Konstitution dieser individuellen Wesenheiten vorangeht (was mit anderen Worten heißt, daß die ausgezeichneten Punkte selbst präindividuelle Singularitäten sind; und dies widerspricht keineswegs der Idee, daß die Individuation der aktuellen Spezifikation vorangeht, obwohl sie dem gesamten differentiellen Kontinuum nachgestellt ist). Diese Bedingung wird in der Philosophie Leibniz’ folgendermaßen erfüllt: Als ein allen Monaden gemeinsames Ausgedrücktes existiert die Welt vor ihren Ausdrücken. Dennoch trifft es freilich zu, daß sie nicht außerhalb dessen, wodurch sie ausgedrückt wird, existiert, außerhalb der Monaden selbst; diese Ausdrücke aber verweisen auf das Ausgedrückte wie auf das Requisitum ihrer Konstitution. In diesem Sinne setzt (wie es Leibniz beständig in seinen Briefen an Arnauld in Erinnerung ruft) die Inhärenz der Prädikate in jedem Subjekt die Kompossibilität der von all diesen Subjekten ausgedrückten Welt voraus: Gott hat nicht den sündigen Adam geschaffen, sondern zuerst die Welt, in der Adam gesündigt hat.,Die Kompossibilität jeder Welt wird zweifellos durch die Stetigkeit definiert; und die Leibniz an Arnauld
(1687), in: Die philosophischen Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 111112: ,,Ich hatte gesagt, daß die Seele von Natur aus das ganze Universum in gewissem Sinne und gemäß des Verhältnisses ausdrückt, das die anderen Körper ZU dem ihrigen haben, und daß sie demnach die Vorgänge, die sich in den Teilen ihres Körpers abspielen, unmittelbar wiedergibt. Sie wird daher kraft der Gesetze des Verhältnisses, die ihr wesentlich sind, bestimmte außergewöhnliche Bewegungen der Teile ihres Körpers in besonderer Weise ausdrücken“ (deutsche Übersetzung, leicht verändert, nach Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. V. A. Buchenau u. E. Cassirer, Leibzig 1924, Bd. 2, S. 232).
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wirkliche Welt ist die beste aller nur in dem Maße, wie sie ein Maximum an Stetigkeit in einem Maximum von Fällen, in einem Maximum von Verhältnissen und ausgezeichneten Punkten aufweist. Das bedeutet, daß sich für jede Welt eine Reihe, die in Umgebung eines ausgezeichneten Punktes konvergiert, in alle Richtungen in anderen Reihen fortzusetzen vermag, die in der Umgebung anderer Punkte konvergieren, wobei sich im Gegenteil die Inkompossibilität der Welten in der Nachbarschaft von Punkten definiert, die die erhaltenen Reihen voneinander divergieren lassen würden. Man sieht, warum der Gedanke der Inkompossibilität keineswegs auf den Widerspruch hinausläuft und nicht einmal einen wirklichen Gegensatz impliziert: Er impliziert nur die Divergenz; und die Kompossibilität gibt bloß die Originalität des Prozesses der Vize-Diktion als analytische Fortsetzung wieder. Im Kontinuum einer kompossiblen Welt bestimmen die Differentialquotienten und ausgezeichneten Punkte also expressive Zentren (individuelle Wesenheiten oder Substanzen), in denen sich immer jeweils die gesamte Welt unter einem gewissen Gesichtspunkt einhüllt. Umgekehrt entwickeln und entfalten sich diese Zentren, indem sie die Welt restituieren und dann selbst die Rolle von bloßen ausgezeichneten Punkten und ,,Fällen“ im ausgedrückten Kontinuum übernehmen. Das Gesetz der Stetigkeit erscheint hier als ein Gesetz der Eigenschaften oder Fälle der Welt, als ein Gesetz der Entwicklung [développement], das auf die ausgedrückte Welt, aber auch auf die Monaden selbst in der Welt angewendet wird; das Prinzip des Nichtzuunterscheidenden ist ein Prinzip der Wesenheiten, ein Prinzip der Umhüllung [enveloppement], das auf die Ausdrücke, d.h. auf die Monaden und die Welt in den Monaden angewendet wird. Die beiden Sprachen übersetzen sich unaufhörlich ineinander. Zusammengenommen beziehen alle beide die Differenz als unendlich kleine und als endliche Differenz zugleich auf die ratio sufficiens als einen Grund, der selektiert, d. h. die beste aller Welten auswählt - wobei die beste aller Welten in diesem Sinne zwar einen Vergleich impliziert, aber keinen Komparativ darstellt; jede Welt ist unendlich, und das ist ein Superlativ, der die Differenz zu einem absoluten Maximum treibt, und zwar noch in der Prüfung des unendlich Kleinen. Die endliche Differenz ist in der Monade als Ge biet der klar ausgedrückten Welt bestimmt, die unendlich kleine Differenz als verworrener Untergrund, der diese Klarheit bedingt. Auf diese zweifache Weise vermittelt Repräsentation die Bestimmung, macht aus ihr einen Begriff der die orgische Differenz, indem sie ihr eine ,,ratio“ zuschreibt. Die endliche Repräsentation ist die einer Form, die eine Materie umfaßt, eine sekundäre Materie allerdings, insofern sie durch die konträren Entgegensetzungen geformt ist. Wir haben gesehen, daß sie die Differenz repräsentierte, indem sie sie vermittelte, sie der Identität als Gattung unterordnete und indem sie diese Unterordnung in der Analogie der Gattungen selbst garantierte, im logischen Gegensatz der Bestimmungen wie in der Ähnlichkeit der spezifisch materiellen Inhalte. Mit der unendlichen Repräsentation verhält es sich anders, weil sie das Ganze umfaßt, d. h. den Untergrund als ursprüngliche Materie
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und das Wesen als Subjekt, als Ich oder absolute Form. Die unendliche Repräsentation bezieht zugleich das Wesen und den Untergrund [fond] und die Differenz zwischen beiden auf einen Grund [fondement] oder eine ratio Die Vermittlung selbst ist Grund geworden. Aber einmal ist der sufficiens. Untergrund die unendliche Stetigkeit der Eigenschaften des Universalen, das sich selber in die als Wesenheiten betrachteten, endlichen und besonderen Ichs einhüllt. Ein anderes Mal ist das jeweilige Besondere bloß Eigenschaft oder Gestalt, die sich im unendlichen universalen Untergrund entwickelt, die aber auf die Wesenheiten als wahre Bestimmungen eines reinen Ichs oder besser eines ,,Selbst“ verweist, das in diesen Untergrund eingehüllt ist. In beiden Fällen ist die unendliche Repräsentation Gegenstand einer doppelten Rede: einer Rede von Eigenschaften und von Wesenheiten - von physischen Punkten und von metaphysischen Punkten oder Gesichtspunkten bei Leibniz, von Gestalten und von Momenten oder Kategorien bei Hegel. Man wird nicht behaupten können, Leibniz ginge weniger weit als Hegel; es gibt bei ihm sogar mehr Tiefe, mehr Orgismus oder bacchantisches Delirium in dem Sinne, wie der Untergrund über einen größeren Antrieb verfügt. Aber anscheinend reicht in beiden Fällen die unendliche Repräsentation ebenfalls nicht hin, das Denken der Differenz aus der Abhängigkeit von der bloßen Analogie der Wesenheiten oder der bloßen Gleichartigkeit der Eigenschaften zu lösen. Denn in letzter Instanz befreit sich die unendliche Repräsentation nicht vom Identitätsprinzip als Voraussetzung der Repräsentation. Darum unterliegt sie weiterhin der Bedingung der Konvergenz der Reihen bei Leibniz, unterliegt sie weiterhin der Bedingung der monozentrischen Anordnung der Kreise bei Hegel. Die unendliche Repräsentation macht einen Grund geltend. Wenn aber der Grund nicht das Identische selber ist, so ist er dennoch eine Art und Weise, das Identitätsprinzip besonders ernst zu nehmen, ihm einen unendlichen Wert zu verleihen, es koextensiv zum Ganzen zu machen und damit über die Existenz selbst herrschen zu lassen. Es ist unwichtig, ob die Identität (als Identität der Welt und des Ich) nun analytisch, in der Art des unendlich Kleinen, oder synthetisch, in der Art des unendlich Großen verstanden wird. In einem Fall steht die ratio sufficiens, der Grund in Vize-Diktion zur Identität; im anderen Fall in Kontradiktion zu ihr. In allen Fällen aber bringt die ratio sufficiens, der Grund, im Durchgang durchs Unendliche das Identische nur dazu, in seiner Identität selbst zu existieren. Und dies läßt sich bei Leibniz ebenso klar wie bei Hegel erkennen. Der Hegelsche Widerspruch verneint nicht die Identität oder den Nicht-Widerspruch; er besteht im Gegenteil darin, die beiden Nein des Nicht-Widerspruchs ins Existierende einzutragen, und zwar so, daß das Identische unter dieser Bedingung, in dieser Grundlegung [fondation] hinreicht, das Existierende als solches zu denken. Die Formulierungen, denen zufolge ,,das Ding verneint, was es nicht ist“ oder ,,sich von allem unterscheidet, was es nicht ist“, sind logische Monstren (das Ganze dessen, was nicht das Ding ist) im Dienste der Identität. Man sagt, die Differenz sei die Negativität, sie führe oder müsse bis zum Widerspruch führen, sobald man sie bis an ihr
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Ende treibt. Dies stimmt nur in dem Maße, wie die Differenz bereits auf einen Weg gebracht, an einen Faden gebunden ist, der von der Identität ausgelegt wird. Dies stimmt nur in dem Maße, wie sie durch die Identität bis dorthin getrieben wird. Die Differenz ist der Untergrund, allerdings nur der Untergrund zur Manifestation des Identischen. Hegels Kreis ist nicht die ewige Wiederkunft, sondern bloß die unendliche Zirkulation des Identischen im Durchgang durch die Negativität. Die Hegelsche Kühnheit ist die letzte und mächtigste Hommage an das alte Prinzip. Es ist zwischen Leibniz und Hegel nicht sonderlich entscheidend, ob das von der Differenz vorausgesetzte Negative als vize-diktorische Beschränkung oder als kontradiktorischer Gegensatz gedacht wird; und ebensowenig, ob dieunendliche Identität selbst als analytisch oder synthetisch gesetzt wird. In jedem Fall bleibt die Differenz der Identität untergeordnet, aufs Negative reduziert, in der Gleichartigkeit und in der Analogie eingekerkert. Darum ist in der unendlichen Repräsentation das Delirium nichts als ein falsches vorgeformtes Delirium, das nirgends die Ruhe oder die Heiterkeit des Identischen stört. Die unendliche Repräsentation besitzt also denselben Mangel wie die endliche Repräsentation: Sie verwechselt nämlich den eigenen Begriff der Differenz mit der Niederschrift der Differenz in die Identität des Begriffs überhaupt (obwohl sie die Identität als reines unendliches Prinzip und nicht als Gattung begreift, und obwohl sie die Rechte des Begriffs überhaupt aufs Ganze ausdehnt, anstatt dessen Schranken zu fixieren).
Die Differenz kennt ihre kritische Erfahrung: Immer wenn wir uns vor oder in einer Beschränkung, vor oder in einem Gegensatz befinden, müssen wir danach fragen, was eine derartige Situation voraussetzt. Sie setzt ein Gewimmel von Differenzen voraus, einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen, einen im eigentlichen Sinn differentiellen, ursprünglichen Raum und eine differentielle, ursprüngliche Zeit, die über die Vereinfachungen der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen. Damit Kräftegegensätze oder Formbegrenzungen Gestalt annehmen, ist zunächst ein tieferes reales Element notwendig, das sich als eine formlose und potentielle Mannigfaltigkeit definiert und bestimmt. Die Gegensätze sind mit groben Umrissen aus einer feingesponnenen Umgebung von einander überlappenden Perspektiven ausgeschnitten, von kommunizierenden Entfernungen, Divergenzen und Disparitäten, von heterogenen Potentialen und Intensitäten; und es handelt sich zunächst nicht darum, Spannungen im Identischen aufzulösen, sondern darum, Disparata in einer Mannigfaltigkeit zu verteilen. Die Beschränkungen entsprechen einer einfachen Macht der ersten Dimension - in einem Raum mit nur einer Dimension und einer Richtung kann es, wie in Leibniz’ Beispiel von Schiffen, die von der Strömung davongetragen werden, Stöße geben, aber diese Stöße gelten notwendig als Beschränkung und Ausgleich, nicht als Neutralisierung und Gegensatz. Was den Gegensatz betrifft,
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so repräsentiert er seinerseits die Macht der zweiten Dimension, und zwar als eine Ausbreitung der Dinge in einem ebenen Raum, als eine Polarisierung, die auf eine einzige Ebene reduziert ist; und die Synthese selbst vollzieht sich bloß in einer falschen Tiefe, d.h. in einer fiktiven dritten Dimension, die zu den anderen hinzutritt und sich damit begnügt, die Ebene zu halbieren. In jedem Fall entgeht uns die ursprüngliche, intensive Tiefe, die die Matrix des gesamten Raums und die erste Affirmation der Differenz darstellt; im Zustand freier ) Differenzen regt sich und brodelt in ihr, was erst in der Folge als lineare Beschränkung und planer Gegensatz erscheinen wird. Überall setzen die Paare, die Polaritäten Bündel und Netze voraus; und die aufgestellten Gegensätze Strahlungen in jede Richtung. Die stereoskopischen Bilder bilden einen Gegensatz nur als planen und flachen; ansonsten jedoch verweisen sie auf eine Staffelung von mobilen koexisterenden. Flächen, auf eine ,,Disparation“ [disparation] in der ursprünglichen Tiefe. Überall ist die Tiefe der Differenz primär; und es ist zwecklos, die Tiefe als dritte Dimension wiederzufinden, wenn man sie nicht als Umhüllung der beiden anderen und als ihre eigene Umhüllung als dritte Dimension an den Anfang gestellt hat. Raum und Zeit manifestieren Gegensätze (und Beschränkungen) nur an der Oberfläche, setzen aber in ihrer realen Tiefe Differenzen voraus, die in viel höherem Maße Dichte besitzen, bejaht und verteilt werden und sich nicht auf die Flachheit des Negativen reduzieren lassen. Wie in Lewis Carrolls Spiegel, in dem auf der Oberfläche alles entgegengesetzt und verkehrt, in der Tiefendimension aber ,,different“ erscheint. Wir werden sehen, daß es sich ebenso mit jedem geometrischen, physikalischen, biopsychischen, sozialen und sprachlichen Raum verhält (wie wenig gesichert erscheint in dieser Hinsicht die prinzipielle Erklärung Trubetzkoys: ,,Die Idee des Unterschieds setzt die Idee des Gegensatzes voraus ( “). Es gibt eine falsche Tiefe des Kampfes, unter dem Kampf aber den Spielraum der Differenzen. Das Negative ist das Bild der Differenz, allerdings ihr flachgedrücktes und verkehrtes Bild, wie die Kerze im Ochsenauge - im Auge des Dialektikers, der von einem nichtigen Kampf träumt? Auch in diesem Sinne geht Leibniz weiter, d. h. tiefer als Hegel, wenn er im Untergrund die ausgezeichneten Punkte und differentiellen Elemente einer Mannigfaltigkeit verteilt und in der Schöpfung der Welt ein Spiel entdeckt: Man konnte also sagen, daß die erste Dimension, die der Grenze, trotz ihrer Unvollkommenheit näher an die usprüngliche Tiefe heranreicht. Bestünde der einzige Fehler Leibniz’ nicht darin, daß er die Differenz ans Negative der Beschränkung gebunden hat, weil er die Vorherrschaft des alten Prinzips aufrechterhielt, weil er die Reihen an eine Konvergenzbedingung knüpfte, ohne zu bemerken, daß die Divergenz selbst Gegenstand von Bejahung ist, oder daß die Inkompossibilitäten derselben Welt zugehören und sich als größtes Verbrechen und größte Tugend - aus ein und derselben Welt der ewigen Wiederkunft stammend - bejahen? Nicht die Differenz setzt den Gegensatz voraus, sondern der Gegensatz die Differenz; und weit davon entfernt, sie aufzulösen, d.h. auf einen Grund ZU
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führen, entstellt und verfälscht der Gegensatz die Differenz. Wir behaupten nicht nur, die Differenz an sich sei nicht ,,schon“ Widerspruch, wir behaupten vielmehr, sie lasse sich nicht auf den Widerspruch reduzieren und bringen, weil dieser weniger tief, und nicht etwa tiefer ist als sie. Denn unter welcher Bedingung wird die Differenz derart in einen ebenen Raum überführt und projiziert. ? Eben dann, wenn man sie gewaltsam in eine vorgängige Identität gezwängt hat, wenn man sie auf jenen Abhang des Identischen gestellt hat, der sie notwendig dorthin trägt- und sie sich dort reflektieren läßt, wo das Identische sie haben will, nämlich im Negativen”. Man hat oft bemerkt, was zu Beginn der ,Phänomenologie‘ geschieht, die Nachhilfe der Hegelschen Dialektik: Das Hier und das Jetzt werden als leere Identitäten, als abstrakte Universalitäten gesetzt, die die Differenz mit sich ziehen sollen; aber gerade die Differenz folgt keineswegs und bleibt in der Tiefe ihres eigenen Raums hängen, im Hier-und-Jetzt einer differentiellen Realität, die immer schon aus Singularitäten besteht. Manchen Denkern unterlief es, wie man sagt, die Bewegung für unmöglich zu erklären, was das Zustandekommen der Bewegung nicht verhinderte. Bei Hegel ist es umgekehrt: Er vollführt die Bewegung, selbst die Bewegung des Unendlichen, da er sie aber mit Wörtern und Repräsentationen vollzieht, ist sie eine falsche Bewegung, und nichts folgt. Dasselbe geschieht jedesmal in der Vermittlung oder Repräsentation. Der Repräsentant sagt: ,, Alle Welt anerkennt, daß . . .“, aber es gibt stets eine nichtrepräsentierte Singularität, die nicht anerkennt, eben weil sie nicht alle Welt oder das Universale ist. ,,Alle Welt“ anerkennt das Universale, da sie ja selbst das Universale ist, das Singuläre aber erkennt es nicht an, das tiefe sinnliche Bewußtsein nämlich, das jedoch dessen Unkosten tragen soll. Das Unglück beim Sprechen besteht nicht im Sprechen, sondern darin, für die anderen zu 18 Louis Althusser denunziert an der Philosophie Hegels die Allmacht der Identität, d. h. die Einfachheit eines inneren Prinzips: ,,Die Einfachheit des Hegelschen Widerspruchs ist in der Tat nur durch die Einfachheit des inneren Prinzips möglich, das das Wesen jeder historischen Periode bildet. Weil es von Rechts wegen möglich ist, die Totalität die unendliche Diversität einer gegebenen historischen Gesellschaft auf ein einfaches inneres Prinzip zu reduzieren [. . .], kann sich eben diese, somit rechtens vom Widerspruch erworbene Einfachheit darin reflektieren.“ Darum wirft er dem Hegelschen Kreis vor, daß er nur ein einziges Zentrum hat, in dem sich alle Gestalten reflektieren und bewahren. Althusser stellt Hegel ein Prinzip des multiplen oder überdeterminierten Widerspruchs entgegen, das er bei Marx zu finden glaubt: ,,Das besagt, daß die ,Unterschiede‘, die alle auf dem Spiel stehenden Instanzen bilden [. ..], wenn sie zu einer wirklichen Einheit ,verschmelzen‘, sich nicht wie eine reine Erscheinung in der inneren Einheit eines einfachen Widerspruchs ‘verlieren’.“ (Immerhin ist es nach Althusser noch der Widerspruch, der überdeterminiert und differentiell ist, und immerhin geht die Gesamtheit seiner Differenzen legitimerweise in einem Grundwiderspruch auf.) - Vgl. Pour Marx, Contradiction et surdétermination, Paris 1965, S. 100-103 (dt.: Für Marx, Widerspruch und Überdeterminierung, Frankfurt/M. 1968, S. 68 u. 65).
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sprechen oder etwas zu repräsentieren. Das sinnliche Bewußtsein (d.h. das Etwas, die Differenz oder z& &hha) bleibt verstockt. Man kann stets vermitteln, zur Antithese übergehen, die Synthese arrangieren, die These aber folgt nicht, verharrt in ihrer Unmittelbarkeit, in ihrer Differenz, die an sich die wahre Bewegung vollzieht. Die Differenz ist der wahre Inhalt der These, die Eigensinnigkeit der These. Das Negative, die Negativität fängt nicht einmal das Phänomen der Differenz ein, sondern erhält bloß deren Phantom oder Epiphänomen, und die gesamte ,Phänomenologie‘ ist eine Epiphänomenologie. Dies ist es, was die Philosophie der Differenz zurückweist: omnis determinatio negatio . . . Man weist die allgemeine Alternative der unendlichen Repräsentation zurück: entweder das Unbestimmte, das Indifferente, das Undifferenzierte, oder eine bereits als Negation bestimmte Differenz, die das Negative impliziert und umhüllt (damit weist man auch die besondere Alternative zurück: Negatives der Beschränkung oder Negatives des Gegensatzes). Die Differenz ist ihrem Wesen nach Gegenstand von Bejahung, Bejahung selbst. In ihrem Wesen ist die Bejahung selbst Differenz. Aber läuft hier die Philosophie der Differenz nicht Gefahr, als eine neue Gestalt der schönen Seele zu erscheinen? Die schöne Seele nämlich sieht überall Differenzen, appelliert an achtenswerte, versöhnbare und vereinbare Differenzen noch dort, wo sich die Geschichte weiterhin in blutigen Widersprüchen vollzieht. Die schöne Seele gebärdet sich wie ein aufs Schlachtfeld verschlagener Friedensrichter, der bloße ,,Streitigkeiten“ und vielleicht Mißverständnisse in den unstillbaren Kämpfen erkennen möchte. Um jedoch die Lust an reinen Differenzen an die schöne Seele zurückzuverweisen und das Geschick der realen Differenzen mit dem des Negativen und des Widerspruchs zu verschweißen, genügt es umgekehrt nicht, sich leichthin zu verhärten und auf die altbekannten Komplementaritäten von Affirmation und Negation, Leben und Tod, Erschaffung und Zerstörung - zu berufen - als ob sie hinreichend eine Dialektik der Negativität begründen könnten. Denn derartige Komplementaritäten verschaffen uns noch keinerlei Kenntnis über den Bezug eines Terms zum anderen (resultiert die bestimmte Bejahung aus einer bereits negativen oder negierenden Differenz, oder resultiert das Negative aus einer bereits differentiellen Bejahung?). Wir sagen ganz allgemein, daß es zwei Arten gibt, an ,,notwendige Zerstörungen” zu appellieren: die des Dichters, der im Namen einer schöpferischen Macht spricht, die alle Ordungen und Repräsentationen umzustürzen vermag, um die Differenz im Status permanenter Umwälzung der ewigen Wiederkunft ZU bejahen; und die des Politikers, der sich zunächst um die Verneinung des n Abweichenden” kümmert, um eine bestehende Ordnung in der Geschichte ZU bewahren und zu festigen, oder um eine historische Ordnung zu errichten, die in der Welt bereits auf die Formen ihrer Repräsentation drängt. In einem besonders bewegten Augenblick mögen beide Zusammenfallen, niemals aber sind sie dasselbe. Niemand weniger als Nietzsche kann für eine schöne Seele gehalten werden. Seine Seele ist in höchstem Maße schön, aber nicht im Sinne
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der schönen Seele; niemand besitzt mehr als er den Sinn für die Grausamkeit, die Lust an der Zerstörung. Aber gerade er stellt in seinem ganzen Werk unaufhörlich zwei Konzeptionen des Verhältnisses Affirmation/Negation gegeneinander. Zwar ist in einem Fall die Negation Motor und Macht. Die Bejahung resultiert aus ihr - wie, sagen wir, ein Ersatz. Und vielleicht sind zwei Negationen nicht zuviel, um ein Phantom von Bejahung, einen Ersatz von Bejahung zu ergeben. Wie aber könnte die Bejahung aus der Negation resultieren, wenn sie nicht das Verneinte konservieren würde? Darum macht Nietzsche auch auf den fürchterlichen Konservativismus einer derartigen Konzeption aufmerksam. Die Bejahung wird zwar erzeugt, aber nur um zu allem Negativen und Verneinenden, zu allem, was verneint werden kann, Ja zu sagen. Der Esel Zarathustras sagt auf solche Weise Ja; aber bejahen bedeutet für ihn tragen, auf sich nehmen, schleppen. Er trägt alles: die Bürden, die man ihm auflädt (die göttlichen Werte), die Bürden, mit denen er sich selbst belädt (die menschlichen Werte), das Gewicht seiner erschöpften Muskeln, wenn er nichts mehr zu tragen hat (das Fehlen von Werten)lS. Es gibt eine schreckliche Lust an der Verantwortung bei diesem Esel, bei diesem dialektischen Ochsen, einen moralischen Nachgeschmack, als ob man nur durch vieles Büßen bejahen könnte, als ob man nur durch das Unglück der Spaltung und der Zerrissenheit zum Jasagen gelangen könnte. Als ob die Differenz das Übel und schon das Negative wäre, das die Bejahung nur durch Buße hervorbringen könnte, das heißt dadurch, daß es sich zugleich das Gewicht des Verneinten wie der Negation selbst auflüde. Stets der alte Fluch, der vom Identitätsprinzip herabtönt: Nicht das bloß Repräsentierte, sondern einzig die unendliche Repräsentation (der Begriff) wird erlöst, die das Negative bewahrt, um schließlich die Differenz ans Identische auszuliefern. Unter allen Bedeutungen von Aufheben [i. 0. dt.] ist die wichtigste die des Emporhebens. Es gibt zwar einen dialektischen Kreis, aber dieser unendliche Kreis besitzt überall nur ein einziges Zentrum, das alle anderen Kreise, alle anderen momentanen Zentren in sich festhält. Die Reprisen oder Wiederholungen der Dialektik drücken nur die Konservierung des Ganzen, aller Gestalten und aller Momente, in einem gigantischen Gedächtnis aus. Die unendliche Repräsentation ist konservierendes Gedächtnis. Die Wiederholung ist hier nichts als ein Konservatorium, eine Macht des Gedächtl9 Nietzsche denunziert fortwährend die Gleichsetzung von ,,bejahen“ und ,,tragen“ (vgl. Jenseits von Gut und Böse, § 213, in: Werke, Bd. 2, S. 679: ,,,Denken‘ und eine Sache ,ernst nehmen‘ , ,schwer nehmen‘ das gehört bei ihnen zueinander: so allein haben sie es ,erlebt“‘). Denn tragen impliziert eine falsche Tätigkeit, eine falsche Bejahung, die sich bloß mit den Erzeugnissen des Nihilismus belädt. So definiert Nietzsche Kant und Hegel als ,,philosophische Arbeiter“, die eine große Menge bestehender Werturteile anhäufen und konservieren, selbst wenn es sich für sie dabei um einen Sieg über das Vergangene handelt; sie sind in diesem Sinne noch Sklaven des Negativen (§ 211).
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nisses selbst. Zwar gibt es eine zirkuläre dialektische Selektion, aber stets nur
zu Gunsten dessen, was sich in der unendlichen Repräsentation bewahrt, d. h. selbst trägt und getragen wird. Die Selektion arbeitet gegen den Strom und eliminiert unerbittlich, was den Kreis unwuchtig machen oder die Transparenz der Erinnerung brechen würde. Den Schatten der Höhle gleich treten Träger und Last unaufhörlich ein und gehen hinaus, um zurückzukehren, in die unendliche Repräsentation - und wollen damit die eigentlich dialektische Macht übernommen haben. Der anderen Konzeption zufolge aber ist die Bejahung ursprünglich: Sie bejaht die Differenz, die Distanz. Die Differenz ist die leichte, die ätherische, die bejahende. Bejahen heißt nicht tragen, sondern ganz das Gegenteil: entlasten, erleichtern. Es ist nicht mehr das Negative, das ein Phantom von Bejahung als einen Ersatz erzeugt. Das Nein resultiert vielmehr aus der Bejahung: Es ist nun seinerseits der Schatten, aber eher im Sinne von Folge, von Nachfolge [i. 0. dt.], wie man sagen könnte. Das Negative ist das Epiphänomen. Die Verneinung ist, wie eine Pfütze, die Wirkung einer allzustarken, allzu verschiedenen Bejahung. Und vielleicht sind zwei Affirmationen nötig, um den Schatten der Negation als Nachfolge [i.O. dt.] zu erzeugen; und vielleicht gibt es zwei Augenblicke, die Differenz als Mitternacht und Mittag, in denen der Schatten selbst verschwindet. In diesem Sinne konfrontiert Nietzsche das Ja und das Nein des Esels mit dem Ja und dem Nein von Dionysos-Zarathustra; den Standpunkt des Sklaven, der aus dem Nein das Phantom einer Bejahung gewinnt, mit dem Standpunkt des ,,Herren“, der aus dem Ja eine Folge von Verneinung, von Zerstörung gewinnt; den Standpunkt der Bewahrer alter Werte mit dem Standpunkt der Schöpfer neuer Werte2’. Die Herren, wie Nietzsche sie nennt, sind ganz gewiß Machtmenschen [hommes de puissance], nicht aber die Machthaber [hommes du pouvoir], da sich die Herrschaftsmacht nach der Zuweisung geläufiger Werte bemißt; der Sklave bleibt Sklave, auch wenn er zur Herrschaft gelangt, und das Gesetz des Weltlaufs und der Oberfläche der Welt besteht gerade darin, daß sie von den Sklaven regiert wird. Die Unterscheidung zwischen bestehenden Werten und Schöpfung darf nicht so sehr im Sinne eines historischen Relativismus begriffen werden, als ob die bestehenden Werte zu ihrer Zeit neu gewesen wären und die neuen sich durchsetzen müßten, sobald ihre Stunde gekommen ist. Es besteht im Gegenteil eine Wesensdifferenz, eine Differenz zwischen der konservativen Ordnung der Repräsentation und einer schöpferischen Unordnung, einem genialischen Chaos, das immer nur mit einem Augenblick der Geschichte zusammenfallen kann, ohne mit ihr zu verschmelzen. Die tiefste Wesensdifferenz besteht zwischen den mittleren und den extremen Formen 20 Jenseits von Gut und Böse, § 211. Zum ,,Nein“ des Herren als Folge im Gegensatz zum ,,Nein” des Sklaven als Prinzip vgl. Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, § 10.
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(neuen Werten): Man erreicht das Extrem nicht, indem man die mittleren Formen ins Unendliche treibt, indem man sich ihres Gegensatzes im Endlichen bedient, um ihre Identität im Unendlichen zu bejahen. In der unendlichen Repräsentation läßt uns die Pseudo-Bejahung nicht aus den mittleren Formen heraustreten. Darum wirft Nietzsche allen Selektionsprozessen, die sich auf den Gegensatz oder den Kampf gründen, vor, sich zum Vorteil des Mittelmaßes zu wenden und zugunsten der ,,großen Zahl“ zu wirken. Der ewigen Wiederkunft bleibt es vorbehalten, die wahre Auslese zu bewerkstelligen, weil sie im Gegenteil die mittleren Formen aussondert und ,,die höhere Form alles Seienden“ freisetzt. Das Extreme besteht nicht in der Identität des Entgegengesetzten, sondern viel eher in der Univozität des Differenten; die höhere Form ist nicht die unendliche Form, sondern viel eher das ewig Formlose der ewigen Wiederkunft selber über die Metamorphosen und Transformationen hinweg. Die ewige Wiederkunft macht den Unterschied, weil sie die höhere Form schafft. Die ewige Wiederkunft bedient sich der Negation als Nachfolge [i. 0. dt.] und erfindet eine neue Formel der Negation der Negation: alles, was verneint werden kann, wird verneint, muß verneint werden. Das Genie der ewigen Wiederkunft liegt nicht im Gedächtnis, sondern in der Verschwendung, im tätig gewordenen Vergessen. Alles Negative und Verneinende, all jene mittleren Bejahungen, die das Negative tragen, all jene fahlen und mißgeratenen Jas, die aus dem Nein hervorgehen, all das, was der Prüfung der ewigen Wiederkunft nicht standhält, muß verneint werden. Wenn die ewige Wiederkunft ein Rad ist, so muß man dieses allerdings mit einer gewaltigen zentrifugalen Bewegung ausstatten, die all das ausstößt, was verneint werden ,,kann” und der Prüfung nicht standhält. Nietzsche verkündet denen, die nicht an die ewige Wiederkunft ,,glauben“ werden, bloß eine milde Strafe: Sie werden nur ein vergängliches Leben erfahren, nur ein vergängliches Leben leben! Sie werden sich als das erfahren und erkennen, was sie sind - als Epiphänomene; dies wird ihr Absolutes Wissen sein. Somit resultiert die Negation als Folge aus der vollen Bejahung, verzehrt alles Negative und verzehrt sich selbst im beweglichen Zentrum der ewigen Wiederkunft. Wenn nämlich die ewige Wiederkunft ein Kreis ist, so befindet sich im Zentrum die Differenz und das Selbe lediglich an der Peripherie - ein in jedem Augenblick dezentrierter und beständig unwuchtiger Kreis, der sich nur um das Ungleiche dreht. Die Negation ist die Differenz, die Differenz aber von der kleinen Seite, von unten aus gesehen. Aufgerichtet jedoch, von oben nach unten gesehen, ist die Differenz die Bejahung. Aber dieser Satz hat viele Bedeutungen; daß die Differenz Objekt von Bejahung ist; daß die Bejahung selbst mannigfaltig ist; daß sie Schöpfung ist, aber auch dasjenige, was erschaffen werden muß, als das die Differenz Bejahende, als Differenz an sich selbst. Nicht das Negative ist der Motor. Viel eher gibt es positive differentielle Elemente, die zugleich d.ie Genese der Bejahung und die bejahte Differenz bestimmen. Daß es eine Genese der Bejahung als solcher gibt - dies entgeht uns immer dann, wenn wir die Bejahung im Unbestimmten belassen oder die Bestimmung ins Negative
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verlegen. Die Negation resultiert aus der Bejahung: Dies meint, daß die Negation im Gefolge oder neben der Bejahung auftaucht, aber nur als Schatten des tieferen genetischen Elements - jener Macht oder jenes ,,Willens“, der die Bejahung und die Differenz in der Bejahung erzeugt. Die das Negative tragen, wissen nicht, was sie tun: Sie halten den Schatten für Wirklichkeit, geben den Phantomen Nahrung, schneiden die Folge von den Prämissen ab, verleihen dem Epiphänomen den Rang des Phänomens und des Wesens. Die Repräsentation läßt die bejahte Welt der Differenz entweichen. Die Repräsentation hat nur ein einziges Zentrum, eine einzige und fliehende Perspektive und eben damit eine falsche Tiefe; sie vermittelt alles, aber mobilisiert und bewegt nichts. Die Bewegung ihrerseits impliziert eine Pluralität von Zentren, eine Überlagerung von Perspektiven, ein Gewirr von Blickpunkten, eine Koexistenz von Momenten, die die Repräsentation wesentlich deformieren: Bereits ein Gemälde oder eine Skulptur sind derart ,,deformierend“ und zwingen uns zur Bewegung, d.h. zur Kombination eines streifenden Blicks mit einem eindringenden Blick, zum Auf und Ab im Raum, während man voranschreitet. Genügt eine Multiplikation der Repräsentationen, um einen derartigen ,,Effekt” zu erhalten? Die unendliche Repräsentation umfaßt eben eine Unendlichkeit von Repräsentationen, sei es, daß sie die Konvergenz aller Blickpunkte in demselben Objekt oder derselben Welt garantiert, sei es, daß sie aus allen Momenten die Eigenschaften deselben Ichs macht. Aber sie bewahrt damit ein einziges Zentrum, das alle anderen sammelt und repräsentiert, und zwar als eine serielle Einheit, die ein für alle Mal die Terme und ihre Verhältnisse ordnet und organisiert. Das rührt daher, daß die unendliche Repräsentation nicht trennbar ist von einem Gesetz, durch das sie ermöglicht wird: durch die Form des Begriffs als Identitätsform, die bald das Ansich des Repräsentierten (A ist A), bald das Fürsich des Repräsentanten (Ich = Ich) bildet. Das Präfix RE im Wort Repräsentation meint diese begriffliche Form des Identischen, die sich die Differenzen unterwirft. Man erhält also das definite Unmittelbare als ,,Sub-Repräsentatives” nicht dadurch, daß man die Repräsentationen und Blickpunkte multipliziert. Im Gegenteil, schon jede Teilrepräsentation muß deformiert, umgelenkt, aus ihrem Zentrum gerissen werden. Jeder Blickpunkt muß selbst das Ding sein, das Ding zum Blickpunkt gehören. Das Ding darf also nichts Identisches sein, muß vielmehr in einer Differenz zerteilt werden, in der die Identität des gesehenen Objekts wie des sehenden Subjekts schwindet. Die Differenz muß zum Element, zur letzten Einheit werden, sie muß also auf andere Differenzen verweisen, durch die sie nie identifiziert, sondern differenziert wird. Jeder Term einer Reihe, der schon Differenz ist, muß in ein variables Verhältnis zu anderen Termen gesetzt werden und dadurch andere Reihen ohne Zentrum und Konvergenz bilden. Noch innerhalb der Reihe selbst muß die Divergenz und die Dezentrierung bejaht werden. Jedes Ding, jedes Wesen muß seine eigene Identität in der Differenz vernichtet sehen, wobei jedes nichts als eine Differenz unter Differenzen ist. Man muß die Differenz im Verlauf ihrer Differenzierung zeigen.
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Bekanntlich versucht das moderne Kunstwerk diese Bedingungen zu verwirklichen: Es wird in diesem Sinne ein regelrechtes Theater, bestehend aus Metamorphosen und Permutationen. Ein Theater ohne Fixpunkt, ein Labyrinth ohne Faden (Ariadne hat sich erhängt). Das Kunstwerk verläßt das Gebiet der Repräsentation, um ,,experimentelle Erfahrung“21 zu werden, transzendentaler Empirismus oder Wissenschaft vom Sinnlichen. Seltsamerweise hat man die Ästhetik (als Wissenschaft vom Sinnlichen) darauf zu gründen vermocht, was im Sinnlichen repräsentiert werden kann. Freilich taugt der umgekehrte Weg nicht besser, der von der Repräsentation das reine Sinnliche abzieht und es als dasjenige zu bestimmen versucht, was übrigbleibt, wenn die Repräsentation einmal entfernt ist (etwa ein widersprüchlicher Strom, eine Rhapsodie von Empfindungen). In Wirklichkeit wird der Empiris. mus transzendental und die Ästhetik eine apodiktische Disziplin, wenn wir im Sinnlichen direkt das auffassen, was nur empfunden werden kann, das Sein selbst des Sinlichen: die Differenz, die Differenz im Potential, die Intensitätsdifferenz als ratio des qualitativ Verschiedenen. Die Differenz ist es, in der das Phänomen aufblitzt, sich als Zeichen expliziert und in der die Bewegung sich als ,,Effekt“ ergibt. Die intensive Welt der Differenzen, in der die Qualitäten ihre ratio finden und das Sinnliche sein Sein, ist eben der Gegenstand eines höheren Empirismus. Dieser Empirismus lehrt uns eine fremdartige ,,ratio”, das Viele und das Chaos der Differenz (nomadische Verteilungen, gekrönte Anarchien). Immer sind es die Differenzen, die sich ähneln, die analog, entgegengesetzt oder identisch sind: Die Differenz steht hinter jedem Ding, hinter der Differenz aber gibt es nichts. Es ist Sache der Differenz, alle anderen zu durchlaufen und sich selbst über alle anderen hinweg zu ,,wollen“ oder wiederzufinden. Darum taucht die ewige Wiederkehr nicht an zweiter Stelle auf oder kommt nicht nachträglich hinzu, sondern ist bereits in jeder Metamorphose gegenwärtig, gle ichzeitig mit dem, was sie wiederkehren läßt. Die ewige Wiederkunft bezieht sich auf eine Welt von Differenzen, die sich wechselseitig implizieren, auf eine komplizierte, identitätslose, im eigentlichen Sinn chaotische Welt. Joyce präsentierte den vicus of recirculation als dasjenige, was in Umlauf hält; und schon Nietzsche sagte, daß Chaos und einen Chaosmos ewige Wiederkunft nicht zwei verschiedene Dinge seien, sondern ein und dieselbe Bejahung. Die Welt ist weder endlich noch unendlich, wie in der Repräsentation: Sie ist vollendet und unbegrenzt. Die ewige Wiederkunft ist das Unbegrenzte des Vollendeten selbst, das univoke Sein, das sich von der Differenz aussagt. In der ewigen Wiederkunft steht die Chao-Erranz22 der Kohärenz der Repräsentation gegenüber; sie schließt die Kohärenz eines sich repräsentierenden Subjekts ebenso aus wie die eines repräsentierten Objekts. Die Repetition steht der Repräsentation gegenüber, das Präfix hat eine andere 21 Frz . expérience . Erfahrung; (wissenschaftliches) Experiment [A.d.Ü.]. 22 Frz. chao-errance: Neologismus aus chaos und errance (Irrfahrt, Umherirren) mit Anklang an cohérence (Kohärenz) [A.d.Ü.]. l
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Bedeutung angenommen, denn in einem Fall sagt sich die Differenz nur im Verhältnis zum Identischen aus, im anderen Fall aber ist es das univoke Sein, das sich im Verhältnis zum Differenten aussagt. Die Wiederholung ist das formlose Sein aller Differenzen, die formlose Macht des Untergrunds, die jedes Ding in jene extreme ,,Form“ bringt, in der seine Repräsentation zerfällt. Das Disparse ist das letzte Element der Wiederholung, das der Identität der Repräsentation gegenübertritt. Daher ist auch der Kreis der ewigen Wiederkunft, der Kreis von Differenz und Wiederholung (der den Kreis des Identischen und des Widerspruchs auflöst) ein unwuchtiger Kreis, der das Selbe nur von dem aussagt, was differiert. Der Dichter Blood formuliert das Glaubensbekenntnis des transzendentalen Empirismus als regelrechte Ästhetik: ,,Die Natur ist wesentlich kontingent, exzessiv und mystisch . . . Die Dinge sind fremd . . . Das Universum ist wild . . . Das Selbe kehrt nur wieder, um Differentes zu liefern. Der langsame Kreis auf der Drehbank des Graveurs nimmt nur um Haaresbreite zu. Die Differenz aber verteilt sich auf die Kurve insgesamt, die niemals genau trifft“23. Zuweilen stellt man einen beträchtlichen philosophischen Wandel zwischen zwei vom Präkantianismus und Postkantianismus repräsentierten Momenten fest. Jener würde sich über das Negative der Beschränkung, dieser über d a s Negative des Gegensatzes definieren. Der eine durch analytische Identität, der andere durch synthetische Identität. Der eine vom Standpunkt der unendlichen Substanz, der andere vom Standpunkt des endlichen Ichs. In der großen Leibnizschen Analyse wird in die Entfaltung des Unendlichen bereits das endliche Ich eingeführt, aber in der großen Hegelschen Synthese wird in die Operation des endlichen Ichs das Unendliche wiedereingeführt. Man sollte jedoch an der Tragweite derartiger Wandlungen zweifeln. Für eine Philosophie der Differenz ist es nicht sonderlich wichtig, ob das Negative als Negatives der Beschränkung oder des Gegensatzes, und die Identität als analytische oder synthetische konzipiert wird, da die Differenz ja in jedem Fall aufs Negative reduziert und dem Identischen untergeordnet wird. Einzigartigkeit und Identität der göttlichen Substanz sind in Wahrheit der einzige Garant des einen und identischen Ichs, und Gott bleibt erhalten, solange man das Ich bewahrt. Synthetisches endliches Ich oder analytische göttliche Substanz, das ist dasselbe. Darum sind die Permutationen Mensch/Gott so enttäuschend und bringen uns nicht einen Schritt vorwärts. Nietzsche scheint wohl als erster gesehen zu haben, daß der Tod Gottes nur mit der Auflösung - des Ichs wirklich wird. Was dann zutage tritt, ist das Sein, das sich von Differenzen 23 Zitiert in Jean Wahl: Les philosophies pluralistes d’Angleterre et d’Amérique, Paris 1920, S. 111. - Jean Wahls gesamtes Werk ist eine tiefgehende Betrachtung über die Differenz; über die Möglichkeiten des Empirismus, deren poetische, freie und wilde Natur auszudrücken; über die Unmöglichkeit, die Differenz auf das bloße Negative zu reduzieren; über die nicht-hegelschen Beziehungen zwischen Bejahung und Verneinung.
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aussagt, die weder in der Substanz noch in einem Subjekt liegen: entsprechend viele unterirdische Bejahungen. Wenn die ewige Wiederkunft das höchste, d. h. intensivste Denken darstellt, so deshalb, weil ihre extreme Kohärenz am höchsten Punkt die Kohärenz eines denkenden Subjekts, einer gedachten Welt wie eines Gottes als Garant dafür ausschließt24. Eher als dafür, was vor und nach Kant passiert (und aufs Selbe hinausläuft), müssen wir uns für genau ein Moment des Kantianismus interessieren, für ein eklatantes flüchtiges Moment, das selbst bei Kant keine Fortsetzung findet und noch weniger sich im Postkantianismus fortsetzt - außer vielleicht bei Hölderlin, in der Erfahrung und in der Idee einer ,,kategorischen Umkehr“. Wenn nämlich Kant die rationale Theologie infrage stellt, führt er im selben Zug eine Art Ungleichgewicht, Riß oder Sprung, eine rechtmäßige Entfremdung, die von Rechts wegen unüberSchreitbar ist, ins reine Ich des Ich denke ein: Das Subjekt kann sich seine eigene Spontaneität nurmehr als die eines Anderen vorstellen und beruft sich damit in letzter Instanz auf eine mysteriöse Kohärenz, die seine eigene, die der Welt und die Gottes ausschließt. Cogito für ein aufgelöstes Ich: Das Ich des ,,Ich denke“ enthält in seinem Wesen eine Rezeptivität für Anschauungen, bezüglich derer ICH bereits ein anderer ist. Nicht weiter wichtig, daß die synthetische Identität, dann die Sittlichkeit der praktischen Vernunft die Integrität des Ichs, der Welt und Gottes wiederherstellen und die nachkantischen
24 In zwei Aufsätzen, die die Interpretation Nietzsches erneuern, hat Pierre Klossowski dieses Element herausgestellt: ,,Gott ist tot meint nicht, daß die göttliche Natur als eine Erklärung der Existenz verlischt, es meint vielmehr, daß der absolute Garant der Identität des Ichs am Horizont von Nietzsches Bewußtsein untergeht, welcher seinerseits mit diesem Untergang verschmilzt. [. . .] [Das Bewußtsein] kann nur noch erklären, daß seine Identität selbst ein zufälliger Umstand ist, der bloß auf willkürliche Weise als notwe ndiger bewahrt wird, auf die Gefahr hin, daß es sich selbst für jenes universale Glücksrad hält, daß es nach Möglichkeit die Totalität der Fälle umschließt, das Zufällige selbst in seiner notwendigen Totalität. Was fortbesteht, ist also das Sein und das Verb sein, das sich niemals auf das Sein selber, sondern aufs Zufällige bezieht“ (Nietzsche, le polythkisme et la parodie, in: Un si funeste désir, Paris 1963, S. 220-221). - ,,Heißt dies, daß das denkende Subjekt auf der Grundlage eines kohärenten Denkens, durch das es selber ausgeschlossen wird, seine Identität verliert? [. . .] Worin besteht mein Anteil an dieser Kreisbewegung, der gegenüber ich inkohärent bin, und gegenüber diesem so vollkommen kohärenten Denken, daß es mich in genau dem Augenblick ausschließt, in dem ich es denke? [. . .] Inwiefern beeinträchtigt sie die Gegenwärtigkeit des Ichs, jenes Ichs, dessen hohe Stimmung sie doch erregt? Indem sie die Fluktuationen freisetzt, die es als Ich auf eine Weise bezeichnet haben, daß immer nur das Vergangene in seiner Gegenwart widerhallt. [. . .] Mit Circulus vitiosus deus wird nur jenes Zeichen benannt, das hier eine göttliche Physiognomie nach dem Vorbild des Dionysos annimmt“ (Oubli et anamnése dans l’expérience vécue de Mernel retour du Meme, in: Nietzsche, Cahiers de Royaumont, Paris 1966, S. 233-235; dt. in: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, München 1986, S. 104-106; Übersetzung verändert, d.Ü.).
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Synthesen vorbereiten; für einen kurzen Augenblick sind wir in jene rechtmäßige Schizophrenie eingetreten, die die höchste Macht des Denkens kennzeichnet und das Sein direkt auf die Differenz hin öffnet, ungeachtet aller Vermittlungen, aller Versöhnungen des Begriffs.
Die Aufgabe der modernen Philosophie wurde definiert: als Umkehrung des Platonismus. Daß diese Umkehrung viele platonische Merkmale bewahrt, ist nicht nur unvermeidbar, sondern wünschenswert. In der Tat repräsentiert der Platonismus bereits die Unterordnung der Differenz unter die Mächte des Einen, des Analogen, des Ähnlichen und selbst des Negativen. Wie bei einem Tier, dessen Bewegungen während der Dressur in einem letzten Anfall besser als im Stand der Freiheit von einer bald verlorenen Natur zeugen: Die heraklitische Welt rumort im Platonismus. Mit Platon ist der Ausgang noch unsicher; die Vermittlung hat noch nicht ihre endgültige Bewegung gefunden. Die Idee ist noch kein Objektbegriff, der die Welt den Erfordernissen der Repräsentation unterstellt, sondern viel eher eine rohe Präsenz, die in der Welt nur in Abhängigkeit davon evoziert werden kann, was in den Dingen nicht ,,repräsentierbar“ ist. Daher hat sich die Idee noch nicht entschieden, die Differenz auf die Identität eines Begriffs überhaupt zu beziehen; sie hat noch nicht darauf verzichtet, einen reinen Begriff, einen eigenen Begriff der Differenz als solcher zu finden. Das Labyrinth oder das Chaos sind entwirrt, aber ohne Faden, ohne die Hilfe eines Fadens. Aristoteles hat wohl gesehen, was am Platonismus unersetzlich ist, wenngleich er gerade daraus eine Kritik an Platon machte: Die Dialektik der Differenz hat eine ihr eigene Methode - die Teilung -, diese aber verfährt ohne Vermittlung, ohne Mittelbegriff oder ratio, agiert im Unmittelbaren und beruft sich eher auf die Eingebungen der Idee als auf die Erfordernisse eines Begriffs überhaupt. Und tatsächlich ist die Teilung, gegenüber der von einem Begriff bedingten Identität, ein launisches, inkohärentes Verfahren, das von einer Singularität zur anderen springt. Aber ist das nicht seine Kraft vom Standpunkt der Idee aus? Und ist es nicht die Teilung weit davon entfernt, ein dialektisches Verfahren unter anderen abzugeben, das durch weitere ergänzt oder abgelöst werden müßte -, die im Augeblick ihres Erscheinens die anderen Verfahren ersetzt, die ganze dialektische Macht zugunsten einer wahrhaften Philosophie der Differenz sammelt und zugleich den Platonismus wie die Möglichkeit zu seiner Umkehrung ermißt? Unser Fehler besteht darin, daß wir die platonische Teilung von den Forderungen des Aristoteles aus zu begreifen versuchen. Nach Aristoteles geht es um die Teilung einer Gattung in entgegengesetzte Arten; nun fehlt diesem Verfahren nicht nur ,,ratio“ [raison] durch sich selbst, es fehlt ihm auch ein Grund [raison], nach dem man entscheidet, daß etwas eher zu dieser Art als zu jener gehört. So teilt man etwa die Künste in Künste der Hervorbringung und Künste des Erwerbs; warum aber gehört das Angeln zum Erwerb? Es fehlt
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hier die Vermittlung, d. h. die Identität eines Begriffs, der als Mittelbegriff dienen kann. Offensichtlich aber fällt der Einwand weg, wenn die platonische Teilung in keiner Weise beabsichtigt, die Arten einer Gattung zu bestimmen. Oder vielmehr, sie beabsichtigt dies, aber nur oberflächlich und gar ironisch, um unter dieser Maske ihr wirkliches Geheimnis besser verbergen zu können25. Die Teilung ist nicht das Gegenteil einer ,,Verallgemeinerung”, sie ist keine Spezifikation. Es handelt sich ganz und gar nicht um eine Methode der Spezifikation, sondern der Selektion. Es handelt sich nicht um die Teilung einer bestimmten Gattung in definite Arten, sondern um die Teilung einer verworrenen Art in reine Stammlinien oder um die Selektion einer reinen Linie ausgehend von einem Material, das dies nicht ist. Man könnte von ,,Platononen“ im Gegensatz zu ,,Aristotelonen“ sprechen, ganz wie die Biologen die ,,Jordanonen” den ,,Linnéonen“ gegenüberstellen. Denn die aristotelische Art ist, obzwar unteilbar, species infima, noch eine große Art. Die platonische Teilung wirkt auf einem ganz anderen Gebiet, auf dem Gebiet der kleinen Arten oder Linien. Darum ist ihr Ausgangspunkt auch unterschiedslos eine Gattung oder Art; diese Gattung aber, diese große Art wird als undifferenzierte logische Materie, als indifferentes Material, als Gemisch, als indefinite Mannigfaltigkeit gesetzt, die repräsentiert, was ausgeschieden werden muß, um die Idee als reine Linie zutage zu fördern. Die Suche nach Gold: das ist das Modell der Teilung. Die Differenz ist nicht artbildend, zwischen zwei Bestimmungen der Gattung, sie fällt vielmehr gänzlich auf die eine Seite, in die Linie, die man auswählt: nicht mehr die konträren Entgegensetzungen derselben Gattung, sondern das Reine und Unreine, Gute und Schlechte, Echte und Unechte in einem Gemisch, das eine große Art bildet. Die reine Differenz, der reine Differenzbegriff, und nicht die im Begriff überhaupt, in der Gattung und den Arten vermittelte Differenz. Sinn und Zweck der Teilungsmethode ist die Selektion der Rivalen, die Prüfung der Bewerber - nicht &v~&xxotc, sondern &p(p’oß~npl~ (dies wi r d an den beiden Hauptbeispielen Platons deutlich; im Politikos, wo der Politiker als derjenige definiert wird, der ,,die Menschen zu hüten“ vermag, eine Reihe von Leuten aber, Kaufleute, Ackerbauern, Bäcker, Gymnasten, Arzte, ankommen und sagen: Der wahre Hüter der Menschen bin ich! Und im Phaidros, wo es um die Definition des guten Wahnsinns und des wahrhaft Liebenden geht und viele Bewerber vorstellig werden, um zu sagen: Der Liebende, die Liebe bin ich!). Keine Frage von Art bei alledem, außer ironischerweise. Keinerlei Gemeinsamkeit mit den Sorgen des Aristote25 Zur Kritik der platonischen Teilung durch Aristoteles vgl. Erste Analytik, 1, 31; Zweite Analytik, II, 5 und 13 (gerade in letzterem Text behält Aristoteles für die Teilung eine gewisse Rolle in der Bestimmung der Art bei, wenn er auch die Unzulänglichkeiten, die er in Platons Konzeption zu entdecken glaubt, durch ein Kontinuitätsprinzip korrigiert). - Wie sehr aber die Bestimmung von Arten bloß ein ironisches Spiegelgefecht und nicht das Ziel der platonischen Teilung ist, wird etwa im Politikos (266 b-d) deutlich.
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les: Es geht nicht um Identifikation, sondern um den Nachweis der Echtheit. Das einzige Problem, das die gesamte Philosophie Platons durchzieht und seine Klassifikation der Wissenschaften oder Künste leitet, ist stets die Bewertung der Rivalen, die Auswahl der Bewerber, die Unterscheidung zwischen dem Ding und seinen Trugbildern im Innern einer Pseudo-Gattung oder einer großen Art. Es geht darum, den Unterschied zu machen: also darum, in den Tiefen des Unmittelbaren die Dialektik des Unmittelbaren, die gefährliche Prüfung ohne Faden und ohne Netz zu vollziehen. Denn nach antikem Brauch - wie im Mythos oder Epos - müssen die falschen Bewerber sterben. Unsere Frage lautet noch nicht, ob die selektive Differenz tatsächlich zwischen den wahren und den falschen Bewerbern besteht, und zwar auf die Weise, wie Platon dies sagt; sondern eher: wie Platon dank seiner Teilungsmethode diesen Unterschied macht. Der Leser erfährt hier eine lebhafte Überraschung; denn Platon schaltet einen ,,Mythos“ ein. Man könnte also sagen, daß die Teilung, sobald sie ihre Maske der Spezifikation fallen läßt und ihren wahren Zweck entdeckt, dennoch auf dessen Verwirklichung verzichtet und sich durch das bloße ,,Spiel“ eines Mythos ablösen läßt. In der Tat beruft sich der Politikos, sobald man an die Frage nach den Bewerbern gerät, auf das Bild eines Gottes, der der Welt und den Menschen in der archaischen Zeit gebietet: Einzig dieser Gott verdiene im eigentlichen Sinn den Namen eines HüterKönigs der Menschen. Gerade im Verhältnis zu ihm aber sind nicht alle Bewerber gleich wert: Es gibt eine gewisse ,,Besorgung” der menschlichen Gemeinschaft, die ganz besonders auf den Politiker verweist, weil er dem Urbild des archaischen Hüter-Königs am nächsten kommt. In gewisser Weise werden die Bewerber nach einer Rangfolge wahlverwandter Partizipation bewertet; und unter den Rivalen des Politikers kann man (gemäß diesem vom Mythos gelieferten ontologischen Maßstab) Verwandte, Diener, Gehilfen und schließlich Scharlatane, Fälschungen unterscheiden26. Dasselbe Vorgehen im Phaidros: Als es um die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des ,,Wahnsinns“ geht, beruft sich Platon unvermittelt auf einen Mythos. Er beschreibt den Kreislauf der Seelen vor der Verkörperung, die Erinnerung, die sie von den Ideen, die sie betrachten konnten, mitnehmen. Diese mythische Betrachtung, die Natur oder der Grad dieser Betrachtung, die Art der Gelegenheiten, die zur Wiedererinnerung nötig sind - all das bestimmt den Wert und die Rangfolge der verschiedenen Typen von aktuellem Wahnsinn: Wir können bestimmen, wer der falsche Liebhaber, wer der wahre Liebhaber ist; wir könnten sogar bestimmen, wer - Liebhaber, Dichter, Priester, Wahrsager 26 Unter diesem Gesichtspunkt muß der Mythos um ein Modell anderer Art ergänzt werden, um das Paradigma, das die analogische Unterscheidung zwischen den Verwandten, Dienern, Gehilfen, Fälschungen ermöglicht. Ebenso umfaßt die Prüfung des Golds mehrere Selektionen: Ausscheidung von Unreinheiten, Ausscheidung anderer Metalle ,,gleicher Familie“ (vgl. Politikos, 303 d-e).
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oder Philosoph - wahlverwandt an der Wiedererinnerung und der Betrachtung partizipiert, wer der wahre Bewerber, der wahrhaft Partizipierende ist, und in welcher Rangfolge die anderen. (Man wird einwenden, daß der dritte große Text, der die Teilung verhandelt, Sophistes, keinen Mythos vorweist; das kommt daher, daß sich Platon durch eine Paradoxale Anwendung der Methode, durch eine Gegen-Anwendung, vornimmt, hier den falschen Bewerber schlechthin zu isolieren, denjenigen, der ohne irgendein Recht Anspruch auf alles erhebt: den ,,Sophisten“.) Diese Einführung des Mythos jedoch scheint alle Einwände des Aristoteles zu bestätigen: Aus Mangel an Vermittlung hätte die Teilung keinerlei Beweiskraft und müßte sich durch einen Mythos ablösen lassen, der ihr ein Äquivalent an Vermittlung in imaginärer Form lieferte. Aber auch hier entstellen wir den Sinn dieser doch so geheimnisvollen Methode. Wenn es nämlich stimmt, daß der Mythos und die Dialektik zwei deutlich geschiedene Kräfte im Platonismus überhaupt sind, so verliert diese Unterscheidung ihre Gültigkeit, sobald die Dialektik in der Teilung ihre wahrhafte Methode entdeckt. Die Teilung ist es, die die Dualität überwindet und den Mythos in die Dialektik integriert, aus dem Mythos ein Element der Dialektik selbst macht. Die Struktur des Mythos lar bei Platon: Er ist der Kreis mit seinen beiden dynamischen rehung- und Wiederkehr, Verteilung -oder Zuteilung -- die Zuteilung der Anteile gehört zum sich drehenden Rad wie die Seelenwanderung zur ewigen Wiederkunft. Die Gründe, aus denen Platon sicher kein Protagonist der ewigen Wiederkunft ist, kümmern uns hier nicht weiter. Dennoch bleibt bestehen, daß der Mythos, im Phaidros wie im Politikos oder anderswo, das Modell eines partiellen Kreislaufes erstellt, in dem ein Grund erscheint, der geeignet ist, die Differenz zu machen, d.h. die Rollen oder Ansprüche abzumessen. Dieser Grund wird im Phaidros in Form der Ideen bestimmt, wie sie von den Seelen betrachtet werden, die über dem Himmelsgewölbe kreisen; im Politikos in Form des Hüter-Gotts, der selbst der Kreisbewegung des Universums vorsteht. Als Zentrum oder Motor des Kreises wird der Grund im Mythos als das Prinzip einer Prüfung oder einer Selektion aufgestellt, das seinen ganzen Sinn der Methode der Teilung verleiht, indem er die Grade einer wahlverwandten Partizipation fixiert. In Übereinstimmung mit der ältesten Überlieferung ist der Kreismythos also tatsächlich die Wiederholungserzählung einer Gründung. Die Teilung verlangt ihn als den Grund, der die Differenz zu machen vermag; umgekehrt verlangt er die Teilung als Verfassung der Differenz in dem, was begründet werden muß. Die Einteilung ist die wahrhafte Einheit von Dialektik und Mythologie, des Mythos als Gründung und des Logos als h6yo~ aop~6~. In aller Klarheit erscheint diese Rolle des Grunds in der platonischen Auffassung der Partizipation. (Und sicher ist sie es, die der Teilung die Vermittlung verschafft, die ihr zu fehlen schien, und die im selben Zug die Differenz auf das Eine bezieht; aber auf eine doch so besondere Weise . . .) Partizipieren meint teilhaben, nachträglich, an zweiter Stelle haben. An erster Stelle besitzt
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der G-und selbst. E’mzig die Gerechtigkeit ist gerecht, sagt Platon; was diejenigen angeht, die man die Gerechten nennt, so besitzen sie die Qualität des Gerechtseins erst an zweiter oder an dritter oder an vierter Stelle . . . oder als Trugbild. Daß einzig die Gerechtigkeit gerecht sei, ist kein einfacher analytischer Satz. Es ist die Bezeichnung der Idee als Grund, der an erster Stelle besitzt. Und das Eigentliche des Grunds liegt darin, daß er Partizipation verschafft, an zweiter Stelle gibt. Damit ist das, was partizipiert und mehr oder weniger, in unterschiedlichen Graden partizipiert, notwendig ein Bewerber. Der Bewerber ist es, der an einen Grund appelliert, der Anspruch ist es, der begründet (oder als grundlos verurteilt) werden muß. Der Anspruch ist kein Phänomen unter anderen, sondern die Natur jedes Phänomens. Der Grund ist eine Prüfung, die den Bewerbern mehr oder weniger Partizipation am Objekt des Anspruchs verleiht; und in diesem Sinne bemißt und macht der Grund die Differenz. Man muß also unterscheiden: die Gerechtigkeit als Grund; die Qualität ,,gerecht“ als Gegenstand des Anspruchs, den das Begründende besitzt; die Gerechten als Bewerber, die auf ungleiche Weise am Objekt partizipieren. Darum liefern uns auch die Neuplatoniker ein so tiefgehendes Verständnis des Platonismus, wenn sie ihre geheiligte Triade darlegen: Das Nicht-Partizipierbare, das Partizipierte, die Partizipierenden. Das begründende Prinzip ist gleichsam das Nicht-Partizipierbare, gibt aber etwas zur Partizipation und gibt es dem Partizipierenden, dem Besitzer an zweiter Stelle, d.h. dem Bewerber, der die Prüfung des Grunds zu bestehen wußte. Man könnte sagen: Vater, Tochter und Bewerber. Und weil sich die Triade einer Reihe von Partizipationen entlang reproduziert, weil die Bewerber in einer Rangfolge und in Graden teilhaben, die die Differenz in mtu repräsentieren, haben die Neuplatoniker ganz richtig das Wesentliche gesehen: daß die Einteilung nicht die Unterscheidung der Arten ihrer Größe nach bezweckte, sondern die Errichtung einer seriellen Dialektik, die Erstellung von Reihen und Stammlinien der Tiefe nach, die die Operationen eines selektiven Grunds als einer wahlverwandten Partizipation kennzeichnen (Zeus 1, Zeus 11 usw.). Damit wird deutlich, daß der Widerspruch keineswegs die Prüfung des Grunds selbst meint, sondern im Gegenteil die Verfassung eines unbegründeten Anspruchs an der Grenze der Partizipation repräsentiert. Wenn der richtige Bewerber (der zuerst begründete, der wohlbegründete, der echte) Rivalen hat, die gleichsam seine Verwandten, seine Gehilfen, seine Diener sind und auf unterschiedliche Weise an seinem Anspruch partizipieren, so hat er auch seine Trugbilder, seine Fälschungen, die durch die Prüfung denunziert werden: Nach Platon ist dies der ,,Sophist“, der Possenreißer, Zentaur oder Satyr, der Anspruch auf alles erhebt und mit seinem Anspruch auf alles niemals begründet ist, sondern allem und sich selbst widerspricht . . . Worin aber besteht die Prüfung des Grunds genau? Der Mythos sagt es uns: stets eine Aufgabe, die erfüllt, ein Rätsel, das gelöst werden muß. Man befragt das Orakel, aber die Antwort des Orakels ist selber ein Problem. Die Dialektik ist Ironie, die Ironie aber die Kunst der Probleme und Fragen. Die Ironie
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besteht darin, die Dinge und Wesen als ebenso viele Antworten auf verborgene Fragen zu behandeln, als ebenso viele Fälle für Probleme, die zu lösen sind. Man erinnere sich, daß Platon die Dialektik als ein Verfahren definiert, das sich in ,,Problemen“ abwickelt, über die hinweg man sich zu einem begründenden Prinzip aufschwingt, d. h. zu einem Prinzip, das sie als solche bemißt und die entsprechenden Lösungen verteilt; und der Menon legt die Wiedererinnerung nur mit Bezug auf ein geometrisches Problem dar, das vor seiner Lösung begriffen werden muß und seine passende Lösung derart erfahren soll, wie es der Sicherinnernde begriffen hat. Wir haben uns nun nicht um die Unterscheidung zu kümmern, die man zweckmäßigerweise zwischen den beiden Instanzen des Problems und der Frage trifft, sondern müssen eher bedenken, auf welche Weise ihr Zusammenhang eine wesentliche Rolle in der platonischen Dialektik spielt - eine Rolle, die ihrer Bedeutung nach derjenigen vergleichbar ist, die später das Negative, etwa in der Hegelschen Dialektik, einnehmen wird. Aber es ist eben nicht das Negative, das bei Platon diese Rolle einnimmt. Und zwar in einem Maße, daß man sich fragen muß, ob die berühmte These aus dem Sophistes trotz gewisser Zweideutigkeiten nicht auf folgende Weise verstanden werden muß: Das ,,Nicht“ im Ausdruck ,,NichtSein“ drückt etwas anderes als das Negative aus. Hinsichtlich dieses Punkts liegt der Fehler der traditionellen Theorien darin, daß sie uns eine zweifelhafte Alternative aufzwingen: Wenn wir das Negative zu bannen versuchen, so erklären wir uns zufriedengestellt, wenn wir zeigen, daß das Sein volle positive Realität ist und keinerlei Nicht-Sein zuläßt; wenn wir umgekehrt die Negation zu begründen versuchen, so sind wir zufrieden, wenn es uns gelingt, im Sein oder in Beziehung zum Sein ein beliebiges Nicht-Sein zu setzen (es scheint uns, daß dieses Nicht-Sein notwendig das Sein des Negativen oder der Grund der Negation ist). Die Alternative ist also die folgende: Entweder gibt es kein Nicht-Sein und die Negation ist Scheinhaft und unbegründet; oder es gibt Nicht-Sein, das das Negative ins Sein bringt und die Negation begründet. Vielleicht können wir jedoch mit guten Gründen beides zugleich behaupten: daß es Nicht-Sein gibt und daß das Negative Scheinhaft ist. Das Problem oder die Frage sind keine subjektiven, privativen Bestimmungen, die ein Moment von Unzulänglichkeit in der Erkenntnis kennzeichnen. Die problematische Struktur ist Teil der Objekte und erlaubt, sie als Zeichen zu erfassen, ganz wie die fragende oder problematisierende Instanz Teil der Erkenntnis ist und deren Positivität, deren Spezifizität im Akt des Lernens zu erfassen erlaubt. Noch tiefer gesehen ist es das Sein (Platon sagte: die Idee), das dem Wesen des Problems oder der Frage als solcher ,,korrespondiert”. Es gibt gleichsam eine ,,Öffnung“, ein ,,Aufklaffen“, eine ontologische ,,Falte“, die das Sein und die Frage aufeinander bezieht. In diesem Bezug ist das Sein die Differenz selber. Das Sein ist ebenso Nicht-Sein, aber das Nicht-Sein ist nicht das Sein des Negativen, vielmehr das Sein des Problematischen, das Sein des Problems und der Frage. Die Differenz ist nicht das Negative, vielmehr ist es das Nicht-Sein, das die Differenz ist: ET&QO’V, und nicht Ivav~iov. Darum
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müßte das Nicht-Sein eher (Nicht)-Sein oder noch besser ?-Sein geschrieben werden. In diesem Sinne mag der Infinitiv, das ,,esse“ weniger einen Satz als die Frage bezeichnen, auf die man den Satz als Antwort erwartet. Dieses (Nicht)-Sein ist das differentielle Element, in dem die Bejahung als mannigfaltige Bejahung das Prinzip ihrer Genese findet. Die Negation hingegen ist nur der Schatten dieses höchsten Prinzips, der Schatten der Differenz neben der hervorgebrachten Bejahung. Wenn wir das (Nicht)-Sein mit dem Negativen verwechseln, so wird unweigerlich der Widerspruch ins Sein getragen; der Widerspruch aber ist immer noch der Schein oder das Epiphänomen, die vom Problem projizierte Illusion, der Schatten einer Frage, die offen bleibt, und der Schatten des Seins, das als solches mit dieser Frage korrespondiert (bevor es eine Antwort auf sie gibt). Kennzeichnet nicht schon in diesem Sinne der Widerspruch nur bei Platon die Verfassung der sogenannten aporetischen Dialoge? Jenseits des Widerspruchs die Differenz - jenseits des Nicht-Seins das (Nicht)-Sein, jenseits des Negativen das Problem und die Frage. ANMERKUNG ZU HEIDEGGERS PHILOSOPHIE DER DIFFERENZ. Anscheinend bezogen sich die hauptsächlichen Mißverständnisse, die Heidegger nach Sein und Zeit und Was ist Metaphysik? als Irrmeinungen zu seiner Philosphie denunzierte, auf Folgendes: Das Heideggersche NICHT verwies nicht auf das Negative im Sein, sondern auf das Sein als Differenz; und nicht auf die Negation, sondern auf die Frage. Als Sartre zu Beginn von L’Etre et le néant [dt.: Das Sein und das Nichts] die Befragung analysierte, bereitete er damit die Entdeckung des Negativen und der Negativität vor. In gewisser Hinsicht war dies das Gegenteil zu Heideggers Vorgehen. Freilich gab es dabei keinerlei Mißverständnis, da Sartre nicht vorhatte, Heidegger zu kommentieren. Merleau-Ponty aber kam der Wirklichkeit von Heideggers Überlegungen näher, als er schon in der Phénoménologie de la perception [dt.: Die Phänomenologie der Wahrnehmung] von ,,Falte“ oder ,,Faltung“ (im Gegensatz zu den ,,Löchern“ und ,,Seen von Nicht-Sein“ bei Sartre) sprach - und als er in seinem Posturnen Buch Le visible et l’invisible [dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare] auf eine Ontologie der Differenz und der Frage zurückkam. Die Thesen Heideggers lassen sich, so scheint uns, folgendermaßen zusammenfassen: 1. Das Nicht drückt nicht das Negative, sondern die Differenz zwischen Sein und Seiendem aus. Vgl. das Vorwort zu Vom Wesen des Grundes (Frankfurt/M. 19553, S. 5): ,,Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein“; und das Nachwort aus Was ist Metaphysik? (Frankfurt/M. 19495, S. 41): ,,[Entschleiert sich nicht], was nie und nirgends ein Seiendes ist, als das von allem Seienden Sichunterscheidende [. . .]?“ 2. Diese Differenz besteht nicht ,,zwischen . . .“ im gewöhnlichen Wortsinn. Sie ist die Falte , Jwiefalt“ [i.O. dt.]. Sie ist konstitutiv für das Sein und die Weise, wie das Sein das Seiende konstituiert, und zwar in der doppelten Bewegung von ,,Lichtung“ und ,,Verdeckung“. Das Sein ist wahrhaft das Differenzierende der Differenz. Daher der Ausdruck: ontologische Differenz (vgl. Überwindung der Metaphysik, in: Vorträge und Aufsätze 1, Pfullingen 1954, S. 71 ff.). 3. Die ontologische Differenz korrespondiert mit der Frage. Sie ist das Sein der Frage, das sich in Problemen entfaltet, indem es bestimmte Felder im Verhältnis zum Seienden absteckt (vgl. Vom Wesen des Grundes, a.a.O. S. 15-16). 4. So verstanden ist die Differenz nicht Gegenstand von Repräsentation. Als Element der Metaphysik ordnet die Repräsentation die Differenz
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der Identität unter, und wäre es nur durch ihren Bezug - auf ein tertium als Zentrum eines Vergleichs zwischen zwei Termen, die sich der A n n a h m e nach von einander unterscheiden (Sein und Seiendes). Heidegger räumt ein, daß dieser Gesichtspunkt der metaphysischen Repräsentation noch in Vom Wesen des Grundes vorhanden ist (a.a.O., S. 16, wo das Dritte in der ,,Transzendenz des Daseins” aufgefunden wird). Aber die Metaphysik ist unfähig, die Differenz an sich selbst und die Tragweite dessen zu denken, was ebenso trennt wie vereint (das Differenzierende). Es gibt in der Differenz keine Synthese, Vermittlung oder Versöhnung, sondern im Gegenteil ein hartnäckiges Festhalten an der Differenzierung. Dies ist die ,,Kehre“ jenseits der Metaphysik: ,,[D]as Sein selbst [kann] den in ihm verwahrten Unterschied von Sein und Seiendem erst dann in seiner Wahrheit lichten [. . .], wenn der Unterschied sich selbst eigens ereignet“ (Überwindung der Metaphysik, a.a.O., S. 78). Zu diesem Punkt siehe auch: Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger (Zürich 1954, S. 119-123, 128139 und Jean Beaufret, Introduction au Poéme de Parmenide (Paris 1955, S. 45-55, 69-72). 5. Die Differenz läßt sich also nicht dem Identischen oder Gleichen unterordnen, aber sie muß im Selben und als das Selbe gedacht werden; vgl. Identität und Differenz (Pfullingen 1957). Und . . . dichterisch wohnet der Mensch (Vorträge und Aufsätze 1, a.a.O., S. 193): ,,Das selbe deckt sich nie mit dem gleichen, auch nicht mit dem leeren Einerlei des bloß Identischen. Das gleiche verlegt sich stets auf das Unterschiedslose, damit alles darin übereinkomme. Das selbe ist dagegen das Zusammengehören des Verschiedenen aus der Versammlung durch den Unterschied. Das selbe läßt sich nur sagen, wenn der Unterschied gedacht wird. [. . .] Das selbe verbannt jeden Eifer, das Verschiedene immer nur in das Gleiche auszugleichen. Das selbe versammelt das Unterschiedene in eine ursprüngliche Einigkeit. Das gleiche hingegen zerstreut in die fade Einheit des nur einförmig einen.“ Als grundlegend vermerken wir die ,,Korrespondenz” von Differenz und Frage, von ontologischer Differenz und Sein der Frage. Man wird sich indessen fragen, ob nicht Heidegger selbst die Mißverständisse förderte, und zwar durch seine Konzeption des ,,Nichts“, durch die Art, wie er das Sein ,,durchstrich“, anstatt das (Nicht) des NichtSeins in Klammern zu setzen. Und genügt es darüber hinaus, das Selbe dem Identischen gegenüberzustellen, um die ursprüngliche Differenz zu denken und sie den Vermittlungen zu entreißen. 7 Wenn es zutrifft, daß manche Kommentatoren bei Husserl einen Widerhall des Thomismus entdecken konnten, so gehört Heidegger dagegen auf die Seite des Duns Scotus und verleiht der Univozität des Seins neuen Glanz. Vollzieht er aber die Konversion, der-zufolge das univoke Sein sich nur von der Differenz aussagen darf und in diesem Sinne um das Seiende kreisen muß? Faßt er das Seiende so, daß es wahrhaftig jeder Unterordnung gegenüber der Identität der Repräsentation entzogen ist.? Es scheint dem nicht so zu sein, siehe seine Kritik an der ewigen Wiederkunft Nietzsches.
Die vier Figuren der platonischen Dialektik sind also: die Selektion der Diffe. renz, die Einführung eines mythischen Kreises, die Errichtung einer Gründung, die Aufstellung eines Komplexes Frage/Problem. Über diese Figuren aber ist die Differenz noch auf das Selbe oder das Eine bezogen. Und zweifellos darf das Selbe nicht mit der Identität des Begriffs überhaupt verwechselt
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werden; es kennzeichnet eher die Idee, die das Ding ,,selber” ist. In dem Maße aber, wie es die Rolle eines wahrhaften Grunds spielt, kann man seine Wirkung kaum anders sehen als darin, daß es das Identische im Begründeten existieren läßt, sich der Differenz bedient, um das Identische existieren zu lassen. In Wahrheit ist die Unterscheidung zwischen dem Selben und dem Identischen nur dann fruchtbar, wenn man am Selben eine Konversion bewerkstelligt, die es auf das Differente bezieht, während gleichzeitig die Dinge und Wesen, die sich im Differenten unterscheiden, auf entsprechende Weise eine radikale Zerstörung ihrer Identität hinnehmen müssen. Nur unter dieser Bedingung wird die Differenz an sich selbst gedacht und nicht repräsentiert, nicht vermittelt. Dagegen wird der ganze Platonismus von der Idee einer Unterscheidung beherrscht, die zwischen ,,dem Ding selber“ und den Trugbildern zu treffen sei. Anstatt die Differenz an sich selbst zu denken, bezieht er sie bereits auf einen Grund und führt die Vermittlung in mythischer Form ein. Umkehrung des Platonismus meint hier: das Primat eines Originals gegenüber dem Abbild, eines Urbilds gegenüber dem Bild anfechten. Das Reich der Trugbilder und Spiegelungen verherrlichen. Pierre Klossowski hat in den oben zitierten Aufsätzen diesen Punkt unterstrichen: Im strengen Sinn bedeutet die ewige Wiederkunft, daß jedes Ding nur als wiederkehrendes existiert, Abbild einer Unendlichkeit von Abbildern, die kein Original und sogar keinen Ursprung fortbestehen lassen. Darum heißt die ewige Wiederkunft ,,parodistisch”: Sie qualifiziert das, was durch sie ist (und wiederkehrt), als Trugbild27. Das Trugbild ist der wahre Charakter oder die Form dessen, was ist des ,,Seienden“ -, wenn die ewige Wiederkunft die Macht des Seins (das Formlose) ist. Wenn die Identität der Dinge aufgelöst ist, entweicht das Sein, erlangt es Univozität und beginnt das Differente zu umkreisen. Was ist oder wiederkehrt, besitzt keine vorgängige und konstituierte Identität: Das Ding ist zur Differenz verdammt, durch die es zerteilt wird, und zu allen in dieser implizierten Differenzen, die es durchläuft. In diesem Sinne ist das Trugbild das Symbol selbst, d. h. d a s Zeichen, sofern es die Bedingungen seiner eigenen Wiederholung interiorisiert. Das Trugbild hat eine konstituierende Disparität im Ding erfaßt, das durch jenes seines Rangs als Urbild enthoben wird. Wenn die ewige Wiederkunft, wie wir gesehen haben, die Funktion besitzt, eine Wesensdifferenz zwischen den mittleren und den höheren Formen zu schaffen, so besteht ebenso eine Wesensdifferenz zwischen den mittleren oder gemäßigten Positionen der ewigen Wiederkunft (seien es die partiellen Zyklen, sei es die approximative globale Wiederkehr in specie) und ihrer strengen oder
27Siehe oben S. 86, Anm. 24. (Und zu dieser Idee des Trugbilds, wie es bei Klossowski in Bezug zur ewigen Wiederkunft erscheint, vgl. Michel Foucault, La prose d’Actéon, in: Nouvelle Revue fraqaise, März 1964 [dt.: Aktaions Prosa, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. u.a. 1979]; und Maurice Blanchot, Le rire des dieux, in: Nouvelle Revue fraqaise, Juli 1965.)
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kategorischen Position. In all ihrer Macht bejaht, ermöglicht die ewige Wiederkunft nämlich keinerlei Einführung einer Grund-Begründung: Sie zerstört, verschlingt im Gegenteil jeden Grund als Instanz, der die Differenz zwischen dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten, zwischen dem Ding und den Trugbildern setzen würde. Sie läßt uns dem universalen Zu-Grundegehen2’ beiwohnen. Unter ,,Zu-Grunde-gehen“ muß jene Freiheit des nichtvermittelten Untergrunds verstanden werden, jene Entdeckung eines Untergrunds hinter jedem anderen Untergrund, jener Bezug des Untergrunds zum Unbegründeten, jene unmittelbare Reflexion des Formlosen und der höheren Form, die die ewige Wiederkunft ausmacht. Jedes Ding, Tier oder Wesen wird in den Zustand des Trugbilds versetzt; der Denker der ewigen Wiederkunft, der sich sicher nicht aus der Höhle hervorzerren läßt, sondern eher eine weitere Höhle jenseits davon finden würde, stets eine weitere, in die er sich vergraben kann, dieser Denker kann dann mit gutem Recht sagen, er selbst sei betraut mit der höheren Form all dessen, was ist, wie der Dichter: ,,betraut mit der Menschheit, allen Tieren sogar“29. Diese Worte selbst finden ihr Echo in den sich überlagernden Höhlen. Und diese Grausamkeit, von der wir zu Beginn den Eindruck gewannen, daß sie das Ungeheuer darstelle, gesühnt werden müsse und nur durch die repräsentative Vermittlung besänftigt werden könne, scheint uns nun die Idee zu bilden, d. h. den reinen Begriff der Differenz im umgekehrten Platonismus: das Unschuldigste, den Stand der Unschuld und ihren Widerhall. Platon hat das höchste Ziel der Dialektik abgesteckt: den Unterschied machen. Nur besteht dieser nicht zwischen dem Ding und den Trugbildern, dem Urbild und den Abbild ern. Das Ding ist das Trugbild selbst, das Trugbild ist die höhere Form, und die Schwierigkeit liegt für jedes Ding darin, sein eigenes Trugbild zu erlangen, seinen Status als Zeichen in der Kohärenz der ewigen Wiederkunft. Platon stellte die ewige Wiederkunft dem Chaos gegenüber, als ob das Chaos ein widersprüchlicher Zustand wäre, an den von außen eine Ordnung oder ein Gesetz herangetragen werden müßte, gleich dem Unternehmen des Demiurgen, der eine aufrührerische Materie bezwingt. Platon verwies den Sophisten an den Widerspruch, an jenen mutmaßlichen Zustand des Chaos, d.h. an die niedrigste Potenz [puissance], an den geringsten Grad an Partizipation. In Wahrheit aber durchläuft die n-te Potenz nicht zwei, drei, vier, sie bejaht sich unmittelbar, um das Höchste zu bilden: Sie bejaht sich am Chaos selbst; und Chaos und ewige Wiederkunft sind, wie Nietzsche sagt,
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Frz. effondement: Wortkreuzung aus fondement (Grund) und effondrement (Einsturz, Zusammenbruch) [A.d.Ü.]. Rimbaud in einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1875; in: Lettres de la vie littéraires d’Arthur Rimbaud, hg. v. J.-M. Carré, Paris 1931, S. 64; dt.: Arthur Rimbaud. Briefe und Dokumente, hg. v. C. Ochwaldt, Heidelberg 1961, S. 29 [A.d.ü.].
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nicht zwei verschiedene Dinge. Der Sophist ist nicht das Sein (oder das NichtSein) des Widerspruchs, sondern derjenige, der alle Dinge in den Zustand des Trugbilds trägt und sie alle in diesem Zustand trägt. Mußte Platon nicht die Ironie bis dahin treiben - bis hin zu dieser Parodie? Mußte Platon nicht der erste gewesen sein, der den Platonismus umkehrte oder zumindest die Richtung einer derartigen Umkehrung anzeigte? Man erinnere sich an das grandiose Ende des Sophistes: Die Differenz ist verschoben, die Teilung wendet sich gegen sich selbst, arbeitet gegen den Strich und demonstriert durch die fortwährende Vertiefung des Trugbilds (der Traum, der Schatten, die Spiegelung, die Malerei) die Unmöglichkeit, es vom Original oder Urbild zu unterscheiden. Der Fremde gibt eine Definition des Sophisten, die sich nicht mehr von Sokrates selbst unterscheiden kann: der ironische Nachahmer, der mittels kurzer Argumente (Problemen und Fragen) verfährt. Jedes Moment der Differenz muß damit seine wahre Gestalt gewinnen, die Selektion, die Wiederholung, das Zu-Grunde-gehen, der Komplex Frage/Problem. Wir haben die Repräsentation einer Formation anderer Art gegenübergestellt. Die elementaren Begriffe der Repräsentation sind die Kategorien, die als Bedingungen möglicher Erfahrung definiert sind. Diese aber sind zu allgemein, zu weit für das Reale. Das Netz ist so weitmaschig, daß die größten Fische entwischen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich die Ästhetik in zwei irreduzible Gebiete aufspaltet, in das der Theorie des Sinnlichen, das vom Realen nur seine Übereinstimung mit der möglichen Erfahrung einbehält, und das der Theorie des Schönen, das die Realität des Realen insofern einfängt, als sie sich anderweitig reflektiert. Alles wird anders, wenn wir Bedingungen realer Erfahrung bestimmen, die nicht weiter gefaßt sind als das Bedingte und sich wesentlich von den Kategorien unterscheiden: Die beiden Bedeutungen der Ästhetik vermischen sich derart, daß sich das Sein des Sinnlichen im Kunstwerk offenbart und das Kunstwerk gleichzeitig als Experiment erscheint. Der Vorwurf gegen die Repräsentation lautet, daß sie bei der Identitätsform stehenbleibt, und zwar in doppelter Hinsicht des gesehenen Dings und des sehenden Subjekts. Die Identität wird in jeder Teilrepräsentation ebenso bewahrt wie im Ganzen der unendlichen Repräsentation als solcher. Die unendliche Repräsentation mag wohl die Blickpunkte vervielfältigen und sie in Reihen anordnen; dennoch sind diese Reihen der Bedingung unterworfen, nach der sie auf dasselbe Objekt, auf diesselbe Welt hin konvergieren. Die unendliche Repräsentation mag wohl die Figuren und Momente vervielfältigen, sie in Kreisen mit Eigenbewegung anordnen; dennoch haben diese Kreise ein einziges Zentrum, das dem des großen Kreises des Bewußtseins entspricht. Wenn das moderne Kunstwerk dagegen seine permutierenden Reihen und seine Zirkelstrukturen entfaltet, so weist es der Philosophie einen Weg, der zur Preisgabe der Repräsentation führt. Es genügt nicht, die Perspektiven zu vervielfältigen, um Perspektivismus zu betreiben. Jede Perspektive oder jeder Blickpunkt muß einem autonomen Werk entsprechen, das einen zureichenden Sinn hat: Was zählt, ist die Divergenz der Reihen, die Dezentrierung der
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Kreise, das ,,Ungeheuer“. Die Gesamtheit der Kreise und Reihen ist also ein formloses, zu-Grunde-gegungenes [effondé] Chaos, das kein anderes ,,Gesetz“ kennt als seine eigene Wiederholung, seine Reproduktion in der Entfaltung dessen, was divergiert und dezentriert. Man weiß, wie diese Bedingungen bereits in Werken wie Mallarmes Livre oder Finnegans Wake von Joyce verwirklicht wurden: in wesentlich problematischen Werken3’. Die Identität des gelesenen Dings löst sich hier wirklich in divergente Reihen auf, die durch die Geheimwörter definiert werden, wie sich die Identität des lesenden Subjekts in den dezentrierten Kreisen der möglichen Mehrfachlektüre auflöst. Dennoch geht nichts verloren, da jede Reihe nur in der Wiederkehr der anderen existiert. Alles ist Trugbild geworden. Denn unter Trugbild dürfen wir nicht eine bloße Nachahmung verstehen, sondern eher den Akt, durch den noch die Idee eines Urbilds oder einer privilegierten Position angefochten, gestürzt wird. Das Trugbild ist die Instanz, die eine Differenz in sich schließt, als (zumindest) zwei divergente Reihen, auf denen es sein Spiel treibt, ohne jede Ähnlichkeit, ohne daß man von nun an die Existenz eines Originals und eines Abbilds angeben kann. Die Bedingungen nicht der möglichen, sondern der realen Erfahrung (Selektion, Wiederholung usw.) müssen in dieser Richtung gesucht werden. Dort finden wir die gelebte Realität eines subrepräsentativen Gebiets. Wenn es stimmt, daß die Repräsentation die Identität als Element und ein Ähnliches als Maßeinheit besitzt, so hat die reine Präsenz, wie sie im Trugbild erscheint, das ,,Disparse“ als Maßeinheit, d.h. stets eine Differenz von Differenz als unmittelbares Element.
3o Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1973. - Eco zeigt deutlich, daß das ,,kl assische“ Kunstwerk unter meheren Perspektiven gesehen wird und mehreren Interpretationen unterliegt; daß aber jedem Blickpunkt oder jeder Interpretation noch kein autonomes Werk entspricht, das im Chaos eines großen Werks inbegriffen wäre. Das Merkmal eines ,,modernen“ Kunstwerks erscheint als Abwesenheit von Zentrum oder Konvergenz (vgl. Kap. 1 und 4).
ZWEITES KAPITEL
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST Die Wiederholung ändert nichts am sich wiederholenden Objekt, sie ändert aber etwas im Geist, der sie betrachtet: Diese berühmte These Humes führt
uns zum Kern des Problems. Wie könnte die Wiederholung etwas am sich wiederholenden Fall oder Element ändern, da sie ja von Rechts wegen eine völlige Unabhängigkeit jeder Präsentation impliziert? Die Regel der Diskontinuität oder Augenblicklichkeit in der Wiederholung - lautet: Das eine erscheint nur, wenn das andere verschwunden ist. So der Zustand der Materie als mens momentanea. Wie aber könnte man vom ,,zweiten“, vom ,,dritten“, vom ,,selben“ sprechen, da sich doch die Wiederholung in dem Maße auflöst, wie sie entsteht? Sie hat kein Ansich. Dagegen ändert sie etwas im Geist, der sie betrachtet. Dies ist das Wesen der Modifikation. Hume nimmt als Beispiel eine Fallwiederholung vom Typ AB, AB, AB, A . . . Jeder Fall, jede objektive Sequenz AB ist von der anderen unabhängig. Die Wiederholung (aber man kann eben noch nicht von Wiederholung sprechen) ändert nichts am Objekt, am Sachverhalt AB. Dagegen ergibt sich eine Veränderung im betrachtenden Geist: eine Differenz, etwas Neues im Geist. Wenn A erscheint, erwarte- ich nun das Erscheinen von B. Ist dies das Fürsich der Wiederholung als eine ursprüngliche Subjektivität, die notwendig in deren Bildung eingehen muß? Besteht das Paradox der Wiederholung nicht darin, daß man von Wiederholung nur auf Grund der Differenz oder Veränderung sprechen kann, die sie in den Geist einführt, der sie betrachtet? Auf Grund einer Differenz, die der Geist der Wiederholung entlockt? Worin besteht diese Veränderung? Hume erklärt, daß sich die unabhängigen identischen oder ähnlichen Fälle in der Einbildungskraft vereinigen. Die Einbildungskraft definiert sich hier als eine Kontraktionskraft: als photographische Platte hält sie das eine fest, wenn das andere erscheint. Sie zieht die Fälle, die Elemente, die Erschütterungen, die homogenen Augenblicke zusammen und verschmilzt sie zu einem qualitativen inneren Eindruck mit einem gewissen Gewicht. Wenn A erscheint, erwarten wir B mit einer Stärke, die dem
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qualitativen Eindruck aller kontrahierten ABs entspricht. Dies ist alles andere als ein Gedächtnis oder eine Operation des Verstandes: Die Kontraktion ist keine Reflexion. Strenggenommen bildet sie eine Synthese der Zeit. Eine Abfolge von Augenblicken ergibt nicht die Zeit, sie löst sie ebensosehr auf; sie kennzeichnet bloß deren immer schon gescheiterten Geburtsmoment. Die Zeit bildet sich nur in der ursprünglichen Synthese, die sich auf die Wiederholung der Augenblicke bezieht. Diese Synthese zieht die unabhängigen sukzessiven Augenblicke jeweils ineinander zusammen. Sie bildet damit die gelebte Gegenwart, die lebendige Gegenwart. Und diese Gegenwart ist es, in der sich die Zeit entfaltet. Sie ist es, der Vergangenheit und Zukunft zukommen: die Vergangenheit in dem Maße, wie die vorangehenden Augenblicke in der Kontraktion festgehalten werden; die Zukunft, weil die Erwartung Antizipation in ebendieser Kontraktion ist. Vergangenheit und Zukunft bezeichnen keine Augenblicke, die von einem der Annahme nach gegenwärtigen Augenblick geschieden wären, sondern die Dimensionen der Gegenwart selbst, sofern sie die Augenblicke kontrahiert. Die Gegenwart braucht nicht aus sich herauszutreten, um von der Vergangenheit bis zur Zukunft zu reichen. Die lebendige Gegenwart reicht also von der Vergangenheit bis zur Zukunft, die sie innerhalb der Zeit konstituiert, das heißt auch: vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Besonderen, das sie jeweils in der Kontraktion umhüllt [enveloppe], zum Allgemeinen, das sie im Feld ihrer Erwartung entfaltet [développe] (die im Geist erzeugte Differenz ist die Allgemeinheit selbst, sofern sie eine lebendige Regel der Zukunft bildet). Diese Synthese muß in jeder Hinsicht ,,passive Synthese“ genannt werden. Sie ist zwar konstitutiv, aber darum noch nicht aktiv. Sie wird nicht vom Geist hergestellt, erstellt sich aber im betrachtenden Geist, geht jedem Gedächtnis und jeder Reflexion voraus. Die Zeit ist subjektiv, allerdings ist dies die Subjektivität eines passiven Subjekts. Die passive Synthese oder Kontraktion ist wesentlich asymmetrisch: Sie reicht von der Vergangenheit zur Zukunft in der Gegenwart, also vom Besonderen zum Allgemeinen, und richtet damit den Vektor der Zeit aus. Indem wir die Wiederholung im Objekt betrachteten, blieben wir diesseits der Bedingungen, die eine Idee-von Wiederholung ermöglichen. Indem wir aber die Veränderung im Subjekt betrachten, sind wir bereits jenseits davon und mit der allgemeinen Form der Differenz konfrontiert. Daher impliziert die ideelle Konstitution der Wiederholung eine Art retroaktiver Bewegung zwischen diesen beiden Grenzen. Sie entspinnt sich zwischen den beiden. Diese Bewegung ist es, die Hume gründlich analysiert, wenn er zeigt, daß die in der Einbildungskraft kontrahierten oder verschmolzenen Fälle im Gedächtnis oder im Verstand dennoch geschieden bleiben. Nicht daß man zum Zustand der Materie zurückkäme, die einen Fall nur hervorbringt, wenn der andere verschwunden ist. Ausgehend aber vom qualitativen Eindruck der Einbildungskraft stellt das Gedächtnis die besonderen Fälle als deutlich geschiedene wieder her und bewahrt sie im ,,Zeit-Raum“, der ihm eignet. Die Vergangen-
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heit ist dann nicht mehr die unmittelbare Vergangenheit der Retention, sondern die reflexive Vergangenheit der Repräsentation, die reflektierte und reproduzierte Besonderheit. Entsprechend ist auch die Zukunft nicht mehr die unmittelbare Zukunft der Antizipation und wird stattdessen zur reflexiven Zukunft der Vorhersage, zur reflektierten Allgemeinheit des Verstandes (der Verstand bemißt die Erwartung der Einbildungskraft nach der Zahl der beobachteten und erinnerten distinkten ähnlichen Fälle). Das heißt, daß die aktiven Synthesen des Gedächtnisses und des Verstandes die passive Synthese der Einbildungskraft überlagern und sich auf sie stützen. Die Konstitution der Wiederholung impliziert bereits drei Instanzen: jenes Ansich, das sie im Undenkbaren beläßt oder sie in dem Maße auflöst, wie sie sich bildet; das Fürsich der passiven Synthese; und auf diese gegründet die reflektierte Repräsentation eines ,,Füruns” in den aktiven Synthesen. Die Assoziationslehre besitzt unersetzlichen Scharfsinn. Man sollte sich nicht wundern, daß Bergson die Analysen Humes wiederentdeckt, sobald er auf ein analoges Problem stößt: Es schlägt vier Uhr . . . Jeder Schlag, jede Erschütterung oder jeder Reiz ist vom anderen logisch unabhängig, mens momentanea. Aber wir ziehen sie zu einem inneren qualitativen Eindruck zusammen, außerhalb jeder Erinnerung oder gesonderten Berechnung, in jener lebendigen Gegenwart, in jener passiven Synthese, die die Dauer ist. Danach restituieren wir sie in einem behelfsmäßigen Raum, in einer abgeleiteten Zeit, wo wir sie als entsprechend viele quantifizierbare Außeneindrücke reproduzieren, reflektieren, zählen können. Sicher ist Bergsons Beispiel nicht mit dem Humes identisch. Das eine bezeichnet eine abgeschlossene Wiederholung, das andere eine offene. Zudem bezeichnet das eine eine Wiederholung von Elementen des Typs A A A A (tik, tik, tik, tik), das andere eine Wiederholung von Fällen, AB AB AB A . . . (tiktak, tik-tak, tik-tak, tik . ..). Die Hauptunterscheidung zwischen diesen Formen beruht auf Folgendem: In der zweiten erscheint die Differenz nicht nur
1 Bergsons Text befindet sich in Essai sur les données immédiates de la conscience, zweites Kapitel, in: Q%vres (Edition du centenaire), Paris 1970, S. 82-85 (dt.: Zeit und Freiheit, Meisenheim 1949, S. 103-107). Bergson unterscheidet hier deutlich die beiden Aspekte der Verschmelzung oder Kontraktion im Geist und der Entfaltung im Raum. Die Kontraktion als Wesen der Dauer und dasjenige, was auf die elementaren materiellen Erschütterungen wirkt, um die wahrgenommene Qualität zu bilden, wird noch genauer in Matiére et mémoire [dt.: Materie und Gedächtnis] analysiert. Humes Texte befinden sich in A Treatise of Human Nature, vor allem im dritten Teil, 16. Abschnitt (dt.: Traktat über die menschliche Natur, Hamburg und Leipzig 1898, S. 237-240). H ume unterscheidet ganz scharf die Vereinigung oder Verschmelzung von Fällen in der Einbildungskraft - eine Vereinigung, die sich unabhängig von Gedächtnis oder Verstand vollzieht - und die Unterscheidung ebendieser Fälle im Gedächtnis oder Verstand.
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in der Kontraktion der Elemente überhaupt, sie existiert auch in jedem besonderen Fall zwischen zwei Elementen, die durch eine Oppositionsrelation bestimmt und vereinigt werden. Die Funktion des Gegensatzes besteht hier darin, die elementare Wiederholung von Rechts wegen zu begrenzen, sie zur einfachsten Gruppe abzuschließen, sie auf ein Minimum von zwei zu reduzieren (das Tak als umgekehrtes Tik). Die Differenz scheint also ihre erste Gestalt von Allgemeinheit aufzugeben, verteilt sich im Besonderen, das sich wiederholt, allerdings um neue lebendige Allgemeinheiten hervorzurufen. Die Wiederholung wird in den ,,Fall“ eingeschlossen, auf zwei reduziert, erschließt sich aber ein neues Unendliches, das die Wiederholung der Fälle selbst ist. Es wäre also falsch, würde man glauben, jede Fallwiederholung sei von Natur aus offen und jede Elementwiederholung abgeschlossen. Die Wiederholung der Fälle ist offen nur insofern, als sie über die Abgeschlossenheit einer binären Opposition zwischen Elementen verläuft; umgekehrt ist die Wiederholung der Elemente nur insofern abgeschlossen, als sie auf Fallstrukturen verweist, in denen sie selbst in ihrer Gesamtheit die Rolle eines der beiden entgegengesetzten Elemente übernimmt: vier ist nicht nur eine Allgemeinheit gegenüber den vier Schlägen, vier Uhr steht vielmehr im Konflikt mit der vorangehenden oder nachfolgenden halben Stunde und sogar, vor dem Horizont der gesamten Wahrnehmungswelt, mit den jeweils umgekehrten ,,vier Uhr” des Morgens und Wiederholungsformen verweisen in der passiven des Abends. Die beiden Synthese stets aufeinander: Die Wiederholung der Fälle setzt die der Elemente voraus, die der Elemente aber überschreitet sich notwendig zu der Wiederholung der Fälle hin (daher die natürliche Tendenz der passiven Synthese, das Tik-Tik als Tik-Tak zu empfinden). Mehr noch als die Unterscheidung der beiden Formen zählt darum die Unterscheidung von Ebenen, in denen sich die eine und die andere auswirken und kombinieren. Humes Beispiel ebenso wie Bergsons läßt uns bei der Ebene der sinnlichen und perzeptiven Synthesen stehen. Die empfundene+ Qualität verschmilzt mit der Kontraktion elementarer Reize; aber das wahrgenommene Objekt selbst impliziert eine Kontraktion von Fällen dergestalt, daß eine Qualität in der anderen gelesen wird, und es impliziert eine Struktur, in der sich die Objektform mit der Qualität zumindest als intentionalem Teil verbindet. In der Ordnung der konstitutiven Passivität aber verweisen die perzeptiven Synthesen auf organische Synthesen, wie die Sinnlichkeit der Sinne auf eine primäre Sinnlichkeit, die wir sind. Wir sind Kontraktionen aus Wasser, Erde, Licht und Luft, nicht nur bevor wir diese erkennen und repräsentieren, sondern noch bevor wie sie empfinden. Jeder Organismus ist mit seinen rezeptiven und perzeptiven Elementen, aber auch in seinen Eingeweiden, eine Summe von Kontraktionen, Retentionen und Erwartungen. Auf der Ebene dieser primären vitalen Sinnlichkeit konstituiert die lebendige Gegenwart schon in der Zeit eine Vergangenheit und eine Zukunft. Diese Zukunft erscheint im Bedürfnis als organische Form der Erwartung; die Vergangenheit
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der Retention erscheint im Erbgut der Zellen. Mehr noch: indem sich diese organischen Synthesen mit den auf ihnen aufgebauten perzeptiven Synthesen kombinieren, entfalten sie sich von Neuem in den aktiven Synthesen eines Gedächtnisses und einer Intelligenz psycho-organischer Natur (Instinkt und Lernprozeß). Wir müssen also nicht nur Wiederholungsformen im Verhältnis zur passiven Synthese unterscheiden, sondern auch Ebenen von passiven Synthesen und Kombinationen dieser Ebenen untereinander und Kombinationen dieser Ebenen mit den aktiven Synthesen. All das bildet ein reichhaltiges Gebiet von Zeichen, die jedesmal das Heterogene umhüllen und das Verhalten anregen. Denn jede Kontraktion, jede passive Synthese ist konstitutiv für ein Zeichen, das in den aktiven Synthesen interpretiert oder entfaltet wird. Die Zeichen, an denen das Tier die Nähe des Wassers ,,fühlt“, ähneln nicht den Elementen, die seinem durstigen Organismus fehlen. Die Art, wie die Empfindung, die Wahrnehmung, aber auch das Bedürfnis und die Erbanlage, der Lernprozeß und der Instinkt, die Intelligenz und das Gedächtnis an der Wiederholung teilhaben, bemißt sich in jedem Fall an der Kombination der Wiederholungsformen, an den Ebenen, in denen sich diese Kombinationen herstellen, an der Korrelierung dieser Ebenen, an der Interferenz von aktiven und passiven Synthesen. Worum handelt es sich in diesem ganzen Gebiet, das wir bis zum Organischen hin ausdehnen mußten? Hume sagt es präzise: Es handelt sich um das Problem der Gewohnheit. Wie aber läßt sich erklären, daß wir uns mit den Stundenschlägen Bergsons wie mit den Kausalfolgen Humes dem Mysterium der Gewohnheit tatsächlich so nahe fühlten und dennoch nichts von dem erkannten, was man ,,gewöhnlich“ eine Gewohnheit nennt? Der Grund dafür muß vielleicht in den Illusionen der Psychologie gesucht werden. Diese hat die Tätigkeit zu ihrem Fetisch gemacht. Ihre rasende Angst vor Introspektion bewirkt, daß sie nur das beobachtet, was sich bewegt. Sie fragt, wie man Gewohnheiten durch Handeln annimmt. Damit aber läuft jede Untersuchung des learning Gefahr, entstellt zu werden, solange man nicht die vorgängige Frage stellt: Nimmt man Gewohnheiten durch Handeln an . . . oder im Gegenteil durch Betrachtung? Die Psychologie hält es für ausgemacht, daß sich das Ich nicht selbst betrachten kann. Aber das ist nicht die Frage, die Frage lautet vielmehr, ob nicht das Ich selbst eine Betrachtung ist, ob es nicht an sich selbst eine Betrachtung ist -- und ob man auf andere Weise lernen, ein Verhalten und sich selbst bilden kann als durch Betrachtung. Die Gewohnheit entlockt der Wiederholung etwas Neues: die Differenz (die zunächst als Allgemeinheit gesetzt ist). Die Gewohnheit ist in ihrem Wesen Kontraktion. Die Sprache belegt das, wenn sie von ,,contracter“ une habitude [eine Gewohnheit annehmen] spricht und das Verb contracter nur mit einem Komplement verwendet, das einen Habitus zu bilden vermag. Man wendet ein, daß das Herz, wenn es sich kontrahiert [contracte], nicht mehr Gewohnheit hat (oder ist), als wenn es dilatiert. Aber das kommt daher, daß wir
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zwei gänzlich verschiedene Arten von Kontraktion durcheinanderbringen: Die Kontraktion kann eines der beiden aktiven Elemente, einen der beiden entgegengesetzten Takte in einer Reihe vom Typ tik-tak . . . bezeichnen, wobei das andere Element Entspannung oder Dilation ist. Aber die Kontraktion bezeichnet auch die Verschmelzung der sukzessiven Tik-Taks in einer betrachtenden Seele. Dies ist die passive Synthese, die die Gewohnheit unseres Lebens ausmacht, d.h. unsere Erwartung, daß ,,es“ weitergehe, daß eines der beiden Elemente nach dem anderen eintrete und damit das Fortbestehen unseres Falls garantiere. Wenn wir sagen, die Gewohnheit sei Kontraktion, so sprechen wir folglich nicht von der augenblicklichen Handlung, die sich mit der anderen zur Bildung eines Wiederholungselements zusammensetzt, sondern von der Verschmelzung dieser Wiederholung im betrachtenden Geist. Man muß dem Herz, den Muskeln, den Nerven, den Zellen eine Seele zuschreiben, allerdings eine betrachtende Seele, deren ganze Rolle in der Annahme der Gewohnheit [contracter I’habitude] besteht. Darin liegt keine barbarische oder mystische Hypothese: Die Gewohnheit manifestiert hierin im Gegenteil ihre volle Allgemeinheit, die nicht nur die sensu-motorischen Gewohnheiten betrifft, die wir (in psychologischer Hinsicht) haben, sondern zunächst die primären Gewohnheiten, die wir sind, die Tausende von passiven Synthesen, aus denen wir organisch bestehen. Indem wir kontrahieren, sind wir Gewohnheiten, zugleich aber kontrahieren wir durch Betrachtung. Wir sind Betrachtungen, wir sind Einbildungen, wir sind Allgemeinheiten, wir sind Ansprüche, wir sind Befriedigungen. Denn das Phänomen des Anspruchs ist wiederum nichts anderes als die kontrahierende Betrachtung, durch die wir unser Recht und unsere Erwartung dem gegenüber behaupten, was wir kontrahieren, und unsere Zufriedenheit mit uns selbst, sofern wir betrachten. Wir betrachten nicht uns selbst, aber wir existieren nur als Betrachtende, d. h. indem wir kontrahieren2, woraus wir hervorgehen. Die Frage, ob die Lust selbst eine Kontraktion, eine Spannung ist, oder ob sie stets an einen Prozeß der Entspannung gebunden ist, ist falsch gestellt; man wird Elemente von Lust in der aktiven Abfolge der Entspannungen und Kontraktionen von Reizquellen finden. Eine ganz andere Frage aber ist, warum die Lust nicht bloß ein Element oder ein Fall in unserem psychischen Leben ist, sondern ein Prinzip, das dieses in allen Fällen souverän regiert. Die Lust ist ein Prinzip, sofern sie die Unruhe einer erfüllenden Betrachtung ist, die in sich selbst die Fälle von Entspannung und Kontraktion kontrahiert. Es gibt eine Glückseligkeit der passiven Synthese; und wir alle sind Narziß in der Lust, die wir in der Betrachtung empfinden (Selbstbefriedigung), obwohl wir etwas ganz anderes als uns selbst betrachten. Wir sind stets Aktaion in dem, was wir betrachten, wenngleich auch Narziß in der Lust, die wir daraus beziehen. Betrachten heißt
2 Das heißt auch: ,,annehmen” [A.d.Ü.].
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entlocken. Immer muß etwas anderes betrachtet werden, das Wasser, Diana oder die Wälder, damit man von einem Bild seiner selbst erfüllt wird. Samuel Butler hat wie kein anderer gezeigt, daß es keine andere Kontinuität als die der Gewohnheit gibt und daß wir keine anderen Kontinuitäten haben als die unserer tausend Teilgewohnheiten, die in uns entsprechend viele abergläubische und betrachtende Ichs, entsprechend viele Bewerber und Befriedigungen bilden: ,, Denn noch das Korn der Felder gründet sein Wachstum auf einen Boden voller Aberglauben, was seine Existenz betrifft, und verwandelt die Erde und die Feuchtigkeit nur dank eines vermessenen Vertrauens zu Weizen, dank eines Vertrauens, das es in sein eigenes Geschick dazu setzt, Vertrauen oder Glauben an sich selbst, ohne den es kraftlos wäre”3. Nur dem Empiristen kann das Wagnis derartiger Formulierungen glücken. Es gibt eine Kontraktion von Erde und Feuchtigkeit, die man Weizen nennt, und diese Kontraktion ist eine Betrachtung und die Selbstbefriedigung aus dieser Betrachtung. Die Feldlilie singt durch ihre bloße Existenz den Ruhm der Himmel, der Göttinnen und Götter, d. h. der Elemente, die sie betrachtet, indem sie kontrahiert. Welcher Organismus ist nicht aus Wiederholungselementen und -fällen gemacht, aus Wasser, Stickstoff, Kohlenstoff, Chloriden, Sulfaten, die kontrahiert und betrachtet werden, und verflicht nicht auf diese Weise all die Gewohnheiten, aus denen er sich zusammensetzt? Die Organismen erwachen unter den erhabenen Worten der dritten Enneade: Alles ist Betrachtung! Und vielleicht ist es ,,Ironie“ zu sagen, alles sei Betrachtung, selbst die Felsen und die Wälder, die Tiere und Menschen, selbst Aktaion und der Hirsch, Narziß und die Blume, selbst unsere Handlungen und unsere Bedürfnisse. Aber die Ironie ihrerseits ist noch eine Betrachtung, nichts anderes als eine Betrachtung . . . Plotin sagt: Man bestimmt und genießt sein eigenes Bild nur, indem man sich zwecks dessen Betrachtung dem zukehrt, woraus man hervorgeht. Mühelos lassen sich die Gründe vervielfältigen, die die Gewohnheit von der Wiederholung unabhängig machen: Handeln ist niemals wiederholen, weder in der sich vollziehenden noch in der vollendeten Handlung. Wir haben gesehen, wie die Handlung eher das Besondere als Variable und die Allgemeinheit als Element besaß. Wenn es aber stimmt, daß die Allgemeinheit etwas gänzlich anderes ist als die Wiederholung, so verweist sie dennoch auf die Wiederholung als die verborgene Basis, auf der sie sich errichtet. Die Handlung bildet sich in der Ordnung der Allgemeinheit und auf dem Feld der ihr entsprechenden Variablen nur durch die Kontraktion von Wiederholungselementen. Nur geschieht die Kontraktion nicht in ihr, sondern in einem Ich, das betrachtet und das Handelnde verdoppelt. Und um die Handlungen in eine komplexere Handlung zu integrieren, müssen die primären Handlungen ihrerseits die Rolle von Wiederholungselementen in einem ,,Fall“ spielen, stets 3 Samuel Butler: Life and Habit, London 1878, S. 82.
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aber im Verhältnis zu einer betrachtenden Seele, die unterhalb des Subjekts der zusammengesetzten Handlung liegt. Unter dem handelnden Ich liegen kleine Ichs, die betrachten und die Handlung wie das aktive Subjekt ermöglichen. Wir sagen ,,ich“ nur mittels der tausend Zeugen, die in uns betrachten; immer ist es ein Dritter, der ,,ich“ sagt. Und selbst bei der Ratte im Labyrinth und in jedem Muskel der Ratte müssen diese betrachtenden Seelen angenommen werden. Da jedoch die Betrachtung zu keinem Augenblick aus der Handlung hervortritt, da sie sich stets im Hintergrund hält, da sie nichts ,,tut“ (obwohl sich etwas, und zwar etwas völlig Neues, in ihr tut), kann man sie leicht vergessen und den ganzen Prozeß aus Reiz und Reaktion ohne Bezugnahme auf die Wiederholung interpretieren, da dieser Bezug nur im Verhältnis der Reaktionen wie Reize zu den betrachtenden Seelen erscheint. Der Wiederholung etwas Neues entlocken, ihr die Differenz entlocken - dies ist die Rolle der Einbildungskraft [imagination] oder des Geistes, der in seinen mannigfaltigen und zersplitterten Zuständen betrachtet. Daher ist die Wiederholung in ihrem Wesen imaginär, da einzig die Einbildungskraft hier das Mo ment” der vis repetitiva unter dem Gesichtspunkt der Konstitution bildet und demjenigen Existenz verschafft, was sie als Wiederho lungsel emente oder -fälle kontrahiert. Die imaginäre Wiederholung ist keine falsche Wiederholung, die die Abwesenheit der wahren ausgleichen würde; die wahre Wiederholung liegt in der Einbildungskraft. Zwischen einer Wiederholung, die an sich fortwährend zerfällt, und einer Wiederholung, die sich für uns im Raum der Repräsentation entfaltet und bewahrt, gab es die Differenz, die das Fürsich der Wiederholung, das Imaginäre darstellt. Die Differenz bewohnt die Wiederholung. Einerseits läßt uns die Differenz - gleichsam der Länge nach von einer Ordnung der Wiederholung zur anderen übergehen: von der augenblicklichen Wiederholung, die an sich zerfällt, zur aktiv repräsentierten Wiederholung, und zwar über die Vermittlung der passiv en Synthese. Andererseits läßt uns die Differenz - der Tiefe nach - von e i n e r Wiederholungsordnung zur anderen und von einer Allgemeinheit zu einer anderen übergehen, und zwar in den passiven Synthesen selbst. Das Kopfzucken des Huhns begleitet die Herzschläge in einer organischen Synthese, bevor es dazu dient, in der perzeptiven Synthese Getreidekörner aufzupicken. Und schon am Ur. sprung verteilt sich die durch die Kontraktion der ,,Tiks“ gebildete Allgemeinheit wieder auf Besonderheiten in der komplexeren Wiederholung der ihrerseits kontrahierten ,,Tik-Taks“, und zwar in der Reihe der passiven Synthesen. Die materielle und nackte Wiederholung, die sogenannte Wiederholung des Selben, ist jedenfalls - gleich einer sich ablösenden Haut - die äußere Hülle eines Kerns von Differenz und von komplizierteren inneren Wiederholungen. Die Differenz liegt zwischen zwei Wiederholungen. Heißt das nicht umgekehrt, daß die Wiederholung auch zwischen zwei Differenzen liegt, daß sie uns von einer Differenzordnung zur anderen übergehen läßt? Gabriel Tarde steckte auf diese Weise die dialektische Entwicklung ab: die Wiederholung als Übergang von einem Zustand allgemeiner Differenzen zur singulären Diffe99
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renz, von äußeren Differenzen zur inneren Differenz - kurz, die Wiederholung als das Differenzierende der Differenz 4. Die Synthese der Zeit bildet die Gegenwart in der Zeit. Nicht daß die Gegenwart eine Dimension der Zeit wäre. Allein die Gegenwart existiert. Die Synthese bildet die Zeit als lebendige Gegenwart, und Vergangenheit und Zukunft als Dimensionen dieser Gegenwart. Diese Synthese ist jedoch innerzeitlich, was bedeutet, daß diese Gegenwart vorübergeht. Sicher kann man eine immerwährende Gegenwart ersinnen, eine Gegenwart in Koextension zur Zeit; man muß nur die Betrachtung auf das Unendliche der Abfolge von Augenblicken ausdehnen. Aber es gibt keine physische Möglichkeit einer
4 Die Philosophie Gabriel Tardes ist eine der letzten großen Philosophien der Natur in der Nachfolge Leibniz’. Sie entwickelt sich auf zwei Ebenen. Auf einer ersten Ebene bringt sie drei Grundkategorien ins Spiel, die alle Phänomene beherrschen: Wiederholung, Gegensatz, Anpassung (vgl. Les lois sociales, Paris 1898). Aber der Gegensatz ist nur die Gestalt, in der sich eine Differenz in der Wiederholung verteilt, um diese zu begrenzen und auf eine neue Ordnung oder auf ein neues Unendliches hin zu öffnen; wenn etwa das Leben seine Teile zu zweien einander gegenüberstellt, so verzichtet es auf ein indefinites Wachstum oder eine indefinite Vervielfältigung, um begrenzte Ganzheiten zu schaffen, erlangt aber auf diese Weise ein Unendliches anderer Art, eine Wiederholung anderer Natur, die Wiederholung der Fortpflanzung (L’opposition universelle, Paris 1897). Die Anpassung selbst ist die Gestalt, in der die Wiederholungsströme einander überkreuzen und sich in eine höhere Wiederholung integrieren. So daß die Differenz zwischen zwei Arten von Wiederholung erscheint und jede Wiederholung eine Differenz gleichen Grads bedingt (die Nachahmung als Wiederholung einer Erfindung, die Reproduktion als Wiederholung einer Variation, die Ausbreitung als Wiederholung einer Störung, die Summation als Wiederholung eines Differentiellen . . .; vgl. Les lois de I’imitation, Paris 1890). Auf einer tieferen Ebene aber ist es eher die Wiederholung, die ,,für“ die Differenz ist. Denn weder Gegensatz noch Anpassung bekunden die freie Gestalt der Differenz: die Differenz, ,,die zu nichts -in Gegensatz tritt und zu nichts dient”, als ,,Endzweck der Dinge“ (L’opposition universelle, S. 445). Unter diesem Gesichtspunkt liegt die Wiederholung zwischen zwei Differenzen und läßt uns von einer Ordnung der Differenz zur anderen übergehen: von der äußeren Differenz zur inneren Differenz, von der elementaren Differenz zur transzendenten Differenz, von der infinitesimalen Differenz zur personalen und monadologischen Differenz. Die Differenz ist folglich der Prozeß, durch den die Differenz weder größer noch kleiner wird, sondern ,,zunehmend differiert“ und ,,sich selbst zum Zweck setzt“ (vgl. Monadologie et sociologie und La Variation universelle, in: Essais et mélanges sociologiques, Paris 1895). Es ist völlig falsch, die Soziologie Tardes auf einen Psychologismus oder gar auf eine Interpsychologie zu reduzieren. Tardes Vorwurf gegen Durkheim lautet, daß dieser sich vorgibt, was erklärt werden muß. nämlich ,,die Gleichartigkeit von Millionen v o n M e n s c h e n “ . Die Alternative: unpersönliche Gegebenheiten oder Ideen großer Männer ersetzt er durch die kleinen Ideen der kleinen Männer, durch die kleinen Erfindungen und die Interferenzen zwischen Nachahmungsströmen. Tarde begrün-
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derartigen Gegenwart: Die Kontraktion in der Betrachtung bewirkt stets die Qualifizierung einer Wiederholungsordnung nach Elementen oder Fällen. Sie bildet notwendig eine Gegenwart von einer gewissen Dauer, eine Gegenwart, die sich erschöpft und vorübergeht und je nach berücksichtigten Arten, Individuen, Organismen und Teilen von Organismen variiert. Zwei aufeinanderfolgende Gegenwarten können gleichzeitig mit ein und derselben dritten sein, die hinsichtlich der Zahl der von ihr kontrahierten Augenblicke eine größere Ausdehnung besitzt. Ein Organismus verfügt über eine Gegenwartsdauer, über verschiedene Gegenwartsdauern, und zwar je nach der natürlichen Reichweite der Kontraktion seiner betrachtenden Seelen. Das heißt, daß die Müdigkeit wirklich der Betrachtung zugehört. Man sagt richtig, daß der, welcher nichts tut, ermüde; die Ermüdung markiert jenen Augenblick, an dem die Seele das, was sie betrachtet, nicht mehr kontrahieren kann, an dem Betrachtung und Kontraktion zerfallen. Wir bestehen aus Müdigkeiten ebenso wie aus Betrachtungen. Darum kann ein Phänomen wie das Bedürfnis unter dem Gesichtspunkt der Handlung und der aktiven Synthesen, die es bestimmt, als ,,Mangel” begriffen werden, dagegen unter dem Gesichtspunkt der passiven Synthese, durch die es bedingt wird, als extreme ,,Sättigung“, als ,,Ermüdung“. Eben das Bedürfnis markiert die Grenzen der variablen Gegenwart. Die Gegenwart erstreckt sich zwischen zwei Vorkommen des Bedürfnisses und verschmilzt mit der Zeit, die eine Betrachtung dauert. Die Wiederholung des Bedürfnisses und all dessen, was davon abhängt, drückt die eigentliche Zeit der Synthese der Zeit aus, den innerzeitlichen Charakter dieser Synthese. Die Wiederholung ist wesentlich dem Bedürfnis eingeschrieben, weil das Bedürfnis auf einer Instanz beruht, die wesentlich die Wiederholung betrifft, das Fürsich der Wiederholung bildet, das Fürsich einer gewissen Dauer. Ausgehend von unseren Betrachtungen definieren sich alle unsere Rhythmen, unsere Reserven, unsere Reaktionszeiten, die tausend Verflechtungen, die Gegenwarten und Müdigkeiten, aus denen wir bestehen. Die Regel lautet, daß man nicht schneller machen kann, als es die eigene Gegenwart oder eher die eigenen Gegenwarten zulassen. Die Zeichen, wie wir sie als Habitus oder als aufeinander verweisende Kontraktionen definiert haben, gehören stets zur Gegenwart. Eine der Größen des Stoizismus liegt darin, daß er gezeigt hat, daß jedes Zeichen Zeichen einer Gegenwart ist, und zwar unter dem Gesichtspunkt der det die
Microsoziologie, die sich nicht notwendig zwischen zwei Individuen ergibt, sondern bereits in ein und demselben Individuum ihren Grund hat (etwa das Zögern als ,,infinitesimaler sozialer Gegensatz“, oder die Erfindung als ,,infinitesimale soziale Anpassung”; vgl. Les lois sociales). Mit dieser Methode, die mit Monographien arbeitet, wird man zeigen, wie die Wiederholung die kleinen Variationen summiert und integriert, stets um das ,,auf differente Weise Differente“ freizusetzen (La logique sociale, Paris 1893). Die Gesamtheit von Tardes Philosophie stellt sich folgendermaßen dar: eine Dialektik der Differenz und der Wiederholung, die die Möglichkeit einer Mikrosoziologie auf eine regelrechte Kosmologie gründet.
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passiven Synthese, in der Vergangenheit und Zukunft eben nur Dimensionen der Gegenwart selbst sind (die Narbe ist nicht das Zeichen der vergangenen Wunde, sondern ,,der gegenwärtigen Tatsache, eine Wunde gehabt zu haben“: sagen wir, sie sei Betrachtung der Wunde, sie ziehe alle Augenblicke, die mich von ihr trennen, in einer lebendigen Gegenwart zusammen). Oder aber wir haben hier den wahren Sinn der Unterscheidung zwischen natürlich und künstlich vor Augen. Natürlich sind demnach die Zeichen der Gegenwart, die in dem, was sie bedeuten, auf die Gegenwart verweisen, die auf die passive Synthese gegründeten Zeichen. Künstlich dagegen die Zeichen, die auf Vergangenheit oder Zukunft als geschiedene Dimensionen der Gegenwart verweisen, von denen die Gegenwart ihrerseits möglicherweise abhinge; derartige Zeichen implizieren aktive Synthesen, d. h. den Übergang von der spontanen Einbildung zu den aktiven Vermögen der reflektierten Repräsentation, des Gedächtnisses und der Intelligenz. Das Bedürfnis selber ist also-gemäß den negativen Strukturen, die es bereits auf die Tätigkeit beziehen, nur höchst unvollständig erfaßt. Es genügt nicht einmal, sich auf eine im Entstehen, im Vollzug befindliche Tätigkeit zu berufen, wenn man nicht den betrachtenden Boden bestimmt, auf dem sie sich vollzieht. Auch hier, auf diesem Boden, wird man dazu gebracht, im Negativen (im Bedürfnis als Mangel) den Schatten einer höheren Instanz zu sehen. Das Bedürfnis drückt das Aufklaffen einer Frage aus, bevor es das Nicht-Sein oder die Abwesenheit einer Antwort ausdrückt. Betrachten heißt Fragen. Ist es nicht das Eigentümliche der Frage, eine Antwort zu ,,entlocken“? Die Frage ist es, die zugleich jene Hartnäckigkeit oder Unnachgiebigkeit, jene Mattigkeit, jene Müdigkeit vorstellt, die dem Bedürfnis entsprechen. Welche Differenz besteht . . .? - so lautet die Frage, die die betrachtende Seele an die Wiederholung richtet und mit der sie der Wiederholung die Antwort entlockt. Die Betrachtungen sind Fragen, und die Kontraktionen, die sich in ihr herstellen und sie erfüllen, sind entsprechend viele endliche Bejahungen, die entstehen wie die Gegenwarten, die ausgehend von der immerwährenden Gegenwart in der passiven Synthese der Zeit entstehen. Die Konzeptionen des Negativen entstammen der Voreiligkeit, mit der wir das Bedürfnis im Verhältnis zu den aktiven Synthesen begreifen, die sich in Wirklichkeit nur auf diesem Untergrund entwickeln. Mehr noch: wenn wir die aktiven Synthesen selbst auf diesen Grund, den sie voraussetzen, zurückverlegen, so sehen wir, daß die Tätigkeit eher die Konstitution problematischer Felder im Verhältnis zu den Fragen meint. Jedes Gebiet des Verhaltens, die Verflechtung von künstlichen und natürlichen Zeichen, das Eingreifen von Instinkt und Lernprozeß, von Gedächtnis und Intelligenz zeigen, wie die Fragen der Betrachtung sich in aktiven problematischen Feldern entfalten. Der ersten Synthese der Zeit entspricht ein erster Komplex Frage/Problem, wie er in der lebendigen Gegenwart erscheint (Dringlichkeit des Lebens). Diese lebendige Gegenwart und mit ihr das gesamte organische und psychische Leben beruhen auf der Gewohnheit. Im Gefolge Condillacs müssen wir die Gewohnheit als Gründung anse-
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hen, von der sich alle anderen psychischen Phänomene ableiten. Dies aber kommt daher, daß alle anderen Phänomene entweder auf Betrachtungen beruhen oder selbst Betrachtungen sind: selbst das Bedürfnis, selbst die Frage, selbst die ,,Ironie“. Diese tausend Gewohnheiten, aus denen wir bestehen - diese Kontraktionen, Betrachtungen, Ansprüche, Anmaßungen, Befriedigungen, Müdigkeiten, variablen Gegenwarten - bilden also das Ausgangsgebiet der passiven Synthesen. Das passive Ich definiert sich nicht einfach durch Rezeptivität, d. h. durch die Fähigkeit, Empfindungen zu erfahren, sondern durch die kontrahierende Betrachtung, die den Organismus selbst noch vor der Ausbildung seiner Empfindungen bildet. Daher besitzt dieses Ich auch kein Merkmal von Einfachheit: Es genügt nicht einmal, das Ich zu relativieren, zu pluralisieren, während man ihm doch stets eine abgeschwächte einfache Form erhält. Die Ichs sind larvenhafte Subjekte; die Welt der passiven Synthesen konstituiert das System des Ichs unter näher zu bestimmenden Bedingungen, allerdings das System des aufgelösten Ichs. Es gibt Ich, sobald irgendwo eine flüchtige Betrachtung entsteht, sobald irgendwo eine Kontraktionsmaschine arbeitet, die für einen Augenblick der Wiederholung eine Differenz zu entlocken vermag. Das Ich kennt keine Modifikationen, es ist selbst eine Modifikation, wobei dieser Begriff eben die entlockte Differenz bezeichnet. Letztendlich ist man nur das, was man hat, nur durch ein Haben bildet sich hier das Sein, ist das passive Ich. Jede Kontraktion ist eine Anmaßung, ein Anspruch, das heißt, sie äußert eine Erwartung oder ein Recht bezüglich dessen, was sie kontrahiert, und zerfällt, sobald ihr Gegenstand ihr entwischt. In allen seinen Romanen hat Samuel Beckett das Inventar der Besitztümer geschildert, dem sich die Larvensubjekte müde und leidenschaftlich verschreiben: die Reihe von Molloys Kieselsteinen, Murphys Keksen, Malones Besitzstücken - immer geht es darum, der Wiederholung der Elemente oder der Organisation der Fälle eine kleine Differenz, eine armselige Allgemeinheit zu entlocken. Zweifellos liegt eine der tiefsten Absichten des ,,Nouveau Roman“ darin, diesseits der aktiven Synthese das Gebiet der passiven Synthesen zu erreichen, aus denen wir bestehen, Modifikationen, Tropismen und kleine Besitztümer. Und in all seinen Teilmüdigkeiten, in all seinen dürftigen Selbstbefriedigungen, in seinen lächerlichen Anmaßungen, in seinem Elend und seiner Armseligkeit singt das aufgelöste Ich noch den Ruhm Gottes, d.h. dessen, was es betrachtet, kontrahiert und besitzt.
Die erste Synthese der Zeit ist, wenngleich ursprünglich, dennoch innerzeitlich. Sie konstituiert die Zeit als Gegenwart, allerdings als Gegenwart, die vorübergeht. Die Zeit bleibt der Gegenwart verhaftet, die Gegenwart aber bewegt sich unaufhörlich in Sprüngen, die ineinander übergehen. Dies ist das Paradox der Gegenwart: Sie konstituiert die Zeit, geht aber in dieser konsti-
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tuierten Zeit vorüber. Wir dürfen der notwendigen Konsequenz nicht ausweichen: Es ist eine andere Zeit als diejenige gefordert, in der sich die erste Synthese der Zeit vollzieht. Diese verweist notgedrungen auf eine zweite Synthese. Indem wir auf die Endlichkeit der Kontraktion insistierten, haben wir die Wirkung dargestellt, aber keineswegs gezeigt, warum die Gegenwart vorüberging oder wodurch sie gehindert wurde, koextensiv zur Zeit zu sein. Die erste Synthese, die Synthese der Gewohnheit, ist tatsächlich die Gründung der Zeit; wir müssen aber Gründung und Grund auseinanderhalten. Die Gründung betrifft den Boden und zeigt, wie sich etwas auf diesem Boden einrichtet, ihn besetzt und in Besitz nimmt; der Grund aber kommt eher vom Himmel herab, reicht vom First bis zu den Fundamenten, schätzt Boden und Besitzer einem Besitztitel gemäß gegeneinander ab. Die Gewohnheit ist die Gründung der Zeit, der schwankende Boden, der von der vorübergehenden Gegenwart besetzt wird. Gerade im Vorübergehen liegt der Anspruch der Gegenwart. Was aber die Gegenwart vorübergehen läßt und Gegenwart und Gewohnheit aufeinander abstimmt, muß als Grund der Zeit bestimmt werden. Der Grund der Zeit ist das Gedächtnis. Wir haben gesehen, daß das Gedächtnis als abgeleitete aktive Synthese auf der Gewohnheit beruht: Tatsächlich ruht alles auf der Gründung. Wodurch aber das Gedächtnis konstituiert wird, ist damit nicht gegeben. In dem Augenblick, wie es sich auf die Gewohnheit gründet, muß das Gedächtnis durch eine andere passive Synthese, die sich von der Gewohnheit unterscheidet, begründet werden. Und die passive Synthese der Gewohnheit verweist selbst auf jene tiefere passive Synthese, das Gedächtnis: Habitus und Mnemosyne, oder die Vereinigung von Himmel und Erde. Die Gewohnheit ist die ursprüngliche Synthese der Zeit, die das Leben der vorübergehenden Gegenwart bildet; das Gedächtnis ist die grundlegende Synthese der Zeit, die das Sein der Vergangenheit (das Sein dessen, was die Gegenwart vorübergehen läßt) ausmacht. Man könnte zunächst sagen, die Vergangenheit sei zwischen zwei Gegenwarten eingekeilt: derjenigen, die sie gewesen ist, und derjenigen, bezüglich welcher sie vergangen ist. Die Vergangenheit ist nicht die frühere Gegenwart selbst, sondern das Element, in dem man diese intendiert. Daher liegt die Besonderheit nun auch im Intendierten, d.h. in dem, was ,,gewesen ist“, während die Vergangenheit selbst, das ,,war“, von Natur aus allgemein ist. Die Vergangenheit allgemein ist das Element, in dem man jede frühere Gegenwart im besonderen und als besondere intendiert. In Übereinstimmung mit Husserls Terminologie müssen wir Retention und Reproduktion unterscheiden. Was wir aber oben Retention der Gewohnheit nannten, war der Zustand sukzessiver Augenblicke, die in einer Gegenwart von bestimmter Dauer kontrahiert wurden. Diese Augenblicke bildeten die Besonderheit, d. h. eine unmittelbare Vergangenheit, die naturgemäß zur aktuellen Gegenwart gehört; die Gegenwart selbst, die in der Erwartung zur Zukunft hin geöffnet ist, bildete das Allgemeine. Von der Reproduktion des Gedächtnisses aus gesehen ist dagegen die Vergangenheit (als Vermittlung der Gegenwarten) allgemein
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und die Gegenwart (die aktuelle ebenso wie die frühere) besonders geworden. In dem Maße, wie die Vergangenheit allgemein das Element ist, in dem man jede darin bewahrte frühere Gegenwart intendieren kann, wird die frühere ‘Gegenwart in der aktuellen ,,repräsentiert“? Die Grenzen dieser Repräsentation oder Reproduktion werden in Wirklichkeit durch die variablen Ähnlichkeits- u n d Kontiguitätsbeziehungen bestimmt, die man unter dem Namen der Assoziation kennt; denn die frühere Gegenwart ähnelt, wenn sie repräsentiert werden soll, der aktuellen und dissoziiert in teilweise simultane Gegenwarten von ganz unterschiedlicher Dauer, die also einander und äußerstenfalls die akt uelle Gegenwart berühren. Die Größe der Assoziationspsychologie besteht darin, daß sie eine regelrechte Zeichentheorie auf diesen Asssoziationsbeziehungen gegründet hat. Nun wird die frühere Gegenwart nicht in der aktuellen repräsentiert, ohne daß die aktuelle selbst in dieser Repräsentation repräsentiert ist. Es gehört zum Wesen der Repräsentation, daß sie nicht nur etwas, sondern ihre eigene Repräsentativität repräsentiert. Frühere und aktuelle Gegenwart entsprechen also nicht zwei sukzessiven Augenblicken auf der Geraden der Zeit, die aktuelle Gegenwart enthält vielmehr notwendig eine zusätzliche Dimension, in der sie die frühere re-präsentiert und in der sie auch sich selbst repräsentiert. Die aktuelle Gegenwart wird nicht als künftiger Gegenstand einer Erinnerung behandelt, sondern als dasjenige, was sich reflektiert und dabei gleichzeitig die Erinnerung der früheren Gegenwart bildet. Die aktive Synthese besitzt also zwei wechselseitig sich bedingende und dennoch nicht symmetrische Aspekte: Reproduktion und Reflexion, Sicherinnern und Erkennen, Gedächtnis und Verstand. Man hat oft bemerkt, daß die Reflexion mehr als die Reproduktion impliziert; aber dieses Mehr ist bloß jene zusätzliche Dimension, in der jegliche Gegenwart sich als aktuelle reflektiert und zugleich die frühere repräsentiert . Jeder Bewußtseinszustand verlangt eine Dimension mehr als das, dessen Erinnerung er impliziert“? So daß man-das Prinzip der Repräsentation aktive Synthese des Gedächtnisses nennen kann, und zwar in dieser zweifachen Hinsicht: Reproduktion der früheren Gegenwart und Reflexion der aktuellen. Diese aktive Synthese des Gedächtnisses gründet sich auf die passive Synthese der Gewohnheit, da diese jede mögliche Gegenwart allgemein konstituiert. Sie weicht allerdings entscheidend von ihr ab: Die Asymmetrie liegt nun in der konstanten Zunahme der Dimensionen, in ihrer unendlichen Proliferation. Die passive Synthese der Gewohnheit konstituierte die Zeit als Kontraktion der Augenblicke unter der Bedingung der Gegenwart, die aktive Synthese des Gedächtnisses aber konstituiert sie als Schachtelung der Gegenwarten selbst. Das ganze Problem lautet: unter welcher Bedingung? Durch das reine Ele5 Frz. représenté: hier auch - im Sinne Husserls - als ,,vergegenwärtigt“ zu verstehen (vgl. E. Husserl: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Hamburg 1985,s. 46ff., 163 ff.) [A.d.ü.]. 6 Michel Souriau: Le Temps, Paris 1937, S. 55.
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ment der Vergangenheit als Vergangenheit allgemein, als Vergangenheit a priori, wird diese frühere Gegenwart reproduzierbar, durch sie reflektiert sich die aktuelle Gegenwart. Die Vergangenheit leitet sich keineswegs von der Gegenwart oder von der Repräsentation ab, sondern wird von jeder Repräsentation vorausgesetzt. In diesem Sinne mag sich die aktive Synthese des Gedächtnisses nach Belieben auf die passive (empirische) Synthese der Gewohnheit gründen, sie kann dagegen nur durch eine andere passive (transzendentale) Synthese begründet werden, die dem Gedächtnis selbst eignet. Während die passive Synthese der Gewohnheit die lebendige Gegenwart in der Zeit konstituiert und Vergangenheit und Zukunft zu den beiden asymmetrischen Elementen dieser Gegenwart macht, konstituiert die passive Synthese des Gedächtnisses die reine Vergangenheit in der Zeit und macht die frühere und die aktuelle Gegenwart (also die Gegenwart in der Repräsentation und die Zukunft in der Reflexion) zu den beiden asymmetrischen Elementen dieser Vergangenheit als solcher. Was aber bedeutet reine Vergangenheit, Vergangenheit a priori, allgemein oder als solche? Matiére et mémoire ist vielleicht deswegen ein großes Buch, weil Bergson tief in das Gebiet dieser transzendentalen Synthese einer reinen Vergangenheit eingedrungen ist und all deren konstitutive Paradoxata freigelegt hat. Vergeblich würde man versuchen, die Vergangenheit ausgehend von einer der Gegenwarten, die sie einkeilen, wieder zusammenzusetzen - sei es diejenige, die sie gewesen ist, oder die, bezüglich welcher sie nun vergangen ist. Wir können nämlich nicht glauben, daß sich die Vergangenheit erst dann konstituiert, nachdem sie Gegenwart gewesen ist, oder weil eine neue Gegenwart erscheint. Wenn die Vergangenheit eine neue Gegenwart abwarten würde, um sich als Vergangenheit zu bilden, so würde weder die frühere Gegenwart vorübergehen noch die neue geschehen. Niemals würde eine Gegenwart vergehen, wenn sie nicht ,,zur gleichen Zeit“ vergangen wie gegenwärtig wäre; niemals würde sich eine Vergangenheit bilden, wenn sie sich nicht zunächst ,,zur gleichen Zeit, als sie Gegenwart gewesen ist, gebildet hätte. Dies ist das erste Paradox: das Paradox der Gleichzeitigkeit der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. Es gibt uns den Grund für die vorübergehende Gegenwart an. Darum nämlich, weil die Vergangenheit zu sich selbst als Gegenwart gleichzeitig ist, geht jede Gegenwart vorüber und vergeht zu Gunsten einer neuen Gegenwart. Ein zweites Paradox folgt daraus, das Paradox der Koexistenz. Wenn nämlich jede Vergangenheit gleichzeitig zu der Gegenwart ist, die sie gewesen ist, so koexistiert die gesamte Vergangenheit mit der neuen Gegenwart, bezüglich welcher sie nun vergangen ist. Die Vergangenheit ist ebensowenig ,,in“ dieser zweiten Gegenwart, wie sie ,,nach“ der ersten folgt. Daher der Gedanke Bergsons, jede aktuelle Gegenwart sei nichts als die Vergangenheit insgesamt im Zustand größter Kontraktion. Die Vergangenheit läßt keine der Gegenwarten vergehen, ohne die andere geschehen zu lassen, sie selbst aber vergeht weder, noch geschieht sie. Darum ist sie keineswegs eine Dimension der Zeit, sondern die Synthese der Zeit insgesamt, wobei Gegen-
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wart und Zukunft bloß deren Dimensionen sind. Man kann nicht sagen: Sie war. Sie existiert nicht mehr, sie existiert nicht, sondern sie insistiert, sie besteht [consiste], sie ist. Sie insistiert mit der früheren Gegenwart, sie besteht [consiste] zusammen mit. der aktuellen oder neuen. Sie ist das Ansich der Zeit als letzter Grund des Übergangs. In diesem Sinne prägt sie ein reines, allgemeines Element a priori aller Zeit. Wenn wir nämlich sagen, sie sei gleichzeitig zur Gegenwart, die sie gewesen ist, so sprechen wir notgedrungen von einer Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war, da sie sich nicht ,,nachher“ bildet. Ihre Art der Gleichzeitigkeit mit sich als Gegenwart besteht darin, sich als schon-da zu setzen, wobei sie durch die vergehende Gegenwart vorausgesetzt wird und diese selbst vergehen läßt. Ihre Art der Koexistenz mit der neuen Gegenwart liegt darin, sich an sich zu setzen, wobei sie sich an sich bewahrt und von der neuen Gegenwart vorausgesetzt wird, die nur insofern geschieht, als sie sie kontrahiert. Das Paradox der Präexistenz ergänzt also die beiden anderen: Jede Vergangenheit ist gleichzeitig zur Gegenwart, die sie gewesen ist, jede Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, bezüglich welcher sie vergangen ist, aber das reine Element der Vergangenheit allgemein ist gegenüber der Gegenwart, die vergeht, präexistent’. Es gibt also ein substantielles Element der Zeit (Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war), das die Rolle des Grunds übernimmt. Es selbst wird nicht repräsentiert. Repräsentiert wird immer nur die Gegenwart als frühere oder aktuelle Gegenwart. Die reine Vergangenheit aber ist es, durch die sich die Zeit auf diese Weise in der Repräsentation entfaltet. Die transzendentale passive Synthese bezieht sich auf jene reine Vergangenheit, und zwar in der dreifachen Hinsicht von Gleichzeitigkeit, Koexistenz und Präexistenz. Die aktive Synthese ist demgegenüber die Repräsentation der Gegenwart, und zwar unter dem doppelten Aspekt der Reproduktion der früheren und Reflexion der neuen Gegenwart. Diese wird durch jene begründet; und die neue Gegenwart verfügt stets deshalb über eine zusätzliche Dimension, weil sie sich im Element der reinen Vergangenheit allgemein reflektiert, während die frühere Gegenwart bloß als besondere durch dieses Element hindurch intendiert wird. Wenn wir die passive Synthese der Gewohnheit mit der passiven Synthese des Gedächtnisses-vergleichen, so sehen wir, wie sehr sich die Aufteilung von Wiederholung und Kontraktion im Übergang von der einen zur anderen verändert hat. Zweifellos erscheint die Gegenwart in jedem Fall als Frucht einer Kontraktion, die allerdings auf gänzlich verschiedene Dimensionen bezogen ist. In einem Fall ist die Gegenwart der am stärksten kontrahierte Zustand von sukzessiven Augenblicken oder Elementen, die an sich voneinander unabhängig sind. Im anderen Fall bezeichnet die Gegenwart den höchsten 7 Diese drei Paradoxata sind Gegenstand des dritten Kapitels aus Matiére et mémoire. (Unter diesen drei Gesichtspunkten stellt Bergson die reine Vergangenheit oder reine Erinnerung, die ist, ohne psychologische Existenz zu besitzen, der Vorstellung (représentation] gegenüber, d. h. der psychologischen Realität des Erinnerungsbildes.)
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Kontraktionsgrad einer Vergangenheit insgesamt, die an sich gleichsam koexistierende Totalität ist. Nehmen wir entsprechend den Notwendigkeiten des zweiten Paradoxes tatsächlich an, daß sich die Vergangenheit nicht in der Gegenwart bewahrt, bezüglich der sie vergangen ist, sondern sich an sich bewahrt, wobei die aktuelle Gegenwart nur die maximale Kontraktion all dieser Vergangenheit ist, die mit ihr koexistiert: Zunächst wird diese Vergangenheit insgesamt mit sich selbst koexistieren müssen, und zwar in verschiedenen Graden von Entspannung.. . und Kontraktion. Die Gegenwart ist nur dann der höchste Kontraktionsgrad der Vergangenheit, die neben ihr koexistiert, wenn die Vergangenheit zuerst mit sich in einer Unendlichkeit von unterschiedlichen Entspannungs- und Konraktionsgraden und auf unendlich vielen Ebenen koexistiert (dies meint Bergsons berühmte Metapher vom Kegel oder das vierte Paradox der Vergangenheit)*. Betrachten wir nun, was man in einem Leben, genauer: in einem geistigen Leben, Wiederholung nennt. Gegenwarten folgen aufeinander, greifen ineinander. Und dennoch haben wir den Eindruck, daß jede von ihnen - so stark die mögliche Inkohärenz oder Opposition der sukzessiven Gegenwarten auch sein mag - ,,dasselbe Leben“ auf unterschiedlicher Ebene durchspielt. Dies nennt man Schicksal. Das Schicksal besteht niemals in deterministischen Bezügen, die sich allmählich zwischen den sukzessiven Gegenwarten gemäß der Ordnung einer repräsentierten Zeit herstellen würden. Es impliziert nicht-lokalisierbare Verbindungen zwischen den sukzessiven Gegenwarten, Fernwirkungen, Systeme aus Reprise, Resonanz und Echos, objektive Zufälle, Signale und Zeichen, Rollen, die die räumlichen Positionen und zeitlichen Abfolgen transzendieren. Von Gegenwarten, die aufeinanderfolgen und ein Schicksal ausdrücken, könnte man sagen, sie spielten stets dieselbe Sache, die selbe Geschichte durch, abgesehen von der Differenz der Eben e: hier mehr oder weniger entspannt, dort mehr oder weniger kontra hiert . Darum läßt sich das Schicksal so schwer mit dem Deter’ Bergson, Matiére et mémoire: ,,So wiederholt sich dasselbe psychische Leben unendlich viele Male in denselben aufeinanderfolgenden Stockwerken des Gedächtnisses, derselbe geistige Vorgang kann sich in ganz verschiedener Höhe abspielen“ (in: G?uvr-es, a.a.O., S. 250; dt.: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt/M. 1964, S. 127); es gibt Platz ,,für tausend und abertausend Wiederholungen unseres seelischen Lebens, die wir durch ebenso viele Schnitte A’B’, A”B” usw. desselben Kegels darstellen [. . .]“ (S. 302; dt.: S. 174). - Man wird feststellen, daß die Wiederholung hier das psychische Leben betrifft, selbst aber nicht psychologisch ist: Die Psychologie beginnt nämlich erst mit dem Erinnerungsbild, während sich die Schnitte oder Stockwerke des Kegels in der reinen Vergangenheit abzeichnen. Es Wiederholung des psychischen handelt sich also um eine metapsychologische Lebens. Wenn Bergson andererseits von ,,aufeinanderfolgenden Stockwerken” spricht, so muß aufeinanderfolgend ganz bildhaft, in Abhängigkeit von unserem Auge, das die von Bergson vorgelegte Zeichnung durchläuft, verstanden werden; denn ihre eigentliche Wirklichkeit wird darin gesehen, daß all diese Stockwerke miteinander koexistieren.
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minismus vereinbaren, so leicht aber mit der Freiheit: Freiheit heißt, die Ebene wählen. In der Abfolge der aktuellen Gegenwarten tritt nur etwas Tieferes zutage: die Art und Weise, wie jede davon das gesamte Leben von Neuem aufnimmt, auf einer Ebene oder in einem Grad allerdings, der von dem der vorangehenden abweicht, wobei alle Ebenen oder Grade nebeneinander koexistieren und sich zur Wahl darbieten, aus dem Untergrund einer Vergangenheit heraus, die niemals gegenwärtig war. Empirischen Charakter nennen wir die Abfolge- und Simultaneitätsbeziehungen zwischen Gegenwarten, aus denen wir bestehen, ihre Assoziationen gemäß Kausalität, Kontiguität, Ähnlichkeit und selbst Gegensatz. Noumenalen Charakter aber die Beziehungen virtueller Koexistenz zwischen Ebenen einer reinen Vergangenheit, wobei jede Gegenwart nur eine dieser Ebenen aktualisiert oder repräsentiert. Kurz, was wir in empirischer Hinsicht als Abfolge von Gegenwarten erleben, die sich unter dem Gesichtspunkt der aktiven Synthese unterscheiden, ist zugleich die stets anwachsende Koexistenz von Vergangenheitsebenen in der passiven Synthese.
Jede Gegenwart kontrahiert eine Ebene insgesamt, diese Ebene aber besteht bereits aus Entspannung und Kontraktion. Das heißt: Das Zeichen der Gegenwart ist ein Übergang zur äußersten Grenze, eine maximale Kontraktion, die als solche die Wahl einer beliebigen Ebene - selbst an sich kontrahiert oder entspannt - aus einer Unendlichkeit anderer möglichen Ebenen sanktioniert. Und was wir von einem Leben sagen, können wir auch von mehreren Leben sagen. Da jedes davon eine vorübergehende Gegenwart ist, kann ein Leben ein anderes auf einer anderen Ebene wiederaufnehmen: als ob Philosoph und Schwein, Verbrecher und Heiliger auf den verschiedenen Ebenen eines gigantischen Kegels dieselbe Vergangenheit durchspielten. Was man Seelenwanderung nennt. Jeder wählt seine Höhe oder seinen Tonfall, vielleicht seinen Text, die Melodie aber ist ganz dieselbe - und zu allen Worten dasselbe Tralala, zu allen möglichen Tönen und in jeder Höhe. Es besteht ein großer Unterschied zwischen den beiden Wiederholungen, der materiellen und der geistigen. Die eine ist eine Wiederholung von unabhängigen sukzessiven Augenblicken oder Elementen; die andere ist eine Wiederholung des Ganzen auf verschiedenen koexistierenden Ebenen (es sei, wie Leibniz sagte, ,, alles und immer nach verschiedenen Graden der Vollkommenheit dasselbe“)‘. Daher stehen auch beide Wiederholungen in einem ganz unterschiedlichen Verhältnis zur ,,Differenz“ selbst. Die Differenz wird der einen entlockt, und zwar in dem Maße, wie sich die Elemente oder Augenblicke in einer lebendigen Gegenwart kontrahieren. In der anderen ist sie in dem Maße enthalten, wie das Ganze die Differenz zwischen seinen Ebenen umfaßt. Die eine ist nackt, die andere bekleidet; die eine bezieht sich auf Teile, die andere auf das Ganze; die eine auf die Abfolge, die andere auf die Koexistenz; die 9 Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain [dt.: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand], erstes Buch, Kap. 1.
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eine ist aktuell, die andere virtuell; die eine horizontal, die andere vertikal. Die Gegenwart ist stets kontrahierte Differenz; aber in einem Fall kontrahiert sie die indifferenten Augenblicke, im anderen Fall - im Übergang zur äußersten Grenze - eine differentielle Ebene des Ganzen, das selbst aus Entspannung oder Kontraktion besteht. So daß die Differenz der Gegenwarten selber zwischen den beiden Wiederholungen liegt, der Wiederholung der elementaren Augenblicke, der sie entlockt wird, und der Wiederholung der Ebenen des Ganzen, in denen sie erfaßt wird. Und der Bergsonschen Hypothese zufolge muß die nackte Wiederholung als äußere Umhüllung der bekleideten begriffen werden: d.h. die sukzessive Wiederholung der Augenblicke als geringster Spannungsgrad der koexistierenden Ebenen, die Materie als Traum oder als entspannteste Vergangenheit des Geistes. Keine der beiden Wiederholungen, ist streng genommen repräsentierbar. Denn die materielle Wiederholung zerfällt in dem Maße, wie sie sich herstellt und wird nur durch die aktive Synthese repräsentiert, die deren Elemente in einen Raum von Berechnung und Bewahrung projiziert; zugleich aber wird diese Wiederholung, nun Gegenstand von Repräsentation, der Identität der Elemente oder der Ähnlichkeit der bewahrten und addierten Fälle untergeordnet. Und die geistige Wiederholung entwickelt sich im Sein an sich der Vergangenheit, während die Repräsentation nur Gegenwarten in der aktiven Synthese erreicht und betrifft und damit jede Wiederholung der Identität der aktuellen Gegenwart in der Reflexion wie der Ähnlichkeit der früheren in der Reproduktion unterwirft. Die passiven Synthesen sind offensichtlich sub-repräsentativ. Uns stellt sich aber vor allem die Frage, ob wir in die passive Synthese des Gedächtnisses eindringen können. In gewisser Weise das Sein an sich der Vergangenheit leben, wie wir die passive Synthese der Gewohnheit leben. Die ganze Vergangenheit bewahrt sich an sich, wie aber können wir sie für uns retten, wie in dieses Ansich eindringen, ohne sie auf die frühere Gegenwart, die sie gewesen ist, oder auf die aktuelle Gegenwart, bezüglich der sie vergangen ist, zu reduzieren. Wie läßt sie sich für uns retten? - dies ungefähr ist der Punkt, an dem Proust Bergson fortführt und ablöst. Nun scheint die Antwort schon seit langem gegeben worden zu sein: in der Wiedererinnerung. Diese bezeichnet nämlich eine passive Synthese oder ein unwillkürliches Gedächtnis, das sich wesentlich von jeder aktiven Synthese des willkürlichen Gedächtnisses unterscheidet. Combray taucht nicht in der Art wieder auf, wie es gegenwärtig war oder sein könnte, sondern in einem Glanz, der nie erlebt wurde, als eine reine Vergangenheit, die schließlich ihre doppelte Unreduzierbarkeit offenbart: auf die Gegenwart, die sie gewesen ist, aber auch auf die aktuelle Gegenwart, die sie sein könnte - dank einer Verkeilung beider. Die früheren Gegenwarten lassen sich in der aktiven Synthese jenseits des Vergessens repräsentieren, soweit das Vergessen empirisch besiegt ist. Hier aber taucht Combray im Vergessen und als Unvordenkliches in Form einer Vergangenheit auf, die niemals gegenwärtig war: das Ansich Combrays. Wenn es ein Ansich der Vergangenheit gibt, so ist die Wiedererinnerung sein Noumenon oder das
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Denken, das es besetzt. Die Wiedererinnerung führt uns nicht einfach von einer aktuellen Gegenwart auf frühere Gegenwarten zurück, unsere gegenwärtigen Lieben auf Kinderlieben, unsere Geliebten auf unsere Mütter. Auch hier übergeht das Verhältnis der vorübergehenden Gegenwarten die reine Vergangenheit, die unter deren Schutz nun unterhalb der Repräsentation auftauchen kann: die Jungfrau, die niemals erlebt wurde, jenseits der Geliebten und jenseits der Mutter, in Koexistenz mit der einen und gleichzeitig zur anderen. Die Gegenwart existiert, nur die Vergangenheit aber insistiert und liefert das Element, in dem die Gegenwart vorübergeht und die Gegenwarten sich ineinander verkeilen. Der Widerhall der beiden Gegenwarten bildet nur eine persistierende Frage, die sich in der Repräsentation als ein Problemfeld mit dem unerbittlichen Imperativ zur Suche, zur Antwort, zur Lösung entfaltet. Die Antwort aber kommt stets anderswo her: Jede Wiedererinnerung ist erotisch, ob es sich um eine Ortschaft oder eine Frau handelt. Immer ist es Eros, das Noumenon, der uns in jene reine Vergangenheit an sich, in jene jungfräuliche Wiederholung, Mnemosyne, eindringen läßt. Er ist der Begleiter, der Bräutigam Mnemosynes. Woher hat er diese Macht, warum ist die Erforschung der reinen Vergangenheit erotisch? Warum besitzt Eros das Geheimnis der Fragen und ihrer Antworten zugleich, das Geheimnis einer Insistenz in all unserer Existenz? Es sei denn, wir verfügten noch nicht über das letzte Wort und es gäbe eine dritte Synthese der Zeit . . .
Nichts ist lehrreicher in zeitlicher Hinsicht, d.h. unter dem Gesichtspunkt einer Theorie der Zeit, als die Differenz zwischen dem kantischen und dem kartesianischen Cogito. Alles geschieht so, als ob das Cogito Descartes’ mit zwei logischen Werten arbeitete: der Bestimmung und der unbestimmten Existenz. Die Bestimmung (ich denke) impliziert eine unbestimmte Existenz (ich bin, da ich ja ,,sein muß, um denken zu können“) - und bestimmt sie eben als Existenz eines denkenden Wesens: Ich denke, also bin ich, ich bin ein Ding, das denkt. Die gesamte Kantische Kritik läuft auf den Einwand gegen Descartes hinaus, daß die Bestimmung unmöglich direkt auf das Unbestimmte bezogen werden könne. Die Bestimmung ,,ich denke“ impliziert selbstverständlich etwas Unbestimmtes (,,ich bin“), noch aber sagt uns nichts, wie dieses Unbestimmte durch das ich denke bestimmbar ist. ,,[I]m Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist“*‘. Kant fügt also einen dritten logischen Wert hinzu: das Bestimmbare, oder eher die Form, in der das Unbestimmte (durch die Bestimmung) bestimmbar ist. Dieser dritte Wert Io Kant: Kritik der reinen Vernunft, Allgemeine Anmerkung, den Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie betreffend, in: Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 358.
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reicht hin, um aus der Logik eine transzendentale Instanz zu machen. Er stellt die Entdeckung der Differenz dar, nicht mehr als empirischer Differenz zwischen zwei Bestimmungen, sondern als transzendentaler Differenz zwischen DER Bestimmung und dem, was sie bestimmt - nicht mehr als äußerer Differenz, die trennt, sondern als innerer Differenz, die das Sein und das Denken a priori aufeinander bezieht. Kants Antwort ist berühmt: Die Form, in der die unbestimmte Existenz durch das Ich denke bestimmbar ist, ist die Form der Zeit . . .‘i Die Konsequenzen daraus sind unabsehbar: Meine unbestimmte Existenz kann nur in der Zeit bestimmt werden, als Existenz eines Phänomens, eines passiven oder rezeptiven phänomenalen Subjekts, das in der Zeit erscheint. So daß die Spontaneität, deren ich im Ich denke bewußt bin, nicht als Attribut eines substanziellen und spontanen Wesens, sondern nur als Affektion eines passiven Ichs begriffen werden kann, das fühlt, daß sein eigenes Denken, seine eigene Intelligenz, dasjenige, wodurch es ICH [JE] sagt, in ihm und auf es - und nicht durch es - wirkt. Damit beginnt eine lange unerschöpfliche Geschichte: ICH [JE] ist ein anderer, oder das Paradox des inneren Sinns. Die Tätigkeit des Denkens gilt einem rezeptiven Sein, einem passiven Subjekt, das sich folglich diese Tätigkeit eher vorstellt, als daß sie sie in die Tat umsetzt, das eher deren Effekt fühlt als den Antrieb dazu besitzt, und das sie als ein Anderes in sich erlebt. Dem ,,Ich denke“ und dem ,,Ich bin“ muß das Ich [moi] hinzugefügt werden, d.h. die passive Position (was Kant Rezeptivität der Anschauung nennt); der Bestimmung und dem Unbestimmten muß die Form des Bestimmbaren, d. h. die Zeit, hinzugefügt werden. Und hinzufügen“ ist noch ein unpassendes Wort, weil es ja eher darum geht, den Unterschied zu machen und die Differenz ins Innere des Seins und des Denkens einzuführen. Von einem Ende zum anderen ist das ICH [JE/ gleichsam von einem Riß durchzogen: von einem Riß, der ihm durch die reine und leere Form der Zeit zugefügt wurde. In dieser Form ist es das Korrelat des passiven Ich [moi], das in der Zeit erscheint. Ein Sprung oder ein Riß im Ego [Je], eine Passivität im Ich [moi]l* - dies ist die Bedeutung der Zeit; und die Korrelation zwischen passivem Ich und gespaltenem Ego stellt die Entdeckung des Transzendentalen oder das Element der kopernikanischen Revolution dar. Descartes konnte seinen Schluß nur dadurch ziehen, daß er das Cogito auf den Augenblick reduzierte und die Zeit ausschied, sie an Gott im Wirken der unausgesetzten Schöpfung übertrug. Allgemeiner noch hat die angenommene Identität des Ego keine andere Garantie als die Einheit Gottes selbst. Daher hat die Ersetzung des Standpunkts ,,Gottes“ durch den des ,,Ego” eine wesentlich geringere Bedeutung als angenommen, solange das eine eine Identität bewahrt, die es gerade dem anderen verdankt. Gott lebt weiter, solange das 11 Ebd., Analytik, Anmerkung zu § 25. 12 Diese terminologische Unterscheidung zwischen einem aktiven Ego [Je] und einem passiven Ich [moi] wird im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, beibehalten [A.d.ü.].
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Ego über den Bestand durch sich selbst, die Einfachheit, die Identität verfügt, die seine ganze Ähnlichkeit mit dem Göttlichen ausdrücken. Umgekehrt läßt der Tod Gottes die Identität des Ego nicht fortbestehen, sondern errichtet und interiorisiert in ihm eine wesentliche Unähnlichkeit, eine ,,Fehlzeichnung” anstatt der Kennzeichnung oder des Siegels Gottes. In der Kritik der reinen Vernunft hat Kant dies zumindest an einer Stelle ganz scharf erkannt: das gleichzeitige Verschwinden der rationalen Theologie und der rationalen Psychologie, die Art, wie der spekulative Tod Gottes eine Spaltung des Ego nach sich zieht. Wenn der größte Antrieb der Transzendentalphilosophie darin besteht, die Form der Zeit in das Denken als solches einzuführen, so meint diese Form ihrerseits, als reine und leere Form, unauflöslich den toten Gott, das gespaltene Ego und das passive Ich. Freilich folgt Kant diesem Antrieb nicht weiter: Gott und Ego erfahren eine praktische Wiederauferstehung. Und selbst auf spekulativem Gebiet wird der Riß unversehens durch eine neue Form von Identität, durch die aktive synthetische Identität gekittet, während das passive Ich nur durch die Rezeptivität definiert wird und als solches keinerlei synthetische Kraft besitzt. Demgegenüber haben wir gesehen, daß die Rezeptivität als Fähigkeit zur Empfindung von Affektionen nur eine Folge war und daß das passive Ich in einer tieferen Schicht durch eine Synthese gebildet wurde, die selbst passiv ist (Betrachtung/Kontraktion). Daher rührt die Möglichkeit, Eindrücke oder Empfindungen zu erhalten. Es ist unmöglich, die Kantische Aufteilung beizubehalten, die in einer höchsten Anstrengung zur Rettung der Welt der Repräsentation besteht: Die Synthese wird hier als aktiv begriffen und appelliert an eine neue Identitätsform im Ego; die Passivität wird dabei als bloße Rezeptivität ohne Synthese aufgefaßt. Eine ganz andere Einschätzung des passiven Ichs ist es, in der das Kantische Unternehmen wieder aufgenommen werden kann und die Form der Zeit den toten Gott wie das gespaltene Ego aufrechterhält. Es kann in diesem Sinne zu Recht gesagt werden, daß der Ausgang aus dem Kantianismus nicht bei Fichte oder Hegel, sondern nur bei Hölderlin liegt, der die Leere der reinen Zeit und in dieser Leere die beständige Umkehr des Göttlichen, den fortgesetzten Riß im Ego und die konstitutive Leidenschaft des Ichs entdeckt13. In dieser Form der Zeit sah Hölderlin das Wesen des Tragischen oder das Abenteuer des l3 Zur reinen Form der Zeit und zum Riß oder zur ,,Zäsur“, die sie ins Ego einführt, vgl. Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus, Anmerkungen zur Antigonä, und den Kommentar von Jean Beaufret, der den Einfluß Kants auf Hölderlin nachdrücklich hervorhebt: Hölderlin et Sophocle, in: Remarques sur (Edipe et sur Antigone de Hölderlin, Paris 1965, vor allem S. 16-26. (Zum Thema eines ,,Risses“ im Ego, und zwar im Wesenszusammenhang mit der Form der Zeit, die als Todestrieb verstanden wird, wird man sich dreier großer, jedoch sehr verschiedener literarischer Werke erinnern: La bete humaine [dt.: Die Bestie im Menschen] von Zola, The Crack-up [Der Zusammenbruch] von F. S. Fitzgerald, Under the Volcano [Unter dem Vulkan] von M.Lowry.
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Ödipus, und zwar als einen Todestrieb mit komplementären Gestalten. Kann die kantische Philosophie damit die Erbschaft des Ödipus antreten? Ist jedoch die Einführung der Zeit ins Denken als solches der herausragende Beitrag Kants ? Bereits die platonische Wiedererinnerung schien nämlich diesen Sinn zu haben. Das Angeborensein ist ein Mythos, ebenso wie die Wiedererinnerung; ein Mythos des Augenblicklichen allerdings, weswegen er Descartes zupaß kommt. Wenn Platon ausdrücklich die Wiedererinnerung dem Angeborensein gegenüberstellt, so meint er damit, daß dieses nur das abstrakte Bild des Wissens repräsentiert, die reale Bewegung des Erlernens aber die Unterscheidung eines ,,Vorher“ und eines ,,Nachher“ in der Seele impliziert, d. h. die Einführung einer ersten Zeit, in der das einst Gewußte vergessen wird, da wir doch erst zu einer zweiten Zeit das Vergessene wiederfinden4. Die ganze Frage aber lautet: In welcher Form führt die Wiedererinnerung die Zeit ein? Selbst hinsichtlich der Seele handelt es sich um eine physische Zeit, um eine Zeit der Physis, periodisch oder zirkulär, die den Ereignissen untergeordnet ist, die in ihr vorübergehen, oder den Bewegungen, die sie mißt, den Wechselfällen, die sie skandieren. Zweifellos findet diese Zeit ihren Grund in einem Ansich, d. h. in der reinen Vergangenheit der Idee, die die Reihenfolge der Gegenwarten gemäß ihrer abnehmenden und wachsenden Ähnlichkeit mit dem Ideal zu einem Kreis anordnet, die aber ebenso die Seele, welche das Land des Ansich für sich bewahren oder wiederfinden konnte, aus dem Kreis vertreibt. Dennoch bleibt bestehen, daß die Idee gleichsam der Grund ist, von dem aus sich die sukzessiven Gegenwarten im Kreis der Zeit anordnen, so daß sich die reine Vergangenheit, durch die sie selbst definiert wird, notwendig noch in Begriffen der Gegenwart ausdrückt, als einstige mythische Gegenwart. Dies war bereits die ganze Zweideutigkeit der zweiten Synthese der Zeit, die ganze Ambiguität der Mnemosyne. Denn diese überwindet und beherrscht von ihrer reinen Vergangenheit herab die Welt der Repräsentation: Sie ist Grund, Ansich, Noumenon, Idee. Sie ist aber noch relativ zur Repräsentation, die sie begründet. Sie stockt die Prinzipien der Repräsentation auf, nämlich die Identität, aus der sie das Merkmal des Unvordenklichen Urbilds macht, und die Ähnlichkeit, aus der sie das Merkmal des gegenwärtigen Bilds macht: das Selbe und das Ähnliche. Sie ist nicht auf die Gegenwart reduzierbar und steht über der Repräsentation; und dennoch macht sie die Repräsentation der Gegenwarten bloß zirkulär oder unendlich (selbst bei Leibniz oder Hegel wird die Entfaltung der Repräsentation im Unendlichen noch durch Mnemosyne begründet). Die Unzulänglichkeit des Grunds liegt darin, daß er relativ zu dem ist, was er begründet, daß er die Merkmale dem entnimmt, was er begründet, und sich über sie beweist. Gerade in diesem Sinne schließt er sich zum Zirkel: Er bringt eher die Bewegung in die Seele, als die Zeit ins
14 Zur expliziten Gegenüberstellung von Wiedererinnerung und Angeborensein Phaidon,
76 a-d.
vgl.
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Denken. Ebenso wie der Grund in gewisser Weise ,,gekrümmt“ ist und uns in ein Jenseits hinabstürzen muß, überschreitet sich die zweite Synthese der Zeit auf eine dritte hin, die die Illusion des Ansich als noch korrelativ zur Repräsentation denunziert. Das Ansich der Vergangenheit und die Wiederholung in der Wiedererinnerung wären damit eine Art ,,Effekt“, gleichsam ein optischer Effekt oder eher noch der erotische Effekt des Gedächtnisses selbst. Was bedeutet: leere Form der Zeit oder dritte Synthese? Der Prinz aus dem Norden sagt: ,,Die Zeit ist aus den Angeln gehoben“? Sagt der Philosoph des Nordens möglicherweise dasselbe und ist Hamletianer, weil ödipal? Der Angelpunkt, cardo, ist dasjenige, was die Unterordnung der Zeit unter eben die Kardinalpunkte gewährleistet, über die die periodischen Bewegungen verlaufen, die er mißt (Zeit und Zahl der Bewegung, hinsichtlich der Seele wie der Welt). Die aus den Angeln gehobene Zeit meint dagegen die verrückte Zeit, die aus der Krümmung geraten ist, die ihr ein Gott verliehen hat, ihrer allzu einfachen Kreisgestalt entbunden, befreit vom Zwang der Ereignisse, die ihren Inhalt ausmachten, eine Zeit, die ihr Verhältnis zur Bewegung verkehrt, kurz, sich als leere und reine Form entdeckt. Die Zeit selbst läuft ab (das heißt: ist augenscheinlich nicht länger ein Kreis), anstatt daß etwas in ihr abläuft (gemäß der allzu simplen Gestalt des Kreises). Sie ist nicht länger kardinal und wird ordinal, eine reine Ordnung der Zeit. Hölderlin sagte, sie ,,reime“ sich nicht länger, weil sie sich ungleichmäßig zu beiden Seiten einer ,,Zäsur“ verteile, der zufolge Anfang und Ende nicht mehr zusammenfallen. Wir können die Ordnung der Zeit als diese rein formale Verteilung des Ungleichen in Abhängigkeit von einer Zäsur definieren. Man unterscheidet dann eine mehr oder weniger lange Vergangenheit, eine Zukunft mit umgekehrter Proportion, Zukunft und Vergangenheit aber sind hier keine empirischen und dynamischen Bestimmungen der Zeit: Sie sind formale und fixe Merkmale, die der Ordnung a priori entstammen, als eine statische Synthese der Zeit. Zwangsläufig statisch, da die Zeit nicht mehr der Bewegung untergeordnet ist; Form radikalster Veränderung, aber die Form der Veränderung verändert sich nicht. Die Zäsur und das von ihr ein für allemal festgelegte Vorher und Nachher sind es, die den Riß im Ego ausmachen (die Zäsur ist genau der Ursprungsort des Risses). Nachdem sie ihrem empirischen Inhalt abgeschworen, ihren eigenen Grund verkehrt hat, definiert sich die Zeit nicht nur durch eine leere formale Ordnung, sondern auch noch durch eine Gesamtheit und eine Reibe. Die Idee einer Gesamtheit entspricht zuallererst folgendem: daß die beliebige Zäsur im Bild einer Tat, eines einzigartigen und gewaltigen Ereignisses bestimmt werden muß, das der Zeit insgesamt angemessen ist. Dieses Bild selbst existiert in einer zerissenen Form, in zwei ungleichen Stücken; und dennoch versammelt
15 In der Schlegel-Tieckschen Übersetzung des Hamlet heißt es genau: ,,Die Zeit ist aus den Fugen“ [A.d.Ü.].
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es auf diese Weise die Gesamtheit der Zeit. Es muß Symbol genannt werden, auf Grund der ungleichen Teile, die es subsumiert und - allerdings als ungleiche - versammelt. Ein derartiges Symbol, das der Gesamtheit der Zeit entspricht, drückt sich auf viele Arten aus: die Zeit aus den Angeln heben, die Sonne zerspringen lassen, sich in den Vulkan stürzen, Gott oder den Vater töten. Dieses symbolische Bild konstituiert die Gesamtheit der Zeit, sofern es die Zäsur, das Vorher und das Nachher versammelt. Aber es ermöglicht eine Reihe der Zeit, sofern es deren Verteilung im Ungleichen vollzieht. Stets gibt es nämlich eine Zeit, zu der die Tat in ihrem Bild als ,,zu groß für mich“ dargestellt ist. Dies ist es, wodurch die Vergangenheit oder das Vorher a priori definiert wird: Es ist kaum von Bedeutung, ob das Ereignis selbst vollendet oder unvollendet, die Tat vollbracht oder nicht vollbracht ist; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verteilen sich nicht nach diesem empirischen Kriterium. Ödipus hat die Tat bereits vollbracht, Hamlet noch nicht; in jedem Fall aber erleben sie den ersten Teil des Symbols in der Vergangenheit, leben sie selbst in der Vergangenheit und werden in sie zurückgeworfen, solange sie das Bild der Tat als zu groß für sich empfinden. Die zweite Zeit, die auf die Zäsur selber verweist, ist folglich die Gegenwart der Metamorphose, das Gleichwerden mit der Tat, die Zweiteilung des Ichs, die Projektion eines Idealichs ins Bild der Tat (es wird durch die Seereise Hamlets oder durch das Ergebnis der Nachforschung des Ödipus gekennzeichnet: Der Held wird zur Tat ,,fähig“). Was die dritte Zeit angeht, die die Zukunft offenbart - so bedeutet sie, daß das Ereignis, die Tat eine geheime Kohärenz besitzen, die die des Ichs ausschließt, sich gegen das ihnen angeglichene Ich wendet, es in tausend Stücke auseinanderschleudert, als ob der Zeuger einer neuen Welt durch den Ausbruch dessen, was er zum Mannigfaltigen erweckt, fortgerissen und zerstreut würde: Das Ich hat sich dem Ungleichen an sich angeglichen. Auf diese Weise entsprechen einander das gemäß der Ordnung der Zeit gespaltene Ego und das gemäß der Reihe der Zeit geteilte Ich und finden einen gemeinsamen Ausweg: im Mann ohne Namen, ohne Familie, ohne Eigenschaften, ohne Ich oder Ego, im ,,nichtswürdigen“ Bewahrer eines Geheimnisses, schon Übermensch, dessen verstreute Glieder das erhabene Bild umkreisen. Alles ist Wiederholung in der Reihe der Zeit, im Verhältnis zu jenem symbolischen Bild. Die Vergangenheit selbst ist defiziente Wiederholung und bereitet jene andere Wiederholung vor, die durch die Metamorphose in der Gegenwart gebildet wird. Der Historiker mag wohl empirische Korrespondenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit suchen; wie ergiebig es auch immer sein mag, bildet d ieses Netz aus historischen Korrespondenzen Wiederholung doch nur durch Gleichartigkeit und Analogie. In Wirklichkeit ist die Vergangenheit - wie die Gegenwart - an sich selbst Wiederholung, auf zwei verschiedene Weisen, die sich ineinander wiederholen. Es gibt in der Geschichte keine Wiederholungstatsachen, die Wiederholung ist vielmehr die historische Bedingung, unter der etwas Neues wirklich entsteht. Die Ähnlichkeit zwischen Luther und Paulus, zwischen der Revolution von 1789 und der Römischen
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Republik usw. offenbart sich nicht in der Reflexion des Historikers, vielmehr sind die Revolutionäre zunächst für sich selbst dazu bestimmt, sich als ,,wiedererstandene Römer” zu erleben, bevor sie zur Tat fähig werden, die sie durch Wiederholung im Modus einer eigenen Vergangenheit begonnen haben, also unter Bedingungen, unter denen sie sich notwendig mit einer Gestalt der historischen Vergangenheit identifizierten. Die Wiederholung ist eine Bedingung der Tat, bevor sie zu einem Reflexionsbegriff wird. Wir bringen Neues nur unter der Bedingung hervor, daß wir das eine Mal im Modus, durch den die Vergangenheit gebildet wird, wiederholen, ein anderes Mal in der Gegenwart der Metamorphose. Und das Hervorgebrachte, das absolut Neue selber ist seinerseits nichts anderes als Wiederholung, die dritte Wiederholung, diesmal überschießend, die Wiederholung der Zukunft als ewige Wiederkunft. Denn obwohl wir die ewige Wiederkunft so darlegen konnten, als ob sie die ganze Reihe oder die Gesamtheit der Zeit affizieren würde, die Vergangenheit und die Gegenwart nicht weniger als die Zukunft, so bleibt diese Darlegung bloß vorbereitend und hat nur problematischen und unbestimmten Wert, hat nur die Funktion, das Problem der ewigen Wiederkunft zu stellen. In ihrer esoterischen Wahrheit betrifft die ewige Wiederkunft nur die dritte Zeit der Reihe und kann nur sie betreffen. Nur in ihr findet sie ihre Bestimmung. Darum wird sie buchstäblich Zukunftsglaube, Glaube an die Zukunft genannt. Die ewige Wiederkehr affiziert nur das Neue, d.h. was unter der Bedingung des Mangels und vermittels der Metamorphose hervorgebracht wird. Aber sie läßt weder die Bedingung noch das Handelnde wiederkehren; im Gegenteil, sie stößt sie aus, verleugnet sie mit all ihrer zentrifugalen Kraft. Sie bildet die Autonomie des Hervorgebrachten, die Unabhängigkeit des Werks. Sie ist überschießende Wiederholung, die vom Mangel oder vom Gleichwerden nichts fortbestehen läßt. Sie ist selbst das Neue, die ganze Neuheit. Sie ist sich selbst die dritte Zeit der Reihe, die Zukunft als solche. Sie ist, wie Klossowski sagt, jene geheime Kohärenz, die nur unter Ausschluß meiner eigenen Kohärenz auftaucht, unter Ausschluß meiner eigenen Identität, der Identität des Ichs, der Welt, Gottes. Sie läßt nur den Nichtswürdigen, den Namenlosen wiederkehren. Sie bringt in ihrem Kreis den toten Gott und das aufgelöste Ich mit sich. Sie läßt nicht die Sonne wiederkehren, da sie deren Zerbersten bedingt; sie betrifft nur die Sternennebel, sie verschmilzt mit ihnen, hat Bewegung nur für sie. Daher machen wir es uns zu leicht, wie Zarathustra einmal zum Dämon sagt, wenn wir die ewige Wiederkunft so darstellen, als ob sie die Gesamtheit der Zeit affizierte; wir machen ein LeierLied aus ihr, wie er ein andermal zu seinen Tieren sagt. Das heißt: Wir bleiben beim allzu simplen Kreis stehen, der die vorübergehende Gegenwart beinhaltet und nach der Vergangenheit der Wiedererinnerung gestaltet ist. Gerade die Ordnung der Zeit aber, die Zeit als bloße und leere Form, hat diesen Kreis aufgelöst. Nun hat sie ihn zwar aufgelöst, allerdings zugunsten eines weniger einfachen und wesentlich geheimeren, wesentlich unwuchtigeren und nebelhafteren Kreises, eines für immer exzentrischen Kreises, des dezentrierten
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Kreises der Differenz, der sich einzig und allein in der dritten Zeit der Reihe von neuem bildet. Die Ordnung der Zeit hat den Kreis des Selben nur darum aufgebrochen, sie hat die Zeit nur darum auf die Reihe umgelegt, um am Ende der Reihe einen Kreis des Anderen erneut zu bilden. Das ,,ein für allemal“ der Ordnung besteht nur für das ,,jedesmal“ des esoterischen letzten Kreises. Die Form der Zeit besteht nur für die Offenbarung des Formlosen in der ewigen Wiederkunft. Die äußerste Formhaftigkeit besteht nur für ein exzessives Formloses (das ,,Unförmliche“ [i.O.dt.] Hölderlins). Damit wurde der Grund auf einen Ungrund hin überschritten, auf ein universales Zu-Grunde-gehen, das in sich selbst kreist und nur das Zu-Kommende [Lvenir] wiederkehren 1äßt. ANMERKUNG ZU DEN DREI WIEDERHOLUNGEN. Die Theorie der historischen Wiederholung bei Marx, wie sie insbesondere in Der achtzehnte Br-urnah-e des Louis Napoleon erscheint, dreht sich um folgendes Prinzip, das von den Historikern nicht hinreichend begriffen worden zu sein scheint: daß die Wiederholung in der Geschichte keine Analogie und kein Reflexionsbegriff des Historikers ist, sondern zunächst eine Bedingung historischen Handelns selbst. Harold Rosenberg hat auf einigen sehr schönen Seiten diesen Punkt erhellt: Die Akteure, die Handelnden der Geschichte vermögen nur durch ihre Identifikation mit Figuren der Vergangenheit Neues zu schaffen; gerade in diesem Sinne ist die Geschichte ein Theater. ,,Ihre Tat wurde von selbst die-Wiederholung einer einstigen Rolle . . . Darin besteht die revolutionäre Krise, die zu leistende Anstrengung, um etwas ,,völlig Neues“ zu schaffen, das die Geschichte zwingt, sich im Mythos zu verhüllen . . .” (The Tradition of the New, darin Kap. 12 mit dem Titel ,,The Resurrected Romans“, Chicago u. London (1960) 1982, S. 155456). Marx zufolge ist die Wiederholung komisch, wenn sie fehlschlägt, d.h. wenn sie eine Art von Involution, das Gegenteil zu einer authentischen Schöpfung bildet, anstatt zur Metamorphose und zur Produktion des Neuen zu führen. Die komische Travestie ersetzt die tragische Metamorphose. Es scheint allerdings, daß diese komische oder groteske Wiederholung für Marx notwendig nach der tragischen, evolutiven oder schöpferischen Wiederholung geschieht (,,alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen [ereignen] sich sozusagen zweimal [. . .]: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“). - Diese zeitliche Ordnung erscheint jedoch nicht unbedingt begründet. Die komische Wiederholung vollzieht sich aus Mangel, im Modus der eigentlichen Vergangenheit. Der Held wird notwendig mit dieser Wiederholung konfrontiert, insofern ,,die Tat zu groß für ihn ist“: Der Mord an Polonius - defizient - ist komisch; ebenso die Nachforschung des Ödipus. Die tragische Wiederholung kommt danach, sie ist der Moment der Metamorphose. Freilich sind diese beiden Momente nicht unabhängig voneinander und existieren nur für den dritten, jenseits von Komik und Tragik: für die dramatische Wiederholung in der Produktion von etwas Neuem, die den Helden selbst ausschließt. Wenn aber die ersten beiden Elemente eine abstrakte Unabhängigkeit gewinnen oder Gattungen werden, so folgt die komische Gattung auf die tragische, als ob das bis ins Absolute gesteigerte Scheitern der Metamorphose eine einstige, bereits vollzogene Metamorphose voraussetzte. Man wird bemerken, daß die dreitaktige Struktur der Wiederholung Hamlet ebenso wie Ödipus betrifft. Für Ödipus hatte Hölderlin dies mit unvergleichlicher Schärfe
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gezeigt: das Vorher, die Zäsur, das Nachher. Er signalisierte, daß die relativen Dimensionen von Vorher und Nachher gemäß der Position der Zäsur variieren können (etwa der schnelle Tod Antigones gegenüber dem langen Irrweg des Ödipus). Das Wesentliche aber liegt im Fortbestand der triadischen Struktur. In dieser Hinsicht interpretiert Rosenberg Hamlet auf eine Weise, die ganz und gar dem Schema Hölderlins entspricht, wobei die Zäsur durch die Seereise gebildet wird (vgl. Kap. 11, S. 121-154). Hamlet ähnelt Ödipus nicht nur in stofflicher Hinsicht, sondern auch in der dramatischen Form. Das Drama besitzt nur eine Form, die die drei Wiederholungen vereinigt. Ganz klar ist Nietzsches Zarathustra ein Drama, d.h. ein Theater. Das Vorher nimmt den größten Teil des Buches ein, im Modus des Mangels oder der Vergangenheit: Diese Tat ist zu groß für mich (vgl. die Idee des ,,bleichen Verbrechers“ oder die ganze komische Geschichte vom Tod Gottes oder all die Angst Zarathustras vor der Offenbarung der ewigen Wiederkunft - ,,deine Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine Früchte“). Dann kommt der Augenblick der Zäsur oder der Verwandlung, ,,das Zeichencc, an dem Zarathustra fähig wird. Fehlt noch der dritte Augenblick, der Augenblick der Offenbarung und der Bejahung der ewigen Wiederkunft, der den Tod Zarathustras einschließt. Bekanntlich hatte Nietzsche nicht die Zeit, diesen geplanten Teil niederzuschreiben. Darum konnten wir immer wieder in Betracht ziehen, daß Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft nicht ausformuliert und einem künftigen Werk vorbehalten war: Nietzsche hat nur die vergangene Bedingung und die gegenwärtige Verwandlung,vorgestellt, nicht aber das Unbedingte, das sich als ,,Zukunft“ daraus ergeben mußte. Das Thema der drei Zeiten läßt sich schon in der Mehrzahl zyklischer Konzeptionen finden, wiederfinden: so in den drei Testamenten des Joachim von Floris; oder in Vicos drei Zeitaltern, in den Zeitaltern der Götter, der Helden und der Menschen. Das erste ist notwendig defizient und gleichsam in sich abgeschlossen; das zweite ist offen und bezeugt die heroische Verwandlung; das Wesentlichste oder Geheimnisvollste aber geschieht im dritten, das die Rolle des ,,Bezeichneten“ gegenüber den beiden anderen übernimmt (so schrieb Joachim von Floris: ,,Es gibt zwei bezeichnende Dinge für ein bezeichnetes Ding”; in: Concordia Novi ac Veteris Testamenti, Venedig 1519 (Nachdruck Frankfurt/M. 1983, S. 7b; französische Übersetzung: L’EvangiZe éternel, Paris 1928, S. 42). Pierre Ballanche, der Joachim und Vico zusammen viel verdankt, bemüht sich, dieses dritte Zeitalter als die Epoche des Nichtswürdigen, des Odysseus oder ,,Jedermann“, des ,,Namenlosen“, des Königsmörders oder des modernen Ödipus zu bestimmen, ,,der die weit verstreuten Glieder des großen Opfers sucht” (vgl. die sonderbaren Essais de palingénésie sociale, Paris 1827). Aus diesem Blickwinkel müssen wir mehrere mögliche Wiederholungen unterscheiden, die nicht exakt vereinbar sind: 1. Eine innerzyklische Wiederholung, die in der Art und Weise besteht, wie die beiden ersten Zeitalter einander wiederholen, oder besser: wie sie dasselbe ,,Ding”, künftige Tat oder künftiges Ereignis, wiederholen. Dies ist vor allem die These des Joachim von Floris, der eine Tafel von Entsprechungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament aufstellt; aber diese These vermag noch nicht die bloßen Analogien der Reflexion zu überwinden. 2. Eine zyklische Wiederholung, bei der man annimmt, daß am Ende des dritten Zeitalters und am äußersten Punkt eines Zerfalls alles beim ersten Zeitalter wieder von neuem beginnt (Vico). 3. Das ganze Problem aber besteht darin: gibt es nicht eine Wiederholung, die dem dritten Zeitalter eignete und allein den Namen der ewigen Wiederkunft verdiente? Was nämlich die ersten beiden Zeitalter wiederholten, erschien für sich nur im dritten; im dritten
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Zeitalter aber wiederholt sich jenes ,,Ding“ an sich selbst. Die beiden ,,Bezeichnungen” wiederholen bereits, das Bezeichnete selbst aber ist reine Wiederholung. Gerade diese höhere Wiederholung, begriffen als ewige Wiederkunft im dritten Zustand, reicht hin, um zugleich die innerzyklische Hypothese zu korrigieren und der zyklischen Hypothese zu widersprechen. Denn einerseits evoziert die Wiederholung in den beiden ersten Momenten nicht mehr die Analogie der Reflexion, sondern die Bedingungen der Tat, unter denen die ewige Wiederkehr tatsächlich hervorgebracht wird; andererseits kehren die beiden ersten Momente nicht wieder, da sie im Gegenteil durch die Reproduktion der ewigen Wiederkehr im dritten eliminiert werden. Unter diesen beiden Gesichtspunkten hat Nietzsche zutiefst Recht, wenn er ,,seinen“ Entwurf jeder zyklischen Konzeption entgegenstellt (vgl. Schriften und Entwürfe am den Jahren 18811885, in: Werke, Bd. 12, Leipzig 1901, $ 106).
In dieser dritten Synthese der Zeit sind nun also Gegenwart und Vergangenheit ihrerseits bloß Dimensionen der Zukunft: die Vergangenheit als Bedingung, die Gegenwart als Handelndes. Die erste Synthese, die Synthese der Gewohnheit, bildete die Zeit als eine lebendige Gegenwart, und zwar in einer passiven Gründung, von der Vergangenheit und Zukunft abhingen. Die zweite Synthese, die Synthese des Gedächtnisses, bildete die Zeit als eine reine Vergangenheit, und zwar unter dem Gesichtspunkt eines Grunds, der die Gegenwart vergehen und eine andere heraufkommen läßt. In der dritten Synthese aber ist die Gegenwart nurmehr ein Akteur, ein Autor, ein zur Selbstauslöschung bestimmtes Handelndes; und die Vergangenheit ist nurmehr eine Bedingung, die aus Mangel wirkt. Die Synthese der Zeit bildet hier eine Zukunft, die zugleich den unbedingten Charakter des Hervorgebrachten im Verhältnis zu seiner Bedingung und die Unabhängigkeit des Werks im Verhältnis zu seinem Autor oder Akteur affirmiert. Durch die drei Synthesen hindurch offenbaren sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als Wiederholung, aber in drei sehr verschiedenen Modi. Die Gegenwart ist das Wiederholende, die Vergangenheit die Wiederholung selbst, die Zukunft aber ist das wiederholte. Nun liegt das Geheimnis der Wiederholung insgesamt im Wiederholten als zweifach Bezeichneten. Die königliche Wiederholung ist die Wiederholung der Zukunft, die sich die beiden anderen unterwift und sie ihrer Autonomie beraubt. Denn die erste Synthese betrifft nur den Inhalt und die
Gründung der Zeit; die zweite ihren Grund; jenseits davon aber garantiert die dritte Synthese die Ordnung, die Gesamtheit, die Reihe und den Endzweck der Zeit. Eine Philosophie der Wiederholung durchläuft alle ,,Stadien“ und bleibt dazu verurteilt, die Wiederholung selbst zu wiederholen. Aber über diese Stadien hinweg stellt sie ihr Programm sicher: die Wiederholung zur Kategorie der Zukunft machen; sich der Wiederholung der Gewohnheit und des Gedächtnisses bedienen, sich ihrer aber als Stadien bedienen und sie auf ihrem Weg hinter sich lassen; mit einer Hand gegen Habitus, mit der anderen gegen Mnemosyne kämpfen; den Inhalt einer Wiederholung zurückweisen, die sich schlecht und recht die Differenz (Habitus) ,,entlocken“ läßt; die Form einer Wiederholung zurückweisen, die die Differenz enthält, allerdings um sie
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noch dem Selben und dem Ähnlichen (Mnemosyne) unterzuordnen; die allzu einfachen Zyklen verwerfen, den Zyklus, dem eine gewohnheitsmäßige Gegenwart unterliegt (Zyklus der Gewohnheit), ebenso wie den Zyklus, der eine reine Vergangenheit erstellt (Zyklus des Gedächtnisses oder des Unvordenklichen); den Grund des Gedächtnisses zu einer einfachen defizienten Bedingung umändern, ebenso aber die Gründung der Gewohnheit zu einem Scheitern des ,,Habitus“, zur Metamorphose des Handelnden; das Handelnde und die Bedingung im Namen des Werks oder des Hervorgebrachten ausstoßen; aus der Wiederholung nicht dasjenige machen, dem man eine Differenz ,,entlockt“ oder das die Differenz als Variante enthält, sondern aus ihr das Denken und die Hervorbringung des ,,absolut Verschiedenen” machen; bewerkstelligen, daß die Wiederholung für sich selbst die Differenz an sich selbst ist. Die meisten Punkte dieses Programms motivieren eine protestantische und eine katholische Forschung: Kierkegaard und Peguy. Niemand wußte besser als diese beiden Autoren ,,seine“ Wiederholung der Wiederholung der Gewohnheit und des Gedächtnisses entgegenzusetzen. Niemand konnte besser als sie die Unzulänglichkeit einer gegenwärtigen oder vergangenen Wiederholung bloßstellen, die Einfachheit der Zyklen, die Falle der Wiedererinnerungen, den Status der Differenzen, die man der Wiederholung zu ,,entlocken“ oder, im Gegenteil, als bloße Varianten zu begreifen versucht. Niemand hat sich mehr als sie auf die Wiederholung als eine Kategorie der Zukunft berufen. Niemand hat mit größerer Sicherheit den antiken Grund der Mnemosyne und mit ihm die platonische Wiedererinnerung verworfen. Der Grund ist nurmehr eine mangelhafte Bedingung, weil im Sündenfall verloren, und muß in Christus zurückgegeben werden. Und die gegenwärtige Gründung des Habitus wird nichtsdestoweniger zurückgewiesen: Sie entkommt nicht der Metamorphose des Akteurs oder des Handelnden in der modernen Welt, sollte er dabei auch seine Kohärenz, sein Leben, seine Gewohnheiten verlieren? Nur waren Kierkegaard und Peguy, so sehr sie die größten Meister der Wiederholung sind, nicht bereit, den dafür notwendigen Preis zu bezahlen. Jene höchste Wiederholung als Kategorie der Zukunft übertrugen sie dem Glauben. Nun besitzt der Glaube sicher ausreichend Kraft, um sowohl die
16 Zur Art und Weise, wie Kierkegaards Wiederholung dem Zyklus der Gewohnheit und auch dem Kreis der Wiedererinnerungen entgegensteht vgl. die Kommentare Micea Eliades zum Opfer Abrahams: Le mythe de l’éternel retour (Paris 1949, S. 161 ff.). Der Autor schließt daraus die Neuheit der Geschichts- und Glaubenskategorien. Kierkegaards äußerst wichtiger Text über die wahrhafte Wiederholung, die sich keine Differenz ,,abgewinnen“ lassen darf, findet sich in Der Begriff der Angst (in: Gesammelte Werke, a.a.O., 11. Abteilung, S. 15-16). Kierkegaards Theorie der Bedingung, des Unbedingten und des absolut Verschiedenen wird in den Philosophischen Brocken verhandelt.
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Gewohnheit wie die Wiedererinnerung, das Ich der Gewohnheiten wie den Gott der Wiedererinnerungen, die Gründung wie den Grund der Zeit aufzulösen. Aber der Glaube fordert uns dazu auf, Gott und das Ich ein für allemal in einer gemeinsamen Auferstehung wiederzufinden. Kierkegaard und Péguy vollendeten Kant, sie verwirklichten den Kantianismus, indem sie dem Glauben die Sorge um die Überwindung des spekulativen Tods Gottes und um den Ausgleich der Wunde im Ich übertrugen. Von Abraham bis zu Jeanne d’Arc ist dies ihr Problem: das Verlöbnis eines wiedergefundenen Ichs mit einem wiedergegebenen Gott, so daß man nicht wirklich die Bedingung und das Handelnde hinter sich läßt. Und mehr noch: Man restauriert die Gewohnheit und frischt das Gedächtnis wieder auf. Es gibt aber ein Abenteuer des Glaubens, demgemäß man immer der Narr seines eigenen Glaubens, der Komödiant seines Ideals ist. Das rührt daher, daß der Glaube ein Cogito hat, das ihm eignet und ihn seinerseits bedingt, das Gefühl der Gnade als innere Erleuchtung. Dieses ganz besondere Cogito ist es, in dem sich der Glaube reflektiert und erfährt, daß seine Bedingung ihm nur als ,,wieder-gegebene“ gegeben werden kann und daß er nicht nur von dieser Bedingung abgetrennt, sondern in ihr entzweit ist. Der Glaubende sieht sich dann nicht nur als tragischer Sünder, weil der Bedingung beraubt, sondern als Komödiant oder Narr, als Trugbild seiner selbst, weil in der Bedingung entzweit und reflektiert. Zwei Gläubige betrachten einander nicht ohne ZU lachen. Als gegebene wie als fehlende betreibt die Gnade den Ausschluß. Ki.erkegaard sagte ganz richtig, er wäre eher Dichter als Ritter des Glaubens, kurz: ein ,,Humorist“. Das ist nicht sein Fehler, sonder der Fehler des Glaubensbegriffs; und das schreckliche Abenteuer Gogols ist vielleicht noch exemplarischer. Wie sollte der Glaube nicht seine eigene Gewohnheit und seine eigene Wiedererinnerung, und wie die Wiederholung, die er zum Gegenstand nimmt - eine Wiederholung, die sich paradoxerweise ein für allemal vollzieht -, nicht komisch sein? Unter ihr rumort eine andere Wiederholung, die Nietzscheanische Wiederholung, die Wiederholung der ewigen Wiederkunft. Und dies ist ein anderes Verlöbnis, eine Totenfeier eher, die den toten Gott und das aufgelöste Ich vereint, die damit die wahre defiziente Bedingung, die wahre Metamorphose des Handelnden prägen und alle beide im unbedingten Charakter des Hervorgebrachten verschwinden. Die ewige Wiederkunft ist kein Glaube, sondern die Wahrheit des Glaubens: Sie hat den Doppelgänger oder das Trugbild abgesondert, sie hat das Komische freigesetzt, um aus ihm ein Element des Übermenschen zu machen. Darum ist sie, wie wiederum Klossowski sagt, keine Lehre, sondern das Trugbild jeder Lehre (die höchste Ironie), sie ist keine Glaubensvorstellung, sondern die Parodie jeglicher Glaubensvorstellung (der höchste Humor): eine auf ewig zukünftige Glaubensvorstellung und Lehre. Man hat uns allzu oft gedrängt, den Atheisten von der Seite des Glaubens, der Gläubigkeit aus, die ihn angeblich noch beseele, kurz: von der Seite der Gnade aus zu beurteilen, als daß wir nicht versucht wären, die umgekehrte Bewegung zu vollziehen: den Gläubigen nach dem gewalttätigen Atheisten zu beurteilen, der in
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ihm wohnt, nach dem auf ewig in der Gnade und für ,,allemal“ gegebenen Antichrist.
Das biopsychische Leben impliziert ein Individuationsfeld, in dem sich Intensitätsdifferenzen in Form von Erregungen hier und dort verteilen. Lust wird der zugleich quantitative wie qualitative Prozeß der Differenzlösung genannt. Ein derartiger Zusammenhang, die unbeständige Aufteilung von lokalen Differenzen und Lösungen in einem intensiven Feld, entspricht dem, was Freud das Es genannt hat, zumindest der primären Schicht des Es. Das Wort ,,es” [CG] bezeichnet in diesem Sinn nicht nur ein unbekanntes furchterregendes Pronomen, sondern auch ein unbestimmtes Lokaladverb, ein ,,hier und dort“ [@ et l&] von Erregungen und ihren Lösungen. Und gerade hier beginnt das Problem Freuds: Es handelt sich um die Frage, wie die Lust nicht länger ein Prozeß bleibt, um zu einem Prinzip zu werden, wie sie von einem lokalen Prozeß zum Rang eines empirischen Prinzips aufsteigt, das darauf abzielt, das biopsychische Leben im Es zu organisieren. Es ist evident, daß die Lust Lust bereitet, aber das ist keinesfalls ein Grund dafür, daß sie systematischen Rang gewinnt, demgemäß man sie ,,prinzipiell“ suche. Dies ist mit Jenseits des Lustprinzips zunächst gemeint: keineswegs Ausnahmen von diesem Prinzip, sondern im Gegenteil die Bestimmung der Bedingungen, unter denen die Lust tatsächlich zum Prinzip wird. Die Antwort Freuds lautet, daß die Erregung als freie Differenz in gewisser Hinsicht ,,besetzt“ , ,,gebunden“, gefesselt werden muß, und zwar derart, daß ihre Lösung auf systematische Weise möglich ist. Die Bindung oder Besetzung der Differenz ist es, die keineswegs die Lust selbst, sondern den von der Lust eingenommenen Rang eines Prinzips allgemein ermöglicht: Somit geht man von einem Zustand vereinzelter Lösung zu einem Status von Integration über, der die zweite Schicht des Es oder den Beginn einer Organisation bildet. Nun ist diese Bindung eine regelrechte Reproduktionssynthese, d. h. ein Habitus. Ein Lebewesen bildet ein Auge aus, indem es die vereinzelten und diffusen Lichtreize veranlaßt, sich auf einer privilegierten Oberfläche seines Körpers zu reproduzieren. Das Auge bindet das Licht, es ist selbst gebundenes Licht. Dieses Beispiel zeigt hinreichend die Komplexität der Synthese. Denn es gibt zwar eine Reproduktionstätigkeit, deren Gegenstand die zu bindende Differenz ist; in einer tieferen Schicht aber gibt es eine Leidenschaft der Wiederholung, aus der eine neue Differenz entsteht (das gebildete Auge oder das sehende Ich). Die Erregung als Differenz war schon die Kontraktion einer elementaren Wiederholung. In dem Maße, wie die Erregung ihrerseits Element einer Wiederholung wird, wird die kontrahierende Synthese auf eine zweite Potenz angehoben, die eben durch die Bindung oder Besetzung repräsentiert ist. Die Besetzungen, Bindungen oder Integrationen sind passive Synthesen, Betrachtungen/Kontraktionen zweiten Grades. Die Triebe sind nichts anderes als gebundene Erregungen. Auf der Ebene jeder Bindung bildet sich ein Ich im ES; allerdings ein passives, partielles, larvenhaftes, betrachtendes und kontra-
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hierendes Ich. Das Es bevölkert sich mit lokalen Ichs, die die dem Es eigene Zeit konstituieren, die Zeit der lebendigen Gegenwart, und zwar dort, wo die den Bindungen entsprechenden Integrationen wirksam werden. Daß diese Ichs unmittelbar narzißtisch sind, erklärt sich unschwer, wenn man bedenkt, daß der Narzißmus nicht eine Betrachtung seiner selbst ist, sondern die Erfüllung eines Selbst-Bildes, wenn man etwas anderes betrachtet: Das Auge, das sehende Ich erfüllt sich mit einem Bild seiner selbst, indem es die von ihm gebundene Erregung betrachtet. Es erzeugt sich selbst oder ,,entlockt sich” dem, was es betrachtet (und dem, was es in der Betrachtung kontrahiert und besetzt). Darum ist die aus der Bindung resultierende Befriedigung zwangsläufig eine ,, halluzinatorische“ Befriedigung des Ichs selbst, obwohl die Halluzination hier in keiner Weise der Wirklichkeit der Bindung widerspricht. In all diesen Bedeutungen repräsentiert die Bindung eine reine passive Synthese, einen Habitus, der der Lust den Rang eines Befriedigungsprinzips überhaupt verleiht; die Organisation des Es ist die Organisation der Gewohnheit. Das Problem der Gewohnheit ist also falsch gestellt, solange man diese der Lust unterordnet. Bald meint man, die Wiederholung in der Gewohnheit erkläre sich durch den Wunsch, eine erlangte Lust zu reproduzieren; bald meint man, sie könne Unlust-Spannungen an sich selbst betreffen, allerdings um sie zu meistern, und mit dem Ziel, Lust zu gewinnen. Es ist klar, daß diese beiden Hypothesen bereits das Lustprinzip voraussetzen: Die Idee der gewonnenen Lust, die Idee der zu gewinnenden Lust werden nur unter dem Prinzip wirksam und bilden daraus zwei Anwendungen, eine vergangene und eine künftige. Die Gewohnheit als passive Synthese der Bindung aber geht dagegen dem Lustprinzip voraus und macht es möglich. Und die Idee der Lust resultiert daraus, wie Vergangenheit und Zukunft - wie wir gesehen haben aus der Synthese der lebendigen Gegenwart resultieren. Die Bindung zieht die Errichtung des Lustprinzips nach sich; sie kann keinen Gegenstand haben, der dieses Prinzip voraussetzt. Wenn die Lust die Dignität eines Prinzips erlangt, dann und nur dann wirkt die Idee der Lust als durch das Prinzip subsumierte, und zwar in einer Erinnerung oder einem Vorhaben. Die Lust übersteigt dann ihre eigene Augenblicklichkeit, um sich als eine Befriedigung überhaupt zu verhalten (und die Versuche, die als allzu subjektiv eingeschätzte Instanz der Lust durch ,,objektive“ Begriffe wie Gelingen oder Erfolg zu ersetzen, bezeugen noch jene durch das Prinzip verliehene Extension, wobei vorausgesetzt wird, daß die Idee der Lust diesmal nur dem Experimentator durch den Kopf gegangen ist). Es mag sein, daß wir in empirischer Hinsicht die Wiederholung so erleben, als sei sie einer gewonnenen oder zu gewinnenden Lust untergeordnet In der Reihenfolge der Bedingungen aber gilt das Umgekehrte. Die Synthese’ der -Bindung laßt sich nicht durch die Absicht oder Anstrengung erklären, eine Erregung zu meistern, obwohl sie diese Wirkung hat”. Einmal l7 Daniel Lagache hat die Anwendungsmöglichkeit des psychologischen Begriffs der Gewohnheit auf das Unbewußte und auf die Wiederholung im Unbewußten unter-
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mehr müssen wir uns davor hüten, die Reproduktionstätigkeit mit der in ihr verborgenen Wiederholungsleidenschaft zu verwechseln. Der wahre Gegenstand der Wiederholung der Erregung liegt in der Anhebung der passiven Synthese zu einer Potenz, der das Lustprinzip und seine künftigen und vergangenen Anwendungen entspringen. Die Wiederholung in der Gewohnheit oder die passive Synthese der Bindung ist also ,,jenseits“ des Prinzips. __ Dieses erste Jenseits konstituiert bereits eine Art transzendentaler Ästhetik. Wenn uns diese Ästhetik profunder als die Kantische erscheint, so aus folgenden Gründen: Mit der Definition des passiven Ichs durch bloße Rezeptivität gab sich Kant bereits die fertigen Empfindungen vor, indem er sie nur auf die Form a priori ihrer als Raum und Zeit bestimmten Repräsentation bezog. Damit vereinheitlichte er nicht nur das passive Ich, indem er es sich versagte, den Raum nach und nach zusammenzusetzen, damit beraubte er nicht nur dieses passive Ich jeglicher synthetischen Kraft (da die Synthese der Tätigkeit vorbehalten bleibt); sondern er riß überdies die beiden Teile der Ästhetik auseinander, das objektive Element der Empfindung, das durch die Form des Raums verbürgt wird, und das subjektive Element, das in Lust und Schmerz verkörpert ist. Demgegenüber bezweckten die vorangehenden Analysen den Nachweis, daß die Rezeptivität definiert werden muß durch die Bildung lokaler Ichs, durch passive Synthesen von Betrachtung und Kontraktion, die zugleich der Möglichkeit zur Erfahrung von Empfindungen, der Macht, sie zu reproduzieren, und dem von der Lust eingenommenen Rang eines Prinzips gerecht werden. Ausgehend von der passiven Synthese aber tritt eine doppelte Entwicklung in zwei ganz unterschiedliche Richtungen in Erscheinung. Einerseits errichtet sich eine aktive Synthese auf der Gründung der passiven Synthesen: Sie besteht darin, daß sie die gebundene Erregung auf ein als real und als Endpunkt unserer Handlungen gesetztes Objekt bezieht (Synthesis der Rekognition, die sich auf die passive Synthese der Reproduktion stützt). Dies ist die Realitätsprüfung in einer sogenannten ,,Objekt”-Beziehung, die die aktive Synthese definiert. Und eben dem Realitätsprinzip zufolge strebt das Ich danach, sich zu ,,aktivieren“, sich aktiv zu vereinheitlichen, alle seine kleinen passiven, betrachtenden Teil-Ichs zu versammeln und sich topisch vom Es ZU unterscheiden. Die passiven Ichs waren bereits Integrationen, allerdings, wie es bei den Mathematikern heißt, bloß lokale Integrationen; das aktive Ich ist ein globaler Integrationsversuch. Es wäre ganz und gar ungenau, die Realitätssetzung als eine durch die Außenwelt erzeugte Wirkung oder gar als Resultat von Mißerfolgen anzusehen, die der passiven Synthese zustießen. Im Gegenteil, die Realitätsprüfung mobilisiert und belebt, inspiriert jegliche Tätigkeit
sucht (aber es scheint dann, daß die Wiederholung einzig aus der Perspektive einer Meisterung von Spannungen betrachtet wird): Vgl. Le probléme du transfert, in: Revue fraqaise de psychanalyse, Januar 1952, S. S4--97.
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des Ichs: nicht so sehr in Form eines negativen Urteils, sondern in Form einer Überschreitung der Bindung in Richtung auf ein ,,Substantiv“, das dem Band als Träger dient. Es wäre ebenfalls ungenau, das Realitätsprinzip so zu verstehen, als würde es einen Gegensatz zum Lustprinzip bilden, es begrenzen und ihm Verzichtleistungen abverlangen. Beide Prinzipien schließen unmittelbar aneinander an, wenn auch das eine das andere überschreitet. Denn der Verzicht auf unmittelbare Lust ist bereits in der Rolle als Prinzip enthalten, die die Lust selbst erlangt, d. h. in der Rolle, die die Idee der Lust im Verhältnis zu einer Vergangenheit und einer Zukunft einnimmt. Kein Prinzip, das ohne Übernahme von Pflichten entstünde. Die Realität und die Verzichtleistungen, die sie uns nahelegt, bevölkern nur den Spielraum oder die Extension, die das Lustprinzip schon erlangt hat, und das Realitätsprinzip bestimmt nur eine aktive Synthese, sofern diese schon auf vorausgehende passive Synthesen gründet. Aber die realen Objekte, das als Realität oder Träger des Bands gesetzte Objekt, bilden nicht die einzigen Objekte des Ichs und erschöpfen ebensowenig die Gesamtheit der sogenannten Objektbeziehungen. Wir unterschieden zwei simultane Dimensionen: So überschreitet sich die passive Synthese nicht in Richtung auf eine aktive Synthese, ohne sich zugleich in eine-andere Richtung zu vertiefen, in der sie passive und betrachtende Synthese bleibt, wenn sie sich auch der gebundenen Erregung bedient, um etwas Neues zu erlangen, allerdings auf andere Weise als das Realitätsprinzip. Vielmehr wird deutlich, daß sich die aktive Synthese niemals auf der passiven Synthese aufbauen könnte, wenn diese nicht gleichzeitig fortbestünde, sich ihrerseits nicht gleichzeitig entwickelte und nicht einen neuen Modus finden würde, asymmetrisch und zugleich komplementär zur Tätigkeit. Ein Kind, das zu laufen beginnt, begnügt sich nicht damit, Erregungen in einer passiven Synthese zu binden, selbst wenn man annimmt, diese Erregungen seien endogen und entspringen seinen eigenen Bewegungen. Niemals wurde auf endogene Weise gelaufen Einerseits überschreitet das Kind die gebundenen Erregungen in Richtung auf die Setzung oder Intentionalität eines Objekts, etwa die Mutter als Ziel eines Bemühens, als aktiv und ,,in Wirklichkeit” zu erreichender Endpunkt, hinsichtlich dessen es seine Mißerfolge und Erfolge ermißt. Aber andererseits und gleichzeitig schafft sich das Kind ein anderes Objekt, einen ganz anderen Objekttyp, ein virtuelles Objekt oder Zentrum, das die Fortschritte oder Mißerfolge seiner realen Tätigkeit regelt und kompensiert: Es steckt mehrere Finger in seinen Mund, umfaßt dieses Zentrum mit dem anderen Arm und beurteilt die Gesamtheit der Situation von dieser virtuellen Mutter aus. Die Tatsache, daß der Blick des Kindes auf die reale Mutter gerichtet ist, daß das virtuelle Objekt Endpunkt einer sichtbaren Tätigkeit (des Fingerlutschens etwa) ist, birgt die Gefahr eines Fehlurteils seitens des Beobachters. Das Fingerlutschen geschieht nur, um ein virtuelles Objekt zu beschaffen, das in einer Vertiefung der passiven Synthese betrachtet werden kann; umgekehrt wird die reale Mutter nur betrachtet, um als Ziel der Handlung und als
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Kriterium zur Beurteilung der Handlung in einer aktiven Synthese zu dienen. Man kann nicht ernsthaft-von einem Egozentrismus des Kindes sprechen. Das Kind, das nachahmend mit einem Buch zu hantieren beginnt, ohne lesen zu können, täuscht sich niemals: Es hält das Buch immer verkehrt herum. Als ob es das Buch dem anderen, dem realen Endpunkt seiner Tätigkeit, hinhalten würde, während es selbst gleichzeitig dessen Rückseite als virtuelles Zentrum seiner Leidenschaft, seiner vertieften Betrachtung erfaßt. Ganz verschiedene Phänomene wie Linkshändigkeit, Spiegelschrift,- manche Formen des Stotterns, gewisse Stereotypien könnten mit dieser Dualität der Zentren in der Welt des Kindes erklärt werden. Das Wesentliche aber ist, daß weder das eine noch das andere dieser Zentren das Ich ist. Mit ein und demselben Unverständnis interpretiert man die Verhaltensweisen des Kindes in Abhängigkeit zu einem vorgeblichen ,,Egozentrismus“ und interpretierte den kindlichen Narzißmus als Ausschluß der Betrachtung eines anderen. In Wahrheit konstruiert sich das Kind auf einer doppelten Reihe, von der passiven Synthese der Bindung, von den gebundenen Erregungen ausgehend. Beide Reihen aber sind Objekthaft: die Reihe der Realobjekte als Korrelate der aktiven Synthese, die Reihe der virtuellen Objekte als Korrelate einer Vertiefung der passiven Synthese. In der Betrachtung virtueller Zentren wird das vertiefte passive Ich nun von einem narzißtischen Bild erfüllt. Eine Reihe könnte nicht ohne die andere bestehen; und dennoch ähneln sie einander nicht. Darum hat Henri Maldiney, als er etwa die Entwicklung des Kindes analysiert, recht, wenn er sagt, die Welt des Kindes sei keinesfalls kreisförmig oder egozentrisch, sondern elliptisch, mit einem doppelten Zentrum, das sich wesentlich unterscheidet, wobei dennoch alle beide objektiv oder Objekthaft sind? Vielleicht bildet sich zwischen beiden Brennpunkten aufgrund ihrer Unähnlichkeit sogar eine Überkreuzung, eine Torsion, eine Helix, die Form einer 8. Und das Ich: was ist es, wo befindet es sich, in seiner topischen Unterscheidung vom Es, wenn nicht auf der Kreuzung der 8, auf dem Berührungspunkt der einander schneidenden asymmetrischen Kreise, des Kreises der Realobjekte und des Kreises der virtuellen Objekte oder Zentren? Die Differenzierung zwischen Erhaltungstrieben und Sexualtrieben muß mit dieser Dualität zweier korrelativer Reihen verknüpft werden. Denn erstere sind untrennbar von der Konstitution des Realitätsprinzips, von der Gründung der aktiven Synthese und des aktiven Gesamtichs, von den Beziehungen zu dem als befriedigend oder bedrohend aufgefaßten Realobjekt. Die letzteren sind nicht weniger untrennbar von der Konstitution virtueller Zentren oder von der Vertiefung der passiven Synthese und des passiven Ichs, die ihnen entsprechen: In der prägenitalen Sexualität sind die Handlungen stets Beobachtungen, Betrachtungen, aber das Betrachtete, Beobachtete ist immer ein l8 Vgl. Henri Maldiney: Le Moi, Abriß der Vorlesung, in: Bulletin Faculté de Lyon, 1967.
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Virtuelles. Daß die beiden Reihen nicht ohne die jeweils andere existieren, bedeutet, daß sie nicht nur komplementär sind, sondern sich auf Grund ihrer Unähnlichkeit oder ihrer Wesensdifferenz wechselseitig belehnen und erhalten. Man stellt fest, daß die virtuellen Objekte der Reihe der realen entnommen und zugleich der Reihe der realen einverleibt sind. Diese Entnahme impliziert zunächst eine Isolierung oder einen Aufschub, der das Realobjekt gerinnen läßt, um ihm eine Pose, einen Aspekt, einen Teil abzugewinnen. Diese Isolierung aber ist qualitativ; sie besteht nicht bloß darin, vom Realobjekt einen Teil abzuziehen; der abgezogene Teil gewinnt vielmehr eine neue Natur, indem er als virtuelles Objekt fungiert. Das virtuelle Objekt ist ein Partialobjekt, nicht bloß weil ihm ein im Realen verbliebener Teil fehlt, sondern an sich und für sich selbst, weil es sich in zwei virtuelle Teile spaltet und teilt, von denen der eine stets dem anderen fehlt. Kurz, das virtuelle Objekt unterliegt nicht dem globalen Charakter, der die Realobjekte affiziert. Nicht nur in seinem Ursprung, sondern in seiner eigentlichen Natur ist es Fetzen, Fragment, abgeworfene Hülle. Es fehlt seiner eigenen Identität. Die gute oder böse Mutter, oder der ernste oder spielerische Vater gemäß der väterlichen Dualität, sind nicht zwei PartialObjekte, sondern ein und dasselbe, insofern es seine Identität im Doppelgänger verloren hat. Während die aktive Synthese die passive Synthese in Richtung auf globale Integrationen und die Setzung von identischen totalisierbaren Objekten überschreitet, überschreitet die passive Synthese in ihrer Vertiefung sich selbst in Richtung auf die Betrachtung von Partialobjekten, die nicht totalisiert werden können. Diese virtuellen oder Partialobjekte finden sich auf unterschiedliche Weise auch im guten und im bösen Objekt Melanie Kleins wieder, im ,,transitionellen“ Objekt, im Fetisch-Objekt und vor allem im Objekt a Lacans. Freud hatte unwiderleglich gezeigt, wie die prägenitale Sexualität aus Partialtrieben besteht, die dem Gebrauch der Selbsterhaltungstriebe entnommen sind; eine derartige Anleihe setzt die Konstitution von Objekten voraus, die selbst Partialobjekte sind und als ebenso viele virtuelle Zentren, als stets gespaltene Pole der Sexualität fun. gieren. Umgekehrt sind diese virtuellen Objekte den Realobjekten einverleibt. Sie können in diesem Sinne mit Teilen des Körpers des Subjekts oder einer anderen Person oder gar mit ganz besonderen Objekten des Typs Spielzeug oder Fetisch korrespondieren. Die Einverleibung ist keineswegs eine Identifikation und nicht einmal eine Introjektion, da sie die Grenzen des Subjekts übersteigt. Alles andere als ein Gegensatz zur Isolierung, ist sie deren Komplement. Wie immer auch die Realität beschaffen sein mag, die sich das virtuelle Objekt einverleibt - es wird durch sie nicht integriert: Es wird in sie eher eingepflanzt, eingerammt und findet im Realobjekt nicht eine Hälfte, die es ergänzt, sondern bezeugt in diesem Objekt vielmehr die andere, virtuelle Hälfte, die ihm auch weiterhin fehlt. Wenn Melanie Klein zeigt, wie viele virtuelle Objekte der Körper der Mutter enthält, so darf das nicht so verstan-
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den werden, daß er sie totalisiere, einschließe oder besitze, sondern eher so, daß sie wie Bäume einer anderen Welt, wie die Nase bei Gogol oder die Steine des Deukalion in ihn eingepflanzt sind. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß die Einverleibung die Bedingung ist, unter der die Erhaltungstriebe und die ihnen entsprechende aktive Synthese ihrerseits, mit ihren eigenen Mitteln, die Sexualität auf die Reihe der Realobjekte zurechtzustutzen und von Außen in das vom Realitätsprinzip beherrschte Gebiet zu integrieren vermogen. Das virtuelle Objekt ist wesentlich vergangen. In Mathe et memoire unterbreitete Bergson das Schema einer Welt mit zwei Zentren, einem realen und einem virtuellen, denen einerseits die Reihe der ,,Wahrnehmungsbilder“, andererseits die ,,Erinnerungsbilder“ entsprangen, wobei sich beide in einem endlosen Kreislauf organisierten. Das virtuelle Objekt ist keine frühere Gegenwart; denn die Qualität der Gegenwart und die Modalität des Vorübergehens affizieren nun exklusiv die Reihe des Realen, wie es durch die passive Synthese gebildet ist. Die reine Vergangenheit aber, wie sie oben definiert wurde: die gleichzeitig zu ihrer eigenen Gegenwart, präexistent gegenüber der vorübergehenden Gegenwart ist und jede Gegenwart vorübergehen läßt - diese reine Vergangenheit qualifiziert das virtuelle Objekt. Das virtuelle Objekt ist ein Fetzen reiner Vergangenheit. Von meiner Betrachtung der virtuellen Zentren herab erlebe und leite ich meine vorübergehende Gegenwart und die Abfolge von Realobjekten, in die sie einverleibt werden. Den Grund dafür findet man in der Natur dieser Zentren. Dem gegenwärtigen Realobjekt entnommen, differiert das virtuelle Objekt wesentlich von ihm; es fehlt ihm nicht nur etwas im Verhältnis zum Realobjekt, von dem es sich abzieht, es fehlt ihm auch etwas an sich selbst, da es stets eine Hälfte seiner selbst ist, deren andere Hälfte es als unterschieden, als abwesend setzt. Nun ist diese Abwesenheit, wie wir sehen werden, das Gegenteil eines Negativen: Als ewige Hälfte seiner selbst ist es da, wo es ist, nur unter der Bedingung, daß es nicht ist, wo es sein soll. Es ist da, wo man es findet, nur unter der Bedingung, daß es dort gesucht wird, wo es nicht ist. Es ist nicht im Besitz derer, die es haben, zugleich aber wird er von denjenigen gehabt, die es nicht besitzen. Es ist immer ein ,,war “. In dieser Hinsicht erscheinen uns die Seiten Lacans beispielhaft, auf denen er das virtuelle Objekt mit dem entwendeten Brief Edgar Allan Poes gleichsetzt. Lacan zeigt, daß die Realobjekte kraft des Realitätsprinzips dem Gesetz unterliegen, irgendwo zu sein oder nicht zu sein, während die Eigenart des virtuellen Objekts im Gegenteil darin besteht, daß es dort ist und nicht ist, wo es ist, wohin auch immer es gelangen mag: ,, [W]as versteckt ist, [ist] immer nur das [. . .], was an seinem Platz fehlt, wie es der Auftragszettel ausdrückt, wenn ein Band in der Bibliothek verloren gegangen ist. [. . .] Das kommt daher, daß man nur von dem, was seinen Ort wechseln kann, das heißt vom Symbolischen, buchstäblich sagen kann, daß es an seinem Platz fehle. Denn für das Reale, in welche Unordnung man es auch immer bringt, befindet es sich immer und in jedem Fall an seinem Platz, es trägt ihn an seiner Sohle mit sich fort, ohne daß
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es etwas gibt, das es aus ihm verbannen könnte“19. Niemals wurde der Gegensatz schärfer herausgestellt, der zwischen der Gegenwart, die vergeht und sich selbst mit sich fortträgt, und der reinen Vergangenheit besteht, deren universale Beweglichkeit, deren universale Ubiquität die Gegenwart vorübergehen läßt und fortwährend von sich selbst abweicht. Das virtuelle Objekt ist nie im Verhältnis zu einer neuen Gegenwart vergangen; ebensowenig ist es im Verhältnis zu einer Gegenwart vergangen, die es gewesen ist. Vergangen ist es, insofern es gleichzeitig zur Gegenwart ist, die es ist, in einer geronnenen Gegenwart; insofern es einesteils dem Teil fehlt, der es andernteils zugleich ist; insofern es verschoben ist, wenn es an seinem Ort ist. Darum existiert das virtuelle Objekt nur als Fragment seiner selbst: Es wird nur als verlorenes gefunden - es existiert nur als wiedergefundenes. Verlust oder Vergessen sind hier keine Bestimmungen, die überwunden werden müssen, sondern bezeichnen im Gegenteil die objektive Natur dessen, was man im Innern des Vergessens und als Verlorenes wiederfindet. Gleichzeitig mit sich selbst als Gegenwart, als seine eigene Vergangenheit, jeder in der Realreihe vorübergehenden Gegenwart präexistent, ist das virtuelle Objekt reine Vergangenheit. Es ist reines Fragment und Fragment seiner selbst; wie im physikalischen Experiment aber ist es die Einverleibung des reinen Fragments, die die Qualität verwandelt und die Gegenwart in der Reihe der Realobjekte vorübergehen läßt. Dies ist das Band zwischen Eros und Mnemosyne. Eros entreißt der reinen Vergangenheit virtuelle Objekte und läßt sie uns erleben. Unter allen virtuellen oder Partialobjekten entdeckt Lacan den ,,Phallus“ als symbolisches Organ. Er kann dem Begriff des Phallus deshalb diese Extension verleihen (alle virtuellen Objekte zu subsumieren), weil dieser Begriff tatsächlich die vorangehenden Merkmale umfaßt: seine eigene Abwesenheit und sich selbst als vergangen bezeugen, im Verhältnis zu sich selbst wesentlich verschoben sein, nur im Verlust gefunden werden, mit einer stets fragmentarischen Existenz, die ihre Identität im Doppelgänger verliert - da er ja nur an der Mutter gesucht und entdeckt werden kann und die paradoxe Eigenart besitzt, seinen Platz zu wechseln, und dabei nicht im Besitz derer ist, die einen ,,Penis“ haben, während er von denjenigen gehabt wird, die ihn nicht haben, wie es das Thema der Kastration zeigt. Der symbolische Phallus
19 Jacques Lacan: Le séminaire sur la lettre volée (in: Ecvits, Paris 1966, S. 25; dt.: Schviften 1, Weinheim u. Berlin 1986, S. 24). Zweifellos ist dieser Text Lacans derjenige, in dem er seine Konzeption der Wiederholung am umfassendsten entwikkelt. Manche Schüler Lacans haben mit allem Nachdruck an diesem Thema des 3cht-Identischen“ und an dem daraus resultierenden Verhältnis von Differenz und Wiederholung festgehalten: vgl. J.-A. Miller: La suture; J.-C. Milner: Le Point du signifiant; S. Leclaire: Les dements en jeu dans une psychanalyse, in: Cahiers Pour hnalyse, Nr. 1, 3 u. 5, 1966.
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meint den erotischen Modus der reinen Vergangenheit ebenso wie das Unvordenkliehe der Sexualität. Das Symbol ist das stets verschobene Fragment und gilt für eine Vergangenheit, die nie gegenwärtig war: das Objekt = x. Was aber meint jener Gedanke, daß die virtuellen Objekte in letzter Instanz auf ein Element verweisen, das selbst symbolisch ist? Zweifellos steht das ganze psychoanalytische Spiel, d. h. Liebesspiel der Wiederholung zur Diskussion. Die Frage lautet, ob man die Wiederholung so fassen kann, daß sie sich von einer Gegenwart zur anderen - einer aktuellen und einer vergangenen - in der Realreihe abwickelt. In diesem Fall würde die frühere Gegenwart die Rolle eines komplexen Punkts übernehmen, gleichsam eines letzten oder ursprünglichen Terms, der an seinem Platz bliebe und Anziehungskraft ausübte: Das zu wiederholende Ding würde von ihm gestellt, von ihm würde der gesamte Wiederholungsprozeß bedingt, in diesem Sinne aber wäre er von ihm unabhängig. Die Begriffe der Fixierung und der Regression, ebenso des Traumas, der Urszene verleihen jenem ersten Element Ausdruck. Demnach würde sich der Wiederholungsprozeß von Rechts wegen nach dem Modell einer materiellen, rohen und nackten Wiederholung als Wiederholung des Selben richten: Die Idee eines ,,Automatismus “ artikuliert hier den Modus des fixierten Triebs, oder besser die durch Fixierung oder Regression bedingte Wiederholung. Und wenn dieses materielle Modell in Wirklichkeit durch alle möglichen Verkleidungen, durch tausendfache Travestien oder Verschiebungen, die die neue Gegenwart von der früheren unterscheiden, gestört und verdeckt wird, so geschieht dies bloß auf sekundäre und gleichwohl notwendig begründete Weise: In der Mehrzahl der Fälle gehörte die Deformierung nicht zur Fixierung oder zur Wiederholung selbst, sondern käme zusätzlich zu ihnen hinzu, überlagerte, bekleidete sie, als von Außen herangetragen allerdings, da sie sich durch die Verdrängung erklärt, die den Konflikt zwischen Wiederholer und Wiederholtem (in der Wiederholung) wiedergibt. Die drei ganz verschiedenen Begriffe der Fixierung, des Wiederholungsautomatismus und der Verdrängung bezeugen jene Aufteilung zwischen einem der Annahme nach letzten oder ersten Term im Verhältnis zur Wiederholung, einer mutmaßlich nackten Wiederholung im Verhältnis zu den Verkleidungen, die sie überdekken, und den Verkleidungen, die unter dem Druck eines Konflikts dazu hinzutreten. Noch und vor allem die Freudsche Konzeption des Todestriebs als einer Rückkehr zur unbelebten Materie bleibt untrennbar sowohl mit der Setzung eines letzten Terms, mit dem Modell einer materiellen und nackten Wiederholung, als auch mit dem konfliktgeladenen Dualismus zwischen Leben und Tod verbunden. Es hat nur geringe Bedeutung, daß die frühere Gegenwart nicht in ihrer objektiven Realität, sondern in der Form wirksam wird, in der sie erlebt oder eingebildet wurde. Denn die Einbildungskraft greift hier nur ein, um zwischen den beiden Gegenwarten in der Reihe des Realen als gelebter Gegenwart die Resonanzen zu sammeln und die Verkleidungen sicherzustellen. Die Einbildungskraft sammelt die Spuren der
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früheren Gegenwart, sie bildet die neue Gegenwart nach dem Modell der früheren. Die traditionelle Theorie des Wiederholungszwangs in der Psychoanalyse bleibt wesentlich realistisch, materialistisch und subjektiv .oder individualistisch. Realistisch, weil alles Geschehen zwischen Gegenwarten ,,passiert“. Materialistisch, weil das Modell einer automatischen rohen Wiederholung die latente Grundlage bleibt. Individualistich, subjektiv, solipsistisch oder monadisch: weil die frühere Gegenwart, d.h. das wiederholte, verkleidete Element, und die neue Gegenwart, d. h. die aktuellen Terme der travestierten Wiederholung nur als unbewußte und bewußte, latente und manifeste, verdrängende und verdrängte Vorstellungen [représentations] des Subjekts angesehen werden. Die gesamte Theorie der Wiederholung ist auf diese Weise den Erfordernissen der einfachen Repräsentation untergeordnet, und zwar aus der Perspektive ihres Realismus, ihres Materialismus und ihres Subjektivismus. Man unterwirft die Wiederholung einem Identitätsprinzip in der früheren Gegenwart und einer Ähnlichkeitsregel in der aktuellen. Wir glauben nicht, daß die Freudsche Entdeckung einer Phylogenese oder die Jungsche Entdeckung der Archetypen die Unzulänglichkeiten einer derartigen Konzeption korrigieren. Selbst wenn man die Rechte des Imaginären im Ganzen den Gegebenheiten der Realität gegenüberstellt, handelt es sich immer noch um eine psychische ,,Realität“, die als letzte oder ursprüngliche angesehen wird; selbst wenn man Geist und Materie gegeneinanderstellt, handelt es sich immer noch um einen nackten, entschleierten Geist, der auf seiner endgültigen Identität aufsitzt und sich auf seine abgeleiteten Analogien stützt; selbst wenn man dem individuellen Unbewußten ein kollektives oder kosmisches Unbewußtes gegenüberstellt, wirkt dieses nur durch die Kraft, mit der es bei einem solipsistischen Subjekt - sei es das Subjekt einer Kultur oder der Welt - Vorstellungen hervorruft. Man hat oft die Schwierigkeiten unterstrichen, die darin bestehen, den Prozeß der Wiederholung zu denken. Wenn man die beiden Gegenwarten, die beiden Szenen oder die beiden Ereignisse (das infantile und das im Erwachsenenalter) in ihrer zeitlich getrennten Realität reflektiert, wie könnte dann die frühere Gegenwart aus der Ferne auf die aktuelle einwirken und sie modellieren, während sie doch von ihr rückwirkend all ihre Effizienz erhalten soll? Und wenn man sich auf die imaginären Operationen beruft, die zur Ausfüllung des Zeitraums unabdingbar sind, wie sollten dann diese Operationen nicht im äußersten Fall die ganze Realität der beiden Gegenwarten absorbieren und dabei die Wiederholung bloß als Illusion eines solipsistischen Subjekts fortbestehen lassen.? Wenn es aber zutrifft, daß die beiden Gegenwarten mit einer variablen Entfernung in der Reihe der Realobjekt e aufeinanderfolgen, so bilden sie eher zwei im Verhältnis zum virtuellen Objekt einer anderen Natur koexistierende Realreihen, im Verhältnis zum virtuellen Objekt, das fortwährend in ihnen zirkuliert und sich in ihnen verschiebt (selbst wenn die Figuren, die Subjekte, die die Positionen,
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Terme und Beziehungen jeder Reihe realisieren, ihrerseits zeitlich distinkt bleiben). Die Wiederholung vollzieht sich nicht von einer Gegenwart zur anderen, sondern zwischen den beiden koexistierenden Reihen, die diese Gegenwarten in Abhängigkeit vom virtuellen Objekt (Objekt = x) bilden. Weil es beständig zirkuliert und stets im Verhältnis zu sich selbst verschoben ist, bestimmt es in den beiden Realreihen, in denen es erscheint und sei es zwischen den beiden Gegenwarten -, Transformationen von Termen und Modifikationen imaginärer Beziehungen. Die Verschiebung des virtuellen Objekts ist also keine Verkleidung neben den anderen, sie ist das Prinzip, aus dem in Wirklichkeit die Wiederholung als verkleidete Wiederholung resultiert. Die Wiederholung konstituiert sich nur mit und in den Verkleidungen, die die Terme und die Beziehungen der Reihen der Realität affizieren; dies aber, weil sie vom virtuellen Objekt als einer immanenten Instanz abhängig ist, deren Eigenart zuerst in der Verschiebung besteht. Wir können folglich nicht annehmen, daß sich die Verkleidung durch die Verdrängung erkläre. Im Gegenteil: Weil die Wiederholung auf Grund der charakteristischen Verschiebung ihres bestimmenden Prinzips notwendig verkleidet ist, entsteht die Verdrängung, und zwar als eine Konsequenz, die sich auf die Repräsentation der Gegenwarten bezieht. Freud spürte dies sehr wohl, als er nach einer tieferliegenden Instanz als der der Verdrängung suchte, wenn er sie auch im selben Modus, als eine sogenannte ,,Ur”-Verdrängung faßte. Man wiederholt nicht, weil man verdrängt, sondern man verdrängt, weil man wiederholt. Und - was aufs Selbe hinausläuft - man verkleidet nicht, weil man verdrängt, man verdrängt, weil man verkleidet, und man verkleidet kraft des bestimmenden Zentrums der Wiederholung. So wenig die Verkleidung im Verhältnis zur Wiederholung sekundär ist, ist die Wiederholung sekundär im Verhältnis zu einem fixen, der Annahme nach letzten oder ursprünglichen Term. Wenn nämlich die beiden Gegenwarten, die frühere und die aktuelle, zwei koexistierende Reihen in Abhängigkeit vom virtuellen Objekt bilden, das sich in ihnen und im Verhältnis zu sich selbst verschiebt, so kann keine dieser beiden Reiben mehr als die ursprüngliche oder die abgeleitete bezeichnet werden. Sie bringen verschiedene Terme und Subjekte in einer komplexen Intersubjektivität ins Spiel, wobei jedes Subjekt seine Rolle und seine Funktion in seiner Reihe der zeitlosen Stellung verdankt, die es im Verhältnis zum virtuellen Objekt einnimmt2’. Was dieses Objekt selbst betrifft, so kann es nicht länger als ein
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Die Existenz der Reihen wurde von Lacan in zwei äußerst wichtigen Texten herausgestellt: im oben zitierten Seminar über den ,,Entwendeten Brief“ (erste Reihe: ,,König-Königin-Minister”, zweite Reihe: ,,Polizei-Minister-Dupin“), und in Le mythe individuel du n&z~osk (Paris 1956), einem Kommentar zum ,,Rattenmann“ (die beiden Reihen von Vater und Sohn, die in verschiedenen Situationen die Schulden, den Freund, die arme und die reiche Frau ins Spiel bringen). Die Ele-
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letzter oder ursprünglicher Term behandelt werden: Denn dies hieße, ihm einen festen Platz und eine Identität zu verschaffen, der seine ganze Natur widerstrebt. Wenn es mit dem Phallus ,,identifiziert“ werden kann, so nur in dem Maße, wie dieser mit den Worten Lacans immer an seinem Platz fehlt, seiner Identität fehlt, seiner Repräsentation fehlt. Kurz, es gibt keinen letzten Term, unsere Lieben verweisen nicht auf die Mutter zurück; in der für unsere Gegenwart konstitutiven Reihe besetzt unsere Mutter einfach einen bestimmten Platz im Verhältnis zum virtuellen Objekt, der notwendig von einer anderen Figur in der Reihe, die die Gegenwart einer anderen Subjektivität konstituiert, ausgefüllt wird, unter steter Berücksichtigung der Verschiebungen dieses Objekts = x. Ein wenig wie der Held der Recherche mit der Liebe zu seiner Mutter bereits die Liebe Swanns zu Odette wiederholt. Die Elternfiguren sind nicht die äußersten Terme eines Subjekts, sie sind vielmehr für verschiedene Subjekte die Mittelbegriffe einer Intersubjektivität, die Formen von Kommunikation und Verkleidung zwischen den Reihen, insofern diese Formen durch den Transport des virtuellen Objekts bestimmt werden. Hinter den Masken stehen also weitere Masken, und die verborgenste ist selbst noch ein Versteck, bis ins Unendliche. Keine andere Illusion als diejenige, etwas oder jemanden zu demaskieren. Der Phallus, das symbolische Organ der Wiederholung, ist ebenso sehr Maske wie selbst verborgen. Denn die Maske hat zwei Bedeutungen. ,,Gib mir, ich bitte dich, gib mir . . . Was denn? Eine andere Maske.“ Die Maske meint zunächst die ,Verkleidung, die auf imaginäre Weise die Terme und die Beziehungen der beiden de jure koexistierenden Realreihen affiziert; in einer tieferen Schicht aber meint sie die Verschiebung, die wesentlich das symbolische virtuelle Objekt, in dessen Reihe wie in den Realreihen, in denen es fortwährend zirkuliert, affiziert. (So etwa die Verschiebung, die die Augen des Trägers mit dem Mund der Maske in Deckung bringt oder das Gesicht des Trägers nur als Körper ohne
mente und Beziehungen in jeder Reihe werden in Abhängigkeit von ihrer Stellung bezüglich des stets verschobenen virtuellen Objekts bestimmt: des Briefs im ersten Beispiel, der Schulden im zweiten. ,,[N]icht allein das Subjekt, sondern die Subjekte, in ihrer Intersubjektivität begriffen, reihen sich dem Zug ein [...] [D]ie Verschiebung des Signifikanten [bestimmt] die Subjekte in ihren Handlungen, in ihrem Geschick, in ihren Weigerungen, in ihren Verblendungen, in ihrem Erfolg und ihrem Schicksal ungeachtet ihrer angeborenen Anlagen und ihrer sozialen Erwerbungen, ohne Rücksicht auf den Charakter und das Geschlecht [...]“ (b-its, S. 30; Schriften 1, S. 29). Auf diese Weise definiert sich ein intersubjektives Unbewußtes, das sich weder auf ein individuelles noch auf ein kollektives Unbewußtes reduzieren läßt, bezüglich dessen man nicht mehr der einen Reihe einen ursprünglichen, der anderen einen abgeleiteten Charakter zumessen kann (obwohl Lacan diese Termini aus sprachlicher Bequemlichkeit, so scheint es, beibehält).
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Kopf erscheinen läßt, auch wenn sich seinerseits wiederum ein Kopf auf dem Körper abzeichnet.) Die Wiederholung ist also in ihrem Wesen symbolisch, spirituell, intersubjektiv oder monadologisch. Es ergibt sich daraus eine letzte Konsequenz, die die Natur des Unbewußten betrifft. Die Phänomene des Unbewußten lassen sich nicht in der allzu simplen Form des Gegensatzes oder des Konflikts begreifen. Nicht nur die Theorie der Verdrängung, sondern auch der Dualismus in der Triebtheorie begünstigen bei Freud den Primat eines Konfliktmodells. Doch sind die Konflikte die Resultante weit subtilerer differentieller Mechanismen (Verschiebungen und Verkleidungen). Und wenn die Kräfte v o n N a t u r a u s in Oppositionsrelationen zueinander treten, so geschieht dies von differentiellen Elementen aus, die eine tieferliegende Instanz ausdrücken. Unter seinem doppelten Aspekt von Beschränkung und Gegensatz ist uns das Negative überhaupt sekundär im Verhältnis zur Instanz der Probleme und Fragen erschienen: Das heißt zugleich, daß das Negative nur im Bewußtsein den Schatten der grundlegend unbewußten Fragen und Probleme ausdrückt, und daß es seine offenbare Macht dem unvermeidlichen Anteil an ,,Falschem“ in diesen Problemen und Fragen, wie sie naturgemäß aufgeworfen werden, entlehnt. Freilich wünscht das Unbewußte, wünscht es ausschließlich. Im selben Zug aber, wie der Wunsch das Prinzip seiner Differenz zum Bedürfnis im virtuellen Objekt findet, erscheint er nicht als Macht der Negation oder als das Element eines Gegensatzes, sondern viel eher als eine Kraft des Suchens, als fragende und problematisierende Kraft, die sich auf einem anderen Feld als dem von Bedürfnis und Befriedigung entfaltet. Fragen und Probleme sind keine spekulativen Akte, die als solche völlig vorläufig blieben und die momentane Unwissenheit eines empirischen Subjekts kennzeichneten. Sie sind lebendige Akte, die die speziellen Objektivitäten des Unbewußten besetzen und dazu bestimmt sind, den vorläufigen und partiellen Status, der hingegen die Antworten und Lösungen affiziert, zu überleben. Die Probleme ,,korrespondieren“ mit der wechselseitigen Verkleidung der Terme und Beziehungen, die die Reihen der Realität konstituieren. Als Problemquellen korrespondieren die Fragen mit der Verschiebung des virtuellen Objekts, in dessen Abhängigkeit sich die Reihen entwickeln. Weil er mit dem Raum seiner Verschiebung verschmilzt, wird der Phallus als virtuelles Objekt in Rätseln und Ratespielen immer an dem Ort bezeichnet, an dem er fehlt. Selbst die Konflikte des Ödipus gehen zunächst auf die Frage der Sphinx zurück. G e b u r t u n d T o d , d i e Geschlechtsdifferenz sind komplexe Problemkreise, bevor sie zu einfachen Gegensatzbegriffen werden. (Vor dem Geschlechtsgegensatz, der durch Besitz und Verlust des Penis bestimmt ist, steht die ,,Frage“ nach dem Phallus, der in jeder Reihe die differentielle Position der geschlechtlich spezifizierten Figuren bestimmt.) Möglicherweise liegt in jeder Frage, in jedem Problem wie in ihrer Transzendenz bezüglich der Antworten, in ihrem Drängen [insistance] über die Lösungen hinweg, in der Art, wie sie ihr eige-
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ries Aufklaffen erhalten - möglicherweise liegt darin zwangsläufig etwas Verraucktes”. Die Frage muß nur, wie bei Dostojewski oder Schestow, insistierend genug gestellt werden, um jegliche Antwort zum Schweigen zu bringen, anstatt sie hervorzurufen. An dieser Stelle offenbart sie ihre im eigentlichen Sinn ontologische Bedeutung, das (Nicht)-Sein der Frage, das sich nicht aufs Nicht-Sein des Negativen reduzieren läßt. Es gibt weder ursprüngliche noch letzte Antworten-oder Lösungen, nur die Problem-Fragen sind ursprünglich und endgültig, und zwar dank einer Maske hinter jeder Maske und einer Verschiebung hinter jedem festen Ort. Es wäre naiv zu glauben, die Probleme von Leben 21 Serge Leclaire hat eine Theorie der Neurose und Psychose im Verhältnis zum Begriff der Frage als einer grundlegenden Kategorie des Unbewußten skizziert. In diesem Sinne unterscheidet er den Fragemodus beim Hysteriker (,,bin ich Mann oder Frau?“) und beim Zwangsneurotiker (,,bin ich tot oder lebendig?“); ebenso unterscheidet er die jeweilige Stellung von Neurose und Psychose bezüglich dieser Frageinstanz. - Vgl. La mort dans la vie de l’obsed& in: La Psychanalyse, Nr. 2, 1956; A la recherche des principes d’une psychothérapie des psychoses, in: Evolution psychiatrique, 2, 1958. Diese Untersuchungen zu Form und Inhalt der vom Kranken erlebten Fragen besitzen in unseren Augen große Bedeutung und führen zu einer Revision der Rolle des Negativen und des Konflikts im Unbewußten überhaupt. Auch hier haben sie ihren Ursprung in den Hinweisen Lacans: zu den Fragetypen in Hysterie und Zwangsneurose vgl. Ecrits, S. 303304 (Schriften 1, S. 147-148); und zum Wunsch [désir], zu seinem Unterschied zum Bedürfnis, zu seinem Verhältnis zum ,,Anspruch“ und zur ,,Frage“ vgl. f?crits, S. 627-630 u. 690-693 (Schriften 1, S. 218-222 u. Schiften 2, S. 125130). War einer der wichtigsten Punkte von Jungs Theorie nicht bereits folgender: die Kraft der ,,Befragung” im Unbewußten, die Konzeption des Unbewußten als Unbewußtes von ,,Problemen“ und ,,Aufgaben“? Jung zog die Konsequenz daraus: die Entdeckung eines Differenzierungsprozesses, der tiefer liegt als die daraus resultierenden Gegensätze (vgl. Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten Darmstadt 1928). Freilich kritisiert Freud diesen Standpunkt heftig: so im Wolfsmann (Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, § 5), wo er daran festhält, daß das Kind-nicht fragt, sondern wünscht, nicht mit Aufgaben, sondern mit Erregungen konfrontiert ist, die vom Gegensatz bestimmt werden und ebenso in Dora (Bruchstück einer Hysterie-Analyse, § 2), wo er zeigt, daß der Kern des Traums nur ein Wunsch sein kann, der in einen entsprechenden Konflikt verwickelt ist. Dennoch ist die Diskussion zwischen Jung und Freud vielleicht nicht richtig gelagert, da es ja darum geht, ob das Unbewußte noch anderes vermag als wüschen, oder nicht. Muß man in Wahrheit nicht viel eher danach fragen, ob der Wunsch bloß eine Gegensatzkraft oder eine Kraft ist, die insgesamt in der Macht der Frage gründet? Selbst der Traum Doras, auf den sich Freud beruft, läßt sich nur in der Perspektive eines Problems (mit den beiden Reihen Vater-Mutter, Herr K.-Frau K.) interpretieren, eines Problems, das eine Frage hysterischer Form entwickelt (mit dem Schmuckkästchen, das die Rolle des Objekts = x übernimmt).
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und Tod, von Liebe und Geschlechtsdifferenz wären von ihren Lösungen und gar ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Gestelltseins her zu beurteilen, obwohl dieses Gestelltsein und diese Lösungen notwendig auftreten, notwendig zu einem gewissen Zeitpunkt im Verlauf ihres Entwicklungsprozesses vorkommen müssen. Die Probleme betreffen die ewige Verkleidung, die Fragen die ewige Verschiebung. Um den Preis ihrer Leiden erforschen die Neuropathen, die Psychopathen vielleicht jenen letzten ursprünglichen Untergrund, wobei die einen danach fragen wie sich das Problem verschieben, die anderen, wo sich die Frage stellen läßt. Gerade ihr Leiden, ihr Pathos ist die einzige Antwort auf eine Frage, die sich fortwährend in sich selbst verschiebt, auf ein Problem, das sich fortwährend in sich selbst verkleidet. Nicht was sie sagen oder denken, sondern ihr Leben ist exemplarisch und überschreitet sie. Sie lassen jene Transzendenz, jenes höchst ungewöhnliche Spiel von Wahrem und Falschen erkennen, wie es sich nicht mehr auf der Ebene von Antworten und Lösungen, sondern in den Problemen selbst, in den Fragen selbst ergibt, d. h. unter Bedingungen, unter denen das Falsche zum Modus der Erforschung des Wahren, zum eigentlichen Raum seiner wesenhaften Verkleidungen oder seiner grundlegenden Verschiebung wird: Das Pseudos ist hier zum Pathos des Wahren geworden. Die Macht der Fragen rührt stets anderswoher als die Antworten und verfügt über einen freien und unauflösbaren Untergrund. Das Drängen, die Transzendenz, die ontologische Wahrung der Fragen und Probleme artikulieren sich nicht in Form der Finalität eines zureichenden Grunds (Wozu? Warum?), sondern in der diskreten Form der Differenz und der Wiederholung: Welche Differenz besteht? und ,,wiederhole ein wenig”. Niemals gibt es die Differenz, dies aber nicht, weil sie in der Antwort auf dasselbe hinausläuft, sondern weil sie sich nirgendwo sonst als in der Frage und in der Wiederholung der Frage befindet, die deren Transport und Verkleidung garantiert. Die Probleme und Fragen gehören folglich zum Unbewußten, ebenso aber ist das Unbewußte von Natur aus differentiell und iterativ, seriell, problematisch und befragend. Wenn man danach fragt, ob das Unbewußte letzten Endes gegensätzlich oder differentiell, ob es das Unbewußte großer konfligierender Kräfte oder kleiner serieller Elemente, das Unbewußte großer gegensätzlicher Vorstellungen oder kleiner differenzierter Wahrnehmungen sei, so gibt man sich den Anschein, als wolle man die alte Unschlüssigkeit und auch die alten Polemiken zwischen der Leibnizschen und der Kantischen Tradition wieder zum Leben erwecken. Wenn Freud aber völlig auf Seiten eines hegelschen Postkantianismus stand, d. h. auf Seiten eines gegensätzlich strukturierten Unbewußten, warum hat er dann dem Leibnizianer Fechner und dessen differentieller Genauigkeit, der Genauigkeit eines ,,Symptomatologen“, eine derart große Hochschätzung entgegengebracht? In Wahrheit geht es nicht um die Frage, ob das Unbewußte ein Nicht-Sein logischer Beschränkung oder ein Nicht-Sein realen Gegensatzes impliziere. Denn in jeder Hinsicht sind diese beiden Fälle von Nicht-Sein Gestalten des Negativen. Weder Beschränkung noch Gegensatz, weder Unbewußtes der Degradation noch
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Unbewußtes des Widerspruchs, betrifft das Unbewußte die Probleme und Fragen in ihrer Wesensdifferenz gegenüber den Antworten/Lösungen: als (Nicht)-Sein des Problematischen, das die beiden Formen des negativen Nicht-Seins gleichermaßen zurückweist, da diese nur die Sätze des Bewußteins bestimmen. Der berühmte Ausspruch, das Unbewußte kenne kein Nein, muß wörtlich genommen werden. Die Partialobjekte sind die Elemente kleiner Wahrnehmungen. Das Unbewußte ist differentiell und besteht aus kleinen Wahrnehmungen, eben darin aber unterscheidet es sich wesentlich vom Bewußtsein, es betrifft die Probleme und Fragen, die sich niemals auf die großen Gegensätze oder auf die Gesamtwirkungen reduzieren lassen, die das Bewußtsein daraus bezieht (wir werden sehen, daß bereits die Leibnizsche Theorie diesen Weg weist). Wir haben also ein zweites Jenseits des Lustprinzips, eine zweite Synthese der Zeit im Unbewußten selbst kennengelernt. Die erste passive Synthese, die Synthese des Habitus, präsentierte die Wiederholung als Band, im Modus des Wiederanfangs einer lebendigen Gegenwart. Sie garantierte die Gründung des Lustprinzips in zwei komplementären Bedeutungen, da daraus zugleich der allgemeine Status der Lust als einer Instanz, der das psychische Leben im Es nunmehr unterworfen war, und die besondere halluzinatorische Befriedigung, die jedes passive Ich mit einem narzißtischen Bild seiner selbst erfüllte, resultierte. Die zweite Synthese ist’ die von Eros-Mnemosyne, die die Wiederholung als Verschiebung und Verkleidung setzt und als Grund des Lustprinzips fungiert: Es handelt sich dann nämlich um die Frage, wie dieses Prinzip auf das von ihm Beherrschte Anwendung findet, unter der Bedingung welchen Gebrauchs, um den Preis welcher Beschränkungen und welcher Vertiefungen. Die Antwort ist in zweierlei Richtung gegeben, in Richtung eines Gesetzes allgemeiner Realität, demgemäß sich die erste passive Synthese auf eine aktive Synthese und ein aktives Ich hin überschreitet, und in einer anderer Richtung, der-zufolge sie sich, im Gegenteil, in einer zweiten passiven Synthese vertieft, die die besondere narzißtische Befriedigung sammelt und sie auf die Betrachtung virtueller Objekte bezieht. Das Lustprinzip erhält hier neue Bedingungen, und zwar hinsichtlich einer erzeugten Realität wie einer konstituierten Sexualität. Der Trieb, der sich bloß als gebundene Erregung definierte, erscheint nun in einer differenzierten Form: als Erhaltungstrieb der aktiven Realitätslinie folgend, als Sexualtrieb in jener neuen passiven Tiefe. Wenn die erste passive Synthese eine ,,Ästhetik“ begründet, so kann man die zweite mit Recht als das Äquivalent einer ,,Analytik“ definieren. Wenn die erste passive Synthese die Synthese der Gegenwart ist, ist die zweite die Synthese der Vergangenheit. Wenn sich die erste der Wiederholung bedient, um ihr eine Differenz zu entlocken, so umfaßt die zweite passive Synthese die Differenz im Innern der Wiederholung; denn die beiden Figuren der Differenz, der Transport und die Travestie, die Verschiebung, die in symbolischer Hinsicht das virtuelle Objekt affiziert, und die Verkleidungen, die in imaginärer Hinsicht die Realobjekte, denen es einverleibt wurde, affizieren, sind zu den
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Elementen der Wiederholung selbst geworden. Darum verspürt Freud eine gewisse Scheu, Differenz und Wiederholung vom Gesichtspunkt des Eros aus zu verteilen, insofern er den Gegensatz zwischen diesen beiden Faktoren aufrechterhält und die Wiederholung mit dem materiellen Modell der annullierten Differenz begreift, während er den Eros durch die Einführung oder gar die Erzeugung neuer Differenzen definiert22. Tatsächlich aber leitet sich die Wiederholungskraft des Eros unmittelbar von einer Macht der Differenz ab, nämlich derjenigen, die Eros der Mnemosyne entlehnt und die die virtuellen Objekte als ebenso viele Fragmente einer reinen Vergangenheit affiziert. Nicht die Amnesie, sondern eher eine Hypermnesie, wie Janet es in mancher Hinsicht geahnt hatte, erklärt die Rolle der erotischen Wiederholung und ihre Kombination mit der Differenz. Das ,,Nie-Gesehene“ [jdmais-vti/, das ein stets verschobenes und verkleidetes Objekt kennzeichnet, taucht ins ,,deja--vu” als dem Kennzeichen der reinen Vergangenheit allgemein ein, der dieses Objekt entnommen ist. Entsprechend der objektiven Natur des Problematischen weiß man nie, wann oder wo man es gesehen hat; und im äußersten Fall ist nur das Fremde vertraut, wiederholt sich nur die Differenz. Freilich leidet die Synthese von Eros und Mnemosyne noch an einer Ambiguität. Denn die Reihe des Realen (oder der Gegenwarten, die im Realen vorübergehen) und die Reihe des Virtuellen (oder einer Vergangenheit, die wesentlich von jeglicher Gegenwart abweicht) bilden zwei divergente Kreislinien, zwei Kreise oder sogar zwei Bögen ein und desselben Kreises im Verhältnis zur ersten passiven Synthese des Habitus. Aber im Verhältnis zum Objekt = x, das als immanente Grenze der Reihe der Virtualobjekte und als Prinzip der zweiten passiven Synthese begriffen wird, sind es die sukzessiven Gegenwarten der Realität, die nun die koexistierenden Reihen, Kreise oder sogar Bögen ein und desselben Kreises bilden. Unweigerlich vermischen sich die beiden Verweise, unweigerlich fällt die reine Vergangenheit in den Status einer früheren und womöglich mythischen Gegenwart zurück und errichtet dabei die Illusion, die sie aufdecken sollte, wieder von neuem, läßt jene Illusion eines Ursprünglichen und eines Abgeleiteten wiedererstehen, jene Illusion einer Identität im Ursprung und einer Ähnlichkeit im Abgeleiteten. Und noch mehr: Eros selbst ist es, der sich als Zyklus oder als Element eines Zyklus erlebt, dessen anderes, entgegengesetzes Element in der Tiefe des Gedächtnisses nur Thanatos sein kann, wobei sich beide wie Liebe und Haß, Aufbau und Zerstörung, Anziehung und Abstoßung miteinander verbinden. Stets die gleiche Ambiguität des Grunds, die darin besteht, daß er sich im Kreis, den er
22 Insofern Eros die Vereinigung zweier Zellkörper impliziert und damit neue vitale
Differenzen einführt, können ,,wir gerade für den Sexualtrieb jenen Charakter des Wiederholungszwangs nicht nachweisen [. . .], der uns zuerst zur Aufspürung der Todestriebe führte“ (Freud: Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 60).
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dem von ihm Begründeten aufzwingt, repräsentiert, daß er als Element in den Umlauf der Repräsentation eintritt, die er als Prinzip bestimmt. Der wesentlich im Verlust liegende Charakter der virtuellen Objekte und der wesentlich in der Travestie liegende Charakter der Realobjekte sind die mächtigen Motivationen des Narzißmus. Wenn aber die Libido auf das Ich sich umwendet oder zurückfließt, wenn das passive Ich ganz und gar narzißtisch wird, so geschieht dies dadurch, daß es die Differenz zwischen den beiden Linien interiorisiert und sich selbst beständig auf der einen verschoben und beständig auf der anderen verkleidet fühlt. Das narzißtische Ich bleibt nicht nur mit einer konstitutiven Wunde, sondern auch mit Verkleidungen und Verschiebungen untrennbar verwachsen, die sich von einem Rand zum anderen entspinnen und seine Modifikation begründen. Als Maske für andere Masken, als Travestie unter anderen Travestien unterscheidet sich das Ich nicht von seinen eigenen Possenreißern und läuft hinkend auf einem grünen und einem roten Bein. Dennoch läßt sich die Bedeutung der Reorganisation, die sich auf dieser Ebene im Gegensatz zum vorhergehenden Stadium der zweiten Synthese herstellt, nicht hoch genug einschätzen. Denn gleichzeitig mit dem passiven Ich, das narzißtisch wird, muß und kann die Aktivität nur als die Affektion, als die Modifikation selbst gedacht werden, die das narzißtische Ich [moi] seinerseits passiv fühlt, wobei es folglich auf die Form eines Ego [Je] verweist, das auf es als ein ,,Anderer“ wirkt. Das aktive, aber gespaltene Ego ist nicht nur die Basis des Über-Ichs, es ist in einem komplexen Zusammenhang, den Paul Ricoeur treffend ,,gescheitertes Cogito“ genannt hat23, das Korrelat des narzißtischen, passiven und verwundeten Ichs. Es gibt allerdings kein anderes Cogito als ein gescheitertes, kein anderes Subjekt als ein larvenhaftes. Wir haben oben gesehen, daß der Riß im Ego bloß die Zeit als leere und reine, von ihren Inhalten befreite Form war. Das kommt daher, daß das narzißtische Ich zwar in der Zeit erscheint, aber keinesfalls einen zeitlichen Inhalt darstellt; die narzißtische Libido, der Rückfluß der Libido aufs Ich abstrahierte von jeglichem Inhalt. Das narzißtische Ich ist eher das Phänomen, das der Form der leeren Zeit entspricht, ohne sie zu füllen, es ist das räumliche Phänomen dieser Form überhaupt (und dieses Raumphänomen zeigt sich auf unterschiedliche Weise, in der neurotischen Kastration und in der psychotischen Zerstückelung). Die Form der Zeit im Ego bestimmte eine Ordnung, eine Gesamtheit und eine Reihe. Die formale statische Ordnung von Vorher, Während und Nachher markiert in der Zeit die Teilung des narzißtischen Ichs oder die Bedingungen seiner Betrachtung. Die Gesamtheit der Zeit sammelt sich im Bild der gewaltigen Tat, wie sie durch das Über-Ich zugleich dargestellt, verboten und vorausgesagt ist: Tat = x. Die Reihe der Zeit bezeichnet die Konfrontation des geteilten narzißtischen Ichs mit der Gesamt-
23 Vgl. Paul R’ICCXUI-: De l’interpretation, Paris 1965, S. 413-414 (dt.: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969, S. 435).
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heit der Zeit oder dem Bild der Tat. Das narzißtische Ich wiederholt ein erstes Mal im Modus des Vorher oder des Mangels, im Modus des Es (diese Tat ist zu groß für mich); ein zweites Mal im Modus eines unendlichen GleichWerdens im Sinne des Idealichs; ein drittes Mal in einem Modus des Nachher, der die Voraussage des Über-Ichs realisiert (das Es und das Ich, die Bedingung und das Handelnde selbst werden vernichtet)! Denn das praktische Gesetz selber meint nichts anderes als diese Form der leeren Zeit. Wenn das narzißtische Ich den Platz der virtuellen und realen Objekte einnimmt, wenn es für die Verschiebung der einen wie für die Verkleidung der anderen einsteht, so ersetzt es nicht einen zeitlichen Inhalt durch einen anderen. Im Gegenteil, wir sind in die dritte Synthese eingetreten. Man könnte sagen, die Zeit habe jedweden mnetischen Inhalt preisgegeben und damit den Kreis aufgebrochen, in den Eros sie verwickelte. Sie ist abgelaufen, von neuem erstanden, sie hat die äußerste Gestalt des Labyrinths angenommen, des geradlinigen Labyrinths, das, wie Borges sagt, ,,unsichtbar, stetig“ ist. Eben die leere, aus den Angeln gehobene Zeit mit ihrer strengen formalen und statischen Ordnung, mit ihrer erdrückenden Gesamtheit, ihrer irreversiblen Reihe, ist der Todestrieb. Der Todestrieb tritt nicht in einen Zyklus zusammen mit Eros ein, er verhält sich diesem gegenüber keinesfalls komplementär oder antagonistisch und in keiner Weise symmetrisch, sondern läßt eine ganz andere Synthese erkennen. Die Korrelation von Eros und Mnemosyne wird durch die zwischen einem narzißtischen und gedächtnislosen, schwer an Amnesie leidenden Ich und einem Todestrieb, bar von Liebe und Sexualität, ersetzt. Das narzißtische Ich hat nurmehr einen toten Körper, es hat den Körper zugleich mit den Objekten verloren. Über den Todestrieb reflektiert es sich im Idealich und erahnt sein Ende im Über-Ich - wie in zwei Stücken des gespaltenen Ego. Dieser Bezug zwischen narzißtischem Ich und Todestrieb wird von Freud sehr eindringlich gekennzeichnet, wenn er sagt, daß die Libido nicht aufs Ich zurückfließe, ohne sich zu desexualisieren, ohne eine neutrale verschiebbare Energie zu bilden, die sich ihrem Wesen nach in den Dienst des Thanatos zu stellen vermag24. Warum aber setzt Freud damit den Todestrieb als präexistent gegenüber jener desexualisierten Energie, als prinzipiell von ihr unabhängig? Aus zwei Gründen zweifellos, von denen der eine auf den Fortbestand des dualistischen und konfliktbestimmten Modells verweist, das die gesamte Triebtheorie inspiriert, der andere auf das materielle Modell, das die Theorie der Wiederholung beherrscht. Darum insistiert Freud einerseits auf der Wesensdifferenz zwischen Eros und Thanatos, derzufolge Thanatos für sich selbst im Gegensatz zu Eros qualifiziert werden muß; andererseits auf einer Differenz in Rhythmus oder Amplitude, als ob Thanatos zum Zustand der unbelebten Materie zurückkehrte und sich dadurch mit jener Macht roher und nackter Wiederholung identifizierte, die von den vitalen und 24 Freud: D a s Ich und das Es, in: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 269-271.
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auf Eros zurückgehenden Differenzen - der Annahme nach - nur überdeckt und gestört würde. In jedem Fall aber besitzt der Tod, der als qualitative und quantitative Rückkehr des Lebendigen zu jener unbelebten Materie bestimmt ist, nur eine äußerliche, wissenschaftliche und objektive Definition; sonderbarerweise weist Freud jede andere Dimension des Todes zurück, jeden Prototypus oder jede Darstellung des Todes im Unbewußten, obwohl er die Existenz derartiger Prototypen für Geburt und Kastration einräumt2? Nun offenbart die Reduktion des Todes auf die objektive Bestimmung der Materie jenes Vorurteil, demzufolge die Wiederholung ihr letztes Prinzip in einem undifferenzierten materiellen Modell finden muß, jenseits der Verschiebungen und Verkleidungen einer sekundären oder entgegengesetzten Differenz. In Wahrheit aber ist die Struktur des Unbewußten nicht konfliktbestimmt, gegensätzlich oder widersprüchlich, sie ist fragend und problematisierend. Ebensowenig ist die Wiederholung eine rohe und nackte Macht jenseits der Verkleidungen, die sie nun sekundär als entsprechend viele Varianten affizieren würden; sie entspinnt sich vielmehr in der Verkleidung, in der Verschiebung als den konstitutiven Elementen, denen gegenüber sie nicht präexistent ist. Der Tod erscheint nicht im objektiven Modell einer unterschiedslosen und unbelebten Materie, zu der das Lebendige ,,zurückkehrte“; er ist im Lebendigen als subjektive und differenzierte, prototypisch gegebene Erfahrung gegenwärtig. Er entspricht nicht einem materiellen Zustand, er entspricht vielmehr einer reinen Form, die jeglicher Materie abgeschworen hat - der leeren Form der Zeit. (Und die Unterordnung der Wiederholung unter die äußerliche Identität einer toten Materie oder unter die innerliche Identität einer unsterblichen Seele ist gänzlich einerlei, nämlich eine Art und Weise, die Zeit zu füllen.) Denn der Tod läßt sich nicht auf die Negation oder auf das Negative des (Gegensatzes oder auf das Negative der Beschränkung reduzieren. Weder die Beschränkung des sterblichen Lebens durch die Materie noch der Gegensatz eines unsterblichen Lebens zur Materie ergeben einen Prototyp des Todes. Der Tod ist eher die letzte Form des Problematischen, die Quelle von Problemen und Fragen, das Zeichen ihrer Beharrlichkeit jenseits jeder Antwort, das Wo? und Wann?, das jenes (Nicht)-Sein bezeichnet, von dem sich jede Affirmation nährt. Blanchot sagte ganz richtig der Tod habe zwei Aspekte: einen persönlichen, der das Ego [Je], das Ich [moi] betrifft und dem ich mich im Kampf stellen oder dem ich an einer Grenze begegnen, den ich jedenfalls in einer Gegenwart antreffen kann, die alles vorübergehen läßt. Aber auch einen anderen, seltsam unpersönlichen, ohne Bezug zu ,,mir“ [moi], weder gegenwärtig noch vergangen, vielmehr stets ausstehend, Quelle eines unaufhörlichen und vielfältigen Abenteuers in einer beharrlichen Frage: ,, Die Tatsache, daß ich sterben werde, 2 5 Freud: Hemmung Symptom Angst
in-. Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 14, S. 159ff. Um so seltsamer erscheint es,’ daß Freud an Rank den Vorwurf richtet, er mache sich eine allzu objektive Vorstellung von der Geburt.
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schließt eine radikale Verkehrung ein, durch die der Tod, der die extreme Form meiner Macht war, nicht nur dahin kommt, mich kraftlos zu machen, indem er mich aus meiner Macht, den Anfang und selbst das Ende noch herbeizuführen, hinausdrängt, sondern er verliert auch jede Beziehung zu mir, jegliche Macht über mich, er wird zum Unmöglichen schlechthin, zur Irrealität des Unbestimmten. Eine Umkehrung, die ich mir nicht vorstellen kann, die ich nicht einmal als endgültig ansehen kann, die nicht der unwiderrufliche Übergang dorthin ist, jenseits dessen es keine Rückkehr gibt, denn sie ist, was sich nicht vollendet, das Unbeendbare und Unablässige . . . Zeit ohne Gegenwart, zu der ich keine Verbindung besitze, dasjenige, wohin ich mich nicht aufschwingen kann, denn in [ihr] sterbe nicht ich, habe ich meine Macht zu sterben eingebüßt, in [ihr] stirbt man, stirbt man unaufhörlich und ohne Ende [. . .]. Nicht das Ende, sondern das Unbeendbare, nicht der eigene Tod, sondern irgendein Tod, nicht der wahrhafte Tod, sondern, wie Kafka sagt, das Grinsen seines Grundfehlers . . . “26. Wenn man diese beiden Aspekte gegeneinanderstellt, so bemerkt man wohl, daß noch der Selbstmord sie nicht miteinander vereinbart und in Deckung bringt. Nun meint der erste Aspekt jenes persönliche Verschwinden der Person, den Widerruf jener Differenz, die vom Ego, vom Ich repräsentiert wird. Einer Differenz, die nur dem Absterben verschrieben war und deren Verschwinden objektiv in einer Rückkehr zur unbelebten Materie, wie in einer Art Entropie errechnet, repräsentiert werden kann. Allem Anschein entgegen kommt dieser Tod stets- - gerade in dem Augenblick, in dem er die persönlichste Möglichkeit darstellt - von Außen und - noch im Augenblick, in dem er die höchste Gegenwart erreicht - aus der Vergangenheit her. Der andere aber, das andere Gesicht, der andere Aspekt des Todes bezeichnet den Zustand freier Differenzen, wenn sie nicht mehr der Form unterliegen, die ihnen ein Ego, ein Ich aufprägte, wenn sie sich in einer Gestalt entwickeln, die meine eigene Kohärenz ebenso wie die einer Identität überhaupt ausschließt. Immer gibt es ein ,, man stirbt“ hinter dem ,,ich sterbe‘4, und es sind nicht bloß die Götter, die unaufhörlich und auf vielfältige Weisen sterben; als ob Welten erstünden, in denen das Individuelle nicht mehr in der personalen Form des Ego und des Ich eingesperrt ist, in denen selbst das Singuläre nicht mehr in den Grenzen des Individuums gefangen ist - kurz: das unbeherrschte Viele, das sich im ersten Aspekt nicht ,,wiedererkennt“. Freuds gesamte Konzeption jedoch verweist auf den ersten Aspekt; gerade darum aber verfehlt sie den Todestrieb und die entsprechende Erfahrung oder den entsprechenden Prototyp. Wir sehen folglich keinen Grund dafür, einen Todestrieb anzunehmen, der sich von Eros unterscheiden würde, sei es durch eine Wesensdifferenz zwischen zwei Kräften, sei es durch eine Differenz im Rhythmus oder in der Amplitude zwischen zwei Bewegungen. In den beiden Fallen wäre die Diffe-
26 Maurice Blanchot: L’espace littéraire,
Paris 1955, S. 107 u. 160-161.
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renz bereits gegeben und Thanatos unabhängig. Demgegenüber scheint uns, daß Thanatos gänzlich mit der Desexualisierung des Eros verschmilzt, mit der Bildung jener neutralen und verschiebbaren Energie, von der Freud spricht. Diese tritt nicht in den Dienst von Thanatos, sondern konstituiert ihn: Es besteht zwischen Eros und Thanatos keine analytische, d. h. bereits in ein und derselben ,,Synthese“ gegebene Differenz, in einer Synthese, die alle beide vereinigte oder alternieren ließe. Nicht daß die Differenz weniger groß wäre; im Gegenteil, als synthetische ist sie noch größer, eben weil Thanatos eine ganz andere Synthese der Zeit meint als Eros, eine um so exklusivere Synthese, a1s sie diesem entnommen und auf dessen Trümmern errichtet ist. Es geschieht gleichzeitig, daß Eros aufs Ich zurückfließt, das Ich selbst für die Verkleidungen und Verschiebungen, die die Objekte kennzeichnen, einsteht, um sie zu seiner eigenen tödlichen Affektion zu machen; daß die Libido jeglichen mnetischen Inhalt verliert, die Zeit ihre zirkuläre Gestalt verliert, um eine unerbittliche geradlinige Form anzunehmen; und daß schließlich der Todestrieb zutagetritt, identisch mit jener reinen Form, desexualisierte Energie aus dieser narzißtischen Libido. Die Komplementarität von narzißtischer Libido und Todestrieb definiert die dritte Synthese, sofern Eros und Mnemosyne die zweite definierten. Und wenn Freud sagt, daß mit dieser als Korrelat der nunmehr narzißtischen Libido desexualisierten Energie vielleicht der Denkprozeß überhaupt verknüpft werden muß, so müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es sich im Gegensatz zum alten Dilemma nicht mehr darum handelt, ob das Denken angeboren oder erworben sei. Weder angeboren noch erworben, ist es genital, das heißt: desexualisiert und jenem Rückstrom entnommen, der uns auf die leere Zeit hin öffnet. ,,Ich bin von Geburt an genital”, sagte Artaud und meinte damit ebenso: ein ,,desexualisierter Erwerb“, um diese Genese des Denkens in einem stets gespaltenen Ego zu kennzeichnen. Es besteht kein Anlaß, daß man das Denken erwirbt oder als angeboren praktiziert, vielmehr, daß man den Denkakt im Denken selbst erzeugt, vielleicht unter Einwirkung einer Gewalt, die die Libido auf das narzißtische Ich zurückfließen läßt, und daß man parallel dazu Thanatos aus dem Eros gewinnt, die Zeit von jeglichem Inhalt abstrahiert, um deren reine Form freizusetzen. Es gibt eine Erfahrung des Todes, die dieser dritten Svnthese entspricht. Nach Freud kennt das Unbewußte drei entscheidende Dinge nicht: das Nein, den Tod und die Zeit Und dennoch geht es im Unbewußten nur um die Zeit, den Tod und das Nein. Heißt das bloß, sie werden agiert, ohne vorgestellt zu werden? Mehr noch; das Unbewußte kennt das Nein nicht, weil es vom (Nicht)-Sein der Probleme und Fragen lebt, nicht aber vom Nicht-Sein des Negativen, das nur das Bewußtsein und seine Vorstellungen [représentations] affiziert. Es kennt den Tod nicht, weil sich jede Vorstellung des Todes auf den inadäquaten Aspekt bezieht, während das Unbewußte die Rückseite erfaßt, das andere Gesicht aufdeckt. Es kennt die Zeit nicht, weil es niemals den empirischen Inhalten einer Gegenwart unterliegt, die in der Vorstellung vor-
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übergeht, sondern die passiven Synthesen einer ursprünglichen Zeit vollzieht. Man muß wieder auf diese drei Synthesen als die konstitutiven Synthesen des Unbewußten zurtickkommen. Sie entsprechen den Gestalten der Wiederho-
lung, wie sie im Werk eines großen Romanciers erscheinen: die Schnur, der stets von Neuem auftauchende Bindfaden; der immer verschobene Fleck an der Wand; der stets verschwundene Radiergummi27. Die Schnur-Wiederholung, die Fleck-Wiederholung, die Gummi-Wiederholung: das dreifache Jenseits des Lustprinzips. Die erste Synthese drückt die Gründung der Zeit auf eine lebendige Gegenwart aus, eine Gründung, die der Lust ihren Rang als empirisches Prinzip überhaupt verleiht, dem der Inhalt des psychischen Lebens im Es unterliegt. Die zweite Synthese drückt den Grund der Zeit aus, wie er durch eine reine Vergangenheit geliefert wird, einen Grund, der die Anwendung des Lustprinzips auf die Inhalte des Ichs bedingt. Die dritte Synthese aber bezeichnet den Ungrund, in den uns der Grund selbst hinabstürzt: Thanatos offenbart sich tatsächlich an dritter Stelle als dieser Ungrund jenseits des Grunds des Eros und der Gründung des Habitus. Daher besteht zwischen Thanatos und Lustprinzip ein verwirrender Beziehungstyp, den man oft mit den unerforschlichen Paradoxa einer mit Schmerz verbundenen Lust ausdrückt (tatsächlich aber handelt es sich um etwas ganz anderes: Es handelt sich um die Desexualisierung in dieser dritten Synthese, insofern sie die Anwendung des Lustprinzips als leitender und vorgängiger Idee hemmt, um daraufhin zu einer Resexualisierung voranzuschreiten, in der die Lust nurmehr ein reines und kaltes, apathisches und eisiges Denken besetzt, wie man es am Fall des Sadismus oder Masochismus sieht). In gewisser Hinsicht vereinigt die dritte Synthese alle Dimensionen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, und läßt sie nun in der reinen Form ablaufen. In anderer Hinsicht veranlaßt sie ihre Reorganisation, da die Vergangenheit vom Es als die defiziente Bedingung in Abhängigkeit zu einer Gesamtheit der Zeit abgewiesen und die Gegenwart durch die Verwandlung des Handelnden im Idealich definiert wird. In noch anderer Hinsicht betrifft die letzte Synthese nur die Zukunft, da sie im Über-Ich die Zerstörung des Es und des Ichs, der Vergangenheit wie der Gegenwart, der Bedingung wie des Handelnden ankündigt. Auf dieser äußersten Spitze bildet die gerade Linie der Zeit von neuem einen Kreis, der aber auf einzigartige Weise unwuchtig ist, oder es offenbart hier der Todestrieb eine unbedingte Wahrheit seines ,,anderen“ Gesichts - eben die ewige Wiederkunft, insofern diese nicht alles wiederkehren läßt sondern im Gegenteil eine Welt affiziert, die sich des Mangels der Bedingung und der Gleichheit des Handelnden entledigt hat, um bloß das Exzessive und Ungleiche, das Unbeendbare und Unablässige, das Formlose als Produkt der äußersten Formhaftigkeit zu bejahen. Damit geht die Geschichte der Zeit zuende: 27 Verweis auf drei Romane von Alain Robbe-Grillet: Le Voyeur (dt.: Der Augenzeuge), La Jalousie (dt.: Die Jalousie oder die Eifersucht) und Les Gommes (dt.: Ein Tag zuviel) [A.d.Ü.].
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Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie ihren allzu zentrierten physischen oder natürlichen Kreis auflöst und eine gerade Linie bildet, eine Linie aber, die im Sog ihrer eigenen Länge von neuem einen auf ewig dezentrierten Kreis bild et . Die ewige Wiederkunft ist Macht zur Bejahung, sie bejaht aber alles am Vielen, am Differenten, am Zufall, ausgenommen das, was diese unter das Eine, das Selbe, die Notwendigkeit unterwirft, ausgenommen das Eine, das Selbe, das Notwendige. Das Eine, so heißt es, habe sich das Viele ein für allemal unterworfen. Und ist das nicht das Gesicht des Todes? Aber liegt nicht das andere Gesicht darin, ein für allemal all das seinerseits sterben zu lassen, was ein für allemal wirkt? Wenn die ewige Wiederkehr wesentlich mit dem Tod zusammenhängt, so deshalb, weil sie ,,ein für allemal“ den Tod dessen, was Eines ist, herbeiführt und impliziert. Wenn sie wesentlich mit der Zukunft zusammenhängt, so deshalb, weil die Zukunft die Entfaltung und Explikation des Vielen, des Differenten, des Zufälligen für sich selbst und ,,für allemal“ ist. Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft schließt zwei Bestimmungen aus: das Selbe oder die Identität eines subordinierenden Begriffs, und das Negative der Bedingung, die das Wiederholte aufs Selbe beziehen und die Subordination garantieren würde. Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft schließt zugleich das Gleich-Werden oder Ähnlich-Werden mit dem Begriff und die defiziente Bedingung eines derartigen Werdens aus. Sie betrifft im Gegenteil exzessive Systeme, die das Differente ans Differente binden, das Viele ans Viele, das Zufällige ans Zufällige, und zwar in einer Gesamtheit von Bejahungen, die zu den gestellten Fragen und den getroffenen Entscheidungen stets koextensiv sind. Es wird behauptet, der Mensch wisse nicht zu spielen: Das kommt daher, daß er, selbst wenn er sich einen Zufall oder eine Mannigfaltigkeit vorgibt, seine Bejahungen so begreift, als müßten sie ihn begrenzen, seine Entscheidungen, als müßten sie seine Wirkung bannen, seine Reproduktionen, als müßten sie das Selbe unter einer Gewinnhypothese wiederkehren lassen. Dies eben ist das schlechte Spiel, das Spiel, in dem man Gefahr läuft, ebenso zu verlieren wie zu gewinnen, weil man dabei nicht den ganzen Zufall bejaht: Der von vornherein feststehende Charakter der fragmentierenden Regel hat die defiziente Bedingung als Korrelat beim Spieler, der nicht weiß, welches Fragment dabei herauskommen wird. Demgegenüber muß das System der Zukunft ein göttliches Spiel genannt werden, weil die Regel nicht im voraus existiert, weil sich das Spiel bereits auf seine eigenen Regeln bezieht, weil das spielende Kind nur gewinnen kann - da der ganze Zufall jedesmal und für allemal bejaht wird. Keine restriktiven oder begrenzenden Bejahungen, vielmehr Bejahungen, die zu den gestellten Fragen und zu den Entscheidungen, die aus ihnen hervorgehen, koextensiv sind: Ein derartiges Spiel zieht die Wiederholung des notwendig siegreichen Wurfs nach sich, da es sich nur durch den fortwährenden Einschluß aller möglichen Kombinationen und Regeln im System seiner eigenen Wiederkunft vollzieht. Bei diesem Spiel von Differenz und Wiederholung, wie es vom Todestrieb gespielt wird, ist Borges
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so weit gegangen wie niemand sonst, und zwar in seinem gesamten, außergewöhnlichen Werk: ,,Wenn die Lotterie eine Verstärkung des Zufalls, eine periodische Ergießung des Chaos in den Kosmos ist, müßte dann nicht der Zufall gerechterweise in alle Etappen der Ziehung Einlaß finden, nicht nur in eine einzige? Ist es nicht lächerlich, daß der Zufall irgendwessen Tod verfügt, daß aber die Umstände dieses Tods - Ausschluß oder Anwesenheit der Öffentlichkeit, Vollstreckung binnen einer Stunde oder eines Jahrhunderts nicht dem Zufall unterworfen sind? [. . .] In Wirklichkeit ist die Zahl der Ziehungen unendlich. Kein Entscheid ist endgül tig, alle verzweigen sich in andere. Die Unwissenden sind der Meinung, daß unendliche Ziehungen eine unendliche Zeit erfordern; in Wahrheit braucht die Zeit nur unendlich teilbar zu sein [. . .].“ ,,In allen erdichteten Werken entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und scheidet die anderen aus; im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pen entscheidet er sich - gleichzeitig für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman. Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis; ein Unbekannter klopft an seine Türe; Fang beschließt, ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene mögliche Lösungen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang töten; beide können davonkommen, beide können sterben usw. Im Werk von Ts’ui Pen kommen sämtliche Lösungen vor; jede ist der Ausgangspunkt weiterer Verzweigungen“28.
Welches sind die Systeme, die von der ewigen Wiederkunft affiziert werden? Betrachten wir die beiden Sätze: Einzig was sich ähnelt, unterscheidet sich; und: einzig die Unterschiede ähneln einander29. Die erste Formel setzt die Ähnlichkeit als Bedingung der Differenz; sicher fordert sie auch die Möglichkeit eines identischen Begriffs für die zwei Dinge, die sich unter der Bedingung ihrer Ähnlichkeit voneinander unterscheiden; und impliziert außerdem eine Analogie in der Beziehung jedes Dings zu diesem Begriff; und führt schließlich zur Reduktion der Differenz auf einen durch diese drei Momente bestimmten Gegensatz. Demgegenüber können der anderen Formel
28 Jorge Luis Bor-ges: Fiktionen, in: Gesammelte Werke, Bd. 3/I, Erzählungen 19351944, München 1981, S. 135-136 u. 164. 29 Vgl. Claude Levi-Strauss: Le totémisme aujourd’hui, Paris 1962, S. 111: ,,Nicht die Ähnlichkeiten, sondern die Differenzen ähneln einander.“ - Levi-Strauss zeigt, wie sich dieses Prinzip in der Konstitution zumindest zweier Reihen entwickelt, wobei sich die Terme jeder Reihe jeweils voneinander unterscheiden (etwa was den Totemismus betrifft: die Reihe der verschiedenen Tierarten und die Reihe der differentiellen sozialen Positionen): Die Ähnlichkeit besteht ,,zwischen diesen beiden Systemen von Differenzen“.
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nach die Ähnlichkeit und ebenso die Identität, die Analogie, der Gegensatz nurmehr als Wirkungen angesehen werden, als Produkte einer ersten Differenz oder eines ersten Systems von Differenzen. Gemäß dieser anderen Formel muß die Differenz die sich unterscheidenden Terme unmittelbar aufeinander beziehen. Entsprechend der ontologischen Anschauung Heideggers muß die Differenz an sich selbst Verknüpfung und Verbindung sein, muß sie ohne irgendeine Vermittlung durchs Identische oder Ähnliche, Analoge oder Entgegengesetzte das Differente aufs Differente beziehen. Es wird eine Differenzierung der Differenz verlangt, ein Ansich als Differenzierendes, als Sich-Unterscheidendes [i.O.dt.], wodurch das Differente gleichzeitig versammelt wird, anstatt unter der Bedingung einer vorgängigen Ähnlichkeit, Identität, Analogie, eines vorgängigen Gegensatzes repräsentiert zu werden. Was diese Instanzen betrifft, die nicht länger Bedingungen sind, so sind sie nurmehr Wirkungen der ersten Differenz und ihrer Differenzierung, Gesamt- oder Oberflächeneffekte, die die denaturierte Welt der Repräsentation kennzeichnen und der Art und Weise Ausdruck verleihen, wie das Ansich der Differenz sich selbst verbirgt, indem es hervorruft, wodurch es verdeckt wird. Wir müssen danach fragen, ob die beiden Formeln bloß zwei Redeweisen sind, die nichts weiter verändern; oder ob sie sich auf gänzlich verschiedene Systeme beziehen; oder ob sie bei ihrer Anwendung auf dieselben Systeme (im äußersten Fall auf das System der Welt) nicht zwei unvereinbare und unterschiedlich stichhaltige Interpretationen meinen, von denen die eine alles zu andern vermag. Es sind dieselben Bedingungen, unter denen sich das Ansich der Differenz verbirgt und die Differenz unter die Kategorien der Repräsentation fällt. Unter welchen anderen Bedingungen enfaltet die Differenz dieses Ansich als ,,Differenzierendes“ und versammelt das Differente jenseits jeder möglichen Repräsentation? Das erste Merkmal scheint uns die Organisation in Reihen zu sein. Ein System muß sich auf der Basis zweier oder mehrerer Reihen errichten, wobei jede Reihe durch die Differenzen zwischen den Termen, aus denen sie besteht, definiert wird. Wenn wir annehmen, daß die Reihen unter Einwirkung einer beliebigen Kraft zu kommunizieren beginnen, so wird deutlich, daß diese Kommunikation Differenzen auf andere Differenzen bezieht oder Differenzen von Differenzen im System ausbildet: Diese Differenzen zweiten Grades übernehmen die Rolle eines ,,Differenzierenden“, d. h. sie beziehen die Differenzen ersten Grades jeweils aufeinander. Dieser Sachverhalt drückt sich entsprechend in manchen physikalischen Begriffen aus: Kopplung zwischen heterogenen Reihen; woraus sich eine interne Resonanz im System ableitet; woraus sich eine erzwungene Bewegung ableitet, deren Amplitude die Basisreihen selbst übersteigt. Man kann die Natur dieser Elemente bestimmen, deren Wert zugleich in ihrer Differenz in einer Reihe, zu der sie gehören, und in ihrer Differenz von Differenz zwischen den Reihen besteht: Sie sind Intensitäten, wobei das Eigentliche der Intensität darin liegt, daß sie durch eine Differenz gebildet wird, die selbst auf andere Differenzen verweist (E-E’,
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wobei E auf e-e’ und e auf E-E’ . . . verweist). Die intensive Natur der in Betracht gezogenen Systeme verbietet uns jeden Vorgriff auf ihre Qualifizierung: mechanisch, physikalisch, biologisch, psychisch, sozial, ästhetisch, philosophisch usw. Sicher besitzt jeder Systemtyp seine besonderen Bedingungen, die sich allerdings den vorangehenden Merkmalen fügen, auch wenn sie ihnen eine geeignete Struktur im jeweiligen Fall verleihen: So sind etwa die Wörter in manchen ästhetischen Systemen wahrhafte Intensitäten, ebenso sind die Begriffe Intensitäten aus der Perspektive des philosophischen Systems. Man wird bemerken, daß sich - dem berühmten Entwurf Freuds von 1895 zufolge - das biopsychische Leben in der Form eines derartigen intensiven Feldes darstellt, in dem sich Differenzen, die sich als Erregungen bestimmen lassen, und Differenzen von Differenzen, die sich als Bahnungen bestimmen lassen, verteilen. Vor allem aber verkörpern die Synthesen der Psyche ihrerseits die drei Dimensionen der Systeme überhaupt. Denn die psychische Bindung (Habitus) bewirkt eine Kopplung von Erregungsreihen; Eros bezeichnet die spezifische Verfassung interner Resonanz, die daraus hervorgeht; der Todestrieb verschmilzt mit der erzwungenen Bewegung, deren Amplitude die Resonanzreihen selbst übersteigt (daher die Amplitudendifferenz zwischen Todestrieb und dem in Resonanz befindlichen Eros). Wenn heterogene Reihen miteinander in Kommunikation getreten sind, ergeben sich daraus alle möglichen Folgen im System. Es ,,passiert“ etwas zwischen den Rändern; Ereignisse brechen los, Phänomene leuchten auf, wie Blitz oder Blitzschlag. Raum-zeitliche Dynamiken erfüllen das System und drücken zugleich die Resonanz der verkoppelten Reihen wie die Amplitude der erzwungenen Bewegung aus, die sie übersteigen. Subjekte bevölkern das System, Larvensubjekte und passive Ichs zugleich. Passive Ichs, weil sie mit der Betrachtung der Kopplungen und Resonanzen verschmelzen; und LarvenSubjekte, weil sie Träger oder Leidendes der Dynamiken sind. Denn in ihrer notwendigen Teilhabe an der erzwungenen Bewegung kann eine reine raumzeitliche Dynamik nur an der Grenze des Erträglichen erfahren werden, unter Bedingungen, außerhalb welcher sie den Tod jeglichen wohlgeformten, unabhängigen und aktiven Subjekts nach sich ziehen würde. Es gilt bereits als Wahrheit der Embryologie, daß es systematische vitale Bewegungen, Verlagerungen, Torsionen gibt, die einzig der Embryo ertragen kann: Das ausgewachsene Exemplar würde dadurch zerrissen werden. Es gibt Bewegungen, die man nur als Leidendes erfahren kann, das Leidende seinerseits aber kann nur eine Larve sein. Die Evolution vollzieht sich nicht im Freien, und nur das Rückgebildete entwickelt sich fort. Der Alptraum ist vielleicht eine psychische Dynamik, die weder der Wachende noch selbst der Träumende ertragen könnte, sondern nur der Schlafende des Tiefschlafs, des traumlosen Schlafs. In diesem Sinne ist ungewiß, ob das Denken, wie es die spezifische Dynamik des philosophis chen Systems konstituiert, auf ein vollend etes, wohlgeformtes substanzielles Subjekt bezogen werden kann, wie im kartesianischen Cogito: Das Denken fällt eher unter jene schrecklichen Bewegungen, die nur unter den
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Bedingungen eines Larvensubjekts erträglich sind. Das System enthält nur solche Subjekte, denn sie allein können die erzwungene Bewegung vollführen, indem sie sich zum Leidenden der Dynamiken machen, die ihr Ausdruck verleihen. Selbst der Philosoph ist das Larvensubjekt seines eigenen Systems. Darum also definiert sich das System nicht nur durch die heterogenen Reihen, die es begrenzen; nicht nur durch die Kopplung, die Resonanz und die erzwungene Bewegung, die dessen Dimensionen prägen; sondern auch durch die Subjekte, die es bevölkern, und durch die Dynamiken, die es erfüllen; und schließlich durch die Qualitäten und Ausdehnungen, die sich von diesen Dynamiken aus entfalten. Die Hauptschwierigkeit aber bleibt bestehen: Ist es wirklich die Differenz, die in diesen intensiven Systemen das Differente aufs Differente bezieht? Bezieht die Differenz von Differenz ohne andere Vermittlung die Differenz auf sich selbst? Wenn wir von der Herstellung einer Kommunikation heterogener Reihen, von einer Kopplung und einer Resonanz sprechen, geschieht dies nicht unter Voraussetzung eines Minimums an Ähnlichkeit zwischen den Reihen und einer Identität im Handelnden, das die Kommunikation herstellt? Würde nicht ,,allzuviel“ Differenz zwischen den Reihen jegliche Operation unmöglich machen? Ist man nicht dazu verurteilt, einen privilegierten Punkt ausfindig zu machen, an dem sich die Differenz nur vermöge einer Ähnlichkeit der Dinge, die sich unterscheiden, und einer Identität eines Dritten denken laßt? An dieser Stelle müssen wir der jeweiligen Rolle der Differenz, der Ähnlichkeit und der Identität größte Aufmerksamkeit widmen. Und was ist zunächst jenes Handelnde, jene Kraft, die die Kommunikation garantiert? Der Blitzschlag entlädt sich zwischen verschiedenen Intensitäten, es geht ihm aber ein unsichtbarer, unspürbarer dunkler Vorstrom3’ voraus, der im vorhinein dessen umgekehrten Weg wie im Negativabdruck bestimmt. Ebenso enthält jedes System seinen dunklen Vorboten, der die Kommunikation der Begrenzungsreihen sicherstellt. Wir werden sehen, daß diese Rolle je nach Beschaffenheit des Systems von ganz unterschiedlichen Bestimmungen erfüllt wird. Allerdings handelt es sich dabei unbedingt um die Frage, wie der Vorbote diese Rolle ausübt. Es besteht kein Zweifel, daß es eine Identität des Vorboten und eine Ähnlichkeit der Reihen, deren Kommunikation er herstellt, gibt. Dieses ,,es gibt“ bleibt aber völlig unbestimmt. Sind Identität und Ähnlichkeit hier Bedingungen oder, im Gegenteil, Wirkungen im Funktionieren des dunklen Vorboten, der notwendig die Illusion einer fiktiven Identität auf sich selbst und die Illusion einer wechselseitigen Ähnlichkeit auf die von ihm versammelten Reihen projizieren würde? Identität und Ähnlichkeit wären dann nurmehr unvermeidliche Illusionen, d. h. Reflexionsbegriffe, die unserer tief verwurzelten Gewohnheit Rechnung tragen würden, die Differenz von Kategorien der 30
Frz. pr&trseur sombre: schwache elektrische Entladung, die dem Blitzschlag vorausgeht, in nicht-physikalischen Zusammenhängen hier auch mit ,,dunkler Vorbote“ übersetzt [A. d. ü.].
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Repräsentation aus zu denken - dies aber nur, weil der unsichtbare Vorbote sich selbst und sein Funktionieren und im selben Zug das Ansich als wahre Natur der Differenz verbergen würde. Sind zwei heterogene Reihen, zwei Reihen von Differenzen gegeben, so agiert der Vorbote als das Differenzierende dieser Differenzen. Auf diese Weise bringt er sie unmittelbar in Beziehung zueinander, mit der ihm eigenen Macht: Er ist das Ansich der Differenz oder das ,,verschieden Differente“, d. h. die Differenz zweiten Grades, die Differenz mit sich, die das Differente durch sich selbst aufs Differente bezieht. Weil der von ihm beschriebene Weg unsichtbar ist und nur verkehrt herum sofern von den Erscheinungen, die er im System induziert, verdeckt und durchlaufen - sichtbar werden wird, besitzt er nur jenen Ort, an dem er ,,fehlt“, nur jene Identität, der er abgeht: Er ist eben das Objekt = x, dasjenige, das ,,an seinem Platz“ wie seiner eigenen Identität ,,fehlt“. So daß die logische Identität, die die Reflexion ihm auf abstrakte Weise verleiht, und die physische Ähnlichkeit, die die Reflexion den von ihm versammelten Reihen zuspricht, nur die statistische Wirkung seines Funktionierens auf die Gesamtheit des Systems ausdrückt, d.h. die Art und Weise, wie er sich notwendig unter seinen eigenen Wirkungen verbirgt, weil er sich beständig in sich verschiebt und sich beständig in den Reihen verkleidet. Damit können wir die Identität eines Dritten und die Ähnlichkeit der Teile nicht als eine Bedingung für das Sein und das Denken der Differenz ansehen, sondern nur als eine Bedingung für ihre Repräsentation, die einer Denaturierung dieses Seins und dieses Denkens Ausdruck verleiht, gleich einem optischen Effekt, der den wahren Status der Bedingung, wie sie an sich ist, nur verfälschen würde. Wir nennen den dunklen Vorboten dispars, jene Differenz an sich, zweiten Grades, die die heterogenen oder disparaten Reihen selbst korreliert. Sein Verschiebungsraum und sein Verkleidungsprozeß bestimmen in jedem einzelnen Fall eine relative Größe der miteinander korrelierten Differenzen. Man weiß, daß in manchen Fällen (in manchen Systemen) die Differenz der ins Spiel gebrachten Differenzen ,,sehr groß“ sein kann; daß sie in anderen Systemen ,,sehr klein” sein muß3! Aber man hätte Unrecht, würde man in diesem zweiten Fall den reinen Ausdruck einer vorgängigen Forderung nach Ähnlichkeit sehen, die im ersten Fall bloß erlahmen würde, indem sie sich auf den Weltmaßstab hin ausdehnte. Man besteht etwa darauf, daß notwendig die disparaten Reihen nuhezu ähnlich, die Frequenzen benachbart (03 benachbart 31 Leon Selme zeigte, daß die Illusion einer Beseitigung von Differenzen um so stärker sein muß, je kleiner die in einem System verwirklichten Differenzen sind (so etwa in den thermischen Maschinen): PGncipe de Carnot contre formule empirique de Clausius, Paris 1917. - Hinsichtlich der Bedeutung der disparaten Reihen und ihrer inneren Resonanz in der Bildung der Systeme wird man sich auf Gilbert Simondon beziehen: L’individu et sa genese physico-biologique, Paris 1964, S. 20. (G. Simondon fordert als Bedingung allerdings weiterhin die Ähnlichkeit zwischen Reihen oder die Kleinheit der ins Spiel gebrachten Differenzen; vgl. S. 254-257).
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zu CI-)~), kurz, die Differenz klein sein müßten. Aber es gibt - eben keine Differenz, die nicht ,,klein“ wäre, selbst im Weltmaßstab, wenn man die Identität des Handelnden voraussetzt, das das jeweils Differente miteinander kommunizieren läßt. Klein und groß lassen sich, wie wir gesehen haben, sehr schlecht auf . die Differenz anwenden, weil sie sie nach den Kriterien des Selben und des Ähnlichen beurteilen. Wenn man die Differenz auf ihr Differenzierendes bezieht, wenn man sich hütet, dem Differenzierenden eine Identität zu verleihen, die es nicht besitzt und nicht besitzen kann, so wird die Differenz gemäß ihren Zerlegungsmöglichkeiten klein oder groß genannt werden, d. h. gemäß der Verschiebung und Verkleidung des Differenzierenden, in keinem Fall aber wird man behaupten können, daß eine kleine Differenz eine strikte Ähnlichkeitsbedingung belege, und ebensowenig, daß eine große Differenz für den Bestand einer bloß erlahmten Ähnlichkeit zeuge. Die Ähnlichkeit ist in jedem Fall eine Wirkung, ein Arbeitsprodukt, ein äußeres Resultat - eine Illusion, die immer dann auftaucht, sobald das Handelnde sich eine ihm ermangelnde Identität anmaßt. Das Wesentliche liegt also nicht darin, daß die Differenz klein oder groß und schließlich stets klein im Verhältnis zu einer weit umfassenderen Ähnlichkeit ist. Das Wesentliche für das Ansich liegt darin, daß die Differenz, ob klein oder groß, intern ist. Es gibt Systeme mit großer äußerer Ähnlichkeit und kleiner innerer Differenz. Das Gegenteil ist möglich: Systeme mit kleiner äußerer Ähnlichkeit und großer innerer Differenz. Unmöglich aber ist das Widersprüchliche; immer ist die Ähnlichkeit außerhalb, und die Differenz, ob klein oder groß, bildet den Kern des Systems. Gegeben seien Beispiele aus ganz verschiedenen literarischen Systemen. Im Werk Ravmond Roussels sind wir mit Wortreihen konfrontiert: Die Rolle des Vorboten wird von einem Homonym oder einem Quasi-Homonym übernommen (billtrd-pillard), aber dieser dunkle Vorbote ist um so weniger sichtbar und spürbar, als eine der beiden Reihen notfalls verborgen bleibt. Seltsame Geschichten werden die Differenz zwischen den beiden Reihen ausgleichen, um einen Effekt äußerer Ähnlichkeit und Identität zu induzieren. Nun wirkt der Vorbote keineswegs durch seine Identität, sei es eine nominale oder homonyme Identität; dies wird an der Quasi-Homonymie deutlich, die nur in der völligen Verschmelzung mit dem differentiellen Charakter zweier Wörter (b und p) wirksam wird. Ebenso erscheint das, Homonym hier nicht als die nominale Identität eines Signifikanten, sondern als das Differenzierende distinkter Signifikate, das sekundär einen Ähnlichkeitseffekt bei den Signifikaten wie einen Identitätseffekt im Signifikanten erzeugt. Es wäre daher unzureichend zu behaupten, das System gründe sich auf eine gewisse negative Bestimmung, nämlich auf den Mangel der Wörter im Verhältnis zu den Dingen, weswegen ein Wort dazu verdammt sei, mehrere Dinge zu bezeichnen. Dies ist dieselbe Illusion, die uns die Differenz von einer vorgängigen, vorausgesetzten Ähnlichkeit und Identität ausgehend denken und sie als negativ erscheinen läßt. Nicht durch die Beschränktheit ihres Vokabulars, sondern
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durch ihre Überfülle, durch ihre positivste syntaktische und semantische Macht erfindet die Sprache in Wahrheit die Form, in der sie die Rolle des dunklen Vorboten übernimmt, d.h. in der sie - wenn sie von verschiedenen Dingen spricht - diese Differenzen differenziert, indem sie sie unmittelbar aufeinander bezieht, und zwar in Reihen, die sie in Resonanz geraten läßt. Darum erklärt sich, wie wir gesehen haben, die Wiederholung von Wörtern ebensowenig negativ, wie sie als nackte, differenzlose Wiederholung dargestellt werden kann. Das Werk Joyces nimmt offensichtlich ganz andere Verfahren in Anspruch. Stets aber handelt es sich darum, ein Höchstmaß an disparaten Reihen zu versammeln (im äußersten Fall alle divergenten Reihen, die-den Kosmos bilden), indem man dunkle Vorboten der Sprache in Gang setzt (hier: Geheimwörter, Wortkreuzungen), die auf keiner vorgängigen Identität beruhen und vor allem nicht prinzipiell ,,identifizierbar“ sind, sondern in der Gesamtheit des Systems und als Resultat des Differenzierungsprozesses der Differenz an sich ein Höchstmag an Ähnlichkeit und Identität induzieren (vgl. den kosmischen Brief in Finnegan’s Wake). Was im System zwischen in Resonanz geratenen Reihen und unter Einwirkung des dunklen Vorboten geschieht, nennt sich ,,Epiphanie“. Die kosmische Extension fällt mit der Amplitude einer erzwungenen Bewegung zusammen, überflutet und übersteigt die Reihen, Todestrieb in letzter Instanz, Stephens ,,Nein“, das nicht das Nicht-Sein des Negativen, sondern das (Nicht)-Sein einer beharrlichen Frage ist, der, ohne auf sie zu antworten, das kosmische Ja Molly Blooms entspricht, weil sie einzig durch dieses Ja angemessen besetzt und erfüllt wird.
ANMERKUNG ZU DEN ERFAHRUNGEN PROUSTS. - Sie besitzen eindeutig eine ganz andere Struktur als die Epiphanien Joyces. Es geht allerdings ebenfalls um zwei Reihen, um die Reihe einer früheren Gegenwart (Combray, wie es erlebt wurde) und die Reihe einer aktuellen Gegenwart. Sicher besteht, wenn man bei einer ersten Dimension der Erfahrung verweilt, eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Reihen (das Madeleinegebäck, das Frühsütck) und sogar eine Identität (der Geschmack nicht nur als eine mit sich ähnliche, sondern identische Qualität in den beiden Momenten). Dennoch liegt d a s Gehei mnis nicht hier. Der Geschmack besitzt Macht nur insofern, als er etwas = x umhüllt, das s i c h n i c h t mehr durch eine Id entität definiert: Er umhüllt Combray, wie es an sich ist, Fragment reiner Vergangenheit, und zwar in ihrer doppelten Unreduzierbarkeit auf eine Gegenwart, die sie gewesen ist (Wahrnehmung), und auf die aktuelle Gegenwart, in der man ihr wiederbegegnen oder sie wiederherstellen könnte (willkürliches Gedächtnis). Nun definiert sich dieses Combray an sich aber durch seine eigene wesentliche Differenz, durch eine ,,qualitative Differenz“, von der Proust sagt, sie existiere nicht ,,auf der Erdoberfläche“, sondern nur in einer einzigartigen Tiefe. Und sie ist es, die, indem sie sich einhüllt, die Identität der Qualität wie die Ähnlichkeit der Reihen erzeugt. Identität und Ähnlichkeit sind also auch hier nur das Ergebnis eines Differenzierenden. Und wenn die beiden Reihen aufeinander folgen, SO koexistieren sie dagegen im Verhältnis zu Combray an sich als dem Objekt = x, das sie in Resonanz bringt. Es kommt übrigens vor, daß die Resonanz der Reihen in einen Todestrieb mündet, der sie alle beide übersteigt: so etwa die Stiefelette und die Erinne-
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rung an die Großmutter. Eros wird durch die Resonanz gebildet, überschreitet sich aber zu einem Todestrieb hin, der durch die Amplitude einer erzwungenen Bewegung gebildet wird (der Todestrieb wird im Kunstwerk seinen glorreichen Abschluß finden, jenseits der erotischen Erfahrungen des unwillkürlichen Gedächtnisses). Prousts Formulierung ,,etwas Zeit im Reinzustand“ bezeichnet zunächst die reine Vergangenheit, das Sein an sich der Vergangenheit, d.h. die erotische Synthese der Zeit, sie bezeichnet aber in einer tieferen Schicht die reine und leere Form der Zeit, die letzte Synthese, die Synthese des Todestriebs, der in die Ewigkeit der Wieder. kunft in der Zeit mündet.
Die Frage, ob die psychische Erfahrung sprachlich strukturiert sei, oder gar die Frage, ob die psychische Welt einem Buch vergleichbar sei, hängt von der Natur der dunklen Vorboten ab. Ein sprachlicher Vorbote, ein esoterisches Wort, besitzt nicht durch sich selbst Identität, und sei sie nominal, und ebensowenig besitzen seine Bedeutungen [~ignificztions] Ähnlichkeit, mag sie auch bis ins Unendliche erlahmt sein; er ist nicht bloß ein komplexes Wort oder ein bloßer Zusammenschluß von Wörtern, sondern ein Wort über die Wörter, das völlig mit dem ,,Differenzierenden“ der Wörter ersten Grades und mit dem ,,Nichtähnelndem“ ihrer Bedeutungen verschmilzt. Daher gilt er nur in dem Maße, wie er den Anspruch erhebt, nicht etwas, sondern den Sinn [sezzs/ dessen, was er sagt, auszusagen. Nun schließt aber das Gesetz der Sprache, wie es sich in der Repräsentation entfaltet, diese Möglichkeit aus; der Sinn eines Worts kann nur durch ein anderes Wort ausgesagt werden, das das erste zum Gegenstand nimmt. Daher diese paradoxe Situation: Der sprachliche Vorbote gehört einer Art Metasprache an und kann sich nur in einem Wort verkörpern, das von den Reihen der Wortvorstellungen ersten Grades aus gesehen sinnlos ist. Dies eben ist der Refrain. Diese doppelte Verfassung des Geheimworts, das seinen eigenen Sinn aussagt, ihn aber nicht aussagt, ohne sich und ihn als Unsinn zu-repräsentieren, drückt deutlich die fortwährende Verschiebung des Sinns und seine Verkeidung in den Reihen aus. So daß das Geheimwort das eigentlich sprachliche Objekt = x ist, das Objekt = x aber auch die psychische Erfahrung als Erfahrung einer Sprache strukturiert vorausgesetzt, daß die fortwährende unsichtbare und verschwiegene Verschiebung des sprachlichen Sinns berücksichtigt wird. In gewisser Weise sprechen alle Dinge und haben einen Sinn, vorausgesetzt die Rede ist zugleich auch verschwiegen, oder besser: der Sinn i s t das, was in der Rede schweigt. In seinem herrlichen Roman Kosmos [dt. : In dizien] zeigt Gombrowicz, wie zwei Reihen heterogener Differenzen (des Aufhängens und der Münder) ihre wechselseitige Kommunikation über verschiedene Zeichen hinweg provozieren, bis hin zur Einführung eines dunklen Vorboten (der Mord am Kater), der hier als das Differenzierende ihrer Differenzen, als der - wenngleich in einer widersinnigen Vorstellung verkörperte - Sinn wirksam wird, von dem aus aber die Dynamiken in Gang kommen und die Ereignisse im System ‘Kosmos’ entstehen werden, die ihren endgültigen Abschluß in einem Todestrieb finden wer-
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den, der die Reihen übersteigt32. Damit werden die Bedingungen freigelegt, unter denen ein Buch ein Kosmos und der Kosmos ein Buch ist. Und es entfaltet sich über ganz verschiedene Techniken hinweg die letzte Joycesche Identität, eine Identität, die man wiederum bei Borges oder Gombrowicz findet: Chaos = Kosmos. Jede Reihe bildet eine Geschichte: nicht verschiedene Blickwinkel auf ein und dieselbe Geschichte, wie die Blickwinkel auf die Stadt bei Leibniz, sondern völlig distinkte Geschichten, die sich gleichzeitig entwickeln. Die Basisreihen sind divergent. Nicht relativ in dem Sinne, daß man nur kehrtmachen müßte, um den Konvergenzpunkt zu finden, sondern absolut divergent in dem Sinne, daß der Konvergenzpunkt, der Konvergenzhorizont in einem Chaos liegt und in diesem Chaos immer verschoben wird. Dieses Chaos selbst ist das Positivste, wie die Divergenz gleichzeitig Objekt von Bejahung ist. Es verschmilzt mit dem Stein der Weisen33, der alle komplizierten Reihen umfaßt, alle simultanen Reihen bejaht und kompliziert. (Nicht verwunderlich, daß Joyce so sehr an Bruno interessiert war, dem Theoretiker der complicatio.) Die Dreiheit Komplikation/Explikation/Implikation trägt der Gesamtheit des Systems Rechnung, d.h. dem alles umfassenden Chaos, den divergenten Reihen, die daraus hervorgehen und dahin zurückkehren, und dem Differenzierenden, das sie aufeinander bezieht. Jede Reihe expliziert oder entwickelt sich, allerdings in ihrer Differenz zu den anderen Reihen, die sie impliziert und durch die sie impliziert wird, die sie umhüllt und durch die sie umhüllt wird, in diesem alles komplizierenden Chaos. Die Gesamtheit des Systems, die Einheit der divergenten Reihen als solcher, entspricht der Objektivität eines ,,Problems“; daher die Methode der Probleme/Fragen, mit denen Joyce sein Werk beseelt, und daher bereits die Art und Weise, wie Lewis Caroll die Wortkreuzungen mit dem Status des Problematischen verband. Das Wesentliche ist die Simultaneität, die Gleichzeitigkeit, die Koexistenz aller divergenten Reihen zusammen. Sicherlich sind die Reihen von den in der Repräsentation vorübergehenden Gegenwarten aus gesehen sukzessive, die eine ,,vorher“, die andere ,,nachher“. Gerade unter diesem Gesichtspunkt heißt es von der zweiten Reihe, sie ähnle der ersten. Aber nichts dergleichen mehr in Bezug auf das Chaos, das sie enthält, in Bezug zum Objekt = x, das sie durchläuft, zum Vorboten, der sie miteinander kommunizieren läßt, zur erzwungenen Bewegung, die sie übersteigt: Stets läßt das Differenzierende sie nebeneinander koexistieren. Mehrfach sind wir jenem Paradox der aufeinanderfolgenden Gegenwarten begegnet, oder dem Paradox der Reihen, die in Wirklichkeit aufeinanderfolgen, in Bezug auf die reine Vergangenheit oder das 32 Witold Gombrowicz: Indizien [Kosmos], Pfullingen 1966. - Das Vorwort zu KOSmos skizziert eine Theorie disparater Reihen, ihrer Resonanz und des Chaos. Ebenso wird man sich auf das Thema der Wiederholung in Ferdydurke (Pfullingen 1960, S. 80 ff.) beziehen. 33 Frz . grand azuvre* . wörtlich ,,großes Werk” [A.d.Ü.].
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virtuelle Objekt aber symbolisch koexistieren. Wenn Freud zeigt, daß sich eine Phantasie auf zumindest zwei Basisreihen gründet, auf eine infantile und prägenitale, und auf eine genitale und postpubertäre, so wird deutlich, daß diese Reihen vom solipsistischen Unbewußten des fraglichen Subjekts aus gesehen zeitlich aufeinanderfolgen. Die Frage lautet dann, wie man dem Phänomen der ,,Verspätung“ gerecht wird, d. h. der Zeit, die notwendig ist, damit die infantile und vermeintlich ursprüngliche Szene nur aus der Entfernung wirksam wird, in einer adulten Szene, die jener ähnelt und ,abgeleitet‘ genannt \vird3’ . Es handelt sich hier zwar um ein Problem der Resonanz zwischen zwei Reihen. Aber gerade dieses Problem ist nicht richtig gestellt, solange man nicht eine Instanz berücksichtigt, bezüglich welcher die beiden Reihen in einern intersubjektiven Unbewußten koexistieren. In Wahrheit lassen sich die beiden Reihen, die infantile und die adulte, nicht auf ein und dasselbe Subjekt aufteilen. Das Kindheitsereignis bildet nicht eine der beiden Realreihen, sondern eher den dunklen Vorboten, der die beiden Basisreihen miteinander kommunizieren läßt, die Reihe der Erwachsenen, die wir als Kinder kannten, und die Reihe des Erwachsenen, der wir zusammen mit anderen Erwachsenen und anderen Kindern sind. So der Held in der Recherche du Temps perdu: Seine Kinderliebe zur Mutter ist das Handelnde einer Kommunikation zwis c h e n z w e i adulten Reihen, der Reihen, die Swann mit Odette und der erwachsene Held mit Albertine bilden - und stets das gleiche Geheimnis in beiden, die ewige Verschiebung, die ewige Verkleidung der Gefangenen, die schließlich den Punkt anzeigt, an dem die Reihen im intersubjektiven Unbewußten nebeneinander koexistieren. Es besteht kein Anlaß zur Frage, wie sich das Kindheitsereignis erst verspätet auswirke. Es ist diese Verspätung, aber diese Verspätung selbst ist die reine Form der Zeit, die Vorher und Nachher koexistieren läßt. Wenn Freud entdeckt, daß die Phantasie vielleicht äußerste Wirklichkeit ist und etwas impliziert, das die Reihen übersteigt, so darf man daraus nicht folgern, daß die Kindheitsszene irreal oder imaginär sei, sondern eher, daß die empirische Bedingung der zeitlichen Abfolge in der Phantasie der Koexistenz der beiden Reihen weicht, der Koexistenz des Erwachsenen, der wir sein werden, mit den Erwachsenen, die wir ,,gewesen sind“ (vgl. was Ferenczi die Identifikation des Kindes mit dem Aggressor genannt hat). Die Phantasie ist die Manifestation des Kindes als dunkler Vorbote. Und in der Phantasie ist nicht eine Reihe im Verhältnis zur anderen ursprünglich, ursprünglich ist vielmehr die Differenz der Reihen, insofern sie eine Reihe von Differenzen auf eine andere Reihe von Differenzen bezieht, wobei von ihrer empirischen Abfolge in der Zeit abstrahiert wird. Wenn es im System des Unbewußten nicht mehr möglich ist, eine sukzessive Ordnung zwischen den Reihen zu errichten, wenn alle Reihen koexistieren, so
34 z u d’leser
Fragestellung vgl. Jean Laplanche und J. B. Pontalis: Fantasme originaire, du fantasme, in: Les Temps modernes, April 1964.
fantasmes des origines, origine
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ist es ebenso unmöglich, eine dieser Reihen als ursprünglich und die andere als abgeleitet, die eine als Urbild und die andere als Abblid zu betrachten. Denn die Reihen werden als koexistent, aufierhalb der Bedingung der Abfolge in der Zeit, und zugleich als different erfaßt, außerhalb jeglicher Bedingung, derzufolge die eine die Identität eines Urbilds und die andere die Ähnlichkeit eines Abbilds besäße. Wenn zwei divergente Geschichten sich simultan entwickeln, so ist es unmöglich, der einen vor der anderen den Vorzug zu geben; man kann dann wohl sagen, daß alles gleich wert sei, aber ,,alles ist gleich wert“ wird nur von der Differenz ausgesagt, wird ausschließlich von der Differenz zwischen den beiden ausgesagt. So klein die innere Differenz zwischen den beiden Reihen, zwischen den beiden Geschichten auch sein mag - die eine reproduziert nicht die andere, die eine dient der anderen nicht als Modell, vielmehr sind Ähnlichkeit und Identität nur die Wirkungen der Funktionsweise dieser Differenz, die allein im System ursprünglich ist. Es läßt sich also mit Recht sagen, daß das System die Zuweisung eines Ursprünglichen und eines Abgeleiteten als eines ersten und eines zweiten Mals ausschließt, da die Differenz der einzige Ursprung ist und unabhängig von jeglicher Ähnlichkeit das Differente, das sie aufs Differente bezieht, koexistieren läßt3? Unter diesem Aspekt zweifellos offenbart sich die ewige Wiederkunft als das ,,Gesetz“ ohne Grund dieses Systems. Die ewige Wiederkunft läßt nicht das Selbe und das Ähnliche wiederkehren, sondern leitet sich selber aus einer Welt der reinen Differenz ab. Jede Reihe kehrt wieder; und zwar nicht nur in den anderen, die sie implizieren, sondern für sich selbst, da sie in den anderen nur dann impliziert wird, wenn sie ihrerseits vollständig als diejenige wiederhergestellt wird, die jene impliziert. Die ewige Wiederkunft hat keinen anderen Sinn als den folgenden: die Absenz eines zuschreibbaren Ursprungs, d.h. die Zuweisung des Ursprungs als die Differenz, die das Differente aufs Differente bezieht, um es (oder sie) als solche(s) wiederkehren zu lassen. In diesem Sinne ist die ewige Wiederkunft tatsächlich die Folge einer ursprünglichen, reinen, 35 In einer Passage, die sich insbesondere mit der Freudschen Phantasie beschäftigt, schreibt Jacques Derrida: ,,Die Verspätung ist also ursprünglich. Ansonsten wäre
der Aufschub [djrf z krame/ die Frist, die sich ein Bewufitsein, ein Selbstgegenwärtigsein der Präsenz gewährt. [. . .] Den Aufschub [d;fferdnce] als ursprünglich ZU bezeichnen, heißt zugleich den Mythos eines präsenten Ursprungs auszustreichen. Deshalb muß ,,ursprünglich” als ausgestrichen verstanden werden, widrigenfalls leitete man den Aufschub aus einem vollen Ursprung ab. Die Ursprungslosigkeit ist es, die ursprünglich ist” (L’tkriture et la diff&-ence, Paris 1967, S. 302-303; dt.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1977, S. 311-312). Vgl. auch Maurice Blanchot: Le rire des dieux, in: Nouvelle Revue Francaise, Juli 1965: ,,Das Bild darf nicht länger sekundär im Verhältnis zu einem vorgeblich ersten Gegenstand sein und rnuß einen gewissen Vorrang geltend machen, wie zugleich das Original, dann der Ursprung ihre Privilegien als Anfangsmächte verlieren werden. [. . .] Es gibt kein Original mehr, vielmehr ein ewiges Flimmern, mit dem sich im Glanz der Abkehr und der Wiederkehr die Ursprungslosigkeit zerstreut.“
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synthetischen Differenz an sich (was Nietzsche Willen zur Macht nannte). Wenn die Differenz das Ansich ist, so ist die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr das Fürsich der Differenz. Und dennoch, wie läßt sich leugnen, daß die ewige Wiederkehr untrennbar vom Selben sei? Ist sie nicht selbst ewige Wiederkunft des Selben? Wir müssen allerdings auf die verschiedenen Bedeutungen, zumindest drei, des Ausdrucks ,,das Selbe, das Identische, das Ähnliche“ achten. Entweder bezeichnet das Selbe ein vorausgesetztes Subjekt der ewigen Wiederkunft. Es bezeichnet dann die Identität des Einen als Prinzip. Aber gerade das ist der größte, der am längsten wahrende Irrtum. Nietzsche sagt richtig: Wenn es das Eine wäre, das wiederkehrte, so hätte es damit begonnen, nicht aus sich selbst herauszutreten; wenn es das Viele dazu bestimmen müßte, ihm zu ähneln, SO hätte es damit begonnen, seine Identität in dieser Abstufung des Ähnlichen nicht zu verlieren. Die Wiederholung ist Beharrlichkeit des Selben ebensowenig wie Ähnlichkeit des Vielen. Das Subjekt der ewigen Wiederkehr ist nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche, sondern das Unähnliche, nicht das Eine, sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall. Viel eher impliziert die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft die Zerstörung aller Formen, die deren Funktionieren behindern, der Kategorien der Repräsentation, die in der Vorbedingung des Selben, des Einen, des Identischen und des Gleichen verkörpert sind. Oder das Selbe und das Ähnliche sind bloß ein Effekt der Funktionsweise der Systeme, die der ewigen Wiederkehr unterliegen. Damit wird notwendig eine Identität auf die ursprüngliche Differenz projiziert oder besser: zurückgeworfen, notwendig eine Ähnlichkeit in den divergenten Reihen interiorisiert. Von dieser Identität, von dieser Ähnlichkeit müssen wir sagen, sie seien ,,simuliert“: Sie sind im System erzeugt, das über die Differenz das Differente aufs Differente bezieht (weswegen ein derartiges System selbst ein Trugbild [simulucre] ist). Das Selbe, das Ähnliche sind durch die ewige Wiederkunft erzeugte Fiktionen. Es liegt hierin nun kein Irrtum mehr vor, sondern eine Illusion: eine unvermeidliche Illusion an der Quelle des Irrtums, eine Illusion allerdings, die von ihm geschieden werden kann. Oder das Selbe und das Ähnliche unterscheiden sich nicht von der ewigen Wiederkunft selbst. Sie sind gegenüber der ewigen Wiederkunft nicht präexistent: Weder das Selbe noch das Ähnliche kehren wieder, vielmehr ist die ewige Wiederkunft das einzige Selbe, die einzige Ähnlichkeit dessen, was wiederkehrt. Ebensowenig lassen sie sich von der ewigen Wiederkunft abstrahieren, um auf die Ursache zurückzuwirken. Das Selbe sagt sich von dem aus, was sich unterscheidet und different bleibt. Die ewige Wiederkehr ist das Selbe des Differenten, das Eine des Vielen, das Ähnliche des Unähnlichen. Als Quelle der vorigen Illusion erzeugt und bewahrt sie diese nur, um sich daran zu erfreuen und sich darin wie im Effekt ihrer eigenen Optik zu spiegeln, ohne jemals in den daran angrenzenden Irrtum zu verfallen.
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Diese differentiellen Systeme aus disparaten und in Resonanz befindlichen Reihen, aus dunklen Vorboten und erzwungener Bewegung heißen Trugbilder [simulacres] oder Phantasiegebilde [phantasmes]. Die ewige Wiederkunft betrifft nur die Trugbilder, Phantasiegebilde und läßt nur sie wiederkehren. Und vielleicht stoßen wir hier auf den wesentlichsten Punkt des Platonimus und des Antiplatonismus, des Platonismus und der Umkehrung des Platonismus, auf ihren Prüfstein. Denn im vorangehenden Kapitel haben wir so getan, als ob sich das Denken Platons um eine Unterscheidung von besonderer Bedeutung, um die Unterscheidung von Original und Bild, Urbild und Abbild drehen würde. Das Urbild soll über eine übergeordnete ursprüngliche Identität verfügen (einzig die Idee ist nichts anderes, als sie ist, einzig der Mut ist mutig, einzig die Frömmigkeit fromm), während sich das Abbild nach einer abgeleiteten inneren Ähnlichkeit bemißt. Gerade in dieser Hinsicht kommt die Differenz erst an dritter Stelle, nach Identität und Ähnlichkeit, und kann nur durch sie gedacht werden. Die Differenz wird nur im vergleichenden Spiel zweier Gleichartigkeiten gedacht, der exemplarischen Gleichartigkeit eines identischen Originals und der nachahmenden Gleichartigkeit eines mehr oder weniger ähnlichen Abbilds: Dies ist die Prüfung oder der Maßstab der Bewerber. In einer tieferen Schicht aber verschiebt sich die wahre Unterscheidung Platons und verändert sich wesentlich: Sie besteht nicht zwischen Original und Bild, sondern zwischen zwei Arten von Bildern. Sie besteht nicht zwischen Urbild und Abbild, sondern zwischen zwei Arten von Bildern (Nachbildungen), von denen die Abbilder (Ebenbilder) nur die erste Art darstellen, während die andere durch die Trugbilder (Phantasiegebilde) konstituiert wird. Die Unterscheidung Urbild/Abbild besteht nur, um die Unterscheidung Abbild/Trugbild zu begründen und anzuwenden; denn die Abbilder werden im Namen der Identität des Urbilds und dank ihrer inneren Ähnlichkeit mit diesem idealen Urbild gerechtfertigt, bewahrt und ausgewählt. Der Begriff des Urbilds schaltet sich nicht ein, um sich der Welt der Bilder in ihrer Gesamtheit entgegenzusetzen, sondern um die guten Bilder, die Bilder mit innerer Ähnlichkeit, die Ebenbilder auszuwählen und die schlechten, die Trugbilder auszusondern. Der ganze Platonismus ist auf diesen Willen aufgebaut, die Phantasiegebilde oder Trugbilder auszutreiben, die mit dem Sophisten selbst gleichgesetzt werden, mit jenem Teufel, jenem Einbläser oder Heuchler, jenem falschen, stets verkleideten und verschobenen Bewerber. Darum schien es uns, daß mit Platon eine philosophische Entscheidung allergrößter Bedeutung getroffen wurde: nämlich die Unterordnung der Differenz unter die als anfänglich vorausgesetzten Mächte des Selben und des Ähnlichen, die Erklärung der Differenz zum Undenkbaren an sich selbst und ihre Rückführung, die Rückführung der Differenz und der Trugbilder, auf einen Ozean ohne Grund. Gerade aber weil Platon noch nicht über die ausgeformten Kategorien der Repräsentation verfügt (sie werden mit Aristoteles erscheinen), muß er seine Entscheidung auf eine Theorie der Idee gründen. Was nun in seiner reinsten Ausprägung erscheint, ist eine moralische Sicht der Welt, noch bevor
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sich die Logik der Repräsentation entfalten kann. Aus moralischen Gründen
zunächst muß das Trugbild ausgetrieben werden, muß eben darum die Diffedem Ähnlichen untergeordnet werden. Aus diesem Grund aber trifft Platon die Entscheidung, da der Sieg noch nicht gesichert ist, wie er es in der gesicherten Welt der Repräsentation sein wird, der Feind rumort, lauert überall im platonischen Kosmos, die Differenz widersetzt sich ihrem Joch, Heraklit und die Sophisten machen einen Höllenlärm. Ein befremdlicher Doppelgänger, der Sokrates auf Schritt und Tritt folgt, der noch im Stil Platons spukt und mit den Wiederholungen und Variationen dieses Stils zusammenhängt3? Denn das Trugbild oder das Phantasiegebilde ist nicht bloß ein Abbild des Abbilds, eine bis ins Unendliche erlahmte Ähnlichkeit, ein verblaßtes Ebenbild. Der von den platonischen Kirchenvätern so sehr geprägte Katechismus hat uns mit der Idee eines Bilds ohne Ähnlichkeit vertraut gemacht: Der Mensch ist nach Gottes Bild gemacht und ihm ähnlich, durch den Sündenfall aber haben wir die Ähnlichkeit verloren, so sehr wir auch das Bild wahren . . . Das Trugbild ist eben genau ein dämonisches Bild, frei von Ähnlichkeit; oder es hat vielmehr, im Gegensatz zum Ebenbild, die Ähnlichkeit nach außen gekehrt und lebt von Differenz. Wenn es einen äußeren Ähnlichkeitseffekt erzeugt, so als Illusion, nicht als inneres Prinzip; es ist selbst auf einer Disparität errichtet, es hat die Ungleichartigkeit seiner konstitutiven Reihen, die Divergenz seiner Blickwinkel interiorisiert, so daß es mehrere Dinge zugleich zeigt, mehrere Geschichten zugleich erzählt. Dies ist sein erstes Merkmal. Aber heißt das nicht, daß, wenn sich das Trugbild selbst auf ein Urbild bezieht, dieses Urbild nicht mehr die Identität des idealen Selben besitze und demgegenüber Urbild des Anderen, anderes Urbild, Urbild der Differenz an sich sei, von der die interiorisierte Ungleichartigkeit herrührt? Unter den ungewöhnlichsten Passagen bei Platon, die den Antiplatonismus im Herzen des Platonismus offenbaren, gibt es diejenigen, die nahelegen, daß das Differente, das Unähnliche, das Ungleiche, kurz: das Werden, sehr wohl nicht bloß Mängel sein könnten, die das Abbild affizieren, als Preis für seinen zweitrangigen Charakter, als Ausgleich für seine Ähnlichkeit, sondern daß sie selbst Urbilder sind, schreckliche Urbilder des Pseudos, in denen sich die Macht des renz dem Selben und
36 Platons Gedankengänge werden von stilistischen Reprisen und Wiederholungen skandiert, die eine Sorgfalt bekunden, gleichsam eine Anstrengung, ein Thema ,,zurechtzubiegen“, es gegen ein verwandtes, aber unähnliches Thema, das sich ,,eingeschlichen“ hat, zu verteidigen. Was durch die platonische Themenwiederholung gebannt und neutralisiert wird, ist die Wiederkehr vorsokratischer Themen: Auf diese Weise wird der Vatermord mehrmals begangen, und am meisten dort, w o Platon den Stil derer nachahmt, die er anprangert. Vgl. I? M. Schuhl: Remarques sur la technique de la r+tition dam le Phkdon, in: Etudes platoniciennes, Paris 1960, S. 118-125 (P. M. Schuh1 nennt dies ,,die Litaneien der Idee”).
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Falschen entfaltet3’. Die Hypothese wird sofort verworfen, verdammt, verboten, sie ist aber immerhin aufgetaucht, und sei es nur wie ein Blitz, der in der Nacht eine anhaltende Aktivität der Trugbilder, ihr unterirdisches Wirken und die Möglichkeit ihrer eigenen Welt bezeugt. Besagt dies nicht noch mehr, an dritter Stelle, daß das Trugbild Anlaß bietet, sowohl den Begriff des Abbilds, als auch den Begriff des Urbilds anzufechten? Das Urbild geht in der Differenz unter, und gleichzeitig versinken die Abbilder in der Ungleichartigkeit der Reihen, die sie interiorisieren, ohne daß man jemals sagen könnte, welches das Abbild und welches das Urbild wäre. So der Schluß des Sophistes: der mögliche Triumph der Trugbilder, denn Sokrates unterscheidet sich vom Sophisten, der Sophist aber unterscheidet sich nicht von Sokrates und stellt die Legitimität einer derartigen Unterscheidung infrage. Götzenbilddämmerung. Wird damit nicht der Punkt bezeichnet, an dem die Identität des Urbilds und die Ähnlichkeit des Abbilds Irrtümer, das Selbe und das Ähnliche aus der Funktionsweise des Trugbilds geborene Illusionen sind? Das Trugbild funktioniert von alleine, indem es die dezentrierten Zentren der ewigen Wiederkunft immer von Neuem durchläuft. Dies ist nicht mehr das platonische Bestreben, den Kosmos dem Chaos gegenüberzustellen, als ob der Kreis Abdruck der transzendenten Idee wäre, die ihre Ähnlichkeit einer widerspenstigen Materie aufzudrücken vermag. Gerade das Gegenteil ist der Fall: die immanente Identität des Chaos mit dem Kosmos, das Sein in der ewigen Wiederkunft, ein weit eher unwuchtiger Kreis. Platon versuchte, die ewige Wiederkunft zu zähmen, indem er sie zur Wirkung der Ideen machte, d. h. indem er sie ein Urbild nachbilden ließ. Aber in der unendlichen Bewegung der von Abbild zu Abbild abgestuften Ähnlichkeit erreichen wir jenen Punkt, an dem sich alles wesentlich ändert, an dem sich das Abbild selbst zum Trugbild verkehrt, an dem schließlich die Ähnlichkeit, geistige Nachahmung, der Wiederholung weicht.
37 Zu diesem ,,anderen“ Urbild, das im Platonismus eine Art Äquivalent zum bösen Geist oder allmächtigen Betrüger bildet, vgl. Theaitetos, 176 e, und vor allem Timaios, 28 b ff. Die wesentlichen Texte zum Phantasiegebilde, zur Unterscheidung der Ebenbilder und Phantasiegebilde befinden sich in Sophistes, 235 e-236 d, 264 c-268 d (vgl. auch Politeia, X, 601 d ff.).
DRITTES KAPITEL DAS BILD DES DENKENS Das Problem des Anfangs in der Philosophie wurde mit vollem Recht immer als äußerst heikel angesehen. Denn Anfangen heißt alle Voraussetzungen ausschließen. Während man sich aber in der Naturwissenschaft mit objektiven Voraussetzungen konfrontiert sieht, die durch eine strenge Axiomatik ausgeschlossen werden können, sind die philosophischen Voraussetzungen subjektiv ebenso wie objektiv. Objektive Voraussetzungen nennt man Begriffe, die durch einen gegebenen Begriff explizit vorausgesetzt werden. So will etwa Descartes in der zweiten Meditation den Menschen nicht als animal rationale definieren, da eine derartige Definition die Begriffe des Vernünftigen und des Sinnenwesens explizit als bekannt voraussetzt: Indem er das Cogito als eine Definition darstellt, behauptet er also alle objektiven Voraussetzungen zu bannen, die die mit Gattung und Differenz operierenden Verfahrensweisen belasten. Es ist dennoch offenkundig, daß er Voraussetzungen anderer Art, nämlich subjektiven oder impliziten, nicht entkommt, d. h. Voraussetzungen, die in einem Gefühl und nicht in einem Begriff verpuppt sind: Es wird vorausgesetzt, daß jedermann ohne Begriff weiß, was Ich, Denken, Sein bedeute. Das reine Ich des Ich denke ist also ein Anschein von Anfang nur, weil es alle seine Voraussetzungen ins empirische Ich verlegt hat. Und auch wenn bereits Hegel dies Descartes vorhält, scheint er seinerseits nicht anders zu verfahren: Das reine Sein ist seinerseits ein Anfang nur, indem es alle seine Voraussetzungen ins empirische, sinnliche und konkrete Sein verlegt. Eine derartige Haltung, die in der Zurückweisung der objektiven Voraussetzungen besteht, vorausgesetzt allerdings, daß entsprechend viele subjektive Voraussetzungen vorgegeben werden (die übrigens vielleicht dieselben in anderer Form sind) - eine derartige Haltung nimmt noch Heidegger ein, wenn er sich auf ein vorontologisches Verständnis des Seins beruft. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß es keinen wahren Anfang in der Philosophie gibt, oder vielmehr, daß der wahre philosophische Anfang, d.h. die Differenz, an sich selbst bereits Wiederholung ist. Diese Formel aber, und die Erinnerung an die
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Philosophie als Zirkel, sind Gegenstände so vieler möglicher Deutungen, daß man nicht genug Vorsicht walten lassen kann. Wenn es sich nämlich darum handelt, am Ende wiederzufinden, was zu Beginn war, wenn es sich darum handelt, das, was ohne Begriff und auf implizite Weise bloß bekannt war, wiederzuerkennen, ans Licht zu ziehen, explizit zu machen oder auf den Begriff zu bringen - wie komplex die Ziehung auch sein mag, welche Unterschiede zwischen den Verfahrensweisen dieses oder jenes Autors auch bestehen mögen -, so läßt sich doch sagen, daß all dies noch zu einfach ist und daß der Kreis wahrhaftig nicht unwuchtig genug ist. Das Bild des Kreises würde für die Philosophie eher eine Unfähigkeit zum wirklichen Anfang, aber auch zur echten Wiederholung bezeugen. Ermitteln wir besser, was eine subjektive oder implizite Voraussetzung ist: Sie hat die Form des ,,Jedermann weiß, daß . . .“. Jedermann weiß, noch ohne Begriff und auf vorphilosophische Weise . . ., jedermann weiß, was Denken und Sein bedeutet . . ., so daß der Philosoph - wenn er sagt: Ich denke, also bin ich - das Universale seiner Prämissen, was Sein und Denken meint . . ., als implizit begriffen voraussetzen kann und niemand abzustreiten vermag, daß Zweifeln Denken sei und Denken Sein . . . Jedermann weiß, niemand vermag abzustreiten - dies ist die Form der Repräsentation und der Diskurs des Repräsentanten. Wenn die Philosophie ihren Anfang durch implizite oder subjektive Voraussetzungen absichert, so kann sie also Unschuld heucheln, da sie nichts beibehalten hat, außer freilich das Wesentliche, d. h. die Form dieses Diskurses. Also stellt sie dem Schulmeister den ,,Idioten“, Epistemon Eudoxus gegenüber, dem überreichen Verstand den guten Willen, dem von den Allgemeinheiten sein er Zeit verdorbenen Mann den Privatmann, der einzig mit seinem naturwüchsigen Denkvermögen begabt ist’. Die Philosophie schlägt sich auf die Seite des Idioten als eines Mannes ohne Voraussetzungen. In Wahrheit aber trifft Eudoxus nicht weniger Voraussetzungen als Epistemon, nur trifft er sie in einer anderen, impliziten oder subjektiven, ,,privaten” und nicht ,,öffentlichen“ Form, in Form eines naturwüchsigen Denkvermögens, die es der Philosophie erlaubt, sich den Anschein des Anfangens, eines voraussetzungslosen Anfangs zu geben. Hier jedoch erheben sich Schreie, vereinzelte und leidenschaftliche Schreie. Wie sollten sie nicht vereinzelt sein, da sie ja abstreiten, daß ,,jedermann wisse . . . “ ? Und wie nicht leidenschaftlich, da sie ja abstreiten, was niemand, wie man sagt, abzustreiten vermag? Dieser Protest geschieht nicht im Namen aristokratischer Vorurteile: Es geht nicht darum zu sagen, daß nur Wenige denken und wissen, was Denken heißt. Demgegenüber aber gibt es einen, und sei es nur einer, mit der nötigen Bescheidenheit, der es nicht schafft, davon
1 Vgl. Descartes: La rccherchc dc La vkrite par la lumi&c naturel/elDic Suche nach der Wahrheit durch das natürliche Licht, hg. v. G. Schmidt, Würzburg 1989.
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Kenntnis zu erhalten, was alle Welt weiß, und in aller Bescheidenheit abstreitet, was doch jedermann wiedererkennen2 soll. Einen, der sich nicht repräsentieren läßt, der aber ebensowenig was immer auch repräsentieren mag. Nicht ein Privatmann [particulier] mit gutem Willen und naturwüchsigem Denkvermögen, sondern ein Einzelner [singulier]3 voll bösen Willens, dem das Denken mißlingt, in der Natur ebenso wie im Begriff. Er allein ist ohne Voraussetzungen. Er allein beginnt wirklich und wiederholt wirklich. Und für ihn sind die subjektiven Voraussetzungen ebenso Vorurteile wie die objektiven, sind Eudoxus und Epistemon ein und derselbe Betrüger, dem man zu mißtrauen hat. Auf die Gefahr hin, den Idioten zu spielen, wollen wir dies wenigstens nach russischer Art tun: ein Mann aus dem Kellerloch, der sich in den subjektiven Voraussetzungen eines naturwüchsigen Denkvermögens ebensowenig wiedererkennt wie in den objektiven Voraussetzungen einer Kultur seiner Zeit und nicht über den Kompaß verfügt, um einen Kreis zu beschreiben. Ach ja, Schestow, und die Fragen, die er zu stellen weiß, der böse Wille, den er zu demonstrieren weiß, die Unfähigkeit zu denken, die er ins Denken hineinbringt, die doppelte Dimension, die er in diesen drängenden Fragen entfaltet, den radikalsten Anfang und die hartnäckigste Wiederholung zugleich betreffen. Eine Menge Leute verfolgen ihr eigenes Interesse mit der Behauptung, daß jedermann ,,dies“ wisse, daß jedermann dies anerkenne, daß niemand dies abstreiten könne. (Sie haben einen leichten Sieg, solange sich nicht ein verdrossener Gesprächsteilnehmer mit der Antwort erhebt, er wolle nicht auf diese Weise repräsentiert werden, er streite dies ab und er erkenne diejenigen, die in seinem Namen sprechen, nicht an.) Freilich geht der Philosoph unparteiischer vor: Was er als allgemein anerkannt setzt, ist nur die Bedeutung von Denken, Sein, Ich, d.h. nicht ein Dies, sondern die Form der Repräsentation oder der Rekognition überhaupt. Doch enthält diese Form Materie, allerdings eine reine Materie, ein Element. Dieses Element besteht nur in der Setzung des Denkens als natürlicher Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur des Denkens. Denn jedermann denkt von Natur aus, und jedermann sollte doch implizit wissen, w’as Denken bedeutet. Die allgemeinste Form der Repräsentation liegt also im Element eines Gemeinsinns als rechter Natur und guten Willens (Eudoxus und Orthodoxie). Die implizite Voraussetzung der Philosophie findet sich im Gemeinsinn als cogitatio natura univer.. salis, von der aus die Philosophie ihren Ausgang nehmen kann. ES ist zweck-
’ Frz. reconnaitre; vgl. Fußnote 5, S. 176 [A.d.Ü.]. Der Gegensatz von Privatmann und Einzelnem spielt hier also auf die Gegenüberstellung von Besonderem /particuLier/ u n d Singulärem [singulier] an [A.d.Ü.l.
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los, die Erklärungen der Philosophen zu vervielfältigen, von ,,Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“ bis hin zu ,,Der gesunde Verstand ist die bestverteilte Sache der Welt“, um die Existenz der Voraussetzung zu verifizieren. Denn diese gilt weniger aufgrund der expliziten Sätze, die sie provoziert, als aufgrund ihres hartnäckigen Fortbestands bei den Philosophen, die sie eben im Dunkeln lassen. Die Postulate der Philosophie sind nicht Sätze, deren Zugeständnis der Philosoph einfordert, sondern im Gegenteil Themen von Sätzen, die implizit bleiben und auf vorphilosophische Weise verstanden werden. In diesem Sinne ist die implizite Voraussetzung des philosophischen Begriffsdenkens ein vorphilosophisches und naturwüchsiges Bild des Denkens, das dem reinen Element des Gemeinsinns entlehnt ist. Diesem Bild zufolge ist das Denken dem Wahren zugeneigt, besitzt es das Wahre in formaler Hinsicht und will das Wahre in materieller Hinsicht. Und nach diesem Bild weiß jeder, sollte jeder wissen, was denken bedeutet. Es ist dann nicht sonderlich wichtig, ob die Philosophie mit dem Objekt oder mit dem Subjekt, mit dem Sein oder dem Seienden beginnt, solange das Denken diesem Bild unterworfen bleibt, das bereits alles, sowohl die Aufteilung von Subjekt und Objekt wie die von Sein und Seiendem, präjudiziert. Dieses Bild des Denkens können wir dogmatisches oder orthodoxes Bild, moralisches Bild nennen. Sicherlich besitzt es Varianten: So wird es etwa in den Annahmen der ,,Rationalisten“ und ,,Empiristen“ keineswegs auf gleiche Weise festgelegt. Und mehr noch: die Philosophen verspüren, wie wir sehen werden, in vielfacher Hinsicht Reue und lassen dieses implizite Bild nicht gelten, ohne es um zahlreiche, der expliziten Reflexion des Begriffs entstammende Züge zu ergänzen, die sich gegen es wenden und es zu stürzen versu- . chen. Es hält jedoch im Impliziten stand, selbst wenn der Philosoph präzisiert, alles in allem sei die Wahrheit ,,kein leicht zu erlangendes und für jeden zugängliches Ding“. Darum sprechen wir nicht von diesem oder jenem Bild des Denkens, das sich je nach Philosophie ändert, sondern von einem einzigen Bild überhaupt, das die subjektive Voraussetzung der Philosophie in ihrer Gesamtheit bildet. Nietzsche sagt, als er sich nach den allgemeinsten Voraussetzungen der Philosophie fragt, sie seien wesentlich moralisch, denn einzig die Moral könne uns davon überzeugen, daß das Denken eine gute Natur und der Denker einen guten Willen besitzen, und einzig das Gute könne die vorausgesetzte Affinität zwischen dem Denken und dem Wahren stiften. Was sonst denn als die Moral? Was sonst als jenes Gute, das das Denken dem Wahren und das Wahre dem Denken verschreibt . . . Seither kommen die Bedingungen einer Philosophie, die ohne Voraussetzungen irgendwelcher Art wäre, besser zur Geltung: Anstatt sich auf das moralische Bild des Denkens zu stützen, würde sie ihren Ausgangspunkt in einer radikalen Kritik des Bilds und der von ihm implizierten ,,Postulate“ nehmen. Sie würde ihre Differenz oder ihren wahren Anfang nicht in einem Einverständnis mit dem vorphilosophischen Bild, sondern in einem unerbittlichen Kampf gegen das als Nicht-
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Philosophie verurteilte Bild finden”. Entsprechend würde sie ihre echte Wiederholung in einem bildlosen Denken finden, und sei es um den Preis größter Zerstörungen, größter Demoralisierungen und einer Hartnäckigkeit der Philosophie, die nur das Paradox als Verbündeten hätte und auf die Form der Repräsentation wie auf das Element des Gemeinsinns verzichten müßte. Als ob das Denken nur durch die Befreiung vom Bild und von den Postulaten ZU denken beginnen und immer von Neuem beginnen könnte. Vergeblich sucht man die Lehre der Wahrheit umzuarbeiten, wenn man nicht zunächst die Postulate erfaßt, die dieses deformierende Bild vom Denken entwerfen.
De facto läßt es sich nicht von selbst verstehen, daß Denken die natürliche Ausübung eines Vermögens sei, daß dieses Vermögen eine gute Natur und einen guten Willen besitze. ,,Jedermann“ weiß sehr wohl, daß die Menschen de facto selten und eher unter Einwirkung eines Schocks als im Eifer einer Vorliebe denken. Und der berühmte Satz von Descartes, der gesunde Menschenverstand (das Vermögen zu denken) sei die bestverteilte Sache der Welt, beruht bloß auf einem alten Scherz, da er ja in der Erinnerung daran besteht, daß sich die Menschen allenfalls über einen Mangel an Gedächtnis, Einbildungskraft oder gar Gehör beklagen, hinsichtlich der Intelligenz und des Denkens aber stets annähernd dieselbe Meinung teilen. Wenn aber Descartes Philosoph ist, so deshalb, weil er sich dieses Scherzes bedient, um ein Bild des Denkens, wie es de jure ist, zu prägen: Die gute Natur und die Neigung zum Wahren würden dem Denken von Rechts wegen zukommen, wie groß die Schwierigkeit auch sein mag, den Rechtsanspruch in die Tatsachen zu übersetzen oder ihn hinter den Tatsachen wiederzufinden. Der naturwüchsige Menschenverstand oder Gemeinsinn wird folglich als Bestimmung des reinen Denkens begriffen. Sinn und Verstand bleibt es vorbehalten, ihre eigene Universalität zu präjudizieren; und sich als von Rechts wegen universal, als von Rechts wegen mitteilbar zu postulieren. Zur Erhebung, zur Wiederauffindung des
4 Feuerbach gehört ZU denen, die hinsichtlich des Problems des Anfangs am weitesten gegangen sind. Er prangert die impliziten Voraussetzungen in der Philosophie im allgemeinen und in der Philosophie Hegels im besonderen an. Er zeigt, daß die Philosophie nicht von ihrem Einverständnis mit einem vor-philosophischen Bild, sondern von ihrer ,,Differenz“ zur Nicht-Philosophie ausgehen muß. (Er glaubt allerdings, daß diese Forderung nach dem wahren Anfang ausreichend verwirklicht ist, wenn man vom empirischen, sinnlichen und konkreten Sein ausgeht.) - Vgl. Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, in: Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer, Berlin 1970, Bd. 9, S. 38-39.
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Rechtsanspruchs, d.h. zur Anwendung des wohlbegabten Geistes, ist eine explizite Methode nötig. Es ist also sicher de facto schwierig zu denken. Aber das Schwierigste de facto gilt als Leichtestes de jure; weshalb von der Natur des Denkens aus die Methode selbst leicht genannt wird (es ist nicht übertrieben zu sagen, dieser Begriff des Leichten vergifte den ganzen Kartesianismus). Wenn die Philosophie ihre Voraussetzung in einem Bild des Denkens findet, das rechtmäßige Geltung beansprucht, so können wir uns folglich nicht damit begnügen, es mit entgegengesetzten Tatsachen zu konfrontieren. Man muß die Diskussion auf die Ebene des Rechtsanspruchs selbst hinüberführen und ermitteln, ob dieses Bild nicht das Wesen selbst des Denkens als reines Denken verrät. Sofern es von Rechts wegen gilt, setzt dieses Bild eine gewisse Aufteilung des Empirischen und des Transzendentalen voraus; und eben diese Aufteilung muß beurteilt werden, d. h. jenes transzendentale Modell, das im Bild impliziert wird. Es gibt ja tatsächlich ein Modell, das der Rekognition. Die Rekognition definiert sich durch die Ausübung aller Vermögen auf ein Objekt, das als dasselbe vorausgesetzt wird: Dasselbe Objekt ist es, das gesehen, berührt, erinnert, imaginiert, begriffen . . . werden kann. Oder es ist, wie Descartes vom Wachsstück behauptet, ,, dasselbe, das ich sehe, das ich betaste, das ich mir bildlich vorstelle, kurz, dasselbe was ich von Anfang an gemeint habe“. Zweifellos hat jedes Vermögen seine besonderen Gegebenheiten, das sinnlich Erfahrbare, das Erinnerbare, das Vorstellbare, das Intelligible . . ., und seinen besonderen Stil, seine besonderen Akte, die das Gegebene besetzen. Ein Objekt aber wird erkannt, wenn es von einem Vermögen als identisch mit dem eines anderen angesehen wird, oder vielmehr wenn alle Vermögen zusammen ihr Gegebenes und sich selbst auf eine Identitätsform des Objekts beziehen. Die Rekognition beansprucht also ein subjektives Prinzip der Zusammenarbeit der Vermögen für ,,jedermann“, d.h. einen Gemeinsinn als concordia facultatum; und gleichzeitig beansprucht die Identitätsform des Objekts für den Philosophen einen Grund in der Einheit eines denkenden Subjekts, dessen andere Vermögen alle notwendig Modi sind. Dies ist der Sinn des Cogito als Anfang: Es verleiht der Einheit aller Vermögen im Subjekt Ausdruck, es verleiht also der Möglichkeit Ausdruck, die für alle Vermögen besteht, nämlich sich auf eine Objektform zu beziehen, die die subjektive Identität reflektiert, es verschafft der Voraussetzung des Gemeinsinns einen philosophischen Begriff, es ist der philosophisch gewendete Gemeinsinn. Bei Kant wie bei Descartes ist es die Identität des Ichs im Ich denke, die die Übereinstimmung aller Vermögen und ihren Einklang hinsichtlich der Form eines als dasselbe vorausgesetzten Objekts begründet. Man wird einwenden, daß wir niemals einem formalen Objekt, irgendeinem universalen Objekt überhaupt gegenüberstehen, sondern stets diesem oder jenem Objekt, das durch einen bestimmten Beitrag der Vermögen zugerichtet und spezifiziert wird. Hier aber muß die genaue Differenz zwischen zwei komplementären Instanzen, Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand, ins
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Spiel gebracht werden. Wenn nämlich der Gemeinsinn vom Standpunkt des reinen Ichs und der Form eines ihm entsprechenden Objekts überhaupt aus die Identitätsnorm darstellt, SO ist der gesunde Menschenverstand vom Standpunkt der empirischen Ichs und der jeweils einzeln qualifizierten Objekte aus die Verteilungsnorm (dasjenige, - weswegen er sich universal verteilt glaubt). Der gesunde Menschenverstand ist es, der den Beitrag der Vermögen in jedem einzelnen Fall bestimmt, wenn der Gemeinsinn die Form des Selben liefert. Und wenn das Objekt überhaupt nur als qualifiziertes existiert, so vollzieht sich umgekehrt die Qualifizierung nur durch die Annahme des Objekts überhaupt. Wir werden später sehen, wie gesunder Menschenverstand und Gemeinsinn damit ganz zwangsläufig einander im Bild des Denkens ergänzen: Sie beide allein bilden die beiden Hälften der Doxa. Für den Augenblick genügt es, die Voreiligkeit der Postulate selbst zu kennzeichnen: das Bild eines von Natur aus richtigen Denkens, das zudem weiß, was Denken bedeutet; das reine Element des Gemeinsinns, das sich daraus ,,von Rechts wegen“ herleitet; das Modell der Rekognition oder bereits die Form der Repräsentation, die sich ihrerseits daraus ergibt. Es wird angenommen, das Denken sei von Natur aus richtig, weil es kein Vermögen wie die anderen ist, sondern, bezogen auf ein Subjekt, die Einheit aller anderen Vermögen, die bloß seine Modi darstellen und von ihm auf die Form des Selben im Modell der Rekognition hin ausgerichtet werden. Das Modell der Rekognition ist im Bild des Denkens notwendig eingeschlossen. Und wenn man Platons Theaitetos, Descartes’ Meditationes, die Kritik der reinen Vernunft betrachtet, so ist es immer noch dieses Modell, das gebietet und die philosophische Analyse dessen, was Denken bedeutet, ,,ausrichtet“. Eine derartige Ausrichtung ist für die Philosophie fatal. Denn die Annahme der dreifachen Ebene eines von Natur aus richtigen Denkens, eines von Rechts wegen natürlichen Gemeinsinns, einer Rekognition als transzendentales Modell kann nur ein Orthodoxieideal ergeben. Die Philosophie verfügt über keinerlei Mittel mehr, ihr Projekt, den Bruch mit der Doxa, ZU verwirklichen. Sicher verwirft die Philosophie jede besondere Doxa; sicher hält sie keinen einzigen besonderen Satz des gesunden Menschenverstands oder des Gemeinsinns aufrecht. Sicher anerkennt sie nichts im besonderen. Sie bewahrt aber das W esentliche der Doxa, nämlich die Form; und das Wesentliche des Gemeinsinns, nämlich das Element; und das Wesentliche der Rekognition, nämlich das Modell (Übereinstimmung der Vermögen, die im als universal begriffenen denkenden Subjekt gründet und sich auf das Objekt überhaupt wendet) Das Bild des Denkens ist nur die Gestalt, in der man die Doxa universalisiert indem man sie auf rationale Ebene hebt. Man bleibt aber Gefangener der Doxa wenn man bloß von ihrem empirischen Inhalt abstrahiert, während man den Gebrauch der Vermögen wahrt, der ihr entspricht und implizit am Wesentlichen des Inhalts festhält. Mag man auch eine überzeitliche Form oder gar unterzeitliche, unterirdische erste Materie
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oder Urdoxa [i.O.dt.] entdecken - man wird dennoch keinen Schritt vorankommen, Gefangener derselben Höhle oder der Ideen der Zeit, mit deren ,,Wiederfinden“ man bloß kokettiert, indem man sie mit dem Zeichen des Philosophischen segnet. Niemals hat die Rekognition anderes als das Wiedererkennbare und Wiedererkannte5 geheiligt, niemals hat die Form anderes als Konformitäten eingegeben. Und wenn die Philosophie auf einen Gemeinsinn als ihre implizite Voraussetzung zurückgeht, WOZU braucht der Gemeinsinn dann die Philosophie, er, der - leider! - tagtäglich beweist, daß er sie nach seiner Fasson zurichten kann? Eine doppelte, zum Ruin führende Gefahr für die Philosophie. Einerseits ist es offenkundig, daß die Rekognitionsakte existieren und einen großen Teil unseres täglichen Lebens einnehmen: Das ist ein Tisch, das ist ein Apfel, das ist ein Wachsstück, guten Tag, Theaitetos. Wer aber kann glauben, daß hierin das Schicksal des Denkens auf dem Spiel steht und daß wir denken, wenn wir erkennen? Man mag wohl wie Bergson zwei Rekognitionstypen unterscheiden, die Rekognition der Kuh angesichts des Grases und die des Menschen, der seine Erinnerungen wachruft - der zweite Typ kann dennoch ebensowenig wie der erste ein Modell dessen, was Denken bedeutet, abgeben. Wir sagten, man müsse das Bild des Denkens hinsichtlich seiner recht-mäßigen Ansprüche und nicht den tatsächlichen Einwänden zufolge beurteilen. Was aber diesem Bild des Denkens zum Vorwurf gemacht werden muß, liegt eben darin, daß es sein vermeintliches Recht auf die Extrapolation gewisser Tatsachen, auf die Extrapolation besonders insignifikanter Tatsachen, auf die alltägliche Banalität höchstpersönlich, die Rekognition, gegründet hat, als ob das Denken seine Modelle nicht in ferneren und riskanteren Abenteuern suchen dürfte. Nehmen wir das Beispiel Kants: Unter allen Philosophen ist es Kant, der das ungeheure Gebiet des Transzendentalen entdeckt. Er gleicht einem großen Entdecker; keine andere Welt, sondern Gebirge oder Höhlenlandschaft dieser Welt. Doch was macht er? In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beschreibt er detailliert drei Synthesen, die den jeweiligen Beitrag der Denkvermögen ermessen, wobei sie alle in der dritten gipfeln, in der Synthese der Rekognition, die sich in der Form des Objekts überhaupt als Korrelat des Ich denke ausdrückt, auf das sich alle Vermögen beziehen. Es ist klar, daß Kant damit die sogenannten transzendentalen Strukturen auf die empirischen Akte eines psychologischen Bewußtseins durchpaust: Die transzendentale Synthese der Apprehension wird unmittelbar von einer empirischen Apprehension induziert usw. Zur Vertuschung eines so deutlich sicht-baren Vorgehens unterdrückt Kant diesen Text in der zweiten Auflage. Bes-
5 Frz. reconnaissa ble bzw. reconn 24: von reconnattre, das hier in einer Ambiguität von ,,erkennen”, ,,w iedererkennen“ und ,,anerkennen” verwendet ist; vgl. Fußnote 2, So 171 [A.d.ü.].
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s e r vertuscht, besteht die Abklatschmethode nichtsdestoweniger fort, mit all ihrem ,,Psychologismus“. Zum Zweiten ist die Rekognition nur als spekulatives Modell insignifikant, aber sie ist es nicht länger in den Zwecken, denen sie dient und zu denen sie u n s mitzieht. Das Erkannte ist ein Objekt, zugleich aber eine Bewertung des Objekts (die Werte sind sogar wesentlich an den durch den gesunden Menschenverstand vollzogenen Verteilungen beteiligt). Wenn die Rekognition ihre praktische Zweckmäßigkeit in den ,,bestehenden Werten“ findet, so bezeugt jegliches Bild des Denkens als Cogitatio natura unter diesem Modell eine beunruhigende Willfährigkeit. Tatsächlich scheint die Wahrheit, wie Nietzsche sagt, ,,ein bequemes und gemütliches Wesen [zu sein], ,welches allen bestehenden Gewalten wieder und wieder versichert, niemand solle ihrethalben irgendwelche Umstände haben; man sei ja nur ‘reine Wissenschaft’ [. . .]‘? Was ist das für ein Denken, das niemandem Böses tut, weder dem Denkenden noch den anderen? Das Zeichen der Rekognition feiert ein schauerliches Verlöbnis, in dem das Denken zum Staat ,,zurückfindet“, zur ,,Kirche“ zurückfindet, zu allen Werten der Zeit zurückfindet, die es scharfsinnig in die reine Form eines ewigen, auf ewig abgesegneten Objekts überhaupt eingehen ließ. Wenn Nietzsche die Schaffung neuer Werte und die Rekognition bestehender Werte unterscheidet, so darf diese Unterscheidung mit Sicherheit nicht auf relative, historische Art und Weise begriffen werden, als ob die geltenden Werte zu ihrer Zeit neu gewesen wären und als ob die neuen Werte bloß Zeit bräuchten, um sich häuslich einzurichten. In Wahrheit handelt es sich um eine formale und wesentliche Differenz, und in seiner Macht des Anfangs und des Neuanfangs bleibt das Neue für immer neu, wie das Bestehende von Anbeginn eingesessen war, selbst wenn es etwas empirische Zeit dauerte, bis man es anerkannte. Was sich im Neuen einrichtet, ist gerade nicht das Neue. Denn das Eigentliche des Neuen, d.h. die Differenz, liegt darin, Kräfte im Denken zu erwecken, die weder heute noch morgen der Rekognition zugehören, Mächte eines ganz anderen Modells, in einer niemals wiedererkannten oder wiedererkennbaren terra incognita. Und d u r c h welche Kräfte gelangt es ins Denken, von welchem Zentrum einer bösen Natur und eines bösen Willens aus, durch welchen zentralen Zusammenbruch, der das Denken seines ,,Angeborenseins“ beraubt und es stets von Neuem als etwas behandelt, das nicht schon immer existiert hat, sondern beginnt, gezwungen und genötigt? Wie lächerlich sind daneben die willkürlichen Kämpfe für die Rekognition. Kampf gibt es immer nur unter einem Gemeinsinn und im Umkreis bestehender Werte, mit dem Zweck, sich gängige Werte (Ehre, Reichtum, Herrschaft) zuzusprechen oder zuspre-
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Nietzsche: Unzeitgemäße a-a-o-, Bd. 1, S. 299.
Betrachtungen.
Schopenhauer als Erzieher, in: Werke,
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chen zu lassen. Seltsamer Kampf der Bewußtseine um die Eroberung der Trophäe, die durch die Cogitatio natura universalis gebildet wird, um die Trophäe der reinen Rekognition und Repräsentation. Nietzsche lachte beim bloßen Gedanken daran, daß es sich bei dem, was er Willen zur Macht nannte, um all dies handeln könnte. Und nicht nur Hegel, sondern auch Kant nannte er ,,philosophische Arbeiter“, weil ihre Philosophie von diesem untilgbaren Modell der Rekognition gezeichnet blieb. Dennoch schien Kant gerüstet, das Bild des Denkens zu stürzen. Den Begriff des Irrtums ersetzte er durch den der Illusion: innere, der Vernunft inhärente Illusionen, anstatt von außen herrührende Irrtümer, die bloß die Wirkung einer Kausalität des Körpers wären. An die Stelle des substantiellen Ichs setzte er das durch die Linie der Zeit gänzlich gespaltene Ich; und in ein und derselben Bewegung erlagen Gott und das Ich einer Art spekulativen Tods. Trotz allem aber wollte Kant nicht auf die impliziten Voraussetzungen verzichten, selbst auf die Gefahr hin, den Begriffsapparat der drei Kritiken aufs Spiel zu setzen. Das Denken mußte weiterhin über eine rechte Natur verfügen, und die Philosophie durfte nicht weiter und in keine anderen Richtungen als der Gemeinsinn selbst oder der ,,gemeine Verstand“ gehen. Die Kritik besteht dann höchstens darin, das Denken, das unter dem Gesichtspunkt seines Naturgesetzes betrachtet wird, in den Bürgerstand zu erheben: Kants Unternehmen vervielfältigt den Gemeinsinn, erzeugt soviele Gemeinsinne, wie es natürliche Interessen des vernünftigen Denkens gibt. Wenn es nämlich zutrifft, daß der Gemeinsinn überhaupt stets eine Zusammenarbeit der Vermögen unter einer Form des Selben oder ein Rekognitionsmodell impliziert, so bleibt nichtsdestoweniger bestehen, daß von Fall zu Fall ein aktives Vermögen neben den anderen damit beauftragt ist, diese Form oder dieses Vermögen zu liefern, dem die anderen ihren Beitrag unterstellen. Auf diese Weise arbeiten Einbildungskraft, Vernunft und Verstand in der Erkenntnis zusammen und bilden einen ,,l ogischen Gemeinsinn“; allerdings ist es der Verstand, der hier das gesetzgebende Vermögen darstellt und das spekulative Modell liefert, demgemäß die beiden anderen zur Mitarbeit angehalten sind. Hinsichtlich des praktischen Modells der Rekognition hingegen ist es die Vernunft, die im moralischen Gemeinsinn gesetzgebend wirkt. Freilich gibt es ein drittes Modell, in dem die Vermögen zu einem freien Zusammenspiel in einem spezifisch ästhetischen Gemeinsinn gelangen. Wenn alle Vermögen tatsächlich in der Rekognition überhaupt zusammenarbeiten, so unterscheiden sich die Formeln dieser Zusammenarbeit je nach den Bedingungen dessen, was erkannt werden soll, Erkenntnisobjekt, moralischer Wert, ästhetische Wirkung . . . Weit davon entfernt, die Form des Gemeinsinns zu stürzen, hat Kant ihn also bloß vervielfältigt. (Gilt nicht dasselbe für die Phänomenologie. ? Entdeckt diese nicht einen vierten Gemeinsinn, der sich nun auf die Sinnlichkeit als passiver Synthese gründet und dennoch, um eine Urdoxa [i.O.dt.] zu bilden, in der Form der Doxa gefangen
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bleibt?‘). Man sieht, bis zu welchem Punkt die Kantische Kritik letztendlich ehrenwert ist: Niemals werden die Erkenntnis, die Moral, die Reflexion, der Glaube selbst infragegestellt, da sie für Entsprechungen natürlicher Interessen der Vernunft gehalten werden, sondern nur der Gebrauch der Vermögen, den man gemäß des einen oder anderen dieser Interessen für gerechtfertigt oder ungerechtfertigt erklärt. Überall legt das variable Modell der Rekognition den richtigen Gebrauch fest, in einer Eintracht der Vermögen, die durch die Vorherrschaft eines Vermögens unter einem Gemeinsinn bestimmt wird. Darum läßt sich der illegitime Gebrauch (die Illusion) nur dadurch erklären: daß das Denken in seinem natürlichen Stand seine Interessen durcheinanderbringt und seine Herrschaftsgebiete widerrechtlich aufeinander’ übergreifen läßt. Was nicht verschlägt, daß es im Grunde über eine gute Natur, ein gutes Naturgesetz verfüge, dem die Kritik ihre bürgerrechtliche Billigung entgegenbringt; und daß die Herrschaftsgebiete, Interessen, Grenzen und Besitztümer geheiligt und auf einem unveräußerlichen Recht gegründet seien. Alles ist in der Kritik vorhanden, ein Friedensgericht, eine Registrierbehörde, ein Katasteramt - nur nicht die Macht einer neuen Politik, die das Bild des Denkens stürzen würde. Selbst der tote Gott und das gespaltene Ego sind bloß ein ungünstiger Moment, der vorübergeht, der spekulative Moment; besser eingebunden und zuverlässiger denn je, selbstsicherer erstehen sie von neuem, allerdings in einem anderen Interesse, im praktischen oder moralischen Interesse. Dies ist die Welt der Repräsentation allgemein. Wir sagten oben, die Repräsentation definiere sich durch gewisse Elemente: durch die Identität im Begriff, den Gegensatz in der Bestimmung des Begriffs, die Analogie im Urteil, die Ähnlichkeit im Objekt. Die Identität des Begriffs überhaupt konstituiert die Form des Selben in der Rekognition. Die Bestimmung des Begriffs impliziert den Vergleich der möglichen Prädikate mit ihrem jeweiligen Gegensatz, und zwar in einer doppelten, regressiven wie progressiven Reihe, welche einerseits
y Zum Gemeinsinn und zum Fortbestand des Modells der Rekognition vgl. Maurice Merleau-Pony Phenom&logie de la perception, Paris 1961, S. 276ff. u. 366ff.; dtJ’b&zomenoZogie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 281 ff. u. 363 ff. - Zur kantischen Theorie der Gemeinsinne vgl. vor allem: Kritik der Urteilskraft, § 18-22 und 40. Ebenso die Grundsatzerklärungen der Kritik der reinen Vernunft: ,,[. . -1 die höchste Philosophie [kann es] in Ansehung der menschlichen Natur [*. l 1 nicht weiterbringen [. . .], als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“; der ,,bloße Mißbrauch“ der Ideen der reinen Vernunft ,,muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trügerischer Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten” (Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 695 und 582).
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vom Erinnern, andererseits von einer Einbildungskraft durchlaufen wird, die auf ein Wiederfinden, auf eine Wiedererschaffung abzielt (erinnernd-imaginative Reproduktion). Die Analogie bezieht sich entweder auf die höchsten bestimmbaren Begriffe oder auf die Beziehungen der bestimmten Begriffe zu ihrem jeweiligen Objekt und appelliert an die Aufteilungsmacht in der Urteilskraft. Was das Begriffsobjekt an sich selbst oder im Verhältnis zu anderen Objekten betrifft, so verweist es auf die Ähnlichkeit als dem Requisitum einer Kontinuität in der Wahrnehmung. Jedes Element ruft also auf besondere Weise ein Vermögen wach, installiert sich aber zugleich von einem Vermögen zum anderen im Innern eines Gemeinsinns (so etwa die Ähnlichkeit zwischen einer Wahrnehmung und einem Erinnerungsvorgang). Das Ich denke ist das allgemeinste Prinzip der Repräsentation, d.h. die Quelle dieser Elemente und die Einheit all dieser Vermögen: Ich begreife, ich urteile, ich stelle mir vor und erinnere mich, ich nehme wahr - als die vier Äste des Cogito. Und eben an diesen Ästen wird die Differenz gekreuzigt. Eine vierfache Zwangsjacke, in der einzig das als unterschieden gedacht werden kann, was identisch, ähnlich, analog und entgegengesetzt ist; die Differenz wird zum Gegenstand der Repräsentation immer nur im Verhältnis zu einer begriffenen Identität, einer beurteilten Analogie, eines vorgestellten Gegensatzes, einer wahrgenommenen Ähnlichkeit8. Man verleiht der Differenz einen zureichenden Grund als principium comparationis in dieser vierfachen Gestalt zugleich. Darum ist die Welt
der Repräsentation durch ihre Unfähigkeit, die Differenz an sich selbst ZU denken, gekennzeichnet; und ebenso durch die Unfähigkeit, die Wiederholung [repetition] für sich selbst zu denken, da diese nurmehr über die Rekognition, die Aufteilung [repartition], die Reproduktion, die Ähnlichkeit [ressemblance] erfaßt wird, sofern sie das Präfix RE in den bloßen Allgemeinheiten der Repräsentation veräußern. Das Postulat der Rekognition war also ein -erster Schritt in Richtung auf ein noch sehr viel allgemeineres Postulat der Repräsentation.
,,Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen einiges, was gar nichtdie Vernunft zum Nachdenken auffordert, als werde es schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was auf alle Weise jene herbeiruft zum Nachdenken, als ob dabei die Wahrnehmung nichts Gesundes ausrichte. - Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur von Ferne zeigt und was nach Licht und Schatten gezeichnet ist. - Diesmal,
8 Zur doppelten Unterordnung der Differenz unter die begriffene Identität und die wahrgenommene Ähnlichkeit in der ,,klassischen“ Welt der Repräsentation vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966, S. 66ff. und 82 ff.; dt.: Die 1971, S. 84 ff. und 103 ff. Ordnung der Dinge, Frankfurt/M.
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sprach ich, hast du nicht SO recht getroffen, was ich meine . . .cC9. Dieser Text unterscheidet also zwei Arten von Dingen: diejenigen, von denen das Denken nicht behelligt wird, und (Platon wird es weiter unten sagen) diejenigen, die zum Denken nötigen. Die ersteren sind die Objekte der Rekognition. Das Denken und all seine Vermögen mag mit ihnen hinreichend beschäftigt sein; das Denken mag sie sich angelegen sein lassen, aber diese Angelegenheit und diese Beschäftigung haben nichts mit Denken zu tun. Bei ihnen wird das Denken nur mit einem Bild seiner selbst erfüllt, in dem es sich um so besser erkennt, als es die Dinge erkennt: Das ist ein Finger, das ist ein Tisch, guten Tag, Theaitetos. Daher die Frage von Sokrates’ Gesprächspartner: Denkt man wahrhaft dann, wenn man nicht oder nur mit Mühe erkennt? Der Gesprächspartner scheint bereits Kartesianer zu sein. Es ist aber klar, daß uns das Zweifelhafte nicht aus dem Standpunkt der Rekognition heraustreten läßt. Darum ruft es auch nur einen lokalen Skeptizismus hervor, oder eine verallgemeinerte Methode, wenn nur das Denken bereits den Willen zur Erkenntnis dessen hat, wodurch sich Gewißheit und Zweifel wesentlich unterscheiden. Mit den zweifelhaften Dingen verhält es sich wie mit den gewissen: Sie setzen den guten Willen des Denkenden und die gute Natur des Denkens voraus, die als Ideal der Rekognition begriffen werden, jene vorgebliche Neigung zum Wahren, jene qxhicx, die zugleich das Bild des Denkens und den Begriff der Philosophie vorherbestimmt. Und die gewissen Dinge nötigen ebensowenig wie die zweifelhaften zum Denken. Daß die drei Winkel eines Dreiecks notwendig zwei rechten Winkeln gleich sind - damit wird das Denken vorausgesetzt, der Wille zum Denken, der Wille, ans Dreieck und noch an seine Winkel zu denken: Descartes bemerkte, daß man diese Gleichheit nicht leugnen könne, wenn man sie denkt, daß man aber sehr wohl denken, selbst ans Dreieck denken könne, ohne an diese Gleichheit zu denken. Alle Wahrheiten dieser Art sind hypothetischer Natur, da sie unfähig sind, den Akt des Denkens im Denken entstehen zu lassen, da sie all das voraussetzen, was infragesteht. In Wahrheit bezeichnen die Begriffe immer nur Möglichkeiten. Ihnen fehlt eine Kralle, die die der absoluten Notwendigkeit wäre, d. h. einer ursprünglichen Gewalt, die dem Denken zugefügt würde, einer Fremdheit, einer Feindschaft, die allein es aus seinem naturwüchsigen Stupor oder seiner ewigen Möglichkeit heraustreiben könnte: so sehr gibt es Denken nur als unwillkürliches, als im Denken hervorgerufenen Zwang, der um so mehr absolute Notwendigkeit besitzt, als er einbruchartig aus dem Zufälligen der Welt entsteht . Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der Feind, und nichts setzt die Philosophie voraus, alles beginnt mit einer Misosophie. Zählen wir nicht auf das Denken, um die relative Notwendigkeit dessen,
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Platon: Politeia, VIII, 523 b ff. [Sc hl eiermachers A.d.ü.1.
Übersetzung leicht verändert;
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was es denkt, zu festigen, sondern im Gegenteil auf die Kontingenz einer Begegnung mit dem, was zum Denken nötigt, um die absolute Notwendigkeit eines Denkakts, einer Leidenschaft zum Denken aufzureizen und anzustacheln. Die Bedingungen einer wahrhaften Kritik und einer wahrhaften Schöpfung sind die nämlichen: Zerstörung des Bilds eines Denkens, das sich selbst voraussetzt, Genese des Denkakts im Denken selbst. Es gibt etwas in der Welt, das zum Denken nötigt. Dieses Etwas ist Gegenstand einer fundamentalen Begegnung, und nicht einer Rekognition. Was einem begegnet, mag Sokrates, der Tempel oder der Dämon sein. Es mag in verschiedenen affektiven Klangfarben erfaßt werden, Bewunderung, Liebe, Haß, Schmerz. In seinem ersten Merkmal aber, und in ganz gleich welcher Klangfarbe, kann es nur empfunden werden. Gerade in dieser Hinsicht widersetzt es sich der Rekognition. Denn das Sinnliche ist in der Rekognition keineswegs das, was nur empfunden werden kann, sondern dasjenige, was sich unmittelbar auf die Sinne in einem Objekt bezieht, das erinnert, imaginiert, begriffen werden kann. Das Sinnliche ist nicht nur auf ein Objekt bezogen, das mehr als bloß empfunden werden kann, es kann vielmehr selbst von anderen Vermögen intendiert werden. Es setzt also den Gebrauch der Sinne und den Gebrauch der anderen Vermögen in einem Gemeinsinn voraus. Dagegen läßt das Objekt der Begegnung wirklich die Sinnlichkeit im Sinn entstehen. Dies ist kein aio@@v, sondern ein aio0qi;Eov. Das ist keine Qualität, sondern ein Zeichen. Kein sinnliches Sein, sondern das Sein des Sinnlichen. Nicht das Gegebene, sondern das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Darum ist es in gewisser Weise auch das Unsinnliche. Das Unsinnliche gerade vom Standpunkt der Rekognition aus, d h vom Standpunkt eines empirischen Gebrauchs, in dem die Sinnlichkeit nur d as erfaßt, was auch andere Vermögen erfassen können, und sich unter einem Gemeinsinn auf ein Objekt bezieht, das auch von den anderen Vermögen aufgefaßt werden muß. Angesichts dessen, was nur empfunden werden kann (des Unsinnlichen zugleich), befindet sich die Sinnlichkeit vor einer ihr eigenen Grenze - dem Zeichen - und schwingt sich zu einem transzendenten Gebrauch auf - der n-ten Potenz. Der Gemeinsinn ist nicht mehr da, um den spezifischen Beitrag der Sinnlichkeit unter Voraussetzung einer gemeinsamen Arbeit zu begrenzen; diese tritt in ein diskordantes Spiel ein, ihre Organe werden metaphysisch. Zweites Merkmal: Was nur empfunden werden kann (das sentiendum oder das Sein des Sinnlichen) erschüttert die Seele, macht sie ,,perplex”, d. h. zwingt sie, ein Problem zu stellen. Als ob der Gegenstand der Begegnung, das Zeichen, Träger des Problems wäre - als ob er problematisch wäre”. Muß man, in
10 Ebd., 524 a-b - Man wird bemerken, wie Gaston Bachelard in Le rationalisme dppZique (Paris’ 1949, S. 55-56) das P r o bl em oder das Träger-Objekt des Problems dem kartesianischen Zweifel gegenüberstellt und das Modell der philosophischen Rekognition denunziert.
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Übereinstimmung mit anderen Texten Platons, das Problem oder die Frage mit dem singulären Objekt eines transzendentalen Gedächtnisses identifizie-
ren, das einen Lernprozeß auf diesem Gebiet ermöglicht, indem es das erfaßt, was nur erinnert werden kann? Alles weist darauf hin; denn die Platonische Wiedererinnerung will tatsächlich das Sein der Vergangenheit fassen, Unvordenkliches oder memorandum, und zugleich mit einem wesentlichen Vergessen geschlagen, gemäß dem Gesetz des transzendenten Gebrauchs, das bestimmt, daß das, was nur erinnert werden kann, zugleich unmöglich (im empirischen Gebrauch) zu erinnern ist. Es besteht ein großer Unterschied zwischen diesem wesentlichen Vergessen und einem empirischen Vergessen. Das empirische Gedächtnis wendet sich an Dinge, die auf andere Weise erfaßt werden können oder gar müssen: Was ich erinnere, muß ich gesehen, gehört, mir vorgestellt oder gedacht haben. Im empirischen Sinn ist das Vergessene dasjenige, was man nicht wieder ins Gedächtnis zu rufen vermag, wenn man es ein zweites Mal sucht (es liegt zu weit zurück, das Vergessen trennt mich von der Erinnerung oder hat sie gelöscht). Das transzendentale Gedächtnis aber erfaßt das, was beim ersten Mal, vom ersten Mal an nur erinnert werden kann: nicht eine kontingente Vergangenheit, sondern das Sein der Vergangenheit als solcher, seit jeher vergangen. Als vergessenes so erscheint das Ding leibhaftig, und zwar dem Gedächtnis, das es dem Wesen nach auffaßt. Es wendet sich nicht ans Gedächtnis, ohne sich zugleich ans Vergessen im Gedächtnis zu wenden. Das memorandum ist hier zugleich das Unerinnerbare, das Unvordenkliche. Das Vergessen ist nicht mehr eine kontingente Unfähigkeit, die uns von einer selbst kontingenten Erinnerung trennt, es existiert vielmehr in der wesentlichen Erinnerung als der n-ten Potenz des Gedächtnisses, hinsichtlich seiner Grenze oder hinsichtlich dessen, was nur erinnert werden kann. Dasselbe galt für die Sinnlichkeit: Dem kontingenten Sinnlichen, das für unsere Sinn; im empirischen Gebrauch zu klein und zu weit entfernt ist, steht ein wesentliches Unsinnliches gegenüber, d a s mit dem verschmilzt, was vom transzendenten Gebrauch-aus gesehen nur empfunden werden kann. Nun also nötigt die Sinnlichkeit, die durch die Begegnung genötigt wurde, das sentiendum ZU empfinden, ihrerseits das Gedächtnis, sich des memorandum zu erinnern, dessen, was nur erinnert werden kann. Und schließlich nötigt - drittes Merkmal - das transzendentale Gedächtnis seinerseits das D enken dazu, das zu erfassen, was nur gedacht werden kann, das cogitandum, das YO@OV, das Wesen: nicht das Intelligible, denn dieses ist immer noch bloß der Modus, in dem man denkt, was nicht unbedingt nur gedacht werden muß, sondern das Sein des Intelligiblen als höchster Potenz des Denkens und zugleich das Undenkbare. Vom sentiendum zum cogitandum hat sich die Gewalt dessen entfaltet, was zum Denken nötigt. Jedes Vermögen ist aus seinen Angeln gehoben. Was aber sind die Angeln, wenn nicht die Form des Gemeinsinns, der alle Vermögen kreisen und konvergieren ließ? Jedes davon hat seinerseits und in seiner Ordnung die Form des Gemeinsinns, der es im
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empirischen Element der doxa festhielt, aufgebrochen, um seine n-te Potenz wie das Element des Paradoxons im transzendenten Gebrauch zu erlangen. Anstatt daß alle Vermögen konvergieren und dem gemeinsamen Bemühen zur Erkenntnis eines Objekts zuarbeiten, wohnt man einem divergenten Bemühen bei, wobei jedes Vermögen hinsichtlich dessen, was es wesentlich betrifft, seinem ,,Eigenen” gegenübergestellt wird. Zwietracht der Vermögen, Angriffskette oder Schützenkordon, wo jedes seiner Grenze trotzt und vom anderen nichts weiter erfährt (oder ihm nichts weiter mitteilt) als eine Gewalt, die es mit seinem eigenen Element wie mit seinem disparaten und unvergleichlichen konfrontiert. Verweilen wir dennoch bei der Art und Weise, mit der Platon die Natur der Grenzen im jeweiligen Fall bestimmt. Der Text der Politeia definiert das, was wesentlich Gegenstand der Begegnung ist und sich notwendig von jeglicher Rekognition unterscheidet, als ,,Empfindung, die zugleich ihr Gegensatz is tCc . Während der Finger immer nur ein Finger und stets ein Finger ist, der die Erkenntnis wachruft, ist das Harte niemals hart, ohne zugleich weich zu sein, da es untrennbar mit einem Werden oder einer Relation verbunden ist, die den Gegensatz in es hineintragen (entsprechend das Große und das Kleine, das Eine und das Viele). Die Koexistenz der Gegensätze, die Koexistenz des Mehr und des Weniger in einem unbegrenzten qualitativen Werden also ist es, die das Zeichen oder den Ausgangspunkt dessen bildet, was zu denken nötigt. Die Rekognition dagegen bemißt und begrenzt die Qualität, indem sie sie auf etwas bezieht, sie bringt deren Verrückt-Werden zum Stillstand. Verwechselt Platon aber, indem er die erste Instanz durch diese Form von Gegensatz oder qualitativer Kontrarietät definiert, nicht bereits das Sein des Sinnlichen mit einem bloßen sinnlichen Sein, mit einem reinen qualitativen Sein (a;o@t@v)? Der Verdacht verstärkt sich, sobald man die zweite Instanz, die Instanz der Wiedererinnerung betrachtet. Denn die Wiedererinnerung bricht nur scheinbar mit dem Modell der Rekognition. Sie begnügt sich eher damit, deren Schema zu komplizieren: Während sich die Erkenntnis auf ein wahrnehmbares oder wahrgenommenes Objekt bezieht, betrifft die Wiedererinnerung ein anderes Objekt, von dem man annimmt, es sei mit dem ersten assoziiert oder eher noch in ihm verhüllt, ein Objekt, das den Anspruch erhebt, unabhängig von einer distinkten Wahrnehmung für sich selbst erkannt zu werden. Dieses andere, im Zeichen verhüllte Ding, müßte zugleich das NieGesehene /jamais-vu] und dennoch Schon-Wiedererkannte [dejd-reconnti], die Unheimlichkeit sein. Es ist dann verführerisch, als Dichter zu sprechen und zu sagen, daß dies gesehen worden sei, allerdings in einem anderen Leben, in einer mythischen Gegenwart: Du bist die Ähnlichkeit.. . Damit aber ist alles preisgegeben: zunächst die Natur der Begegnung, insofern diese der 1Rekognition nicht eine besonders schwierige Prüfung, eine besonders schwer aufzufaltende Hülle bietet, sondern sich jeder möglichen Rekognition widersetzt. Sodann die Natur des transzendentalen Gedächtnisses
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und dessen, was nur erinnert werden kann; denn diese zweite Instanz wird nur in Form der Gleichartigkeit in der Wiedererinnerung begriffen. Und
zwar in einem Maße, daß sich derselbe Einwand erhebt; die Wiedererinnerung verwechselt das Sein der Vergangenheit mit einem vergangenen Sein und beruft sich, da sie keinen empirischen Moment festmachen kann, an dem diese Vergangenheit gegenwärtig war, auf eine ursprüngliche oder mythische Gegenwart. Die Größe des Begriffs der Wiedererinnerung (und der Grund, warum er sich radikal vom kartesianischen Begriff des Angeborenseins unterscheidet) liegt darin, daß er die Zeit, die Dauer der Zeit ins Denken als solches einführt: Dadurch erwirkt er eine dem Denken eigentümliche Opazität und bezeugt dabei eine böse-Natur wie einen bösen Willen, die von außen, durch die Zeichen erschüttert werden müssen. Weil aber, wie wir gesehen haben, die Zeit hier nur als physischer Zyklus und nicht in ihrer reinen Form oder ihrem Wesen eingeführt ist, unterstellt man dem Denken immer noch eine gute Natur, eine strahlende Klarheit, die sich in den Widrigkeiten des natürlichen Zyklus’ bloß verdunkelt oder verirrt haben. Die Wiedererinnerung bietet dem Modell der Rekognition noch Zuflucht; und nicht weniger als Kant kopiert Platon den Gebrauch des transzendentalen Gedächtnisses nach der Figur des empirischen Gebrauchs (wie es in der Darstellung des Phaidon ganz deutlich zu erkennen ist).
Was die dritte Instanz betrifft, die Instanz des reinen Denkens oder dessen, was nur gedacht werden kann, so bestimmt Platon sie als den abgetrennten Gegensatz: die Größe, die nichts anderes als groß ist, die Kleinheit, die nichts anderes als klein ist, die Schwere, die nur schwer, die Einheit, die nur eine ist - dies also werden wir unter dem Druck der Wiedererinnerung zu denken genötigt. Folglich ist es die Form der realen Identität (das Selbe als (li!~O ~aCYc&o begriffen), die nach Platon das Wesen definiert. All das gipfelt im großen Prinzip: daß es trotz und vor allem eine Affinität, eine Filiation oder, wie man vielleicht besser sagen würde, ein Philiation des Denkens zum Wahren gibt, kurz: eine gute Natur und ein gutes Verlangen, die in letzter Instanz auf der Analogieform im Guten gründen. So daß Platon, der den Text der Politeia schrieb, auch der erste war, der das dogmatische und moralisierende Bild des Denkens erstellte, das diesen Text neutralisiert und ihn nur noch als eine ,,Bußübung”” funktionieren läßt. Wo Platon den höheren oder transzendenten Gebrauch der Vermögen entdeckt, ordnet er ihn den Formen des Gegensatzes im Sinnlichen, der Gleichartigkeit in der Wiedererinnerung, der Identität im Wesen und der Analogie im Guten
11 Frz. wpcntir: Reue, Buße, aber auch die Abänderung einer Zeichnung beziehungsweise eines Gemäldes bei der Ausführung oder die Korrekturen während des Schreibens [A.d.Ü.]. .
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unter; damit bereitet er der Welt der Repräsentation den Boden, er vollzieht die erste Verteilung ihrer Elemente und verdeckt bereits den Gebrauch des. Denkens mit einem dogmatischen Bild, durch das es voraussetzt und preisgegeben wird. Die transzendentale Form eines Vermögens verschmilzt mit seinem gesonderten, höheren oder transzendenten Gebrauch. Transzendent bedeutet keineswegs, daß sich das Vermögen an Objekte außerhalb der Welt richtet, sondern im Gegenteil, daß es innerhalb der Welt das erfaßt, von dem ’ es ausschließlich betroffen ist und in der Welt erzeugt wird. Wenn der transzendente Gebrauch kein Abklatsch des empirischen sein darf, so gerade deshalb, weil er auffaßt, was nicht von einem Gemeinsinn aus erfaßt werden kann, welcher die empirische Anwendung aller Vermögen beurteilt, und zwar nach Maßgabe dessen, was jedem von ihnen in der Form ihrer Zusammenarbeit zukommt. Darum untersteht das Transzendentale seinerseits einem höheren Empirismus, der allein dessen Herrschaftsbereich oder dessen Gebiete zu erforschen vermag, d a es, im Gegensatz zu Kants Ansicht, nicht aus den gewöhnlichen empirischen Formen, wie sie unter der Bestimmung des Gemeinsinns erscheinen, erschlossen werden kann. Der Mißkredit, in den heute die Lehre von den Vermögen geraten ist, dieses trotz allem durchweg notwendige Teilstück im System der Philosophie, erklärt sich durch die Verkennung dieses spezifisch transzendentalen Empirismus, den man vergeblich durch einen Abklatsch des Transzendentalen vom Empirischen ersetzte. Jedes Vermögen muß an den äußersten Punkt seiner Störung getrieben werden, an dem es gleichsam zur Beute einer dreifachen Gewalt wird, der Gewalt dessen, wodurch es zum Vollzug genötigt wird, der Gewalt dessen, was zu erfassen es genötigt wird und was allein es zu erfassen vermag, obgleich dieses (vom Standpunkt des empirischen Gebrauchs aus) auch das Unfaßbare ist. Dreifache Grenze der letzten Macht [puissance]. Jedes Vermögen stößt dann auf die Leidenschaft, die ihm eignet, d.h. auf seine radikale Differenz und seine ewige Wiederholung, auf sein differentielles und repetitives Element, gleichsam die augenblickliche Zeugung seines A kts und d a s ewige Wiederkäuen seines Objekts, seine Ar t z u entstehen, indem e s bereits wiederholt. Wir fragen etwa: Was nötigt die Sinnlichkeit dazu, zu empfinden? Und was kann nur empfunden werden? Und ist zugleich das NichtSinnliche? Und diese Frage müssen wir überdies nicht nur hinsichtlich des Gedächtnisses und des Denkens stellen, sondern auch hinsichtlich der Einbildungskraft - gibt es ein imaginandum, ein cpawadov, das zugleich die Grenze, das unmöglich Imaginierbare ist? Gibt es für die Sprache ein loquendum, das zugleich Schweigen ist ? Und für andere Vermögen, die ihren Platz wiederum in einer vollständigen Lehre finden würden - die Vitalität, deren transzendentes Objekt auch das Ungeheuer wäre, die Soziabilität, deren transzendentes Objekt auch die Anaichie wäre -, und schließlich hinsichtlich noch ungeahnter Vermögen, die zur Entdeckung
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anstehen 12. Denn es läßt sich nichts im Voraus sagen, man kann der Suche nicht vorgreifen: Möglich, daß sich bei manchen, bekannt-allzubekannten Vermögen das Fehlen einer eigenen Grenze, eines Verbaladjektivs herausstellt, da sie nicht aufgezwungen werden und sich nur in Form des Gemeinsinns dem Gebrauch stellen; möglich aber auch, daß neue Vermögen aufkommen, die durch diese Form des Gemeinsinns verdrängt wurden. Diese Ungewißheit hinsichtlich der Ergebnisse der Suche, diese Komplexität im Studium des besonderen Falls jedes Vermögens sind für eine Lehre allgemein keineswegs beklagenswert; der transzendentale Empirismus ist im Gegenteil das einzige Mittel dafür, das Transzendentale nicht von den Gestalten des Empirischen abzupausen. Wir beschäftigen uns hier nicht mit der Erstellung einer derartigen Lehre der Vermögen. Wir versuchen nur, die Natur ihrer Forderungen zu bestimmen. In dieser Hinsicht aber können die platonischen Bestimmungen nicht befriedigend sein. Denn es sind nicht schon vermittelte und auf die Repräsentation bezogene Gestalten, sondern im Gegenteil freie oder wilde Zustände der Differenz an sich selbst, die die Vermögen an ihre jeweiligen Grenzen zu treiben vermögen. Nicht der qualitative Gegensatz im Sinnlichen, sondern ein Element, das an sich selbst Differenz ist, erzeugt zugleich die Qualität im Sinnlichen und den transzendenten Gebrauch in der Sinnlichkeit: Dieses Element ist die Intensität als reine Differenz an sich, es ist das Unsinnliche für die empirische Sinnlichkeit, welche Intensität nur insofern erfaßt, als sie bereits durch die von ihr erzeugte Qualität verdeckt und vermittelt ist; und es ist doch zugleich dasjenige, was nur empfunden werden kann, und zwar von der transzendenten Sinnlichkeit aus, die es unmittelbar in der Begegnung auffaßt. Und wenn die Sinnlichkeit ihren Zwang auf die Einbildungskraft überträgt, wenn sich die Einbildungskraft ihrerseits zum transzendenten Gebrauch erhebt, so ist es das Phantasiegebilde, die Disparität im Phantasiegebilde, die
12 Der Fall der Einbildungskraft:
Dieser Fall ist der einzige, in dem Kant ein von der Form des Gemeinsinns-gelostes Vermögen in Betracht zieht und, was sie betrifft, einen legitimen und wahrhaft ,,transzendenten“ Gebrauch entdeckt. Freilich untersteht die schematisierende Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft noch dem sogenanten logischen Gemeinsinn; untersteht die reflektierende Einbildungskraft im Geschmacksurteil noch dem ästhetischen Gemeinsinn. Im Erhabenen aber ist die Einbildungskraft nach Kant genötigt, gezwungen, ihrer eigenen Grenze zu ihrem Maximum, das zugleich das Unvorstellbare, das trotzen, ihrem cpov’too’~Iov, Formlose oder Ungestalte in der Natur ist (Kritik der Urteilskraft, § 26). Und sie überträgt ihren Zwang aufs Denken, das seinerseits genötigt ist, das Übersinnliche zu denken, als Grund der Natur und des Denkvermögens: Denken und Einbildungskraft begeben sich hier in eine wesentliche Diskordanz, in eine wechselseitige Gewalt, die einen neuen Typ von Einklang bedingt (§ 27). So daß das Modell der Rekognition oder die Form des Gemeinsinns im Erhabenen zu Gunsten einer ganz anderen Konzeption des Denkens ins Unrecht gesetzt werden (§ 29).
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das cpccv~c~o-c~ov bildet, dasjenige, was nur imaginiert werden kann, das empirische Nicht-Imaginierbare. Und wenn der Augenblick des Gedächtnisses eintritt, so ist es nicht die Gleichartigkeitkeit in der Wiedererinnerung, sondern im Gegenteil das Unähnliche in der reinen Form der Zeit, das das Unvordenkliche eines transzendenten Gedächtnisses ausmacht. Und es ist ein durch diese Form der Zeit gespaltenes Ego, das sich schließlich genötigt sieht, dasjenige zu denken, was nur gedacht werden kann, nicht das Selbe, sondern jenen transzendenten ,, aleatorischen Punkt“, das von Natur aus stets Andere, in dem alle Wesenheiten als Differentiale des Denkens umhüllt werden und das die höchste Macht [puissance] des Denkens nur dadurch meint, daß es immer auch das Undenkbare oder die Unfähigkeit [impuissance] zu denken in der empirischen Anwendung bezeichnet. Man erinnere sich der profunden Texte Heideggers, die zeigen, daß das Denken, solange es bei der Voraussetzung seiner guten Natur und seines guten Willens, unter der Form eines Gemeinsinns, einer ratio, einer cogitatio natura universalis verharrt, gar nichts denkt und Gefangener der Meinung, in einer abstrakten Möglichkeit erstarrt 8 bleibt . . .: ,,Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat. Allein dieses Mögliche verbürgt uns noch nicht, daß wir es vermögen“; das Denken denkt nur, insofern es angesichts dessen, was ,,zu denken gibt“, des Bedenklichen, dazu gezwungen und genötigt wird - und das Bedenkliche ist zugleich das Undenkbare oder das Nicht-Denken, d.h. das beständige Faktum, daß ,,wir noch nicht denken“ (gemäß der reinen Form der Zeit)13. Freilich geht auf dem Weg, der auf das Bedenkliche hinführt, alles von der Sinnlichkeit aus. Vom Intensiven zum Denken - stets ist es eine Intensität, durch die uns das Denken zustößt. Das Privileg der Sinnlichkeit als Ursprung erscheint darin, daß das, was zur Empfindung nötigt, und das, was nur empfunden werden kann, in der Begegnung ein und dasselbe sind, während die beiden Instanzen in den anderen Fällen voneinander geschieden sind. Denn das Intensive, die Differenz in der Intensität, ist zugleich das Objekt der Begegnung und das Objekt, zu dem die Begegnung die Sinnlichkeit emporhebt. Nicht die Götter sind es, denen man begegnet; selbst als verborgene sind die Götter bloß Formen für die Rekognition. Man begegnet vielmehr den Dämonen, Mächten des Sprungs, des Intervalls, des Intensiven oder des l3 Heidegger: Was beißt Denken ?, Tübingen 1954, S. 1-2. - Allerdings hält Heidegger am Thema eines Wunsches, einer qxhia fest, am Thema einer Analogie oder besser Homologie zwischen dem Denken und dem, was gedacht werden muß. Das kommt daher, daß er den Vorrang des Selben beibehält, selbst wenn von diesem angenommen wird, daß es die Differenz als solche versammle und enthalte. Daher die Metaphern der Gabe, die die der Gewalt ersetzen. In all diesen Hinsichten verzichtet Heidegger nicht auf das, was wir oben die subjektiven Voraussetzungen genannt haben. Wie man es in Sein und Zeit (Tübingen 1972, S. 5-6) sieht, gibt es tatsachlich ein vorontologisches und unausdrückliches Seinsverständnis, obwohl sich, wie Heidegger präzisiert, der explizite Begriff nicht daraus ergeben darf.
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Augenblicks, die die Differenz nur mit Differentem ausfüllen; sie sind die Zeichen-Träger. Und das ist das Wichtigste: Von der Sinnlichkeit zur Einbildungskraft, von der Einbildungskraft zum Gedächtnis, vom Gedächtnis zum Denken - wenn jedes gesonderte Vermögen dem anderen die Gewalt überträgt, die es an seine eigene Grenze treibt - erweckt jedesmal eine freie Gestalt der Differenz das Vermögen, erweckt sie es als das Differente dieser Differenz. Entsprechend die Differenz in der Intensität, die Disparität im Phantasiegebilde, die Unähnlichkeit in der Form der Zeit, das Differential im Denken. Der Gegensatz, die Ähnlichkeit, die Identität und selbst die Analogie sind nur Effekte,- die durch diese Darstellungen [prhentations] der Differenz hervorgerufen wurden, und sie sind nicht die Bedingungen, die sich die Differenz
unterwerfen und aus ihr etwas Repräsentiertes machen. Niemals läßt sich von einer cplhia sprechen, die einen Wunsch, eine Liebe, eine gute Natur oder einen guten Willen bezeuge, durch die die Vermögen bereits das Objekt - ein Objekt, zu dem sie durch die Gewalt emporgehoben werden - besitzen oder anstreben und durch die sie eine Analogie mit ihm oder eine Homologie untereinander darstellen würden. Jedes Vermögen, das Denken inbegriffen, kennt kein anderes Abenteuer als das Unwillkürliche; die willkürliche Anwendung bleibt dem Empirischen verhaftet. Der Logos zerspringt in Hieroglyphen, von denen jede die transzendente Sprache eines Vermögens spricht. Selbst der Ausgangspunkt, die Sinnlichkeit in der Begegnung mit dem, was zu empfinden nötigt, setzt keinerlei Affinität oder Prädestinierung voraus. Im Gegenteil, Zufall oder Kontingenz der Begegnung sind es, die die Notwendigkeit dessen, was durch sie zu denken genötigt wird, gewährleisten. Keine Freundschaft - wie etwa die des Ähnlichen mit dem Selben oder noch diejenige, die die Gegensätze vereint - verbindet die Sinnlichkeit bereits mit dem sentiendum. Es genügt der dunkle Vorbote, der das Differente als solches kommunizieren läßt und es mit der Differenz kommunizieren läßt: Der dunkle Vorbote ist kein Freund. Der Gerichtspräsident Schreber griff die drei Momente Platons auf seine Weise auf, indem er sie in ihrer ursprünglichen u n d kommunikativen Gewalt wiederherstellte: die Nerven und der Nervenanhang, die geprüften Seelen und der Seelenmord, das erzwungene Denken oder der Denkzwang. Gerade das Prinzip einer Kommunikation - und geschähe sie auch mit Gewalt scheint die Form eines Gemeinsinns aufrechtzuerhalten. Dem ist jedoch nicht so. Zwar existiert eine Verknüpfung der Vermögen und eine Ordnung in dieser Verknüpfung. Aber weder Ordnung noch Verknüpfung implizieren ein Zusammenspiel bezüglich einer Form eines der Annahme nach selben Objekts oder einer subjektiven Einheit in der Natur des Ich denke. Es ist eine erzwungene und aufgebrochene Kette, die die Stücke eines aufgelösten Ichs wie die Ränder eines gespaltenen Ego durchzieht. Die transzendente Anwendung der Vermögen ist eine im eigentlichen Sinn Paradoxale Anwendung, die sich ihrem d u r c h einen Gemeinsinn regulierten Gebrauch widersetzt. Daher kann der Einklang der Vermögen nur als ein diskordanter Einklang erzeugt werden, da
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jedes davon dem anderen nur die Gewalt mitteilt, durch die es mit seiner Differenz und seiner Divergenz zu allen anderen konfrontiert wird14. Kant hat als erster das Beispiel eines derartigen Einklangs durch Diskordanz gezeigt, und zwar mit dem Fall des Verhältnisses von Einbildungskraft und Denken, wie sie sich im Erhabenen vollziehen. Es gibt also etwas, das sich von einem Vermögen zum anderen mitteilt, sich aber verwandelt und keinen Gemeinsinn ergibt. Ebenso könnte man sagen, daß es Ideen gibt, die alle Vermögen durchlaufen und doch nicht Gegenstand von irgendeinem im Besonderen sind. Vielleicht muß man tatsächlich, wie wir sehen werden, den Namen Ideen nicht den reinen cogitanda, sondern eher den Instanzen vorbehalten, die von der Sinnlichkeit zum Denken und vom Denken zur Sinnlichkeit reichen und in der Lage sind, in jedem Fall gemäß einer ihnen eigentümlichen Ordnung das Grenz- oder transzendente Objekt eines jeden Vermögens zu erzeugen. Die Ideen sind die Probleme, die Probleme aber liefern nur die Bedingungen, unter denen die Vermögen zu ihrem höheren Gebrauch gelangen. Unter diesem Gesichtspunkt gehen die Vermögen, weit davon entfernt, in einem gesunden Menschenverstand (bon Sens] oder Gemeinsinn [sens commun] ihr Medium zu finden, auf einen Para-Sinn [para-sens] zurück, der die einzige Kommunikation zwischen den gesonderten Vermögen bestimmt. Daher werden sie nicht durch ein natürliches Licht beschienen; sie schimmern vielmehr wie differentielle Funken, die überspringen und sich verwandeln. Gerade die Vorstellung eines natürlichen Lichts ist untrennbar mit einem bestimmten Wert, den man bei der Idee voraussetzt, dem ,,klar und deutlich“, und mit einem bestimmten vorausgesetzten Ursprung, dem ,,Angeborensein” verbunden. Aber das Angeborensein repräsentiert nur die gute Natur des Denkens, und zwar vom Standpunkt einer christlichen Theologie oder - allgemeiner - der Erfordernisse der Schöpfung aus (darum stellte Platon die Wiedererinnerung dem Angeborensein gegenüber und machte diesem zum Vorwurf, daß es die Rolle einer Form der Zeit in der Seele in Abhängigkeit vom reinen Denken vernachlässige, oder auch die Notwendigkeit einer formalen Unterscheidung zwischen einem Vorher und einem Nachher, die das Vergessen in dem, was zu Denken nötigt, zu begründen vermag). Das ,,klar und deutlich” selbst ist nicht vom Modell der Rekognit ion als Instru ment jeglicher - und sei es rationaler Orthodoxie zu trennen. Das Klare und Deutliche ist die Logik der Rekognition, wie das Angeborensein die Theologie des Gemeinsinns; alle beide haben die Idee bereits an die Repräsentation überwiesen. Die Restitution der Idee in der Lehre der Vermögen bringt eine Zersplitterung des Klaren und Deutlichen mit sich, oder die Entdeckung eines dionysischen Werts, demzufolge die Idee notwendig dunkel ist, sofern sie deutlich ist, um so dunkler, je deutlicher sie l4 Der Begriff eines ,,diskordanten Einklangs“ wird von Kostas Axelos zutreffend bestimmt, der ihn auf die Welt anwendet und sich eines besonderen Zeichens bedient (,,oder/und”), um die ontologische Differenz in diesem Sinne zu bezeichnen (vgl. Vers La pensee plandaire, Paris 1964).
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ist. Das Deutlich-Dunkle wird hier zur wahren Klangfarbe in der Philosophie, zur Symphonie der diskordanten Idee. Es gibt kein besseres Beispiel als den Briefwechsel zwischen Jacques Riviere und Antonin Artaud. Riviere hält am Bild einer autonomen Denkfunktion fest, die mit einer Natur und einem Willen de jure ausgestattet ist. Natürlich bereitet uns das Denken die größten Schwierigkeiten de facto: Mangel an Methode, an Technik oder Applikation, Mangel sogar an Gesundheit. Aber diese Schwierigkeiten sind Glücksfälle: nicht nur weil sie die Natur des Denkens daran hindern, unsere eigene Natur zu verschlingen, nicht nur weil sie das Denken ins Verhältnis zu den Hindernissen als entsprechend vielen ,,Fakten“ setzen, ohne die es sich nicht orientieren könnte, sondern auch weil unsere Anstrengungen zu ihrer Überwindung uns ermöglichen, ein Ideal des Ichs im reinen Denken zu bewahren, gleichsam einen ,,höheren Grad von Identität mit uns selbst“, über alle Variationen, Differenzen und Ungleichheiten hinweg, die uns de facto unaufhörlich affizieren. Erstaunt stellt der Leser fest, daß sich Riviere, je mehr er Artaud nahezukommen und ihn zu verstehen glaubt, um so weiter von ihm entfernt und von etwas anderem spricht. Selten gab es ein derartiges Mißverständnis. Denn Artaud spricht nicht einfach von seinem ,,Fall“, ahnt vielmehr in diesen Jugendbriefen bereits, daß sein Fall ihn mit einem verallgemeinerten Denkprozeß konfrontiert, der sich nicht mehr hinter dem beruhigenden dogmatischen Bild verschanzen kann und, im Gegenteil, mit der völligen Zerstörung dieses Bilds verschmilzt. Daher dürfen die Schwierigkeiten, die er zu verspüren behauptet, nicht als Fakten, sondern nur als Schwierigkeiten de jure begriffen werden, die das Wesen dessen, was Denken bedeutet, betreffen und affizieren. Artaud sagt, daß das Problem (für ihn) nicht darin liege, sein Denken zu orientieren, noch darin, den Ausdruck dessen, was er denkt, zu vervollkommnen, noch darin, Applikation und Methode zu erwerben oder seine Gedichte zu perfektionieren, sondern darin, ganz einfach dahin zu gelangen, etwas zu denken. Für ihn ist dies das einzig denkbare ,,Werk”; es setzt einen Impuls, einen Zwang zu denken voraus, der alle Arten von Gabelungen durchläuft, von den Nerven ausgeht und sich der Seele mitteilt, um zum Denken zu gelangen. Folglich ist das, was zu denken das Denken genötigt ist, zugleich seine zentrale Erschütterung, sein Riß, seine eigene natürliche ,,Unfähigkeit“ [impouvoir], die mit der größten Macht [puissance] verschmilzt, d. h. mit den cogitanda, jenen geheimen Kräften, wie mit ebenso vielen Diebstählen und Einbrüchen im Denken. In all dem verfolgt Artaud die schreckliche Offenbarung eines bildlosen Denkens und die Eroberung eines neuen Rechts, das sich nicht repräsentieren läßt. Er weiß, daß die Schwierigkeit als solche und ihr Gefolge von Problemen und Fragen kein Zustand de facto ist, sondern eine Struktur de jure des Denkens. Daß es ein Azephales im Denken wie ein Moment von Amnesie im Gedächtnis gibt, ein Aphasisches in der Sprache und ein Agnostisches in der Sinnlichkeit. Er weiß, daß Denken nicht angeboren ist, sondern im Denken erzeugt werden muß. Er weiß, daß das Problem nicht darin liegt, ein von Natur und de jure präexisten-
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tes Denken methodisch zu lenken oder zu applizieren, sondern darin, das noch nicht Existierende zu erzeugen (es gibt kein anderes Werk, der ganze Rest bleibt willkürlich und bloßes Schnörkel). Denken heißt erschaffen, es gibt keine andere Schöpfung, aber erschaffen heißt zunächst, ,,denken“ im Denken zu zeugen. Darum stellt Artaud im Denken die Genitalität dem Angeborensein, aber auch der Wiedererinnerung gegenüber und setzt somit das Prinzip eines transzendentalen Empirismus: ,,Ich bin von Geburt an genital [. . .]. Es gibt Schwachsinnige, die sich für Wesen, Wesen durch Angeborensein halten./ Ich, ich bin derjenige, der, um sein zu können, sein Angeboren- , sein auspeitschen muß./ Derjenige, der durch Angeborensein derjenige ist, der ein Wesen sein, das heißt, stets diese Art negativen Hundezwingers auspeitschen muß, o Hündinnen der Unmöglichkeit. [. . .]/ Unter der Grammatik liegt das Denken begraben, das ein viel schwieriger zu bezwingender Schandfleck ist, eine Jungfrau, die viel zu spröde, viel zu widerspenstig ist, um überwunden zu werden - hält man es für eine angeborene Tatsache./ Denn das Denken ist eine Matrone, die nicht immer existiert hat“?
Es geht nicht darum, dem dogmatischen Bild des Denkens ein anderes, etwa der Schizophrenie entlehntes gegenüberzustellen. Sondern eher darum, in Erinnerung zu rufen, daß die Schizophrenie nicht nur ein menschliches Faktum ist, daß sie vielmehr eine Möglichkeit des Denkens ist, die sich als solche nur in der Beseitigung des Bilds offenbart. Es ist nämlich bemerkenswert, daß das dogmatische Bild seinerseits nur den Irrtum als Mißgeschick des Denkens anerkennt und alles auf die Figur des Irrtums reduziert. Dies ist in unserer Zählung sogar noch ein fünftes Postulat: der Irrtum, dargestellt als das einzige ,,Negative“ des Denkens. Und zweifellos hängt dieses Postulat von den anderen ab, wie die anderen von ihm: Was kann einer Cogitatio natura universalis, die einen guten Willen des Denkers sowie eine gute Natur des Denkens voraussetzt, anderes passieren, als sich zu täuschen, d.h. das Falsche für das Wahre zu halten (das Falsche nach der Natur für das Wahre dem Willen zufolge)? Und zeugt nicht der Irrtum selbst von der Form eines Gemeinsinns, da es unmöglich einem Vermögen allein passiert, daß es sich täuscht, sondern hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit - wenigstens zweien, wobei das Objekt des einen Vermögens mit einem anderen Objekt des anderen verwechselt wird? Und was ist ein Irrtum, wenn nicht immer schon eine falsche Rekognition? Und woher rührt der Irrtum, wenn nicht von einer falschen Aufteilung der Elemente der Repräsentation, von einer falschen Einschätzung des Gegen-
15 Antonin Artaud: Korrespondenz mit Jacques Rivi&e, in: Frühe Schriften, München 1983, S. 7-9. - Z u d iesen Briefen siehe die Kommentare Maurice Blanchots: Le livre d venir, Paris 1959.
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satzes, der Analogie, der Ähnlichkeit und der Identität? Der Irrtum ist nur die Kehrseite einer rationalen Orthodoxie und spricht noch zu Gunsten dessen, wovon er sich entfernt, zu Gunsten einer Rechtschaffenheit, einer guten Natur und eines guten Willens dessen, der sich angeblich täuscht. Der Irrtum huldigt also d e r ,,Wahrheit“ in dem Maße, wie er, der keine Form besitzt, dem Falschen die Form des Wahren verleiht. In diesem Sinne entwirft Platon im Theaitetos, und zwar unter offenbar ganz anderen Vorzeichen als in der Politeia, zugleich das positive Modell der Rekognition oder des Gemeinsinns und das negative Modell des Irrtums. Nicht nur übernimmt das Denken das Ideal einer ,,Orthodoxie”, nicht nur findet der Gemeinsinn seinen Gegenstand in den Kategorien von Gegensatz, Gleichartigkeit, Analogie und Identität; vielmehr ist es der Irrtum, der an sich selbst diese Transzendenz eines Gemeinsinns gegenüber den Empfindungen und einer Seele gegenüber allen Vermögen impliziert, die durch ihn in der Form des Selben zur Mitarbeit (d&hoylo@q) bestimmt werden. Wenn ich nämlich nicht zwei Dinge, die ich wahrnehme oder begreife, miteinander verwechseln kann, so kann ich doch stets ein Ding, das ich wahrnehme, mit einem anderen, das ich begreife oder an das ich mich erinnere, verwechseln, wie in dem Fall, in dem ich das gegenwärtige Objekt meiner Empfindung in das Engramm eines anderen Objekts meines Gedächtnisses stecke - also etwa ,,Guten Tag, Theodoros“ sage, wenn Theaitetos vorübergeht. Noch in seiner Mißlichkeit spricht der Irrtum für die Transzendenz der Cogitatio natura. Man könnte vom Irrtum behaupten, er sei eine Art Versager des gesunden Menschenverstands in der Form eines Gemeinsinns, der intakt und unbescholten bleibt. Damit bestätigt er die vorangehenden Postulate des dogmatischen Bilds, insofern er sich daraus ableitet und für sie einen apagogischen Beweis erbringt. Freilich ist dieser Beweis völlig unwirksam, da er sich im selben Element wie die Postulate selbst vollzieht. Was die Vereinbarkeit des Theaitetos mit dem Text der Politeia betrifft, so läßt sie sich womöglich leichter ausfindig machen, als es zunächst schien. Nicht von Ungefähr ist der Theaitetos ein aporetischer Dialog; und die Aporie, mit der er schließt, ist eben die der Differenz oder diaphora (so sehr das Denken für die Differenz eine Transzendenz bezüglich der ,,Meinung“ fordert, so sehr fordert die Meinung für sich selbst eine Immanenz der Differenz). Der Theaitetos ist die erste große Theorie des Gemeinsinns, der Rekognition und der Repräsentation und des Irrtums als Korrelat. Die Aporie der Differenz aber zeigt von Anbeginn an deren Scheitern und die Notwendigkeit, eine Lehre des Denkens in einer ganz anderen Richtung zu suchen: in einer Richtung, die mit dem siebten Buch der Politeia angezeigt wird? . . . Mit diesem Vorbehalt jedoch wirkt das Modell des Theaitetos weiterhin unterschwellig fort, gefährden die hartnäckigen Elemente der Repräsentation noch die neue Sichtweise der Politeia. Der Irrtum ist das ,,Negative”, das sich naturgemäß in der Hypothese der Cogitatio natura universalis entfaltet. Dennoch verkennt das dogmatische Bild keineswegs, daß dem Denken andere Mißgeschicke widerfahren als der Irr-
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tum, Schmähungen, die viel schwerer zu meistern, Negativfälle, die weit schwieriger zu entfalten sind. Es verkennt nicht, daß sich der Wahnsinn, die Dummheit, die Bösartigkeit - jene schreckliche Dreiheit, die nicht aufs selbe hinausläuft - ebensowenig auf den Irrtum reduzieren lassen. Aber noch hier gibt es für das dogmatische Bild wiederum nur Fakten. Die Dummheit, die Bösartigkeit, der Wahnsinn werden als Fakten einer äußeren Kausalität betrachtet, die Kräfte ins Spiel bringen, die selbst äußerlich sind und die Rechtschaffenheit des Denkens von Außen her auf Abwege zu bringen vermögen - und dies in dem Maße, wie wir nicht ausschließlich Denkende sind. Aber gerade die bloße Wirkung dieser Kräfte im Denken wird mit dem Irrtum gleichgesetzt, von dem man annimmt, er versammle de jure alle Wirkungen der äußeren Kausalitäten de facto. Die Reduktion der Dummheit, der Bösartigkeit, des Wahnsinns auf die bloße Gestalt des Irrtums muß also de jure begriffen werden. Daher der hybride Charakter dieses schalen Begriffs, der nicht zum reinen Denken gehören würde, wenn dieses nicht von außen irregeführt würde, der aber nicht aus diesem Außen resultierte, wenn nicht innerhalb des reinen Denkens. Darum können wir unsererseits uns nicht damit begnügen, bestimmte Fakten gegen das Bild de jure des dogmatischen Denkens anzuführen. Wie bei der Rekognition müssen wir die Auseinandersetzung auf der Ebene des Rechtsanspruchs betreiben, indem wir nach der Legitimität der Verteilung zwischen Empirischem und Transzendentalem fragen, wie sie vom dogmatischen Denken vollzogen wird. Denn es scheint uns eher, daß es irrtümliche Fakten gibt. Aber welche Fakten? Wer sagt ,,Guten Tag, Theodoros“, wenn Theaitetos vorübergeht, und ,,Es ist drei Uhr“, wenn es halb vier ist, und 7 + 5 = 13? Der Kurzsichtige, der Zerstreute, das kleine Schulkind. Hierin liegen wirkliche Beispiele von Irrtümern, die aber, wie die Mehrzahl der ,,Fakten“, künstlich oder kindisch bleiben und ein groteskes Bild des Denkens wiedergeben, da sie es auf äußerst simple Fragen beziehen, auf die man mit unabhängigen Sätzen antworten kann und muß? Der Irrtum gewinnt Sinn nur, wenn das Spiel des Denkens mit seinem spekulativen Charakter bricht, um eine Art Quizsendung zu werden. Es muß also alles verkehrt werden: Der Irrtum selbst ist ein Faktum, willkürlich extrapoliert, willkürlich ins Transzendentale projiziert; und was die wahren transzendentalen Strukturen des Denkens und das ,,Negative”, das sie umhüllt, betrifft - vielleicht muß man sie anderswo, in anderen Gestalten als denen des Irrtums suchen.
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V g1. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 41: ,,Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die Meinung, daß das Wahre in einem Satz, der ein festes Resultat ist oder auch der unmittelbar gewußt wird, bestehe. Auf solche Fragen: wann Cäsar geboren worden, wie viele Toisen ein Stadium betrug usf., soll eine nette Antwort gegeben werden [. . .]. Aber die Natur einer solchen sogenannten Wahrheit ist verschieden von der Natur der philosophischen Wahrheiten.”
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In gewisser Weise haben die Philosophen stets ein lebhaftes Bewußtsein dieser Notwendigkeit besessen. Nur wenige verspürten nicht das Bedürfnis, den Begriff des Irrtums mit Bestimmungen anderer Natur anzureichern. (Zitieren wir einige Beispiele: den Begriff des Aberglaubens, wie er von Lukrez, Spinoza und den Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere Fontenelle, ausgeführt wurde. Es ist klar, daß sich der ,,Widersinn“ eines Aberglaubens nicht auf seinen irrtümlichen Kern reduzieren läßt. Entsprechend unterscheidet sich die Unwissenheit oder das Vergessen Platons vom Irrtum wie die Wiedererinnerung selbst vom Angeborensein. Der stoische Betriff der stultitia meint zugleich Wahnsinn und Dummheit. Die kantische Vorstellung einer inneren, der Vernunft immanenten Illusion unterscheidet sich radikal vom äußerlichen Mechanismus des Irrtums. Die Entfremdung der Hegelianer bedingt eine tiefgreifende Überarbeitung des Verhältnisses wahr/falsch. Die schopenhauerschen Begriffe der Gewöhnlichkeit und der Dummheit implizieren eine vollständige Verkehrung des Verhältnisses Wille/Verstand.) Was aber diese ergiebigeren Bestimmungen daran hindert, sich für sich selbst zu entfalten, ist trotz allem das Festhalten am dogmatischen Bild und, in seinem Gefolge, an den Postulaten des Gemeinsinns, der Rekognition und der Repräsentation. Die Korrektive können dann nur als ,,Bußübungen“i erscheinen, die das Bild für einen Augenblick komplizieren oder trüben, ohne dessen implizites Prinzip zu stürzen. Die Dummheit ist nicht das Wesen des Tiers. Dem Tier verbürgen spezifische Formen eine Absicherung gegen das ,,Dumm”-Sein? Man hat oft formale Entsprechungen zwischen dem menschlichen Gesicht und den Tierköpfen, d. h. zwischen individuellen Differenzen beim Menschen und artbildenden Differenzen beim Tier hergestellt. Auf diese Weise aber wird man der Dummheit [betise] als spezifisch menschlicher Vertiertheit [bestiditk] nicht gerecht. Wenn der Satiriker alle Register der Beleidigung zieht, so bleibt er nicht bei den tierischen Formen stehen, sondern geht noch weiter zurück, von Fleischfressern zu den Pflanzenfressern, und landet schließlich bei einer Kloake, bei einem allesverdauenden und vegetativen Urgrund. Tiefer noch als die äußere Geste des Angriffs oder die Bewegung der Gefräßigkeit liegt der innere Prozeß der Verdauung, die Dummheit mit den peristaltischen Bewegungen. Darum hat der Tyrann nicht nur einen Ochsenkopf, sondern einen Birnen-, Kohl- oder Kartoffelkopf. Niemals steht einer ober- oder außerhalb dessen, wovon er profitiert: Der Tyrann institutionalisiert die Dummheit, aber er ist der erste Diener seines Systems und als erster im Amt, stets ist es ein Sklave, der den Sklaven gebietet. Und wie könnte auch hier noch der Begriff des Irrtums dieser Einheit aus Dummheit und Grausamkeit, aus Groteskem und Schrecklichem, die den Lauf der Welt verdoppelt, gerecht werden? Die
17Vgl. Fußnote 11, S. 185 [A.d.Ü.]. 18 Fr-z. bete: dumm, einfältig; Tier, Vieh [A.d.Ü.].
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Gemeinheit, die Grausamkeit, die Niedertracht, die Dummheit sind nicht bloß körperliche Mächte oder charakterliche und soziale Tatsachen, sondern Strukturen des Denkens als solchen. Die Landschaft des Transzendentalen belebt sich; man muß in ihr den Platz des Tyrannen, des Sklaven und des Dummkopfs umreißen - ohne daß der Platz demjenigen ähnelt, der ihn besetzt, und ohne daß das Transzendentale jemals Abklatsch der empirischen Gestalten wäre, die es ermöglicht. Was uns daran hindert, aus der Dummheit ein transzendentales Problem zu machen, liegt stets an unserem Glauben an die Postulate der Cogtatio: Die Dummheit kann nur eine empirische Bestimmung sein, die auf die Psychologie oder die Anekdote - schlimmer noch: auf Polemik und auf Beleidigungen - und auf die Stilblütensammlung als besonders abscheuliche pseudo-literarische Gattung verweist. Wessen Fehler aber? Liegt der Fehler nicht zuerst bei der Philosophie , die sich vom Irrtumsbegriff überzeugen ließ, wenn sie ihn selbst auch den Fakten entnahm, allerdings wenig signifikanten und äußerst willkürlichen Fakten? Die schlechteste Literatur fabriziert Stilblüten; die beste aber wurde vom Problem der Dummheit heimgesucht, das sie bis an die Pforten der Philosophie heranzuführen vermochte, indem sie ihm seine ganze kosmische, enzyklopädische und gnoseologische Dimension verlieh (Flaubert, Baudelaire, Bloy). Die Philosophie hätte dieses Problem nur mit ihren eigenen Mitteln und der nötigen Bescheidenheit aufgreifen müssen, eingedenk dessen, daß die Dummheit nie die des anderen, sondern der Gegenstand einer spezifisch transzendentalen Fragestellung ist: Wie ist die Dummheit (und nicht der Irrtum) möglich? Sie ist möglich dank des Bands, das zwischen Denken und Individuation besteht. Dieses Band reicht wesentlich tiefer als dasjenige, das im Ich denke erscheint; es knüpft sich in einem Intensitätsfeld, das bereits die Sinnlichkeit des denkenden Subjekts konstituiert. Denn das Ego oder Ich sind vielleicht bloß Artmerkmale: die Menschheit als Art und Teile. Sicher ist die Art zu einer impliziten Verfassung im Menschen übergegangen; so daß das Ego, als Form, der Rekognition und der Repräsentation als universales Prinzip dienen kann, während die expliziten artspezifischen Formen von ihm bloß erkannt werden und die Spezifikation nur die Regel eines der Elemente der Repräsentation ist. Das Ego ist also keine Art, aber eher deswegen, weil es implizit enthält, was die Gattungen und Arten explizit entfalten, nämlich das Repräsentiert-werden der Form. Sie haben ein gemeinsames Los, Eudoxus und Epistemon. Demgegenüber hat die Individuation nichts mit einer irgendwie verlängerten Spezifikation zu tun. Sie unterscheidet sich nicht nur wesentlich von jeglicher Spezifikation, sondern ermöglicht sie und geht ihr voraus, wie wir sehen werden. Sie besteht in Feldern aus fließenden intensiven Faktoren, die ebensowenig die Form des Ego oder Ichs belehnen. Die Individuation als solche, wie sie in allen Formen wirkt, läßt sich nicht von einem reinen Untergrund trennen, den sie auftauchen läßt und nicht los wird. Es ist schwierig, diesen Untergrund und zugleich den Schrecken und die Anziehung, die er erregt, zu beschreiben. Den Untergrund aufwühlen ist die gefährlichste Be-
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schäftigung, aber in den Momenten von Stupor eines abgestumpften Willens auch die verführerischste. Denn dieser Untergrund steigt, zusammen mit dem Individuum, an die Oberfläche und nimmt dennoch keine Form oder Gestalt an. Er ist da, fixiert uns, jedoch ohne Augen. Das Individuum unterscheidet sich von ihm, er aber unterscheidet sich nicht von jenem und fährt fort, sich mit dem zu vermählen, was sich von ihm scheidet. Er ist das Unbestimmte, aber nur insofern er fortfährt, sich an die Bestimmung zu heften, wie Erde an die Schuhsohle. Nun sind die Tiere in gewisser Weise gegen diesen Untergrund d urc h Ihre expliziten Formen geschützt. Das Gleiche gilt nicht für das Ego und das Ich, unterhöhlt durch Individuationsfelder, durch die sie umgetrieben werden, schutzlos dem Emporsteigen des Untergrunds ausgeliefert, der ihnen seinen ungestalten oder verunstaltenden Spiegel vorhält und in dem sich alle von nun an gedachten Formen auflösen. Die Dummheit ist weder der Untergrund noch das Individuum, wohl aber jener Bezug, in dem die Individuation den Untergrund emporsteigen läßt, ohne ihm Form verleihen zu können (über das Ego hinweg steigt er empor und dringt ins Innerste der Möglichkeit des Denkens ein, bildet das Nicht-Erkannte jeglicher Rekognition). Alle Bestimmungen werden grausam oder schlecht, da sie nurmehr von einem Denken erfaßt werden, das sie betrachtet und erfindet, abgezogen, abgetrennt von ihrer lebendigen Form und nun dabei, auf diesem öden Untergrund zu treiben. Auf diesem passiven Untergrund wird alles Gewalt. Alles Angriff auf diesem verdauendem Untergrund. Hier wird der Hexensabbat der Dummheit und der Bösartigkeit gefeiert. Vielleicht ist dies der Ursprung der Melancholie, die auf den schönsten Gesichtern des Menschen lastet: die Ahnung einer Scheußlichkeit, die dem menschlichen Antlitz eignet, eines Emporsteigens der Dummheit, einer Verunstaltung im Bösen, einer Reflexion im Wahnsinn. Denn vom Standpun .kt der Philosophie der Natur aus taucht d e r Wahnsinn an dem Punkt auf, an dem sich das Individuum in diesem freien Untergrund reflektiert - und demzufolge und daraufhin die Dummheit in der Dummheit, die Grausamkeit in der Grausamkeit - und sich nicht mehr ertragen kann. ,,Nun entwickelte sich in ihrem Geist ein erbärmliches Talent: die Dummheit zu sehen und sie nicht zu ertragen““. Es ist wahr, daß dieses erbärmlichste Vermögen zugleich zum königlichen Vermögen wird, wenn es die Philosophie als Philosophie des Geistes animiert, d. h. wenn es alle anderen Vermögen zu diesem transzendenten Gebrauch verleitet, der eine gewaltsame Versöhnung von Individuum, Untergrund und Denken ermöglicht. Die Fak19 Flaubert: Bouvard und Pecuchet, Frankfurt/M. 1979, S. 297. - Über das Böse (Dummheit und Bösartigkeit), über seine Quelle, die gleichsam der autonom gewordene Untergrund (in einem wesentlichen Bezug zur Individuation) ist, und über die ganze Geschichte, die daraus folgt, schrieb Schelling glänzende Seiten (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Werke, hg. V. M. Schröter, Bd. 4, München 1927 [Nachdruck 1958], S. 269-272): Gott ließ ,,den Grund in seiner Independenz wirken [. . .].“
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toren intensiver Individuation halten sich dann für Objekte, und zwar so, daß sie das höchste Element einer transzendenten Sinnlichkeit, das sentiendum bilden; und von Vermögen zu Vermögen wird der Untergrund ins Denken hineingetragen, stets als Nicht-Gedachtes und Nichts-Denkendes, aber dieses Nicht-Gedachte ist zur notwendigen empirischen Form geworden, in der das Denken im gespaltenen Ego (Bouvard und Pecuchet) schließlich das cogitandum denkt, d. h. das transzendente Element, das nur gedacht werden kann (die Tatsache, ,, daß wir noch nicht denken“, oder: Was ist die Dummheit?).
Schon die Lehrer wissen recht gut, daß man in den ,,Schulaufgaben” (außer in den Übungen, in denen man Satz für Satz übersetzen oder ein feststehendes Ergebnis erzielen muß) selten Irrtümer oder etwas Falsches antrifft. Vielmehr Unsinniges, Bemerkungen ohne Belang und Bedeutung, wichtig genommene Banalitäten, Verwechslungen von gewöhnlichen ,,Punkten“ mit singulären, schlecht gestellte oder abwegig formulierte Probleme - das ist das Schlimmste und geschieht am häufigsten, unheilschwanger dennoch, unser aller Los. Wenn die Mathematiker polemisieren, so wird man bezweifeln, daß einer dem anderen vorwirft, er habe sich in seinen Resultaten oder Berechnungen getäuscht; eher machen sie einander zum Vorwurf, ein insignifikantes Theorem, ein unsinniges Problem geschaffen zu haben. Die Philosophie muß die Konsequenzen daraus ziehen. Das Element des Sinns [sens] wurde von der Philosophie wohl erkannt und ist uns sogar sehr vertraut geworden. Indessen genügt dies vielleicht noch nicht. Man definiert den Sinn als Bedingung des Wahren; da man aber annimmt, daß die Bedingung eine größere Extension als das Bedingte behält, begründet der Sinn die Wahrheit nicht, ohne auch den Irrtum zu ermöglichen. Ein falscher Satz bleibt also dennoch ein sinnvoller Satz. Und der Unsinn wäre das Merkmal dessen, was weder wahr noch falsch sein kann. Man unterscheidet an einem Satz [proposition] zwei Dimensionen: die Dimension des Ausdrucks, derzufolge der Satz etwas Ideelles aussagt, ausdrückt; und die der Bezeichnung, der-zufolge er Gegenstände anzeigt und bezeichnet, auf die sich die Aussage oder das Ausgedrückte bezieht. Das eine wäre die Dimension des Sinns, das andere die des Wahren und des Falschen. Damit aber würde der Sinn die Wahrheit eines Satzes nicht begründen, ohne hinsichtlich dessen, was er begründet, indifferent zu bleiben. Das Wahre und das Falsche wären eine Sache der Bezeichnung (wie Russe11 sagt: ,,die Frage von Wahrheit und Falschheit betrifft dasjenige, was die Terme und Aussagen anzeigen, nicht was sie ausdrücken“). Man befindet sich dann in einer seltsamen Lage: Man entdeckt das Gebiet des Sinns, aber man verlegt ihn bloß in ein psychologisches Gespür oder einen logischen Formalismus. Je nach Bedarf fügt man den klassischen Werten des Wahren und des Falschen einen neuen Wert hinzu, den des Unsinns oder Widersinnigen. Aber man nimmt an, das
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Wahre und das Falsche mögen in gleicher Verfassung wie zuvor fortbestehen, d. h. so, wie sie unabhängig von der Bedingung, die man ihnen zuschreibt, oder des neuen Werts, den man ihnen hinzufügt, beschaffen waren. Man sagt darüber zuviel oder nicht genug: zuviel, weil die Suche nach einem Grund das Wesentliche einer ,,Kritik“ ausmacht, die uns zu neuen Denkweisen anregen sollte; nicht genug, weil diese Kritik, solange der Grund größer als das Begründete bleibt, bloß dazu dient, die traditionellen Denkweisen zu rechtfertigen. Man nimmt an, daß das Wahre und das Falsche unberührt bleiben von der Bedingung, die das eine nicht begründet, ohne das andere zu ermöglichen. Indem man das Wahre und das Falsche auf die Bezeichnungsrelation im Satz zurückführt, gibt man sich ein sechstes Postulat vor, ein Postulat des Satzes selbst oder der Bezeichnung, das die vorangehenden zusammenfaßt und sich mit ihnen verknüpft (die Bezeichnungsrelation ist nur die logische Form der Rekognition). De facto muß die Bedingung Bedingung der wirklichen Erfahrung und nicht der möglichen Erfahrung sein. Sie bildet eine innerliche Genese, nicht eine äußerliche Bedingtheit. In jeder Hinsicht ist die Wahrheit eine Sache von Produktion, nicht von Adäquation. Eine Sache von Genitalität, nicht von Angeborensein oder Wiedererinnerung. Wir können nicht glauben, daß das Begründetete dasselbe bleibt, dasselbe, das es zuvor war, als es nicht begründet war, als es nicht die Prüfung des Grunds durchgemacht hatte. Wenn die ratio sufficiens, der Grund, ,,gekrümmt“ ist, so deshalb, weil er das von ihm Begründete auf einen regelrechten Ungrund bezieht. Es läßt sich wohl sagen: Man erkennt es nicht mehr wieder. Begründen heißt verwandeln. Das Wahre und das Falsche betreffen nicht eine bloße Bezeichnung, die der Sinn bloß ermöglichte, selbst dabei aber indifferent bliebe. Der Bezug des Satzes zum Objekt, das er bezeichnet, muß im Sinn selbst errichtet werden; es eignet dem ideellen Sinn, sich auf ein bezeichnetes Objekt hin zu überschreiten. Niemals wäre die Bezeichnung begründet, wenn sie nicht - verwirklicht im Fall eines wahren Satzes - als die Grenze genetischer Reihen oder ideeller Verbindungen, die den Sinn konstituieren, gedacht werden müßte. Wenn sich der Sinn aufs Objekt hin überschreitet, so kann dieses nicht mehr in der Wirklichkeit als außerhalb des Sinns gesetzt werden, sondern nur als Grenze seines Prozesses. Und der Bezug des Satzes zu dem von ihm Bezeichneten wird, sofern dieser Bezug verwirklicht ist, in der Einheit des Sinns konstituiert, und zwar gleichzeitig mit dem Objekt, das ihn verwirklicht. Es gibt nur einen einzigen Fall, in dem das Bezeichnete für sich selbst gilt und außerhalb des Sinns bleibt: Eben im Fall von Einzelsätzen, die als Beispiel verwendet und willkürlich aus ihrem Kontext herausgelöst werden2’. Wie kann man aber auch hier noch annehmen, kindische und künstliche Schulbeispiele könnten das Bild des Den” Daher R ussells Haltung, der Einzelsätze bevorzugt: vgl. seine Kontroverse mit Carnap, in: An inquiry into meaning and truth, London 1940, S. 310-317.
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kens rechtfertigen ? Wann immer ein Satz in den Kontext des lebendigen Denkens zurückversetzt ist, wird deutlich, daß er genau die Wahrheit besitzt, die er seinem Sinn nach verdient, die Falschheit, die ihm dem jeweiligen Unsinn zufolge, den er impliziert, zukommt. Wir selbst haben stets den Teil des Wahren, den wir gemäß dem Sinn dessen, was wir sagen, verdienen. Der Sinn ist die Genese oder die Produktion des Wahren, und die Wahrheit ist nur das empirische Resultat des Sinns. In allen Postulaten des dogmatischen Bilds stoßen wir auf dieselbe Konfusion, die darin besteht, eine bloße Gestalt des Empirischen auf transzendentale Ebene zu heben, auf die Gefahr hin, die wahren Strukturen des Transzendentalen ins Empirische abgleiten zu lassen. Der Sinn ist das Ausgedrückte des Satzes, was aber ist das Ausgedrückte? Es läuft weder aufs bezeichnete Objekt hinaus noch auf die erlebte Verfassung dessen, der sich ausdrückt. Wir müssen sogar Sinn [sens] und Bedeutung [signiflcation] folgendermaßen unterscheiden: Die Bedeutung verweist nur auf den Begriff und auf die Art und W eise, wie er sich auf Objekte bezieht, die in einem Repräsentationsfeld bedingt sind; der Sinn aber ist gleichsam die Idee, die sich in den sub- repräsentativen Bestimmungen entfaltet. Man wird nicht darüber erstaunt sein, daß es leichter fällt zu sagen, was der Sinn nicht ist, als das, was er ist. In der Tat können wir niemals zugleich einen Satz und seinen Sinn formulieren, niemals können wir den Sinn dessen sagen, was wir sagen. Aus diesem Blickwinkel ist der Sinn das wahrhafte loquendum, dasjenige, was in der empirischen Anwendung nicht gesagt werden kann, obwohl es in der transzendenten Anwendung nur gesagt werden kann. Die Idee, die alle Vermögen durchzieht, läßt sich jedoch nicht auf den Sinn reduzieren. Weil sie ihrerseits nämlich zugleich Unsinn ist; und es besteht keinerlei Schwierigkeit, jenen doppelten Aspekt in Einklang zu bringen, durch den die Idee aus strukturalen Elementen gebildet wird, die selber keinen Sinn besitzen, sie selbst aber den Sinn all dessen, was sie hervorbringt, konstituiert (Struktur und Genese). Es gibt nur ein Wort, das sich selbst und seinen Sinn aussagt, eben das Wort Unsinn, Abraxas, Snark oder Blituri. Und wenn der Sinn für die empirische Anwendung der Vermögen notwendig Unsinn ist, so sind umgekehrt die so häufigen Fälle von Unsinn in der empirischen Anwendung gleichsam das Geheimnis des Sinns für den gewissenhaften Beobachter, dessen Vermögen allesamt auf eine transzendente Grenze hin ausgerichtet sind. Der Mechanismus des Unsinns ist, wie soviele Autoren auf unterschiedliche Weise erkannt haben (Flaubert oder Lewis Caroll), die höchste Zweckmäßigkeit des Sinns, ebenso wie der Mechanismus der Dummheit die höchste Zweckmäßigkeit des Denkens ist. Wenn es stimmt, daß wir nicht den Sinn dessen sagen, was wir sagen, so können wir doch wenigstens den Sinn, d.h. das Ausgedrückte eines Satzes, als das Bezeichnete eines anderen Satzes nehmen - dessen Sinn wir wiederum nicht sagen, bis ins Unendliche. So daß das Bewußtsein, sofern wir jeden Satz des Bewußtseins ,,Name“ nennen, in einen unendlichen nominalen Regreß hineingezogen wird, wobei jeder Name auf einen anderen Namen verweist, der den Sinn des vorangehenden bezeichnet. Die Ohnmacht
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des empirischen Bewußtseins aber ist hier gleichsam die ,,n-te” Potenz der Sprache, und ihre transzendente Wiederholung die unendliche Befähigung, Wörter selbst auszusprechen oder über die Wörter zu sprechen. In jedem Fall wird das Denken durch das dogmatische Bild und im Postulat der Sätze verraten, dem zufolge die Philosophie einen Anfang in einem ersten Satz des Bewußtseins, Cogito, finden müßte. Aber vielleicht ist Cogito der Name, der keinen Sinn besitzt und kein anderes Objekt als den unbestimmten Regreß als Reiterationsmacht (ich denke, daß ich denke, daß ich denke . . ). Jeder Satz des Bewußtseins impliziert ein Unbewußtes des reinen Denkens, das die Sphäre des Sinns bildet, in der man dem Regreß ins Unendliche unterliegt. Das erste Paradox des Sinns ist also das der Proliferation, dem zufolge das Ausgedrückte eines ,,Namens“ das Bezeichnete eines anderen Namens ist, der den ersten verdoppelt. Und zweifellos kann man diesem Paradox entgehen, allerdings nur, um in ein anderes zu geraten: Dieses Mal stellen wir den Satz still, machen ihn unbeweglich, gerade für die Zeit, die wir benötigen, um ihm einen Doppelgänger zu entnehmen, der nur dessen ideellen Gehalt, dessen immanente Gegebenheit festhält. Die der Sprache wesentliche Paradoxale Wiederholung besteht dann nicht mehr in einer Verdoppelung, sondern in einer Halbierung; nicht mehr in einer Fluchtbewegung, sondern in einem Schwebezustand. Dieser Doppelgänger des Satzes ist es, der uns vom Satz selbst, von dem, der ihn formuliert, und vom Objekt, auf das er sich bezieht, gleichermaßen unterschieden erscheint. Er unterscheidet sich vom Subjekt und vom Objekt, weil er nicht außerhalb des Satzes existiert, den er ausdrückt. Er unterscheidet sich vom Satz selbst, weil er sich auf das Objekt als sein logisches Attribut, sein ,,Aussagbares“ oder ,,Ausdrückbares“, bezieht. Das ist das komplexe Thema des Satzes und damit der erste Term der Erkenntnis. Um es zugleich vom Objekt (von Gott, vom Himmel zum Beispiel) und vom Satz (Gott ist, der Himmel ist blau) zu unterscheiden, wird man es in einer infinitiven oder partizipialen Form aussagen: Gott-sein oder Gott-seiend, das BlauSein des Himmels. Dieser Komplex ist ein ideelles Ereignis. Eine objektive Entität, von der man aber nicht einmal sagen kann, sie existiere an sich: Sie insistiert, subsistiert, besitzt ein Quasi-Sein, ein Außer-Sein, das Minimum von Sein, das die wirklichen, möglichen und gar unmöglichen Objekte gemein haben. Auf diese Weise geraten wir allerdings in ein Wespennest von sekundären Schwierigkeiten. Denn wie läßt sich vermeiden, daß die widersprüchlichen Sätze denselben Sinn besitzen, da doch Affirmation und Negation bloß propositionale Modi sind? Und wie läßt sich vermeiden, daß ein widersprüchliches, an sich unmögliches Objekt einen Sinn besitzt, obwohl es keine ,,Bedeutung“ hat (das Quadrat-Sein des Kreises)? Und wie läßt sich überdies die Flüchtigkeit eines Objekts mit der Ewigkeit seines Sinns vereinbaren? Und wie kann man schließlich der Spiegelung-entgehen: Ein Satz muß wahr sein, weil sein Ausdrückb ares wahr ist. aber das Ausdrückbare ist nur dann wahr, wenn der Satz wahr ist? All diese Schwierigkeiten haben einen gemeinsamen Ursprung:
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Indem man dem Satz einen Doppelgänger entnommen hat, hat man ein bloßes Phantom beschworen. Der auf diese Weise definierte Sinn ist nur Dunst, der die Grenze von Dingen und Wörtern umspielt. Der Sinn erscheint hier, am Ende einer der mächtigsten Anstrengungen der Logik, allerdings als das Wirkungslose, unkörperlich Sterile, seiner genetischen Macht beraubt”. Lewis Caroll lieferte eine wunderbare Aufzählung all dieser Paradoxa: Das Paradox der neutralisierenden Halbierung findet seine Gestalt im Grinsen ohne Katze, und das der wuchernden Verdoppelung beim Ritter, der dem Namen des Lieds stets einen neuen Namen gibt - und zwischen diesen beiden Extremen all die sekundären Paradoxa, die die Abenteuer von Alice ausmachen. Wäre etwas gewonnen, wenn man den Sinn eher in einer interrogativen als einer infinitiven oder partizipialen Form ausdrückte (,,ist Gott?“ anstatt Gottsein oder das Seiende Gottes)? Auf den ersten Blick ist der Gewinn mager. Er ist aber mager, weil eine Befragung [interrogation] stets Abklatsch von erhältlichen, wahrscheinlichen oder möglichen Antworten ist. Sie ist also selbst der neutralisierte Doppelgänger eines der Annahme nach präexistenten Satzes, der ihr als Antwort dienen kann oder muß. Der Redner wendet seine ganze Kunst darauf, Befragungen zu konstruieren, die den Antworten entsprechen, welche er hervorrufen will, d. h. Sätzen entsprechen, von denen er uns überzeugen will. Und selbst wenn wir die Antwort nicht kennen, fragen wir nur, indem wir sie als bereits gegeben annehmen, de jure in einem anderen Bewußtsein präexistent. Darum erhebt sich die Interrogation, ihrer Etymologie zufolge, immer im Rahmen einer Gemeinschaft: Sie impliziert nicht nur einen Gemeinsinn, sondern einen gesunden Menschenverstand, eine Verteilung des Wissens und des Gegebenen im Verhältnis zu den empirischen Bewußtseinen, gemäß ihren Situationen, ihren Standpunkten, ihren Funktionen und ihrer Kompetenzen, und zwar derart, daß ein Bewußtsein bereits wissen soll, was das andere nicht weiß (wie spät ist es? - Sie, der Sie eine Armbanduhr haben oder in der Nähe einer Uhr stehen. Wann wurde Cäsar geboren? - Sie, der Sie die römische Geschichte kennen). Trotz dieser Schwäche hat die interrogative Formel dennoch einen Vorteil: Während sie uns auffordert, den ihr entspre.
21 Vgl. das ausgezeichnete Buch von Hubert Elie,
Le complexe
s@zific&le
(Paris
1936), das die Bedeutung und die Paradoxa dieser Theorie des Sinns zeigt, wie sie sich im 14. Jahrhundert in der Schule Ockhams (Gregorius von Rimini, Nicolaus von Autrecourt) entwickelt und wie sie auch Meinong wiederentdecken wird. - Die auf diese Weise begriffene Sterilität und Wirkungslosigkeit des Sinns erscheint noch bei Husserl, wenn er schreibt: ,,Die Schicht des Ausdrucks ist [. . .] nicht produktiv* Oder, wenn man will: Ihre Produktivität, ihre noematische Leistung erschöpft sich im Ausdrücken und der mit diesem neu hereinkommenden Form des BegrifflicbenC’ (Ideen ZU
einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie,
Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. 3, Haag 1950, S. 306).
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chenden Satz als Antwort zu betrachten, öffnet sie uns gleichzeitig einen neuen Weg. Ein als Antwort begriffener Satz ist stets ein besonderer Losungsfall und wird für sich selbst auf abstrakte Weise betrachtet, abgetrennt von der höheren Synthese, die ihn zusammen mit anderen Fällen auf ein Problem als Problem beziehen würde. Die Befragung verleiht ihrerseits also der Art und Weise Ausdruck, wie ein Problem in der Erfahrung und für das Bewußtsein zerstückelt, verscherbelt, verraten wird, und zwar gemäß seinen jeweils als verschieden aufgefaßten Lösungsfällen. Obwohl sie uns eine unzulängliche Idee verschafft, erweckt sie bei uns die Ahnung dessen, was sie zerstückelt. Der Sinn liegt im Problem selbst. Der Sinn wird im komplexen Thema konstituiert, das komplexe Thema aber ist jene Gesamtheit von Problemen und Fragen, bezüglich welcher die Sätze als Antwortelemente und Lösungsfälle dienen. Indessen verlangt diese Definition, daß man sich einer Illusion entledigt, die dem dogmatischen Bild des Denkens eignet: Man muß damit aufhören, die Probleme und Fragen als Abklatsch der entsprechenden Sätze zu begreifen, die ihnen als Antwort dienen oder dienen können. Wir kennen das Handelnde der Illusion; nämlich die Befragung, die im Rahmen einer Gemeinschaft die Probleme und Fragen zerstückelt und sie gemäß den Sätzen des empirischen Allgemeinbewußtseins rekonstituiert, d. h. gemäß den Wahrscheinlichkeiten einer bloßen doxa. Damit kompromittiert sich der große logische Traum eines Problemkalküls oder einer Kombinatorik. Man hat geglaubt, das Problem, die Frage wären nur die Neutralisierung eines korrespondierenden Satzes. Wie sollte man folglich nicht annehmen, das Thema oder der Sinn sei nur ein wirkungloser Doppelgänger, ein Abklatsch des Typs von Sätzen, die darunter subsumiert werden, oder gar eines Elements, das vermeintlich jedem Satz gemein ist (die Indikativ-These)? Weil man nicht sieht, daß Sinn oder Problem außerpropositional sind, daß sie sich wesentlich von jeglichem Satz unterscheiden, verfehlt man das Wesentliche, die Genese des Denkakts, den Gebrauch der Vermögen. Die Dialektik ist die Kunst der Probleme und Fragen, die Kombinatorik das Kalkül der Probleme als solcher. Aber die Dialektik verliert die ihr eigentliche Kraft - und damit beginnt die Geschichte ihrer lange währenden Verfälschung, durch die sie unter die Macht des Negativen gerät -, wenn sie sich mit dem Abklatsch der Probleme von den Sätzen begnügt. Aristoteles schreibt: ,,Sagt man: Ist auf Füßen gehendes zweibeiniges Sinnenwesen die Definition von Mensch? und ist Sinnenwesen die Gattung von Mensch? so gibt es einen Satz. Sagt man dagegen: Ist auf Füßen gehendes zweibeiniges Sinnenwesen die Definition von Mensch oder ist sie es nicht? und: Ist Sinnenwesen Gattung von Mensch (oder nicht)? so gibt es ein Problem. Und so auch im übrigen./ Man versteht hiernach, daß Probleme und Sätze sich an Zahl gleich sind. Aus jedem Satz kann man mit Änderung der Form ein Problem machen.“ (Noch bei den zeitgenössischen Logikern sieht man, wie die Illusion um sich greift. Das Problemkalkül wird als außermathematisch dargestellt; was zutrifft, da es doch wesentlich logisch, d.h. dialek-
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tisch ist; es wird aber aus einem bloßen Satzkalkül erschlossen, das stets von den Sätzen selbst kopiert, abgepaust ist)22. Man macht uns glauben, die Probleme seien als fertige gegeben und verschwänden in den Antworten oder der Lösung; schon unter diesem doppelten Aspekt können sie bloß Phantome sein. Man macht uns glauben, die Denktätigkeit, und ebenso das Wahre und Falsche bezüglich dieser Tätigkeit, beginne erst mit der Suche nach Lösungen, betreffe nur die Lösungen. Dieser Glauben hat wahrscheinlich denselben Ursprung wie die anderen Postulate des dogmatischen Bilds: stets kindische, von ihrem Kontext gelöste, willkürlich zum Modell genommene Beispiele. Es ist ein infantiles Vorurteil, demgemäß der Lehrer ein Problem stellt, wobei unsere Aufgabe darin besteht, es zu lösen, und das Ergebnis der Aufgabe von einer mächtigen Autorität für wahr oder falsch erachtet wird. Es ist ein soziales Vorurteil mit dem sichtbaren Interesse, uns kindlich zu halten, ein Vorurteil, das uns stets zur Lösung von Problemen auffordert, die anderswo herrühren, und uns damit tröstet oder ablenkt, daß uns gesagt wird, wir hätten gewonnen, wenn wir endlich die Antwort gefunden hätten: das Problem als Hindernis und der Antwortende als Herkules. Dies ist der Ursprung eines grotesken Bilds der Kultur, das man ebenso in den Tests, in den Aufrufen der Regierung, in den Preisausschreiben der Zeitungen findet (wo man jedermann dazu auffordert, nach seinem Geschmack zu urteilen, vorausgesetzt dieser Geschmack stimmt mit dem aller überein). Seien Sie Sie selbst, und zwar so verstanden, daß dieses Ich das der anderen sein soll. Als ob wir nicht Sklaven blieben, solange wir nicht über die Probleme selbst, über eine Teilhabe an den Problemen, ein Recht zu Problemen, eine Verwaltung von Problemen verfügten. Es ist das Los des dogmatischen Bilds des Denkens, daß es sich stets auf psychologisch kindische, sozial reaktionäre Beispiele stützt (die Fälle von Rekognition, die Fälle von Irrtum, die Fälle 22 Vgl. Aristoteles: Topik, 1, 4, 101 b, 30-35. - Dieselbe Illusion reicht noch in die moderne Logik hinein: Das Problemkalkül, wie es insbesondere von Kolmogoroff definiert wird, ist noch Abklatsch eines Satzkalküls und bildet mit ihm einen JSORapports entre Ze cahl des probhmorphismus“ (vgl. Paulette Destouches-Fevrier: mes et le calcul des propositions, Comptes rendues des seances de 1’Academie des Sciences, April 1945). W ir werden sehen daß das Unternehmen einer ,,negationsfreien Mathematik“ wie das von G. F. C. Griss seine Grenze nur in Bezug auf diese falsche Konzeption der Kategorie des Problems findet. Leibniz dagegen ahnt den variablen, aber stets tiefgreifenden Abstand zwischen den Problemen oder Themen und den Sätzen* . ,,Man kann sogar sagen, dai3 es Setzungen gibt, die zwischen einer Idee und einem Urteil die Mitte halten: und zwar sind dies die Fragen, unter denen es wieder solche gibt, die als Antwort nur ein einfaches Ja oder Nein verlangen, und diese stehen den Urteilen [propositions] am nächsten. Doch gibt es auch solche, in welchen es auf das Wie und die näheren Umstande ankommt; und hier bedarf es einer weitergehenden Ergänzung, um sie zu Urteilen umzubilden“ (Neue Abhandlungn über den menschlichen Verstand, in: Philosophische Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 412-413).
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einfacher Sätze, die Fälle von Antworten oder Lösung), um im voraus darüber zu urteilen, was das Höchste im Denken sein müßte, d.h. die Genese des Denkakts und der Sinn des Wahren und des Falschen. Darum ist ein siebentes Postulat den anderen hinzuzufügen: das Postulat der Antworten und Lösungen, dem zufolge das Wahre- und das Falsche erst mit den Lösungen beginnen oder die Antworten qualifizieren. Doch schon wenn es in einem wissenschaftlichen Examen passiert, daß ein falsches Problem ,,gegeben” wird, ist dieses glückliche Skandalon dazu angetan, die Familien daran zu erinnern, daß die Probleme nicht fertig vorhanden sind, sondern in ihren eigenen symbolischen Feldern konstituiert und besetzt werden müssen; und daß das Buch des Meisters zu seiner Fertigstellung notwendig eines - notwendig fehlbaren - Meisters bedarf. Pädagogische Versuche haben sich vorgenommen, Schüler - selbst in sehr jungem Alter - an der Verfertigung von Problemen, an ihrer Konstitution, an ihrer Stellung als Probleme teilhaben zu lassen. Mehr noch, jedermann ,,anerkennt“ in gewisser Weise, daß die Probleme das wichtigste sind. Es genügt aber nicht, dies de facto anzuerkennen, als ob das Problem nur eine vorübergehende und kontingente Bewegung wäre, dazu bestimmt, in der Formation des Wissens zu verschwinden, und seine Bedeutung nur den negativen empirischen Bedingungen verdankte, denen das erkennende Subjekt unterliegt; im Gegenteil, diese Entdeckung muß auf die transzendentale Ebene übertragen werden, und die Probleme dürfen nicht als ,,gegeben“ (data), sondern müssen als ideelle ,,Gegenständlichkeiten“ betrachtet werden, die selbstgenügsam sind und konstitutive und besetzende Akte in ihren symbolischen Feldern implizieren. Weit davon entfernt, die Lösungen zu betreffen, affizieren das Wahre und das Falsche zunächst die Probleme. Eine Lösung besitzt stets die Wahrheit, die sie gemäß des Problems, auf das sie antwortet, verdient; und das Problem stets die Lösung, die es gemäß seiner eigenen Wahrheit oder Falschheit, d. h. gemäß seines Sinns verdient. Dies ist in der Tat die Bedeutung berühmter Wendungen wie ,,die wahren großen Probleme werden erst gestellt, wenn sie gelöst werden“, oder ,,die Menschheit stellt sich nur die Probleme, die sie zu lösen vermag“: keineswegs, weil d i e - praktischen oder spekulativen - Probleme der Schatten vorgängiger Losungen wären, sondern im Gegenteil, weil die Lösung sich notwendig aus den vollständigen Bedingungen ergibt, unter denen man das Problem als Problem bestimmt, aus den Mitteln und Termen, über die man verfügt, um es zu stellen. Das Problem oder der Sinn ist zugleich der Ort einer ursprünglichen Wahrheit und die Genese einer abgeleiteten Wahrheit. Die Begriffe von Unsinn, falschem Sinn, Widersinn müssen auf die Probleme selbst bezogen werden (manche Probleme sind falsch duch Unbestimmtheit, andere durch Überbestimmtheit; und die Dummheit schließlich ist das Vermögen zu falschen Problemen, belegt eine Unfähigkeit zur Konstitution, Erfassung und Bestimmung eines Problems als solchen). Die Philosophen und Wissenschaftler träumen davon, die Prüfung des Wahren und Falschen
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in die Probleme hineinzutragen; dies ist der Gegenstand der Dialektik als höheres oder kombinatorisches Kalkül. Aber auch hier übernimmt dieser Traum nur die Funktion einer ,,Bußübung“23, solange die transzendentalen Konsequenzen daraus nicht explizit gezogen werden und das dogmatische Bild des Denkens de jure fortbesteht. Die natürliche Illusion (die im Abklatsch der Probleme von den Sätzen besteht) setzt sich nämlich in einer philosophischen Illusion fort. Man anerkennt den kritischen Anspruch, man bemüht sich, die Prüfung des Wahren und des Falschen bis in die Probleme hineinzutragen; aber man hält daran fest, daß die Wahrheit eines Problems bloß in seiner Lösungsmöglichkeit bestehe. Die neue Gestalt der Illusion, ihr technischer Charakter rührt diesmal daher, daß man die Form der Probleme nach der Möglichkeitsform der Sätze modelliert. Dies ist bereits bei Aristoteles der Fall - Aristoteles wies der Dialektik ihre reale Aufgabe, ihre einzige wirkliche Aufgabe zu: die Kunst der Probleme und Fragen. Während uns die Analytik das Mittel zur Lösung eines bereits gegebenen Problems oder zur Beantwortung einer Frage bereitstellt, soll die Dialektik zeigen, wie man die Frage legitimerweise stellt. Die Analytik untersucht den Prozeß, mit dem der Syllogismus notwendig schlußfolgert, die Dialektik aber erfindet die Themen der Syllogismen (die Aristoteles eben ,,Probleme“ nennt) und erzeugt die ein Thema betreffenden Elemente des Syllogismus (,,Sätze“). Zur Beurteilung eines Problems aber fordert uns Aristoteles auf, ,,die Meinungen, die von allen oder von den meisten Menschen oder von den Weisen für richtig erachtet werden“, zu berücksichtigen, um sie auf allgemeine (prädikable) Gesichtspunkte zu beziehen und auf diese Weise Topoi zu bilden, die es ermöglichen, sie in einer Diskussion zu beweisen oder zu widerlegen. Die Gemeinplätze sind also die Prüfung des Gemeinsinns selbst; wobei jedes Problem als falsches Problem angesehen werden wird, dessen entsprechender Satz einen logischen Fehler hinsichtlich Akzidens, Gattung, Eigenschaft oder Definition enthält. Wenn die Dialektik bei Aristoteles abgewertet, auf die bloßen Wahrscheinlichkeiten der Meinung oder der doxa reduziert erscheint, so nicht deshalb, weil er deren wesentliche Aufgabe schlecht begriffen hätte, sondern im Gegenteil deshalb, weil er die Verwirklichung dieser Aufgabe schlecht angelegt hat. Als Opfer der natürlichen Illusion macht er die Probleme zum Abklatsch der Sätze des Gemeinsinns; als Opfer der philosophischen Illusion läßt er die Wahrheit der Probleme von Gemeinplätzen abhängen, d.h. von der logischen Möglichkeit, eine Lösung zu erhalten (wobei die Sätze selbst mögliche Lösungsfälle bezeichnen). Im Laufe der Philosophiegeschichte variiert bestenfalls die Form der Möglichkeit. So gedenken sich die Parteigänger einer mathematischen Methode der Dialektik zu widersetzen; dennoch bewahren sie das Wesentliche 23 Vgl . Fußnote 11, S. 185 [A.d.Ü.].
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davon, nämlich das Ideal einer Kombinatorik oder eines Problemkalküls. Aber anstatt auf die logische Form des Möglichen zu rekurrieren, stellen sie eine andere, spezifisch mathematische Möglichkeitsform heraus - sei sie geometrischer oder algebraischer Natur. Die -Probleme sind also weiterhin Abklatsch von entsprechenden Sätzen und werden weiterhin gemäß ihrer Lösungsmöglichkeit bewertet. Genauer noch: von einem geometrischen und synthetischen Gesichtspunkt aus werden die Probleme aus Sätzen eines besonderen Typs, Theoreme genannt, gefolgert. Dies ist eine allgemeine Tendenz der griechischen Geometrie, nämlich einesteils die Probleme zu Gunsten der Theoreme zu begrenzen, andernteils die Probleme den Theoremen selbst unterzuordnen. Das rührt daher, daß die Theoreme die Eigenschaften der einfachen Wesenheit auszudrücken und zu entfalten scheinen, während die Probleme bloß die Ereignisse und Affektionen betreffen, die von einer Abschattung, von einer Projektion der Wesenheit in die Einbildungskraft zeugen. Da-mit aber wird der Gesichtspunkt der Genese zwangsläufig auf einen niedrigeren Rang verwiesen: Man beweist, daß etwas nicht nicht sein kann, anstatt zu zeigen, daß es ist und warum es ist (daher die Häufigkeit von negativen, indirekten und apagogischen Beweisführungen bei Euklid, die die Geometrie unter der Herrschaft des Identitätsprinzips festhalten und sie daran hindern, zu einer Geometrie des zureichenden Grundes zu werden). Von einem algebraischen und analytischen Standpunkt aus bleibt sich das Wesentliche der Situation gleich. Die Probleme sind nun Abklatsch von algebraischen Gleichungen und werden gemäß der Möglichkeit bewertet, bezüglich der Koeffizienten der Gleichung eine Gesamtheit v o n Operationen durchzuführen, die die Wurzeln liefert. Ebenso aber wie wir uns in der Geometrie das Problem als gelöstes vorstellen, verfahren wir in der Algebra hinsichtlich unbekannter Quantitäten, als ob sie bekannt wären: darin setzt sich die Arbeit fort, die in der Reduktion der Probleme auf die Form von Sätzen besteht, die ihnen als Lösungsfall zu dienen vermögen. Bei Descartes wird dies deutlich. Die kartesianische Methode (die Suche nach Klarheit und Deutlichkeit) ist eine Methode zur Lösung von als gegeben Vorausgesetzen Problemen, keine
Erfindungsmethode, die zur Konstitution der Probleme selbst und zum Verständnis der Fragen geeignet wäre. Die Regeln, die die Probleme und Fragen betreffen, spielen nur eine sekundäre und untergeordnete Rolle. In seinem Kampf gegen die aristotelische Dialektik hat Descartes dennoch einen Punkt mit ihr gemein, einen entscheidenden Punkt: Das Kalkül der Probleme und Fragen wird weiterhin aus einem Kalkül ,,einfacher Sätze“, die als vorgängig vorausgesetzt werden, gefolgert, immer noch das Postulat
des dogmatischen Bilds24. 24
Descartes unterscheidet zwischen den a u f ,,einfache Propositionen” u n d den auf ,,Fragen“ bezogenen G eboten (Regulae ad directionem ingenii/Regeln zur A usrich-
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Die Variationen werden weitergeführt, allerdings in derselben Perspektive. Was betreiben die Empiristen anderes als die Erfindung einer neuen Form von Möglichkeit: der Wahrscheinlichkeit oder physikalischen Lösungsmöglichkeit? Und Kant selbst? Meher als jeder andere jedoch forderte Kant, daß die Prüfung des Wahren und des Falschen in die Probleme und Fragen hineingetragen werden müsse; gerade damit definierte er die Kritik. Als problematisierende und problematische erlaubte es ihm seine profunde Theorie der Idee, die wahre Quelle der Dialektik wiederzufinden und gar die Probleme in den geometrischen Entwurf der praktischen Vernunft einzuführen. Allein, weil die kantische Kritik unter der Herrschaft des dogmatischen Bilds oder des Gemeinsinns verharrt, definiert Kant die Wahrheit eines Problems noch über dessen Lösungsmöglichkeit: Es handelt sich dieses Mal um eine transzendentale Möglichkeitsform, in Übereinstimmung mit einem legitimen Gebrauch der Vermögen, wie er in jedem Fall durch diese oder jene Organisation des Gemeinsinns (der das Problem entspricht) bestimmt wird. - Stets finden wir die beiden Aspekte der Illusion wieder: die natürliche Illusion, die im Abklatsch der Probleme von vermeintlich vorgegeben Sätzen, von logischen Meinungen, geometrischen Theoremen, algebraischen Gleichungen, physikalischen Hypothesen, transzendentalen Urteilen besteht; und die philosophische Illusion, die in der Bewertung der Probleme gemäß ihrer ,,Lösbarkeit“ besteht, d.h. gemäß der variablen äußerlichen Form ihrer Lösungsmöglichkeit. Unausweichlich ist der Grund dann selbst nur eine bloße äußere Bedingtheit. Seltsamer Sprung auf der Stelle und Teufelskreis, mit denen der Philosoph beabsichtigt, die Wahrheit, Lösungen bis an die Probleme heranzutragen, jedoch - immer noch Gefangener des dogmatischen Bilds - die Wahrheit der Probleme auf die Möglichkeit ihrer Lösungen zurückführt. Verfehlt wird die innere Charakteristik des Problems als solchen, das innere imperative
tung der Erkenntnis, Hamburg 1973, Regel NI). Eb e n d iese letzeren beginnen erst mit der 13. Regel und leiten sich von den ersteren ab. Descartes unterstreicht selbst den Punkt, in dem seine Methode und die aristotelische Dialektik einander ähneln: ,,Dies eine nun tun wir den Dialektikern nach: ebenso wie sie beim Vortrag der syllogistischen Formen voraussetzen, daß deren Begriffe oder deren Materie bekannt sei, SO fordern auch wir im voraus, daß das Problem vollkommen verstanden sei” (Regel XIII). - Eb enso die untergeordnete Rolle der ,,Fragen“ bei Malebranche: Vgl. Recherche de Za vb-itcf, VI, 2, 7. Kap. Und bei Spinoza erscheint keinerlei ,,Problem“ in der Anwendung der geometrischen Methode. In seiner Geometrie jedoch unterstrich Descartes die Bedeutung des analytischen Verfahrens aus dem Blickwinkel der Konstitution von Problemen und nicht nur ihrer Lösungen (in einer sehr schönen Passage insistiert Auguste Compte auf diesem Punkt und zeigt, wie die Aufteilung von ,,Singularitäten“ die ,,Bedingungen des Problems“ bestimmt; vgl. Tyaite &%nentaire de geometrie analytique, 1843). In dieser Hinsicht läßt sich sagen, daß Descartes als Spezialist der Geometrie weiter geht als der Philosoph Descartes.
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Element, das zuerst über seine Wahrheit und Falschheit entscheidet und seine innerliche genetische Macht bemißt: das Objekt selbst der Dialektik oder Kombinatorik, das ,,Differentielle”. Die Probleme sind Prüfungen und Selektionen. Das Wesentliche liegt darin, daß sich im Kern der Probleme eine Genese der Wahrheit, eine Produktion des Wahren im Denken vollzieht. Das Problem ist das differentielle Element im Denken, das genetische Element im Wahren. Wir können also den einfachen Gesichtspunkt der Bedingtheit durch einen Gesichtspunkt der wirklichen Genese ersetzen. Das Wahre und das Falsche verharren nicht in der Indifferenz des Bedingten hinsichtlich seiner. Bedingung, noch die Bedingung in der Indifferenz hinsichtlich dessen, was durch sie ermöglicht wird. Eine Produktion des Wahren und des Falschen durch das Problem und nach Maßgabe des Sinns - dies ist die einzige Art und Weise, die Ausdrücke ,,wahres und falsches Problem“ ernst zu nehmen. Zu diesem Zweck muß man nur darauf verzichten, die Probleme von möglichen Sätzen zu kopieren wie die Wahrheit der Probleme durch die Möglichkeit einer Lösung zu definieren. Im Gegenteil, die ,,Lösbarkeit“ ist es, die von einer inneren Charakteristik abhängen muß: Sie muß durch die Bedingungen des Problems bestimmt werden, wie gleichzeitig die realen Lösungen- durch das Problem und im Problem erzeugt werden müssen. Ohne diese Umkehrung ist die berühmte kopernikanische Revolution null und nichtig. Aus diesem Grund geschieht keine Revolution, solange man bei der euklidischen Geometrie verharrt: Man muß zu einer Geometrie des zureichenden Grundes, einer differentiellen Geometrie Riemannschen Typs gelangen, die das Diskontinuierliche vom Kontinuum aus zu erzeugen oder die Lösungen in den Bedingungen der Probleme zu begründen versucht. Nicht nur ist der Sinn ideell, vielmehr sind die Probleme die Ideen selbst. Zwischen den Problemen und den Sätzen besteht stets eine Wesensdifferenz, ein wesentlicher Abstand. Ein Satz ist durch sich selbst besonders und repräsentiert eine bestimmte Antwort. Eine Gesamtheit von Sätzen kann sich in der Weise verteilen, daß die von ihnen repräsentierten Antworten die Fälle einer allgemeinen Lösung bilden (so etwa bei den Werten einer algebraischen Gleichung). Gerade die Sätze aber, ob allgemein oder besonders, finden ihren Sinn nur im unterschwelligen Problem, das sie hervorruft. Einzig die Idee, einzig das Problem ist universal. Nicht die Lösung ist es, die ihre Allgemeinheit dem Problem überträgt, vielmehr überträgt das Problem seine Universalität der Lösung. Es genügt nie, ein P roblem mit Hilfe einer Reihe von einfachen Fällen zu lösen, die die Rolle von analytischen Elementen übernehmen; allerdings müssen die Bedingungen bestimmt werden, unter denen das Problem das Maximum an Inhalt und Extension erlangt, den Lösungsfällen seine eigene ideelle Kontinuität mitzuteilen vermag. Selbst bei einem Problem, das nur einen einzigen Lösungsfall hätte, würde der Satz, der diesen bezeichnete, seinen Sinn nur in einem Komplex finden, der imaginäre Situationen zu umfassen und ein Kontinuitätsideal zu integrieren vermag. Lösen bedeutet stets die Erzeugung der Diskontinuitäten auf der Grundlage einer Kontinuität,
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die als Idee fungiert. Sowie wir das Problem ,,vergessen“, haben wir nurmehr eine allgemeine abstrakte Lösung vor uns; und da diese Allgemeinheit durch nichts mehr gestützt werden kann, kann diese Lösung durch nichts daran gehindert werden, in die besonderen Sätze, die deren Fälle ausmachen, zu zerfallen. Vom Problem abgetrennt fallen die Sätze in den Stand besonderer Sätze zurück, deren einziger Wert in der Bezeichnung liegt. Das Bewußtsein bemüht sich dann um die Rekonstitution des Problems, allerdings gemäß des neutralisierten Doppelgängers von besonderen Sätzen (Befragungen, Zweifel, Wahrscheinlichkeiten, Hypothesen) und gemäß der leeren Form von allgemeinen Sätzen (Gleichungen, Theoreme, Theorien . . .)25. Es beginnt sodann die doppelte Konfusion, die das Problem mit der Reihe der hypothetischen Sätze gleichsetzt und es der Reihe der kategorischen unterordnet. Die Natur des Universalen ist verloren; mit ihr aber ebenso die Natur des Singulären. Denn das Problem oder die Idee ist die konkrete Singularität ebenso wie die wahre Universalität. Den Beziehungen, die das Universale des Problems konstituieren, entsprechen die Aufteilungen von ausgezeichneten und singulären Punkten, die die Bestimmung der Bedingungen des Problems konstituieren. Obwohl Proclus das Primat des Theorems über das Problem beibehielt, hatte er dieses strikt dadurch definiert, daß es sich auf eine Ordnung von Ereignissen und Affektionen bezieht2? Und Leibniz vermerkte richtig, was das Problem und die Sätze voneinander trennte: alle Arten von Ereignissen, ,,das Wie und die Umstände”, in denen die Sätze ihren Sinn finden. Aber diese Ereignisse sind ideelle Ereignisse, von anderer Natur und tiefgreifender als die realen Ereignisse, die sie in der Ordnung der Lösungen bestimmen. Unter den großen lärmenden Ereignissen die kleinen Ereignisse des Schweigens, und unter dem natürlichen Licht entsprechend das kurze Aufblitzen der Idee. Die Singularität liegt ebensowenig jenseits der besonderen Sätze wie das Universale jenseits des allgemeinen Satzes. Die problematischen Ideen sind keine einfachen Wesenheiten, sondern Komplexe, Vielheiten von Bezügen und entsprechenden Singularitäten. Vom Standpunkt des Denkens aus sind die problematische Unterscheidung zwischen Gewöhnlichem und dem Singulärem und der jeweilige Unsinn, der auf einer schlechten Aufteilung in den Bedingungen des Problems beruht, zweifellos wichtiger als die hypothetische oder
25 Eines der originellsten Kennzeichen der modernen Epistemologie ist die Anerkennung dieser doppelten Unreduzierbarkeit des ,,Problems“ (in diesem Sinne erscheint uns die substantivische Verwendung des Worts p r o b l e m a t i s c h als ein unabdingbarer Neologismus). - Vgl. Georges Bouligand und seine Unterscheidung zwischen dem ,,Problemelement“ und dem ,,globalen Syntheseelement“ (insbesondere in: Le di& des absolues mathsmatico-logiques, Paris 1949); Georges Canguilhem und seine Unterscheidung Problem-Theorie (insbesondere in: Le normal et le pathologique, Paris 1966; dt.: Das Normale und das Pathologische, München 1974). 26 Proclus Diadochus . Euklid-Kommentar hg. v. M. Steck, Halle 1945, S. 219ff. J
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kategorische Dualität von Wahrem und Falschem einschließlich der ,,Irrtümer“, die bloß auf deren Konfusion in den Lösungsfällen beruhen. Ein Problem existiert nicht außerhalb seiner Lösungen. Aber weit davon entfernt ZU verschwinden, insistiert und persistiert es in diesen Losungen, die es überdecken. Ein Problem bestimmt sich zur selben Zeit wie es gelöst wird; aber seine Bestimmung verschmilzt nicht mit der Lösung, die beiden Elemente unterscheiden sich wesentlich, und die Bestimmung ist gleichsam die Genese der begleitenden Lösung. (So gehört die Aufteilung der Singularitäten vollständig zu den Bedingungen des Problems, während ihre Spezifikation bereits auf die Lösungen verweist, die unter diesen Bedingungen konstruiert werden.) Das Problem ist zugleich transzendent und immanent bezüglich seiner Losungen. Transzendent, weil es aus einem System von ideellen Verbindungen oder Differentialverhältnissen zwischen genetischen Elementen besteht. Immanent, weil diese Verbindungen oder Verhältnisse sich in den aktuellen Relationen verkörpern, die ihnen unähnlich sind und durch das Lösungsfeld definiert werden. Albert Lautman hat in seinem bewundernswerten Werk wie kein anderer gezeigt, daß die Probleme zunächst platonische Ideen waren, ideelle Verbindungen zwischen dialektiscben Begriffen, die sich auf ,,mögliche Situationen des Existierenden” beziehen; daß sie sich aber auch in den realen Relationen aktualisieren, die für die gesuchte Lösung auf einem mathematischen oder physikalischen usw. Feld konstitutiv sind. Nach Lautman hat die Wissenschaft in diesem Sinne stets an einer sie überschreitenden Dialektik teil, d. h. an einer metamathematischen und extrapropositionalen Macht, obwohl diese Dialektik ihre Verbindungen nur in den Sätzen tatsächlicher wissenschaftlicher Theorien verkörpert27. Die Probleme sind stets dialektisch; darum verliert die Dialektik, sobald sie ihren intimen Bezug zu den Problemen als Ideen ,,vergißt“, sobald sie sich mit dem Abklatsch der Probleme von den Sätzen begnügt, ihre wahrhafte Macht, um unter die Herrschaft des Negativen zurückzufallen, und ersetzt notwendig die ideelle Gegenständlichkeit des Problematischen durch eine bloße Konfrontation von entgegengesetzen, konträren oder widersprüchlichen Sätzen. Eine langwährende Verfälschung, die mit der Dialektik selbst beginnt und ihre äußerste Form im Hegelianismus findet. Wenn es aber zutrifft, daß die Probleme prinzipiell dialektisch, ihre Lösungen wissenschaftlich sind, so müssen wir eine vollständigere Unterscheidung treffen: das Problem als transzendente Instanz; das symbolische Feld, in dem sich die Bedingungen des Problems in seiner Immanenzbewegung ausdrückten; das Feld wissenschaftlicher Lösbarkeit, in dem sich das Problem verkörpert und in 27Albert Lautman: Essai sur les notions de structure et d’existence en mathemathiques, Paris 1938, Bd. 1, S. 13; Bd. 2, S. 149 (,,d a s einzige von uns erfaßte Element a priori i s t in der Erfahrung jener Dringlichkeit der Probleme gegeben, die der Entdeckung ihrer Lösungen vorausgeht . . .“>. - Und zum doppelten Aspekt der Problem-Ideen, Transzendenz und Immanenz, vgl. Nouvelles recherches sur Za structure dialectique des matbhnathiques, Paris 1939, S. 14-15.
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dessen Abhängigkeit sich der vorausgehende Symbolismus definiert. Einzig eine allgemeine Theorie des Problems und der entsprechenden ideellen Synthese wird den Bezug zwischen diesen Elementen präzisieren können.
Die Probleme und ihre Symboliken sind auf Zeichen bezogen. Die Zeichen sind es, die ,,Probleme machen” und sich in einem symbolischen Feld entfalten. Die paradoxe Anwendung der Vermögen und zuerst der Sinnlichkeit im Zeichen verweist also auf die Ideen, die alle Vermögen durchlaufen und sie ihrerseits wachrufen. Umgekehrt verweist die Idee auf die paradoxe Anwendung jeden Vermögens und verleiht selber der Sprache den Sinn. Es läuft auf daselbe hinaus, ob man die Idee erforscht oder jedes der Vermögen zu seinem transzendenten Gebrauch anhebt. Das sind die beiden Aspekte eines Erlernens, eines wesentlichen Lernprozesses. Denn einerseits ist der Lernende derjenige, der praktische oder spekulative Probleme als solche konstituiert und besetzt. Lernen ist der Name, der den subjektiven Akten zukommt, die angesichts der Gegenständlichkeit des Problems (Idee) vollzogen werden, während Wissen bloß die Allgemeinheit des Begriffs oder den ruhigen Besitz einer Regel für die Lösungen bezeichnet. Ein berühmter psychologischer Test inszeniert einen Affen, den man seine Nahrung in Schachteln einer bestimmten Farbe zwischen anderen mit verschiedenen Farben suchen läßt; dabei tritt eine paradoxe Phase ein, in der die Zahl der ,,Irrtümer“ abnimmt, ohne daß jedoch der Affe schon das ,,Wissen“ oder die ,,Wahrheit“ einer Lösung für jeden Fall besitzen würde. Welch glücklicher Moment, wenn der Philosophen-Affe für die Wahrheit empfänglich wird und selbst das Wahre produziert, allerdings nur in dem Maße, wie er in die farbige Dichte eines Problems einzudringen beginnt. Man sieht hier, wie sich die Diskontinuität der Antworten vor dem Hintergrund der Kontinuität eines ideellen Lernprozesses erzeugt und wie sich das Wahre und das Falsche nach Maßgabe dessen verteilen, was man vom Problem erfaßt, wie die endgültige Wahrheit, wenn sie erlangt ist, als die Grenze des vollständig erfaßten und bestimmten Problems auftaucht, als das Produkt genetischer Reihen, die den Sinn bilden, oder als Resultat einer Genese, die nicht nur im Kopf eines Affen abläuft. Lernen heißt in das Universale der Verhältnisse eindringen, die die Idee bilden, und in die Singularitäten, die ihnen entsprechen. Die Idee des Meers etwa ist, wie Leibniz zeigte, ein System von Verbindungen oder Differentialverhältnissen zwischen Partikeln und von Singularitäten, die den Variationsgraden dieser Verhältnisse entsprechen - wobei sich die Gesamtheit des Systems in der realen Wellenbewegung verkörpert. Schwimmenlernen bedeutet die Konjugation der ausgezeichneten Punkte-unseres Körpers mit den singulären Punkten der objektiven Idee, um ein problematisches Feld zu bilden. Diese Konjugation bestimmt für
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uns eine Bewußtseinsschwelle, auf deren Höhe sich unsere realen Akte unseren Wahrnehmungen der realen Beziehungen des Objekts anpassen und damit eine Problemlösung liefern. Gerade die problematischen Ideen aber sind zugleich die letzten Elemente der Natur und das subliminale Objekt der kleinen Wahrnehmungen. So daß ,,lernen“ sich stets übers Unbewußte, sich stets im Unbewußten vollzieht und dabei das Band eines tiefen Einverständnisses zwischen Natur und Geist knüpft. Andererseits erhebt der Lernende jedes Vermögen zum transzendenten Gebrauch. In der Sinnlichkeit sucht er jene zweite Macht entstehen zu lassen, die erfaßt, was nur empfunden werden kann. Das sind die Lehrjahre der Sinne. Und von einem Vermögen zum anderen überträgt sich die Gewalt, die aber stets das Andere im Unvergleichlichen eines jeden umfaßt. Von welchen Zeichen der Sinnlichkeit aus, durch welche Schätze des Gedächtnisses wird das Denken hervorgerufen werden, unter Torsionen, die durch die Singularitäten welcher Idee bestimmt werden? Man weiß niemals im voraus, wie jemand lernen wird - durch welche Liebschaften man gut in Latein wird, durch welche Begegnungen man Philosoph ist, in welchen Wörterbüchern man denken lernt. Die Grenzen der Vermögen schieben sich ineinander, und zwar in der gebrochenen Form dessen, wodurch die Differenz getragen und übermittelt wird. Es gibt keine Methode zur Auffindung der Schätze und ebensowenig eine Methode des Lernens, vielmehr eine gewaltsame Zucht, eine Bildung oder Paideia, die das ganze Individuum durchdringt (ein Albino, dem der Empfindungsakt in der Sinnlichkeit entsteht, ein Aphatiker, dem die Rede in der Sprache entsteht, ein Azephalus, dem das Denken im Denken entsteht). Die Methode ist das Mittel des Wissens, das die Zusammenarbeit aller Vermögen reguliert; daher ist sie auch die Manifestation eines Gemeinsinns oder die Realisierung einer Cogitatio natura, die einen guten Willen als eine ,,wohlüberlegte Entscheidung“ des Denkenden voraussetzen. Bildung aber ist die Bewegung des Lernens, das Abenteuer des Unwillkürlichen, das eine Sinnlichkeit, ein Gedächtnis und dann ein Denken miteinander verknüpft, mit allen gebotenen Gewaltanwendungen und Grausamkeiten, wie Nietzsche sagte, um eben ,,ein Volk von Denkern zu züchten“, ,,dem Geiste Zucht zu verleihen“. Selbstverständlich wird die Bedeutung und die Würde des Lernens oft anerkannt. Aber dies entspricht einer Huldigung an die empirischen Bedingungen des Wissens: Man entdeckt Vornehmheit in dieser vorbereitenden Bewegung, die dennoch im Ergebnis verschwinden soll. Und selbst wenn man auf der Eigentümlichkeit des Lernens und auf der im Lernprozeß implizierten Zeit insistiert, so nur deswegen, um die Skrupel eines psychologischen Bewußtseins zu besänftigen, das sich sicher nicht erlaubt, dem Wissen das eingeborene Recht streitig zu machen, das ganze Transzendentale zu repräsentieren. Lernen ist nur die Vermittlung zwischen Nichtwissen und Wissen, der lebendige .. Übergang vom einen zum anderen. Man mag noch so sehr behaupten, Lernen sei zuletzt eine unendliche Aufgabe; diese -wird nichtsdestoweniger auf die
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Seite der Umstände und des Erwerbs abgewälzt und nach draußen verlegt, außerhalb des der Annahme nach einfachen Wesens des Wissens als Angeborensein, apriorischem Element oder gar regulativer Idee. Und schließlich gerät der Lernprozeß eher auf die Seite der Ratte im Labyrinth, während der Philosoph außerhalb der Höhle bloß das Ergebnis - das Wissen - davonträgt, um daraus die transzendentalen Prinzipien hervorzuholen. Selbst bei Hegel bleibt der enorme Lernprozeß, dem man in der Phänomenologie beiwohnt, mit seinem Ergebnis ebenso wie mit seinem Prinzip dem Ideal des Wissens als absolutem Wissen untergeordnet. Freilich bildet auch hier Platon die Ausnahme. Denn bei ihm ist Lernen tatsächlich die transzendentale Bewegung der Seele und ebensowenig aufs Wissen wie aufs Nichtwissen reduzierbar. Die transzendentalen Bedingungen des Denkens müssen dem ,,Lernen” - und nicht dem Wissen - entnommen werden. Darum werden die Bedingungen durch Platon in der Form der Wiedererinnerung und nicht des Angeborenseins bestimmt. Auf diese Weise dringt Zeit ins Denken ein, und zwar nicht als die empirische Zeit des Denkenden, der faktischen Bedingungen unterliegt und für den Denken Zeit braucht, sondern als Zeit des reinen Denkens oder rechtmäßige Bedingung (die Zeit braucht Denken). Und die Wiedererinnerung findet ihr eigenes Objekt, ihr memorandum in der spezifischen Materie des Lernprozesses, d. h. in den Fragen und Problemen als solchen, in der Dringlichkeit der Probleme unabhängig von ihren Lösungen, in der Idee. Warum müssen soviele Grundprinzipien, die das betreffen, was Denken bedeutet, durch die Wiedererinnerung selbst aufs Spiel gesetzt werden? Weil, wie wir gesehen haben, die platonische Zeit ihre Differenz ins Denken - und der Lernprozeß seine Heterogenität - nur darum einführt, um sie noch der mythischen Form der Ähnlichkeit und der Identität, also dem Bild des Wissens selbst zu unterstellen. So daß die ganze platonische Theorie des Lernprozesses als eine Bußübung2* fungiert, erdrückt durch das entstehende dogmatische Bild, und einen Ungrund heraufbeschwört, den sie auch weiterhin nicht ZU erforschen vermag. Ein neuer Menon würde sagen: Das Wissen, es ist nichts anderes als eine empirische Gestalt, bloßes Resultat, das in die Erfahrung fällt und zurückfällt, Lernen aber ist die wahre transzendentale Struktur, die die Differenz mit der Differenz, die Unähnlichkeit mit der Unähnlichkeit vereint, ohne sie zu vermitteln, und die Zeit ins Denken einführt, allerdings als reine Form der leeren Zeit überhaupt und nicht als diese oder jene mythische Vergangenheit, diese oder jene frühere mythische Gegenwart. Stets stoßen wir auf die Notwendigkeit, die angenommenen Beziehungen oder Aufteilungen des Empirischen und des Transzendentalen zu verkehren. Und als achtes Postulat im dogmatischen Bild müssen wir das Postulat des Wissens berücksichtigen, das alle anderen in einem vermeintlich einfachen Resultat bloß rekapituliert und aufsammelt. 28 Vgl . Fußnote 11, S. 185 [A.d.Ü.].
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Wir haben acht Postulate gezählt, wovon jedes zwei Gestalten besitzt: 1. das Postulat des Prinzips oder der Cogitatio. natura universalis (guter Wille des Denkenden, gute Natur des Denkens); 2. das Postulat des Ideals oder des Gemeinsinns (der Gemeinsinn als concordiu facultatum und der gesunde Menschenverstand als Aufteilung, die diese Eintracht gewährleistet); 3. das Postulat des Modells oder der Rekognition (die Rekognition, die alle Vermögen dazu auffordert, sich auf ein Objekt, das der Annahme nach dasselbe ist, zu wenden, und die Möglichkeit von Irrtum, die sich in der Aufteilung daraus ableitet, wenn ein Vermögen eines seiner Objekte mit einem anderen Objekt eines anderen Vermögens verwechselt); 4. das Postulat des Elements oder der Repräsentation (wenn die Differenz den komplementären Dimensionen des Selben und des Ähnlichen, des Analogen und des Entgegengesetzten untergeordnet ist); 5. das Postulat des Negativen oder des Irrtums (in dem der Irrtum ausdrückt, was im Denken an Mißlichem passieren kann, dies aber zugleich als Produkt äußerer Mechanismen); 6. das Postulat der logischen Funktion oder des Satzes (die Bezeichnung wird als Topos der Wahrheit genommen, während der Sinn nur der neutralisierte Doppelgänger des Satzes oder seine unbestimmte Verdoppelung ist); 7. das Postulat der Modalität oder der Lösungen (die Probleme, die material Abklatsch der Sätze oder formal durch ihre Lösungsmöglichkeit definiert sind); 8. das Postulat des Zwecks oder des Resultats, das Postulat des Wissens (die Unterordnung des Lernens unter das Wissen, der Bildung unter die Methode). Wenn jedes Postulat zwei Gestalten hat, so deshalb, weil es einmal natürlich, einmal philosophisch ist; weil es einmal im Willkürlichen der Beispiele, einmal in der Voraussetzung des Wesens liegt. Die Postulate brauchen nicht ausgesprochen zu werden: Sie agieren im Schweigen umso besser, in jener Voraussetzung des Wesens wie in der Wahl der Beispiele; alle zusammen bilden sie das dogmatische Bild des Denkens. Sie erdrücken das Denken unter einem Bild, das dem des Selben und des Ähnlichen in der Repräsentation entspricht, das aber restlos preisgibt, was Denken bedeutet, insofern es die beiden Mächte der Differenz und der Wiederholung, des philosophischen Anfangs und Wiederanfangs veräußert. Das Denken, das im Denken entsteht, der in seiner Genitalität erzeugte Denkakt, der weder im Angeborensein gegeben noch in der Wiedererinnerung vorausgesetzt ist - das ist das bildlose Denken. Was aber ist ein derartiges Denken und sein Verlauf in der Welt?
VIERTES K APITEL
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ Kant ruft unablässig in Erinnerung, daß die Ideen wesentlich ,,problematisch“ seien. Umgekehrt sind die Probleme die Ideen selbst. Sicher zeigt er, daß uns die Ideen in falsche Probleme stürzen. Dieses Merkmal aber ist nicht das tiefgreifendste: Wenn die Vernunft nach Kant falsche Probleme im besonderen stellt und in ihrem Innern also die Illusion trägt, so deshalb, weil sie zunächst Vermögen zum Aufwerfen von Problemen überhaupt ist. Ein derartiges Vermögen hat, in seinem Naturzustand begriffen, noch nicht das Mittel zur Unterscheidung dessen, was es an Wahrem oder Falschem gibt, was in einem von ihm gestellten Problem begründet oder unbegründet ist. Die kritische Operation aber verfolgt gerade den Zweck, ihm dieses Mittel zu verschaffen: ,,Die Kritik hat sich nicht um die Gegenstände der Vernunft zu kümmern, sondern um die Vernunft selbst oder die Probleme, die ihrem Innern entspringen“‘. Man wird erfahren, daß die falschen Probleme an einen illegitimen Gebrauch der Idee gebunden sind. Daraus geht hervor, daß nicht jedes Problem falsch ist: Entsprechend ihrer richtig gefaßten kritischen Natur verfügendie Ideen über einen völlig legitimen, sogenannten ,,regulativen“ Gebrauch, demzufolge sie wahre Probleme konstituieren oder wohlbegründete Probleme stellen. Regulativ meint darum problematisch. Die Ideen sind, für sich allein genommen, problematisch, problematisierend - und trotz mancher Texte, in denen er die Begriffe gleichsetzt, bemüht sich Kant, die Differenz zwischen ,,prob1ematisch “ einerseits und ,,hypothetisch“, ,,erdichtet” , ,,allgemein“ oder ,,abstrakt“ andererseits zu zeigen. In welchem Sinne also stellt oder konstituiert die kantische Vernunft, als Vermögen von Ideen, Probleme? Weil einzig ’ 1. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 29: ,,Denn das hat die reine spekulative Vernunft Eigentümliches an sich, daß sie ihr eigenes Vermögen, nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objekte zum Denken wählt, ausmessen, und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben [frz.: problthes] vorzulegen, vollständig auszählen [. . .] s o l l .
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sie die Fähigkeit besitzt, die verschiedenen Verstandeshandlungen, die einen Komplex von Gegenständen betreffen, zu einem Ganzen zusammenzufassen2. Für sich allein genommen würde der Verstand in vereinzelte Handlungen verstrickt bleiben, Gefangener von partiellen empirischen Befragungen oder Forschungen, die sich auf diesen oder jenen Gegenstand beziehen, niemals aber würde er sich zur Konzeption eines ,,Problems“ erheben, die allen seinen Handlungen eine systematische Einheit zu verleihen vermag. Nur der Verstand würde hier und dort Resultate oder Antworten erhalten, niemals aber würden diese eine ,,Auflösung“ bilden. Denn jede Auflösung setzt ein Problem voraus, d. h. die Konstitution eines einheitlichen systematischen Feldes, das die Forschungen oder Befragungen ausrichtet und subsumiert, und zwar derart, daß die Antworten ihrerseits eben Lösungsfälle bilden. Es kommt vor, daß Kant behauptet, die Ideen seien ,,Probleme ohne alle Auflösung“. Er meint damit nicht, daß die Ideen notwendigerweise falsche Probleme, also unlösbar seien, vielmehr im Gegenteil, daß die wahren Probleme Ideen seien und daß diese Ideen nicht durch ,,ihre“ Lösungen beseitigt werden, da sie die unerläßliche Bedingung sind, ohne die keine Auflösung jemals existieren würde. Über einen legitimen Gebrauch verfügt die Idee nur bezüglich der Verstandesbegriffe; umgekehrt aber finden die Verstandesbegriffe den Grund ihres vollen experimentellen Gebrauchs (Maximum) nur in dem Maße, wie sie auf die problematischen Ideen bezogen werden, sei es, daß sie sich auf Linien anordnen, die in einem idealen Fokus außerhalb der Erfahrung konvergieren, sei es, daß sie sich vor dem Hintergrund eines höheren Horizonts, der sie alle umschließt, reflektieren’. Derartige Brennpunkte, derartige Horizonte sind die Ideen, d. h. die Probleme als solche, und zwar in ihrer zugleich immanenten wie transzendenten Natur. Die Probleme besitzen einen objektiven Wert, die Ideen besitzen in gewisser Weise ein Objekt. ,,Problematisch“ meint nicht nur eine besonders wichtige Art von subjektiven Akten, sondern auch eine Dimension der Objektivität als solcher, die von diesen Akten besetzt wird. Ein Objekt außerhalb der Erfahrung kann nur in problematischer Form repräsentiert werden; was nicht heißt, daß die Idee kein reales Objekt besitze, sondern daß das Problem als Problem das reale Objekt der Idee ist. Das Objekt der Idee ist, wie Kant in Erinnerung ruft, weder eine Fiktion noch eine Hypothese, noch ein Vernunftwesen: Es ist ein Objekt, das weder gegeben noch erkannt werden kann, sondern vielmehr repräsentiert werden muß, ohne daß es direkt bestimmt werden könnte. Kant sagt gerne, die Idee als Problem habe einen zugleich objektiven wie unbestimmten Wert. Das Unbestimmte ist nicht länger eine bloße Unvollkommenheit in unserer Erkenntnis oder ein Mangel im Objekt; es ist eine objektive, vollkommen positive Struktur, die als Horizont oder Brennpunkt bereits in 2 Ebd., Von den transzendentalen Ideen, S. 331. 3 Die beiden Bilder finden sich im Anhang zur transzendentalen Dialektik, Bd. 4, S. 565 und 575.
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der Wahrnehmung wirkt. Das unbestimmte Objekt, das Objekt in ideeller Hinsicht dient uns nämlich dazu, andere Objekte (die der Erfahrung) zu repräsentieren, denen es ein Maximum an systematischer Einheit verleiht. Die Idee würde die formalen Verstandeshandlungen nicht systematisieren, wenn nicht das Objekt der Idee den Erscheinungen eine ähnliche Einheit hinsichtlich ihrer Materie verleihen würde. Damit aber ist das Unbestimmte nur das erste objektive Moment der Idee. Denn auf der anderen Seite wird das Objekt der Idee indirekt bestimmbar: Es ist bestimmbar in Analogie mit jenen Objekten der Erfahrung, denen es die Einheit verleiht, die ihm aber als Gegenleistung eine Bestimmung verschaffen, die ,,analog“ zu den Beziehungen ist, die sie untereinander unterhalten. Schließlich trägt das Objekt der Idee das Ideal einer unendlichen durchgängigen Bestimmung in sich, da es ja eine Spezifikation der Verstandesbegriffe gewährleistet, durch welche diese mehr und mehr Differenzen umfassen, indem sie über ein eigentlich unendliches Kontinuitätsfeld verfügen. Die Idee weist also drei Momente auf: unbestimmt in ihrem Objekt, bestimmbar im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung, Trägerin des Ideals einer unendlichen Bestimmung im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen. Offensichtlich greift die Idee hier die drei Aspekte des Cogito auf: das Ich bin als unbestimmte Existenz, die Zeit als Form, in der diese Existenz bestimmbar ist, das Ich denke als Bestimmung. Die Ideen sind exakt die Gedanken des Cogito, die Differentiale des Denkens. Und sofern das Cogito auf ein gespaltenes Ego verweist - von einem zum anderen Ende durch die Form der Zeit zerspalten, durch die es durchdrungen wird -, muß von den Ideen gesagt werden, daß sie im Riß wimmeln, daß sie beständig an den Rändern dieses Risses auftauchen, unaufhörlich gehen und kommen und sich auf tausend verschiedene Weisen zusammensetzen. Keine Frage also nach Auffüllung dessen, was nicht aufgefüllt werden kann. Ebenso aber wie die Differenz unmittelbar vereint und verknüpft, was durch sie geschieden wird, wie der Riß zusammenhält, was er spaltet, umfassen die Ideen auch ihre zerrissenen Momente. Die Ideen haben die Eigenschaft, den Riß und seine Bewohner, sein Ameisengewimmel zu interiorisieren. Es besteht in der Idee keinerlei Gleichsetzung oder Verschmelzung, sondern eine innere problematische objektive Einheit des Unbestimmten, Bestimmbaren und der Bestimmung. Dies ist es vielleicht, was bei Kant nicht genügend deutlich wird: zwei der drei Momente bleiben ihm zufolge äußerliche Merkmale (wenn die Idee an sich selbst unbestimmt ist, so ist sie nur im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung bestimmbar und trägt das Ideal der Bestimmung nur im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen). Mehr noch, Kant ließ diese Momente in verschiedenen Ideen Gestalt annehmen: Das Ich ist vor allem unbestimmt, die Welt bestimmbar und Gott das Ideal der Bestimmung. Vielleicht muß man hier die wahren Gründe dafür suchen, daß Kant, wie ihm die Postkantianer vorwarfen, am Gesichtspunkt der Bedingtheit festhält, ohne den der Genese zu erreichen. Und wenn der Fehler des Dogmatismus stets darin besteht, das aufzufüllen, was trennt, so liegt der Fehler des
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Empirismus darin, das Getrennte außerhalb zu lassen; in diesem Sinn gibt es in der Kritik noch zuviel Empirismus (und zuviel Dogmatismus bei den Postkantianern). Der Horizont oder Brennpunkt, der ,,kritische“ Punkt, an dem die Differenz als Differenz die Funktion der Vereinigung übernimmt, ist noch nicht bezeichnet.
Wir stellen Nicht-A dx gegenüber, und entsprechend dem Symbol des WiderSpruchs das der Differenz (Differenzphilosophie [i.O.dt.]) - und ebenso der Negativität die Differenz an sich selbst. Freilich sucht der Widerspruch die Idee seitens der größten Differenz, während das Differential Gefahr läuft, in den Abgrund des unendlich Kleinen zu stürzen. Das Problem ist damit aber nicht richtig gestellt: Es ist falsch, den Wert des Symbols dx mit der Existenz der Infinitesimalen zu verbinden; aber es ist ebenso falsch, im Namen ihrer Ablehnung jenem Symbol jeglichen ontologischen oder gnoseologischen Wert zu verweigern. So daß in den alten, den sogenannten barbarischen oder vorwissenschaftlichen Interpretationen der Differentialrechnung ein Schatz vorhanden ist, der aus seiner infinitesimalen Einbindung geborgen werden muß. Es ist sehr viel wahrhaft philosophische Naivität und viel Begeisterung nötig, um das Symbol dx ernst zu nehmen: Was Kant und selbst Leibniz betrifft, so haben sie darauf verzichtet. Aber in der geheimen Geschichte der differentiellen Philosophie erstrahlen drei Namen: Salomon Maimon begründet den Postkantianismus paradoxerweise durch eine leibnizsche Neuinterpretation der Infinitesimalrechnung (1790); Ho&&Wronski, der tiefsinnige Mathematiker, entwickelt ein zugleich positivistisches, messianisches und mystisches System, das eine kantische Interpretation des Kalküls impliziert (1814); BordasDemoulin gibt, anläßlich einer Reflexion über Descartes, dem Kalkül eine platonische Deutung (1843). Hier dürfen viele philosophische Reichtümer nicht der modernen wissenschaftlichen Technik geopfert werden: ein Leibniz, ein Kant, ein Platon der Infinitesimalrechnung. Das Prinzip einer differentiellen Philosophie überhaupt muß Gegenstand einer strengen Darlegung sein und darf in keiner Weise vom unendlich Kleinen abhängen. Das Symbol dx erscheint zugleich als unbestimmt, als bestimmbar und als Bestimmung. Diesen drei Aspekten entsprechen drei Prinzipien, die den zureichenden Grund bilden: Dem Unbestimmten als solchem (dx, dy) entspricht ein Prinzip der Bestimmbarkeit; dem real Bestimmbaren (dxldy) entspricht ein Prinzip von Wechselbestimmung; dem wirklich Bestimmten (Werte von dxldy) entspricht ein Prinzip durchgängiger Bestimmung. Kurz, dx ist die Idee - die platonische, leibnizsche oder kantische Idee, das ,,Problem“ und dessen Sein. Die Idee des Feuers subsumiert das Feuer als eine einzige kontinuierliche Masse, die anzuwachsen vermag. Die Idee des Silbers subsumiert ihr Objekt als flüssige Kontinuität von Edelmetall. Wenn es aber zutrifft, daß das Kontinuum auf die Idee und ihren problematischen Gebrauch bezogen werden
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muß, so unter der Bedingung, daß es nicht mehr durch Merkmale, die der sinnlichen oder gar geometrischen Anschauung entnommen sind, definiert wird, wie es noch dann der Fall ist, wenn man von Interpolation von Zwischenwerten, von unendlichen interkalaren Folgen oder von Teilen, die niemals die kleinstmöglichen sind, spricht. Das Kontinuum gehört tatsächlich zur Idee nur in dem Maße, wie man eine ideelle Ursache der Kontinuität bestimmt. Zusammen mit ihrer Ursache gefaßt bildet die Kontinuität das reine Element der Quantitabilität. Diese verschmilzt weder mit den fixen Quantitaten der Anschauung (quantum) noch mit den variablen Quantitäten als Verstandesbegriffe (qtiantitas). Daher ist das Symbol, durch das sie ausgedrückt wird, völlig unbestimmt: dx ist strenggenommen nichts im Verhältnis zu x, dy nichts im Verhältnis zu y. Das ganze Problem aber liegt in der Bedeutung dieser Nullwerte. Als Anschauungsobjekte haben Quanten stets besondere Werte; und noch in der Vereinigung zu einer Bruchrelation behält jedes davon einen von seinem Verhältnis unabhängigen Wert. Die quantitas als Verstandesbegriff besitzt einen allgemeinen Wert, wobei die Allgemeinheit hier eine Unendlichkeit von möglichen besonderen Werten bezeichnet, sofern die Variable sie annehmen kann. Stets aber ist ein besonderer Wert nötig, der die Aufgabe hat, die anderen zu repräsentieren und für sie einzustehen: so in der algebraischen Gleichung des Kreises x* + y* - R* = 0. Anders verhält es sich bei der Gleichung y l dy + x= dx = 0, die ,,das Universale des Umfangs oder der entsprechenden Funktion“ bedeutet. Die Nullwerte von dx und dy verleihen der Vernichtung des Quantums und der Quantitas, des Allgemeinen wie des Besonderen Ausdruck, und zwar zu Gunsten ,,des Universalen und seiner Erscheinung“. Darin liegt die Stärke der Interpretation von Bordas-Demoulin: Was sich in dyldx oder O/O aufhebt, sind nicht die differentiellen Quantitäten, sondern bloß das Individuelle und die Verhältnisse des Individuellen in der Funktion (unter ,,Individuellem“ versteht Bordas zugleich das Besondere wie das Allgemeine). Man ist von einem Genus zum anderen wie auf die andere Seite des Spiegels gelangt; die Funktion hat ihren veränderlichen Teil oder ihre Variationseigenschaft eingebüßt, sie repräsentiert nurmehr das Unveränderliche zusammen mit der Operation, die es hervortreten ließ. ,,Was sich verändert, hebt sich in ihr auf und läßt in seiner Aufhebung jenseits davon sichtbar werden, was sich nicht verändertc‘4. Kurz, der Grenzwert darf nicht als Grenzwert der Funktion begriffen werden, sondern als regelrechter Schnitt, als Grenze zwischen dem sich Verändernden und Nicht-Verändernden in der Funktion selbst. Newtons Fehler liegt also darin, die Differentiale mit Null gleichzusetzen, der Fehler Leibniz aber darin, sie mit dem Individuellen oder der Variabilität zu identifizieren. Damit kommt Bordas bereits der modernen 4 Jean Bordas-Demoulin: Le Cartksianisme ou la vh-itable rknovation des sciences, Paris 1843, Bd. 1, S. 133ff. und 453 ff. - Trotz seiner Ablehnung der Thesen von Bordas widmet ihnen Charles Renouvier eine verständnisvolle und tiefgehende Analyse, in: La critique philosophique, 6. Jg., 187%
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Interpretation der Infinitesimalrechnung nahe: Der Grenzwert setzt nicht mehr die Ideen von stetigen Variablen und unendlicher Annäherung voraus. Im Gegenteil, gerade der Begriff des Grenzwerts begründet eine neue statische und rein ideelle Definition der Stetigkeit und impliziert zwecks seiner eigenen Definition nur die Zahl oder besser: das Universale in der Zahl. Es bleibt der modernen Mathematik vorbehalten, die Natur dieses Universalen der Zahl dahingehend zu präzisieren, daß es im ,,Schnitt“ (im Sinne Dedekinds) besteht: in diesem Sinne ist es der Schnitt, der das genus proximum der Zahl konstituiert, die ideelle Ursache der Stetigkeit oder das reine Element der Quantitabilität. Dx ist im Verhältnis zu x völlig unbestimmt, dy im Verhältnis zu y, im Verhältnis zueinander aber sind sie vollkommen bestimmbar. Darum entspricht dem Unbestimmten als solchem ein Prinzip von Bestimmbarkeit. Das Universale ist kein Nichts, weil es, mit dem Ausdruck von Bordas, ,,Verhältnisse des Universalen“ gibt. Im Besonderen wie im Allgemeinen sind dx und dy ganz ohne Differenzierung [sont indiff &enci&], unterliegen aber, im und durch das Universale, vollkommen der Differentiation [sont diff~renties]. Der Quotient dyldx entspricht keinem Bruch, der sich zwischen besonderen Quanten in der Anschauung ergibt, ist aber ebensowenig ein allgemeines Verhältnis zwischen variablen Größen oder algebraischen Quantitäten. Jeder Term existiert absolut nur in seinem Verhältnis zum anderen; es ist nicht mehr nötig und nicht einmal mehr möglich, eine unabhängige Variable anzugeben. Darum entspricht der Bestimmbarkeit des Verhältnisses von nun an ein Prinzip von Wechselbestimmung als solches. Ihre wirklich synthetische Funktion bildet und entwickelt die Idee in einer reziproken Synthese. Die ganze Frage lautet also: In welcher Form ist der Differentialquotient bestimmbar? Er ist bestimmbar zunächst in qualitativer Form, und in dieser Form drückt er eine Funktion aus, die wesentlich von der sogenannten Stammfunktion abweicht. Wenn die Stammfunktion die Kurve ausdrückt, so drückt dy/dx = -x/y seinerseits die trigonometrische Tangente des Winkels aus, den die Kurventangente mit der Abszissenachse bildet; und man hat auch die Bedeutung dieser qualitativen Differenz oder dieser ,,Änderung der Funktion“, die im Differential enthalten ist, oft betont. Ebenso bezeichnet der Schnitt irrationale Zahlen, die wesentlich von den Termen der Reihe rationaler Zahlen abweichen. Aber dies ist nur ein erster Aspekt; denn der Differentialquotient bleibt, sofern er eine andere Qualität ausdrückt, noch mit den individuellen Werten oder quantitativen Variationen verbunden, die dieser Qualität entsprechen (etwa der Tangente). Er ist also seinerseits differenzierbar [diffhentiuble] und belegt bloß die Macht der Idee, eine Idee der Idee zu veranlassen. Das Universale bezüglich einer Qualität darf also nicht mit den individuellen Werten verwechselt werden, die es noch bezüglich einer anderen Qualität besitzt. In seiner Funktion als Universales drückt es nicht bloß diese andere Qualität aus, sondern ein reines Element der Qualitabilität. In diesem Sinne ist der Differentialquotient Gegenstand der Idee: Sie integriert nunmehr die Variation, und
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zwar keineswegs mehr als variable Bestimmung eines als konstant vorausgesetzten Quotienten (,,Variabilität“), sondern im Gegenteil als Variationsgrad des Quotienten selbst (,,Varietät“), dem etwa die qualifizierte Reihe der Kurven entspricht. Wenn die Idee die Variabilität ausschließt, so zu Gunsten dessen, was man Varietät oder Mannigfaltigkeit nennen muß. Die Idee als konkretes Universales steht dem Verstandesbegriff gegenüber und besitzt einen umso @fieren Inhalt, je größer ihre Extension ist. Die reziproke Abhängigkeit der Grade des Quotienten und, äußerstenfalls, die reziproke Abhängigkeit der Quotienten untereinander - diese Abhängigkeit definiert die universale Synthese der Idee (Idee der Idee, usw.). Salomon Maimon ist es, der eine grundlegende Umarbeitung der Kritik vorlegt, indem er die kantische Dualität von Begriff und Anschauung überwindet. Eine derartige Dualität verwies uns auf das äußerliche Kriterium der Konstruktibilität und beließ uns in einem äußeren Verhältnis zwischen dem Bestimmbaren (der kantische Raum als reine Gegebenheit) und der Bestimmung (der Begriff als gedachter). Daß sich eins dem anderen über die Vermittlung durch das Schema anpaßt, verstärkt zusätzlich das Paradox einer bloß äußeren Harmonie in der Lehre der Vermögen: daher die Reduktion der transzendentalen Instanz auf eine bloße Bedingtheit und der Verzicht auf jeglichen genetischen Anspruch. Bei Kant bleibt also die Differenz außerhalb und daher unrein, empirisch, der Äußerlichkeit der Konstruktion anhängig, ,,zwischen“ der bestimmbaren Anschauung und dem bestimmenden Begriff. Maimons Genie liegt im Nachweis dessen, wie ungenügend der Gesichtspunkt der Bedingtheit für eine Transzendentalphilosophie ist: Die beiden Terme der Differenz müssen in gleicher Weise gedacht werden - das heißt, daß die Bestimmbarkeit selbst so gedacht werden muß, daß sie sich auf ein Prinzip von Wechselbestimmung hin überschreitet. Die Verstandesbegriffe kennen sehr wohl die reziproke Bestimmung, etwa in der Kausalität oder in der Wechselwirkung, allerdings nur auf eine ganz und gar formale und reflexive Weise. Die reziproke Synthese der Differentialquotienten als Quelle der Produktion der Realobjekte: dies ist die Materie der Idee im gedachten Element der Qualitabilität, in das sie eingebettet ist. Daraus ergibt sich eine dreifache Genese: die Genese der Qualitäten, die als die Differenzen der Realobjekte der Erkenntnis hervorgebracht werden; die Genese des Raums und der Zeit als Bedingungen der Erkenntnis der Differenzen; die Genese der Begriffe als Bedingungen für die Differenz oder die Unterscheidung der Erkenntnisse selbst. Auf diese Weise ist das physikalische Urteil bestrebt, sein Primat über das mathematische Urteil sicherzustellen, und die Genese der Ausdehnung läßt sich nicht von der Genese der Objekte trennen, die sie bevölkern. Die Idee erscheint als das System idealer Verbindungen, d. h. von Differentialquotienten zwischen reziprok bestimmbaren genetischen Elementen. Das Cogito gewinnt alle Macht aus einem differentiellen Unbewußten, einem Unbewußten des reinen Denkens, das die Differenz zwischen dem bestimmbaren Ich [Moi] und dem bestimmenden Ego [Je] interiorisiert und ins Denken als
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solchem etwas Ungedachtes hineinlegt, ohne das seine Ausübung für immer unmöglich und leer wäre. Maimon schreibt: ,,Wenn ich z. B. sage: roth ist von grün verschieden; so wird der reine Verstandsbegriff der Verschiedenheit nicht als Verhältnis der sinnlichen Qualitäten, (denn sonst bleibt die kantische Frage quid juris übrig), sondern entweder nach der kantischen Theorie, als das Verhältnis ihrer Räume, als Formen a priori, oder auch nach der meinigen, als Verhältnis ihrer Differenzialen, die Vernunftideen a priori sind, betrachtet. [. . .] Die besondere Regel des Entstehens eines Objekts, oder die Art seines Differentials macht es zu einem besonderen Objekt, und die Verhältnisse verschiedener Objekte entspringen aus den Verhältnissen ihrer Entstehungsregeln, oder ihrer Differentialen“5. Um die von Maimon gestellte Alternative besser zu verstehen, wollen wir auf ein berühmtes Beispiel zurückgreifen: Die gerade Linie ist der kürzeste Weg. Das Kürzeste läßt sich auf zwei Arten deuten: entweder vom Standpunkt der Bedingtheit aus, als ein Schema der Einbildungskraft, das den Raum in Übereinstimmung mit dem Begriff bestimmt (gerade Linie der Definition nach: als in allen ihren Teilen mit sich selbst deckungsgleich) - und in verkörpert durch eine Konstrukdiesem Fall bleibt die Differenz außerhalb, tionsregel, die sich ,,zwischen“ dem Begriff und der Anschauung errichtet. Oder ,,das Kürzeste“ wird vom Standpunkt der Genese aus gedeutet, als eine Idee, die die Dualität von Begriff und Anschauung überwindet, überdies die Differenz der Geraden und der Kurve interiorisiert und diese interne Differenz in Form einer Wechselbestimmung und unter den Minimum-Bedingungen eines Integrals ausdrückt. Der kürzeste Weg ist nicht mehr Schema, sondern Idee; oder er ist ideales Schema, nicht mehr Schema eines Begriffs. Der Mathematiker Houel bemerkte in diesem Sinne, daß die kürzeste Entfernung keineswegs eine euklidische Vorstellung war, sondern eine archimedische, eher eine physikalische als eine mathematische; daß sie untrennbar von einer Exhaustionsmethode war und daß sie weniger zur Bestimmung der Geraden als zur Bestimmung der Länge einer gekrümmten Linie mittels der Geraden diente - ,,man betrieb Integralrechnung, ohne es zu wissen’? Der Differentialquotient zeigt schließlich ein drittes Element, das Element der reinen Potentialität. Die Potenz ist die Form der Wechselbestimmung, der zufolge variable Größen als Funktionen voneinander begriffen werden; darum berücksichtigt die Differentialrechnung auch nur Größen, von denen eine zumindest eine höhere Potenz als die andere besitzt. Sicher besteht der erste Schritt des Kalküls in einer ,,Depotenzierung“ der Gleichung (an Stelle von Versuch über die Transzendentalphilosophie, Berlin 1790, S. 3233. - Vgl. das äußerst wichtige Buch von Martial Gu&-oult: La philosophie transzendantale de Salomon Mdi’mon, Paris 1929 (insbesondere zu ,,Bestimmbarkeit“ und zur ,,reziproken Bestimmung”, S. 53 ff., 76 ff.). 6 Jules Houtil: Essai critique sur les principes fondamentaux de la giomh-ie G’mentaire, Paris 1867, S. 3 und 75.
5 Salomon Maimon:
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2ax - x2 = y2 erhält man etwa 2 = -“). Das Entsprechende aber fand sich
Y bereits in den beiden vorangehenden Figuren, in denen das Verschwinden des quantum und der quantitas das Erscheinen des Elements der Quantitabilität und die Entqualifizierung das Erscheinen des Elements der Qualitabilität bedingte. Dieses Mal bedingt, gemäß der Darstellung von Lagrange, die Depotenzierung die reine Potentialität, indem sie eine Entwicklung der Funktion einer Variablen in einer Reihe ermöglicht, die durch die Potenzen von i (unbestimmte Quantität) und die Koeffizienten dieser Potenzen (neue Funktionen von x) gebildet wird, und zwar so, daß die Entwicklungsfunktion dieser Variable mit denen der anderen vergleichbar ist. Das reine Element der Potentialität erscheint im ersten Koeffizienten oder in der ersten Ableitung, wobei die anderen Ableitungen und folglich alle Terme der Reihe aus der Wiederholung derselben Operationen resultieren; das ganze Problem aber besteht gerade darin, jenen ersten Koeffizienten, der selbst unabhängig von i ist, zu bestimmen. An dieser Stelle erhebt sich der Einwand Ho&&Wronskis, der sich gegen die Darstellungen Lagranges (Taylor-Reihe) wie Carnots (Fehlerkompensation) gleichermaßen richtet. Gegen Carnot wendet er ein, daß die sogenannten Hilfsgleichungen nicht deshalb ungenau seien, weil sie dx und dy implizieren, sondern deshalb, weil sie gewisse komplementäre Quantitäten vernachlässigen, die gleichzeitig mit dx und dy abnehmen: Folglich erklärt die Darstellung Carnots keineswegs die Natur der Differentialrechnung, setzt sie vielmehr voraus. Das Gleiche gilt für die Reihen Lagranges, in denen die diskontinuierlichen Koeffizienten - vom Standpunkt eines strengen Algorithmus aus, der nach Ho&+-Wronski die ,,Transzendentalphilosophie“ charakterisiert - Bedeutung nur durch die Differentialfunktionen erhalten, aus denen sie zusammengesetzt sind. Wenn es stimmt, daß der Verstand eine ,,unstetige Summation“ liefert, so ist diese nur die Materie für die Erzeugung von Quantitäten; einzig die ,,Graduierung“ oder Stetigkeit bildet deren Form, die den Vernunftideen zukommt. Darum entsprechen die Differentiale mit Sicherheit keinerlei erzeugten Quantität, sondern sind eine unbedingte Regel für die Genese der Erkenntnis der Quantität und für die Erzeugung der Unstetigkeiten, die deren Materie bilden, oder für die Konstruktion der Reihen’. Wie Ho&+--Wronski sagt, ist das Differential ,,eine ideale Differenz“, ohne welche die unbestimmte Quantität Lagranges nicht die Bestimmung durchführen könnte, die man von ihr erwartet. In diesem Sinne ist das Differential tatsächlich reine Potenz, wie der Differentialquotient reines Element der Potentialität. 7 Hohne Wronski: Philosophie de Z’~nfini, Paris 1814, und: Philosophie de la Tecbnie aZgorithmique, Paris 181% In diesem letzten Buch legt Hohne Wronski seine Theorie und seine Formeln der Reihen dar. Hohne Wronskis mathematische Werke wurden 1925 bei Hermann neu herausgegeben. - Zur Philosophie vgl. Francis Warrain: L’cwvre philosophique de Hotine Wronski, Paris 1933, der die nötigen Gegenüberstellungen mit der Philosophie Schellings l e i s t e t .
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Dem Element der Potentialität entspricht ein Prinzip durchgängiger Bestimmung. Man darf die durchgängige Bestimmung nicht mit der reziproken Bestimmung verwechseln. Diese betraf die Differentialquotienten und ihre Grade, ihre Varietäten in der Idee, die verschiedenen Formen entsprechen. Jene betrifft die Werte eines Quotienten, d.h. die Zusammensetzung einer Punkten, die sie charakterisieren, Form oder die Verteilung von -singulären etwa wenn der Quotient null oder unendlich oder O/O wird. Es handelt sich tatsächlich um eine durchgängige Bestimmung der Teile des Objekts: Nun muß man im Objekt, etwa in der Kurve, Elemente finden, die das vorher definierte ,,lineare“ Verhältnis aufweisen. Und erst hier gewinnt die serielle Form in der Potentialität ihren ganzen Sinn; es wird sogar notwendig, dasjenige, was ein Quotient ist, als eine Summe darzustellen. Denn eine Reihe von Potenzen mit numerischen Koeffizienten umgibt einen singulären Punkt, und zwar immer nur einen. Die Bedeutung und die Notwendigkeit der seriellen Form erscheinen in der Pluralität der Reihen, die sie subsumiert, in ihrer Abhängigkeit hinsichtlich der singulären Punkte, in der Art und Weise, wie man von einem Teil des Objekts, in dem die Funktion durch eine Reihe repräsentiert wird zu einem anderen gelangt, in dem sie sich in einer von ihr verschiedenen Reihe ausdrückt, sei es, daß die beiden Reihen konvergieren oder einander fortsetzen, sei es im Gegenteil, daß sie divergieren. Ganz wie sich die Bestimmbarkeit auf die Wechselbestimmung hin überschritt, überschreitet sich diese auf die durchgängige Bestimmung hin: Alle drei bilden die Gestalt des zureichenden Grundes, und zwar im dreifachen Element der Quantitabilität, der Qualitabilität und der Potentialität. Die Idee ist ein konkretes Universal, in dem Extension und Inhalt Hand in Hand gehen, nicht nur weil sie Varietät oder Mannigfaltigkeit in sich enthält, sondern weil sie die Singularität in jeder ihrer Varietäten umfaßt. Sie subsumiert die Verteilung der ausgezeichneten oder singulären Punkte; ihre ganze Distinktion, d.h. das Distinkte als Kennzeichen der Idee, besteht eben in der Aufteilung des Gewöhnlichen und Ausgezeichneten, des Singulären und des Regulären, und in der Verlängerung des Singulären über die regulären Punkte bis hin in die Umgebung zu einer anderen Singularität. Jenseits des Individuellen, jenseits des Besonderen wie des Allgemeinen gibt es kein abstraktes Universales: das ,,Präindividuelle“ ist die Singularität selbst.
Die Frage der Interpretation der Differentialrechnung hat sich zweifellos in folgender Form gestellt: Sind die unendlich kleinen Werte real oder fiktiv? Von Anfang an -aber handelt es sich auch um etwas anderes: Hängt das Schicksal der Differentialrechnung an den unedlich kleinen Werten, oder muß sie vom Standpunkt der endlichen Repräsentation aus nicht eine unwiderlegbare Stellung erhalten? Die wahre Grenze, durch die die moderne Mathematik definiert wird, läge nicht in der Differentialrechung selbst, sondern in anderen
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Entdeckungen wie der der Mengenlehre, die, selbst wenn sie ihrerseits ein Axiom des Unendlichen benötigt, nichtsdestoweniger eine strikt endliche Interpretation der Differentialrechnung vorschreibt. Man weiß nämlich, daß der Begriff des Grenzwerts seinen phoronomischen Charakter eingebüßt hat und nur noch statische Erwägungen umfaßt; daß die Variabilität nicht länger einen progressiven Durchgang durch alle Werte eines Intervalls repräsentiert, um bloß die disjunktive Annahme eines Werts in diesem Intervall zu bedeuten; daß die Ableitung und das Integral eher Ordnungsbegriffe als quantitative Begriffe geworden sind; daß das Differential schließlich nur eine Größe bezeichnet, die man unbestimmt läßt, um sie bei Bedarf mit einem Wert kleiner als dem einer festgesetzten Zahl zu versehen. An dieser Stelle ist der Strukturalismus entstanden, während zugleich die genetischen oder dynamischen Bestrebungen der Differentialrechnung abgestorben sind. Wenn man von der ,,Metaphysik“ der Differentialrechnung spricht, so handelt es sich eben um diese Alternative zwischen der unendlichen und der endlichen Repräsentation. Freilich ist diese Alternative, und folglich die Metaphysik, in der Technik des Kalküls selbst unverbrüchlich enthalten. Darum wurde die metaphysische Frage von Anfang an ausgesprochen: Warum kann man die Differentiale in technischer Hinsicht vernachlässigen, und warum müssen sie im Resultat verschwinden? Offensichtlich hat die Berufung auf das unendlich Kleine und die unendlich kleine Beschaffenheit des Fehlers (wenn es denn ,,Fehler“ gibt) hier keinen Sinn und greift der unendlichen Repräsentation vor. Die strenge Antwort lieferte Carnot in seinen berühmten Reflexions, allerdings gerade vom Standpunkt einer endlichen Interpretation aus: Die Differentialgleichungen sind bloße ,,Hilfsgleichungen‘, die die Bedingungen des Problems ausdrücken, dem eine gesuchte Gleichung entspricht; zwischen ihnen aber vollzieht sich eine strikte Fehlerkompensation, die die Differentiale nicht im Resultat fortbestehen läßt, da sich dieses nur zwischen festen oder endlichen Quantitäten ergeben kann. Indem er sich aber wesentlich auf die Begriffe ,,Problem“ und ,,Problembedingungen“ berief, eröffnete Carnot der Metaphysik einen Weg, der den Rahmen seiner Theorie sprengte. Schon Leibniz hatte gezeigt, daß die Infinitesimalrechnung Instrument-einer Kombinatorik war, d. h. Probleme ausdrückte, die man vorher nicht lösen und sogar und vor allem nicht einmal stellen konnte (transzendente Probleme). Man-wird insbesondere an die Rolle regulärer und singulärer Punkte denken, die in die durchgängige Bestimmung einer Kurvenart eingehen. Die Spezifikation singulärer Punkte (etwa Sattelpunkte, Knotenpunkte, Brennpunkte, Zentren) vollzieht sich zweifellos nur in der Form von Integralkurven, die auf die Lösungen der Differentialgleichung verweisen. Nichtsdestoweniger gibt es eine durchgängige Bestimmung hinsichtlich der Existenz und der Verteilung dieser Punkte, die von einer ganz anderen Instanz abhängt, nämlich vom Vektorenfeld, das durch ebendiese Gleichung definiert wird. Die Komplementarität der beiden Aspekte beseitigt nicht ihre Wesensdifferenz, im Gegenteil. Und wenn die Spezifikation der Punkte bereits die
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notwendige Immanenz des Problems in der Lösung zeigt, seine Einbindung in die Lösung, die es verdeckt, so belegen die Existenz und die Verteilung die Transzendenz des Problems und seine leitende Rolle in der Organisation der Lösungen selbst. Kurz, die durchgängige Bestimmung eines Problems verschmilzt mit der Existenz, der Zahl, der Aufteilung der bestimmenden Punkte, die gerade deren Bedingungen liefern (ein singulärer Punkt veranlaßt zwei Bedingungsgleichungen)‘. Es wird nun aber immer schwieriger, von Fehler oder Fehlerkompensation zu sprechen. Die Bedingungsgleichungen sind weder bloße Hilfsgleichungen noch, wie Carnot sagte, unvollkommene Gleichungen. Sie sind konstitutiv für das Problem und seine Synthese. Weil man die objektive ideelle Natur des Problematischen nicht versteht, reduziert man sie auf - wenn auch nützliche - Fehler oder auf - wenn auch wohlbegründete Fiktionen, jedenfalls auf ein subjektives Moment des unvollkommenen, approximativen oder fehlerhaften Wissens. ,,Problematisch“ nannten wir die Gesamtheit des Problems und seiner Bedingungen. Wenn die Differentiale im Resultat verschwinden, so in dem Maße, wie die Probleminstanz wesentlich von der Lösungsinstanz differiert, so in der Bewegung, mit der die Lösungen notwendig das Problem überdecken, und so in dem Sinne, wie die Bedingungen des Problems Gegenstand einer Synthese in der Idee sind, die sich nicht in der Analyse der propositionalen Begriffe, die die Lösungsfälle bilden, ausdrücken läßt. So daß die erste Alternative: real oder fiktiv? unhaltbar wird. Weder real noch fiktiv, drückt das Differential die Natur des Problematischen als solchen aus, seine objektive Konsistenz wie seine subjektive Autonomie. Vielleicht wird auch die andere Alternative unhaltbar, die Alternative der unendlichen oder endlichen Repräsentation. Das Unendliche und das Endliche sind tatsächlich, wie wir gesehen haben, die Merkmale der Repräsentation, sofern der Begriff, den sie impliziert, seinen ganzen möglichen Inhalt entfaltet oder ihn im Gegenteil blockiert. Und in jedem Fall verweist die Repräsentation der Differenz auf die Identität des Begriffs als Prinzip. Daher kann man auch die Repräsentationen als Sätze des Bewußtseins behandeln, welche
8 Albert Lautman hat diese Wesensdifferenz zwischen der Existenz oder der Aufteilung singulärer Punkte, die auf das Problem-Element verweisen, und der Spezifikaverweist, deutlich markiert tion ebendieser Punkte, die auf das Lösungs-Element (vgl. Le problkme du temps, Paris 1946, S. 42). E r unterstreicht daher die Rolle der singulären Punkte in ihrer problematisierenden, lösungserzeugenden Funktion: Die singulären Punkte ,,ermöglichen 1 . die Bestimmung eines Grundsystems von Lösungen, die sich analytisch auf jedem Weg fortsetzen lassen, der keinen Singularitäten begegnet; 2. [. . .] ihre Rolle liegt in der Zerlegung eines Bereichs, und zwar derart, daß die Funktion, die die Repräsentation gewährleistet, in diesem Bereich definierbar ist; 3. sie ermöglichen den Übergang von der lokalen Integration der Differentialgleichungen zur globalen Charakterisierung der analytischen Funktionen, welche Lösung e n z u d i e s e n G l e i c h u n g e n sind” (Essai sur les no tions de structure et d’existence en m&!.Gmdtiques, Paris 1 9 3 6 , Bd. 2, S. 138).
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Lösungsfälle im Verhältnis zum allgemein gefaßten Begriff bezeichnen. Mit seinem extrapropositionalen Charakter aber fällt das Element des Problematischen nicht in die Repräsentation. Weder besonders noch allgemein, weder endlich noch unendlich ist es das Objekt der Idee als Universales. Dieses differentielle Element ist das Spiel der Differenz als solcher, die sich weder durch die Repräsentation vermitteln noch der Identität des Begriffs unterordnen läßt. Die Antinomie des Endlichen und des Unendlichen taucht genau dann auf, wenn sich Kant, kraft des speziellen Charakters der Kosmologie, verpflichtet glaubt, den entsprechenden Inhalt der Idee von Welt in die Repräsentation einfließen zu lassen. Und ihm zufolge wird die Antinomie aufgelöst, wenn er einesteils - noch immer in der Repräsentation - ein auf das Endliche sowie Unendliche irreduzibles Element entdeckt (Regression); und wenn er andernteil-s diesem Element das reine Denken eines anderen Elements hinzufügt, das wesentlich von der Repräsentation abweicht (Noumenon). In dem Maße aber, wie dieses reine Denken unbestimmt bleibt - nicht als Differential bestimmt ist -, wird die Repräsentation ihrerseits nicht wirklich überschritten, und ebensowenig die Sätze des Bewußtseins, die die Materie und den jeweiligen Gegenstand der Antinomien bilden. Auf eine andere Weise nun hält uns auch die moderne Mathematik in der Antinomie fest, weil die strenge endliche Interpretation, die sie von der Differentialrechnung gibt, dennoch ein Axiom des Unendlichen in der Mengenlehre, durch welche sie begründet wird, voraussetzt, obwohl dieses Axiom keine Illustration in der Differentialrechnung findet. Was uns stets entgeht, ist das extrapropositionale oder subrepräsentative Element, das in der Idee durch das Differentielle ausgedrückt wird, und zwar genau im Modus des Problems. Man muß eher von einer Dialektik der Differentialrechnung als von einer Metaphysik sprechen. Unter Dialektik verstehen wir nicht im geringsten irgendeine Zirkulation entgegengesetzter Repräsentationen, die sie in der Identität eines Begriffs koinzidieren ließe, sondern das Element des Problems, sofern es sich vom spezifisch mathematischen Element der Lösungen unterscheidet. Den allgemeinen Thesen Lautmans zufolge hat das Problem drei Aspekte: seine Wesensdifferenz zu den Lösungen; seine Transzendenz im Verhältnis zu den Lösungen, die es von seinen eigenen bestimmenden Bedingungen aus erzeugt; seine Immanenz in den Lösungen, die es überdecken, wobei das Problem umso besser gelöst wird, je mehr es sich bestimmt. Die idealen Bindungen, die für die problematische (dialektische) Idee konstitutiv sind, verkörpern sich hier also in den realen Beziehungen, die durch die mathematischen Theorien gebildet und als Lösungen an die Probleme herangetragen werden. Wir haben gesehen, wie all diese Aspekte, diese drei Aspekte, in der Differentialrechnung gegenwärtig waren; die Lösungen sind gleichsam die Diskontinuitäten, die sich mit den Differentialgleichungen vereinbaren lassen, und entstehen auf einer ideellen Kontinuität in Abhängigkeit von den Bedingungen des Problems. Ein wichtiger Punkt allerdings muß präzisiert werden. Offenkundig gehört die Differentialrechnung in die Mathe-
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matik, sie ist ein ganz und gar mathematisches Instrument. Es würde also schwer fallen, in ihr das platonische Zeugnis einer Dialektik zu erkennen, die über der Mathematik stünde. Es wäre zumindest dann schwierig, wenn uns der Immanenzaspekt des Problems nicht eine triftige Erklärung geben würde. Die Probleme sind stets dialektisch, die Dialektik hat keinen anderen Sinn, auch die Probleme haben keinen anderen Sinn. Mathematisch (oder physikalisch, biologisch, psychologisch, soziologisch . . .) sind die Lösungen. Allerdings trifft es zu, daß zum einen die Natur der Lösungen auf verschiedene Problemordnungen in der Dialektik selbst verweist; und daß andererseits sich die Probleme, kraft ihrer Immanenz, die nicht weniger wesentlich ist als die Transzendenz, selber technisch in jenem Lösungsbereich ausdrücken, den sie in Abhängigkeit von ihrer dialektischen Ordnung erzeugen. Wie die Gerade und der Kreis durch das Lineal und den Zirkel verdoppelt werden, so wird jedes dialektische Problem von einem symbolischen Feld verdoppelt, in dem es sich ausdrückt. Darum muß man sagen, daß es mathematische, physikaliche, biologische, psychologische, soziologische Probleme gibt, obwohl jedes Problem von Natur aus dialektisch ist und es kein anderes Problem als ein dialektisches gibt. Die Mathematik umfaßt also nicht nur Problemlösungen; sie enthält auch den Ausdruck der Probleme bezüglich des Lösbarkeitsfeldes, das sie definieren und das sie gerade durch ihre dialektische Ordnung definieren. Darum gehört die Differentialrechnung ganz und gar in den Bereich der Mathematik, und zwar gerade in dem Augenblick, in dem sich ihr Sinn in der Freilegung einer Dialektik herausstellt, die die Mathematik überschreitet. Man kann nicht einmal in Betracht ziehen, daß die Differentialrechnung in technischer Hinsicht der einzige mathematische Ausdruck der Probleme als solcher sei. In ganz verschiedenen Bereichen spielten die Exhaustionsmethoden diese Rolle, ebenso die analytische Geometrie. In jüngerer Zeit konnte diese Rolle besser von anderen Verfahren erfüllt werden. Man erinnert sich freilich des Zirkels, in dem sich die Theorie der Probleme bewegt: Ein Problem ist lösbar nur in dem Maße, wie es ,,wahr“ ist, aber wir tendieren stets dazu, die Wahrheit eines Problems durch seine Lösbarkeit zu definieren. Anstatt das äußerliche Kriterium der Lösbarkeit in der inneren Eigenart des Problems (Idee) zu begründen, lassen wir die interne Eigenart vom bloßen äußeren Kriterium abhängen. Wenn nun ein derartiger Zirkel aufgebrochen wurde, so zuerst von dem Mathematiker Abel; er ist es, der eine regelrechte Methode entwickelt, derzufolge die Lösbarkeit sich aus der Form des Problems ergeben muß. Anstatt aufs geratewohl danach zu suchen, ob eine Gleichung allgemein lösbar ist, müssen die Problembedingungen bestimmt werden, die fortschreitend Lösbarkeitsfelder spezifizieren, und zwar so, daß ,,die Aussage den Keim der Lösung enthält“. Hier liegt eine radikale Umkehrung im Verhältnis Lösung/Problem vor, eine noch beachtlichere Revolution als die kopernikanische. Man konnte behaupten, Abel habe auf diese Weise eine neue Kritik der reinen Vernunft ins Leben gerufen und gerade Kants Äußerlichkeitslehre hinter sich gelassen. Dasselbe Urteil bestätigt sich, wenn man es
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auf die Arbeiten von Galois wendet: Ausgehend von einem Grund-“Körper“ (R) ermöglichen die sukzessiven Adjunktionen (R’, R”, R”’ . . .) zu diesem Körper eine immer genauere Unterscheidung der Wurzeln einer Gleichung, und zwar durch fortschreitende Beschränkung der möglichen Substitutionen. Es gibt also eine Kaskade ,,partieller Resolventen“ oder eine Schachtelung von > Gruppen“, die die Lö s u n g aus den Problembedingungen selbst hervortreten lassen: Daß etwa eine Gleichung algebraisch nicht lösbar ist, wird nicht mehr am Ende einer empirischen Untersuchung oder eines tastenden Versuchs entdeckt, sondern gemäß den Merkmalen der Gruppen und partiellen Resolventen, die die Synthese des Problems und seiner Bedingungen bilden (eine Gleichung ist nur dann nicht algebraisch, d. h. über Radikale, lösbar, wenn die partiellen Resolventen binomische Gleichungen und die Gruppenindizes Primzahlen sind). Die Theorie der Probleme ist völlig transformiert und schließlich begründet, weil wir uns nicht mehr in der klassischen Situation eines Lehrers und eines Schülers befinden - in der der Schüler ein Problem nur in dem Maße erfaßt und verfolgt, wie der Lehrer dessen Lösung kennt und dementsprechend die nötigen Adjunktionen macht. Denn die Gruppe der Gleichung kennzeichnet, wie Georges Verriest bemerkt, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht, was wir über Wurzeln wissen, sondern die Objektivität dessen, was wir nicht über sie wissen’. Umgekehrt ist dieses Nichtwissen nichts Negatives, keine Unzulänglichkeit mehr, sondern eine Regel, ein Lernen, dem eine Grunddimension im Objekt entspricht. Ein neuer Menon, das pädagogische Verhältnis insgesamt ist umgeändert, zusammen aber mit noch etlichen anderen Dingen, der Erkenntnis und dem zureichenden Grund. Die ,,progressive Unterscheidbarkeit” von Galois vereint in ein und derselben kontinuierlichen Bewegung den Prozeß der Wechselbestimmung und den der durchgängigen Bestimmung (Wurzelpaare und Unterscheidung der Wurzeln in einem Paar). Sie bildet die totale Gestalt des zureichenden Grunds und führt die Zeit in ihn ein. Mit Abel und Galois ist die Theorie der Probleme mathematisch in der Lage, alle spezifisch dialektischen Forderungen zu erfüllen und den Zirkel, dem sie erlag, aufzubrechen. Man läßt also die moderne Mathematik besser mit der Gruppentheorie oder der Mengenlehre als mit der Differentialrechnung beginnen. Dennoch ist es kein Zufall, wenn Abels Methode vor allem die Integration der Differentialformeln betrifft. Wichtig für uns ist weniger die Bestimmung dieses oder jenes 9 Vgl. Georges Verriest: Evariste Galois et La theorie des Quations algebriques, in: E. Galois: (Euvres mathemathiques, Paris 1961, S. 41. - Das große Manifest zum Verhältnis Problem/Lösung befindet sich in den (Euvres compktes von N. H. Abel (Christiania lSSl), Bd. 2: Sur la rksolution algkbrique des Qxations. - Zu Abel und Galois vgl. die beiden grundlegenden Kapitel aus Jules Vuillemin: La philosophie de l’algebre, Paris 1962, Bd. 1. Vuillemin analysiert die Rolle einer Theorie der Probleme und einer neuen Konzeption der Kritik der Vernunft bei Abel, die Rolle eines neuen Bestimmungsprinzips bei Galois (insbesondere S. 213-221, 229-233).
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Einschnitts in der Geschichte der Mathematik (analytische Geometrie, Differentialrechnung, Gruppentheorie . ..) als die Art und Weise, wie sich in jedem Augenblick dieser Geschichte die dialektischen Probleme, ihr mathematischer Ausdruck und die gleichzeitige Genese von Lösbarkeitsfeldern zusammensetzen. Unter diesem Gesichtpunkt besteht eine Homogenität und eine kontinuierliche Teleologie im Werden der Mathematik, die die Wesensdifferenzen zwischen Differentialrechnung und anderen Instrumenten zweitrangig erscheinen lassen. Die Differentialrechnung räumt Differentiale verschiedener Ordnung ein. Auf ganz andere Weise aber entsprechen die Begriffe des Differentials und der Ordnung zunächst der Dialektik. Die dialektische, problematische Idee ist ein System von Bindungen zwischen differentiellen Elementen, ein System von Differentialverhältnissen zwischen genetischen Elementen. Es gibt unterschiedliche Ordnungen von Ideen, die sich wechselseitig voraussetzen, und zwar je nach der idealen Natur der berücksichtigten Verhältnisse und Elemente (Idee der Idee usw.). Diese Definitionen sind noch keineswegs mathematisch. Die Mathematik taucht zusammen mit den Lösungsfeldern auf, in denen die dialektischen Ideen letzter Ordnung verkörpert werden, ebenso mit dem Ausdruck der Probleme bezüglich dieser Felder. Andere Ordnungen in der Idee werden in anderen Feldern und in anderen Ausdrücken verkörpert, die anderen Wissenschaften entsprechen. So vollzieht sich ausgehend von den dialektischen Problemen und ihren Ordnungen eine Genese diverser wissenschaftlicher Fachgebiete. Die Differentialrechnung im engsten Sinn ist nur ein mathematisches Instrument, das selbst auf seinem Gebiet nicht notwendig die vollendetste Form des Ausdrucks der Probleme und der Konstitution der Lösungen im Verhältnis zur Ordnung der dialektischen Ideen, die sie verkörpert, darstellt. Nichtsdestoweniger besitzt sie einen weit gefaßten Sinn, mit dem sie auf universale Weise die Gesamtheit der Verbindung: Problem oder dialektische Idee/wissenschaftlicher Ausdruck eines Problems/Errichtung eines Lösungsfeldes bezeichnen soll. Noch allgemeiner müssen wir den Schluß ziehen, daß keine Schwierigkeit hinsichtlich einer beabsichtigten Anwendung der Mathematik und insbesondere der Differentialrechnung oder der Gruppentheorie auf andere Gebiete besteht. Vielmehr besitzt jedes erzeugte Gebiet, in dem sich die ‘dialektischen Ideen dieser oder jener Ordnung verkörpern, sein eigenes Kalkül. Die Ideen haben stets ein Element von Quantitabilität, Qualitabilität und Potentialität; stets Prozesse der Bestimmbarkeit, der reziproken Bestimmung und der durchgängigen Bestimmung; stets Verteilungen von ausgezeichneten und gewöhnlichen Punkten, stets adjungierte Körper, die die synthetische Progression eines zureichenden Grunds bilden. Es liegt hier keinerlei Metapher vor, ausgenommen die der Idee gleichwesentliche Metapher, die Metapher des dialektischen Transports oder der ,,Diaphora“. Hierin liegt das Abenteuer der Ideen. Nicht die Mathematik ist es, die auf andere Gebiete angewendet wird, vielmehr ist es die Dialektik, die für ihre Probleme, vermöge ihrer Ordnung und ihrer Bedingungen, die Differentialrechnung einführt, die dem betrachteten Gebiet unmittelbar angemessen ist und eignet. Der
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Universalität der Dialektik entspricht in diesem Sinne eine mathesis universalis. Wenn die Idee das Differential des Denkens ist, so entspricht jeder Idee eine eigene Differentialrechnung, ein Alphabet dessen, was Denken bedeutet. Die Differentialrechnung ist nicht das platte Kalkül des Utilitaristen, nicht das grobe arithmetische Kalkül, das das Denken anderen Dingen wie anderen Zwecken unterordnet, sondern die Algebra des reinen Denkens, die höhere Ironie der Probleme selbst - das einzige Kalkül ,,jenseits von Gut und Böse“. Genau dieser abenteuerliche Charakter der Ideen muß noch beschrieben werden.
Die Ideen sind Mannigfaltigkeiten, jede Idee ist eine Mannigfaltigkeit, eine Varietät. In diesem riemannschen Gebrauch des Worts ,,Mannigfaltigkeit“ (das von Husserl und auch von Bergson aufgegriffen wurde)” muß man die größte Bedeutung der substantivischen Form zumessen: Die Mannigfaltigkeit darf nicht eine Kombination aus Vielem und Einem bezeichnen, sondern im Gegenteil eine dem Vielen als solchem eigene Organisation, die keinerlei Einheit bedarf, um ein System zu bilden. Das Eine und das Viele sind Verstandesbegriffe, die die allzu weiten Maschen einer verfälschten Dialektik bilden, die über den Gegensatz verfährt. Die größten Fische entwischen. Kann man wirklich glauben, das Konkrete zu erhalten, wenn man die Unzulänglichkeit eines Abstraktums mit der Unzulänglichkeit seines Gegenteils kompensiert? Über lange Zeit hinweg kann man sagen: ,,Das Eine ist das Viele, und das Viele ist das Eine“ - man redet wie die jungen Leute bei Platon, die nicht einmal das Federvieh verschonten. Man kombiniert das Konträre, man verfertigt Widersprüche; zu keinem Zeitpunkt hat man das Entscheidende gesagt, ,,wieviel“, ,,wie“ , ,,in welchem Fall“. Nun ist aber das Wesen nichtig, hohle Allgemeinheit, wenn es von diesem Maß, von dieser Art und Weise und von dieser Kasuistik getrennt ist. Man kombiniert die Prädikate, man verfehlt die Idee - eine leere Rede, leere Kombinationen, in denen ein Substantiv fehlt. Das wahre Substantiv, die Substanz selbst, ist ,,Mannigfaltigkeit“, die das Eine und nicht weniger das Viele überflüssig macht. Die variable Mannigfaltigkeit ist das Wieviel, das Wie, das Jeder Fall. Jedes Ding ist eine Mannigfaltigkeit, sofern es die Idee verkörpert. Selbst das Viele ist eine Mannigfaltigkeit; selbst das Eine ist eine Mannigfaltigkeit. Daß das Eine eine Mannigfaltigkeit ist (wie dies auch Bergson und Husserl gezeigt haben) - das genügt, um den Adjektiv-
” Dieser Gebrauch des Begriffs der Mannigfaltigkeit (als kontinuierlicher Vielheit) unterscheidet sich also strikt von seiner vertrauten - und insbesondere von Kant formulierten - philosophischen Bedeutung, die sinnlich gegebenen Daten, den Stoff der Anschauung betreffend; vgl. dazu insbesondere: G. Deleuze: Le bergsonisme Paris 1966, S. 31-33 (dt.: Bergson zur Einführung, hg. v. M. Weimann, Hamburg 1989, S. 55-56) [A.d.ü.].
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sätzen vom Typ des Ein-Vielen und des Viel-Einen gleichermaßen unrecht zu geben. Überall ersetzen die Differenzen von Mannigfaltigkeiten und die Differenz in der Mannigfaltigkeit die schematischen und plumpen Oppositionen. Es gibt nur die Varietät der Mannigfaltigkeit, d. h. die Differenz, anstatt des riesigen Gegensatzes des Einen und des Vielen. Und vielleicht ist es Ironie zu sagen: Alles ist Mannigfaltigkeit, selbst das Eine, selbst das Viele. Aber die Ironie selbst ist eine Mannigfaltigkeit, oder besser: die Kunst der Mannigfaltigkeiten, die Kunst, in den Dingen die Ideen, die Probleme zu fassen, die sie verkörpern, und die Dinge als Inkarnationen zu fassen, als Lösungsfälle für Ideenprobleme. Eine Idee ist eine definierte und kontinuierliche Mannigfaltigkeit mit n Dimensionen. Die Farbe, oder besser die Idee der Farbe, ist eine Mannigfaltigkeit mit drei Dimensionen. Unter Dimensionen muß man die Variablen oder Koordinaten verstehen, von denen ein Phänomen abhängt; unter Kontinuität muß man die Menge der Beziehungen zwischen den Veränderungen dieser Variablen verstehen, etwa eine quadratische Form der Differentiale der Koordinaten; unter Definition muß man die durch diese Beziehungen reziprok bestimmten Elemente verstehen, die sich nicht verändern können, ohne daß die Mannigfaltigkeit die Ordnung oder die Metrik wechselt. Wann und unter welchen Bedingungen müssen wir von Mannigfaltigkeit sprechen? Diese Bedingungen sind drei an der Zahl und erlauben die Definition des Emergenzmoments der Idee: 1. Die Elemente der Mannigfaltigkeit dürfen weder sinnliche Form noch begriffliche Bedeutung und folglich keine zuweisbare Funktion besitzen. Sie besitzen nicht einmal aktuelle Existenz und sind untrennbar von einem Potential oder einer Virtualität. In diesem Sinne implizieren sie keinerlei vorgängige Identität, keinerlei Setzung von irgendetwas, das man Eines oder Dasselbe nennen könnte; ihre Unbestimmtheit aber ermöglicht demgegemüber die Manifestation der Differenz als von jeglicher Unterordnung befreit. 2. Tatsächlich müssen diese Elemente bestimmt werden, allerdings wechselseitig, durch reziproke Beziehungen, die keinerlei Unabhängigkeit fortbestehen lassen. Derartige Verhältnisse sind eben ideale, nicht lokalisierbare Bindungen, sei es, daß sie die Mannigfaltigkeit global charakterisieren, sei es, daß sie mit Juxtaposition von Nachbarschaften operieren. Immer aber ist die Mannigfaltigkeit auf intrinsische Weise definiert, ohne daraus herauszutreten oder auf einen gleichförmigen Raum zu rekurrieren, in den sie eingebettet wäre. Die raum-zeitlichen Relationen bewahren zweifellos die Mannigfaltigkeit, verlieren aber deren Interiorität; die Verstandesbegriffe bewahren die Interiorität, verlieren aber die Mannigfaltigkeit, die sie durch die Identität eines Ich denke oder eines Etwas an Gedachtem ersetzen. Die interne Mannigfaltigkeit ist, im Gegenteil, das Merkmal der Idee allein. 3. Eine ideale mannigfaltige Bindung, ein Differentialverhältnis muß sich in verschiedenen raumzeitlichen Relationen aktualisieren, während sich zugleich seine Elemente aktualiter in Termen und verschiedenartigen Formen verkörpern. Die Idee definiert sich damit als Struktur. Die Struktur, die Idee, das ist das ,,komplexe
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Thema“, eine interne Mannigfaltigkeit, d. h. ein System nicht lokalisierbarer mannigfaltiger Bindung zwischen differentiellen Elementen, das sich in realen Relationen und aktuellen Termen verkörpert. Wir sehen in diesem Sinne keinerlei Schwierigkeit, Genese und Struktur miteinander zu vereinbaren. Lautmans und Vuillemins Arbeiten zur Mathematik entsprechend erscheint uns der ,,Strukturalismus“ als das einzige Mittel, mit dem eine genetische Methode ihre Bestrebungen verwirklichen kann. Man braucht nur Zu begreifen, daß sich die Genese nicht von einem aktuellen Term, wie klein er auch sein mag, zu einem anderen aktuellen Term in der Zeit vollzieht, sondern vom Virtuellen zu seiner Aktualisierung, d. h. von der Struktur zu ihrer Verkörperung, von den Problembedingungen zu den Lösungsfällen, von den differentiellen Elementen und ihren idealen Bindungen zu den aktuellen Termen und verschiedenen realen Relationen, die zu jedem Zeitpunkt die Aktualität der Zeit bilden. Genese ohne Dynamik, die sich notwendig im Element einer Übergeschichtlichkeit entwickelt, statische Genese, die sich als Korrelat des Begriffs von passiver Synthese versteht und ihrerseits diesen Begriff erhellt. Lag der Fehler der modernen Interpretation der Differentialrechnung nicht darin, daß sie deren genetische Bestrebungen verurteilte, und zwar unter dem Vorwand, sie hätte eine ,,Struktur“ freigelegt, die das Kalkül von jeder phoronomischen und dynamischen Überlegung trennte? Es gibt Ideen, die den mathematischen Realitäten und Relationen entsprechen, und andere, die den physikalischen Fakten und Gesetzmäßigkeiten entsprechen. Es gibt weitere, die gemäß ihrer Ordnung den Organismen, den Psychismen, den Sprachen, den Gesellschaften entsprechen: Diese Entsprechungen ohne Ähnlichkeit sind struktural-genetisch. Wie die Struktur nicht von einem Identitätsprinzip abhängt, so ist die Genese unabhängig von einer Ähnlichkeitsregel. Eine Idee aber taucht unter so vielen Abenteuern auf, daß sie möglicherweise manchen strukturalen und genetischen Bedingungen schon genügt, anderen noch nicht. Daher muß auch die Anwendung dieser Kriterien in ganz verschiedenen Gebieten, fast der Zufälligkeit der Beispiele überlassen, aufgesucht werden. Erstes Beispiel, der Atomismus als physikalische Idee. - Der antike Atomismus hat nicht nur das parmenidische Sein vervielfacht, er hat die Ideen als Mannigfaltigkeiten von Atomen aufgefaßt, wobei das Atom das objektive Element des Denkens war. Infolgedessen ist es in der Tat wesentlic h, daß sich das Atom innerhalb einer Struktur, die sich in den sinnlich wahrnehmbaren Zusammensetzungen aktualisiert, auf ein anderes Atom bezieht. Das clinamen ist in dieser Hinsicht keineswegs eine Richtungsänderung in der Bewegung des Atoms; und noch weniger eine Unbestimmtheit, die von einer physikalischen Freiheit zeugen würde. Es ist die ursprüngliche Bestimmung der Bewegungsrichtung, die Synthese der Bewegung und ihrer Richtung, die das Atom auf das andere Atom bezieht. Incerto tempore heißt nicht unbestimmt, sondern nicht zuweisbar, nicht lokalisierbar. Wenn es stimmt, daß das Atom, Element des Denkens, sich ,,mit der Schnelligkeit des Gedankens“ bewegt, wie Epikur im Brief an Herodot sagt, dann ist das clinamen die reziproke Bestimmung,
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die sich ,,in dem kürzesten Kontinuum der Zeit”, einstellt. Es ist nicht verwunderlich, daß Epikur hier das Vokabular der Exhaustion verwendet: Im clinamen besteht eine gewisse Analogie zu einem Verhältnis zwischen Differentialen von sich bewegenden Atomen. Es gibt hier eine Deklination, die ebenso die Sprache des Denkens formt, es gibt hier etwas im Denken, das von einer Grenze im Denken zeugt, von dem ausgehend es aber denkt: schneller als das Denken, ,,in dem kürzesten Kontinuum der Zeit . . .“. - Nichtsdestoweniger wahrt das Atom Epikurs allzuviel Unabhängigkeit, eine Gestalt und eine Aktualität. Die Wechselbestimmung besitzt hier noch zu sehr den Aspekt einer raum-zeitlichen Relation. Die Frage, ob der moderne Atomismus demgegenüber alle Bedingungen der Struktur erfüllt, muß in Abhängigkeit von den Differentialgleichungen gestellt werden, die die Naturgesetze bestimmen, in Abhängigkeit von Typen von ,,mannigfaltigen und nicht lokalisierbaren Bindungen” zwischen den Partikeln und vom Merkmal der ,,Potentialität“, das diesen Partikeln ausdrücklich zuerkannt wird. Zweites Beispiel, der Organismus als biologische Idee. - Geoffroy Saint-Hilaire scheint der erste zu sein, der die Berücksichtigung von Elementen fordert, die er abstrakt nennt, lösgelöst von ihren Formen und Funktionen begriffen. Darum wirft er seinen Vorgängern, aber auch seinen Zeitgenossen (Cuvier) vor, bei einer empirischen Aufteilung von Differenzen und Ähnlichkeiten stehenzubleiben. Diese rein anatomischen - und atomischen - Elemente, Knöchelchen etwa, werden durch ideale Verhältnisse reziproker Bestimmung vereint: Sie bilden damit eine ,,Wesenheit“, gleichsam das Tier an sich. Diese Differentialverhältnisse zwischen reinen anatomischen Elementen sind es, die sich in den verschiedenen Gestalten des Tierreichs, in den verschiedenen Organen und ihren Funktionen verkörpern. Das ist der dreifache Charakter der Anatomie: atomisch, vergleichend und transzendent. In den Notions synthktiques et historiques de philosophie naturelle (1837) kann Geoffroy seinen Traum präzisieren, der auch, wie er sagt, der Traum des jungen Napoleon war: nämlich der Newton des unendlich Kleinen zu sein, unterhalb des plumpen Spiels von sinnlich wahrnehmbaren und begrifflichen Differenzen oder Ähnlichkeiten die ,,Welt der Einzelheiten“ oder der idealen Bindungen ,,mit ganz kurzer Entfernung“ zu entdecken. Ein Organismus ist eine Gesamtheit von Termen und realen Relationen (Dimension, Position, Zahl), die ihrerseits, in diesem oder jenem Entwicklungsgrad, die Verhältnisse zwischen differentiellen Elementen aktualisiert: So hat etwa das Zungenbein der Katze neun Knöchelchen, während das des Menschen nur aus fünf besteht, wobei die vier anderen zum Schädel h i n verlagert sind, außerhab des Organs, das somit durch die aufrechte Haltung reduziert wurde. Die Genese oder die Entwicklung der Organismen müssen folglich als eine Aktualisierung des Wesens begriffen werden, wie sie sich gemäß milieubestimmten verschiedenartigen Geschwindigkeiten und Gründen ergibt, gemäß den Beschleunigungen oder Stockungen, aber unabhängig von jeglichem transformistischen Übergang von einem aktuellen Term zu einem anderen aktuellen Term.
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Geoffroys Genie. Aber auch hier hängt die Frage eines Strukturalismus in biologischer Hinsicht (dem Wort ,,Struktur“ entsprechend, das Geoffroy oft verwendet) von der letzten Bestimmung der differentiellen Elemente und ihren Verhältnistypen ab. Vermögen anatomische Elemente, hauptächlich auf den Knochenbau bezogen, diese Rolle zu übernehmen, als ob die Notwendigkeit der Muskeln ihren Verhältnissen keine Grenzen auferlegen würde; und als ob sie nicht selbst noch eine aktuelle, eine allzu aktuelle Existenz besitzen würden? Möglicherweise entsteht dann die Struktur auf einer ganz anderen Ebene von neuem, mit anderen Mitteln, mit einer gänzlich neuen Bestimmung differentieller Elemente und idealer Bindungen. Dies ist in der Genetik der Fall. Ebenso viele Unterschiede vielleicht zwischen der Genetik und Geoffroy wie zwischen dem modernen Atomismus und Epikur. Aber die Chromosomen erscheinen als loci, d.h. nicht bloß als Orte im Raum, sondern als Komplexe von Nachbarschaftsverhältnissen; und die Gene drücken differentielle Elemente aus, die ebensogut einen Organismus auf globale Weise kennzeichnen und die Rolle von ausgezeichneten Punkten in einem doppelten Prozeß von reziproker und durchgängiger Bestimmung übernehmen; der doppelte Aspekt des Gens liegt in der Steuerung mehrerer Merkmale zugleich und darin, daß es nur im Verhältnis mit anderen Genen wirksam wird; die Gesamtheit bildet ein Virtuelles, ein Potential; und diese Struktur verkörpert sich in den aktuellen Organismen, hinsichtlich ihrer Spezifikation ebenso wie hinsichtlich der Differenzierung ihrer Teile, und zwar den Rhythmen entsprechend, die man eben ,,differentiell“ nennt, der vergleichsweisen Schnelligkeit oder Langsamkeit entsprechend, die die Bewegung der Aktualisierung bemessen. Drittes Beispiel: Gibt es soziale Ideen, in einem marxistischen Sinn? - Mit dem, was Marx ,,abstrakte Arbeit“ nennt, abstrahiert man von den qualifizierten Produkten der Arbeit und von der Qualifikation der Arbeiter, nicht aber von den Produktionsbedingungen, von der Arbeitskraft und den Arbeitsmitteln in einer Gesellschaft. Die soziale Idee ist das Element von Quantitabilität, Qualitabilität und Potentialität der Gesellschaften. Sie drückt ein System von ideellen mannigfaltigen Bindungen oder von Differentialverhältnissen zwischen differentiellen Elementen aus: Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die sich nicht zwischen konkreten Menschen, sondern zwischen Atomen errichten, die Träger von Arbeitskraft oder Vertreter des Eigentums sind. Das Ökonomische wird durch eine derartige soziale Mannigfaltigkeit konstituiert, d.h. durch die Varietäten dieser Differentialquotienten. Es ist eine derartige Varietät von Verhältnissen, mit den ihr entsprechenden ausgezeichneten Punkten, die sich in den differenzierten konkreten Arbeiten, die eine bestimmte Gesellschaft kennzeichnen, in den realen Relationen dieser Gesellschaft (juristischen, politischen, ideologischen), in den aktuellen Termen dieser Relationen (etwa Kapitalist-Lohnabhängiger) verkörpert. Althusser und seine Mitarbeiter haben also zutiefst recht, wenn sie im Kapital das Vorkommen einer regelrechten Struktur aufzeigen und die historistischen Deutungen des Marxis-
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mus zurückweisen, da diese Struktur ja keineswegs auf transitive Weise und gemäß der sukzessiven Abfolge in der Zeit wirkt, sondern durch die Verkörperung ihrer Varietäten in verschiedenen Gesellschaften und dadurch, daß sie in der jeweiligen Gesellschaft stets die Simultaneität aller Relationen und Terme berücksichtigt, die deren Aktualität ausmachen: Darum ist das ,,Ökonomische“ niemals im eigentlichen Sinne gegeben, es bezeichnet vielmehr eine interpretationsbedürftige differentielle Virtualität, die stets durch ihre Aktualisierungsformen überdeckt wird, ein Thema, ein ,,Problematisches“, das stets durch seine Lösungsfälle überdeckt wird”. Kurz, das Ökonomische ist die soziale Dialektik selbst, d.h. die Gesamtheit der Probleme, die sich einer gegebenen Gesellschaft stellen, das synthetische und problematisierende Feld dieser Gesellschaft. Strenggenommen gibt es soziale Probleme nur als ökonomische, obwohl deren Lösungen juristisch, politisch, ideologisch sind und die Probleme sich auch in diesen Lösbarkeitsfeldern ausdrücken. Der berühmte Satz aus Zur Kritik der politischen Ökonomie - ,,Die Menschheit [stellt sich] immer Aufgaben, die sie lösen kann“ - bedeutet nicht, daß die Probleme bloß Schein oder bereits gelöst seien, sondern im Gegenteil, daß die ökonomischen Bedingungen des Problems die Art und Weise bestimmen oder erzeugen, wie es im Rahmen der realen Relationen einer Gesellschaft seine Lösungen findet, ohne daß jedoch der Beobachter den geringsten Optimismus daraus beziehen kann, da diese ,,Lösungen“ die Dummheit und die Grausamkeit, die Entsetzlichkeit des Kriegs oder der ,,Lösung der Judenfrage“ anzunehmen vermögen. Noch genauer ist die Lösung stets diejenige, die eine Gesellschaft verdient, von ihr hervorgebracht wird, je nach Art und Weise, wie sie in ihren realen Relationen die Probleme zu stellen vermochte, die sich in ihr und für sie mit den durch sie verkörperten Differentialverhältnissen aufwerfen. Die Ideen sind Komplexe von Koexistenz, alle Ideen koexistieren in gewisser Weise. Allerdings in Punkten, an Rändern, unter einem Funkeln, das niemals die Gleichförmigkeit eines natürlichen Lichts besitzt. Ihrer Unterschiedenheit entsprechen stets Schattenzonen, Dunkelheiten. Die Ideen unterscheiden sich, aber keineswegs auf die selbe Weise, wie sich die Formen und Terme unterscheiden, in denen sie sich verkörpern. Sie bilden und zersetzen sich objektiv, gemäß den Bedingungen, die ihre fließende Synthese bestimmen. Dies rührt daher, daß sie das größte Vermögen zu ihrer Differentiation mit dem Unvermögen zu ihrer Differenzierung vereinigen. Die Ideen sind Varietäten, die Subvarietäten in sich enthalten. Unterscheiden wir drei Dimensionen von Varietät. Zunächst Ordnungsvarietäten, der Höhe nach, gemäß der Natur der Elemente und Differentialverhältnisse: mathematische Idee, mathematischphysikalische Idee, chemische, biologische, psychologische, soziologische, linguistische Idee . . . Jede Ebene impliziert Differentiale einer unterschiedli-
11 Vgl. Louis Althusser/Etienne Balibar/Roger Bd. 2, insbesondere S. 150ff. und 204ff.
Establet: Lire le Cdpit~~l,
Paris 196%
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chen dialektischen ,,Ordnung“; aber die Elemente einer Ordnung können unter neuen Verhältnissen in die einer anderen übergehen, sei es, daß sie sich in der umfassenderen höheren Ordnung au flösen, sei es, daß sie sich in der niedrigeren Ordnung reflektie ren. Sodann charakteristische Varietäten, der Breite-nach, die den Graden eines Differentialverhältnisses in ein und derselb e n Ordnung und den Verteilungen von singulären Punkten für jeden Grad entsprechen (wie etwa die Gleichung von Kegeln, die je nach ,,Fall“ eine Ellipse, eine Hyperbel, eine Parabel, eine Gerade ergibt; oder die Varietäten beim Tier, die selbst unter dem Gesichtspunkt der Kompositionseinheit geordnet sind; oder die Vatietäten von Sprachen, unter dem Gesichtspunkt des phonologischen Systems). Schließlich axiomatische Varietäten, der Tiefe nach, die ein gemeinsames Axiom für Differentialquotienten unterschiedlicher Ordnung bestimmen, vorausgesetzt dieses Axiom fällt selbst mit einem Differentialquotienten dritter Ordnung zusammen (etwa Addition realer Zahlen und Komposition von Verschiebungen; oder, auf einem ganz anderen Gebiet, das Sprechen-Weben bei den Dogon, wie sie von Griaule beschrieben wurden). Die Ideen, die Unterscheidungen von Ideen sind nicht von ihren Varietätstypen und von der Art und Weise zu trennen, wie jeder Typus die anderen durchdringt. Wir schlagen den Namen Perplikation vor, um diese distinktive und koexistierende Verfassung der Idee zu bezeichnen. Nicht daß die Jerplesität“ als korrespondierender Begriff einen Koeffizienten von Zweifel, Zögern oder Erstaunen bezeichnen würde, oder was immer auch in der Idee unvollkommen sein mag. Es handelt sich im Gegenteil um die Identität von Idee und Problem, um den erschöpfend problematischen Charakter der Idee, d.h. darum, wie die Probleme objektiv durch ihre Bedingungen zur wechselseitigen Partizipation bestimmt sind, und zwar gemäß den nach den jeweiligen Umständen gebotenen Anforderungen der Synthese der Ideen. Die Idee ist keineswegs die Wesenheit. Als Objekt der Idee befindet sich das Problem auf der Seite der Ereignisse, der Affektionen, der Akzidentien eher als auf der Seite des theorematischen Wesens. Die Idee entwickelt sich in den Hilfsgleichungen, in den adjungierten Körpern, die ihre synthetische Macht ermessen. So daß das Gebiet der Idee das Unwesentliche ist. Sie beruft sich auf das Unwesentliche in ebenso entschiedener Weise, mit ebensolcher wildentschlossener Hartnäckigkeit, wie der Rationalismus, im Gegenteil, den Besitz und die begriffliche Erfassung des Wesens für sich beanspruchte. Der Rationalismus wollte das Schicksal der Idee mit der abstrakten und toten Wesenheit verknüpft sehen; und er wollte sogar - in dem Maße, wie die problematische Form der Idee anerkannt wurde - diese Form an die Frage nach dem Wesen, d. h. an die Frage ,,Was ist?“ gebunden sehen. Wieviele Mißverständnisse aber in diesem Willen. Freilich bedient sich Platon dieser Frage, um Wesen und Schein einander gegenüberzustellen und diejenigen zurückzuweisen, die sich damit begnügen, Beispiele anzuführen. Allein, er hat dann kein anderes Ziel, als die empirischen Antworten zum Schweigen zu bringen, um den unbestimmten Horizont eines transzendenten Problems als Objekt der Idee ZU
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öffnen. Sowie es um die Bestimmung des Problems oder der Idee als solcher geht, sowie es darum geht, die Dialektik in Bewegung zu setzen, weicht die Frage Was ist? anderen, wesentlich wirkungsvolleren und schärferen, wesentlich zwingenderen Fragen: wieviel, wie, in welchem Fall? Die Frage ,,Was ist?“ beseelt nur die sogenannten aporetischen Dialoge, d. h. diejenigen, die durch die Form der Frage selbst in den Widerspruch gedrängt und in den Nihilismus getrieben werden, zweifellos weil sie bloß einen propädeutischen Zweck verfolgen - den Zweck, die Region des Problems überhaupt zu erschließen, indem sie anderen Verfahren die Sorge darüber überlassen, es als Problem oder als Idee zu bestimmen. Als die sokratische Ironie ernst genommen wurde, als die Dialektik insgesamt mit ihrer Propädeutik zusammenging, ergaben sich daraus äußerst fatale Folgen; denn die Dialektik war dann nicht länger die Wissenschaft von den Problemen und verschmolz im äußersten Fall mit der bloßen Bewegung des Negativen und des Widerspruchs. Die Philosophen begannen wie die jungen Leute über das Federvieh zu sprechen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Hegel die Vollendung einer langen Tradition, die die Frage Was ist.7 ernst nahm und sich ihrer bediente, um die Idee als Wesenheit zu bestimmen, die aber damit die Natur des Problematischen durch das Negative ersetzte. Dies war der Abschluß einer Verfälschung der Dialektik. Und wieviele theologische Vorurteile in dieser Geschichte, denn ,,Was ist?” ist immer Gott, als Ort einer Kombinatorik von abstrakten Prädikaten. Es ist bemerkenswert, wie wenig Philosophen der Frage Was ist? vertrauten, um eine Idee zu haben. Aristoteles, vor allem Aristoteles nicht . . . Sobald die Dialektik ihr eigenes Geschäft verfolgt, anstatt sich leer auf propädeutische Zwecke zu richten, ertönt von überall ,,wieviel“, ,,wie“, ,,in welchem Fall“ und ,,welches?“, dessen Rolle und dessen Sinn wir später sehen werden12. Diese Fragen sind Fragen nach dem Akzidens, dem Ereignis, der Mannigfaltigkeit - der Differenz -, gegen die Frage nach dem Wesen, gegen die nach dem Einen, nach dem Konträren und dem Widersprüchlichen gehalten. Überall triumphiert Hippias, sogar und bereits bei Platon, Hippias, der das Wesen zurückwies und sich dennoch nicht mit Beispielen begnügte. Das Problem gehört zur Ordnung des Ereignisses. Nicht nur, weil die Lösungsfälle als reale Ereignisse auftauchen, sondern weil die Bedingungen des Problems selbst Ereignisse, Schnitte, Ablationen, Adjunktionen implizieren. In diesem Sinne ist es triftig, eine doppelte Reihe von Ereignissen zu repräsentieren, die sich auf zwei Ebenen abspielen und ohne Ähnlichkeit ineinander widerhallen, die einen real auf der Ebene der erzeugten Lösungen, die anderen ideell oder ideal in den Bedingungen des Problems, als Akte oder 12 Jacques Brunschwig etwa hat deutlich gemacht, daß die aristotelischen Fragen Ei TO
6~ und Bis fi O~~icc keineswegs ,,Was ist das Sein?” und ,,Was ist das Wesen* ?” bedeuteten, sondern: Welches ist das Sein (welches das Seiende)? und Welches ist Substanz (oder besser, wie Aristoteles sagt: Welches sind die Dinge, die Substanzen sind)? - Vgl. Dialectique et ontologie chez Aristote, in: Revue philosophique, 1964.
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e h e r Träume von Göttern, die unsere Geschichte verdoppeln würden. Die ideelle Reihe verfügt über eine zweifache Eigenschaft von Transzendenz und Immanenz bezüglich des Realen. Denn wir haben gesehen, wie die Existenz und die Aufteilung von singulären Punkten vollständig der Idee zugehörten, obwohl ihre Spezifikation den Lösungskurven ihrer Nachbarschaft, d. h. den realen Relationen, in denen sich die Idee verkörpert, immanent war. In seiner zwei Linien bewundernswerten Beschreibung des Ereignisses ordnete an, die eine horizontal, die andere aber vertikal, die in der Tiefe die ausgezeichnten Punkte aufnahm, die der ersten entsprachen und darüber hinaus auf ewig diesen ausgezeichneten Punkten und ihrer Verkörperung in der ersten vorauslief und sie erzeugte. Am Schnittpunkt der beiden Linien schürzte sich das ,,zeitlich Ewige“ - das Band zwischen Idee und Aktuellem, die Pulverspur und entschied sich unsere größte Meisterschaft, unsere größte Macht, eine Macht, die die Probleme selbst betrifft: ,,Und plötzlich fühlen wir, daß wir nicht mehr dieselben Sträflinge sind. Nichts ist geschehen. Und ein Problem, dessen Ende man nicht absah, ein auswegloses Problem, ein Problem, in dem eine ganze Welt angestaut war, existiert mit einem Mal nicht mehr, und man fragt sich, wovon die Rede war. Anstatt eine Lösung zu erhalten, eine gewöhnliche Lösung, eine Lösung, die man findet, hat dieses Problem, diese Schwierigkeit, diese Unmöglichkeit einen sozusagen physikalischen Auflösungspunkt durchlaufen. Einen kritischen Punkt. Und zwar deswegen, weil zur gleichen Zeit die ganze Welt einen sozusagen physikalischen Krisenpunkt durchlaufen hat. Es gibt kritische Punkte des Ereignisses, wie es kritische Temperaturpunkte gibt, Schmelzpunkte, Gefrierpunkte; Siedepunkte, Taupunkte; Gerinnungspunkte; Kristallisationspunkte. Und es gibt im Ereignis sogar jene Zustände von Unterkühlung, die nur dann ausgefällt werden, die sich nur dann kristallisieren, nur dann bestimmen, wenn ein Fragment des künftigen Ereignisses hinzutritt“13. Das Verfahren der Vize-Diktion, geeignet, die Mannigfaltigkeiten und Themen zu durchlaufen und zu beschreiben, ist darum wichtiger als das Verfahren der Kontradiktion, das die Wesenheit bestimmen und deren Einfachheit bewahren will. Man wird einwenden, daß das ,,Wichtigste“ von Natur aus das Wesen sei. Eben das aber ist die Frage; und sie lautet zunächst, ob die Begriffe von Wichtigkeit und Unwichtigkeit nicht gerade Begriffe sind, die das Ereignis, das Akzidens betreffen und im Innern des Akzindens ,,wichtiger“ sind als die grobe Opposition von Wesen und Akzidens selber. Das Problem des Denkens ist nicht ans Wesen gebunden, sondern an die Bewertung dessen, was Wichtigkeit oder keine Wichtigkeit besitzt, an die Aufteilung des Singulären und Regulären, des Ausgezeichneten und Gewöhnlichen, die sich gänzlich im Unwesentlichen oder in der Beschreibung einer Mannigfaltigkeit ergibt, und zwar im Verhältnis zu den idealen Ereignissen, die die Bedingungen eines
” Charles Peguy: Clio, a.a.O., S. 269.
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,,Problems“ bilden. Eine Idee haben bedeutet nichts anderes; der falsche Geist, die Dummheit selbst, definiert sich vor allem durch seine fortwährenden Verwirrungen bezüglich des Wichtigen und Unwichtigen, Gewöhnlichen und Singulären. Es ist der Vize-Diktion vorbehalten, die Fälle ausgehend von den Hilfsgleichungen und Adjunktionen zu erzeugen. Sie ist es, die die Aufteilung der ausgezeichneten Punkte in der Idee steuert; sie ist es, die darüber entscheidet, wie eine Reihe fortgesetzt werden muf3, von einem singulären Punkt über reguläre Punkte bis zu einem weiteren singulären Punkt, und welchem; sie ist es, die bestimmt, ob die in der Idee erhaltenen Reihen konvergent oder divergent sind (es gibt also Singularitäten, die entsprechend der Konvergenz der Reihen selbst gewöhnlich, und Singularitäten, die deren Divergenz zufolge ausgezeichnet sind). Die beiden Verfahren der Vize-Diktion, die in die Bestimmung der Bedingungen des Problems und in die korrelative Genese der Lösungsfälle zugleich eingreifen, sind einerseits die Prüzisierung der adjungierten Körper, andererseits die Verdichtung der Singularitäten. Einerseits nämlich müssen wir in der progressiven Bestimmung der Bedingungen die Adjunktionen entdecken, die den Ausgangskörper des Problems als solchen vervollständigen, nämlich die Varietäten der Mannigfaltigkeit in allen Dimensionen, die Fragmente künftiger oder vergangener idealer Ereignisse, die gleichzeitig das Problem lösbar machen; und wir müssen den Modus festlegen, in dem sie sich mit dem Ausgangskörper verknüpfen oder verschachteln. Andererseits müssen wir alle Singularitäten verdichten, alle Umstände, Schmelzpunkte, Gefrierpunkte, Taupunkte in einer sublimen Gelegenheit, Kairos, ausfällen, die die Lösung als etwas Jähes, Gewaltsames, Revolutionäres explodieren läßt. Auch dies heißt: eine Idee haben. Jede Idee hat gleichsam zwei Gesichter wie Liebe und Zorn: Liebe in der Suche nach den Fragmenten, in der progressiven Bestimmung und der Verknüpfung der idealen Adjunktionskörper; Zorn in der Verdichtung der Singularitäten, die mittels idealer Ereignisse die Sammlung einer ,,revolutionären Situation” definiert und die Idee ins Aktuelle explodieren läßt. Gerade in diesem Sinne hatte Lenin Ideen. (Es gibt eine Objektivität der Adjunktion und der Verdichtung, eine Objektivität der Bedingungen, die bedeutet, daß sich die Probleme ebensowenig wie die Ideen nur in unserem Kopf befinden, sondern hier und da sind, in der Produktion einer aktuellen historischen Welt). Und in all diesen Ausdrücken, ,,singuläre und ausgezeichnete Punkte“, ,,Adjunktionskörper“, ,,Verdichtung von Singularitäten”, dürfen wir keine mathematischen Metaphern sehen; keine physikalischen Metaphern in ,,Schmelzpunkt, Gefrierpunkt . . .“; keine lyrischen oder mystischen Metaphern in ,,Liebe und Zorn“. Sie sind die Kategorien der dialektischen Idee, die Extensionen der Differentialrechnung (die mathesis universalis, ebenso aber die universale Physik, die universale Psychologie, Soziologie), die der Idee in all ihren Gebieten von Mannigfaltigkeit entsprechen. Die Ideen sind dadurch, was an Revolutionärem und Zärtlichem in ihnen steckt, stets unregelmäßiges Funkeln von Liebe und grimmigem Zorn, das keineswegs ein natürliches Licht ergibt.
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(Das Wichtigste in Schellings Philosophie ist die Berücksichtigung der Potenzen. Wie ungerecht die Kritik Hegels, in dieser Hinsicht, an den schwarzen Kühen. Von den beiden Philosophen ist es Schelling, der die Differenz aus der Nacht des Identischen heraustreten läßt, mit noch feineren, mannigfaltigeren, entsetzlicheren Blitzen als denen des Widerspruchs: im Fortschreiten. Zorn und Liebe sind Potenzen der Idee, die sich von einem ~4 6, ausgehend entwickeln, d. h. nicht von einem Negativen oder einem Nicht-Sein -(OUX Ov), sondern von einem problematischen Sein oder einem Nicht-Existierenden, einem impliziten Sein der Existenzen jenseits des Grundes. Der Gott der Liebe und der Gott des Zorns reichen gerade aus, um eine Idee zu haben. A, A2, A3 bilden das Spiel der Depotenzierung und der reinen Potentialität, bezeugen in Schellings Philosophie das Vorhandensein einer der Dialektik angemessenen Differentialrechnung. Schelling war Leibnizianer. Aber auch Neuplatoniker. Der große neuplatonische Wahn, der auf das Problem des Phaidros antwortete, staffelt, verschachtelt die Zeuse nach einer Exhaustionsmethode und nach einer Methode der Entwicklung von Potenzen: Zeus, Zeus2, Zeus3.. . Hier erhält die Einteilung ihre volle Gültigkeit, die nicht der Breite nach in der Differenzierung der Arten ein und derselben Gattung liegt, sondern der Tiefe nach in der Ableitung und Potenzierung, schon in einer Art Differentiation. In einer seriellen Dialektik werden sodann die Potenzen einer Differenz lebendig, die sammelt und zusammenrückt (6 o~vovlxoQ und titanisch im Zorn, demiurgisch in Liebe und zudem apollinisch, areisch, athenäisch wird14.)
So wenig ein Gegensatz Struktur/Genese besteht, so wenig gibt es einen Gegensatz zwischen Struktur und Ereignis, Struktur und Sinn. Die Strukturen umfassen ebenso viele ideale Ereignisse wie Varietäten von Verhältnissen und singulären Punkten, die sich mit den realen Ereignissen, die sie bestimmen, überschneiden. Was man Struktur nennt, ein System von differentiellen Verhältnissen und Elementen, ist zugleich Sinn in genetischer Hinsicht, und zwar in Abhängigkeit von aktuellen Relationen und Termen, in denen sie sich verkörpert. Der wahre Gegensatz besteht im übrigen zwischen der Idee (Struktur/Ereignis/Sinn) und der Repräsentation. In der Repräsentation ist der Begriff gleichsam die Möglichkeit; das Subjekt der Repräsentation aber bestimmt das Objekt noch als dem Begriff real entsprechend, als Wesenheit.
” Vgl. eines der wichtigsten Bücher des Neuplatonismus, das eine serielle und potentie!le Dialektik der Differenz ins Spiel bringt, die DubitAones et solutiones de primis PGzcipiis von Damaskios (hg. v. C. H. Ruelle, Paris 1889). - Zur Theorie der Differenz und der Potenzen bei Schelling vgl. insbesondere die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) und Die Weltalter, in: Werke, a.a.O., Bd. 4.
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Darum ist die Repräsentation in ihrer Gesamtheit das Element des Wissens, das sich in der Andacht vor dem gedachten Objekt und seiner Rekognition durch ein denkendes Subjekt verwirklicht. Die Idee aber macht ganz andere Merkmale geltend. Die Virtualität der Idee hat nichts mit einer Möglichkeit zu tun. Die Mannigfaltigkeit verträgt keinerlei Abhängigkeit vom Identischen im Subjekt oder im Objekt. Die Ereignisse und die Singularitäten der Idee lassen keinerlei Setzung des Wesens als ,,das, was das Ding ist“, bestehen. Und sicher kann man, wenn man Wert darauf legt, das Wort Wesen beibehalten, vorausgesetzt jedoch man fügt hinzu, daß das Wesen eben das Akzidens, das Ereignis, der Sinn ist, nicht nur das Gegenteil dessen, was man gewöhnlich Wesen nennt, sondern das Gegenteil des Gegenteils: Die Mannigfaltigkeit ist ebensowenig Schein wie Wesen, ebensowenig mannigfaltig wie eins. Die Verfahren der Vize-Diktion lassen sich daher nicht in Begriffen der Repräsentation, und sei sie unendlich, ausdrücken; sie verlieren dabei, wie man es bei Leibniz gesehen hat, ihre wichtigste Kraft, die in der Affirmation der Divergenz oder der Dezentrierung besteht. In Wahrheit ist die Idee nicht das Element des Wissens, sondern eines unendlichen ,,Lernens“, das sich wesentlich vom Wissen unterscheidet. Denn Lernen entwikkelt sich gänzlich im Erfassen der Probleme als solcher, in der Apprehension und Verdichtung der Singularitäten, in der Zusammensetzung der idealen Körper und Ereignisse. Schwimmen lernen, eine Fremdsprache lernen heißt, die singulären Punkte seines eigenen Körpers oder seiner eigenen Sprache mit denen einer anderen Gestalt, eines anderen Elements zusammenzusetzen, das uns zerstückelt, uns aber in eine Welt von bisher unbekannten, unerhörten Problemen eindringen läßt. Und wozu sind wir bestimmt, wenn nicht ZU Problemen, die sogar die Transformation unseres Körpers und unserer Sprache verlangen ? Kurz, die Repräsentation und das Wissen modellieren sich vollständig nach den Sätzen des Bewußtseins, die Lösungsfälle bezeichnen; diese Sätze aber geben selbst einen völlig ungenauen Begriff der Instanz , wieder, die sie klären oder lösen und von der sie als Fälle erzeugt werden. Demgegenüber drücken die Idee und das ,,Lernen“ diese problematische, extrapropositionale oder subrepräsentative Instanz aus: die Präsentation des Unbewußten, nicht die Repräsentation des Bewußtseins. Man wird sich nicht wundern, daß der Strukturalismus bei den Autoren, die ihn propagieren, so oft von einem Appell an ein neues Theater oder eine neue (nichtaristotelische) Interpretation des Theaters begleitet wird: an ein Theater der Mannigfaltigkeiten, das in jeder Hinsicht dem Theater der Repräsentation entgegensteht, ein Theater, das die Identität eines repräsentierten Dings nicht länger bestehen läßt, weder die Identität eines Autors, noch eines Zuschauers, noch einer Figur auf der Bühne, keinerlei Repräsentation, die über die Peripetien des Stücks hinweg zum Gegenstand einer letzten Rekognition oder einer Sammlung des Wissens werden könnte, vielmehr ein Theater von stets offenen Problemen und Fragen, das den Zuschauer, die Bühne und die Figuren in der realen Bewegung eines Lernprozesses des
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ganzen Unbewußten mit sich reißt, dessen äußerste Elemente wiederum die Probleme selbst sind. W i e ist der notwendig unbewußte Charakter der Ideen zu verstehen? Muß man die Idee als Objekt eines exklusiven besonderen Vermögens verstehen, d a s sein transzendentes oder Grenze1 ement um so leichter in sich vorfindet, als es dieses nicht vom Standpunkt des empirisehen Gebrauchs a u s fassen kann? Diese Hypothese hätte bereits den Vorteil, die Vernunft oder sogar den Verstand als Vermögen der Ideen auszuschließen, und noch allgemeiner jedes für einen Gemeinsinn konstitutive Vermögen auszuschließen, für einen Gemeinsinn, unter den der empirische Gebrauch der anderen Vermögen bezüglich eines als selbes vorausgesetzten Objekts subsumiert wird. Daß etwa das Denken in sich etwas vorfindet, das es nicht denken kann, das Undenkbare und zugleich das, was gedacht werden muß, das Undenkbare und das, was nur gedacht werden kann - dies ist unverständlich nur aus der Perspektive eines Gemeinsinns oder eines Gebrauchs, der Abklatsch des Empirischen ist. Einem oft gegen Maimon vorgebrachten Einwand zufolge nehmen die als Differentiale des Denkens begriffenen Ideen ein Minimum an ,,Gegebenem“ in sich auf, das nicht gedacht werden kann; sie restaurieren die Dualität eines unendlichen und eines endlichen Verstands als Existenz- und Erkenntnisbedingungen, eine Dualität, die die kantische Kritik doch gerade beseitigen wollte. Dieser Einwand hat aber nur in dem Maße Gültigkeit, wie die Ideen nach Maimon den Verstand als Vermögen besitzen, wie sie Kant zufolge die Vernunft als Vermögen besaßen, d. h. jedenfalls ein Vermögen, das einen Gemeinsinn konstituiert, der selber in seinem Innern nicht die Anwesenheit eines Kerns zu ertragen vermag, an dem der empirische Gebrauch der miteinander verbundenen Vermögen zerbrechen würde. Nur unter diesen Bedingungen muß das Undenkbare im Denken oder das Unbewußte eines reinen Denkens in einem unendlichen Verstand als Ideal des Wissens verwirklicht werden, und nur unter diesen Bedingungen sind die Differentiale dazu verurteilt, zu bloßen Fiktionen zu werde;, wenn sie in diesem unendlichen Verstand nicht das Maß einer völlig aktuellen Realität finden. Aber die Alternative ist wiederum falsch gestellt. Und das bedeutet, daß die Eigenart des Problematischen und die Zugehörigkeit des Unbewußten zum endlichen Denken verkannt bleiben. Anders verhält es sich, wenn die Ideen auf den transzendenten Gebrauch eines besonderen Vermögens bezogen werden , das von keinem Gemeinsinn belastet wird.
Indessen glauben wir nicht, daß diese erste Antwort ausreicht und daß die Ideen oder Strukturen auf ein besonderes Vermögen verweisen. Denn die Idee durchläuft und betrifft alle Vermögen. Sie ermöglicht, ihrer Ordnung gemäß, zugleich die Existenz eines Vermögens, das als solches bestimmt ist, und das differentielle Objekt oder den transzendenten Gebrauch dieses Vermögens. Gegeben sei die linguistische Mannigfaltigkeit als ein virtuelles System von reziproken Bindungen zwischen ,,Phonemen‘, das sich in den aktuellen Relationen und Termen der verschiedenen Sprachen verkörpert: Eine derartige
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Mannigfaltigkeit ermöglicht die Rede als Vermögen, ermöglicht das transzendente Objekt dieser Rede, jene ,,Metasprache”, die im empirischen Gebrauch einer gegebenen Sprache nicht gesprochen werden kann, die aber gesprochen werden muß, die im poetischen Gebrauch der Rede nur gesprochen werden kann, in einem Gebrauch, der der Virtualität koextensiv ist. Gegeben sei die soziale Mannigfaltigkeit: Sie bestimmt die Soziabilität als Vermögen, zugleich aber das transzendente Objekt der Soziabilität, das in den aktuellen Gesellschaften, in denen sich die Mannigfaltigkeit verkörpert, nicht gelebt werden kann, das aber im Element des gesellschaftlichen Umsturzes gelebt werden muß und nur dort gelebt werden kann (ganz einfach die Freiheit nämlich, die stets von den Resten einer alten Ordnung und von den Anfängen einer neuen verdeckt wird). Man könnte dasselbe von den anderen Ideen oder Mannigfaltigkeiten sagen: von den psychologischen Mannigfaltigkeiten, der Einbildungskraft und der Phantasie; den biologischen Mannigfaltigkeiten, der Vitalität und dem ,,Monstrum“; den physikalischen Mannigfaltigkeiten, der Sinnlichkeit und dem Zeichen . . . Damit aber korrespondieren die Ideen abwechselnd mit allen Vermögen und sind nicht ausschließlicher Gegenstand irgendeines Vermögens im besonderen, nicht einmal des Denkens. Das Wesentliche jedoch ist, daß wir damit keineswegs wieder die Form eines Gemeinsinns einführen, im Gegenteil. Wir haben gesehen, wie die Zwietracht der Vermögen, definiert durch die Ausschließlichkeit des transzendenten Objekts, das von jedem Vermögen aufgefaßt wird, nichtsdestoweniger einen Einklang implizierte, dem zufolge jedes davon seine Gewalt auf das andere überträgt, einer Pulverspur entlang, aber eben einen “diskordanten Einklang“, der die Form von Identität, von Konvergenz und Zusammenarbeit des Gemeinsinns ausschließt. Gerade diese einstimmige Diskordanz schien uns der Differenz zu entsprechen, die durch sich selbst verknüpft oder vereint. Es gibt also einen Punkt, an dem denken, sprechen, einbilden, fühlen usw. ein und dieselbe Sache sind, aber diese Sache bestätigt bloß die Divergenz der Vermögen in ihrem transzendenten Gebrauch. E S handelt sich also nicht um einen Gemeinsinn, sondern im Gegenteil um einen ,,Para-Sinn“ (in der Hinsicht, in der das Paradox auch das Gegenteil des gesunden Menschenverstands ist). Dieser Para-Sinn hat die Ideen als Element, eben weil die Ideen reine Mannigfaltigkeiten sind, die keinerlei Identitätsform in einem Gemeinsinn voraussetzen, sondern im Gegenteil den getrennten Gebrauch der Vermögen in transzendenter Hinsicht erwecken und beschreiben. Damit sind die Ideen Mannigfaltigkeiten differentiellen Funkelns, gleichsam irrlichternd zwischen den Vermögen, ,,virtuelle Feuerspur“, ohne jemals die Homogenität jenes natürlichen Lichts zu erhalten, die den Gemeinsinn kennzeichnet. Darum kann Lernen auf zwei komplementäre Arten definiert werden, die sich gleichermaßen der Repräsentation im Wissen widersetzen: entweder heißt lernen, in die Idee, in ihre Varietäten und ausgezeichneten Punkte eindringen; oder lernen heißt, ein Vermögen zu seinem getrennten transzendenten Gebrauch emporheben, es zu jener Begeg-
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und jener Gewalt emporheben, die sich den anderen mitteilen. Darum auch das Unbewußte zwei komplementäre Bestimmungen, die es notwendig von der Repräsentation ausschließen, es aber einer reinen Präsentation würdig und zugänglich machen: Sei es, daß sich das Unbewußte durch den extrapropositionalen und nicht aktuellen Charakter der Ideen im Para-Sinn definiert, sei es, daß es sich durch den nicht empirischen Charakter des paradoxalen Gebrauchs der Vermögen definiert. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß die Ideen in einem ganz besonderen Verhältnis zum reinen Denken stehen. Zweifellos darf das Denken hier nicht als eine Identitätsform aller Vermögen betrachtet werden, sondern als ein besonderes Vermögen, das ebenso wie die anderen durch sein differentielles Objekt und seinen gesonderten Gebrauch definiert ist. Jedenfalls weisen der Para-Sinn oder die Gewalt, die sich von einem Vermögen zum anderen in einer bestimmten Reihenfolge mitteilt, dem Denken einen besonderen Platz zu: Erst am äußersten Ende der Gewaltkette, die von einer Idee zur anderen zunächst die Sinnlichkeit und ihr sentiendum usw. in Bewegung setzt, ist das Denken dazu bestimmt, sein eigenes cogitandum zu fassen. Dieses äußerste Ende kann zugleich als radikaler Ursprung der Ideen betrachtet werden. In welchem Sinne aber müssen wir ,,radikaler Ursprung“ verstehen? In ebendiesem Sinn müssen die Ideen ,,Differentiale“ des Denkens, ,,Unbewußtes“ des reinen Denkens genannt werden, gerade in dem Augenblick, in dem der Gegensatz des Denkens zu jeder Form des Gemeinsinns lebhafter denn je bleibt. Daher beziehen sich die Ideen keineswegs auf ein Cogito als Satz des Bewußtseins oder Grund, sondern auf das gespaltene Ego eines aufgelösten Cogito, d. h. auf das universale ZuGrunde-Gehen [effon d ement], das das Denken als Vermögen in seinem transzendenten Gebrauch charakterisiert. Die Ideen sind nicht Gegenstand eines besonderen Vermögens, zugleich aber betreffen sie auf einzigartige Weise ein besonderes Vermögen derart, daß sich sagen läßt: Sie entspringen ihm (um den Para-Sinn aller Vermögen zu bilden). Noch einmal, was heißt hier entspringen oder seinen Ursprung finden? Woher kommen die Ideen, woher kommen die Probleme, ihre idealen Elemente und Verhältbesitzt
nisse?
Es ist der Moment gekommen, die Differenz zwischen den beiden Instanzen des Problems und der Frage zu bestimmen, die wir bisher im Vagen belassen hatten. Es muß daran erinnert werden, wie sehr der Komplex Frage/Problem eine Errungenschaft des modernen Denkens ist, auf der Basis der Wiedergeburt der Ontologie: Das rührt daher, daß dieser Komplex nicht länger als Ausdruck einer provisorischen und subjektiven Verfassung in der Repräsentation des Wissens betrachtet wurde, sondern zur Intentionalität des Seins schlechthin oder zur einzigen Instanz wurde, der das Sein strenggenommen antwortet, ohne daß dadurch die Frage aufgehoben oder überholt würde, da ja im Gegenteil sie allein über eine Öffnung verfügt, die koextensiv zu dem ist, was ihr antworten soll und ihr nur ant-
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worten kann, indem es sie aufrechterhält, von neuem stellt und wiederholt. Diese Konzeption der Frage als ontologischer Bereich beseelt das Kunstwerk ebenso wie das philosophische Denken . Das Werk entw ickelt sich an und um einen Riß, den es niemals auffüllt. Daß der Ro man, insbesondere seit Joyce, eine ganz neue Sprache nach Art des ,,Fragebogens“ oder ,,InquisitoriumP gefunden hat, daß er wesentlich problematische Ereignisse und Figuren dargestellt hat, bedeutet selbstverständlich nicht, daß man keiner Sache sicher ist, ist selbstverständlich nicht die Anwendung einer verallgemeinerten Methode des Zweifels, ist nicht das Zeichen eines modernen Skeptizismus, sondern im Gegenteil die Entdeckung des Problematischen und der Frage als transzendentaler Horizont, als transzendentaler Brennpunkt, die den Wesen, den Dingen, den Ereignissen ,,wesentlich” eignen. Es ist die Entdeckung der Idee im Roman, oder im Theater, in der Musik, in der Philosophie . . .; und gleichzeitig die Entdeckung eines transzendenten Gebrauchs der Sinnlichkeit, des Bild-Gedächtnisses, der Sprache, des Denkens, wodurch jedes dieser Vermögen mit den anderen in seiner völligen Diskordanz kommuniziert und sich auf die Seinsdifferenz hin öffnet, indem es seine eigene Differenz zum Gegenstand, d.h. zur Frage macht: so jene Schreibweise, die nichts anderes mehr ist als die Frage Was ist schreiben?, oder jene Sinnlichkeit, die nichts ist als Was ist empfinden? und jenes Denken - Was bedeutet denken? Daher rühren die größten Monotonien, die größten Schwächen eines neuen Gemeinsinns, wenn der Genius der Idee fehlt; aber auch die mächtigsten ,,Wiederholungen“, die herrlichsten Erfindungen im Para-Sinn, wenn die Idee mit aller Gewalt hervorbricht. Rufen wir uns lediglich die Prinzipien dieser Ontologie der Frage in Erinnerung: 1. Weit davon entfernt, eine empirische Verfassung des Wissens zu meinen, das dazu bestimmt ist, in den Antworten zu verschwinden, wenn die Antwort einmal gegeben ist - bringt die Frage all die empirischen Antworten, durch die sie beseitigt werden soll, zum Schweigen, um die einzige Antwort zu ,,erzwingen“, die die Frage aufrechterhält und stets von Neuem aufgreift: so Hiob in seinem Beharren auf eine Antwort aus erster Hand, die mit der Frage selbst verschmilzt (erste Macht des Absurden). 2. Daher die Macht der Frage, die den Fragenden ebenso ins Spiel bringt wie das, wonach er fragt, und sich selbst infrage stellt: so Ödipus und seine Art, nicht von der Sphinx loszukommen (zweite Macht des Rätsels). 3. Daher die Offenbarung des Seins als Entsprechung zur Frage, das sich nicht auf das Befragte und nicht auf den Fragenden reduzieren läßt, sondern sie in der Artikulation seiner eigenen Differenz vereint: I,CI 6,, was nicht Nicht-Sein oder Sein des Negativen ist, sondern Nicht-Seiendes oder Sein
l5 Anspielung auf die Romane von E . v. Salomon u n d R . Pinget [A.d.ü.].
(L’hquisitoire,
(Der Fragebogen,
Paris 1962; dt. : hquisitorium,
Hamburg 1951) Hamburg 1965)
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der Frage (so Odysseus und die Antwort ,,Niemand“ - dritte Macht, die der philosophischen Odyssee). Doch diese moderne Ontologie hat ihre Schwächen. Sie spielt zuweilen das Unbestimmte als objektive Macht der Frage aus, um allerdings ein völlig vages Subjektives passieren zu lassen, das sie dem Sein zugutehält, und dabei die Kraft der Wiederholung durch die Kümmerlichkeit eines NachIeierns oder die Stereotypien eines neuen Gemeinsinns ersetzt. Außerdem widerfährt es ihr sogar, daß sie den Komplex auflöst, daß sie das Bemühen um die Fragen der Religiosität einer schönen Seele anvertraut, indem sie die Probleme auf äußere Hindernisse abwälzt. Was wäre jedoch eine Frage, wenn sie sich nicht unter problematisierenden Feldern entwickeln würde, die allein sie in einer charakteristischen “Wissenschaft“ zu bestimmen vermögen? Die schöne Seele kommt nicht davon los, sich ihre ureigene Frage, die Frage nach dem Verlöbnis zu stellen; wieviele Bräute aber verschwanden oder wurden verlassen, sobald die Frage ihr passendes Problem fand, das auf sie reagierte, sie korrigierte und um die ganze Differenz eines Gedankens verschob (so etwa Prousts Held mit der Frage ,,Werde ich Albertine heiraten?“, einer Frage, die er aber im Problem des geplanten Kunstwerks entfaltet, in dem die Frage selbst eine radikale Metamorphose durchläuft). Wir müssen unsere Suche-darauf lenken, wie sich die Fragen als Probleme in einer Idee entfalten, wie sich die Probleme als Fragen im Denken einhüllen. Und auch hier muß man das klassische Bild des Denkens einem anderen Bild gegenüberstellen, dem Bild, das von jener Wiedergeburt der Ontologie heute nahegelegt wird. Denn von Platon bis zu den Postkantianern hat die Philosophie die Bewegung des Denkens als einen gewissen Übergang vom Hypothetischen zum Apodiktischen definiert. Selbst das kartesianische Unternehmen - vom Zweifel zur Gewißheit zu gelangen - ist eine Variante dieses Übergangs. Eine andere Variante ist der Übergang von der hypothetischen Notwendigkeit zur metaphysischen Notwendigkeit im radikalen Ursprung. Aber bereits bei Platon definierte sich die Dialektik folgendermaßen: von Hypothesen ausgehen, sich der Hypothesen als Sprungbretter, d.h. als ,,Probleme“ bedienen, um bis zum an-hypothetischen Prinzip aufzusteigen, das die Lösung der Probleme ebenso Wie die Wahrheit der Hypothesen bestimmen soll; die ganze Struktur des Parmenides leitet sich daraus ab, und zwar unter Bedingungen, die es von nun an unmöglich machen, darin - wie man es doch so leichthin getan hat - ein Spiel, eine Propädeutik, eine Gymnastik, eine formale Übung zu sehen. Kant selbst ist platonischer, als er denkt, wenn er von der Kritik der reinen Vernunft, die gänzlich der hypothetischen Form der möglichen Erfahrung verschrieben ist, zur Kritik der praktischen Vernunft übergeht, in der er mit Hilfe von Problemen die pure Notwendigkeit eines kategorischen Prinzips entdeckt. Um so mehr noch die Postkantianer, wenn sie an Ort und Stelle, und ohne die ,,Kritik“ zu wechseln, die Umwandlung des hypothetischen Urteils in ein thetisches Urteil vollziehen
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wollen”. Es ist also durchaus gerechtfertigt, auf diese Weise die Bewegung der Philosophie von Platon über Descartes bis zu Fichte oder Hegel ZU resümieren, wie verschieden die Anfangshypothesen und die apodiktischen Endurteile auch sein mögen. Es gibt zumindest eine Gemeinsamkeit: den in einer ,,Hypothese“ gefundenen Ausgangspunkt, d.h. in einem Satz des Bewußtseins, das von einem Unsicherheitskoeffizienten (und sei es der kartesianische Zweifel) affiziert wird; und den in einem apodiktischen Urteil oder einem Imperativ eminent moralischer Natur gefundenen Endpunkt (das Gut-Eine Platons, der nicht täuschende Gott des kartesianischen Cogito, das Prinzip des Besten bei Leibniz, Kants kategorischer Imperativ, Fichtes Ich, Hegels ,,Wissenschaft“). Nun steht dieses Verfahren in engster Berührung mit der wahren Bewegung des Denkens, verrät und verfälscht sie aber auch in höchstem Maße; diese Gemeinschaft aus Hypothetismus und Moralismus, dieser wissenschaftliche Hypothetismus und dieser rationalistische Moralismus machen unkenntlich, woran sie sich annähern. Wenn wir sagen: die Bewegung verläuft nicht vom Hypothetischen zum Apodiktischen, sondern vom Problematischen zur Frage - so scheint der Unterschied zunächst sehr fein zu sein. Umso feiner noch, als die Frage wenn das Apodiktische nicht von einem moralischen Imperativ zu lösen ist ihrerseits nicht von einem Imperativ, wenn auch anderer Art, zu trennen ist. Dennoch besteht eine Kluft zwischen diesen Formeln. In der Gleichsetzung des Problems mit einer Hypothese liegt bereits der Verrat gegenüber dem
l6 Zu Platon vgl. Politeia VI, 511 b: ,,[. . .] der denkende Geist [. . .] verwendet die Hypothesen nicht als Prinzipien, sondern als echte Hypothesen, wie Stützpunkte und Sprungbretter; mit ihrer Hilfe dringt er bis zum anhypothetischen Urbeginn des Ganzen vor, hält sich an diesem Prinzip und dann wieder an dem, was von ihm abhängt, und steigt so wieder herab und zurück zum Ende [. . .] @it. nach der neueren Übersetzung von Karl Vretska, Stuttgart 1978~, im Sinne der Terminologie Deleuzes leicht verändert; d.Ü.). - Dieser Text wurde ausfühlich von Proclus kommentiert, der ihn als Darstellung der Methode des Parmenides begreift und sich seiner bedient, um die bereits zu seiner Zeit gängigen formalen oder skeptischen Deutungen zu denunzieren: Es ist klar, daß das Eine, wie es in den Hypothesen des Parmenides dargestellt wird, nicht dem anhypothetischen Einen entspricht, bei dem der Dialektiker von Hypothese zu Hypothese fortschreitend endet und das die Wahrheit jeder einzelnen prüft. Vgl. Proclus: Commentaire SW Le Pawzenide de Platon, 2 Bde., Leiden I%Q/Leuven 1985. Zur Umwandlung des hypothetischen Urteils in ein kategorisches in der Philosophie Maimons und Fichtes vgl. Martial Gu&oult: L’&olution et la structure de la Doctrine de La Science cbez Fichte, Paris WO, Bd. 1, S. 127ff. Zu Hegel und der analogen Umwandlung vgl. das Verhältnis von Ansich und Fürsich in der P h ä n o m e n o l o g i e ; das Verhältnis zwischen der Phänomenologie selbst und der Logik; die hegelsche Vorstellung von ,,Wissenschaft” und den Übergang vom empirischen Satz zum spekulativen Satz.
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Problem oder der Idee, der illegitime Prozeß ihrer Reduktion auf Sätze des Bewußtseins und auf Repräsentationen des Wissens: Das Problematische unterscheidet sich wesentlich vom Hypothetischen. D a s Thematische verschmilzt keineswegs mit dem Thetischen. Und was in diesem Unterschied auf dem Spiel steht, ist die gesamte Aufteilung, die ganze Bestimmtheit, der ganze Zweck, der gesamte Gebrauch der Vermögen in einer Lehre überhaupt. Es sind überdies sehr verschiedene Dinge, von der apodiktischen Instanz oder der Frage-Instanz zu sprechen, weil es sich dabei um zwei in jeder Hinsicht unvergleichbare Imperativformen handelt. Die Fragen sind Imperative, oder eher: die Fragen drücken das Verhältnis der Probleme zu den Imperativen, aus denen sie hervorgehen, aus. Muß man das Beispiel der Polizei bemühen, um die imperative Natur der Fragen zu demonstrieren? ,,Ich bin es, der hier die Fragen stellt”, in Wahrheit aber ist es bereits das aufgelöste Ich des Befragten, das durch seinen Peiniger hindurch spricht. Die Probleme oder Ideen stammen aus zufälligen Imperativen oder Ereignissen, die sich als Fragen präsentieren. Darum sind die Probleme nicht von einer Entscheidungsgewalt zu lösen, von einem fiat, das uns zu halbgöttlichen Wesen macht, wenn es uns durchfährt. Zählt sich der Mathematiker nicht bereits zum Geschlecht der Götter? In den beiden grundlegenden Verfahren der Adjunktion und Verdichtung wird am höchsten Punkt jene Entscheidungsgewalt, die sich in der Natur der zu lösenden Probleme gründet, ausgeübt, da eine Gleichung ja stets im Verhältnis zu einem vom Mathematiker adjungierten idealen Körper reduzierbar oder nicht reduzierbar wird. Unendliche Macht, eine willkürliche Quantität hinzuzufügen: Es handelt sich nicht mehr um ein Spiel nach leibnizscher Art, in dem sich der moralische Imperativ vorbestimmter Regeln mit der Bedingung eines gegebenen Raums kombiniert, der ex hypothesi gefüllt werden muß. Es handelt sich eher um einen Würfelwurf und um den gesamten Himmel als offenen Raum und um den Wurf als einzige Regel. Die singulären Punkte stehen auf dem Würfel; die Fragen sind die Würfel selbst; der Imperativ ist der Wurf. Die Ideen sind die problematischen Kombinationen, die aus den Würfen resultieren. Und zwar deswegen, weil der Würfelwurf nicht im geringsten den Zufall (den Zufallshimmel) abschaffen will. Den Zufall abschaffen heißt, ihn nach den Wahrscheinlichkeitsregeln in meherere Würfe zu zerlegen, so daß das Problem darin bereits in Hypothesen, in Hypothesen von Gewinn und Verlust, zergliedert und der Imperativ im Prinzip einer Wahl des Besten moralisiert ist, das den Gewinn bestimmt. Demgegenüber bejaht der Würfelwurf in einem einzigen Mal den Zufall, jeder Würfelwurf bejaht jedesmal den ganzen Zufall. Die Wiederholung der Würfe unterliegt nicht mehr dem Fortbestand ein und derselben Hypothese oder der Identität einer konstanten Regel. Das schwierigste ist, aus dem Zufall ein Objekt von Bejahung zu machen, dies aber ist der Sinn des Imperativs und der Fragen, die er aufwirft. Die Ideen stammen daher, wie die Singularitäten jenem aleatorischen Punkt entstammen, der jedesmal den ganzen Zufal1 in einem einzigen Mal
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verdichtet. Man wird sagen, daß wir dadurch, daß wir diesem Punkt den imperativen Ursprung der Ideen zumessen, nur das Willkürliche, das bloß Willkürliche eines Kinderspiels, das Gott-Kind geltend machen. Damit aber mißverstünde man, was ,,bejahen“ bedeutet. Es gibt Willkürliches im Zufall nur, insofern er nicht bejaht, nicht genügend bejaht wird, insofern er in einem Raum, auf eine Zahl und unter Regeln aufgeteilt wird, die ihn beschwören sollen. Wird der Zufall genügend bejaht, so kann der Spieler nicht mehr verlieren, da jede Kombination und jeder Wurf, der sie erzeugt, von Natur aus dem beweglichen Ort und dem beweglichen Gebot des aleatorischen Punkts entsprechen. Was heißt also: den ganzen Zufall jedesmal, in einem einzigen Mal bejahen ? Diese Bejahung bemißt sich an der Herstellung von Resonanz zwischen den disparaten Momenten, die dem selben Wurf entstammen und unter dieser Bedingung ein Problem bilden. Der ganze Zufall liegt also tatsächlich in jedem Wurf, auch wenn dieser partiell ist, und er liegt darin mit einem einzigen Mal, auch wenn die erzeugte Kombination Gegenstand einer progressiven Bestimmung ist. Der Würfelwurf vollführt das Kalkül der Probleme, die Bestimmung der differentiellen Elemente oder die Verteilung der singulären Punkte, die für eine Struktur konstitutiv sind. Auf diese Weise bildet sich die zirkuläre Relation der Imperative mit den Problemen, die sich daraus ergeben. Die Resonanz konstituiert die Wahrheit eines Problems als solchen, in der sich der Imperativ erprobt, obwohl das Problem selbst aus dem Imperativ hervorgeht. Ist der Zufall bejaht, so ist jedesmal alles Willkürliche abgeschafft. Ist der Zufall bejaht, so ist die Divergenz selbst Gegenstand von Affirmation in einem Problem. Die idealen Adjunktionskörper, die ein Problem bestimmen, würden dem Willkürlichen ausgeliefert bleiben, wenn der Grundkörper nicht in Resonanz geriete, indem er sich all die durch den adjungierten Körper ausdrückbaren Größen einverleibt. Ein Werk schlechthin ist stets, an ihm selbst, ein idealer Körper, ein idealer Adjunktionskörper. Das Werk ist ein aus dem Imperativ entstandenes Problem, es ist umso perfekter und vollkommener mit einem Wurf, je besser das Problem progressiv als Problem bestimmt ist. Der Autor des Werks kann also sehr wohl Operator der Idee genannt werden. Wenn Raymond Roussel seine ,,Faktengleichungen“ als zu lösende Probleme aufstellt, als ideale Fakten oder Ereignisse, die unter der Einwirkung eines Sprachimperativs in Resonanz geraten, als Fakten, die selbst ein fiat s i n d ; wenn, sich viele moderne Romanautoren an jenem aleatorischen Punkt, an jenem ,,blinden“, gebietenden, fragenden Fleck einrichten, von dem aus sich das Werk als Problem entfaltet, indem es seine divergenten Reihen widerhallen läßt - so betreiben sie keine angewandte Mathematik, formulieren sie keinerlei mathematische oder physikalische Metapher, sondern errichten jene ,,Wissenschaft“, universale mathesis, die jedem Gebiet unmittelbar zugehört, so machen sie das Werk zu einem Lernen und einem Experiment und zugleich zu etwas, das mit jedem Mal total ist, wo der Zufall in jedem Fall bejaht
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wird, jedesmal wiederholbar ist, ohne daß jemals ein Willkürliches fortbesteht, vielleicht”. Diese Entscheidungsgewalt im Kern der Probleme, diese Schöpfung, dieser Wurf, der uns zum Geschlecht von Göttern macht - sie ist dennoch nicht unsere. Die Götter selbst sind der Ananke unterworfen, d. h. dem Zufallshimmel. Die Imperative oder Fragen, die uns durchdringen, entstammen nicht dem Ego, es ist nicht einmal geschaffen, sie zu vernehmen. Die Imperative gehören zum Sein, jede Frage ist ontologisch und verteilt ,,das, was ist“, auf die Probleme. Die Ontologie ist der Würfelwurf - Chaosmos, dem der Kosmos entspringt. Wenn die Imperative des Seins einen Bezug zum Ego unterhalten, so zum gespaltenen Ego, dessen Riß sie jedesmal gemäß der Ordnung der Zeit verschieben und wiederherstellen. Die Imperative bilden also die cogitanda des reinen Denkens, die Differentiale des Denkens, zugleich das, was nicht gedacht werden kann, was aber gedacht werden muß und vom Standpunkt-des transzendenten Gebrauchs aus nur gedacht werden kann. Und die Fragen sind diese reinen Gedanken der cogitanda. Die Imperative in Frageform meinen also meine größte Ohnmacht, zugleich aber jenen Punkt, von-dem Maurice Blanchot fortwährend spricht, jenen ursprünglichen, blinden, azephalen, aphatischen aleatorischen Punkt, der die ,,Unmöglichkeit zu denken, was das Denken ist“, bezeichnet, sich im Werk als Problem entfaltet und in dem sich die ,,Unfähigkeit“ in Macht umwandelt. Die Imperative verweisen keineswegs auf das Cogito als Satz des Bewußtseins, sondern wenden sich ans gespaltene Ego wie ans Unbewußte des Denkens. Denn das Ego hat das Recht zu einem Unbewußten, ohne das es nicht denken würde und vor allem nicht das reine cogitandum denken würde. Im Gegensatz dazu, was der platte Satz des Bewußtseins aussagt, denkt das Denken nur von einem Unbewußten aus und denkt dieses Unbewußte im transzendenten Gebrauch. Genauso sind die Ideen, die sich aus den Imperativen ergeben, keineswegs Eigenschaften oder Attribute einer denkenden Substanz, sondern betreten und verlassen das Ego durch diesen Spalt, nichts weiter, was dazu führt, daß stets ein anderer in mir denkt, der selbst gedacht werden muß. Am Anfang des Den-
” Zitieren wir als Beispiel den Roman Drame von Philippe Sollers (Paris 1965; dt.: Drama, Frankfurt/M. 1968). Dieser Roman nimmt eine Formel von Leibniz zum Motto: ,,Denn nehmen wir beispielsweise an, einer mache aufs Geratewohl eine bestimmte Menge Punkte aufs Papier . . . ich sage, daß es möglich ist, eine geometrische Linie zu finden, deren stetige, gleichförmige Aufzeichnung einer bestimmten Regel folgt, derart, daß diese Linie durch alle jene Punkte geht [. . .]“ (dt.: S. 138). Der ganze Anfang des Buchs ist auf die beiden Formeln hin angelegt: ,,Problem . . . “ und ,,Fehlgeschlagen . . . “. Reihen nehmen in Zusammenhang mit den singulären Punkten des Körpers des Erzählers Gestalt an, eines idealen Körpers, ,,eher gedacht als wahrgenommen“. - Zum ,,blinden Fleck“ als Ursprungspunkt des Werks vgl. die Stellungnahmen von Philippe Sollers und Jean-Pierre Faye in Dibat sur Ie roman (Tel Quel 17, 1964).
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kens steht der Diebstahl. Natürlich kann die Ohnmacht Ohnmacht bleiben, aber auch nur sie allein kann zur höchsten Macht angehoben werden. Genau dies ist es, was Nietzsche unter Machtwillen verstand: jene imperativische Umwandlung, die die Ohnmacht selbst zum Gegenstand nimmt (sei feige, faul, gehorsam, wenn Du willst! vorausgesetzt . . .) - jener Würfelwurf, der den ganzen Zufall zu bejahen vermag, jene Fragen, die uns in hitzigen oder eisigen Stunden durchdringen, jene Imperative, die uns den Problemen ausliefern, die sie aufwerfen. Denn ,,[e]s gibt etwas Unbelehrbares im Grund des Geistes: einen Granit von Fatum, von vorausbestimmter Entscheidung aller Probleme im Mass und Verhältnis zu uns, und ebenso ein Anrecht auf bestimmte Probleme, eine eingebrannte Abstempelung derselben auf unseren Namen” “.
Wie enttäuschend aber scheint die Antwort zu sein. Wir fragten nach dem Ursprung der Ideen, nach der Herkunft der Probleme; und wir berufen uns auf Würfelwurf, auf Imperative und Fragen des Zufalls anstatt auf ein apodiktisches Prinzip, auf einen aleatorischen Punkt, wo alles zu-Grunde-geht [effonde], anstatt auf einen soliden Grund. Wir stellen diesen Zufall dem Willkürlichen in dem Maße gegenüber, wie er bejaht, imperativisch bejaht wird, bejaht nach jenem ganz besonderen Modus der Frage; diese Bejahung selbst aber bemessen wir an der Resonanz, die sich zwischen den aus dem Würfelwurf stammenden problematischen Elementen herstellt. In welchem Zirkel drehen wir uns, so daß wir nicht anders vom Ursprung sprechen können? Wir haben vier Instanzen unterschieden: die imperativischen, ontologischen Fragen; die dialektischen Probleme oder die Themen, die daraus hervorgehen; die symbolischen Felder der Lösbarkeit, in denen sich diese Probleme ,,wissenschaftlich“, in Abhängigkeit von ihren Bedingungen ausdrücken; die Lösungen, die sie in diesen Feldern erhalten, indem sie sich in der Aktualität der Fälle verkörpern. Was aber sind, schon am Ursprung, jene flammenden Imperative, jene Fragen, die Weltanfänge sind? Denn jedes Ding beginnt in einer Frage, man kann aber nicht sagen, daß die Frage selbst beginne. Hätte die Frage, wie der Imperativ, den sie ausdrückt, keinen anderen Ursprung als die Wiederholung? Großen Autoren unserer Zeit kommt es ZU, jenes innigste Verhältnis zwischen Frage und Wiederholung hergestellt zu haben (Heidegger, Blanchot). Nicht jedoch daß es genüge, ein und dieselbe Frage zu wiederholen, die man am Ende unbeschädigt wiederfinden würde, wie etwa Wie steht es ums Sein? Es sind die schlechten Würfe, die sich in
18 Nietzsche*. Gesammelte Werke (Musarionausgabe),
Bd. 16, München
1925,
S. 35.
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dieselben Hypothesen einschreiben (welche die Satze des Bewußtseins oder die Meinungen eines Gemeinsinns repräsentieren) und sich demselben apodiktischen Prinzip (das die Bestimmung des Gewinns repräsentiert) mehr oder weniger annähern. Es sind die schlechten Spieler, die nur dadurch wiederholen, daß sie den Zufall immer wieder in mehere Würfe zerlegen. Demgegenüber bejaht der gute Würfelwurf den ganzen Zufall mit einem Mal; und gerade hierin liegt das Wesen dessen, was man Frage nennt. Dennoch gibt es mehrere Würfe, der Würfelwurf wiederholt sich. Jeder aber packt den Zufall in einem einzigen Mal, und anstatt das Differente, verschiedene Kombinationen, als Resultat des Selben zu erhalten, erhält er dasselbe oder die Wiederholung als Resultat des Differenten. In diesem Sinn steht die der Frage gleichwesentliche Wiederholung am Ursprung der ,,Perplikation“ der Ideen. Das Differentielle der Idee ist selbst nicht vom Wiederholungsprozeß trennbar, der bereits den Würfelwurf definiert. Im Kalkül gibt es eine Iteration, in den Problemen eine Wiederholung, die selber die Wiederholung der Fragen oder Imperative reproduziert, aus denen sie hervorgehen. Doch ist dies auch hier keine gewöhnliche Wiederholung. Das Gewöhnliche ist die Verlängerung, die Fortsetzung, jene Länge der Zeit, die sich als Dauer erstreckt: nackte Wiederholung (sie kann diskontinuierlich sein, bleibt aber grundsätzlich Wiederholung des Selben). Welches aber verlängert sich auf diese Weise? Eine Singularität, und zwar bis in die Nachbarschaft einer anderen Singularität. Die wechselseitige Wiederaufnahme der Singularitäten, die wechselseitige Verdichtung der Singularitäten, im selben Problem oder in derselben Idee ebenso wie von einem Problem zum anderen, von einer Idee zur anderen, definiert demgegenüber die außerordentliche Macht der Wiederholung, die verkleidete Wiederholung, die tiefer liegt als die nackte Wiederholung. Die Wiederholung ist jener Wurf der Singularitäten, stets in einem Echo, in einer Resonanz, die aus jeder den Doppelgänger der anderen, aus jeder Konstellation die Neuverteilung der anderen macht. Und es ist einerlei, ob man auf der Ebene der Probleme die verkleidete Wiederholung tiefer ansetzt, oder ob man auf der Ebene der Fragen, aus denen sie hervorgehen, die Wiederholung als Resultat des Differenten ansieht. Heidegger zeigt deutlich, wie sich die Wiederholung der Frage selber in der Bindung des Problems an die Wiederholung entfaltet: ,,Unter der Wiederholung eines Grundproblems verstehen wir die Erschließung seiner ursprünglichen, bislang verborgenen Möglichkeiten, durch deren Ausarbeitung es verwandelt und so erst in seinem Problemgehalt bewahrt wird. Ein Problem bewahren heißt aber, es in denjenigen inneren Kräften frei und wach halten, die es als Problem im Grunde seines Wesens ermöglichen. Die Wiederholung des Möglichen bedeutet gerade nicht das Aufgreifen dessen, was ,gang und gäbe’ ist. [. . .] Das Mögliche in dieser Bedeutung verhindert gerade eine echte Wiederholung und damit überhaupt ein Verhältnis zur Geschichte. [. . . Eine richtige Deutung muß demgegenüber entscheiden], wie weit das alle Wiederholung leitende Verstehen des Möglichen reicht und ob es dem Wiederholba-
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ren gewachsen ist“‘? Was ist dieses Mögliche im Kern des Problems, das sich den Möglichkeiten oder Sätzen des Bewußtseins, den Meinungen, die gang und gäbe sind und Hypothesen bilden, entgegenstellt? Nichts anderes als die Potentialität der Idee, ihre bestimmbare Virtualität. Damit ist Heidegger Nietzscheaner. Wovon wird die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ausgesagt, wenn nicht vom Willen zur Macht, von der Welt des Machtwillens, sein en Imperativen und Würfen und von seinen au s dem Wurf hervorgegangen e n Problemen ? Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft meint niemals die Fortsetzung, den Fortbestand, die Verlängerung, sie meint nicht einmal die diskontinuierliche Wiederkehr von etwas, das zumindest fähig wäre, sich in einem partiellen Zyklus fortzusetzen (eine Identität, ein Ego, ein Ich); sie meint vielmehr im Gegenteil die Wiederaufnahme von präindividuellen Singularitäten, die zunächst - damit sie als Wiederholung gefaßt werden kann - die Auflösung aller vorgängigen Identitäten bedingt. Jeder Ursprung ist eine Singularität, jede Singularität ist ein Anfang auf der horizontalen Linie, der Linie der gewöhnlichen Punkte, auf der er sich wie ebenso viele Reproduktionen oder Kopien fortsetzt, die die Momente einer nackten Wiederholung bilden. Aber er ist ein Wiederanfang auf der vertikalen Linie, die die Singularitäten verdichtet und auf der sich die andere Wiederholung entspinnt, der Linie der Zufallsbejahung. Wenn das ,,Seiende“ zunächst Differenz und Anfang ist, so ist das Sein selbst Wiederholung, Wiederanfang des Seienden. Die Wiederholung ist das ,,vorausgesetzt“ der Bedingung, die die Imperative des Seins beglaubigt. Stets ist dies die Ambiguität des Ursprungsbegriffs und der Grund unserer vorangehenden Enttäuschung: Ein Ursprung wird nur in einer Welt festgesetzt, die das Original ebenso wie die Kopie anficht, ein Ursprung setzt einen Grund nur in einer Welt fest, die bereits in das universale Zu-GrundeGehen gestürzt ist. Daraus resultiert eine letzte Konsequenz, die den Status der Negation betrifft. ES gibt ein Nicht-Sein, und dennoch gibt es kein Negatives und keine Negation ES gibt ein Nicht-Sein, das in keiner Weise das Sein des Negativen, sondern das Sein des Problematischen ist. Dieses (Nicht)-Sein, dieses ?-Sein hat das Symbol O/O. Die Null bezeichnet hier nur die Differenz und ihre. Wiederholung. Im sogenannten expletiven NE, mit dessen Deutung die Grammatiker soviel Mühe haben, begegnet man jenem (Nicht)-Sein, das der Form eines problematischen Feldes entspricht, obwohl die Modalitäten des Satzes dazu neigen, es mit einem negativen Nicht-Sein gleichzusetzen: Immer in Bezug auf Fragen, die in Problemen entfaltet werden, erscheint ein expletives NE im Satz als Zeuge einer extrapropositionalen grammatischen Instanz 20 . Das Negative ist eine Illusion: Es ist nur der Schatten der Probleme. Wir 19 M . Heidegger. Kant und das Problem der Metaphysik , Frankfurt/M. 1951, S. 185. 20 In der französischen Verneinung ne . . . pas ist das ne nicht die eigentliche Instanz der Negation; es erscheint zuweilen in Nebensätzen alleine, und zwar in Abhängigkeit von einer Problematisierung, die durch den Hauptsatz vorgegeben ist [A.d.Ü.].
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haben gesehen, wie das Problem notwendig durch die möglichen Sätze verdeckt wurde, die den Lösungsfällen entsprechen; anstatt als Problem gefaßt zu werden, erscheint es dann nurmehr als Hypothese, als Reihe von Hypothesen. Als Satz des Bewußtseins wird jede dieser Hypothesen von einem negativen Doppelgänger flankiert: Wenn das Eine ist, wenn das Eine nicht ist . . . wenn schönes Wetter ist, wenn kein schönes Wetter ist . . . Das Negative ist eine Illusion, weil die Form der Negation zusammen mit den Sätzen auftaucht, die das Problem, von dem sie abhängen, nur insofern ausdrücken, als sie es verfalschen, seine tatsächliche Struktur verbergen. Sobald das Problem in eine Hypothese übersetzt ist, wird jede hypothetische Bejahung von einer Negation verdoppelt, die nun den Status des durch seinen Schatten entstellten Problems repräsentiert. Es gibt keine Idee von Negativem, ebensowenig eine Hypothese in der Natur, wiewohl die Natur mittels Problemen verfährt. Darum hat es keine besondere Bedeutung, ob das Negative als logische Beschränkung oder realer Gegensatz begriffen wird. Betrachten wir die großen Negativbegriffe, des Vielen im Verhältnis zum Einen, der Unordnung im Verhältnis zur Ordnung, des Nichts im Verhältnis zum Sein: Es ist gleichgültig, ob man sie als die Grenze einer Degradation oder als Antithese zu einer These deutet. Allenfalls wird der Prozeß bald in der analytischen Substanz Gottes, bald in der synthetischen Form des Ich begündet. Aber Gott oder Ich sind dasselbe. In beiden Fällen verbleibt man im hypothetischen Element des bloßen Begriffs, d em man einmal die unendlichen Abstufungen einer identischen Repräsentation, einmal den unendlichen Gegensatz zweier konträrer Repräsentationen unterordnet. Die Kritiken am Negativen sind also niemals entscheidend, solange sie sich auf die Rechte eines ersten Begriffs (das Eine, die Ordnung, das Sein) berufen; und sie sind es ebensowenig, solange sie sich mit der Übersetzung des Gegensatzes in Beschränkung begnügen. Die Kritik am Negativen ist effizient nur dann, wenn sie die Indifferenz von Gegensatz und Beschränkung denunziert, wenn sie eben dadurch das hypothetische begriffliche Element anprangert, das notwendig das eine oder das andere und sogar das eine im anderen bewahrt. Kurz, die Kritik am Negativen muß von der Idee aus, vom ideellen, differentiellen und problematischen Element aus geübt werden. Der Begriff von Mannigfaltigkeit ist es, der zugleich das Eine und das Viele, die Beschränkung des Einen durch das Viele und den Gegensatz von Vielem und Einem bloßstellt. Die Varietät ist es, die zugleich die Ordnung und die Unordnung denunziert, das (Nicht)-Sein, das ?-Sein ist es, das zugleich das Sein und das Nicht-Sein denunziert. Überall muß das heimliche Einverständnis von Negativem und Hypothetischem aufgelöst werden zugunsten einer tieferen Bindung des Problematischen an die Differenz. Denn die Idee besteht aus reziproken Verhältnissen zwischen differentiellen Elementen, die in diesen Verhältnissen durchgängig bestimmt sind, sie besteht aus Verhaltnissen, die nie irgendeinen negativen Term oder eine Relation von Negativität enthalten. Wie plump erscheinen die Gegensätze, die Konflikte, die Widersprüche im Begriff, als schwerfälliges Abwägen, als schwerfällige appro-
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ximative Maßstäbe gegenüber den feinen differentiellen Mechanismen, die die Idee charakterisieren - die leichtbewegte. Wir müssen den Ausdruck Positivität für die Bezeichnung dieses Status der mannigfaltigen Idee oder dieser Konsistenz des Problematischen reservieren. Und jedesmal müssen wir über die Art und Weise wachen, wie dieses völlig positive (Nicht)-Sein einem negativen Nicht-S ein z uneigt und daz u tendiert, mit seinem Sch atten zu verschmelzen, dabei aber zugun sten der Illusion d.es Bewußtseins seine größte Verfälschung erfährt. Nehmen wir das heute so oft beanspruchte Beispiel der sprachlichen Idee. Die sprachliche Idee, wie sie in der Phonologie definiert wird, trägt gewiß alle Merkmale einer Struktur: das Vorhandensein differentieller Elemente, Phoneme genannt, die dem kontinuierlichen Lautstrom entnommen sind; die Existenz von Differentialverhältnissen (distinktive Merkmale), die diese Elemente reziprok und durchgängig bestimmen; der Wert von singulären Punkten, der in dieser Bestimmung von den Phonemen angenommen wird (relevante Besonderheiten); der Charakter von Mannigfaltigkeit des damit konstituierten Sprachsystems, sein problematischer Charakter, der objektiv die Gesamtheit der Probleme repräsentiert, die sich die Sprache selbst stellt und in der Ausbildung der Bedeutungen löst; der unbewußte, nicht aktuelle, virtuelle Charakter der Elemente und Verhältnisse und ihre doppelte, transzendente wie immanente Verfassung bezüglich der aktuellen artikulierten Laute; die doppelte Aktualisierung von differentiellen Elementen, die zweifache Verkörperung der Differentialverhältnisse zugleich in den verschiedenen Sprachen wie in den verschiedenen signifikativen Teilen derselben Sprache (Differenzierung), wobei jede Sprache gewisse Verhältnisvarietäten und gewisse singuläre Punkte verkörpert; die Komplementarität von Sinn und Struktur, von Genese und Struktur, und zwar als passive Genese, die in dieser Aktualisierung zutage tritt. - Trotz all dieser Gesichtspunkte nun, die eine gänzlich positive Mannigfaltigkeit definieren, geschieht es fortwährend, daß die Linguisten in negativen Begriffen sprechen und dabei die Differentialverhältnisse zwischen Phonemen mit Oppositionsrelationen gleichsetzen. Man wird vielleicht sagen, daß es sich hier nur um eine Frage terminologischer Konvention handelt und daß ,,Opposition“ für ,,Korrelation“ steht. Denn tatsächlich erscheint der Oppositionsbegriff bei den Phonologen einzig im Plural, relativiert, da jedes Phonem mehrere distinkte Oppositionen zu anderen Phonemen, unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten unterhält. In Trubetzkoys Klassifikation etwa ist die Opposition derart in koexistierende Verhältnisvarietäten zergliedert und aufgeteilt, daß sie nicht mehr als Gegensatz, sondern viel eher als komplexer oder perplexer differentieller Mechanismus existiert. Ein Hegelianer wurde hierin sein Lieblingkind, d. h. die Einheitlichkeit des großen Widerspruchs nicht wiederfinden. Dennoch rühren wir an einen wesentlichen Punkt: Hier wie anderswo, in der Phonologie wie in anderen Gebieten und anderen Ideen, geht es um die Frage, ob man sich mit der Pluralisierung des Gegensatzes oder der Überdeterminierung des Widerspruchs begnügen kann, mit deren Verteilung
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auf verschiedene Figuren, die noch und trotz allem die Form des Negativen bewahren. Uns scheint der Pluralismus ein weit gefährlicheres und folgenschwereres Verfahren zu sein: Man betreibt die Zersplitterung nicht ohne Umsturz. Die Entdeckung einer Pluralität von koexistierenden Oppositionen auf jedem Gebiet läßt sich nicht von einer noch tiefgreifenderen Entdeckung trennen, der Entdeckung der Differenz, die das Negative und den Gegensatz selbst als Schein im Verhältnis zum problematischen Feld einer positiven Mannigfaltigkeit entlarvt21. Man pluralisiert den Gegensatz nicht, ohne dessen Gebiet zu verlassen und in die Höhlen der Differenz einzutreten, die den Widerhall ihrer reinen Positivität ertönen lassen und den Gegensatz als ein bloß von außen gesehenes Schattenloch abweisen. Kommen wir also zur sprachlichen Idee zurück: Warum fügt Saussure gerade dann, als er entdeckt, ,, daß es in der Sprache nur Differenzen gibt“, hinzu, diese Differenzen seien ohne ,,positive Terme“, ,,auf ewig negativ“? Warum hält Trubetzkoy als geheiligtes Prinzip aufrecht, daß die für die Sprache konstitutive ,,Idee von Differenz“ eine ,,Idee von Gegensatz bedingt”? Alles belegt das Gegenteil. Wird damit nicht der Standpunkt des aktuellen Bewußtseins und der aktuellen Repräsentation dort wiedereingeführt, wo die transzendente Erforschung der Idee des sprachlichen Unbewußten, d.h. der höchste Gebrauch der Rede [parole] im Verhältnis zum Nullpunkt der Sprache [langage] geschehen sollte? Wenn wir die Differenzen als negative und unter der Kategorie des Gegensatzes deuten, stehen wir dann nicht bereits auf Seiten desjenigen, der zuhört, der nicht einmal richtig- verstanden hat, der zwischen mehreren möglichen aktuellen Versionen zögert, der sich darin ,,wiederzuerkennen“ versucht, indem er Gegensätze aufstellt, die kleine Seite der Sprache und nicht die Seite desjenigen, der spricht und den Sinn festlegt?
* In der Klassifikation von multiplen Oppositionen, die für jedes Gebiet gilt, ist niemand weiter gegangen als Gabriel Tarde: Er unterscheidet in formaler Hinsicht statische Oppositionen (Symmetrien) oder dynamische Oppositionen; sukzessive dynamische Oppositionen (Rhythmen) oder simultane; lineare simultane Oppositionen (Polaritäten) oder strahlenförmige. In materieller Hinsicht serielle qualitative Oppositionen oder quantitative; quantitative Oppositionen nach Grad oder Stärke. Vgl. G. Tarde: L’opposition universelle, Paris 1897. Tarde scheint uns der einzige zu sein, der die Konsequenz einer derartigen Klassifikation herausstellt: Die Opposition, alles andere als autonom, als ein Maximum an Differenz, ist eine minimale Wiederholung im Verhältnis zur Differenz selbst. Daher die Setzung der Differenz als Realität eines virtuellen multiplen Feldes und die Bestimmung von Mikroprozessen in jedem Gebiet, wobei die Oppositionen nur summarische Resultate oder vereinfachte und vergröberte Prozesse sind. Zur Anwendung dieser Gesichtspunkte auf die Sprache und zum Prinzip einer Mikrolinguistik vgl.: Les ZoZs sociales, Paris 1898,s. 150 ff. - Offenbar nimmt Georges Gurvitch in vielerlei Hinsicht einen Gedankengang auf, der dem Tardes nahesteht, und zwar in: Dialectique et Sociologie, Paris 1962.
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Haben wir nicht bereits die Natur des Sprachspiels verraten, d.h. den Sinn dieser Kombinatorik, dieser Imperative oder dieser sprachlichen Würfe, die wie die Schreie Artauds nur durch denjenigen aufgefaßt werden können, der im transzendenten Gebrauch spricht? Kurz, die Übersetzung der Differenz in den Gegensatz scheint uns keineswegs eine bloße Frage von Terminologie oder Konvention zu betreffen, sondern tatsächlich das Wesen der Sprache und der sprachlichen Idee. Wenn man die Differenz als einen Gegensatz liest, hat man sie bereits der ihr eigentümlichen Dichte beraubt, in der sie ihre Positivität bejaht. Der modernen Phonologie fehlt eine Dimension, die sie daran hindern würde, auf einer einzigen Ebene mit Schatten zu spielen. Dies ist es in gewisser Hinsicht, was der Linguist Gustave Guillaume immer wieder in seinem ganzen Werk ausgesprochen hat, dessen Bedeutung man heute zu erkennen beginnt. Denn der Gegensatz gibt uns in keiner Weise Aufschluß über die Natur dessen, was angeblich entgegengesetzt ist. Die Selektion der Phoneme, die in dieser oder jener Sprache einen relevanten Wert besitzen, läßt sich nicht von den Morphemen als Elementen grammatischer Konstruktionen trennen. Nun sind die Morpheme, die ihrerseits die virtuelle Gesamtheit der Sprache ins Spiel bringen, Gegenstand einer progressiven Bestimmung, die sich in ,,differentiellen Schwellen“ vollzieht und eine rein logische Zeit impliziert, die die Genese oder Aktualisierung zu messen vermag. Die formale Wechselbestimmung der Phoneme verweist auf diese progressive Bestimmung, die die Einwirkung des virtuellen Systems auf den Phonischen Stoff ausdrückt; und nur wenn man die Phoneme abstrakt betrachtet, d.h. wenn man das Virtuelle auf ein bloßes Mögliches reduziert hat, haben ihre Relationen die negative Form eines leeren Gegensatzes und besetzen nicht mehr die differentiellen Positionen um eine Schwelle. Die Ersetzung des Prinzips distinktiver Opposition durch ein Prinzip differentieller Position ist der grundlegende Beitrag von Guillaumes Werk22. Diese Ersetzung geschieht in dem Maße, wie die Morphologie nicht bloß die Phonologie fortsetzt, sondern spezifisch problematische Werte einführt, die die signifikative Selektion der Phoneme bestimmen. Von diesem linguistischen Standpunkt aus wird für uns die notwendige Auflösung des Nicht-Seins bestätigt: einerseits in einem NE, das man ,,diskordantiell“, dispars oder differentiell nennen konnte, nicht negativ, in einem problematischen NE, das (Nicht)-Sein oder ?-Sein
22 Vgl. insbesondere Gustave Guillaume: Confrences de I’hstitut de Linguistique de Paris, 1939. - Eine Interpretation von Guillaumes Werk befindet sich im schönen Buch von Edmond Ortigues: Le discours et Ze Symbole, Paris 1962. Zum expletiven NE und zur Verneinung vgl. ebenso Ortigues, S. 102-109; und in der Zitation durch Ortigues: Jacques Damourette/Edouard Pichen: Essai de grammaire de Za Zangue frangaise, Paris 1911-1952, Bd. 6, Kap. 4 und 5. Die Unterscheidung von ,,diskordantiell“ und ,,verwerfend“ verdankt man Damourette und Pichen.
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geschrieben werden muß; andererseits in einem sogenannten ,,verwerfenden” PAS23, das Nicht-Sein geschrieben werden muß, im generierten Satz aber nur das Resultat des vorangehenden Prozesses markiert. In Wahrheit ist es nicht das expletive NE, das einen besonderen, schwer erklärbaren Fall von Verneinung darstellt; das expletive NE ist im Gegenteil der ursprüngliche Sinn, woraus nun die Negation PAS resultiert, aber als notwendige Konsequenz wie als unvermeidliche Illusion zugleich. ,,Ne . . .pas” unterteilt sich in das problematische NE und das negative PAS als den beiden Instanzen, die einander wesentlich unterscheiden und deren letztere die erste nur insofern anzieht, als sie sie entstellt. Die Genese des Negativen vollzieht sich folgendermaßen: Die Bejahungen des Seins sind genetische Elemente in Form von imperativen Fragen; sie entfalten sich in der Positivität von Problemen; die Sätze des Bewußtseins entsprechen generierten Bejahungen, die die Lösungsfälle bezeichnen. Jeder Satz aber besitzt eben einen negativen Doppelgänger, der den Schatten des Problems im Bereich der Lösungen ausdrückt, d.h. die Art und Weise, wie das Problem durch das deformierte Bild hindurch fortbesteht, das die Repräsentation von ihm wiedergibt. Die Formel ,,es ist nicht der Fall“ meint, daß eine Hypothese ins Negative übergeht, insofern sie nicht die aktualiter von einem Problem erfüllten Bedingungen repräsentiert, denen hingegen ein anderer Satz entspricht. Das Negative ist also tatsächlich der Schlagschatten des Problematischen auf die Gesamtheit der Sätze, die dieses als Fälle subsumiert. In der Regel bleibt die Kritik am Negativen ineffizient, solange sie die Form einer bereits feststehenden Bejahung im Satz annimmt. Radikal und wohlbegründet ist die Kritik am Negativen nur, wenn sie eine Genese der Bejahung und gleichzeitig die Genese des Scheins von Verneinung vollzieht. Denn es handelt sich um die Frage, wie die Bejahung selbst mannigfaltig oder wie die Differenz als solche Gegenstand reiner Bejahung sein kann. Dies ist nur in dem Maße möglich, wie die Bejahung als Modus des Satzes von extrapropositionalen genetischen Elementen aus erzeugt wird (den imperativen Fragen oder ursprünglichen ontologischen Bejahungen), wie sie dann über die Probleme hinweg ,,durchgeführt“ und von den Problemen bestimmt wird (problematische Ideen oder Mannigfaltigkeiten, ideelle Positivitäten). Gerade unter diesen Voraussetzungen muß freilich gesagt werden, daß sich das Negative im Satz an der Bejahung festklammert, aber nur als der Schatten des Problems, als dessen Antwort der Satz gilt, d.h. als der Schatten der genetischen Instanz, durch die die Bejahung selbst erzeugt wird. Die Ideen enthalten alle Varietäten von Differentialverhältnissen und alle Verteilungen singulärer Punkte, die in verschiedenen Ordnungen koexistieren und einander ,,perplizieren” . Wenn sich der virtuelle Inhalt der Idee aktualisiert, I3 Vgl. Fußnote 20, S. 256 [A.d.Ü.].
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verkörpern sich die Verhältnisvarietäten in unterschiedlichen Arten, und in Korrelation dazu verkörpern sich die singulären Punkte, die den Werten einer Varietät entsprechen, in unterschiedlichen Teilen, die für diese oder jene Art kennzeichnend sind. Die Idee der Farbe etwa entspricht dem weißen Licht, das die genetischen Elemente und Verhältnisse aller Farben in sich perpliziert, sich aber in den verschiedenen Farben und ihren jeweiligen Räumen aktualisiert; oder auch die Idee des Lauts, die dem weißen Rauschen entspricht. Ebenso gibt es eine weiße Gesellschaft, eine weiße Sprache (welche in ihrer Virtualität alle Phoneme und Verhältnisse enthält, die sich in den verschiedenen Sprachen und in den ausgezeichneten Teilen ein und derselben Sprache aktualisieren sollen). Mit der Aktualisierung nimmt also ein neuer, artbildender und partitiver Unterscheidungstyp den Platz der fließenden ideellen Unterscheidungen ein. Differentiation nennen wir die Bestimmung des virtuellen Inhalts der Idee; Differenzierung nennen wir die Aktualisierung dieser Virtualität in Arten und in unterschiedenen Teilen. Eine Differenzierung von Arten und Teilen, wie sie den Lösungsfällen entsprechen, vollzieht sich stets im Verhältnis zu einem Problem und Problembedingungen, die der Differentiation unterliegen. Eine Differenzierung im Innern des Milieus wird stets durch ein problematisches Feld bedingt, das sich in jenem Milieu verkörpert. Wir wollen folglich nichts anderes sagen, als daß das Negative weder im Prozeß der Differentiation noch im Prozeß der Differenzierung erscheint. Die Idee kennt keine Verneinung. Der erste Prozeß verschmilzt mit der Beschreibung einer reinen Positivität im Modus des Problems, in dem differentielle Verhältnisse und Punkte, Plätze und Funktionen, Positionen und Schwellen festgesetzt sind, die jede negative Bestimmung ausschließen und ihre Quelle in genetischen und produktiven Elementen von Bejahung finden. Der andere Prozeß verschmilzt mit der Produktion von endlichen generierten Bejahungen, die sich auf die aktuellen Terme beziehen, welche diese Plätze und Positionen besetzen, auf die realen Relationen, welche diese Verhältnisse und Funktionen verkörpern. Freilich treten die Formen des Negativen in den aktuellen Termen und realen Relationen in Erscheinung, allerdings nur, sofern sie von der durch sie aktualisierten Virtualität und von der Bewegung ihrer Aktualisierung abgeschnitten sind. Dann, und nur dann, erscheinen die endlichen Bejahungen an sich selbst beschränkt, einander entgegengesetzt, für sich selbst an Mangel oder Privation leidend. Kurz, das Negative ist stets abgeleitet und repräsentiert, niemals ursprünglich oder präsent; der Prozeß der Differenz und der Differenzierung geht immer dem des Negativen und des Gegensatzes voran. Die Kommentatoren von Marx, die auf dem grundlegenden Unterschied zwischen Marx und Hegel insistieren, rufen mit gutem Recht in Erinnerung, daß die Kategorie der Differenzierung im Innern einer sozialen Mannigfaltigkeit (Arbeitsteilung) im Kapital an die Stelle der Hegelschen Begriffe von Gegensatz, Widerspruch und Entfremdung treten - Begriffe, die bloß eine Bewegung des Scheins ausmachen und nur für die abstrakten Wirkungen gelten, losgelöst vom Prinzip und der wahren Bewegung ihrer Her-
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\Torbringung24. Ganz offensichtlich muß die Philosophie der Differenz hier befürchten, zum Diskurs der schönen Seele zu werden: Differenzen, nichts als Differenzen, in einer der Idee nach friedlichen Koexistenz von sozialen Plätzen und Funktionen . . . Aber der Name Marx genügt, um sie vor dieser Gefahr zu bewahren. Die Probleme einer Gesellschaft, wie sie in der Infrastruktur in Form der sogenannten ,, abstrakten“ Arbeit bestimmt sind, werden durch den Prozeß der Aktualisierung oder Differenzierung (Teilung der konkreten Arbeit) gelöst. Während jedoch der Schatten des Problems über die Gesamtheit der differenzierten Fälle, die die Lösung ausmachen, gebreitet bleibt, geben gleichzeitig diese Fälle ein verfälschtes Bild vom Problem selbst wieder. Man kann nicht einmal sagen, die Verfälschung komme nachträglich hinzu; sie begleitet, verdoppelt die Aktualisierung. Stets reflektiert sich das Problem, während es gelöst wird, in falschen Problemen, so daß die Lösung überhaupt durch eine untrennbare Falschheit entstellt wird. So ist etwa der Fetischismus nach Marx in der Tat eine ,,Verrücktheit“, eine Illusion des sozialen Bewußtseins, vorausgesetzt man versteht darunter nicht eine subjektive Illusion, die dem Bewußtsein entspringen würde, sondern eine objektive Illusion, eine transzendentale Illusion, die den Bedingungen des sozialen Bewußtseins im Verlauf der Aktualisierung entsprungen ist. Es gibt Menschen, deren ganze differenzierte soziale Existenz an den falschen Problemen hängt, von denen sie leben, und andere, deren soziale Existenz insgesamt in diesen falschen Problemen festgehalten wird, in Problemen, an denen sie leiden und deren scheinhafte Positionen sie ausfüllen. Am objektiven Körper des falschen Problems erscheinen alle Gestalten des Unsinns: d. h. die Fälschungen der Bejahung, die Mißbildungen der Elemente und Verhältnisse, die Verwechslungen des Ausgezeichneten mit dem Gewöhnlichen. Die Geschichte ist darum ebensosehr Schauplatz des Unsinns und der Dummheit wie Prozeß des Sinns. Die Probleme entwischen naturgemäß dem Bewußtsein, das Bewußtsein selbst hat die Eigenschaft, falsches Bewußtsein zu sein. Der Fetisch ist der natürliche Gegenstand des sozialen Bewußtseins als Gemeinsinn oder Werterkennung. Die sozialen Probleme können bloß in einer ,,Richtigstellung“ erfaßt werden, wenn sich das P-l Louis Al&usser/Jacques Ranch-e/Pierre Macherey/Etienne Balibar: Lire le C+dZ, Paris 1965 (zur Natur und zur Rolle der Begriffe von Gegensatz, Widerspruch und Entfremdung vgl. Ranciere, Bd. 1, S. 141 ff., Macherey, Bd. 1, S. 233 ff., Balibar, Bd. als Kategorie 2, S. 298ff.) - H insichtlich des Schemas ,,Problem/Differenzierung“ der Geschichte wird man sich auf Arnold Toynbee beziehen, der ja kaum des Marxismus verdächtig ist: ,,Eine Gruppe oder Gesellschaft, so können wir wohl sagen, sieht sich im Verlauf ihres Lebens einer Reihe von Fragen gegenüber, die jedes Mitglied nach bestem Können beantworten muß. Der Zusammenprall mit jeder Frage ist eine Herausforderung und erneute Prüfung; und es ist die Folge dieser Prüfungen, wodurch sich die Glieder der Gesellschaft nach und nach voneinander absetzen“ (Studie zur Weltgeschichte, Zürich 1949, S. 16).
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Vermögen der Soziabilität zu seinem transzendenten Gebrauch erhebt und die Einheit-des fetischistischen Gemeinsinns aufbricht. Das transzendente Objekt des Soziabilitätsvermögens ist die Revolution. Die Revolution ist in diesem Sinne die soziale Macht der Differenz, das Paradox einer Gesellschaft, der Zorn, der der sozialen Idee eignet. Die Revolution durchläuft in keiner Weise das Negative. Wir konnten die erste Bestimmung des Negativen, als Schatten des Problems als solchen, nicht fixieren, ohne bereits auf eine zweite Bestimmung gestoßen zu werden: Das Negative ist der objektive Körper des falschen Problems, der Fetisch selber. Als Schatten des Problems ist das Negative auch das falsche Problem schlechthin. Die Praxis des Kampfes durchläuft nicht das Negative, sondern die Differenz und ihre Macht zur Bejahung; und der Krieg der Gerechten ist die Eroberung der höchsten Gewalt, nämlich über die Probleme zu entscheiden, indem sie ihrer Wahrheit zurückgegeben werden, indem diese Wahrheit jenseits der Repräsentationen des Bewußtseins und der Formen des Negativen ermittelt wird, indem man schließlich zu den Imperativ e n vord ringt, von denen sie abhängen.
Wir haben nicht davon abgelassen, uns auf das Virtuelle zu berufen. Heißt das nicht, daß wir wieder der Verschwommenheit einer Begriffsvorstellung verfallen, die eher dem Unbestimmten als den Bestimmungen der Differenz nahekommt? Gerade das jedoch wollten wir vermeiden, indem wir eben vom Virtuellen sprachen. Wir haben das Virtuelle dem Realen gegenübergestellt; diese Terminologie, die noch nicht exakt sein konnte, muß nun korrigiert werden. Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. Vom Virtuellen muß gen au da s gesagt werd en, was Proust von den Resonanzzuständen sagte: Sie seien ,,real ohne aktuell ZU sein, ideal ohne abstrakt zu sein“; und symbolisch ohne fiktiv ZU sein. Das Virtuelle muß selber als ein strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert werden - als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wäre. In der Darlegung der Differentialrechnung setzt man das Differential oft mit einer ,,Teildifferenz“ gleich. Oder man fragt gemäß der Methode Lagranges danach, welcher der Teile am mathematischen Objekt als abgeleitet angesehen werden muß und die fraglichen Verhältnisse abbildet. Die Realität des Virtuellen besteht in den differentiellen Elementen und Verhaltnissen und in den singulären Punkten, die ihnen entsprechen. Die Struktur ist die Realität des Virtuellen. Wir müssen gleichermaßen vermeiden, den Elementen und Verhältnissen, die eine Struktur bilden, eine Aktualität zuzusprechen, die sie nicht besitzen, und die Realität abzusprechen, über die sie verfugen. Wir haben ,gesehen, daß ein doppelter Prozeß von reziproker und durchgängiger Bestimmung diese Realität definierte: alles andere als unbestimmt, ist das
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Virtuelle vollständig bestimmt. Wenn sich das Kunstwerk auf eine Virtualität beruft, in die es eingelassen ist, so macht es keinerlei verworrene Bestimmung geltend, sondern die vollständig bestimmte Struktur, die durch seine genetischen differentellen Elemente, durch seine ,,virtualierten”, ,,embryonierten“ Elemente gebildet wird. Die Elemente, die Verhältnisvarietäten, die singulären Punkte koexistieren im Werk oder im Objekt, im virtuellen Teil des Werks oder des Objekts, ohne daß man einen privilegierten Standpunkt gegenüber anderen, ein Zentrum, das die anderen Zentren vereinigen würde, festlegen könnte. Wie aber ist es möglich, von durchgängiger Bestimmung und zugleich bloß von einem Teil des Objekts zu sprechen? Die Bestimmung soll eine vollständige Bestimmung des Objekts sein und dennoch nur einen Teil davon prägen. Das rührt daher, daß man - den Hinweisen Descartes’ in den R+onses 2 Arnutild25 zufolge - sorgfältig zwischen dem Objekt als vollständigem und dem Objekt als ganzem unterscheiden muß. Das vollständige ist nur der ideelle Teil des Objekts, der mit anderen Objektteilen an der Idee partizipiert (anderen Verhältnissen, anderen singulären Punkten), der aber nie eine Integrität als solche bildet. Der vollständigen Bestimmung fehlt die Gesamtheit der Bestimmungen, die der aktuellen Existenz zukommen. Ein Objekt kann ens oder besser (non)-ens omni modo determinatum sein, ohne daß es gänzlich bestimmt wäre oder aktuell existieren würde. Es gibt also einen anderen Teil des Objekts, der durch die Aktualisierung bestimmt wird. Der Mathematiker fragt nach diesem anderen Teil, der durch die sogenannte Stammfunktion repräsentiert wird; die Integration ist in diesem Sinne keineswegs die Umkehrung der Differentiation, sondern bildet eher einen ursprünglichen Differenzierungsprozeß. Während die Differentiation den virtuellen Inhalt der Idee als Problem bestimmt, drückt die Differenzierung die Aktualisierung dieses Virtuellen und die Konstitution der Lösungen (durch lokale Integrationen) aus. Die Differenzierung ist gleichsam der zweite Teil der Differenz, und man muß den komplexen Begriff Differentiation/zierung [diffhenthiation] prägen, um die Integrität oder Integralität des Objekts ZU bezeichnen. tidtion und zierurig [t und c] sind hier das Unterscheidungsmerkmal oder das phonologische Verhältnis der Differenz selbst. Jedes Objekt ist doppelt, ohne daß sich seine beiden Hälften ähneln, von denen die eine das virtuelle Bild, die andere das aktuelle Bild ist. Unpaarige ungleiche Hälften. Die Differentiation selbst besitzt ihrerseits bereits zwei Aspekte, die den Verhältnisvarietäten und den von den Werten jeder Varietät abhängigen singulären Punkten entsprechen. Die Differenzierung aber, was sie betrifft, enthält zwei Aspekte, von denen der eine sich auf die verschiedenen Qualitäten oder Arten bezieht, welche die Varietäten aktualisieren, der andere auf die Zahl oder die distinkten Teile, die die singulären Punkte aktualisieren. So verkör-
25
Dt.: Erwiderungen an Arnauld, in: Meditationen, hg. v. A. Buchenau, 1972 (1915), S. 199ff.
Hamburg
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pern sich etwa die Gene als System von Differentialverhältnissen zugleich in einer Art und in den organischen Teilen, aus denen sie zusammengesetzt ist, Es gibt keine Qualität allgemein, die nicht auf einen Raum verwiese, der durch die Singularitäten definiert ist, welche wiederum den in jener Qualität verkörperten D iff erentialverhältnissen entsprechen . Die Arbeiten von Lavelle u n d Nogue etwa haben deutlich die Existenz von Räumen nachgewiesen, die je n e n Qualitäten zukommen, und sie haben die Art und Weise aufgezeigt, wie sich diese Räume in der Umgebung von Singularitäten aufbauen: so daf3 eine Qualitätsdifferenz stets von einer räumlichen Differenz (Diaphora) begrenzt wird. Mehr noch, von der Reflexion der Maler erfahren wir alles über den Raum jeder Farbe und über die Verbindung dieser Räume in einem Werk. Arten sind nur insofern differenziert, als jede davon Teile besitzt, die selbst differenziert sind. Die Differenzierung ist stets gleichzeitig Differenzierung von Arten und Teilen, von Qualitäten und Ausdehnungen: Qualifizierung oder Spezifikation, aber auch Partition oder Organisation. Wie also verknüpfen sich diese beiden Aspekte der Differenzierung mit den beiden vorangehenden Aspekten der Differentiation? Wie verschachteln sich die beiden unähnlichen Hälften des Objekts? Die Qualitäten und Arten verkörpern die Verhältnisvarietäten in einem aktuellen Modus; die organischen Teile verkörpern die entsprechenden Singularitäten. Die Präzision der Schachtelung aber kommt in zwei komplementären Gesichtspunkten besser zur Erscheinung. Einerseits vollzieht die durchgängige Bestimmung die Differentiation der Singularitäten; sie bezieht sich aber nur auf ihre Existenz und ihre Verteilung. Die Natur der singulären Punkte wird nur durch die Form der Integralkurven in ihrer Umgebung spezifiziert, d. h. in Abh ängikeit von aktuellen oder differenzierten Arten oder Räumen. An dererseits finden die wesentlichen Aspekte des zureichenden Grunds, Bestimmbarkeit, Wechselbestimmung, durchgängigeBestimmung, ihre systematische Einheit in der progressiven Bestimmung. Die Reziprozität der Bestimmung bedeutet nämlich nicht eine Regression oder Stagnation, sondern eine wirkliche Progression, in der die reziproken Terme allmählich erreicht und die Verhaltnisse selbst untereinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Die Vollständigkeit der Bestimmung impliziert nichtsdestoweniger die Progressivität der Adjunktionskörper. Wenn wir von A nach B gehen und dann von B nach A zurückkehren, stoßen wir nicht auf einen Ausgangspunkt wie in der nackten Wiederholung; zwischen A und B, B und A ist die Wiederholung eher die Weglänge oder die progressive Beschreibung der Gesamtheit eines problematischen Felds. Dies verhalt sich wie im Gedicht Vitracs, in dem die verschiedenen Schritte2$ die jeweils ein Gedicht bilden (sein Schreiben, sein Träumen, sein Vergessen, sein Gegenteil suchen, seine Humorisierung, sein Wiederfinden in der An&yse) progressiv die Gesamtheit des Gedichts als Problem oder Mannigfaltigkeit bestimmen. In diesem Sinne 26 Frz dhnarcbes Verweis auf Roger Vitracs Gedicht [A.d. ü.]. l
Dbnarcbes
d’un pobne (1931)
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enthält jede Struktur, kraft dieser Progressivität, eine rein logische, ideelle oder dialektische Zeit. Aber diese virtuelle Zeit bestimmt selbst eine Differenzierungszeit oder eher Rhythmen, verschiedene Aktualisierungzeiten, die den Verhältnissen und den Singularitäten der Struktur entsprechen und ihrerseits den Übergang vom Virtuellen zum Aktuellen bemessen. Vier Terme sind in dieser Hinsicht synonym: aktualisieren, differenzieren, integrieren, lösen. Die Natur des Virtuellen ist so beschaffen, daß Aktualisierung für es Differenzierung bedeutet. Jede Differenzierung ist eine lokale Integration, eine lokale Lösung, die sich mit anderen in der Gesamtheit der Lösung oder in der globalen Integration zusammenfügt. Auf diese Weise zeigt sich im Bereich des Lebendigen der Aktualisierungsprozeß zugleich als lokale Differenzierung von Teilen, globale Ausbildung eines inneren Milieus, Lösung eines Problems, das im Konstitutionsfeld eines Organismus gestellt wird27. Der Organismus wäre nichts, wenn er nicht die Lösung eines Problems wäre, ebenso jeder seiner differenzierten Teile, wie etwa das Auge, das ein Licht-,,Problem” löst; aber nichts an ihm, kein Organ wäre differenziert ohne das innere Milieu, das mit einem allgemeinen Wirkungsvermögen oder einer integrierenden Steuerungsmach t ausgestattet ist. (Auch hier sind die negativen Formen des Gegensatzes und d es Widerspruchs im Leben, d e s Widerstands und des Bedü rfnisses sekundär und abgeleitet im Verhältnis zu den Imperativen eines Organismus, der aufgebaut, und eines Problems, das gelöst werden soll.) Die einzige Gefahr bei all dem liegt darin, das Virtuelle mit dem Möglichen zu verwechseln. Denn das Mögliche steht dem Realen entgegen; der Prozeß des Möglichen ist also eine ,,Realisierung“. Demgegenüber steht das Virtuelle dem Realen nicht entgegen; es besitzt volle Realität durch sich selbst. Sein Prozeß ist die Aktualisierung. Man hätte Unrecht, hierin nur einen Streit um Worte zu sehen: Es geht umdie Existenz selbst. Immer wenn wir das Problem in den Begriffen des Möglichen und des Realen stellen, werden wir genötigt, die Existenz als pures Auftauchen, reinen Akt und Sprung zu begreifen, der stets hinter unserem Rücken geschieht, dem Gesetz von allem oder nichts unterworfen. Welcher Unterschied kann dabei zwischen dem Existierenden und Nicht-Existierenden bestehen, wenn das Nicht-Existierende bereits möglich, im Begriff aufgesammelt ist, und zwar mit allen Merkmalen, die ihm der ” Zur Korrelation von innerem Milieu und Differenzierung vgl. Frarqois Meyer: Probk’matique de /‘hohion, Paris 1954. - H. F. Osborn gehört zu denen, die am nachhaltigsten auf das Leben als dem Aufwerfen und Lösen von ,,Problemen”, von mechanischen, dynamischen oder spezifisch biologischen Problemen insistiert haben; vgl. : Henry F. Osborn: The o@in and evolution of life. On the theory of action, reaction and interaction of energy, London 1918. Die verschiedenen Augenformen können etwa nur in Abhängigkeit von einem allgemeinen physikalischbiologischen Problem und den Variationen von dessen Bedingungen in verschiedenen Tierarten untersucht werden. Die Regel für die Lösungen lautet, daß jede davon zumindest einen Vorteil und einen Nachteil besitzt.
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Begriff als Möglichkeit zuschreibt? Die Existenz ist dieselbe wie der Begriff, aber außerhalb des Begriffs. Man verlegt also die Existenz in Raum und Zeit, allerdings als indifferente Milieus, ohne daß sich die Hervorbringung der Existenz selbst in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit vollziehe. Die Differenz kann nurmehr das durch den Begriff bestimmte Negative sein: sei es die Beschränkung des Möglichen durch das Mögliche,. damit es sich realisieren kann, sei es der Gegensatz des Möglichen zur Realität des Realen. Demgegenüber ist das Virtuelle das Kennzeichen der Idee; ausgehend gerade von seiner Realität wird die Existenz hervorgebracht, und zwar gemäß einer Zeit und einem Raum, die der Idee immanent sind. In zweiter Linie unterscheiden sich das Virtuelle und das Mögliche auch darin, daß das eine auf die Identitätsform im Begriff verweist, während das andere eine reine Mannigfaltigkeit in der Idee bezeichnet, die das Identische als Vorausbedingung radikal ausschließt. Schließlich wird das Mögliche, sofern es sich der ,,Realisierung” verschreibt, selbst als Bild des Realen erfaßt, und das Reale als Ähnlichkeit mit dem Möglichen. Darum wird so wenig begriffen, was die Existenz dem Begriff hinzufügt, insofern sie das Ähnliche um das Ähnliche verdopplt. Dies ist der Makel des Möglichen, ein Makel, der es als nachträglich hervorgebracht, rückwirkend hergestellt denunziert, selbst nach dem Bild dessen gemacht, was ihm ähnelt. Dagegen vollzieht sich die Aktualisierung des Virtuellen stets über Differenz, Divergenz oder Differenzierung. Die Aktualisierung bricht mit der Ähnlichkeit als Prozeß ebenso wie mit der Identität als Prinzip. Niemals ähneln die aktuellen Terme der Virtualität, die sie aktualisieren: Die Qualitäten und Arten ähneln nicht den Differentialverhältnissen, die sie verkörpern; die Teile ähneln nicht den Singularitäten, die sie verkörpern. Die Aktualisierung, die Differenzierung ist in diesem Sinne stets eine wirkliche Schöpfung. Sie entsteht nicht durch Beschränkung einer präexistenten Möglichkeit. Es ist widersprüchlich, wenn man, wie manche Biologen, von ,,Potential“ spricht und die Differenzierung durch die bloße Beschränkung eines globalen Vermögens definiert, als würde das Potential mit einer logischen Möglichkeit verschmelzen. Sich aktualisieren bedeutet für ein Potential oder ein Virtuelles stets die Schaffung divergenter Linien, die ohne Ähnlichkeit der virtuellen Mannigfaltigkeit entsprechen. Das Virtuelle besitzt die Realität einer zu erfüllenden Aufgabe, nämlich eines zu lösenden Problems; das Problem ist es, das die Lösungen ausrichtet, bedingt, erzeugt, diese aber ähneln nicht den Bedingungen des Problems. Daher hatte Bergson recht, wenn er sagte, daß vom Standpunkt der Differenzierung aus selbst die Ähnlichkeiten, die auf divergenten Evolutionsl inien auftauchen (etwa das A u g e als ,,analoges” Organ), zunächst auf die Heterogenität im Mechanismus ihrer Hervorbringung bezogen werden müssen. Und ein und dieselbe Bewegung ist es, in der die Unterordnung der Differenz unter die Identität und die Unterordnung der Differenz unter die Gleichartigkeit umgestoßen werden muß. Was aber ist diese Korrespondenz ohne Ähnlichkeit, diese schöpferische Differenzierung? Das Bergsonsche Schema, das L’&&tion &atrice und Matiere
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et mkmoire vereint, beginnt mit dem Entwurf eines gigantischen Gedächtnisses, einer Mannigfaltigkeit, die durch die virtuelle Koexistenz aller ,,Kegel“Schnitte gebildet wird, wobei jeder einzelne Schnitt der Wiederholung aller anderen entspricht und sich von ihnen nur durch die Ordnung der Verhältnisse und die Verteilung der singulären Punkte unterscheidet. Die Aktualisierung dieses mnemonischen Virtuellen erscheint sodann als die Erschaffung divergenter Linien, von denen jede einzelne einem virtuellen Schnitt entspricht und jeweils die Art einer Problemlösung repräsentiert, indem sie allerdings die Ordnung der Verhältnisse und die Verteilung von Singularitäten, wie sie dem betrachteten Schnitt zukommen, in differenzierten Arten und Teilen verkörpert2’. Die Differenz und die Wiederholung im Virtuellen begründen die Bewegung der Aktualisierung, der Differenzierung als Schöpfung und ersetzen somit die Identität und die Ähnlichkeit des Möglichen, die nur eine PseudoBewegung auslösen, die falsche B ewegung der Realisierung als abstrakter Beschränkung. Fatal jede Unentschiedenheit zwischen dem Virtuellen und dem Möglichen, zwischen der Ordnung der Idee und der Ordnung des Begriffs, da sie die Realität des Virtuellen aufhebt. In der Philosophie Leibniz’ findet man die Spuren eines derartigen Schwankens. Denn immer wenn Leibniz von Ideen spricht, stellt er sie als virtuelle Mannigfaltigkeiten dar, die aus Differentialverhältnissen und singulären Punkten bestehen und vom Denken in einem Zustand aufgefaßt werden, der dem Schlaf, dem Taumel, der Bewußtlosigkeit, dem Tod, der Amnesie, dem Gemurmel oder der Trunkenheit . . . verwandt . ist29. Jedoch wird das, worin sich die Ideen aktualisieren, eher als ein Mögliches, als ein realisiertes Mögliches begriffen. Diese Unentschiedenheit zwischen Möglichem und Virtuellem erklärt, daß Leibniz in der Erforschung des zureichenden Grundes unübertroffen ist; und daß er dennoch die Illusion einer Unterordnung dieses zureichenden Grundes unter das Identische am hartnäckigsten aufrechterhalten hat. Niemand hat sich so sehr einer Bewegung der Vize-Diktion in der Idee angenähert, niemand aber hat stärker am vorgeb-
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Bergson ist der Autor, der die Kritik des Möglichen am weitesten vorantreibt, zugleich aber am beharrlichsten den Begriff des Virtuellen geltend macht. Schon seit Les donnkes imm&diates de Za conscience ist die Dauer als nicht aktuelle Mannigfaltigkeit definiert ((Euvres, a.a.O., S. 81; dt.: Zeit und Freiheit, a.a.O., S. 101-102). In Matzhe et memoire ist der Kegel der reinen Erinnerungen - mit seinen Schnitten und seinen ,,leuchtenden Punkten“ auf jedem Schnitt (S. HO; dt.: Materie und Gedd’chtnis, a.a.O., S. 181) - vollständig real, aber ausschließlich virtuell. In L%oZution creatrice wird die Differenzierung, die Erschaffung divergenter Linien als eine Aktualisierung begriffen, wobei jede Aktualisierungslinie einem Kegelschnitt zu entsprechen scheint (S. 637; dt.: Die schöpferische Entwicklung, Jena 1912, S. 172173). 29 Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain [Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand], 2. Buch, 1. Kapitel.
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lichen Recht der Repräsentation festgehalten, wenn er sie auch ins Unendliche wendete. Niemand vermochte besser als er das Denken ins Element der Differenz einzusenken, es mit einem differentiellen Unbewußten zu versehen, es mit schwachen Schimmern und Singularitäten zu umgeben; all das aber nur, um die Homogenität eines natürlichen Lichts a la Descartes zu retten und abzugehen. Descartes nämlich ist es, bei dem das höchste Prinzip der Repräsentation als gesunder Menschenverstand oder Gemeinsinn erscheint. Wir können dieses Prinzip das Prinzip des ,,Klaren und Deutlichen” [clair et distinct] oder der Verhältnismäßigkeit von Klarem und Deutlichem nennen: Eine Idee ist umso deutlicher, je klarer sie ist; das Klar-Deutliche bildet jenes Licht, das das Denken im gemeinsamen Gebrauch aller Vermögen ermöglicht. Nun kann man aber angesichts dieses Prinzips die Bedeutung einer Bemerkung kaum überschätzen, die Leibniz in seiner Ideenlogik beständig wiederholt: Eine klare Idee sei durch sich selbst verworren, sie sei als klare verworren. Zweifellos läßt sich diese Bemerkung mit der kartesianischen Logik vereinbaren und mag nichts weiter bedeuten, als daß eine klare Idee verworren sei, weil sie noch nicht in allen ihren Teilen klar genug ist. Und tendiert nicht Leibniz selbst schließlich dazu, sie auf diese Weise zu deuten? Ist sie aber nicht zugleich für eine andere, radikalere Deutung empfänglich: daß nämlich eine wesensmäßige, nicht mehr bloß graduelle Differenz zwischen dem Klaren und dem Deutlichen bestünde, so daß das Klare durch sich selbst verworren und umgekehrt das Deutliche durch sich selbst dunkel wäre? Was ist dieses Deutlich-Dunkle, das dem Klar-Verworrenen entspricht? Kehren wir zu Leibniz’ berühmten Texten über das Meeresrauschen zurück; auch hier zwei mögliche Deutungen. Entweder sagen wir, die Apperzeption des Gesamtgeräusches sei klar aber verworren (nicht deutlich), weil die kleinen Teilwahrnehmungen selbst nicht klar, sondern dunkel seien. Oder wir sagen, die kleinen Wahrnehmungen seien selbst deutlich und dunkel (nicht klar): deutlich, weil Differentialverhältnisse und Singularitäten erfassend, dunkel, weil noch nicht ,,unterschieden“, noch nicht differenziert - und diese sich verdichtenden Singularitäten bestimmen eine Bewußtseinsschwelle im Verhältnis ZU unserem Körper, gleichsam eine Schwelle von Differenzierung, von der aus sich die kleinen Wahrnehmungen aktualisieren, sich aber in einer Apperzeption aktualisieren, die ihrerseits nur klar und verworren ist, klar, weil unterschieden und differenziert, und verworren, weil klar. Das Problem stellt sich dann nicht mehr in Begriffen von Teilen/Ganzes (von einer logischen Möglichkeit her gesehen), sondern in Begriffen von virtuell/aktuell (Aktualisierung von Differentialverhältnissen, Verkörperung von singulären Punkten). Hier also wird der Wert der Repräsentation im Gemeinsinn in zwei unreduzierbare Werte im Para-Sinn aufgebrochen: ein Deutliches, das nur dunkel sein kann und umso dunkler erscheint, je deutlicher es ist, und ein Klar-Verworrenes, das nur verworren sein kann. Es eignet der Idee, daß sie deutlich und dunkel ist. Und das heißt exakt, daß die Idee real ist, ohne aktuell zu sein, der Differentiation und nicht der Differenzierung unterliegt, vollständig ist, ohne
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ganz zu sein. Das Deutlich-Dunkle ist die spezifisch philosophische Trunkenheit, der spezifisch philosophische Taumel oder die dionysische Idee. An der Meeresküste oder nahe der Wassermühle hat Leibniz Dionysos nur um weniges verfehlt. Und vielleicht bedarf es Apolls, des Denkers des Klar-Verworrenen, um die Ideen des Dionysos zu denken. Niemals aber vereinigen sich die beiden, um ein natürliches Licht wiederherzustellen. Sie bilden eher zwei in der philosophischen Sprachform verschlüsselte Sprachen, und zwar für den divergenten Gebrauch der Vermögen: das Disparate des Stils.
Wie vollzieht sich die Aktualisierung in den Dingen selbst? Warum ist die Differenzierung wechselseitig Qualifikation und Komposition, Spezifikation und Organisation ? Warum differenziert sie sich in diese beiden komplemetären Bahnen? Tiefer als die aktuellen Qualitäten und Ausdehnungen, als die aktuellen Arten und Teile liegen die raum-zeitlichen Dynamiken. Sie sind es, die aktualisieren und differenzieren. Man muß sie für jedes Gebiet verzeichnen, obwohl sie gewöhnlich durch bereits gebildete Ausdehnungen und Qualitäten verdeckt sind. Die Embryologen zeigen ganz klar, daß die Gliederung eines Eis in einzelne Teile zweitrangig bleibt gegenüber wesentlich signifikanteren morphogenetischen Bewegungen: Vergrößerung freier Oberflächen, Streckung von Zellschichten, Invagination durch Faltung, regionale Verschiebungen der Gruppen. Es erscheint eine regelrechte Kinematik des Eis, die eine Dynamik impliziert. Allerdings drückt diese Dynamik etwas Ideelles aus. Der Transport ist dionysisch und göttlich, ist Delirium, bevor er zum lokalen Transfer wird. Die Eiformen unterscheiden sich also in Ausrichtung, Entwicklungsachsen, in differentiellen Geschwindigkeiten und Rhythmen als den ersten Faktoren der Aktualisierung einer Struktur, die einen Raum und eine Zeit erschaffen, wie sie dem, was sich aktualisiert, entsprechen. Baer schloß daraus einerseits, daß die Differenzierung vom Allgemeineren zum weniger Allgemeinen voranschreitet, da die dynamischen strukturalen Merkmale der großen Typen oder Stämme vor den bloß formalen Merkmalen der Art, der Gattung oder gar der Klasse erscheinen; und andererseits, daß die Verwerfungen zwischen diesen Typen oder die Unreduzierbarkeit von Dynamiken insbesondere die Möglichkeiten der Evolution begrenzten und aktuelle Unterscheidungen [distinctions] zwischen Ideen verfügten. Diese beiden Punkte jedoch werfen große Probleme auf. Denn zunächst sind die höchsten Allgemeinheiten Baers Allgemeinheiten nur für einen erwachsenen Beobachter, der sie von außen betrachtet. An sich selbst werden sie vom embryonalen Individuum in seinem Individuationsfeld erlebt. Mehr noch, sie können, wie Vialleton, Baers Schüler, bemerkte, nur erlebt werden, und sie können nur vom embryonalen Individuum erlebt werden: Es gibt ,,Dinge“, die nur der Embryo
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machen kann, Bewegungen, die einzig er vollführen oder eher: ertragen kann (so unterliegen etwa bei den Schildkröten die Vordergliedmagen einer relativen Verschiebung von 180 Grad, oder der Hals impliziert das Vorrutschen einer variablen Anzahl von Urwirbeln)30. Die Großtaten und das Schicksal des Embryos liegen darin, das Unerträgliche als solches zu leben, das Ausmaß von erzwungenen Bewegungen, die jedes Skelett zerbrechen oder die Gelenkbänder zerreißen würden. Freilich verläuft die Differenzierung progressiv, kaskadenartig: Die Merkmale der großen Typen erscheinen vor denen der Gattung und der Art in der Abfolge der Spezifikation; und in der Abfolge der Organisation ist eine Knospe erst die Knospe einer Pfote, bevor sie rechte oder linke Pfote wird. Aber diese Bewegung zeigt weniger eine Differenz im Allgemeinheitsgrad als eine Wesensdifferenz an; und man entdeckt nicht so sehr das Allgemeinere unter dem weniger Allgemeinen als reine raum-zeitliche Dynamiken (das vom Embryo Erlebte) unter den morphologischen, histologischen, anatomischen, physiologischen usw. Merkmalen, die die bereits gebildeten Qualitäten und Teile betreffen. Eher als vom Allgemeineren zum weniger Allgemeinen gelangt man vom Virtuellen zum Aktuellen, und zwar der progressiven Bestimmung und den ersten Aktualisierungsfaktoren entsprechend. Der Begriff der ,,Allgemeinheit“ hat hier den Nachteil, eine Vermengung des Virtuellen, sofern es sich durch Schöpfung aktualisiert, mit dem Möglichen, sofern es sich durch Beschränkung realisiert, nahezulegen. Und vor dem Embryo als allgemeinem Träger von Qualitäten und Teilen existiert der Embryo als individuelles Subjekt und Leidendes von raum-zeitlichen Dynamiken, das Larvensubjekt. Was den anderen Aspekt betrifft, den einer Möglichkeit der Evolution, so müssen wir ihn unter Berücksichtigung prä-evolutionistischer Polemiken denken. Die große Polemik zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire bezieht sich auf die Kompositionseinheit: Gibt es ein Lebewesen an sich als eine Idee des universalen Lebewesens - oder führen die großen Stämme unüberschreitbare Verwerfungen zwischen Tiertypen herbei? Die Diskussion erhält ihre poetische Methode und ihre poetische Prüfung in der Faltung: Kann man durch Faltung vom Wirbeltier zum Kopffüßer gelangen? Kann man das Wirbeltier SO falten, daß die beiden Teile des Rückgrats einander annähern, der Kopf ZU den Füßen, das Becken zum Nacken kommt und die Eingeweide sich wie bei den Kopffüßern anordnen ? Cuvier streitet ab, daß die Faltung eine derartige Anordnung ergeben könnte. Und welches Tier wurde die Probe ertragen, selbst wenn es auf sein blankes Knochengerüst reduziert wird? Freilich behauptet Geoffroy nicht, die Faltung vollziehe tatsachlich den übergang, sein Argument reicht weiter: Es würde Entwicklungsstadien geben, die dieses oder jenes Tier an diesem oder jenem Kompositionsgrad anhielten (,,das
30 Louis Vialleton: . Membres
et ceintures des vertebres ttftrapodes, Paris 1924, S. 6OOff.
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Organ A wird in einer außerordentlichen Relation zum Organ C stehen, wenn B noch nicht hervorgebracht ist, wenn die Entwicklungpause, die dieses vorzeitig betroffen hat, seine Hervorbringung verhindert hat‘c)31. Die Einführung des Zeitfaktors ist wesentlich, obwohl Geoffroy diesen in Form von Pausen begreift, d. h. in Form von Etappen, die fortlaufend in der Realisierung eines allen Tieren gemeinsamen Möglichen angeordnet sind. Man muß der Zeit nur ihren wahren Sinn von schöpferischer Aktualisierung verleihen, damit die Evolution ein sie bedingendes Prinzip erhält. Wenn nämlich unter dem Gesichtspunkt der Aktualisierung die Dynamik der räumlichen Ausrichtungen eine Differenzierung der Typen bestimmt, so begründen die mehr oder weniger schnellen Zeitabläufe, die diesen Dynamiken immanent sind, deren Übergang untereinander oder den Übergang von einem differenzierten Typus zu einem anderen, sei es durch Verlangsamung, sei es durch Übereilung. Man erschafft andere Räume durch kontrahierte oder entspannte Zeitabläufe, je nach Beschleunigungs- oder Verzögerungsquotient. Selbst die Pause gewinnt den Aspekt einer Aktualisierung in der Neotenie. Prinzipiell ermöglicht der Zeitfaktor die Umwandlung der Dynamiken, obwohl sie asymmetrisch, räumlich irreduzibel und völlig differenziert oder eher selbst differenzierend sind. In diesem Sinne erkannte Perrier Phänomene von ,,beschleunigter Wiederholung“ (Tachygenese) am Ursprung der Stämme im Tierreich und fand im vorzeitigen Erscheinen von Typen einen überragenden Beleg für die Evolution selbst32. Die Welt insgesamt ist ein Ei. Die doppelte Differenzierung von Arten und Teilen bedingt stets raum-zeitliche Dynamiken. Gegeben sei eine Teilung in 24 Zellelemente mit ähnlichen Merkmalen: Wir erfahren noch nichts darüber, durch welchen dynamischen Prozeß man sie erhalten hat - 2 12 oder (2 2) + (2 10) oder (2 4) + (2 . . .? Selbst die platonische Teilung verfügte über keinerlei Regel, um zwei Seiten zu unterscheiden, wenn sie nicht durch die Bewegungen und Ausrichtungen, durch die Bahnen im Raum eine Regel erhalten würde. Dasselbe beim Fischen: die Beute einfangen oder verwunden, sie von oben nach unten oder von unten nach oben verwunden? Das sind dynamische Prozesse, die die Aktualisierung der Idee bestimmen. In welchem Bezug aber stehen sie zu ihr? Sie sind exakt Dramen, sie dramatisieren die Idee. Einerseits erschaffen, entwerfen sie einen Raum, der den Differentialquotienten und Singularitäten entspricht, die aktualisiert werden sollen. Wenn eine Zellwanderung entsteht, wie es Raymond Ruyer zeigt, so wird die Situation durch die Anforderung einer ,,Rolle“ in Abhängigkeit vom strukturalen l
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31 Etienne Geoffroy Saint-Hilaire: Principes de philosophie zoologique, Paris 1830, S. 70. - Die Texte zum Streit mit Cuvier sind in dieses Buch aufgenommen. 32 Edmond Perrier: Les colonies animales et la formation des organismes, Paris 1881, S. 701 ff.
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,,Thema“ bestimmt, das aktualisiert werden soll, nicht umgekehrt33. Die Welt ist ein Ei, das Ei selbst aber ist ein Theater: ein Regietheater, in dem die Rollen über die Schauspieler, die Räume über die Rollen, die Ideen über die Räume siegen. Mehr noch, kraft der Komplexität einer Idee und ihrer Beziehungen zu anderen Ideen spielt sich die räumliche Dramatisierung auf mehreren Ebenen ab: in der Konstitution eines inneren Raums, aber auch in der Art und Weise, wie dieser Raum auf die äußere Ausdehnung übergreift und darin eine Region besetzt. Man darf etwa nicht den inneren Raum einer Farbe mit der Art und Weise verwechseln, wie sie eine Ausdehnung besetzt, in der sie mit anderen Farben in Beziehung tritt, wie sehr beide Prozesse auch verwandt sein mögen. Ein Lebewesen definiert sich nicht nur genetisch, über die Dynamiken, die sein inneres Milieu bestimmen, sondern auch ökologisch, durch die äußeren Bewegungen, die seine Verteilung in der Ausdehnung steuern. Eine Kinetik der Population verbindet sich ohne Ähnlichkeit mit einer Kinetik des Eis; ein geographischer Isolationsprozeß wirkt ebenso artbildend wie die inneren genetischen Variationen und geht diesen zuweilen voraus34. All das ist noch komplizierter, wenn man berücksichtigt, daß der innere Raum selbst aus mannigfaltigen Räumen besteht, die lokal integriert, verbunden werden müssen; daß dieser Zusammenschluß, der sich auf viele Weisen vollziehen kann, das Ding oder das Lebewesen an seine eigenen Grenzen treibt und in Berührung mit dem Außen bringt; daß dieser Bezug zum Außen und zu anderen Dingen und anderen Lebewesen seinerseits globale Zusammenhänge oder Integrationen impliziert, die wesentlich von den vorangehenden abweichen. Überall eine Inszenierung auf mehreren Ebenen. Andererseits sind die Dynamiken nicht weniger zeitlich als räumlich. Sie bilden Aktualisierungs- oder Differenzierungszeiten, wie sie Aktualisierungsräume entwerfen. Nicht allein Räume beginnen die Differentialverhältnisse zwischen reziprok und durchgängig bestimmten Strukturelementen zu verkörpern; vielmehr verkörpern auch Differenzierungszeiten die Zeit der Struktur, die Zeit der progressiven Bestimmung. Derartige Zeiten können differentielle Rhythmen genannt werden, und zwar auf Grund ihrer Rolle in der Aktualisierung der Idee. Und schließlich begegnet man unter den Arten und Teilen nur diesen Zeiten, diesen Wachstumsquoten, diesen Entwicklungstempi, diesen Verlangsamungen oder Übereilungen, diesen Tragezeiten. Man kann durchaus sagen, daß einzig die Zeit ihre Antwort an eine Frage, Raymond Ruyer: . La genese des for-mes vivantes, Paris 1958, S. 91 ff.: ,,Man kann das Geheimnis der Differenzierung nicht dadurch auflösen, indem man aus dieser die Wirkung von situativen Differenzen macht, die durch die gleichmäßigen Teilungen entstanden sind . . .“ - Nicht weniger als Bergson hat Ruyer die Begriffe von Virtuellem und Aktualisierung gründlich analysiert; seine ganze biologische Philosophie beruht auf ihnen und auf dem Gedanken des ,,Thematischen“; vgl. Ehnents de psycho-biologie, Paris 1946, Kap. 4. 34 Lucien Cu6not: L’espkce, Paris 1936, S. 241. 33
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einzig der Raum seine Lösung an ein Problem heranträgt. Ein Beispiel, das die Sterilität oder Fruchtbarkeit (beim weiblichen Seeigel und bei männlichen Anneliden) betrifft - Problem: Werden manche Chromosomen väterlicherseits in die neuen Zellkerne inkorporiert werden oder werden sie sich im Protoplasma verteilen? - Frage: Werden sie rechtzeitig ankommen? Aber die Unterscheidung ist zwangsläufig relativ; es ist offenkundig, daß die Dynamik zugleich zeitlich und räumlich, raum-zeitlich ist (hier die Ausbildung der Teilungsspindel, die Halbierung der Chromosomen und die Bewegung, die sie an die Pole der Spindel führt). Die Dualität existiert nicht im Aktualisierungsprozeß selbst, sondern nur an seinem Endpunkt, in den aktuellen Termen, den Arten und Teilen. Allerdings handelt es sich nicht um eine reale Unterscheidung, sondern um eine strikte Komplementarität, insofern die Art die Qualität der Teile und entsprechend die Teile die Zahl der Art bezeichnen. Die Art speichert eben in einer Qualität (Löwenartigkeit, Froschheit) die Zeit der Dynamik, während die Teile deren Raum detaillieren. Eine Qualität blitzt stets in einem Raum auf und dauert genau die Zeit dieses Raums. Kurz, die Dramatisierung ist die Differenzierung der Differenzierung, qualitativ und quantitativ zugleich. Indem wir aber zugleich sagen, behaupten wir, daß sich die Differenzierung selbst in diese beiden korrelativen Bahnen, Arten und Teile, Spezifikation und Einteilung differenziert. Und ebenso, daß es eine Differenz der Differenz gibt, die das Differente versammelt, daß es eine Differenzierung der Differenzierung gibt, die das Differenzierte integriert und verschweißt. Ein in dem Maße notwendiges Ergebnis, wie die Dramatisierung die beiden Merkmale der Id e e untrennbar verkörpert, Differentialverhältnisse und entsprechende singuläre Punkte, wobei diese sich in den Teilen, jene sich in den Arten aktualisieren. Diese raum-zeitlichen dynamischen Bestimmungen - sind sie nicht schon das, was Kant Schemata nannte? Dennoch besteht ein großer Unterschied. Zwar ist das Schema eine Regel zur Bestimmung der Zeit und zur Konstruktion des Raums, es wird aber in Bezug zum Begriff als logischer Möglichkeit gedacht und umgesetzt; diese Bezugnahme ist in seiner Natur selbst gegenwärtig, und zwar in dem Maße, wie es bloß die logische Möglichkeit in transzendentale Möglichkeit umwandelt. Es bringt die raum-zeitlichen Relationen mit den logischen Relationen des Begriffs in Übereinstimmung. Außerhalb des Begriffs jedoch ist nicht ersichtlich, wie es die Harmonie von Verstand und Sinnlichkeit gewährleisten kann, da es selbst - ohne Berufung auf ein Wunder nicht seine eigene Harmonie mit dem Verstandesbegriff zu garantieren vermag. Der Schematismus besitzt eine außerordentliche Kraft: Durch ihn kann ein Begriff gemäß einer Typologie geteilt und spezifiziert werden. Ein Begriff ist ganz und gar unfähig, sich durch sich selbst zu spezifizieren oder zu teilen; was unterhalb seiner als verborgene Kunst, als ein Handelndes der Differenzierung, wirksam wird, sind die raum-zeitlichen Dynamiken. Ohne sie würde man stets bei den Fragen stehenbleiben, die Aristoteles gegen die platonische Teilung erhoben hat: Und woher kommen die Hälften? Doch trägt das
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Schema nicht jener Macht Rechnung, mit der es wirksam wird. Alles wird anders, wenn man die Dynamiken nicht mehr als Begriffsschemata sondern als Ideendramen setzt. Wenn nämlich die Dynamik außerhalb des Begriffs - und daher Schema - ist, so befindet sie sich innerhalb der Idee und ist daher Drama oder Traum. Die Art ist in Linien geteilt, das Linneon in Jordanonen, der Begriff in Typen, aber diese Teilungen unterliegen nicht demselben Kriterium wie das Geteilte, sind nicht homogen mit dem Geteilten und errichten sich in einem Gebiet außerhalb des Begriffs, aber innerhalb der Ideen, die die Teilung selbst steuern. Die Dynamik umfaßt dann ihre eigene Macht zur Bestimmung von Raum und Zeit, da sie unmittelbar die der Idee immanenten Differentialverhältnisse, Singularitäten und Progressivitäten verkörpert35. Der kürzeste Weg ist nicht einfach das Schema des Begriffs der Geraden, sondern der Traum, das Drama oder die Dramatisierung der Idee der Linie, insofern sie die Differenzierung von Gerade und Kurve ausdrückt. Wir unterscheiden die Idee, den Begriff und das Drama: Die Rolle des Dramas liegt in der Spezifikation des Begriffs, indem es die Differentialverhältnisse und die Singularitäten der Idee verkörpert. Die Dramatisierung geschieht im Kopf des Träumenden, aber ebenso unter dem kritischen Auge des Wissenschaftlers. Sie wirkt diesseits des Begriffs und der Repräsentationen, die er subsumiert. Es gibt nichts, was nicht seine Identität, wie sie im Begriff enthalten ist, und seine Gleichartigkeitkeit, wie sie der Repräsentation entspricht, verliert, wenn man den dynamischen Raum und die dynamische Zeit seiner aktuellen Konstitution entdeckt. Der ,,Typ Hügel“ ist nurmehr ein Geriesel in parallelen Linien, der ,,Typ Küste“ ein Ausstrich harter Schichten, an denen entlang die Felsen senkrecht zu den Hügeln ausgehöhlt werden; die härtesten Felsen ihrerseits aber sind im Maßstab von Jahrmillionen, die ihre Aktualisierungszeit darstellen, flüssige Stoffe, die unter dem sanften Druck auf ihre Singularitäten versinken. Jede Typologie ist dramatisch, jede Dynamik eine Katastrophe. Es liegt notwendig etwas Grausames in dieser Weltentstehung, die ein Chaosmos ist, in diesen Welten von Bewegungen ohne Subjekt, von Rollen ohne Akteur. Als Artaud vom Theater der Grausamkeit sprach, definierte er es nur durch einen extremen ,,Determinismus“, durch einen Determinismus raum-zeitlicher Bestimmung, sofern sie eine Idee der Natur oder des Geistes verkörpert, als einen ,,bewegten Raum“, eine kreisende und verletzende Gravitationsbewegung, die den Organismus direkt zu treffen vermag, reine Inszenierung ohne Autor, ohne Akteur und ohne Subjekte. Man gräbt Räume, man drängt oder verlangsamt die Zeit nur 35 Die kantische Theorie des Schematismus wächst übrigens in zwei Richtungen über sich hinaus: in Richtung auf eine dialektische Idee, die sich selbst ihr eigenes Schema ist und die Spezifizierung des Begriffs garantiert (Kritik der reinen Vernunft, ,,von der Endabsicht der natürlichen Dialektik“); und in Richtung auf die ästhetische Idee, die das Schema dem komplexeren und umfassenderen Prozeß der Symbolbildung dienstbar macht (Kritik der Urteilskraft, § 49 und 59).
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um den Preis von Torsionen und Verschiebungen, die den ganzen Körper mobilisieren, gefährden. Wir werden von gleißenden Punkten durchstoßen, von Singularitäten zerzaust, überall der Schildkrötenhals und sein schwindelerregender Rutsch der Urwirbel. Selbst der Himmel erleidet seine Himmelsrichtungen und Sternbilder, die wie ,,Sonnen-Akteure“ eine Idee in sein Fleisch einschreiben. - Es gibt daher zwar Akteure und Subjekte, aber nur als Larven , weil einzig sie die -Verläufe, die Rutschbewegungen und die Rotationen zu ertragen vermögen. Nachher ist es zu spät. Tatsächlich macht uns jede Idee zu Larven, nachdem sie die Identität des Ego wie die Ähnlichkeit des’ Ich niedergerissen hat. Was kaum durch Regression, Fixierung oder Entwicklungspause ausgedrückt werden kann. Denn wir sind nicht an einen Zustand oder einen Moment fixiert, sondern werden stets durch eine Idee wie durch das Funkeln eines Blicks fixiert, stets fixiert in einer Bewegung, die sich gerade vollzieht. Was wäre eine Idee, wenn nicht die fixe und grausame Idee, von der Villiers de l’Isle-Adam spricht? Was die Idee angeht, ist man immer schon Leidendes. Aber dies ist kein gewöhnliches Erleiden, keine gewöhliche Fixierung. Das Fixe ist nicht das Fertige oder Abgemachte. Wenn wir Embryonen bleiben oder von neuem werden, so ist es eher diese reine Bewegung der Wiederholung, die sich grundlegend von jeglicher Regression unterscheidet. Die Larven tragen die Ideen in ihrem Fleisch, selbst wenn wir bei den Repräsentationen des Begriffs stehenbleiben. Sie ignorieren das Gebiet des Möglichen und sind dabei dem Virtuellen ganz nahe, dessen erste Aktualisierungen sie als ihre Wahl übernehmen. Wie die Verwandtschaft von Blutegel und höherem Menschen sind sie zugleich Traum und Wissenschaft, Gegenstand des Traums und Gegenstand der Wissenschaft, Biß und Erkenntnis, Mundöffnung und Gehirn. (Es war Perrier, der vom Konflikt von Mund und Hirn, zwischen Wirbeltieren und Ringelwürmern sprach.) Eine Idee dramatisiert sich auf mehreren Ebenen, aber ebenso geben Dramatisierungen verschiedenerer Ordnungen einander Echo und durchlaufen die Ebenen. Gegeben sei die Idee der Insel: Die geographische Dramatisierung differenziert sie oder teilt ihren Begriff nach zwei Typen, dem ursprünglichen ozeanischen Typus, der eine Eruption, eine Erhebung aus dem Wasser kennzeichnet, und dem abgeleiteten kontinentalen Typus, der auf eine Abtrennung, auf einen Bruch verweist. Wer aber die Insel träumt, stößt auf diese doppelte Dynamik, da er ja davon träumt, wie er sich am Ausgang einer langen Verschiebung unendlich weit ablöst, zugleich aber, wie er in einem radikalen Gründungsakt völlig von neuem beginnt. Man hat oft darauf aufmerksam gemacht, daß das gesamte Sexualverhalten von Mann und Frau darauf abzielt, die Bewegung ihrer Organe zu reproduzieren, und daß diese Bewegung ihrerseits darauf abzielt, die Dynamik der Zellelemente zu reproduzieren: drei Dramatisierungen verschiedener Ordnungen geben einander Echo - psychische, organische, chemische. Wenn es dem Denken zukommt, das Virtuelle bis auf den Grund seiner Wiederholungen zu erforschen, so ist es Sache der Einbildungskraft, die Aktualsierungsprozesse unter dem Gesichtspunkt dieser
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Reprisen oder dieser Echos zu erfassen. Die Einbildungskraft ist es, die die Gebiete, die Ordnungen und die Ebenen durchquert und dabei die Trennwände niederreißt, sich über die Welt hin ausbreitet, unseren Körper leitet und unsere Seele erweckt, die Einheit von Natur und Geist auffaßt, ein larvenhaftes Bewußtsein, das sich fortwährend von der Wissenschaft zum Traum und zurück bewegt. Die Aktualisierung vollzieht sich in drei Reihen, im Raum, in der Zeit, aber auch in einem Bewußtsein. Jede raum-zeitliche Dynamik ist die Emergenz eines elementaren Bewußtseins, das selbst die Richtungen weist, die Bewegungen und Migrationen verdoppelt und an der Schwelle der Singularitäten entsteht, die im Verhältnis zum Körper oder Objekt, deren Bewußtsein es ist, verdichtet sind. Es genügt nicht zu sagen, das Bewußtsein sei Bewußtsein von Etwas, es ist der Doppelgänger dieses Etwas, und jedes Ding ist Bewußtsein, weil es einen Doppelgänger besitzt, mag er ihm noch so fern oder fremd sein. Die Wiederholung ist überall, in dem, was sich aktualisiert, ebenso wie in der Aktualisierung. Sie ist zunächst in der Idee, sie durchläuft die Verhältnisvarietäten und die Verteilung der singulären Punkte. Sie bestimmt auch die Reproduktionen von Raum und Zeit, als Reprisen des Bewußtseins. Aber in all diesen Fällen ist die Wiederholung die Macht der Differenz und der Differenzierung: sei es, daß sie die Singularitäten verdichtet, sei es, daß sie die Zeit beschleunigt oder verlangsamt, sei es, daß sie die Räume variiert. Niemals erklärt. sich die Wiederholung durch die Identitätsform im Begriff oder durch e das Ähnliche in der Repräsentation. Sicher fördert die Blockierung des Begriffs eine nackte Wiederholung zutage, die man tatsächlich als Wiederholung des Selben repräsentiert. Wodurch aber wird der Begriff blockiert, wenn nicht durch die Idee? Daher vollzieht sich, wie wir gesehen haben, die Blokkierung gemäß den drei Figuren des Raums, der Zeit und des Bewußtseins. Der Exzeß der Idee ist es, der den Mangel des Begriffs erklärt. Und entsprechend ist es die verkleidete Wiederholung, die außerordentliche oder singuläre Wiederholung, abhängig von der Idee - die die gewöhnliche und nackte Wiederholung erklärt, diejenige, die vom Begriff abhängt und nur die Rolle einer letzten Verkleidung spielt. In der Idee und ihrer Aktualisierung entdekken wir zugleich den natürlichen Grund der Blockierung des Begriffs und den übernatürlichen Grund einer Wiederholung, die über der vom blockierten Begriff subsumierten Wiederholung steht. Was außerhalb des Begriffs bleibt, verweist noch tiefer darauf, was innerhalb der Idee ist. Die Idee insgesamt ist im mathematisch-biologischen System der Differentiation/zierung enthalten. Mathematik und Biologie aber sind hier nur als technische Modelle zur Erforschung der beiden Hälften der Differenz beteiligt, der dialektischen und der ästhetischen Hälfte, der Darlegung des Virtuellen und des Prozesses der Aktualisierung. Die dialektische Idee ist doppelt bestimmt, in der Varietät der Differentialverhältnisse und in der Verteilung der korrelativen Singularitäten (Differentiation). Die ästhetische Aktualisierung ist auf doppelte Weise bestimmt, in der Spezifikation und in der Komposition (Differenzierung). Die
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Spezifikation verkörpert die Verhältnisse, die Komposition die Singularitäten. Die aktuellen Qualitäten und Teile, die Arten und Zahlen entsprechen dem Element der Qualitabilität und dem Element der Quantitabilität in der Idee. Wodurch aber wird der dritte Aspekt des zureichenden Grundes, das Element der Potentialität der Idee verwirklicht? Zweifellos durch die präquantitative und präqualitative Dramatisierung. Sie nämlich bestimmt oder provoziert, sie differenziert die Differenzierung des Aktuellen, in ihrer Korrespondenz mit der Differentiation der Idee. Woher aber rührt diese Macht der Dramatisierung? Ist sie nicht - unterhalb der Arten und Teile, der Qualitäten und Zahlen der intensivste oder individuellste Akt? Wir haben nicht gezeigt, wodurch die Dramatisierung bezüglich des Aktuellen wie in der Idee als Entfaltung des dritten Elements des zureichenden Grundes begründet wurde.
FÜNFTES
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ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN Die Differenz ist nicht das Verschiedene. Das Verschiedene ist gegeben. Die Differenz aber ist das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Sie ist das, wodurch das Gegebene als Verschiedenes gegeben ist. Die Differenz ist nicht das Phänomen, sondern das Noumenon, das dem Phänomen am nächsten kommt. Es mag also zutreffen, daß Gott die Welt mit seinen Rechnungen erschafft, aber diese Rechnungen gehen niemals auf, und diese Unstimmigkeit im Ergebnis, diese irreduzible Ungleichung bildet die Bedingung der Welt. Die Welt ,,entsteht“, während Gott rechnet; es gäbe keine Welt, wenn die Rechnung aufginge. Die Welt ist stets einem ,,Rest“ gleichzusetzen, und das Reale in der Welt kann nur in Form von Bruchzahlen oder gar inkommensurablen Größen gedacht werden. Jedes Phänomen verweist auf die Ungleichung, die es bedingt, jede Verschiedenheit, jede Veränderung verweist auf eine Differenz, die deren zureichenden Grund darstellt. Alles Geschehende und Erscheinende ist korrelativ zu Differenzordnungen: Höhen-, Temperatur-, Druck-;” Spannungs-, Potentialdifferenz, Intensitätsdifferenz. Das Carnot-Prinzip formuliert es auf die eine, das Curie-Prinzip auf die andere W e i s e ’ . Überall die Schleuse. Jedes Phänomen blitzt in einem System Signal/ Zeichen auf. Signal nennen wir das System, wie es durch mindestens zwei heterogene Reihen, durch zwei disparate Ordnungen konstituiert oder gesäumt wird, die miteinander in Kommunikation zu treten vermögen; das Phänomen ist ein Zeichen, d.h. etwas, das in diesem System dank der Kommunikation der disparaten Ordnungen aufblitzt. ,,In seinen Facetten birgt der Smaragd eine Nixe mit leuchtenden Augen . . .“: Jedes Phänomen entspricht dem Typ ,,Nixe mit leuchtenden Augen“, ein Smaragd macht es möglich. Jedes Phänomen ist zusammengesetzt, weil die beiden Reihen, die es säumen, nicht nur heterogen sind, jede ist selbst aus heterogenen Termen zusammenge1 Zur Asymmetrie als ,,zureichendem Grund“ vgl. Louis Rougier: En marge de Curie, de Carnot et d’Einstein, Paris 1922.
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setzt, begrenzt durch heterogene Reihen, die entsprechend viele Unterphänomene ergeben. Der Ausdruck ,,Intensitätsdifferenz“ ist eine Tautologie. Die Intensität ist die Form der Differenz als Grund des Sinnlichen. Jede Intensität ist differentiell, Differenz an sich selbst. Jede Intensität ist E-E’, worin E selbst auf e-e’ und e auf E-E’ usw. verweist: Jede Intensität ist bereits eine Kopplung (in der jedes Element des Paars seinerseits auf Elementenpaare einer anderen Ordnung verweist) und offenbart damit den spezifisch qualitativen Inhalt der Quantität2. Diesen Zustand der unendlich geteilten Differenz, die ins Unendliche widerhallt, nennen wir Disparität. Die Disparität, d. h. die Differenz oder die Intensität (Intensitätsdifferenz) ist der zureichende Grund des Phänomens, die Bedingung dessen, was erscheint. Mit seinem Turmalin kommt Novalis den Bedingungen des Sinnlichen näher als Kant mit dem Raum und der Zeit. Der Grund des Sinnlichen, die Bedingung dessen, was erscheint, ist nicht der Raum und die Zeit, sondern das Ungleiche an sich, die Disparation, wie sie in der Intensitätsdifferenz, in der Intensität als Differenz enthalten und bestimmt 1st.
Wir stoßen jedoch auf große Schwierigkeiten, wenn wir das Carnot-Prinzip oder das Curie-Prinzip als regionale Manifestationen eines transzendentalen Prinzips zu betrachten versuchen. Wir kennen nur Energieformen, die bereits in der Ausdehnung lokalisiert und verteilt sind, wir kennen nur Ausdehnungen, die bereits durch Energieformen qualifiziert sind. Die Energetik definierte eine Energie durch die Kombination zweier Faktoren, eines intensiven und eines extensiven (etwa Kraft und Länge hinsichtlich der linearen Energie, Oberflächenspannung und Oberfläche hinsichtlich der Oberflächenenergie, Druck und Vo l umen hinsichtlich der Volumenenergie, Höhe und Gewicht 2 J.-H.Rosny, der Ältere (Boex-Borel): Les sciences et le ph&nw, Paris 1922, S. 18: ,,Die Energetik zeigt, daß alle Arbeit auf Temperatur-’ Potential-, Höhendifferenzen zurückgeht, wie übrigens jede Beschleunigung Geschwindigkeitsdifferenzen bedingt: Wahrscheinlich impliziert jede berechenbare Energie Faktoren der Form E-E’, in denen E und E’ selbst Faktoren der Form e-e’ bergen . . . Wenn die Intensität bereits eine Differenz ausdrückt’ so müßte zwangsläufig besser definiert werden, was man darunter ZU verstehen hat, und insbesondere müßte man klarmachen’ daß sich die Intensität nicht aus zwei homogenen Termen, sondern zumindest aus zwei Reihen heterogener Terme zusammensetzen kann.” - In diesem äußerst gelungenen Buch über die intensiven Quantitäten entwickelt Rosny zwei Thesen: 1. Die Ähnlichkeit bedingt die Differenz’ die Differenzen sind es, die einander ähneln; 2. ,,allein die Differenz macht das Sein faßbar“. Rosny war ein Freund Curies. In seinem Romanwerk erfindet er eine Art intensiven Naturalismus, der sich daher an den beiden äußersten Rändern der Intensitätsskala auf die prähistorischen Höhlen und auf die zukünftigen Räume der science fiction hin öffnet.
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hinsichtlich der Schwerkraft, Temperatur und Entropie hinsichtlich der thermischen Energie . . .). Es wird deutlich, daß die intensio (Intensität) in der Erfahrung untrennbar ist von einer extensio (Extensität), durch die sie auf das extensum (Ausdehnung) bezogen wird. Und unter diesen Bedingungen erscheint die Intensität selbst den Qualitäten untergeordnet, die die Ausdehnung erfüllen (physische Qualität erster Ordnung oder qualitas, sinnliche Qualität zweiter Ordnung oder quale). Kurz, wir kennen Intensität nur als bereits in einer Ausdehnung entfaltete und von Qualitäten verdeckte. Daher rührt unser Bestreben, die intensive Quantität als empirischen und obendrein schlecht begründeten Begriff zu betrachten, als eine unreine Mischung aus einer sinnlichen Qualität und der Ausdehnung oder gar aus einer physischen Qualität und einer extensiven Quantität. Freilich würde dieses Bestreben ergebnislos bleiben, wenn die Intensität ihrerseits nicht selbst ein entsprechendes Bestreben in der Ausdehnung, die sie entfaltet, und unter der Qualität, die sie verdeckt, darbieten würde. Die Intensität ist Differenz, diese Differenz aber strebt danach, sich in der Ausdehnung und unter der Qualität zu verneinen und zu tilgen. Freilich sind die Qualitäten Zeichen und blitzen in der Spanne einer Differenz auf; aber sie ermessen eben die Zeit eines Ausgleichs, d.h. die von der Differenz benötigte Zeit, um sich in der Ausdehnung, in der sie sich verteilt, zu tilgen. Dies ist der allgemeinste Inhalt der Prinzipien von Carnot, Curie, Le Chatelier usw.: Die Differenz ist zureichender Grund von Veränderung nur in dem Maße, wie diese Veränderung danach strebt, sie zu verneinen. Gerade auf diese Weise erfährt das Kausalitätsprinzip im Prozeß der Signalisierung seine kategorische physikalische Bestimmung: Für eine Reihe irreversibler Zustände definiert die Intensität einen objektiven Sinn, und zwar als ein ,,Vektor der Zeit“, demzufolge man vom Differenzierteren zum weniger Differenzierten, von einer produktiven Differenz zu einer reduzierten und im äußersten Fall getilgten Differenz voranschreitet. Es ist bekannt, wie am Ende des 19. Jahrhunderts diese Themen einer Reduzierung der Differenz, einer Vereinheitlichung des Verschiedenen, eines Ausgleichs des Ungleichen zum letzten Mal die Seltsamste Allianz stifteten: zwischen der Wissenschaft, dem gesunden Menschenverstand und der Philosophie. Die Thermodynamik war der mächtige Schmelzofen dieser Legierung. Es entwickelte sich ein System von Basisdefinitionen, das alle und jeden zufriedenstellte, einen gewissen Kantianismus inbegriffen: das Gegebene als Verschiedenes; die Vernunft als Bestreben nach Identität, als Prozeß der Identifikation und des Ausgleichs; das Widersinnige oder Irrationale als Widerstand des Verschiedenen gegen jene identifizierende Vernunft. Die Worte ,,das Wirkliche ist vernünftig” fanden hier einen neuen Sinn, denn die Verschiedenheit strebte in gleichem Maße danach, in der Natur wie in der Vernunft aufzugehen. So daß die Differenz weder ein Gesetz der Natur noch eine Kategorie des Geistes sondern nur den Ursprung = x des Verschiedenen bildete: das Gegebene, nicht den ,,Wert” (mit Ausnahme eines regulativen oder kompensa-
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torischen Werts)3. In Wahrheit würde unser epistemologisches Bestreben, den Gedanken der intensiven Quantität anzuzweifeln, nichts beweisen, wenn es nicht mit jenem anderen Bestreben zusammenginge, mit jenem Bestreben der Intensitätsdifferenzen, sich in den qualifiziert& räumlichen Systemen zu tilgen. Wir ziehen die Intensität nur deswegen in Zweifel, weil sie zum Selbstmord zu führen scheint. Die Wissenschaft und die Philosophie verschafften hier also dem gesunden Menschenverstand eine letzte Genugtuung. Denn was infrage steht, ist nicht die Wissenschaft, die der Ausbreitung des Carnot-Prinzips gegenüber indifferent bleibt - und ebensowenig die Philosophie, die in gewisser Weise dem Carnot-Prinzip selbst gegenüber indifferent bleibt. Immer wenn Wissenschaft, Philosophie und gesunder Menschenverstand einander begegnen, hält sich der gesunde Menschenverstand selber unvermeidlich für eine Wissenschaft und eine Philosophie (weswegen diese Begegnungen mit größter Sorgfalt vermieden werden müssen). Es geht also um das Wesen des gesunden MenschenverStands. Dieses Wesen wird von Hegel in Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systemes der Philosophie klar benannt: Der gesunde Menschenverstand ist die Halbwahrheit, sofern das Gefühl des Absoluten hinzutritt. Die Wahrheit als Vernunft ist in ihm in unvollständiger Verfassung, und das Absolute ist in ihm nur als Gefühl. Auf welche Weise aber tritt das Gefühl des Absoluten zur Halbwahrheit hinzu? Der gesunde Menschenverstand ist wesentlich verteilend, aufteilend: einesteils und andernteils sind die Formeln seiner Flachheit oder seiner falschen Tiefe. Er trägt dem Seinest& Rechnung. Es versteht sich jedoch von selbst, daß nicht jede Verteilung dem gesunden Menschenverstand entspricht: Es gibt Verteilungen des Wahnsinns, verrückte Aufteilungen. Und vielleicht gehört es sogar zum gesunden Menschenverstand, daß er den Wahnsinn voraussetzt und daß er als zweiter antritt, um zu korrigieren, was an einer vorangehenden Verteilung verrückt ist. Eine Verteilung stimmt mit dem gesunden Menschenverstand überein, wenn sie durch sich selbst danach strebt, die Differenz im Verteilten zu bannen. Nur unter der Annahme, daß sich die Ungleichheit der Teile mit der Zeit und in der Mitte tilgen wird, stimmt die Aufteilung tatsächlich mit dem gesunden Menschenverstand überein oder folgt einem Verstand, den man ,,gesund” nennt. Der gesunde Menschenverstand ist von Natur aus eschatologisch, Prophet einer endültigen Kompensation oder Vereinheitlichung. Wenn er als zweiter antritt, so deswegen, weil er die verrückte Verteilung voraussetzt - die nomadische, 3 Vgl. Andre Lalande: Valeur de Za difference, in: Revue philosophique, April 195% WO Andre Lalande seine Hauptthesen zusammenfa&. Die Position Emile Meyersons ist sehr ähnlich, obwohl Meyerson die Rolle und den Sinn des Garnot-Prinzips ganz anders bewertet. Er übernimmt aber dasselbe Definitionssystem. Ebenso Albert Camus, der sich in Le mythe de Sisyphe [dt.: Der Mythos von Sisyphos] auf Nietzsehe, Kierkegaard und Schestow beruft, aber der Tradition Meyersons und Lalandes wesentlich näher steht.
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momentane Verteilung, die gekrönte Anarchie, die Differenz. Er aber, seßhaft und geduldig, er, der über die Zeit verfügt, er korrigiert die Differenz, er tragt sie in eine Mitte4, die die Tilgung der Differenzen oder die Kompensation der Teile mit sich bringen muß. Er selbst ist die Mitte. Da er sich zwischen den Extremen denkt, bannt er sie und füllt deren Zwischenraum. Er verneint nicht die Differenzen, im Gegenteil; er veranlaßt vielmehr, daß sie sich verneinen, und zwar unter den Bedingungen der Ausdehnung und in der Ordnung der Zeit. Er multipliziert die Mittelglieder und ruht - wie der Schöpfergott Platons nicht eher, bis er in aller Geduld das Ungleiche im Teilbaren gebannt hat. Der gesunde Menschenverstand ist die Ideologie des Mittelstands, der sich in der Gleichheit als abstraktem Produkt wiedererkennt. Er träumt weniger vom Handeln als davon, das natürliche Medium zu bilden, das Element einer Handlung, die vom Differenzierteren zum weniger Differenzierten führt: so der gesunde Menschenverstand der politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert, die in der Händlerklasse die natürliche Kompensation der Extreme und im Florieren des Handels den mechanischen Prozeß des Ausgleichs der Anteile sieht. Er träumt also weniger vom Handeln als von der Voraussicht und davon, das Handeln als Seinesgleichen geschehen zu lassen, das vom Unvorhersehbaren zum Vorhersehbaren führt (von der Produktion der Differenzen zu ihrer Reduktion). Weder kontemplativ noch aktiv ist er vorausschauend. Kurz, er führt vom Seinesteils [Part des choses/ zum Teil des Feuers [Part du f eu 1 j: von den produzierten Differenzen zu den reduzierten Differenzen. Er ist thermodynamisch. In eben diesem Sinne fügt er der Halbwahrheit das Gefühl des Absoluten hinzu. Er ist weder optimistisch noch pessimistisch; er nimmt eine pessimistische oder optimistische Färbung an je nachdem, ob ihm der Teil des Feuers, der alles erfaßt und alle Teile vereinheitlicht, von einem unvermeidlichen Tod und einem unvermeidlichen Nichts gezeichnet erscheint (wir sind alle gleich vor dem Tod), oder ob er im Gegenteil die glückliche Fülle dessen, was ist, zu besitzen scheint (wir alle haben gleiche Chancen dem Leben gegenüber). Der gesunde Menschenverstand verneint nicht die Differenz; er erkennt sie vielmehr an, er anerkennt aber gerade das, was nötig ist, um zu bekräftigen, daß sie sich mit genügend Ausdehnung und Zeit verneint. Zwischen der verrückten Differenz und der getilgten Differenz, zwischen dem Ungleichen im Teilbaren und dem angeglichenen Teilbaren, zwischen der Verteilung des Ungleichen und der verte:lten Gleichheit muß der gesunde Menschenverstand zwangsläufig als Regel universaler Aufteilung und folglich als universal Verteiltes gelebt werden.
’ Frz. milieu: d. h. hier auch ,,Medium“ [A.d.Ü.].
’ h-z. il va de Za part des choses d Za part du feu: Spiel mit den unübersetzbaren Wendungen faire la part de qc (einer Sache Rechnung tragen) und faire la part du feu (dem F euer überlassen, was nicht zu retten ist; etwas preisgeben, um anderes zu
retten) [A.d.Ü.].
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Der gesunde Menschenverstand gründet sich auf eine Synthese der Zeit, auf eben jene, die wir als erste Synthese, als die Synthese der Gewohnheit bestimmt haben. Der gesunde Menschenverstand ist gesund nur, weil er sich Sinn und Verstand der Zeit nach dem Vorbild dieser Synthese aneignet. Indem er eine lebendige Gegenwart (und die Ermüdung dieser Gegenwart) bezeugt, führt er von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Besonderen zum Allgemeinen. Er definiert aber diese Vergangenheit als das Unwahrscheinliche oder a,m wenigsten Wahrscheinliche. Da nämlich der Ursprung jedes Teilsystems in einer Differenz liegt, die sein Gebiet individualisiert - wie könnte dann ein im System befindlicher Beobachter die Differenz anders denn als vergangen und im höchsten Maße ,,unwahrscheinlich“ erfassen, da sie ja hinter ihm liegt? Im Innern desselben Systems dagegen identifiziert der Vektor der Zeit, d.h. der gesunde Menschenverstand: die Zukunft, das Wahrscheinliche, die Aufhebung der Differenz. Diese Bedingung begründet die Voraussicht selbst (man hat oft festgestellt, dai3 man bei allmählicher Differenzierung von Temperaturen, die zunächst ununterscheidbar sind, nicht würde voraussehen können, welche ansteigen und welche sinken wird; und daß die Viskosität mit zunehmender Akzeleration die beweglichen Körper aus ihrer Ruhelage reif3en würde, allerdings in eine unvorhersehbare Richtung). Berühmte Passagen bei Boltzmann kommentieren diese wissenschaftliche und thermodynamische Absicherung des gesunden Menschenverstands; sie zeigen, wie sich in einem Teilsystem einerseits Vergangenheit, Unwahrscheinliches und Differenz, andererseits Zukunft, Wahrscheinliches und Einheitlichkeit miteinander identifizieren! Diese Vereinheitlichung, dieser Ausgleich vollzieht sich nicht nur in jedem Teilsystem, sondern träumt sich in einem wahrhaft universalen gesunden Menschenverstand von einem System zum anderen fort, d. h. in einem universalen Menschenverstand, der den Mond mit der Erde, das Gefühl des Absoluten mit dem Zustand der Teilwahrheiten verbindet. Aber diese Verbindung ist (wie Boltzmann zeigt) nicht legitim, sowenig diese Synthese der Zeit zureichend ist. Wir sind zumindest in der Lage, die Beziehungen zwischen gesundem Menschenverstand und Gemeinsinn zu präzisieren. Der Gemeinsinn definierte sich subjektiv durch die angenommene Identität eines Ich als Einheit und Grund aller Vermögen, objektiv durch die Identität des Objekts überhaupt, auf das sich alle Vermögen beziehen sollen. Aber diese doppelte Identität bleibt statisch. So wenig wir das universale Ich sind, so wenig stehen wir dem universalen Objekt überhaupt gegenüber. Die Objekte sind durch und in Individuationsfelder zerschnitten, ebenso das jeweilige Ich. Der Gemeinsinn mui3 sich also auf eine andere, dynamische Instanz hin überschreiten, die das Objekt überhaupt als dieses oder jenes zu bestimmen und das in eine derartige Objektmenge versetzte Ich zu individualisieren vermag. Diese andere Instanz
6 Ludwig Bokzmann:
Vorbungen über Gastheorie,
Bd. 2, Leipzig 1898, S. 256 ff.
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ist der gesunde Menschenverstand, der von einer Differenz am Ursprung der Individuation ausgeht. Gerade aber weil er deren Verteilung in der Weise gewährleistet, daf3 sie danach strebt, sich im Objekt aufzuheben; weil er eine Regel vorschreibt, derzufolge die verschiedenen Objekte selbst danach streben, sich anzugleichen - und die verschiedenen Ichs danach, sich zu vereinheitlichen -, überschreitet sich der gesunde Menschenverstand seinerseits auf die Instanz des Gemeinsinns hin, die ihm die Form des universalen Ichs wie des Objekts überhaupt verschafft. Der gesunde Menschenverstand besitzt also selbst zwei Definitionen, eine objektive und eine subjektive, die denen des Gemeinsinns entsprechen: Regel universaler Aufteilung, universal verteilte Regel. Gesunder Menschenverstand und Gemeinsinn, beide verweisen jeweils auf den anderen, beide reflektieren jeweils den anderen und bilden jeweils die Hälfte der Orthodoxie. In dieser Wechselseitigkeit, in dieser doppelten Reflexion können wir den Gemeinsinn durch den Prozeß der Rekognition und den gesunden Menschenverstand durch den Prozei3 der Voraussicht definieren. Den einen als die qualitative Synthese des Verschiedenen, als statische Synthese der qualitativen Verschiedenheit, die auf ein Objekt bezogen ist, das für alle Vermögen desselben Subjekts als identisch angenommen wird; den anderen als die quantitative Synthese der Differenz, als dynamische Synthese der Quantitätsdifferenz, die auf ein System bezogen ist, in dem sie sich objektiv und subjektiv tilgt. Jedenfalls ist die D‘ff 1 erenz nicht das Gegebene selbst, sondern das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Wie könnte das Denken vermeiden, bis dahin zu gehen, wie könnte es vermeiden zu denken, was sich am schärfsten dem Denken widersetzt? Denn mit dem Identischen denkt man zwar alle seine Kräfte, allerdings ohne den geringsten Gedanken zu haben; hat man nicht demgegenüber im Differenten den höchsten Gedanken, den man allerdings nicht denken kann? Dieser Einspruch des Differenten ist voll des Sinns. Selbst wenn die Differenz danach strebt, sich im Verschiedenen zu verteilen, um darin zu verschwinden, wenn sie danach strebt, dieses von ihr erzeugte Verschiedene zu vereinheitlichen, muß sie zunächst als das empfunden werden, wodurch das Verschiedene der Empfindung gegeben ist. Und sie muß als das gedacht werden, wodurch das Verschiedene erzeugt wird. (Nicht daß wir nun zum gemeinsamen Gebrauch der Vermögen zurückkehrten, sondern weil die dissoziierten Vermögen eben jenes Gewaltverhältnis eingehen, in das eines seinen Zwang jeweils auf das andere überträgt.) Am Grund des gesunden Menschenverstands befindet sich das Delirium, und darum ist der gesunde Menschenverstand stets sekundär. Das Denken muß die Differenz denken, jenes vom Denken absolut Differente, das dennoch zu denken aufgibt, ihm einen Gedanken verschafft. In einer sehr schönen Passage sagt Lalande, die Realität sei Differenz, während das Gesetz der Realität, als das Prinzip des Denkens, die Identifikation sei: ,,Die Realität steht also im Gegensatz- zum Gesetz der Realität, der aktuelle Stand im Gegensatz zu seinem Werden. Wie konnte ein derartiger Sachverhalt entstehen? Wie wird die physische Welt
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durch eine grundlegende Eigenschaft konstituiert, die durch ihre eigenen Gesetze fortwährend abgeschwächt wird?“‘. Das heißt also: Das Reale ist nicht das Ergebnis der Gesetze, die es beherrschen, und ein saturnischer Gott verschlingt an einem Ende, was er am anderen gemacht hat, erläf3t Gesetze gegen seine Schöpfung, da er gegen seine Gesetzgebung erschafft. Damit sind wir genötigt, die Differenz sowohl zu empfinden wie zu denken. Wir empfinden etwas, das den Gesetzen der Natur entgegengesetzt ist, wir denken etwas, das den Prinzipien des Denkens entgegensteht. Und selbst wenn die Hervorbringung der Differenz definitionsgern8 ,,nicht explizierbar” ist, wie läßt sich dennoch vermeiden, daß das Nicht-Explizierbare im Innern des Denkens selbst impliziert wird? Wie wäre das Undenkbare nicht im Zentrum des Denkens? Und das Delirium nicht im Zentrum des gesunden Menschenverstands? Wie könnte man sich damit begnügen, das Unwahrscheinliche an den Beginn einer Teilevolution zu verbannen, ohne es zugleich als höchste Macht der Vergangenheit, als das Unvordenkliehe im Gedächtnis zu begreifen? (Gerade in diesem Sinne stieß uns die Teilsynthese der Gegenwart bereits in eine andere Synthese der Zeit, des Unvordenklichen Gedächtnisses, die uns dann vielleicht noch tiefer hinabstürzt . . .) Die Philosophie manifestiert sich nicht im gesunden Menschenverstand, sondern im Paradox. Das Paradox ist Pathos oder Passion der Philosophie. Es gibt allerdings mehrere Arten von Paradox, die sich den komplementären Formen der Orthodoxie, dem gesunden Menschenverstand und dem Gemeinsinn, entgegenstellen. Subjektiv bricht das Paradox den gemeinsamen Gebrauch auf und führt jedes Vermögen an seine eigene Grenze, an sein Unvergleichbares, das Denken an das Undenkbare, das jedoch allein durch es gedacht werden kann, das Gedächtnis an das Vergessen, das zugleich sein Unvordenkliches ist, die Sinnlichkeit an das Unsinnliche, das mit seinem Intensiven verschmilzt.. . Zugleich aber überträgt das Paradox dieses Verhältnis, das nicht dem gesunden Menschverstand entspricht, auf die aufgebrochenen Vermögen und situiert sie auf einer vulkanischen Linie, die eines durch den Funken des anderen auflodern läßt, von einer Grenze zur anderen springend. Und objektiv macht das Paradox das Element geltend, das sich nicht in einem gemeinsamen Zusammenhang totalisieren läßt, aber auch die Differenz, die sich nicht in Richtung eines Gemeinsinns ausgleichen oder tilgen läßt. Zurecht sagt man, die einzige Widerlegung der Paradoxa liege im gesunden Menschenverstand und Gemeinsinn selbst; aber nur unter der Bedingung, daf3 man ihnen schon alles überträgt, die Rolle des Richters samt der der Partei, das Absolute samt der Halbwahrheit.
’ Andre Lalande: Les illusions hoZutionn&s, Paris 1930, S. 347-348. Und S. 378: ,,Die Hervorbuingungung der Differenz - eine Sache, die den allgemeinen Gesetzen des Denkens entgegensteht - ist, streng genommen, ~zbbt explizierbar.”
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Dafl die Differenz buchstäblich ,,nicht-explizierbar“ sei, ist kein Grund zur \rerwunderung. Die Differenz expliziert sich, sie strebt aber gerade danach, sich im System, in dem sie sich expliziert, zu tilgen. Was blof3 bedeutet, dai3 die Differenz wesentlich impliziert ist, daß das Sein der Differenz die Implikation ist. Sich explizieren heißt für sie, sich zu tilgen, die sie konstituierende Ungleichheit zu bannen. Die Formel ,,Explizieren heißt identifizieren“ stellt eine Tautologie dar. Aus ihr läßt sich nicht folgern, daß sich die Differenz tilgt, zumindest an sich tilgt. Sie tilgt sich, sofern sie außer sich gebracht wird, in die Ausdehnung und in die Qualität, die diese Ausdehnung ausfüllt. Diese Qualität wie diese Ausdehnung aber werden durch die Differenz geschaffen. Die Intensität expliziert sich, entfaltet sich in einer Extension (extensio). Durch diese Extension wird sie auf die Ausdehnung (extensum) bezogen, in der sie außerhalb ihrer selbst erscheint, verdeckt durch die Qualität. Die Intensitätsdifferenz tilgt sich in diesem System oder strebt danach, sich in ihm zu tilgen; sie aber ist es, die dieses System erschafft, indem sie sich expliziert. Daher der doppelte Aspekt der Qualität als Zeichen: Sie verweist auf eine implizierte Ordnung von konstitutiven Differenzen, und sie strebt danach, diese in der räumlichen Ordnung, durch die sie expliziert werden, zu tilgen. Darum findet auch die Kausalität in der Signalisierung zugleich einen Ursprung und eine Ausrichtung, eine Bestimmungsrichtung, wobei diese den Ursprung in gewisser Weise widerlegt. Und das Eigentümliche der Wirkung im kausalen Sinn liegt darin, einen ,,Effekt” in perzeptiver Hinsicht hervorzurufen und mit einem Eigennamen belegt werden zu können (Seebeck-Effekt, Kelvin-Effekt . . .), weil diese Wirkung in einem spezifisch differentiellen Individuationsfeld erscheint, das durch den Namen symbolisiert werden kann. Gerade das Schwinden der Differenz läßt sich nicht von einem ,,Effekt“ trennen, dessen Opfer wir sind. Als Intensität bleibt die Differenz an sich selbst impliziert, wenn sie sich durch ihre Explizierung in der Ausdehnung tilgt. Um das Universum vor dem Wärmetod zu retten oder die Aussichten der ewigen Wiederkunft zu wahren, ist es daher nicht nötig, sich höchst ,,unwahrscheinliche“ extensive Mechanismen vorzustellen, von denen man sich die Fähigkeit zur Wiederherstellung der Differenz verspricht. Denn die Differenz ist weiterhin an sich, ist weiterhin an sich impliziert, wenn sie sich aufierhalb ihrer selbst expliziert. Es gibt also nicht nur Sinnestäuschungen, sondern eine transzendentale physikalische Illusion. Wir glauben, daß in dieser Hinsicht Leon Selme eine grundlegende Entdeckung gemacht hatte*. Als er Garnot Clausius gegenüberstellte, wollte er zeigen, daß die Zunahme an Entropie trügerisch war. Er gab gewisse empirische oder kontingente Faktoren der Täuschung an: die relative Geringfügigkeit der in den thermischen Maschinen realisierten Temperaturdifferenzen, das große Ausmaß von Amortisierungen, das die Herstellung eines ,,thermischen Widders“ auszuschließen
’ Eon
Selme: Principe de Garnot contre formule empirique de Clausius, Paris 1917.
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scheint. Vor allem aber stellte er eine transzendentale Form der Illusion heraus: Von allen Extensionen ist die Entropie die einzige, die nicht direkt meßbar ist, sie ist nicht einmal indirekt durch ein von der Energetik unabhan@ges Verfahren mef3bar; wenn es sich ebenso mit dem Volumen oder der Elektrizitätsmenge verhielte, so wäre der Eindruck unabweisbar, daß sie in den irreversiblen Umwandlungen anwachsen würden. Das Paradox der Entropie ist folgendes: Die Entropie ist ein extensiver Faktor, im Unterschied aber zu allen anderen extensiven Faktoren ist sie eine Extension, eine ,,Explikation” , die als solche in der Intensität impliziert wird, nur als implizierte existiert, nicht außerhalb der Implikation existiert, und dies deswegen, weil sie als Ermögfichung der allgemeinen Bewegung fungiert, durch die sich das Implizierte expliziert oder Ausdehnung verschafft. Es gibt also eine transzendentale Illusion, die wesentlich an die qdita Wärme und an die Extension Entropie geknüpft ist. Es ist bemerkenswert, daß die Ausdehnung nicht den Individuationen Rechnung trägt, die sich in ihr ergeben. Sicher sind Oben und Unten, Rechts und Links, Form und Hintergrund individuierende Faktoren, die in der Ausdehnung Stürze und Aufstiege, Ströme, Einbrüche vorzeichnen. Ihr Wert ist allerdings nur relativ, da sie sich in einer bereits entfalteten Ausdehnung vollziehen. Daher entstammen sie auch einer ,,tieferen“ Instanz: der Tiefe selbst, die keine Extension, sondern reines implex ist. Sicher ist jede Tiefe eine mögliche Länge, eine mögliche Breite. Aber diese Möglichkeit verwirklicht sich nur, sofern ein Beobachter seinen Standort wechselt und in einem abstrakten Begriff zusammenfaßt, was Länge für ihn selbst und Länge für einen anderen ist: In Wirklichkeit ist es stets eine neue Tiefe, von der aus die frühere Tiefe L”ange geworden ist oder sich als Länge expliziert. Es macht offenbar keinen Unterschied, ob man eine einfache Ebene oder eine dreidimensionale Ausdehnung betrachtet, deren dritte Dimension homogen mit den beiden anderen ist. Sowie die Tiefe als extensive Quantität erfaßt ist, wird sie Teil der erzeugten Ausdehnung und enthält an sich nicht länger ihre eigeneHeterogenität im Verhältnis zu den beiden anderen. Dann stellen wir fest, da& sie die letzte Dimension der Ausdehnung ist, aber wir konstatieren dies nur als ein Faktum, ohne dessen Grund zu begreifen, da wir ja nicht mehr wissen, daß sie ursprünglich ist. Ebenso stellen wir dann die Präsenz individuierender Faktoren in der Ausdehnung fest, ohne allerdings zu begreifen, woher ihre Macht rührt, da wir nicht mehr wissen, daß sie die ursprüngliche Tiefe ausdrücken. Die Tiefe ist es, die sich in Links und Rechts in der ersten Dimension, in Oben und Unten in der zweiten, in Form und Hintergrund in der homogenisierten dritten ausdrückt. Die Ausdehnung erscheint nicht, entfaltet sich nicht, ohne eine linke und eine rechte Seite, ein Oben und ein Unten, eine Ober- und eine Unterseite vorzuführen, die gleichsam die asymmetrischen Markierungen ihres eigenen Ursprungs sind. Und die Relativität dieser Bestimmungen belegt noch das Absolute, dem sie entstammen. Die Ausdehnung insgesamt geht aus den Tiefen hervor. Die Tiefe als heterogene (letzte und
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ursprüngliche) Dimension ist die Matrix der Ausdehnung, einschließlich der dritten Dimension, die man als homogen mit den beiden anderen betrachtet. Insbesondere ist der Hintergrund uon@, wie er in einer homogenen Ausdehnung erscheint, eine Projektion des ,,Tiefen“ [~rofon~~: Dieses allein kann Ungrund [i.O.dt.] oder grundlos [&zns fand] genannt werden. Niemals würde das Gesetz von Form und Hintergrund für ein Objekt gelten, das sich von neutralem Grund oder vom Hintergrund anderer Objekte abhebt, wenn nicht das Objekt selbst zunächst einen Bezug zu seiner eigenen Tiefe unterhielte. Die Relation zwischen Form und Hintergrund ist nur eine äußerliche plane Relation, die eine innere und dichte Beziehung der Oberflächen zur Tiefe, die sie umhüllen, bedingt. Diese Synthese der Tiefe, die das Objekt mit seinem Schatten versieht, es aber aus diesem Schatten hervortreten läßt, bezeugt die fernste Vergangenheit wie die Koexistenz der Vergangenheit mit der Gegenwart. Man sollte sich nicht darüber wundern, daß die reinen räumlichen Synthesen hier die vorher bestimmten zeitlichen Synthesen aufgreifen: Die Explikation der Ausdehnung beruht auf der ersten Synthese, der Synthese der Gewohnheit oder der Gegenwart; die Implikation der Tiefe aber beruht auf der zweiten Synthese, auf der Synthese des Gedächtnisses und der Vergangenheit. Allerdings muß man in der Tiefe die Nähe und das Brodeln der dritten Synthese erahnen, die das universale ,,Zu-Grunde-Gehen“ [effondement] ankündigt. Die Tiefe entspricht der berühmten geologischen Linie von Nordost nach Südwest, jener Linie, die diagonal aus dem Innersten der Dinge stammt und die Vulkane verteilt, um eine brodelnde Sinnlichkeit mit einem Denken zu vereinen, das ,,in seinem Krater donnert”. Schelling wußte es auszusprechen: Die Tiefe tritt nicht von außen zur Länge und zur Breite hinzu, sondern bleibt vergraben als das erhabene Prinzip des Streits, der sie erschafft. Daß die Ausdehnung aus den Tiefen hervorgeht, ist nur möglich, wenn sich die Tiefe unabhängig von der Ausdehnung definieren läßt. Die Ausdehnung, deren Genese wir zu ermitteln versuchen, ist die extensive Größe, das extensum oder der Referenzterm aller extensiones. Demgegenüber ist die ursprüngliche Tiefe zwar der Raum insgesamt, allerdings als intensive Quantität: reines sputium. Wir wissen, daß Empfindung oder Wahrnehmung einen ontologischen Aspekt besitzen: eben in den Synthesen, die ihnen entsprechen, angesichts dessen, was nur empfunden, oder dessen, was nur wahrgenommen werden kann. Nun wird deutlich, daß die Tiefe in der Wahrnehmung der Ausdehnung wesentlich impliziert ist: Man beurteilt die Tiefe und die Entfernungen- nicht nach der erscheinenden Größe der Objekte, vielmehr schließt, im Gegenteil, die Tiefe in sich selbst die Entfernungen ein, die sich ihrerseits in den erscheinenden Größen explizieren und sich in der Ausdehnung entfalten. Ebenso wird deutlich, daß die Tiefe und die Entfernungen in diesem Status von Implikation grundlegend an die Intensität der Empfindung gebunden sind: Das Degradationsvermögen der empfundenen Intensität ist es, das eine Wahrnehmung der Tiefe verschafft (oder eher der Wahrnehmung Tiefe
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verleiht).. Die wahrgenommene Qualität setzt die Intensität voraus, weil sie nur ein Ahnlichkeitsmerkmal für einen ,,Schnitt isolierbarer Intensitäten“ ausdrückt, innerhalb dessen Grenzen sich ein beharrliches Objekt konstituiert das qualifizierte Objekt, das seine Identität über die variablen Distanzen hinweg behauptet’. Die Intensität, die die Entfernungen umhüllt, expliziert sich in der Ausdehnung, und die Ausdehnung entfaltet , entäußert oder homogenisiert diese Entfernungen selbst. Gleichzeitig wird diese Ausdehnung dur& eine Qualität besetzt, sei es als qUdlitd~, die das Medium eines Sinns definiert, sei es als qde, das ein entsprechendes Objekt in Verhältnis zu diesem Sinn kennzeichnet. Die Intensität ist zugleich das Unsinnliche wie das, was nur empfunden werden kann. Wie könnte sie für sich selbst empfunden werden, unabhängig von den Qualitäten, die sie verdecken, und unabhängig von der Ausdehnung, in der sie sich verteilt? Wie aber könnte sie anderes als ,,empfunden” sein, da sie es doch ist, die empfinden macht und die spezifische Grenze der Sinnlichkeit definiert? Die Tiefe ist zugleich das Nicht-Wahrnehmbare und das, was nur wahrgenommen werden kann (in diesem Sinne nennt Paliard sie bedingend und bedingt zugleich und belegt die Existenz eines umgekehrten Ergänzungsverhältnisses zwischen der Entfernung als ideeller Existenz und der Entfernung als visueller Existenz). Zwischen Intensität und Tiefe bahnt sich bereits die Seltsamste Allianz an, die Allianz des Seins mit sich in der Differenz, die jedes Vermögen an seine eigene Grenze heranführt und sie nur auf dem Gipfel ihrer jeweiligen Einsamkeit miteinander kommunizieren läßt. Im Sein sind Tiefe und Intensität das Selbe - das Selbe aber, das sich von der Differenz aussagt. Die Tiefe ist die Intensität des Seins, oder umgekehrt. Und aus dieser intensiven Tiefe, aus diesem spatium gehen zugleich die extensio und das extensum, die qzditas und das qude hervor. Die Vektoren, die vektoriel-
9 A. Zur Umhüllung oder ,,Implikation der Tiefe in der Wahrnehmung der Ausdehnung vgl. das allgemein so bedeutende und allzu verkannte Werk von Jacques Paliard. (Paliard analysiert die ImpZirt?dtionsforrnen und zeigt die Wesensdifferenz zwischen dem Denken, das er implizit nennt, und dem expliziten Denken. Insbesondere Pensee imphcite et perception visuelle, Paris 1949, S. 6: ,,Es gibt nicht nur ein umhülltes Implizites, sondern auch ein umhüllendes Implizites“; und S. 46: ,,Dieses implizite Wissen [. . .] ist uns zugleich als ein umhüllendes erschienen, wie die Tiefe oder die synthetische Affirmation eines sichtbaren Universums, und als ein umhülltes, wie die mannigfaltigen Anst&, durch die sich die Einzelheiten miteinander verschwören, die mannigfaltigen Entfernungsrelationen im Innern der Tiefe selbst [. . .].“) B. Zum intensiven Charakter der Wahrnehmung der Tiefe und zum Status der daraus sich ableitenden Qualität vgl. Maurice Pradines: Trait@ & Psychologie g&&-ale, Paris 1943, Bd. 1, S. 405-431 und 554-569. C. Und zum intensiven Raum und zu den räumlichen Operationen intensiven Charakters aus der Sicht der Aktivität vgl. Jean Piaget: Introduction 2 I’+i&nologie ghzktique, Paris 1949, Bd. 1, S. 75 ff. und Hoff.
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/en Gröflen, die die Ausdehnung durchmessen, aber auch die skalaren Großen als besondere Fälle von Vektorenpotentialen, sind der ewige Zeuge des intensiven Ursprungs: so etwa die Höhen. Die Tatsache, daß sie sich nicht in beliebiger Richtung addieren lassen oder daß sie sogar einen wesentlichen Bezug ZU einer sukzessiven Ordnung aufweisen, bringt uns zur Synthese der Zeit zurück, die sich in der Tiefe vollzieht. Kant definiert alle Anschauungen als extensive Quantitäten, d. h. derart, daß die Repräsentation” der Teile notwendig die Repräsentation des Ganzen ermöglicht und ihr vorangeht. Raum und Zeit aber präsentieren sich nicht, wie sie repräsentiert werden. Im Gegenteil, die Präsentation des Ganzen ist es, die die Möglichkeit der Teile begründet, da diese nur virtuell sind und sich nur in den bestimmten Werten der empirischen Anschauung aktualisieren. Extensiv ist die empirische Anschauung. Gerade an dem Punkt, an dem Kant dem Raum wie der Zeit eine logische Extension abspricht, liegt sein Fehler darin, ihm eine geometrische Extension zu bewahren und die intensive Qualität einer Materie vorzubehalten, die eine Ausdehnung bis zu diesem oder jenem Grad ausfüllt. In den enantiomorphen Körpern erkannte Kant exakt eine innere Differenz; da sie aber nicht begrifflich ist, konnte sie sich ihm zufolge nur auf eine äußere Relation zur Ausdehnung insgesamt als einer extensiven Größe beziehen. In Wirklichkeit besitzt das Paradox symmetrischer Objekte - wie all das, was die linke und die rechte Seite, Oben und Unten, Form und Hintergrund betrifft - eine intensive Quelle. Der Raum als reine Anschauung, spatium, ist intensive Quantität; und die Intensität als transzendentales Prinzip ist nicht bloß Antizipation der Wahrnehmung, sondern die Quelle einer vierfachen Genese, der Genese der extensiones als Schemata, der Ausdehnung als extensiver Größe, der qualitas als Materie, die die Ausdehnung besetzt, des quale als Objektbezeichnung. Daher hat Hermann Cohen recht, wenn er in seiner Neuinterpretation des Kantianismus dem Prinzip der intensiven Quantitäten einen vollgültigen Wert verleiht”. Wenn es stimmt, daß sich der Raum nicht auf den Begriff reduzieren läßt, so kann man deswegen nicht seine Verwandtschaft mit der Idee leugnen, d.h. seine Fähigkeit (als intensives spatium), die Aktualisierung der idealen Bindungen (als in der Idee enthaltener Differentialverhältnisse) in der Ausdehnung zu bestimmen. Und wenn es stimmt, daß sich die Bedin-
10 Frz. repre’sen tation, d. h. auch reprhentation und prbentation
,,Vorstellung”. Die folgende Gegenüberstellung von verweist auch auf die kantische Gegenüberstellung von ,,Vorstellung“ und ,,Darstellung“ [A.d.Ü.]. ” Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1918 (3) (Nachdruck in: Werke 1, Hildesheim, Zürich und New York 1987), S. 544ff. - Zur Rolle der intensiven Qualitäten in Cohens Interpretation des Kantianismus vgl. die Kommentare von Jules Vuillemin: L’hhitage kantien et la rkuolution copernicienne, Paris 1954, S. 183-202.
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gungen möglicher Erfahrung auf die Extension beziehen, so bestehen nichtsdestoweniger Bedingungen realer Erfahrung, die unterschwellig mit der Intensität als solcher verschmelzen.
Die Intensität hat drei Merkmale. Einem ersten Merkmal zufolge umfaßt die intensive Quantität das Ungleiche an sich. Sie repräsentiert die Differenz in der Quantität, sie repräsentiert, was es an Unaufhebbarem in der Quantitätsdifferenz, an Unausgleichbarem in der Quantität selbst gibt: Sie ist also die eigentliche Qualität der Quantität. Sie erscheint weniger als eine Art der Gattung Quantität denn als die Figur eines grundlegenden oder ursprünglichen Moments, das in jeder Quantität gegenwärtig ist. Und das bedeutet, daß die extensive Quantität auf der anderen Seite die Figur eines anderen Moments ist, das eher die quantitative Bestimmungsrichtung oder Finalität (in einem numerischen Teilsystem) markiert. In der Geschichte der Zahl sieht man deutlich, d aß je . der systematische Typus auf einer wesentlichen Ungleichheit aufgebaut ist und diese Ungleichheit im Verhältnis zum untergeordneten Typus aufrechterhält: So nimmt der Bruch die Unmöglichkeit in sich auf, das Verhältnis zweier Größen einer ganzen Zahl anzugleichen, drückt die irrationale Zahl ihrerseits die Unmöglichkeit aus, für zwei Größen einen gemeinsamen aliquoten Teil zu bestimmen und folglich ihr Verhältnis noch einer Bruchzahl anzugleichen usw. Freilich bleibt kein Zahlentyp in seinem Wesen auf eine Ungleichheit verpflichtet, ohne sie in der neuen von ihm errichteten Ordnung zu bannen oder zu tilgen: Die Bruchzahl kompensiert ihre charakteristische Ungleichheit durch die Gleichheit d e s aliquoten Teils; die irrationale Zahl ordnet ihre Ungleichheit einer Gleichheit rein geometrischer Verhältnisse unter, oder besser, in arithmetischer Hinsic ht: einem Grenzwert an Gleichheit, der durch eine konvergierende Reihe rationaler Zahlen markiert wird. Hier aber stoßen wir bloß wieder auf die Dualität der Explikation und des Impliziten, der Ausdehnung und des Intensiven; wenn nämlich die Zahl ihre Differenz tilgt, so nur durch deren Explizierung in der von ihr eingeführten Extension. Sie bewahrt sie aber an sich in der implizierten Ordnung, durch die sie selbst begründet wird. Jede Zahl ist ursprünglich intensiv, vektoriell, sofern sie eine strenggenommen untilgbare Quantitätsdifferenz impliziert; sie ist aber extensiv und skalar, sofern sie diese Differenz auf einer anderen von ihr geschaffenen Ebene, in der sie sich expliziert, tilgt. Noch der einfachste Zahlentyp bestätigt diese Dualität: Die natürliche Zahl ist zunächst Ordnungszahl d.h. ursprünglich intensiv. Daraus resultiert die Kardinalzahl und präsentiert sich als Explikation der Ordnungszahl. Man erhebt oft den Einwand, daß das
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Ordnen nicht am Ursprung der Zahl stehen könne, weil sie bereits kardinale Operationen von Kolligation impliziere. Das aber deshalb, weil man die Formel nicht richtig versteht: Die Kardinalzahl resultiert aus der Ordnungszahl. Das Ordnen setzt keineswegs die Wiederholung ein und derselben Einheit voraus, die sich immer dann ,,kardinalisieren“ müßte, wenn man zur nächsten Ordnungszahl gelangt. Die ordinale Konstruktion impliziert nicht eine als dieselbe vorausgesetzte Einheit, sondern nur, wie wir sehen werden, einen irreduziblen Begriff von Entfernung - Entfernungen, die in der Tiefe eines intensiven spatium impliziert werden (geordnete Differenzen). Die identische Einheit wird nicht durch das Ordnen vorausgesetzt; im Gegenteil, sie kommt der Kardinalzahl zu. und bedingt in der Kardinalzahl eine extensive Gleichheit, eine relative Aquivalenz von exteriorisierten Termen. Man muß sich also davor hüten zu glauben, die Kardinalzahl resultiere analytisch aus der Ordnungszahl oder aus jedem letzten Term einer endlichen ordinalen Reihe (der vorangehende Einwand wäre dann begründet). In Wirklichkeit wird die Ordnungszahl Kardinalzahl nur durch Extension, insofern sich die im spatium eingehüllten Entfernungen explizieren oder entfalten und sich in einer Ausdehnung angleichen, die durch die natürliche Zahl eingeführt wird. Und das heißt, daß der Begriff der Zahl von Anfang an synthetisch ist. Die Intensität ist das Untilgbare in der Quantitätsdifferenz, diese Quantitätsdifferenz aber tilgt sich in der Extension, wobei Extension eben der Prozeß ist, durch den die intensive Differenz aus sich herausgetrieben und derart verteilt wird, daß sie in der von ihr geschaffenen Ausdehnung gebannt, kompensiert, ausgeglichen, aufgehoben ist. Wieviele Operationen aber sind notwendig und müssen in diesen Prozeß eingreifen ! Eine wunderbare Passage aus dem Timaios stellt das Teilbare und das Unteilbare einander gegenüber12. Wesentlich ist, daß das Teilbare als das definiert wird, was an sich das Ungleiche enthält, während das Unteilbare (das Selbe oder das Eine) ihm eine Gleichheit aufzuzwingen versucht, die es gefügig machen soll. Nun beginnt der Gott, eine Mischung aus beiden Elementen herzustellen. Weil aber eben B, das Teilbare, sich der Mischung entzieht und seine Ungleichheit, seine Ungeradheit geltend macht, erhält der Gott nur: A + B/2 = C. So daß er eine zweite Mischung herstellen muß: A + B/2 + C, das heißt: A + B/2 + (A + B/2). Da aber auch diese Mischung noch widerspenstig ist, muß er deren Aufruhr bannen: Er teilt sie gemäß zweier arithmetischer Reihen auf, die eine mit der Differenz 2, die auf das Element A verweist (1, 2, 4, S), die andere mit der Differenz 3, die auf C verweist und die Ungeradheit von B respektiert (1, 3, 9, 27). Damit steht der Gott nun Intervallen gegenüber, Entfernungen, die überbrückt werden müssen: Er tut dies mit zwei Mittelgliedern, von denen das
12 Platon: Timaios, 35-37.
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eine arithmetisch (A entsprechend), das andere harmonisch (C entsprechend) ist. Daraus ergeben sich Verhältnisse und Verhältnisse zwischen diesen Verhältnissen, die über die gesamte Mischung hinweg die Aufgabe verfolgen, das Ungleiche im Teilbaren einzukreisen. Allerdings muß der Gott das Ganze in zwei Teile spalten, beide überkreuzen, dann zu zwei Kreisen umbiegen, von denen der äußere das Gleiche als Bewegung des Selben umfaßt und der andere, der innere, an einer Diagonalen ausgerichtet, dasjenige einbehält, was an Ungleichheit im Teilbaren fortbesteht, indem es auf sekundäre Kreise verteilt wird. Zuletzt hat der Gott nicht das Ungleiche an sich besiegt; er hat ihm nur das Teilbare entrissen, hat es nur mit einem Kreis von Exteriorität umgeben, xtiizhoc E&&EY. Er hat das Teilbare in der Extension ausgeglichen, unter dieser Extension aber, die die der Weltseele ist, in der tiefsten Tiefe des Teilbaren, rumort noch das Ungleiche in der Intensität. Dem Gott ist das egal; denn er füllt jede Extension der Seele mit der Ausdehnung der Körper und ihren Qualitäten. Er überdeckt alles. Er tanzt aber auf einem Vulkan. Nie hat man soviele Operationen, die verschiedensten und wahnwitzigsten, aufgebracht, um aus den Tiefen eines intensiven spatium eine heitere und gefügige Ausdehnung zu gewinnen und eine Differenz zu bannen, die an sich fortbesteht, selbst wenn sie sich außerhalb ihrer selbst tilgt. Immer wird das Werk des Gottes durch die dritte Hypothese des Parmenides, die Hypothese des differentiellen oder intensiven Augenblicks, bedroht. Ein zweites Merkmal ergibt sich aus dem ersten: Da sie das Ungleiche an sich enthält und bereits Differenz an sich ist, bejaht die Intensität die Differenz. Sie macht aus der Differenz einen Gegenstand von Bejahung. Curie bemerkte, daß es bequem aber fatal wäre, von der Asymmetrie in negativen Begriffen - als Mangel an Symmetrie - zu sprechen, ohne positive Ausdrücke zu erfinden, die die Unendlichkeit der Operationen von Nicht-Überdeckung zu bezeichnen vermögen. Dasselbe gilt für die Ungleichheit: durch Ungleichungen entdeckt man die affirmative Formel der irrationalen Zahl (für die ganzen Zahlen p und 4 wird jede Zahl (p - &2 stets einen gewissen Wert überschreiten). Durch Ungleichungen auch weist man positiv die Konvergenz einer Reihe nach (die Majorantenfunktion). Das für eine negationslose Mathematik so wichtige Unternehmen gründet sich offenkundig nicht auf die Identität, die im Gegenteil das Negative im ausgeschlossenen Dritten und in der Widerspruchslosigkeit bestimmt. Es beruht axiomatisch auf einer affirmativen Definition der Ungleichheit (#) für zwei natürliche Zahlen und, in den anderen Fällen, auf einer positiven Definition der Entfernung (##), die drei Terme in einer unendlichen Folge von affirmativen Relationen ins Spiel bringt. Man braucht nur die formale Differenz zwischen den beiden folgenden Sätzen zu betrachten: ,,wenn a # b unmöglich ist, erhält man a = b“ und ,,wenn a entfernt ist von jeder Zahl c, die entfernt ist von b, erhält man a = b“ - um bereits die logische Macht einer Bejahung von Entfernungen im reinen Element der positiven Differenz zu
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erahnen3. Aber wir werden sehen, daß die auf diese Weise gefaßte Entfernung keineswegs eine extensive Größe ist und auf ihren intensiven Ursprung bezogen werden muß. Weil die Intensität bereits Differenz ist, verweist sie auf eine Folge von anderen Differenzen, die sie bejaht, indem sie sich bejaht. Allgemein läßt sich feststellen, daß es keine Nullquotienten von Frequenzen, kein wirkliches Nullpotential, keinen absoluten Nulldruck gibt; wie nach einer Regel logarithmischer Graduierung steht die Null in Richtung des Unendlichen von immer kleineren Brüchen. Und man muß noch weiter gehen, auf die Gefahr hin, einer ,,Ethik“ der intensiven Quantitäten zu verfallen. Errichtet auf zumindest zwei Reihen, einer höheren und einer niedrigeren, wobei jede Reihe ihrerseits auf andere implizierte Reihen verweist, affirmiert die Intensität noch das Unterste, sie macht das Unterste zum Gegenstand der Bejahung. Es ist die Macht einer Kaskade oder eines tiefen Falls nötig, um bis dahin zu gelangen, um aus der Degradation selbst eine Affirmation zu machen. Alles ist Adlerflug, alles ist Überhang, Schwebe und Abstieg. Alles geschieht von oben nach unten und bejaht durch diese Bewegung das Unterste - asymmetrische Synthese. Oben und Unten sind im Übrigen nur Redeweisen. Es geht um die Tiefe und die Untiefe, die ihr wesentlich zugehört. Keine Tiefe, die nicht eine Untiefe ,,durchwühlen“ würde: An dieser Stelle entwickelt sich die Entfernung, die Entfernung aber als Bejahung dessen, was durch sie voneinander entfernt wird, die Differenz als Sublimierung des Unteren. Wann taucht das Negative auf? Die Negation ist das umgekehrte Bild der Differenz, d.h. das von unten gesehene Bild der Intensität. Denn alles verkehrt sich. Was von oben Affirmation der Differenz ist, wird unten Negation dessen, was differiert. Auch hier erscheint also das Negative nur zusammen mit der Ausdehnung und der Qualität. Wir haben gesehen, daß die erste Dimension der Ausdehnung Beschränkungsmacht, die zweite Dimension Gegensatzmacht war. Und diese beiden Figuren des Negativen liegen im
13 G. F. C. Griss ist es, der im Rahmen des Brouwerschen Intuitionismus die Idee einer negationslosen Mathematik begründete und entwickelte: Logique des mathb matiques intuitionnistes sans negdtion, in: Comptes Rendus de 1’Academie des Sciences, 8. Nov. 1948; Sur la nkgation, in: Synthese (Amsterdam), 1948/1949. Zum Begriff des Abstands, der Entfernung und der positiven Differenz nach Griss vgl. A. Heyting: Mathematische Grundlagenforschung, Intuitionismus, Beweistheorie, Berlin 1934; Paulette Fevrier: Manifestations et Sens de la notion de complhentaritk, in: Dialectica 2, 1948, S. 383-412; und vor allem Nicole Dequoy: Axiomatique intuitionniste sans nbgation de la geometrie projective, Paris und Louvin 1955, die zahlreiche Beweisbeispiele von Griss im Gegensatz zu den negationshaltigen Beweisen anführt. Die Grenzen dieser Mathematik, wie sie von Fevrier gekennzeichnet werden, scheinen uns nicht vom Entfernungs- oder Differenzbegriff selbst herzurühren, sondern ausschließlich von der Theorie der Probleme, die Griss daran anknüpft (s. o. Kap. 3).
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konservativen“ Charakter der Extensionen begründet (man kann nicht eine Extension in einem System anwachsen lassen, ohne die Extension gleicher Natur des korrelierten Systems zu vermindern). Die Qualität ihrerseits scheint untrennbar mit dem Gegensatz verbunden zu sein: als kontradiktorischer Gegensatz, wie Platon es aufgezeigt hat, und zwar insofern, als jede Qualität die Identität des ,,mehr“ und des ,,weniger“ in den von ihr isolierten Intensitäten setzt; als konträrer Gegensatz in der paarweisen Verteilung der Qualitäten selbst. Und wenn die Kontrarietät abgeht, wie im Falle der Gerüche, so tritt an deren Stelle ein Spiel von Beschränkungen in einer Reihe von anwachsenden oder abnehmenden Ähnlichkeiten. Mit Sicherheit ist übrigens die Ähnlichkeit das Gesetz der Qualität, wie die Gleichheit das Gesetz der Ausdehnung (oder die Invarianz das der Extension) ist: dadurch sind Ausdehnung und Qualität die beiden Formen der Allgemeinheit. Gerade dies aber genügt, um aus ihnen die Elemente der Repräsentation zu machen, ohne die die Repräsentation selbst nicht ihre intimste Aufgabe erfüllen könnte, nämlich die Differenz auf das Identische zu beziehen. Den beiden Gründen, die wir zuvor bestimmt haben, um die Illusion des Negativen zu verdeutlichen, können wir folglich einen dritten hinzufügen. Die Differenz ist nicht die Negation, vielmehr ist das Negative umgekehrte Differenz, von der kleinen Seite aus gesehen. Noch immer die Kerze im Ochsenauge. Die Differenz wird zunächst durch die Erfordernisse der Repräsentation verkehrt, die sie der Identität unterordnet. Sodann durch den Schatten der ,,Probleme“, der die Ill usion des Negativen hervorruft. Schließlich durch die Ausdehnung und die Qualität, die nun die Intensität verdecken oder explizieren. Unter der Qualität und in der Ausdehnung erscheint die Intensität auf den Kopf gestellt, und ihre charakteristische Differenz nimmt dabei die Gestalt des Negativen (von Beschränkung oder Gegensatz) an. Die Differenz macht ihr Schicksal nur in der Ausdehnung und unter der Qualität vom Negativen abhängig, die es auf ihre Tilgung abgesehen haben. Immer wenn wir uns vor qualifizierten Gegensätzen und in einer Ausdehnung befinden, in der sie sich verteilen, dürfen wir zwecks ihrer Auflösung nicht auf eine extensive Synthese zählen, durch die sie überwunden würden. Im Gegenteil, gerade in der intensiven Tiefe leben die konstitutiven Disparitäten, die umhüllten Entfernungen, die an der Quelle der Illusion des Negativen sind, aber zugleich das Aufdeckungsprinzip dieser Illusion darstellen. Einzig die Tiefe löst auf, weil einzig die Differenz Probleme macht. Nicht die Synthese des jeweils Differenten führt uns zu dessen Versöhnung in der Ausdehnung (Pseudo-Affirmation), es ist vielmehr die Differenzierung seiner Differenz, die das jeweils Differente als Intensität bejaht. Die Gegensätze sind stets plan; sie drücken die verfälschte Wirkung einer ursprünglichen Tiefe nur in einer Ebene aus. Man hat dies oft an den stereoskopischen Bildern bemerkt; und noch allgemeiner verweist jedes Kräftefeld auf eine potentielle Energie, verweist jeder Gegensatz auf eine tieferliegende ,,Disparation “, sind die Gegensätze in der Zeit und im Raum nur lösbar, wenn das Disparate zunächst seinen
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Kommunikationszusammenhang in der Tiefe erfunden und jene Dimension wiederentdeckt hat, in die es sich einhüllt, und dabei die intensiven Bahnen vorzeichnet, die in der späteren Welt der qualifizierten Ausdehnung kaum -Niedererkennbar sind14. Welches ist das Sein des Sinnlichen? Den Bedingungen dieser Frage zufolge muß die Antwort die Paradoxale Existenz eines ,,Etwas“ bezeichnen, das zugleich nicht empfunden (vom Standpunkt des empirischen Gebrauchs) und nur empfunden (vom Standpunkt des transzendenten Gebrauchs) werden kann. Im Text des siebenten Buchs der Politeia zeigte Platon, wie ein derartiges Sein die Kraftprobe auf die anderen Vermögen übertrug, sie aus ihrer Starre riß, das Gedächtnis aufrüttelte und das Denken nötigte. Aber dieses Sein bestimmte Platon folgendermaßen: als das gleichzeitig Konträr-Sinnliche. Platon will sagen, wie es PMebos ausdrücklich zeigt, daß eine sinnliche Qualität oder Beziehung an sich selbst nicht von einer Kontrarietät oder gar Kontradiktion im Subjekt, dem man sie zuschreibt, zu trennen ist. Da jede Qualität ein Werden ist, wird man nicht ,,härter” (oder größer), als man war, ohne dadurch auch gleichzeitig ,,weicher“ zu werden, als man gerade wird (oder kleiner, als man ist). Wir kommen damit nicht zu Rande, indem wir die Zeitpunkte unterscheiden; denn die Unterscheidung der Zeitpunkte erfolgt später als das Werden, das eins ins andere setzt oder gleichzeitig mit der Bewegung, durch die sich die neue Gegenwart konstituiert, diejenige Bewegung vorführt, durch die sich die frühere Gegenwart als Vergangenheit konstituiert. Es scheint, als könne man einem Verrücktwerden, einem unbegrenzten Werden nicht entkommen, das die Identität der konträren Entgegensetzungen als Koexistenz des mehr und des weniger in der Qualität impliziert. Aber die platonische Antwort besitzt große Nachteile: In Wirklichkeit beruht sie bereits auf den intensiven Quantitäten, aber sie erkennt diese nur in den sich entfaltenden Qualitäten - und darum legt sie das Sein des Sinnlichen als Kontrarietät in der Qualität fest. Aber das Konträr-Sinnliche oder die Kontrarietät in der Qualität vermögen das sinnliche Sein schlechthin zu konstituieren, sie konstituieren in keiner Weise das Sein des Sinnlichen. Die Differenz in der Intensität, und nicht die Kontrarietät in der Qualität, konstituiert das Sein ,,des“ Sinnlichen. Die qualitative Kontrarietät ist nur die Reflexion des Intensiven, eine Reflexion, die es entstellt, indem sie es in der Ausdehnung expliziert. Die Intensität, die Differenz in der Intensität ist es, die die eigentliche Grenze der Sinnlichkeit bildet. Daher besitzt sie den paradoxen Charakter dieser Grenze: Sie ist das Unsinnliche, das, was nicht empfunden werden kann, weil es stets von einer Qualität verdeckt wird, die sie entfremdet und ihr 14 Zur Tiefe, zu den stereoskopischen Bildern und der ,,Auflösung der Antinomien“ vgl. Raymond Ruyer: Le relief axiologique et le sentiment de la profondeur, in: Revue de metaphysique et de morale, Juli 1956. Und zum Primat der ,,Disparation“ im Verhältnis zum Gegensatz vgl. Gilbert Simondons Kritik an Lewins ,,hodologischem Raum”: L’individu et sa genese physico-biologique, Paris 1964, S. 232-234.
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,,entgegenwirkt“ [contrarie], weil sie in einer Ausdehnung verteilt ist, die sie verkehrt und tilgt. Auf andere Weise aber ist sie das, was nur empfunden werden kann und den transzendenten Gebrauch der Sinnlichkeit definiert, da sie empfinden macht und damit das Gedächtnis wachrüttelt und das Denken erzwingt. Die Erfassung der Intensität unabhängig von der Ausdehnung oder vor der Qualität, in denen sie sich entfaltet - dies ist der Gegenstand einer Distorsion der Sinne. Eine Pädagogik der Sinne hat sich diesem Zweck zugewandt und ist integrierender Bestandteil des ,,Tranzendentalismus“. Pharmakodynamische oder physische Erfahrungen wie die des Schwindelgefühls nähern sich dem an: Sie offenbaren uns jene Differenz an sich, jene Tiefe an sich, jene Intensität an sich im ursprünglichen Moment, an dem sie nicht mehr qualifiziert ist oder Ausdehnung besitzt. Der erschütternde Charakter der Intensität, so schwach ihr Grad auch sein mag, gibt ihr damit ihren wahren Sinn zurück: nicht Antizipation der Wahrnehmung, sondern eigentliche Grenze der Sinnlichkeit unter dem Gesichtspunkt eines transzendenten Gebrauchs. Einem dritten Merkmal zufolge, das die beiden anderen zusammenfaßt, ist die Intensität eine implizierte, umhüllte, ,, embryonierte“ Quantität. Nicht in der Qualität impliziert. Dies ist sie nur sekundär. Zunächst ist sie an sich selbst impliziert: implizierend und impliziert. Wir müssen die Implikation als eine vollständig bestimmte Seinsform begreifen. In der Intensität nennen wir Differenz, was real implizierend, umhüllend ist; Entfernung nennen wir, was real impliziert oder umhüllt ist. Darum ist die Intensität weder teilbar wie die extensive Quantität, noch unteilbar wie die Qualität. Die Teilbarkeit der extensiven Quantitäten definiert sich: durch die auf eine Einheit bezogene Bestimmung (wobei diese Einheit selbst niemals unteilbar ist, sondern nur die Ebene markiert, an der man die Teilung anhält); durch die Äquivalenz der durch die Einheit bestimmten Teile; durch die Kosubstanzialität dieser Teile mit dem Ganzen, das geteilt wird. Die Teilung kann sich also vollziehen und fortsetzen, ohne daß sich irgendetwas in der Natur des Geteilten ändert. Im Gegenteil, wenn man feststellt, daß eine Temperatur nicht aus Temperaturen, eine Geschwindigkeit nicht aus Geschwindigkeiten zusammengesetzt ist, SO meint man, daß jede Temperatur bereits Differenz ist und daß sich die Differenzen nicht aus Differenzen derselben Ordnung zusammensetzen, sondern Reihen heterogener Terme implizieren. Wie Rosny zeigte, verflüchtigt sich die Fiktion einer homogenen Quantität in der Intensität. Eine intensive Quantität teilt sich, aber sie teilt sich-nicht, ohne sich in ihrer Natur zu verandern. In gewissem Sinne ist sie also unteilbar, dies aber nur, weil kein Teil vor der Teilung existiert und keiner dieselbe Natur bewahrt, während er sich teiltMan muß dagegen von ,,kl einer” und ,,größer“ sprechen: je nach dem eben, ob die Natur eines derartigen Teils eine derartige Wesensveränderung bedingt oder von ihr bedingt wird. Damit definieren Beschleunigung oder Verzögerung einer Bewegung in ihr intensive Teile, die man größer oder kleiner nennen muß, während sie sich zugleich ihrer Natur nach und gemäß der
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Ordnung dieser Veränderungen (geordnete Differenzen) verändern. In diesem Sinne setzt sich die Differenz in der Tiefe aus Entfernungen zusammen, wobei die ,,Entfernung“ keineswegs eine extensive Quantität ist, sondern eine unteilbare asymmetrische Relation ordinalen und intensiven Charakters, die sich zwischen Reihen heterogener Terme herstellt und jedesmal die Natur dessen ausdrückt, was sich nicht teilt, ohne sich in seiner Natur zu verändern? Im Gegensatz zu den extensiven Quantitäten definieren sich also die intensiven Quantitäten durch die umhüllende Differenz - die umhüllten Entfernungen und das Ungleiche an sich, das einen natürlichen ,,Rest“ als Stoff der Wesensveränderung belegt. Wir müssen demzufolge zwei Typen von Mannigfaltigkeiten wie die Entfernungen und die Längen auseinanderhalten: die impliziten und die expliziten Mannigfaltigkeiten, diejenigen, deren Metrik mit der Teilung variiert, und diejenigen, die das invariable Prinzip ihrer Metrik tragen. Differenz, Entfernung, Ungleichheit - das sind die positiven Merkmale der Tiefe als intensives spatium. Und die Bewegung der Explikation ist diejenige, durch die die Differenz danach strebt, sich zu tilgen, durch die aber auch die Entfernungen danach streben, sich Ausdehnung zu verschaffen und sich in Längen zu entfalten, durch die das Teilbare danach strebt, sich auszugleichen. (Wiederum die Größe Platons, der gesehen hat, daß das Teilbare eine Natur an sich nur durch Einbeziehung des Ungleichen bildet.) Man könnte uns vorwerfen, daß wir alle Wesensdifferenzen in die Intensität verfrachtet und diese so mit all dem geschwängert haben, was normalerweise der Qualität zukommt. Aber dasselbe bei den Entfernungen: daß wir sie mit dem befrachtet haben, was normalerweise den extensiven Quantitäten zukommt. Diese Vorwürfe scheinen uns unbegründet zu sein. Es stimmt zwar, daß die Differenz, indem sie sich in der Extension entfaltet, bloße graduelle Differenz wird und ihren Grund nicht mehr in sich selbst hat. Es stimmt zwar, daß die Qualität dann von diesem entfremdeten Grund profitiert und die Wesensdifferenzen übernimmt. Die Unterscheidung zwischen beiden aber - wie die Unterscheidung zwischen Mechanismus und ,,Qualitativismus“ beruht auf einem Taschenspielertrick: Das eine profitiert davon, was im anderen verschwunden ist, die wahre Differenz aber kommt keinem von beiden zu. Die Differenz wird qualitativ nur in dem Prozeß, in dem sie sich in 15 Alois Meinong (über die Bedeutung des Weberschen Gesetzes, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11, 1896) und Bertrand Russe11 (The principles of m a t h e m a t i c s , 1903, Kap. 3) haben die Unterscheidung zwischen Längen oder Extensionen und Differenzen oder Entfernungen deutlich markiert. Die einen sind extensive Quantitäten, in gleiche Teile teilbar; die anderen sind Quantitäten intensiven Ursprungs, relativ unteilbar, d.h. sie teilen sich nicht, ohne sich in ihrer Natur zu verändern. Als erster begründete Leibniz die Theorie der Entfernungen, indem er diese an das spatium band und sie den Größen der extensio gegenüberstellte; vgl. Martial Gueroult: Espace, point et vide chez Leibniz, in: Revue de metaphysique et de morale, 1946.
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der Extension tilgt. In ihrer Natur selbst ist sie sowenig qualitativ wie extensiv. Halten wir zunächst fest, daß die Qualitäten sehr viel mehr Stabilität, Unbeweglichkeit und Allgemeinheit besitzen, als man zuweilen sagt. Sie sind Ordnungen von Ähnlichkeit. Sicher differieren . sie, differieren wesentlich, stets aber in einer angenommenen Ordnung von Ähnlichkeit. Und ihre Variationen in der Ähnlichkeit verweisen eben auf Variationen ganz anderer Art. Sicherlich, eine qualitative Differenz reproduziert oder artikuliert nicht eine Intensitätsdifferenz. Aber im Übergang von einer Qualität zu einer anderen gibt es, selbst bei einem Maximum von Ähnlichkeit oder Kontinuität, Verschiebungsund Stufenphänomene, Differenzschocks, Entfernungen, ein ganzes Spiel von Konjunktionen und Disjunktionen, eine regelrechte Tiefe, die eher eine Skala denn eine spezifisch qualitative Dauer bildet. Und die Dauer, die man der Qualität zuschreibt, was wäre sie anderes als ein Wettlauf ins Grab, welche andere Zeit hätte sie als diejenige, die zur Vernichtung der Differenz in der entsprechenden Ausdehnung, zur Vereinheitlichung der Qualitäten untereinander nötig ist, wenn sie nicht durch die Intensität gespannt, gestärkt und wiederaufgenommen würde? Kurz, es gäbe niemals qualitative oder Wesensdifferenzen und ebensowenig quantitative oder graduelle Differenzen, wenn nicht die Intensität bestünde, die die einen in der Qualität, die anderen in der Ausdehnung zu konstituieren vermag, auch wenn es den Anschein hat, daß sie in den einen wie den anderen erlischt. Darum scheint die Bergsonsche Kritik der Intensität wenig überzeugend zu sein. Sie gibt sich fertige Qualitäten und bereits gebildete Ausdehnungen vor. Sie teilt die Differenz in Wesensdifferenzen in der Qualität und graduelle Differenzen in der Ausdehnung auf. Zwangsläufig erscheint die Differenz von diesem Standpunkt aus nurmehr als unreines Gemisch; sie ist nicht mehr sinnlich oder wahrnehmbar. Auf diese Weise aber hat Bergson bereits all das in die Qualität verlegt, was den intensiven Quantitäten zukommt. Er wollte die Qualität von der oberflächlichen Bewegung befreien, die sie an die Kontrarietät oder an den Widerspruch bindet (weswegen er die Dauer dem Werden gegenüberstellte); aber er konnte dies nur tun, indem er der Qualität eine Tiefe zuschrieb, die eben die der intensiven Quantität ist. Man kann nicht gleichzeitig das Negative und die Intensität ablehnen. Es überrascht, daß Bergson die qualitative Dauer ganz und gar nicht als Unteilbares, sondern als das definiert, was sich in seiner Natur verändert, wenn es sich teilt, was sich fortwährend teilt, indem es sich in seiner Natur verändert: eine virtuelle Mannigfaltigkeit, sagt er, im Gegensatz zur aktuellen Mannigfaltigkeit der Zahl und der Ausdehnung, die nur graduelle Differenzen einbehalten. Nun kommt in dieser Philosophie der Differenz, wie sie der Bergsonismus insgesamt vorstellt, der Augenblick, an dem Bergson nach der doppelten Genese der Qualität und der Ausdehnung fragt. Und diese grundlegende Differenzierung (Qualität/Ausdehnung) kann ihren Grund nur in einer großen Synthese des Gedächtnisses finden, die alle Grade von Differenz als Grade von Entspannung und Kontraktion koexistieren läßt und im Innern der Dauer die implizierte Ordnung
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jener Intensität wiederentdeckt, die nur von außen und vorläufig verworfen worden war? Denn die graduellen Differenzen und die Ausdehnung, die sie mechanisch repräsentiert, haben ihren Grund nicht in sich selbst; ebensowenig aber die Wesensdifferenzen und die Dauer, die sie qualitativ repräsentiert. Die Seele des Mechanismus sagt: Jede Differenz ist graduell. Die Seele der Qualität antwortet: Überall gibt es Wesensdifferenzen. Dies aber sind falsche Seelen, Komparsenseelen, Komplizenseelen. Nehmen wir die berühmte Frage ernst: Besteht eine Wesens- oder eine Graddifferenz zwischen den graduellen Differenzen und den Wesensdifferenzen? Weder das eine noch das andere. Die Differenz ist graduell nur in der Ausdehnung, in der sie sich expliziert; sie ist wesentlich nur unter der Qualität, durch die sie in dieser Ausdehnung verdeckt wird. Zwischen den beiden gibt es alle Grade der Differenz, unter allen beiden gibt es das ganze Wesen der Differenz: das Intensive. Die graduellen Differenzen sind nur der niedrigste Grad der Differenz, und die Wesensdifferenzen @;ff erences de nature] sind das höchste Wesen [nature] der Differenz. Was die Wesens- und die Graddifferenzen sondern oder differenzieren, ist genau das, woraus die Grade oder das Wesen der Differenz das Selbe machen, das Selbe aber, das sich vom Differenten aussagt. Und Bergson ging, wie wir gesehen haben, bis zu jener äußersten Schlußfolgerung: Die Identität des Wesens und der Grade der Differenz, jenes ,,Selbe“ - vielleicht ist dies die Wiederholung (ontologische Wiederholung) . . . Es gibt eine Ill usion, die an die quantitativen Intensitäten geknüpft ist. Die Illusion ist aber nicht die Intensität selbst; sie ist eher die Bewegung, mit der sich die Intensitätsdifferenz tilgt. Nicht daß sie sich scheinbar tilgt. Sie tilgt sich wirklich, allerdings außerhalb ihrer selbst, in der Ausdehnung und unter der Qualität. Wir müssen also zwei Ordnungen von Implikation oder Degradation unterscheiden: eine sekundäre Implikation, die den Zustand bezeichnet, in dem die Intensitäten von den Qualitäten und der Ausdehnung umhüllt sind, durch die sie expliziert werden; und eine primäre Implikation, die den Zustand bezeichnet, in dem die Intensität an sich selbst, als umhüllende und
16 Von Anbeginn definiert Bergson die Dauer als eine ,,Mannigfaltigkeit”, Teilbarkeit, die sich allerdings nicht teilt, ohne sich in ihrer Natur zu verändern: Essai sur les donnees imm6diates de la conscience, a.a.O., S. 58 ff. (dt.: Zeit und Freiheit, a.a.O., S. 74ff.) und vor allem Matih-e et memoire, a.a.O., S. 341-342 (Mater-ie und Gedächtnis, a.a.O., S. 211-212). Es besteht also nicht nur eine Wesensdifferenz zwischen der Dauer und der Ausdehnung, vielmehr unterscheidet sich die Dauer von der Ausdehnung, wie sich die Wesensdiff erenzen selbst von den graduellen Differenzen unterscheiden (zwei Typen von ,,Vielheit“). Auf andere Weise jedoch verschmilzt die Dauer mit dem Wesen der Differenz und umfaßt aus diesem Grund alle Grade von Differenz: daher die Wiedereinführung von der Dauer immanenten Intensitäten und der Gedanke einer Koexistenz aller Grade von Entspannung und Kontraktion in der Dauer (die wesentliche These in Matz&-e et memoire und La pensee et le mouvant [dt.: Denken und Schöpferisches Werden, Meisenheim 1948]).
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umhüllte zugleich impliziert wird. Eine sekundäre Degradation, in der sich die Intensitätsdifferenz tilgt, wobei das Oberste mit dem Untersten Zusammentrifft; und ein primäres Degradationsvermögen, in dem das Oberste das Unterste bejaht. Die Illusion ist eben die Verschmelzung dieser beiden Instanzen, dieser beiden Zustände, des äußerlichen und des innerlichen. Und wie könnte sie unter dem Gesichtspunkt des empirischen Gebrauchs der Sinnlichkeit vermieden werden, wo dieser doch die Intensität nur in der Ordnung der Qualität und der Ausdehnung zu fassen vermag? Allein das transzendentale Studium kann entdecken, daß die Intensität an sich selbst impliziert bleibt und weiter die Differenz umhüllt, und zwar in dem Augenblick, in dem sie sich in der Ausdehnung und der Qualität reflektiert, die sie erschafft und die ihrerseits sie nur in sekundärer Hinsicht implizieren, soviel eben zu ihrer ,,Explikation” notwendig ist. Die Ausdehnung, die Qualität, die Beschränkung, der Gegensatz bezeichnen zwar Realitäten; das Trügerische aber ist die Gestalt, die die Differenz darin einnimmt. Die Differenz führt weiter ihr unterirdisches Leben, wenn ihr durch die Oberfläche reflektiertes Bild verschwimmt. Und dieses Bild, aber nur dieses Bild, muß verschwimmen, wie die Oberfläche die Differenz notwendig tilgt, aber nur an der Oberfläche. Wir fragten danach, wie sich aus Carnots oder Curies empirischem Prinzip ein transzendentales Prinzip gewinnen ließ. Wenn wir die Energie allgemein zu definieren versuchen, so tragen wir entweder den extensiven und qualifizierten Faktoren der Ausdehnung Rechnung: wir haben uns dann darauf beschränkt zu sagen: ,,es gibt etwas, das konstant bleibt”, und fomulieren somit die große, aber platte Tautologie des Identischen. Oder wir betrachten im Gegenteil die reine Intensität, wie sie in jener tiefen Region impliziert wird, in der sich keine Qualität entwickelt, keine Ausdehnung entfaltet ist; wir definieren die Energie durch die in dieser reinen Intensität vergrabene Differenz, und nun ist es die Formel ,,Intensitätsdifferenz“, der die Tautologie anhaftet, diesmal aber die schöne und tiefe Tautologie des Differenten. Man muß also vermeiden, die Energie allgemein mit einer ruhenden einheitlichen Energie zu verwechseln, die jede Umwandlung unmöglich machen würde. Ruhend kann nur eine besondere, empirische, in der Ausdehnung qualifizierte Energieform sein, in der die Intensitätsdifferenz bereits aufgehoben, da außerhalb ihrer selbst verlegt und auf die Elemente des Systems verteilt ist. Die Energie allgemein oder die intensive Quantität aber ist das spatium, Theater jeder Metamorphose, Differenz an sich, die alle ihre Grade in der Erzeugung eines jeden umhüllt. In diesem Sinne ist die Energie, die intensive Quantität ein transzendentales Prinzip und kein wissenschaftlicher Begriff. Der Aufteilung empirischer und transzendentaler Prinzipien zufolge nennt man empirisches Prinzip die Instanz, die ein Gebiet regiert. Jedes Gebiet ist ein qualifiziertes ausgedehntes Teilsystem, das derart regiert wird, daß die Intensitätsdifferenz, durch die es erschaffen wird, danach strebt, sich in ihm zu tilgen (Gesetz der Natur). Die Gebiete aber sind distributiv und lassen sich nicht addieren; es gibt ebensowenig eine Ausdehnung allgemein wie eine Energie allgemein in der Ausdeh-
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nung. Dagegen gibt es einen intensiven Raum ohne weitere Qualifikation, und in diesem Raum eine reine Energie. Das transzendentale Prinzip regiert kein Gebiet, sondern unterstellt das zu regierende Gebiet dem empirischen Prinzip; es bezeugt die Unterwerfung des Gebiets unter das Prinzip. Die Intensitätsdifferenz ist es, die das Gebiet erschafft und es dem empirischen Prinzip unterstellt, demzufolge sie sich (in ihm) tilgt. Sie, das transzendentale Prinzip, ist es, die sich an sich außerhalb der Reichweite des empirischen Prinzips bewahrt. Und während die Gesetze der Natur die Oberfläche der Welt regeln, rumort zugleich die ewige Wiederkunft auch weiterhin in jener anderen Dimension, in der Dimension des Transzendentalen oder des vulkanischen spatium. Wenn wir sagen, daß die ewige Wiederkunft nicht die Wiederkehr des Selben, des Ähnlichen oder des Gleichen ist, so meinen wir damit, daß sie keinerlei Identität voraussetzt. Im Gegenteil, sie sagt sich von einer Welt ohne Identität, ohne Ähnlichkeit und ohne Gleichheit aus. Sie sagt sich von einer Welt aus, deren Untergrund selbst die Differenz ist, wo alles auf Disparitäten, Differenzen von Differenzen beruht, die bis ins Unendliche widerhallen (die Welt der Intensität). Die ewige Wiederkunft selber ist das Identische, das Ähnliche und das Gleiche. In dem, wovon sie sich aussagt, setzt sie aber gerade nichts von dem voraus, was sie ist. Sie sagt sich von dem aus, was keine Identität, Ähnlichkeit oder Gleichheit besitzt. Sie ist das Identische, das sich vom Differenten aussagt, die Ähnlichkeit, die sich vom reinen Disparsen [dispars] aussagt, das Gleiche, das sich nur vom Ungleichen, die Nähe, die sich von allen Entfernungen aussagt. Die Dinge müssen in der Differenz zerrissen, ihre Identität muß aufgelöst sein, damit sie zur Beute der ewigen Wiederkunft und der Identität in der ewigen Wiederkunft werden. Man kann also den Abgrund ermessen, der die ewige Wiederkunft als ,,modernen“ Glauben - und noch als Glauben der Zukunft - von der ewigen Wiederkunft als antiken oder vermeintlich antiken Glauben trennt. Offen gesagt ist es eine lächerliche Errungenschaft unserer Geschichtsphilosophie, die historische Zeit, die die unsere sein soll, der zyklischen Zeit gegenüberzustellen, die die der Alten gewesen sein soll. Man möchte glauben, daß es bei den Alten im Kreis herum geht und bei den Modernen geradeaus: Dieser Gegensatz einer zyklischen und einer linearen Zeit ist ein armseliger Gedanke. Immer wenn ein derartiges Schema erprobt wird, ist es am Ende ruiniert, und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst setzt die ewige Wiederkunft, wie sie der Antike zugeschrieben wird, die Identität überhaupt dessen voraus, was sie wiederkehren lassen soll. Nun unterliegt aber diese Wiederkehr des Identischen gewissen Bedingungen, die ihr in Wirklichkeit widersprechen. Denn entweder gründet sie sich auf die zyklische Verwandlung der qualitativen Elemente ineinander (ewige Wiederkunft in physikalischer Hinsicht), oder auf die Kreisbewegung der unvergänglichen Himmelskörper (ewige Wiederkunft in astronomischer Hinsicht). In beiden Fällen wird die Wiederkehr als ,,Gesetz der Natur” vorgeführt. In einem Fall wird sie in Begriffen der Qualität, im anderen Fall in Begriffen räumlicher Ausdehnung interpretiert. Ob astronomisch oder physikalisch,
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extensiv oder qualitativ - diese Interpretation der ewigen Wiederkunft hat jedoch die von ihr vorausgesetzte Identität bereits auf eine bloße, ganz allgemeine Ähnlichkeit reduziert; denn der ,,selbe“ qualitative Prozeß oder die ,,selbe“ jeweilige Konstellation bestimmen nur grobe Ähnlichkeiten in den Phänomenen, die durch sie regiert werden. Mehr noch, die ewige Wiederkunft wird dabei so schlecht begriffen, daß sie dem entgegensteht, womit sie innig verwachsen ist: Einerseits findet sie eine erste qualitative Grenze in den Metamorphosen und Transmigrationen, mit dem Ideal eines Heraustretens aus dem ,,Rad der Geburten“; andererseits findet sie eine zweite quantitative Grenze in der irrationalen Zahl, in der irreduziblen Ungleichheit der Himmelsperioden. Hier also wenden sich die beiden am tiefsten mit der ewigen Wiederkunft verwachsenen Themen - das der qualitativen Metamorphose und das der quantitativen Ungleichheit - gegen sie, haben sie doch jeden intelligiblen Bezug zu ihr eingebüßt. Wir sagen nicht, die ewige Wiederkehr, ,,wie von den Alten an sie geglaubt wurde“, sei irrig oder schlecht begründet. Wir sagen, daß die Alten nur annäherungsweise und partiell an sie glaubten. Dies war keine ewige Wiederkehr, sondern Teilzyklen und Zyklen von Ähnlichkeit. Dies war eine Allgemeinheit, kurz, ein Gesetz der Natur. (Selbst das große Jahr Heraklits ist nur die Zeit, die der Anteil des Feuers, der ein Lebewesen bildet, benötigt, um sich in Erde zu verwandeln und wieder Feuer zu werden)“. Oder es ist, wenn es in Griechenland oder anderswo ein wirkliches Wissen um die ewige Wiederkunft gibt, ein grausames esoterisches Wissen, das in einer anderen, geheimnisvolleren, merkwürdigeren Dimension als in der der astronomischen und qualitativen Zyklen und ihrer Allgemeinheiten gesucht werden muß. Warum weiß Nietzsche als Kenner der Griechen, daß die ewige Wiederkunft seine Erfindung ist, der unzeitgemäße oder künftige Glauben? Weil ,,seine“ ewige Wiederkunft in keiner Weise die Wiederkehr eines Selben, Ähnlichen oder Gleichen ist. Nietzsche sagt zutreffend: Wenn es Identität gäbe, wenn es für die Welt einen undifferenzierten qualitativen Zustand oder für die Sterne eine Gleichgewichtsstellung gäbe, so wäre dies ein Grund, darin zu verharren, und nicht ein Grund, in einen Zykus einzutreten. Auf diese Weise verknüpft Nietzsche die ewige Wiederkunft mit dem, was sich ihr entgegenzusetzen oder sie von außen zu beschränken schien: die vollständige Metamorphose, das irreduzible Ungleiche. Die Tiefe, die Entfernung, die Untiefen, das Unwuchtige, die Höhlen, das Ungleiche an sich bilden allein die Landschaft der ewigen Wiederkunft. Zarathustra ruft es dem Possenreißer, aber auch dem Adler und der Schlange in Erinnerung: Sie ist weder ein astronomisches ,,Leier-Lied“ noch ein physikalischer Reigen . . . Sie ist kein Naturgesetz. Die ewige Wiederkehr entwickelt sich in einem Grund, in einem Ungrund, wo die ursprüngliche 17 Zur Reserve etwa der Griechen gegenüber der ewigen Wiederkehr vgl. Charles Mugler: Deux thbnes d e la cosmologie greque, devenir cyclique et pluralitk des mondes, Paris 1953.
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Natur in ihrem Chaos residiert, über den Reichen und den Gesetzen, die nur die zweite Natur bilden. Nietzsche stellt ,,seine“ Hypothese der zyklischen Hypothese gegenüber, ,, seine“ Tiefe dem Fehlen von Tiefe in der Sphäre der Fixsterne. Die ewige Wiederkunft ist weder qualitativ noch extensiv, sie ist intensiv, rein intensiv. Das heißt: sie wird von der Differenz ausgesagt. Dies ist das grundlegende Band zwischen ewiger Wiederkehr und Willen zur Macht. Das eine kann sich nur vom anderen aussagen. Der Wille zur Macht ist die flimmernde Welt der Metamorphosen, der kommunizierenden Intensitäten, der Differenzen von Differenzen, der Hauche, Einflüsterungen und des Aushauchens: eine Welt intensiver Intentionalitäten, Welt der Trugbilder oder ,,Mysterien“ * *. Die ewige Wiederkunft ist das Sein dieser Welt, das einzige Selbe, das sich von dieser Welt aussagt und jede vorgängige Identität aus ihr verstößt. Freilich interessierte sich Nietzsche für die Energetik seiner Zeit; dies war aber nicht wissenschaftliche Nostalgie eines Philosophen, man muß durchschauen, was er in der Wissenschaft der intensiven Quantitäten suchte das Mittel zur Realisierung dessen, was er Pascals Prophezeiung nannte: das Chaos zum Objekt der Bejahung machen. Gegen die Gesetze der Natur gefühlt, ist die Differenz im Willen zur Macht der höchste Gegenstand der Sinnlichkeit, die ,,hohe Stimmung“ [i.O.dt.] (man wird sich daran erinnern, daß der Wille zur Macht zunächst als Gefühl dargestellt wurde, als Gefühl der Distanz). Gegen die Gesetze des Denkens gedacht, ist die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr der höchste Gedanke, der ,,große Gedanke“ [i.O.dt.]. Die Differenz ist die erste Bejahung, die ewige Wiederkehr die zweite, ,,ewige Bejahung des Seins“ oder die n-te Potenz, die sich von der ersten aussagt. Das Denken bezeichnet sich stets von einem Signal aus, d.h. von einer ersten Intensität. Über die aufgebrochene Kette oder den unwuchtigen Ring hinweg werden wir gewaltsam von der Grenze der Sinne zur Grenze des Denkens geführt, von dem, was nur empfunden, zu dem, was nur gedacht werden kann. Weil nichts gleich ist, weil alles in seine Differenz getaucht ist, in seine Unähnlichkeit und seine Ungleichheit, sogar zu sich selbst - darum kehrt alles wieder. Oder vielmehr: nicht alles kehrt wieder. Was nicht wiederkehrt, verneint die ewige Wiederkehr, übersteht die Prüfung nicht. Was nicht wiederkehrt, ist die Qualität, die Ausdehnung - weil sich die Differenz als Bedingung der ewigen Wiederkehr darin tilgt. Es ist das Negative - weil sich die Diffe18 Pierre K l o s s o w s k i hat die Verbindung der ewigen Wiederkehr mit reinen Intensitäten, die als ,,Zeichen” fungieren, aufgezeigt; vgl.: Oubli et anamnese dans l’experience vecue de Peterne retour du M&ne, in: Nietzsche, Cahiers de Royaumont, Paris 1967 (dt.: Vergessen und Anamnese in der lebendigen Erfahrung der ewigen Wiederkunft, in: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, München 1986). In seinem Roman Le Baphomet (Paris 1965; dt.: Der Baphomet, Reinbek 1968) geht Klossowski sehr weit in der Beschreibung dieser Welt von intensiven ,,Hauchen”, die den spezifischen Stoff der ewigen Wiederkunft darstellt.
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renz darin verkehrt, um sich zu tilgen. Es ist das Identische, das Ähnliche und das Gleiche - weil sie die Formen der Indifferenz bilden. Es ist Gott, das Ich, als Form und Garant der Identität. Es ist all das, was nicht unter dem Gesetz des ,,Ein für allemal“ erscheint, einschließlich der Wiederholung, wenn sie der Identitätsbedingung ein und derselben Qualität, ein und desselben Körpers im Raum, ein und desselben Ichs unterliegt (so die ,,Wiederauferstehung”) . . . Heißt das wirklich, daß die Qualität und die Ausdehnung nicht wiederkehren? Oder waren wir nicht schon dahin gelangt, gleichsam zwei Zustände der Qualität, zwei Zustände der Extension zu unterscheiden? Den einen, in dem die Qualität als Zeichen aus der Entfernung oder dem Intervall einer Intensitätsdifferenz aufblitzt; den anderen, in dem sie als Wirkung bereits auf ihre Ursache reagiert und danach strebt, die Differenz zu tilgen. Den einen, in dem die Extension noch in der umhüllenden Ordnung der Diffferenzen impliziert wird, den anderen, in dem die Ausdehnung die Differenz expliziert und im qualifizierten System tilgt. Diese Unterscheidung, die nicht in der Erfahrung getroffen werden kann, wird möglich vom Standpunkt des Denkens der ewigen Wiederkehr aus. Das harte Gesetz der Explikation lautet: Was sich expliziert, expliziert sich ein für allemal. Die Ethik der intensiven Quantitäten besitzt nur zwei Prinzipien: noch das Unterste bejahen, sich nicht (allzu sehr) explizieren. Wir müssen dem Vater gleichen, der dem Kind vorwarf, alle Schimpfworte, das es kannte, ausgesprochen zu haben, nicht weil dies böse gewesen wäre, sondern weil es alles auf einmal gesagt hatte, weil es nichts zurückgehalten hatte, keinerlei Rest für den subtilen implizierten Stoff der ewigen Wiederkehr. Und wenn die ewige Wiederkehr selbst um den Preis unserer Kohärenz und zugunsten einer höheren Kohärenz die Qualitäten auf den Stand reiner Zeichen zurückführt und von den Ausdehnungen nur zurückbehält, was mit der ursprünglichen Tiefe zusammenpaßt, dann werden die Qualitäten herrlicher, die Farben leuchtender, die Steine kostbarer, die Extensionen in stärkerer Schwingung erscheinen, da sie - reduziert auf ihre keimhaften Gründe und im Bruch mit jeglichem Bezug zum Negativen - für immer im intensiven Raum positiver Differenzen gefangen bleiben werden; und dann wird ihrerseits die abschließende Weissagung aus dem Phaidon wahr werden, als Platon der von ihrem empirischen Gebrauch befreiten Sinnlichkeit Tempel prophezeit, Gestirne und Götter, wie sie nie zuvor gesehen wurden, unerhörte Bejahungen. Freilich wird die Weissagung wahr nur in der Umkehrung des Platonismus selbst.
Die Verwandtschaft der intensiven Quantitäten mit den Differentialen wurde oft geleugnet. Aber die Kritik bezieht sich nur auf eine falsche Konzeption der Verwandtschaft. Diese darf sich nicht auf die Betrachtung einer Reihe, von Termen einer Reihe und Differenzen zwischen aufeinanderfolgenden Termen gründen, sondern auf die Konfrontation zweier Verhältnistypen, von Diffe-
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rentialverhältnissen in der reziproken Synthese der Idee und Intensitatsverhältnissen in der asymmetrischen Synthese des Sinnlichen. Die reziproke Svnthese dy/dx setzt sich in der asymmetrischen Synthese fort, die y an x bindet. Der intensive Faktor ist eine partielle Ableitung oder das Differential einer zusammengesetzten Funktion. Zwischen der Intensität und der Idee bahnt sich ein Strom wechselseitigen Austausches wie zwischen zwei korrespondierenden Figuren der Differenz. Die Ideen sind virtuelle, problematische Mannigfaltigkeiten oder ,,Perplexe“, die sich aus Verhältnissen zwischen differentiellen Elementen ergeben. Die Intensitäten sind implizierte Mannigfaltigkeiten, ,,Implexe“, die sich aus Verhältnissen zwischen asymmetrischen Elementen ergeben, die den Aktualisierungsverlauf der Ideen lenken und die Lösungsfälle für die Probleme bestimmen. Daher entfaltet die Ästhetik der Intensitäten jedes ihrer Momente in Korrespondenz mit der Dialektik der Ideen: Die Macht der Intensität (Tiefe) gründet sich in der Potentialität der Idee. Schon die auf ästhetischer Ebene angetroffene Illusion greift die der Dialektik auf; und die Form des Negativen ist der von den Problemen und ihren Elementen geworfene Schatten, bevor sie zum verkehrten Bild der intensiven Differenzen wird. Die intensiven Quantitäten scheinen sich ebenso sehr zu tilgen, wie sich die problematischen Ideen zu verflüchtigen scheinen. Das Unbewußte der kleinen Wahrnehmungen als intensiver Quantitäten verweist auf das Unbewußte der Ideen. Und die Kunst der Ästhetik antwortet als Echo auf die der Dialektik. Letztere ist die Ironie als Kunst der Probleme und Fragen, die sich im Umgang mit den Differentialverhältnissen und in der Verteilung des Gewöhnlichen und des Singulären ausdrückt. Die Kunst der Ästhetik aber ist der Humor, die physikalische Kunst der Signale und Zeichen, die die Teillösungen oder Lösungsfälle bestimmt, kurz, die implizierte Kunst der intensiven Quantitäten. Diese sehr allgemeinen Korrespondenzen geben jedoch keinen Hinweis darauf, wie sich die Verwandtschaft genau herstellt und wie sich die Verkoppelung der intensiven Quantitäten mit den Differentialen vollzieht. Kommen wir auf die Bewegung der Idee zurück, die sich von einem Aktualisierungsprozeß nicht trennen läßt. Eine Idee, eine Mannigfaltigkeit wie die der Farbe etwa wird durch die virtuelle Koexistenz von Verhältnissen zwischen genetischen oder differentiellen Elementen einer bestimmten Ordnung gebildet. Diese Verhältnisse sind es, die sich in den qualitativ distinkten Farben aktualisieren, während sich gleichzeitig ihre ausgezeichneten Punkte in deutlich geschiedenen Ausdehnungen verkörpern, die mit jenen Qualitäten korrespondieren. Die Qualitäten sind also differenziert, ebenso die Ausdehnungen, insofern sie divergente Linien repräsentieren, denen zufolge sich die nur in der Idee koexistierenden Differentialverhältnisse aktualisieren. In diesem Sinne haben wir gesehen, daß jeder Aktualisierungsprozeß eine doppelte, qualitative und extensive Differenzierung war. Und sicher ändern sich die Differenzierungskategorien je nach Ordnung des für die Idee konstitutiven Differentiellen: Die Qualifizierung und die Partition sind die beiden Aspekte einer physikalischen
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Aktualisierung, die Spezifikation und die Organisation entsprechend die beiden Aspekte einer biologischen Aktualisierung. Immer aber stößt man auf die Notwendigkeit von Qualitäten, die in Abhängigkeit von Verhältnissen differenziert sind, die sie jeweils aktualisieren, und entsprechend auf die Notwendigkeit von Ausdehnungen, die in Abhängigkeit von ausgezeichneten Punkten, die sie verkörpern, differenziert sind. Dies führte uns dazu, den Begriff der Differentiatiation/zierung zu prägen, um zugleich die Verfassung der Differentialverhältnisse in der Idee oder die virtuelle Mannigfaltigkeit und die Verfassung der - qualitativen und extensiven - Reihen anzuzeigen, in denen sie sich durch ihre Differenzierung aktualisieren. Was aber völlig unbestimmt blieb, war die Bedingung einer derartigen Aktualisierung. Auf welche Weise ist die Idee bestimmt, sich in differenzierten Qualitäten, in differenzierten Ausdehnungen zu verkörpern? Was bestimmt die in der Idee koexistierenden Verhältnisse dazu, sich in Qualitäten und Ausdehnungen zu differenzieren? Die Antwort wird eben durch die intensiven Quantitäten gegeben. Die Intensität ist es, die die Determinante im Aktualisierungsprozeß darstellt. Die Intensität ist es, die dramatisiert. Sie ist es, die sich unmittelbar in den raumzeitlichen Basisdynamiken ausdrückt und ein in der Idee ,,nicht-distinktes” Differentialverhältnis bestimmt, sich in einer distinkten Qualität und einer unterschiedenen Ausdehnung zu verkörpern. Dadurch verschmelzen die Bewegung und die Kategorien der Differenzierung auf gewisse Weise (aber, wie wir sehen werden, nur auf gewisse Weise) mit denen der Explikation. Wir sprechen von Differenzierung hinsichtlich der Idee, die sich aktualisiert. Wir sprechen von Explikation hinsichtlich der Intensität, die sich ,,entfaltet“ und die eben die Aktualisierungsbewegung bestimmt. Wenn es buchstäblich wahr bleibt, daß die Intensität die Qualitäten und Ausdehnungen erschafft, in denen sie sich expliziert, so deshalb, weil die Qualitäten und Ausdehnungen nicht, ganz und gar nicht den ideellen Verhältnissen ähneln, die sich in ihnen aktualisieren: Die Differenzierung impliziert die Erschaffung von Linien, nach denen sie sich vollzieht. Wie erfüllt die Intensität diese bestimmende Rolle? Sie darf an sich selbst ebenso wenig von der Differenzierung wie von der Explikation abhängen, die aus ihr hervorgeht. Unabhängig von der Explikation ist sie durch die Implikationsordnung, durch die sie definiert wird. Sie ist unabhängig von der Differenzierung durch den Prozeß, der ihr wesentlich zukommt. Der den intensiven Quantitäten wesentliche Prozeß ist die Individuation. Die Intensität ist individuierend, die intensiven Quantitäten sind individuierende Faktoren. Die Individuen sind Signal-Zeichen-Systeme. Jede Individualität ist intensiv: also kaskadenartig, schleusenartig, kommunizierend, und umfaßt und bejaht an sich die Differenz in den Intensitäten, durch die sie gebildet wird. Gilbert Simondon zeigte jüngst, daß die Individuation zunächst einen metastabilen Zustand bedingt, d. h. die Existenz einer ,,Disparation“, etwa mindestens zwei heterogene Größenordnungen oder Realitätsmaßstäbe, zwischen denen sich die Potentiale aufteilen. Es mangelt diesem präindividuellen Zustand jedoch
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nicht an Singularitäten: Die ausgezeichneten oder singulären Punkte werden durch die Existenz und die Aufteilung der Potentiale definiert. So erscheint ein objektives ,,problematisches“ Feld, das durch die Entfernung zwischen heterogenen Ordnungen bestimmt wird. Die Individuation tritt als Lösungsakt eines derartigen Problems zutage, oder - was aufs Gleiche hinausläuft - als die Aktualisierung des Potentials und die Herstellung einer Kommunikation zwischen den Disparata. Der Individuationsakt besteht nicht in der Aufhebung des Problems sondern darin, die Elemente der Disparation in einen Zustand von Kopplung zu integrieren, die deren innere Resonanz gewährleistet. Das Individuum ist also an eine präindividuelle Hälfte geheftet, die nicht das Unpersönliche in ihm, sondern eher der Speicher seiner Singularitäten ist”. Unter all diesen Gesichtspunkten sind wir der Meinung, daß die Individuation wesentlich intensiv ist, und daß das präindividuelle Feld ideell-virtuell ist oder aus Differentialverhältnissen besteht. Die Individuation: sie ist es, die auf die Frage Welches? antwortet, wie schon die Idee auf die Fragen Wieviel? und Wie? . antwortete. Welches? ist stets eine Intensität . . . Die Individuation ist der Akt der Intensität, der die Differentialverhältnisse dazu bestimmt, sich gemäß den Differenzierungslinien in den von ihr geschaffenen Qualitäten und Ausdehnungen zu aktualisieren. Daher lautet die vollständige Begriffsbildung: Indi-Differentiation/zierung (Indi-Drama-Differentiation/zierung)20. Die Ironie selbst, als Kunst der differentiellen Ideen, verkennt keineswegs die Singularität; im Gegenteil, sie spielt mit der gesamten Verteilung von gewöhnlichen und ausgezeichneten Punkten. Es handelt sich aber stets um präindividuelle Singularitäten, die in der Idee verteilt sind. Sie kennt das Individuum noch nicht. Es ist der Humor als Kunst der intensiven Quantitäten, der mit dem Individuum und seinen individuierenden Faktoren spielt. Der Humor zeugt von den Spielen des Individuums als Lösungfällen hinsichtlich der Differenzierungen, die er bestimmt, während die Ironie ihrerseits die nötigen Differentiationen im Kalkül der Probleme oder in der Bestimmung ihrer Bedingungen betreibt. Das Individuum ist weder eine Qualität noch eine Extension. Die Individuation ist weder eine Qualifizierung noch eine Partition, weder eine Spezifikation noch eine Organisation. Das Individuum ist keine species infima und ebensowenig aus Teilen zusammengesetzt. Die qualitativen oder extensiven Deutungen der Individuation können auch weiterhin keinen Grund dafür angeben, warum etwa eine Qualität nicht länger allgemein sein oder warum eine Synthese der Ausdehnung hier beginnen und dort enden würde. Die Qualifizierung und die Spezifikation setzen bereits Individuen voraus, die qualifiziert werden sollen; und die extensiven Teile sind relativ zu einem Individuum, nicht umgekehrt. Aber es genügt eben nicht, eine Wesensdiffe-
” Vgl Gilbert Sirnondon: L’individu et sa genese physico-biologigue, Fr-z: indi-diff’erentlciation (indi-drama-diffkrentlciation) [A.d.U.].
‘O
Paris
1964.
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renz zwischen Individuation und Differenzierung allgemein zu markieren, Diese Wesensdifferenz bleibt unverständlich, solange wir nicht deren notwendige Konsequenz akzeptieren: daß die Individuation de jure der Differenzierung vorausgeht, daß jede Differenzierung ein intensives Feld vorgängiger Individuation voraussetzt. Die Einwirkung des Individuationsfeldes ist es, unter der sich solche Differentialverhältnisse und solche ausgezeichnete Punkte (präindividuelles Feld) aktualisieren, d. h. sich in der Anschauung nach Linien organisieren, die im Verhältnis zu anderen Linien differenziert sind. Unter dieser Bedingung bilden sie dann die Qualität und die Zahl, die Art und die Teile eines Individuums, kurz, seine Allgemeinheit. Da es Individuen verschiedener Art und Individuen gleicher Art gibt, neigt man zur Ansicht, daß die Individuation die Spezifikation fortsetze, selbst wenn sie anderer Natur ist und andere Mittel benutzt. In Wirklichkeit aber gefährdet jede Verwechslung zwischen den beiden Prozessen, jede Reduktion der Individuation auf eine Grenze oder auf eine Komplikation der Differenzierung die Philosophie der Differenz insgesamt; man begeht - diesmal im Aktuellen - einen Fehler, der demjenigen ähnelt, den man mit der Verwechslung von Virtuellem und Möglichem machte. Die Individuation setzt keine Differenzierung voraus, ruft sie vielmehr hervor. Die Qualitäten und Ausdehnungen, die Formen und die Materien, die Arten und Teile sind nicht ursprünglich; sie sind in den Individuen wie in Kristallen gefangen. Und die ganze Welt ist es, die sich wie in einer Kristallkugel in der wogenden Tiefe von individuierenden Differenzen oder Intensitätsdifferenzen lesen 1äßt . Alle Differenzen werden vom Individuum aufgenommen, aber sie sind darum nicht individuell. Unter welchen Bedingungen wird eine Differenz als individuelle gedacht? Wir sehen zwar, daß das Problem der Klassifikation stets darin bestand, die Differenzen zu ordnen. Aber die Pflanzen- oder Tierklassifikationen zeigen, daß man die Differenzen nur dann ordnet, wenn man sich ein mannigfaltiges Netz kontinuierlicher Ähnlichkeit vorgibt. Die Idee einer Kontinuität von Lebewesen war niemals von der der Klassifikation geschieden, noch weniger entgegengesetzt; sie war nicht einmal eine Idee, die die Anforderungen der Klassifikation beschränken oder nuancieren sollte. Sie ist im Gegenteil das Requisitum jeder möglichen Klassifikation. Man fragt sich etwa, welche von mehreren Differenzen diejenige ist, die ein regelrechtes ,,Merkmal” ausbildet, d. h. es ermöglicht, in einer reflektierten Identität Lebewesen zusammenzufassen, die sich in einem Maximum an Punkten ähneln. In diesem Sinne kann die Gattung ein Reflexionsbegriff und doch zugleich ein natürlicher Begriff sein (in dem Maße, wie die Identität, die durch sie ,,zugeschnitten“ wird, benachbarten Arten entnommen ist). Wenn man drei Pflanzen A, B und C betrachtet, von denen A und B Holzgewächse sind, C nicht, B und C blau sind, A dagegen rot, so wird das entsprechende Merkmal durch ,,hohzartig“ gebildet, weil es die umfassendste Subordination der Differenzen unter die Ordnung der anwachsenden und abnehmenden Ähnlichkeiten gewährlei-
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stet. Und sicher kann man der Ordnung der Ähnlichkeiten nachweisen, daß sie der groben Wahrnehmung zugehört. Dies aber unter der Voraussetzung, daß man die Reflexionseinheiten durch große konstitutive Einheiten ersetzt (seien es die großen funktionellen Einheiten Cuviers, sei es die große Kompositionseinheit bei Geoffroy), bezüglich welcher die Differenz noch in Analogieurteilen oder als Variable in einem Universalbegriff gedacht wird. Die Differenz wird jedenfalls nicht als individuelle Differenz gedacht, solange man sie den Kriterien der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung, der Identität in der Reflexion, der Analogie im Urteil oder des Gegensatzes im Begriff unterordnet. Sie bleibt bloß allgemeine Differenz, obwohl sie dem Individuum anhaftet. Die große Neuerung Darwins lag vielleicht darin, daß er das Denken der individuellen Differenz begründet hat. Das Leitmotiv in über die Entstehung der Arten lautet: Man weiß nicht, was die individuelle Differenz zu leisten vermag! Man weiß nicht, wie weit sie reichen kann, vorausgesetzt, daß die natürliche Auslese hinzutritt. Darwins Problem stellt sich in ganz ähnlichen Begriffen, deren sich Freud bei anderer Gelegenheit bedienen wird: Es geht um die Frage, unter welchen Bedingungen freie, gleitende oder ungebundene kleine Differenzen zu abschätzbaren, gebundenen und festen Differenzen werden. Die natürliche Auslese nun, die tatsächlich die Rolle eines Realitäts- oder gar Erfolgsprinzips übernimmt, zeigt, wie sich die Differenzen in eine Richtung verbinden und ansammeln, aber ebenso, wie sie mehr und mehr danach streben, in verschiedene oder gar entgegengesetzte Richtungen zu divergieren. Die natürliche Auslese besitzt eine entscheidende Rolle: die Differenz zu differenzieren (Überleben des jeweils Divergentesten). Dort, wo die Selektion nicht oder nicht mehr wirkt, bleiben die Differenzen gleitend oder werden es von neuem; dort, wo sie wirkt, geschieht es auf die Weise, daß sie die Differenzen fixiert und divergieren läßt. Die großen taxinomischen Einheiten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen, dienen nicht mehr dazu, die Differenz zu denken, indem sie auf Ähnlichkeiten, Identitäten, Analogien, Gegensätze bezogen wird, die als ebenso viele Bedingungen bestimmt sind. Im Gegenteil, diese taxinomischen Einheiten werden vielmehr von der Differenz aus und ausgehend von der Differenzierung der Differenz als dem grundlegenden Mechanismus der natürlichen Auslese gedacht. Sicher besitzt die’ individuelle Differenz, als für sich selbst gedachte, als Urstoff der Selektion oder der Differenzierung, bei Darwin noch keinen genau umrissenen Status: als freie, gleitende und ungebundene verschmilzt sie mit einer unbestimmten Variabilität. Darum leistet Weismann einen wesentlichen Beitrag zum Darwinismus, wenn er zeigt, wie die individuelle Differenz eine natürliche Ursache in der geschlechtlichen Fortpflanzung findet: die geschlechtliche Fortpflanzung als Prinzip der fortwährenden Erzeugung verschiedenartiger ,,individueller Unterschiede“. In dem Maße, wie die Geschlechtsdifferenzierung selbst aus der geschlechtlichen Fortpflanzung resultiert, bemerken wir, daß die drei großen biologischen Differenzie-
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rungen - der Arten, der organischen Teile, der Geschlechter - um die individuelle Differenz kreisen und nicht umgekehrt. Dies sind die drei Figuren der kopernikanischen Revolution des Darwinismus. Die erste betrifft die Differenzierung der individuellen Differenzen als Divergenz der Merkmale und Bestimmung der Gruppen; die zweite betrifft die Bindung der Differenzen als Merkmalszuordnung in derselben Gruppe; die dritte betrifft die Erzeugung der Differenzen als kontinuierlichen Stoff der Differenzierung und der Bindung. Dem Anschein nach - und zwar einem wohlbegründeten Anschein nach ist die geschlechtliche Fortpflanzung den Kriterien der Art und den Erfordernissen der organischen Teile untergeordnet. Es ist richtig, daß das Ei alle Teile des Organismus, zu dem es gehört, wird reproduzieren müssen. Es ist ebenfalls - annäherungsweise - richtig, daß sich die geschlechtliche Fortpflanzung innerhalb der Artgrenzen abspielt. Man hat aber häufig festgestellt, daß alle Fortpflanzungsweisen Phänomene von organischer ,,Entdifferenzierung“ implizieren. Das Ei leistet eine Wiederherstellung der Teile nur dann, wenn es sich in einem davon unabhängigen Feld entwickelt. Und es entwickelt sich innerhalb der Artgrenzen nur dann, wenn es zugleich Phänomene spezifischer Entdifferenzierung vorführt. Einzig Lebewesen derselben Art können wirklich die Art überschreiten und ihrerseits Lebewesen erzeugen, die als Rohformen fungieren und vorübergehend auf supraspezifische Merkmale reduziert sind. Genau dies ist es, was von Baer entdeckte, als er zeigte, daß der Embryo nicht überlieferte adulte Formen anderer Arten reproduziert, sondern Zustände erfährt und erleidet, Bewegungen ausführt, die artspezifisch nicht zu ertragen sind, die Grenzen der Art, der Gattung, der Ordnung oder der Klasse überschreiten und allein von ihm durchlebt werden können, unter den Bedingungen embryonalen Lebens. Baer schloß daraus, daß die Epigenese vom Allgemeineren zum weniger Allgemeinen verläuft, d. h. von den allgemeinsten Typen zu den gattungs- und artspezifischen Bestimmungen. Aber diese hohe Allgemeinheit hat nichts mit einem abstrakten taxinomischen Begriff zu tun; denn sie wird als solche vom Embryo erlebt. Sie verweist einerseits auf die Differentialverhältnisse, die die Virtualität bilden, die der Aktualisierung der Arten vorausgeht; sie verweist andererseits auf die ersten Bewegungen dieser Aktualisierung und vor allem auf die Bedingung dieser Aktualisierung, d. h. auf die Individuation, wie sie im Ei ihr Konstitutionsfeld findet. Auf diese Weise überschreiten die * höchsten Allgemeinheiten des Lebens die Arten und die Gattungen, überschreiten sie allerdings in Richtung auf das Individuum und die präindividuellen Singularitäten, nicht in Richtung auf ein abstraktes Unpersönliches= Wenn man mit Baer feststellt, daß nicht nur der Typ des Embryos, sondern sogar seine artspezifische Form sehr früh erscheint, so sollte man daraus nicht notwendig auf die Unreduzierbarkeit der Typen oder Stämme, sondern auf die relative Geschwindigkeit und Beschleunigung der Wirkung schließen, die durch die Individuation auf die Aktualisierung oder die Spezifikation
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ausgeübt wird21. Nicht das Individuum ist eine Illusion bezüglich des Genius der Art, vielmehr ist die Art eine - freilich unvermeidbare und wohlbegründete - Illusion bezüglich der Spiele des Individuums und der Individuation. Die Frage - lautet nicht, ob das Individuum, de facto, von seiner Art und seinen Teilen abgetrennt werden kann. Es kann dies nicht. Aber diese ,,Untrennbarkeit“ selbst und die Erscheinungsgeschwindigkeit der Art und der Teile hezeugen sie nicht das Primat de jure der Individuation über die Differenzierung? Was über der Art steht und ihr von Rechts wegen vorangeht, ist das Individuum. Und der Embrvo ist das Individuum als solches, unmittelbar im Feld seiner Individuation erfaßt. Die geschlechtliche Fortpflanzung definiert eben dieses Feld; wenn sie im Produkt von einer umso frühzeitigeren Erscheinung der artspezifischen Form begleitet ist, so deswegen, weil der Artbegriff selbst zunächst von der geschlechtlichen Fortpflanzung abhängt, wobei diese die Auslösungsbewegung der Aktualisierung durch die Inidividuation beschleunigt (das Ei selbst ist bereits der Sitz der ersten Bewegungen). Der Embryo ist eine Art Phantasie seiner Eltern; jeder Embryo ist eine Schimäre, geeignet, als Rohform zu dienen und das für jedes adulte Artexemplar Unerträgliche zu erleben. Er vollführt erzwungene Bewegungen, bildet innere Resonanzen, er dramatisiert die Urverhältnisse des Lebens. Im Vergleich zwischen tierischer und menschlicher Sexualität besteht das Problem in der Frage, wie die Sexualität nicht länger Funktion sein und ihre Bindung an die Fortpflanzung zerreißen kann. Der Grund liegt darin, daß die menschliche Sexualität die Produktionsbedingungen der Phantasie verinnerlicht. Die Träume sind unsere Eier, unsere Larven oder unsere spezifisch psychischen Individuen. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß das vitale Ei bereits Individuationsfeld ist; der Embryo selbst reines Individuum ist; und daß das eine im anderen den Vorrang der Individuation gegenüber der Aktualisierung, d.h. gegenüber der Spezifikation und der Organisation zugleich bezeugt. Die individuierende Differenz muß zunächst in ihrem Individuationsfeld gedacht werden - nicht als spät eintretend, sondern gewissermaßen in ovo. Seit den Arbeiten von Child und Weiss erkennt man Symmetrieachsen oder -ebenen in einem Ei; aber auch hier liegt das Positive weniger in den gegebenen Symmetrieelementen, als in denjenigen, die fehlen, die nicht vorhanden sind.
21 Zur Erscheinungsgeschwindigkeit des Typs der artspezifischen Form vgl. Edmond Perrier: Les colonies animales et La formation des organismes, Paris 1881, S. 701 ff. Perrier unterstreicht die Abhängigkeit des Artbegriffs hinsichtlich der geschlechtlichen Fortpflanzung: ,,Bei jeder neuen Generation nehmen die gemeinsamen Merkmale eine immer größere Festigkeit an [. . .] Alle jüngeren Forschungen treffen sich im Nachweis dessen, daß die Art nicht in den Gruppen des Tierreichs existiert, in denen die Fortpflanzung ohne vorherige Befruchtung geschieht. Damit ist die Erscheinung der Art eng mit der der geschlechtlichen Fortpflanzung verbunden“ (S. 707).
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Die Achsen entlang und vom einen Pol zum anderen verteilt eine Intensität ihre Differenz und bildet dabei eine Variationswelle, die sich durch das Protoplasma hindurch ausbreitet. Die Region mit höchster Aktivität wird als erste wirksam und übt einen beherrschenden Einfluß auf die Entwicklung der Teile aus, die einer niedrigeren Quote entsprechen: Das Individuum im Ei ist ein regelrechter Sturz, es führt vom Obersten zum Untersten und bejaht die Intensitätsdifferenzen, in denen es enthalten ist, in denen es stürzt. In der jungen Gastrula des Amphibs scheint die maximale Intensität in einem ,,susblastoporalem“ Mittelfokus zu liegen und nimmt in allen Richtungen ab, weniger schnell aber zum animalen Pol hin; im Mittelblatt einer jungen Neurula beim Wirbeltier nimmt die Intensität in jedem transversalen Abschnitt von der mediodorsalen zur medioventralen Linie ab. Man muß die Richtungen und Entfernungen, die Dynamiken oder Dramen, die Potentiale und die Potentialitäten vervielfältigen, um das spatium des Eis, d. h. seine intensiven Tiefen auszuloten. Die Welt ist ein Ei. Und das Ei verschafft uns tatsächlich das Modell für die Reihenfolge der Gründe: Differentiation/Individuation/Dramatisierung/(organische und artbildende)Differenzierung. Wir nehmen an, daß die Intensitätsdifferenz, wie sie im Ei impliziert ist, zunächst Differentialverhältnisse ausdrückt, und zwar als einen virtuellen Stoff, der aktualisiert werden soll. Dieses intensive Individuationsfeld bestimmt die in ihm ausgedrückten Verhältnisse dazu, sich in raum-zeitlichen Dynamiken (Dramatisierung) zu verkörpern, in Arten, die diesen Verhältnissen entsprechen (artbildende Differenzierung), in organischen Teilen, die den ausgezeichneten Punkten dieser Verhältnisse entsprechen (organische Differenzierung). Stets steuert die Individuation die Aktualisierung: Die organischen Teile werden nur von den Gradienten ihrer intensiven Umgebung aus induziert; die Typen spezifizieren sich nur in Abhängigkeit von der individuierenden Intensität. Die Intensität ist überall primär im Verhältnis zu den Artqualitäten und organischen Extensionen. Begriffe wie die von Dalcq geprägten, ,,morphogenetisches Potential“, ,, Feld/Gradient/Schwelle“, die sich wesentlich auf die Intensitätsverhältnisse als solche beziehen, werden diesem komplexen Zusammenhang gerecht. Darum läßt sich die Frage nach einem Vergleich zwischen der Rolle des Zellk e r n s und des Zytoplasmas im Ei wie in der Welt nicht leicht beantworten. Der Kern und die Gene bezeichnen nur den aus der Differentiation hervorgegangenen Stoff, d. h. die Differentialverhältnisse, die das präindividuelle, zu aktualisierende Feld bilden; ihre Aktualisierung aber wird nur durch das Zytoplasma mit seinen Gradienten und Individuationsfeldern bestimmt. Die Art ähnelt nicht den Differentialverhältnissen, die sich in ihr aktualisieren; die organischen Teile ähneln nicht den ausgezeichneten Punkten, die diesen Verhältnissen entsprechen. Die Art und die Teile ähneln nicht den Intensitäten, die sie bestimmen. Wie Dalcq sagt: Wenn ein kaudaler Anhang von seiner intensiven Umgebung induziert wird, so hängt dieser Anhang von einem System ab, in dem ,,nichts a priori kaudal ist“, und entspricht einer gewissen
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Ebene des morphogenetischen Potentials22. Das Ei ist es, wodurch das Modell der Gleichartigkeit zerstört wird. Und zwei Streitfälle scheinen viel an ihrer Bedeutung einzubüßen, je mehr die Forderungen nach Ähnlichkeit verschwinden. Einerseits bilden Präformationslehre und Epigenese nicht länger einen Gegensatz, sobald man zugesteht, daß die umhüllten Präformationen intensiv, die entfalteten Formationen qualitativ und extensiv sind und die einen nicht den anderen ähneln. Andererseits tendieren die Lehre von der Konstanz der Arten und die Evolutionstheorie zu einer Aussöhnung, sofern die Bewegung nicht von einem aktuellen Term zu einem anderen und ebensowenig vom Allgemeinen zum Besonderen verläuft, sondern vom Virtuellen zu seiner Aktualisierung - über die Vermittlung einer bestimmenden Individuation. Dennoch sind wir hinsichtlich der Hauptschwierigkeit nicht vorangekommen. Wir berufen uns auf ein Individuationsfeld, auf eine individuierende Differenz als Bedingung der Spezifikation und der Organisation. Das Individuationsfeld aber ist nur allgemein und formal gesetzt; es scheint für eine gegebene Art das ,,selbe“ zu sein und von einer Art zur anderen an Intensität zu variieren. Es scheint also von der Art und der Spezifikation abzuhängen und uns wiederum an die mit dem Individuum verwachsenen Differenzen zu verweisen, nicht an individuelle Differenzen. Zur Beseitigung dieser Schwierigkeit müßte die individuierende Differenz nicht nur in einem Individuationsfeld allgemein, sondern selbst als individuelle Differenz gedacht werden. Die Form des Felds müßte an sich selbst und notwendig durch individuelle Differenzen ausgefüllt werden. Diese Füllung müßte unmittelbar, zum frühesten Zeitpunkt, und nicht später, im Ei eintreten - und zwar so, daß das Prinzip des Nichtzuunterscheidenden genau die Formulierung besäße, die Lukrez ihm gab: keine zwei identischen Eier oder Getreidekörner. Nun glauben wir, daß diesen Bedingungen in der Implikationsordnung der Intensitäten völlig genügt wird. Die Intensitäten artikulieren und bedingen nichts anderes als Differentialverhältnisse; die Individuen bedingen nichts anderes als Ideen. Nun sind die Differentialverhältnisse in der Idee keineswegs schon wieder Arten (oder Gattungen, Familien usw.), sowenig ihre ausgezeichneten Punkte schon wieder Teile sind. Sie konstituierten keineswegs schon wieder Qualitäten und Extensionen. Im Gegenteil, alle Ideen koextistieren miteinander, alle Verhältnisse, ihre Variationen und ihre Punkte, obwohl sich ein Ordnungswechsel je nach betrachteten Elementen einstellt: Sie unterliegen durchgängiger Bestimmung oder Differentiation, obwohl sie gänzlich undifferenziert sind. Eine solcher Modus deutlicher ,,Unterscheidung“ [distinction] schien uns mit der Perplikation der Idee zu korrespondieren, d. h. mit ihrem problematischen Charakter und der virtuellen Realität, die sie repräsentiert. Darum war die Idee in logischer Hinsicht dadurch gekennzeichnet, deutlich-dunkel [distincte-obscure] in einem zu sein. Gerade als deutlich unterschiedene [distincte] (omni
22 Albert
Dalcq: L’a?uf
et son dynamisme organisateur, Paris 1941,
S. 194 ff.
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modo determinata) ist sie dunkel (undifferenziert, koexistent mit anderen Ideen, mit ihnen ,,perpliziert“). Es geht um die Frage, was geschieht, wenn die Ideen durch die Intensitäten oder Individuen in dieser neuen Dimension ausgedrückt werden, in der Dimension der Implikation. Hier drückt nun die Intensität, Differenz an sich selbst, Differentialverhältnisse und entsprechende ausgezeichnete Punkte aus. Sie führt in diese Verhältnisse und zwischen die Ideen einen neuen Typ von Unterscheidung [distinction] ein. Die Ideen, die Verhältnisse, die Variationen dieser Verhältnisse, die ausgezeichneten Punkte sind jetzt in gewisser Weise geschieden; anstatt weiter nebeinander zu koexistieren, treten sie in simultane oder sukzessive Zustände ein. Dennoch werden alle Intensitäten jeweils voneinander impliziert, wobei jede einzelne ihrerseits umhüllend und umhüllt ist. So daß jede davon fortfährt, die wechselnde Totalität der Ideen, die variable Gesamtheit der Differentialverhältnisse auszudrücken. Sie drückt aber nur manche davon, und manche Variationsgrade, klar aus. Die sie klar ausdrückt, sind eben jene, die sie direkt intendiert, wenn sie die Funktion der umhüllenden annimmt. In ihrer Funktion als umhüllte drückt sie nichtsdestoweniger alle Verhältnisse, alle Grade, alle Punkte aus, allerdings verworren. Da sich beide Funktionen wechselseitig bedingen, da die Intensität zunächst durch sich selbst umhüllt wird, muß man sagen, daß das Klare und das Verworrene ebensowenig trennbar sind - als logisches Merkmal in der Intensität, die die Idee ausdrückt, d.h. im Individuum, das sie denkt -, wie sich das Deutliche [distinct] und das Dunkle in der Idee selbst trennen lassen. Dem Deutlich-Dunklen als ideeller Einheit entspricht das Klar-Verworrene als individuierende intensive Einheit. Das Klar-Verworrene qualifiziert nicht die Idee, sondern den Denkenden, der es denkt oder ausdrückt. Denn der Denkende ist das Individuum selbst. Das Deutliche war nichts anderes als das Dunkle, es war dunkel als Deutliches; nun aber ist das Klare nichts anderes als das Verworrene, und es ist verworren als Klares. Wir haben gesehen, daß der Mangel der Theorie der Repräsentation vom Standpunkt der Logik der Erkenntnis aus darin gelegen hatte, eine direkte Proportion zwischen dem Klaren und dem Deutlichen herzustellen, ungeachtet des umgekehrten Verhältnisses, das diese beiden logischen Werte verknüpft; jedes Bild des Denkens wurde dadurch entstellt. Allein Leibniz kam den Bedingungen einer Logik des Denkens nahe, angeregt eben durch seine Theorie der Individuation und des Ausdrucks. Denn trotz der Ambiguität und der Komplexität der Texte scheint es mitunter, daß das Ausgedrückte (der Inhalt der D’ff i erentialverhältnisse oder die unbewußte virtuelle Idee) an sich selbst deutlich und dunkel sei: so etwa alle Wassertropfen des Meeres, verstanden als genetische Elemente mit ihren Differentialverhaltnissen, den Variationen dieser Verhältnisse und den ausgezeichneten Punkten, die sie enthalten. Und daß das Ausdrückende (das wahrnehmende, imaginierende oder d enkende Individuum) von Natur aus klar und verworren sei: so etwa u n s e r e Wahrnehmung des Meeresrauschens, die auf verworrene Weise das Ganze umfaßt, aber nur manche Verhaltnisse und manche Punkte klar aus-
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drückt, und zwar in Abhängigkeit von unserem Körper und einer Bewußtseinsschwelle, die dieser bestimmt. Die Ordnung der Implikation umfaßt das Umhüllende ebenso wie das Umhüllte, die Tiefe wie die Entfernung. Wenn eine umhüllende Intensität diese oder jene Differentialverhältnisse und ausgezeichneten Punkte klar ausdrückt, so drückt sie alle anderen Verhältnisse, alle ihre Variationen und Punkte nichtsdestoweniger verworren aus. Sie drückt sie dann in den Intensitäten aus, die sie umhüllt, in den umhüllten Intensitäten. Diese aber sind jener immanent. Die umhüllenden Intensitäten (die Tiefe) bilden das Individuationsfeld, die individuierenden Differenzen. Die umhüllten Intensitäten (die Entfernungen) bilden die individuellen Differenzen. Diese füllen also notwendig jene. Warum ist die umhüllende Intensität bereits Individuationsfeld? Weil das D’ff i erentialverhältnis, das sie intendiert, noch keine Art ist und seine ausgezeichneten Punkte noch keine Teile sind. Sie sollen es werden, aber nur dadurch, daß sie sich aktualisieren, unter Einwirkung des Felds, das sie bildet. Muß man wenigstens sagen, daß alle Individuen ein und derselben Art das gleiche Individuationsfeld besitzen, da sie ursprünglich dasselbe Verhältnis intendieren? Sicher nicht, denn zwei individuierende Intensitäten können in abstrakter Hinsicht, durch ihren klaren Ausdruck, dieselben sein; sie sind niemals dieselben aufgrund der Ordnung der Intensitäten, die sie umhüllen, oder der Verhältnisse, die sie verworren ausdrücken. Es gibt eine variable 0 rd nung, der zufolge die Gesamtheit der Verhältnisse auf verschiedene Weise in diesen sekundären Intensitäten impliziert wird. Man sollte sich jedoch hüten zu sagen, das Individuum besitze individuelle Differenz nur aufgrund seiner verworrenen Sphäre. Dies hieße wiederum, die Unauflösbarkeit von Klarem und Verworrenem zu vernachlässigen; dies hieße zu vergessen, daß das Klare durch sich selbst, als Klares, verworren ist. Denn die sekundären Intensitäten repräsentieren die grundlegende Eigenschaft der primären Intensitäten, d.h. das Vermögen, sich zu teilen, indem sie sich in ihrer Natur verändern. Zwei Intensitäten sind identisch nur in abstrakter Hinsicht, differieren aber wesentlich, und sei es nur auf die Weise, wie sie sich in die Intensitäten teilen, die sie enthalten. Man sollte sich schließlich hüten zu sagen, daß sich die Individuen derselben Art durch ihre Teilhabe an anderen Arten unterscheiden: als ob es etwa in jedem Menschen Züge des Esels ‘und des Löwen, des Wolfs oder des Schafs gäbe. Natürlich gibt es all das, und die Seelenwanderung bewahrt all ihre symbolische Wahrheit; aber Esel und Wolf können als Arten nur hinsichtlich der Individu ationsfelder betrachtet werden, durch die sie klar ausgedrückt werden. Im Verworrenen u n d Umhüllten haben sie nur die Rolle von Variablen, Teilseelen oder individuellen Differenzen. Darum hatte Leibniz zurecht den Begriff der Meternpsychose durch den des ,,Metaschematismus“ ersetzt; er verstand darunter, daß eine Seele nicht den Körper wechselt, sondern daß sich ihr Körper von neuem umhüllt, sich re-impliziert, um bei Bedarf in andere Individuationsfelder zu gelangen, wobei er auf diese Weise
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zu einem ,,subtileren Theater“ zurückkehrt23. Jeder Körper, jedes Ding denkt und ist ein Gedanke, vorausgesetzt es drückt - auf seine intensiven Ursachen reduziert - eine Idee aus, deren Aktualisierung es bestimmt. Aber der Denkende selbst macht alle Dinge zu seinen individuellen Differenzen; und gerade in diesem Sinne ist er mit Steinen und Diamanten, Pflanzen und ,,Tieren sogar“ behangen. Der Denkende, der Denker der ewigen Wiederkunft zweifellos, ist das Individuum, das universale Individuum. Dieses Individuum ist es, das sich der ganzen Macht des Klaren und Verworrenen, des Klar-Verworrenen bedient, um die Idee in all ihrer Macht als deutlich-dunkle zu denken. Daher muß man beständig den mannigfaltigen, beweglichen und kommunizierenden Charakter der Individualität in Erinnerung rufen: ihren implizierten Charakter. Die Unteilbarkeit des Individuums hängt nur mit der Eigenschaft der intensiven Quantitäten zusammen, sich nämlich nicht zu teilen, ohne sich wesentlich zu verändern. Wir sind aus all diesen Tiefen und Entfernungen, aus diesen intensiven Seelen gemacht, die sich entfalten und wieder umhüllen. Individuierende Faktoren nennen wir die Gesamtheit dieser umhüllenden und umhüllten Intensitäten, dieser individuierenden und individuellen Differenzen, die einander fortwährend über die Individuationsfelder hinweg durchdringen. Die Individualität ist nicht das Merkmal des Ichs, sie bildet und nährt im Gegenteil das System des aufgelösten Ichs.
Wir müssen die Beziehungen zwischen Explikation und Differenzierung präzisieren. Die Intensität erschafft die Ausdehnungen und Qualitäten, in denen sie sich expliziert; diese Ausdehnungen wie diese Qualitäten sind differenziert. Eine Ausdehnung ist formal deutlich von einer anderen unterschieden [distincte] und enthält an sich selbst Unterscheidungen [distintions] von Teilen, die mit ausgezeichneten Punkten übereinstimmen; eine Qualität ist in materieller Hinsicht deutlich geschieden und enthält Unterscheidungen, die mit Verhältnisvariationen übereinstimmen. Erschaffen heißt stets Differenzierungslinien und -figuren erzeugen. Tatsachlich aber expliziert sich die Intensität nicht, ohne sich in diesem von ihr erschaffenen differenzierten System zu tilgen. Ebenso stellt man fest, daß sich die Differenzierung eines Systems durch Kopplung mit einem allgemeineren System ergibt, das sich ,,entdifferenziert“. In diesem Sinne widersprechen selbst die Lebewesen nicht dem empirischen Degradationsprinzip, kompensiert eine Vereinheitlichung des Ganzen die lokalen Differenzierungen, genau wie eine endgültige Tilgung die ursprünglichen Schöpfungen kompensiert. Man sieht jedoch, wie je nach Gebiet ganz entscheidende Variationen zutage treten. Ein physikalisches
23 Leibniz: Principes de La Natur-e et de la Grke (1 WI), § 6; dt.: Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, in: Philosophische Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 427 [Übersetzung
verändert;
d.Ü.].
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System und ein biologisches System unterscheiden sich zunächst durch die Ordnung der Ideen, die sie verkörpern oder aktualisieren: Differentiale dieser oder jener Ordnung. Sie unterscheiden sich sodann im Individuationsprozeß, der diese Aktualisierung bestimmt: mit einem Mal und nur an den Rändern im physikalischem System, während das biologische System sukzessive Einspeisungen von Singularitäten erhält und sein ganzes inneres Milieu an den Operationen teilhaben läßt, die sich an den äußeren Grenzen vollziehen. Sie unterscheiden sich schließlich durch die Differenzierungsfiguren, die die Aktualisierung selbst repräsentieren: die biologische Spezifikation und Organisation im Unterschied zu der bloßen physikalischen Qualifizierung und Partition. Aber die Tilgung der produktiven Differenz und die Auslöschung der produzierten Differenzierung bleiben, welches Gebiet auch betrachtet wird, das Gesetz der Explikation, das sich ebenso in der physikalischen Nivellierung wie im biologischen Tod niederschlägt. Wiederum hat das Degradationsprinzip an keiner Stelle Widerlegung oder Widerspruch erfahren. Und wenn es alles ,,expliziert“, so wird es dennoch keiner Sache gerecht. Wenn alles - wie sich sagen ließ - hineingerät, kommt nichts heraus. Wenn ihm nichts widerspricht, wenn es weder Gegenordnung noch Ausnahme kennt, so gibt es doch etliche Dinge anderer Ordnung. Wenn das lokale Anwachsen von Entropie durch eine allgemeinere Degradation kompensiert wird, so ist es doch in keiner Weise in dieser enthalten oder durch sie erzeugt. Es ist das Los empirischer Prinzipien, daß sie die Elemente ihrer eigenen Begründung nicht in sich tragen. Offensichtlich wird das Degradationsprinzip weder der Erschaffung des einfachsten Systems noch der Evolution der Systeme gerecht (der dreifache Unterschied des biologischen Systems zum physikalischen). Daher zeugt das Lebendige von einer anderen Ordnung, von einer heterogenen Ordnung und einer anderen Dimension - als ob die individuierenden Faktoren oder die Atome, die in ihrem Vermögen wechselseitiger Kommunikation und fließender Instabilität individuell erfaßt werden, darin über einen höheren Ausdrucksgrad verfügtenz4. Welche Formel hat diese ,,Evolution“ ? Je komplexer ein System ist, desto mehr spezifische Implikationswerte erscheinen darin. Die Anwesenheit dieser Werte ermöglicht es, die Komplexität oder die Kompliziertheit eines System zu beurteilen, sie bestimmen die oben angeführten Merkmale des biologischen Systems. Die Implikationswerte sind Umhüllungszentren. Diese Zentren sind nicht die individuierenden intensiven Faktoren selbst; sie sind vielmehr deren Repräsentanten in einem komplexen Zusammenhang, der gerade dabei ist, sich zu explizieren. Sie sind es, die die kleinen Inseln, den lokalen Wiederanstieg Probhnatique de l’kvolution, Paris 1954, S. 193: ,,Die Funktionsweise des biologischen Systems widerspricht also nicht der Thermodynamik, es liegt nur außerhalb von deren Anwendungsfeld [. . .].“ - In diesem Sinne ruft Meyer die Frage Jordans in Erinnerung: ,,Ist ein Säugetier ein mikroskopisches Wesen?“ (S. 228).
24 Francois Meyer:
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von Entropie im Innern eines Systems bilden, dessen Gesamtheit jedoch mit der Degradation übereinstimmt: so etwa die individuell herausgegriffenen Atome, die gleichwohl das Gesetz ansteigender Entropie bestätigen, sobald man sie massenhaft in der Explikationsordnung des Systems betrachtet, in dem sie impliziert werden. Indem er individuelle Wirkungen zwischen orientierten Molekülen aufweist, kann ein Organismus, ein Säugetier etwa, einem mikroskopischen Wesen gleichgesetzt werden. Die Funktion dieser Zentren definiert sich auf mehrfache Weise. Sofern die individuierenden Faktoren eine Art Noumenon des Phänomens bilden, sagen wir zunächst, daß das Noumenon danach strebt, als solches in den komplexen Systemen zu erscheinen, daß es sein spezifisches Phänomen in den Umhüllungszentren findet. Sodann sagen wir - insofern der Sinn an die sich verkörpernden Ideen und an die Individuationen geknüpft ist, die diese Verkörperung bestimmen -, daß diese Zentren expressiv sind oder den Sinn offenbaren. Und sofern jedes Phänomen seine Ursache in einer Intensitätsdifferenz findet, die es gleichsam mit Randbegrenzungen umsäumt, zwischen denen es aufblitzt, sagen wir schließlich, daß die komplexen Systeme mehr und mehr danach streben, ihre konstitutiven Differenzen zu verinnerlichen: Die Umhüllungszentren gehen aus dieser Verinnerlichung der individuierenden Faktoren hervor. Und je mehr die Differenz, von der das System abhängt, im Phänomen verinnerlicht wird, umso mehr tritt die Wiederholung selbst nach Innen, umso weniger hängt sie von äußeren Bedingungen ab, die die Reproduktion der ,,selben” Differenzen garantieren sollten. Wie die Bewegung des Lebens bezeugt, streben Differenz und Wiederholung gleichzeitig danach, sich im System Signal/Zeichen zu verinnerlichen. Zurecht begnügen sich die Biologen, wenn sie das Problem der Erblichkeit stellen, nicht damit, dieser zwei verschiedene Funktionen zuzuweisen, welche der Variation und der Reproduktion entsprechen würden, sondern wollen die tiefgreifende Einheit dieser Funktionen oder ihre wechselseitige Bedingtheit aufzeigen. An diesem Punkt münden die Vererbungslehren notwendig in eine Philosophie der Natur. Und das heißt, daß die Wiederholung niemals Wiederholung des ,,Selben“, sondern stets des Differenten als solchen ist, und daß die Differenz an sich selbst die Wiederholung zum Gegenstand hat. In dem Augenblick, in dem sie sich in einem System explizieren (ein für allemal), bezeugen die differentiellen, intensiven oder individuierenden Faktoren ihre Beständigkeit in der Implikation, bezeugen sie die ewige Wiederkehr als Wahrheit dieser Implikation. Stumme Zeugen der Degradation und des Todes, sind die Umhüllungszentren die dunklen Vorboten der ewigen Wiederkehr Aber auch hier sind es die stummen Zeugen, die dunklen Vorboten, die alles vollbringen oder in denen zumindest alles geschieht. Wenn man immer wieder von Evolution redet, muß man wohl auch auf die psychischen Systeme zu sprechen kommen. Bei jedem Systemtyp müssen wir danach fragen, was den Ideen zukommt, was jeweils der Individuation/Implikation und der Differenzierung/Explikation zukommt. Wenn das Problem mit
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den psychischen Systemen eine besondere Dringlichkeit annimmt, so deshalb, weil es keineswegs gewiß ist, daß das Ego [Je] und das Ich [Moi] zum Gebiet der Individuation gehören. Sie sind eher die Figuren der Differenzierung. Das Ego bildet die eigentlich psychische Spezifikation und das Ich die psychische Organisation. Das Ego ist die Qualität des Menschen als Art. Die psychische Spezifikation ist nicht vom gleichen Typus wie die biologische Spezifikation, weil die Bestimmung dabei gleich dem Bestimmbaren oder von derselb e n Potenz wie dieses sein muß. Darum verwarf Descartes jede Definition d e s Menschen, die wie bei einer Tierart mit Gattung und ‘Differenz operiert: vernünftiges Tier etwa. Nun führt er aber gerade das 1ch denke als ein anderes Definitionsverfahren vor, das die Spezifität des Menschen oder die Qualität seiner Substanz zu belegen vermag. In Korrelation zum Ego muß das Ich als Extension begriffen werden: Das Ich [Moi] bezeichnet den spezifisch psychischen Organismus mit seinen ausgezeichneten Punkten, die durch die verschiedenen Vermögen repräsentiert werden, die in die Komprehension des Ego [Je/ eingehen. So daß sich die psychische Grundkorrelation in der Formulierung ICH denke MICH [JE ME pense] ausdrückt, wie sich entsprechend die biologische Korrelation in der Komplementarität der Art und der Teile, der Qualität und der Extension ausdrückt. Darum beginnen Ego und Ich, jedes von seiner Seite aus, mit Differenzen, diese Differenzen aber sind von Anfang an so verteilt, daß sie sich tilgen, entsprechend den Forderungen des gesunden Menschenverstands und des Gemeinsinns. Das Ego erscheint also am Ende ebensogut als universale Form des differenzlosen psychischen Lebens, das Ich als der universale Stoff dieser Form. Ego und Ich explizieren sich, explizieren sich fortwährend über die gesamte Geschichte des Cogito hinweg. Die individuierenden Faktoren, die implizierten Individuationsfaktoren haben also weder die Form des Ego noch den Stoff des Ichs. Und zwar deswegen, weil das Ego nicht von einer Identitätsform trennbar ist, und das Ich nicht von einem Stoff, der durch eine Kontinuität von Ähnlichkeiten gebildet wird. Die im Ego und im Ich enthaltenen Differenzen sind sicher mit dem Individuum verwachsen; dennoch sind sie nicht individuell oder individuierend, sofern sie in Bezug auf jene Identität im Ego und jene Ähnlichkeit im Ich gedacht werden. Demgegenüber ist jeder individuierende Faktor bereits Differenz und Differenz von-Differenz. Er ist auf einer grundlegenden Disparität aufgebaut, er funktioniert an den Rändern dieser Disparität als solcher. Darum kommunizieren diese Faktoren fortwährend untereinander über die Individuationsfelder hinweg, umhüllen sich gegenseitig, mit einer Unbeständigkeit, die den Stoff des Ego wie die Form des Ichs erschüttert. Die Individuation ist beweglich, seltsam geschmeidig, flüchtig, hat Fransen und Ränder, weil die Intensitäten, durch die sie hervorgetrieben wird, andere Intensitäten umhüllen, von anderen umhüllt werden und mit allen kommunizieren. Das Individuum ist keineswegs das Unteilbare, es teilt sich fortwährend, indem es sich in seiner Natur verändert. Es ist in dem, was es ausdrückt, kein Ich; denn es drückt
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Ideen als innere Mannigfaltigkeiten aus, die aus Differentialverhältnissen und ausgezeichneten Punkten, aus präindividuellen Singularitäten bestehen. Und es ist ebenso wenig ein Ego als Ausdruck; denn auch hier bildet es eine Mannigfaligkeit von Aktualisierung, als eine Verdichtung von ausgezeichneten Punkten, eine offene Sammlung von Intensitäten. Oft hat man auf den Unbestimmtheitsrand des Individuums und den relativen, gleitenden und fließenden Charakter der Individualität selbst aufmerksam gemacht (etwa im Fall zweier physikalischer Partikel, deren Individualität man nicht mehr verfolgen kann, wenn ihre Anwesenheitsbereiche oder Individuationsfelder ineinander übergreifen; oder in der biologischen Unterscheidung von Organ und Organismus, die von der Lage der entsprechenden Intensitäten abhängt, je nachdem, ob sie in einem größeren Individuationsfeld umhüllt oder nicht umhüllt sind). Der Irrtum aber liegt darin zu glauben, daß diese Relativität oder diese Unbestimmtheit eine Unfertigkeit in der Individualität, eine Unterbrechung in der Individuation bedeute. Im Gegenteil, sie drücken die ganze positive Macht des Individuums als solchen aus, sie drücken die Art und Weise aus, wie sich dieses wesentlich von einem Ego wie einem Ich unterscheidet. Das Individuum unterscheidet sich vom Ego und vom Ich, wie sich die intensive Ord- i nung der Implikationen von der extensiven und qualitativen Ordnung der Explikation unterscheidet. Unbestimmt, gleitend, fließend, kommunizierend, umhüllend-umhüllt - das sind die positiven Merkmale, die durch das Individuum bejaht werden. Daher genügt es nicht, die Ichs zu vervielfältigen oder das Ego ,,abzuschwächen“, um den wahren Status der Individuation zu entdecken. Wir haben dennoch gesehen, wie sehr das Ich als Bedingung der passiven organischen Synthesen angenommen werden mußte, die bereits die Rolle von stummen Zeugen spielen. Gerade die Synthese der Zeit aber, die sich in ihnen vollzieht, verweist auf andere Synthesen wie auf andere Zeugen und führt uns in Gebiete anderer Natur, in denen es weder Ego noch Ich gibt und im Gegenteil das chaotische Reich der Individuation beginnt. Denn jedes Ich bewahrt noch eine Ähnlichkeit in seinem Stoff und jedes Ego eine Identität, sei sie auch abgeschwächt. Dasjenige aber, was eine Unähnlichkeit als Grund und eine Differenz von Differenz als Ungrund besitzt, paßt nicht in die Kategorien von Ego und Ich. Die große Entdeckung der Philosophie Nietzsches, die sich unter dem Namen Wille zur Macht oder dionysische Welt verbirgt, eine Entdeckung, die seinen Bruch mit Schopenhauer markiert, ist die folgende: Sicher müssen Ego und Ich in einem undifferenzierten Abgrund überschritten werden; dieser Abgrund aber ist weder ein Unpersönliches noch ein abstraktes Universales jenseits der Individuation. Im Gegenteil, gerade das Ego, das Ich sind das abstrakte Universale. Sie müssen überschritten werden, allerdings mittels und in der Individuation und in Richtung auf die individuierenden Faktoren, durch die sie aufgezehrt werden und die die fließende Welt des Dionysos bilden. Das Unüberschreitbare ist die Individuation selbst. Jenseits von Ich und Ego gibt es nicht das Unpersönliche, sondern das Individuum und seine
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Faktoren, die Individuation und ihre Felder, die Individualität und ihre präindividuellen Singularitäten. Denn das Präindividuelle ist noch singulär, wie das Ante-Ego und das Vor-Ich noch individuell sind. Nicht nur ,,noch“, man müßte sagen: ,,zuletzt”. Darum. findet das Individuum als Intensität sein psychisches Bild weder in der Organisation des Ichs noch in der Spezifikation des Ego, sondern im Gegenteil im gespaltenen Ego und im aufgelösten Ich und in der Korrelation beider. Diese Korrelation tritt uns unmißverständlich vor Augen: als Korrelation des Denkenden und des Denkens, des klar-verworrenen Denkers hinsichtlich der deutlich-dunklen Ideen (dionysischer Denker). Die Ideen sind es, die uns vom gespaltenen Ego zum aufgelösten Ich führen. Was an den Rändern des Sprungs wimmelt, sind, wie wir gesehen haben, die Ideen als entsprechend viele Probleme, d. h. als Mannigfaltigkeiten, die aus Differentialverhältnissen und Verhältnisvariationen, ausgezeichneten Punkten und Punkttransformationen bestehen. Diese Ideen aber drücken sich in den individuierenden Faktoren aus, in der implizierten Welt intensiver Quantitäten, die die konkrete universale Individualität des Denkenden oder das System des aufgelösten Ichs bilden. Der Tod wird ins Ego und ins Ich eingeschrieben als die Tilgung der Differenz in einem Explikationssystem oder als die Degradation, die nun die Differenzierungsprozesse kompensiert. Aus dieser Perspektive mag der Tod noch so unvermeidlich sein, jeder Tod ist gleichwohl zufällig und gewaltsam und kommt stets von außen. Gleichzeitig hat aber der Tod eine ganz andere Gestalt, diesmal in den individuierenden Faktoren, die das Ich auflösen: Er entspricht nun einem ,,Todestrieb“, einer inneren Macht, die die individuierenden Elemente von der Form des Ego und dem Stoff des Ichs befreien, in denen sie eingeschlossen sind. Man hätte Unrecht, würde man die beiden Seiten des Todes verwechseln, als ob sich der Todestrieb auf eine Tendenz zu anwachsender Entropie oder eine Rückkehr zur unbelebten Materie reduzieren ließe. Jeder Tod geschieht zweifach, durch die Tilgung der großen Differenz, die er in der Ausdehnung repräsentiert, und durch das Gewimmel und die Befreiung kleiner Differenzen, die er in der Intensität impliziert. Freud legte folgende Hypothese nahe: Der Organismus will sterben, will aber auf seine Weise sterben, so daß der wirklich eintretende Tod stets Abkürzungen, ein äußeres, zufälliges und gewaltsames Gepräge darstellt, die dem inneren Sterbenwollen widerstreben. Es besteht eine notwendige Unangemessenheit zwischen dem Tod als empirischem Ereignis und dem Tod als ,,Trieb“, als transzendentaler Instanz. Freud und Spinoza haben gleichermaßen recht: der eine hinsichtlich des Triebs, der andere hinsichtlich des Ereignisses. Als von innen heraus gewollter geschieht der Tod stets von außen, in einer anderen, passiven, zufälligen Gestalt. Der Selbstmord ist ein Versuch, diese beiden Seiten, die einander fliehen, zu vereinbaren und in Übereinstimmung zu bringen. Aber die beiden Ränder fügen sich nicht zusammen, jeder Tod bleibt zweifach. Einerseits ist er ,,Entdifferenzierung“, die die Differenzierungen des Ego, des Ichs in einem Gesamtsystem kompensiert, das sie vereinheitlicht;
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andererseits ist er Individuation, Einspruch des Individuums, das sich niemals in den Grenzen von Ego und Ich - seien sie auch universal - wiedererkannt h at . Freilich muß es in den psychischen Systemen, die im Begriff sind, sich zu explizieren, Implikationswerte geben, d. h. Umhüllungszentren, die für die individuierenden Faktoren Zeugnis ablegen. Diese Zentren werden natürlich weder vom Ego noch vom Ich gebildet, sondern durch eine ganz andere, dem System Ego/Ich zugehörige Struktur. Diese Struktur muß mit dem Namen des ,,Anderen“ bezeichnet werden. Sie bezeichnet niemanden, sondern nur mich für das andere Ego und das andere Ego für mich. Der Fehler der Theorien liegt genau darin, unaufhörlich zwischen einem Pol, an dem der Andere auf den Status eines Objekts reduziert ist, und einem Pol, wo er zum Status des Subjekts erhoben wird, zu schwanken. Selbst Sartre begnügte sich damit, dieses Schwanken in den Anderen als solchen einzuschreiben, indem er zeigte, daß der Andere Objekt wird, wenn ich Subjekt bin, und selbst nicht Subjekt wird, ohne daß ich meinerseits Objekt bin. Dadurch blieb die Struktur des Anderen ebenso verkannt wie seine Funktionsweise in den psychischen Systemen. Als Anderer, der niemand ist, sondern Ich für den Anderen und der Andere für mich, definiert sich der Andere a priori in jedem System durch seinen expressiven, d. h. impliziten und umhüllenden Wert. Man betrachte ein entsetztes Gesicht (unter Erfahrungsbedingungen, bei denen ich die Gründe dieses Entsetzens nicht sehe, nicht empfinde). Dieses Gesicht drückt eine mögliche Welt aus - die grauenerregende Welt. Unter Ausdruck verstehen wir wie immer jene Relation, die wesentlich eine Verzerrung enthält, eine Relation zwischen einem Ausdrückenden und einem Ausgedrückten, so daß das Ausgedrückte nicht außerhalb des Ausdrückenden existiert, obwohl sich das Ausdrückende darauf wie auf etwas ganz anderes bezieht. Unter möglich verstehen wir folglich keinerlei Ähnlichkeit, sondern den Zustand des Implizierten, des Umhüllten, und zwar gerade in seiner Heterogenität zu dem, wodurch es umhüllt wird: Das entsetzte Gesicht ähnelt nicht dem, wodurch es entsetzt wird, umhüllt es vielmehr im Zustand der grauenerregenden Welt. In jedem psychischen System ist die Wirklichkeit mit einem Gewimmel von Möglichkeiten umgeben; aber unsere Möglichkeiten sind stets die Anderen. Der Andere kann nicht von der Expressivität getrennt werden, die ihn konstituiert. Selbst wenn wir den Körper des Anderen als Objekt betrachten, seine Augen und Ohren als anatomische Belegstücke, berauben wir sie nicht jeglicher Expressivität, obwohl wir die Welt, die sie ausdrücken, bis ins Äußerste vereinfachen: Das Auge ist ein impliziertes Licht, das Auge ist der Ausdruck eines möglichen Lichts, das Ohr der Ausdruck eines möglichen Lauts25. Ganz
25 Zum Anderen als Ausdruck, Implikation und Umhüllung einer ,,möglichen 6’ Welt vgl. Michel Tournier: Vendredi ou les limbes du Pacifique, Paris 1967; dt.: Freitag oder im Schoß des Pazifik, Reinbek 1971.
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konkret aber sind es die sogenannten tertiären Qualitäten, mit denen die existierende Welt zunächst durch den Anderen umhüllt wird. Das Ego und das Ich dagegen zeichnen sich unmittelbar durch Entwicklungs- oder Explikationsfunktionen aus: Sie erfahren nicht nur die Qualitäten überhaupt als bereits in der Ausdehnung ihres Systems entfaltete, sondern sie streben auch danach, die durch den Anderen ausgedrückte Welt zu explizieren, zu entwickeln, sei es, um daran teilzuhaben, sei es, um sie zu widerlegen (ich lasse das geängstigte Gesicht des Anderen an mir vorüberziehen, ich entfalte es in einer furchterregenden Welt, deren Wirklichkeit mich ergreift oder deren Unwirklichkeit ich entlarve). Aber diese Entwicklungsrelationen, die ebenso unsere Gemeinsamkeiten wie unsere Auseinandersetzungen mit dem Anderen ausmachen, lösen dessen Struktur auf und reduzieren ihn im einen Fall auf den Status eines Objekts, erheben ihn im anderen Fall in den Status eines Subjekts. Um den Anderen als solchen zu erfassen, durften wir uns also zurecht auf spezielle Erfahrungsbedingungen berufen, so künstlich sie gewesen sein mögen: der Augenblick, an dem das Ausgedrückte (für uns) noch keine Existenz außerhalb dessen besitzt, wodurch es ausgedrückt wird. - Der Andere als Ausdruck einer möglichen Welt.
In einem psychischen System Ego/Ich fungiert also der Andere als ein Umwicklungs-, Umhüllungs- und Implikationszentrum. Er ist der Repräsentant der individuierenden Faktoren. Und wenn es stimmt, daß ein Organismus als ein mikroskopisches Lebewesen gilt, um wievieles mehr trifft dies dann auf den Anderen in den psychischen Systemen zu. Er bildet darin die lokalen Anstiege von Entropie, während die Explikation des Anderen durch das Ich eine gesetzmäßige Degradation repräsentiert. Die oben geltend gemachte Regel: sich nicht allzu sehr explizieren - diese Regel meinte vor allem, sich nicht allzu sehr mit dem Anderen zu explizieren, nicht allzu sehr den Anderen ZU explizieren, seine impliziten Werte Zu erhalten, unsere Welt zu vervielfachen, indem sie mit all dem Ausgedrückten bevölkert wird, das nicht außerhalb seines jeweiligen Ausdrucks existiert. Denn der Andere ist kein anderes Ego, sondern das Ego ein anderes, ein gespaltenes Ego. Es gibt keine Liebe, die nicht mit der Offenbarung einer möglichen Welt als solcher beginnt, einer Welt, die im Anderen, der sie ausdrückt, eingewickelt liegt. Das Gesicht Albertines drückte das Amalgam aus Strand und Meereswogen aus: ,,Von welcher unbekannten Welt schied sie mich?“ Die ganze Geschichte dieser exemplarischen Liebe ist die langwierige Explikation möglicher Welten, die durch Albertine ausgedrückt werden, eine Explikation, durch die sie sich bald in ein betörendes Subjekt, bald in ein enttäuschendes Objekt verwandelt. Freilich verfügt der Andere über ein Mittel, den von ihm ausgedrückten Möglichkeiten Realität zu verschaffen, unabhängig von der Entfaltung, der wir sie unterziehen würden. Dieses Mittel ist die Sprache. Aus dem Mund des Anderen verleihen die Wörter dem Möglichen als solchem die Stellung einer Realität; daher die Begründung der Lüge, die der Sprache selbst einbeschrie-
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ben ist. Es ist die Rolle der Sprache in Abhängigkeit von Implikationswerten oder Umhüllungszentren, die ihr ihre Macht in den Systemen mit interner Resonanz verleiht. Die Struktur des Anderen und die entsprechende Funktion der Sprache repräsentieren tatsächlich die Manifestation des Noumenon, das Ansteigen expressiver Werte, jenes Bestreben endlich zur Verinnerlichung der Differenz.
SCHLUSS
DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG Solange die Differenz den Anforderungen der Repräsentation unterliegt, wird sie nicht an sich selbst gedacht und kann es nicht werden. Die Frage: War sie ,,stets“ diesen Anforderungen unterworfen, und aus welchen Gründen? diese Frage muß näher untersucht werden. Es zeigt sich allerdings, daß die reinen Disparata entweder das himmlische Jenseits eines für unser vorstellendes Denken unzugänglichen göttlichen Verstands bilden, oder aber das höllengleiche, für uns unauslotbare Diesseits eines Ozeans an Unähnlichkeit. Jedenfalls scheint die Differenz an sich selbst jeden Bezug des Differenten zum Differenten auszuschließen, einen Bezug, der es ermöglichte, sie zu denken. Denkmöglich scheint sie nur als gezähmte zu werden, d. h. in ihrer Unterwerfung unter die vierfache Fessel der Repräsentation: der Identität im Begriff, des Gegensatzes im Prädikat, der Analogie im Urteil, der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung. Wenn es, wie Foucault es so klar gezeigt hat, eine klassische Welt der Repräsentation gibt, so definiert sie sich durch diese vier Dimensionen, die sie vermessen und koordinieren. Dies sind die vier Wurzeln des Vernunftprinzips: die Identität des Begriffs, die sich in einer ratio cognoscendi reflektiert; der Gegensatz des Prädikats, der in einer ratio fiendi entfaltet wird; die Analogie des Urteils, die in einer ratio essendi verteilt wird; die Ähnlichkeit der Wahrnehmung, die eine ratio agendi bestimmt. Jede andere Differenz, jede Differenz, die nicht auf diese Weise verwurzelt ist, muß maßlos, unkoordiniert, anorganisch sein: zu groß oder zu klein, und zwar nicht nur hinsichtlich ihres Gedachtseins, sondern auch ihres Seins. Als nicht länger gedachte verläuft sich die Differenz im Nicht-Sein. Man schließt daraus, daß die Differenz an sich verflucht bleibt und büßen muß, oder daß sie in den Formen der Vernunft gesühnt werden muß, durch die sie erträglich und denkbar und zum Gegenstand einer organischen Repräsentation gemacht wird. Die größte Anstrengung der Vernunft bestand vielleicht darin, die Repräsentation ins Unendliche (Orgische) zu wenden. Es geht darum, die Repräsentation
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bis hin zum Größten und Kleinsten der Differenz auszudehnen; der Repräsentation eine ungeahnte Perspektive zu verleihen, d. h. theologische, wissenschaftliche, ästhetische Techniken zu erfinden, die es ihr ermöglichen, die Tiefe der Differenz an sich zu integrieren; zu bewerkstelligen, daß die Repräsentation das Dunkle erobert; daß sie den Schwund der allzu kleinen und das Auseinanderreißen der allzu großen Differenz erfaßt; daß sie die Macht des Taumels, der Trunkenheit, der Grausamkeit und gar des Todes einfängt. Kurz, es geht darum, ein klein wenig Blut des Dionysos in den organischen Adern Apollons fließen zu lassen. Dieses Bemühen hat die Welt der Repräsentation zu jeder Zeit durchdrungen. Orgisch zu werden und das Ansich zu erobern ist der höchste Wunsch des Organischen. Dieses Bemühen aber hatte mit Leibniz und Hegel zwei Höhepunkte. In dem einen Fall erringt die Repräsentation das Unendliche, weil eine Technik des unendlich Kleinen die kleinste Differenz und ihr Schwinden auffängt; im anderen Fall, weil eine Technik des unendlich Großen die größte Differenz und ihr Zerreißen auffängt. Und beide stimmen überein, weil das Hegelsche Problem auch das Problem des Schwindens, das Leibnizsche Problem auch das des Zerreißens ist. Hegels Technik liegt in der Bewegung der Kontradiktion (die Differenz muß bis dahin reichen, sie muß sich bis dahin ausdehnen). Sie besteht darin, das Unwesentliche in das Wesen einzuschreiben und das Unendliche mit den Waffen einer endlichen synthetischen Identität zu erobern. Leibniz’ Technik liegt in einer Bewegung, die man Vize-Diktion nennen muß; sie besteht darin, das Wesen vom Unwesentlichen aus aufzubauen und das Endliche durch die unendliche analytische Identität zu erobern (die Differenz muß sich bis dahin vertiefen). Wozu aber dient es, die Repräsentation unendlich zu machen? Sie bewahrt alle ihre Ansprüche. Entdeckt wird einzig ein Grund, der das Übermaß und den Mangel der Differenz auf das Identische, auf das Ähnliche, auf das Analoge, auf das Entgegengesetzte bezieht: Die Vernunft ist Grund geworden, d.h. zureichender Grund, der nichts mehr entkommen läßt. Es hat sich aber nichts geändert, die Differenz bleibt fluchbeladen, man hat bloß spitzfindigere und erhabenere Mittel gefunden, um sie büßen zu lassen oder sie den Kategorien der Repräsentation zu unterwerfen und darin zu erlösen. Auf diese Weise scheint der Hegelsche Widerspruch die Differenz bis ans Ende zu treiben; dieser Weg aber ist der ausweglose Weg, der sie zur Identität zurückführt und die Identität ihrem Sein und ihrem Gedachtsein genügen läßt. Nur mit Bezug auf das Identische, in Abhängigkeit vom Identischen ist der Widerspruch die größte Differenz. Trunkenheit und Taumel sind vorgetäuscht; das Dunkle ist schon von Anfang an geklärt. Nichts zeigt dies besser, als die fade Monozentrierung der Kreise in der Hegelschen Dialektik. Und auf andere Weise muß man vielleicht dasselbe von der Konvergenzbedingung in der Leibnizschen Welt sagen. Nehmen wir einen Begriff wie den der Inkompossibilität bei Leibniz. Übereinstimmend wird anerkannt, daß sich das Inkompossible nicht auf das Widersprüchliche und das Kompossible nicht auf das Identische reduzieren läßt. Gerade in diesem Sinne bezeugen Kompossi-
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bles und Inkompossibles einen spezifischen zureichenden Grund und eine Gegenwart des Unendlichen, und zwar nicht nur in der Gesamtheit der möglichen Welten, sondern auch in jeder zur Wahl stehenden Welt. Schwieriger ist es anzugeben, woraus diese neuen Begriffe bestehen. Die Kompossibilität nun scheint uns einzig durch folgendes konstituiert zu werden: durch die Bedingung eines Maximums an Kontinuität für ein Maximum an Differenz, d.h. durch eine Konvergenzbedingung von Reihen, die sich in der Umgebung der Singularitäten des Kontinuums erstellen. Umgekehrt entscheidet sich die Imkompossibilität der Welten in der Umgebung von Singularitäten, die jeweils untereinander divergente Reihen hervorriefen. Kurz, die Repräsentation mag noch so sehr unendlich werden, sie erlangt nicht die Macht zur Bejahung von Divergenz und Dezentrierung. Sie bedarf einer konvergenten, monozentrischen Welt: einer Welt, in der man nur dem Anschein nach trunken ist, in der die Vernunft den Trunkenbold spielt und ein dionysisch Lied singt, aber immer noch die ,,reine” Vernunft ist. Denn die ratio sufficiens oder der Grund ist nichts anderes als das Mittel, mit dem man das . Identische über das Unendliche selbst regieren und die Kontinuität von Ähnlichkeit, das Analogieverhältnis und den Gegensatz der Prädikate ins Unendliche eindringen läßt. Darauf reduziert sich die Ursprünglichkeit des zureichenden Grunds: die Knechtung der Differenz durch das vierfache Joch besser zu gewährleisten. Fatal ist also nicht nur der Anspruch der endlichen Repräsentation, nämlich die Differenz auf einen glücklichen Moment - nicht zu groß und nicht zu klein - zwischen Übermaß und Mangel zu verpflichten; sondern auch der offenbar entgegengesetzte Anspruch der unendlichen Repräsentation, der die Integration des unendlich Großen und unendlich Kleinen, des Übermaßes und des Mangels selbst behauptet. Die ganze Alternative von Endlichem und Unendlichem läßt sich nur sehr schlecht auf die Differenz anwenden, da sie bloß die Antinomie der Repräsentation prägt. Hinsichtlich der Differentialrechnung haben wir es übrigens gesehen: Die modernen finitistischen Deutungen entstellen die Natur des Differentiellen ebenso wie die alten infinitistischen Deutungen, weil alle beide die extrapropositionale und subrepräsentative Quelle, d. h. das ,,Problem“ entwischen lassen, aus dem die Differentialrechnung ihre Macht gewinnt. Mehr noch, es ist die Alternative zwischen Kleinem und Groißem, sei es in der endlichen Repräsentation, die beide aussschließt, sei es in der unendlichen Repräsentation, die beide, eines durch das andere, einbegreifen will - es ist diese Alternative allgemein, die in keiner Weise mit der Differenz vereinbar ist, weil sie nur das Schwanken der Repräsentation in Bezug auf eine stets dominierende Identität, oder besser: das Schwanken des Identischen in Bezug auf eine stets widerspenstige Materie ausdrückt, deren Übermaß und Mangel sie bald abweist, bald integriert. Kommen wir endlich auf Leibniz und Hegel zurück, was ihre gemeinsame Anstrengung betrifft, die Repräsentation ins Unendliche zu treiben. Wir sind uns nicht sicher, ob nicht Leibniz ,,weiter“ geht (und der weniger theologische von beiden ist): Seine Konzeption der Idee als Gesamtheit von Differentialverhält-
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nissen und singulären Punkten, seine Verfahrensweise, mit dem Unwesentlichen zu beginnen und die Wesenheiten als Umhüllungszentren um die Singularitäten herum aufzubauen, sein Gefühl für Divergenzen, seine Methode der Vize-Diktion, seine Annäherung an eine umgekehrte Proportion zwischen dem Deutlichen und dem Klaren - all das belegt, warum bei Leibniz der Untergrund mit höherer Macht rumort, warum Trunkenheit und Taumel bei ihm weniger vorgetäuscht, die Dunkelheit besser erfaßt ist, und warum hier die Küsten des Dionysos mit größerer Wirklichkeit nahe sind. Mit welchem Beweggrund wurde die Differenz den Erfordernissen der e n dlichen oder unendlichen - Repräsentation untergeordnet? Es ist korrekt, die Metaphysik durch den Platonismus zu definieren, es ist aber unzureichend, den Platonismus über die Unterscheidung zwischen Wesen und Schein zu definieren. Platons erste strenge Unterscheidung ist die zwischen Urbild und Abbild; nun ist das Abbild keineswegs bloßer Schein, da es mit der Idee als Urbild einen noologischen und ontologischen inneren geistigen Bezug darstellt. Die zweite, noch tiefere Unterscheidung betrifft das Abbild selbst und das Phantasiegebilde [phantasme]. Es ist klar, daß Platon Urbild und Abbild nur deshalb unterscheidet oder gar entgegensetzt, damit er ein selektives Kriterium bezüglich der Abbilder und Trugbilder [simulacres] erhält, wobei die einen in ihrem Bezug zum Urbild begründet, die anderen aber insofern disqualifiziert sind, als sie weder der Prüfung des Abbilds noch dem Anspruch des Urbilds standhalten. Wenn also von Schein überhaupt die Rede sein kann, so geht es um die Unterscheidung zwischen den wohlbegründeten, prachtvollen apollinischen Erscheinungen und anderen, bösartigen und unheilvollen, sich einschmeichelnden Erscheinungen, die den Grund ebenso wenig wie das Begründete achten. Dieser platonische Wille zur Austreibung des Trugbilds ist es, der die Unterwerfung der Differenz mit sich bringt. Denn das Urbild kann nur durch eine Setzung von Identität als Wesen des Selben (crV,O xc&‘afi@ definiert werden; und das Abbild durch ein inneres Ähnlichkeitsstreben als Qualität des Ähnlichen. Und weil die Ähnlichkeit immanent ist, muß das Abbild selbst einen inneren Bezug zum Sein und zum Wahren besitzen, der seinerseits dem des Urbilds analog ist. Schließlich muß sich das Abbild im Fortgang einer Methode herstellen, die ihm von zwei entgegengesetzten Prädikaten dasjenige zuschreibt, das mit dem Urbild übereinstimmt. In all diesen Fällen kann das Abbild nur dadurch vom Trugbild unterschieden werden, daß man die Differenz den Instanzen des Selben, des Ähnlichen, des Analogen und des Entgegengesetzten unterordnet. Und sicher verteilen sich diese Instanzen bei Platon noch nicht auf die Weise, wie es in der entfalteten Welt der Repräsentation (von Aristoteles an) geschen wird. Platon begründet, initiiert, weil er sich in einer Theorie der Idee bewegt, die die Entfaltung der Repräsentation ermöglichen wird. Es ist aber gerade eine moralische Motivation, die sich bei ihm in all ihrer Reinheit Ausdruck verschafft: Der Wille zur Aussonderung der Trugbilder oder Phantasiegebilde ist einzig moralisch motiviert. Was im Trugbild verworfen wird, ist der Zustand ozeani-
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scher freier Differenzen, nomadischer Verteilungen, gekrönter Anarchien, all jene Bösartigkeit, die die Begriffe von Urbild wie Abbild anficht. Später wird die Welt der Repräsentation ihren moralischen Ursprung, ihre moralischen Voraussetzungen mehr oder weniger vergessen können. Gleichwohl werden diese in der Unterscheidung von Ursprünglichem und Abgeleitetem, Anfang und Folge, Grund und Begründetem fortwirken, in einer Unterscheidung, die durch eine Fortsetzung der Komplementarität von Urbild und Abbild die Hierarchien einer repräsentativen Theologie ins Leben ruft. Die Repräsentation ist der Ort der transzendentalen Illusion. Diese Illusion besitzt mehrere Formen, vier miteinander verflochtene Formen, die insbesondere dem Denken, dem Sinnlichen, der Idee und dem Sein entsprechen. Denn das Denken zieht sich hinter ein ,,Bild“ zurück, bestehend aus Postulaten, die dessen Gebrauch und Genese verfälschen. Diese Postulate gipfeln in der Setzung eines identischen denkenden Subjekts als Identitäsprinzip für den Begriff allgemein. Es hat sich ein gleitender Übergang von der platonischen Welt zur Welt der Repräsentation vollzogen (weswegen wir auch hier Platon an den Ursprung, an den Scheidepunkt stellen konnten). Das ,,Selbe“ der platonischen Idee als Urbild, das durch das Gute gewährleistet wird, ist der Identität des ursprünglichen Begriffs gewichen, der im denkenden Subjekt gründet. Das denkende Subjekt überträgt dem Begriff seine subjektiven Begleitmomente, Gedächtnis, Rekognition, Selbstbewußtsein. Die moralische Weltsicht aber ist es, die sich auf diese Weise fortsetzt und sich in dieser subjektiven, als Gemeinsinn (cogitatio natura universalis) affirmierten Identität repräsentiert. Wenn die Differenz durch das denkende Subjekt der Identität des Begriffs untergeordnet wird (und sei diese Identität auch synthetisch), so verschwindet gerade die Differenz im Denken, jene Differenz des Denkens mit dem Denken, jene Genitalität des Denkens, jener tiefe Riß im Ego, der es veranlaßt, nur dadurch zu denken, daß es seine eigene Passion und noch seinen eigenen Tod in der reinen und leeren Form der Zeit denkt. Die Differenz im Denken wiederherstellen heißt: jenen ersten Knoten auflösen, der darin besteht, die Differenz unter der Identität des Begriffs und des denkenden Subjekts zu repräsentieren. Die zweite Illusion betrifft eher die Unterordnung der Differenz unter die Ähnlichkeit. Mit der Art ihrer Verteilung in der Repräsentation braucht sich die Ähnlichkeit nicht mehr exakt auf das Verhältnis zwischen Abbild und Urbild zu beziehen, sie läßt sich vielmehr als Ähnlichkeit des Sinnlichen (Verschiedenen) mit sich selbst bestimmen, und zwar so, daß die Identität des Begriffs auf es anwendbar ist und ihrerseits von ihm eine Spezifikationsmöglichkeit erhält. Die Illusion nimmt folgende Form an: daß die Differenz notwendig danach strebt, sich in der sie verdeckenden Qualität zu tilgen, während zugleich das Ungleiche danach strebt, sich in der Extension, in der es sich verteilt, auszugleichen. Das Thema der quantitativen Gleichheit oder Angleichung verdoppelt hier das Thema von qualitativer Ähnlichkeit und Assimilation. Wir haben gesehen, wie diese Illusion dem ,,gesunden Men-
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schenverstand“ entsprach, komplementär zur vorangehenden und ihrem ,,Gemeinsinn“. Diese Illusion ist transzendental, weil es ganz und gar zutrifft, daß sich die Differenz qualitativ und in der Extension tilgt. Sie ist jedoch eine Illusion, denn die Natur der Differenz liegt weder in der Qualität, die sie verdeckt, noch in der Ausdehnung, die sie expliziert. Die Differenz ist intensiv, sie verschmilzt mit der Tiefe als inextensivem und nicht qualifiziertem spatium, Matrix des Ungleichen und Differenten. Aber die Intensität ist nicht sinnlich, sie ist das Sein des Sinnlichen, in dem sich das Differente aufs Differente bezieht. Die Differenz in der Intensität als Sein des Sinnlichen wiederherstellen bedeutet: den zweiten Knoten auflösen, der die Differenz dem Ähnlichen in der Wahrnehmung unterordnete und sie nur unter der Bedingung einer Assimilation des Verschiedenen, verstanden als Materie des identischen Begriffs, fühlbar werden ließ. Die dritte Illusion betrifft das Negative und die Art, wie es sich die Differenz in Form der Beschränkung wie des Gegensatzes unterwirft. Die zweite Illusion bereitete uns bereits auf diese Entdeckung einer Mystifikation des Negativen vor: In der Qualität und in der Ausdehnung verkehrt sich die Intensität, erscheint sie auf den Kopf gestellt, wird ihre Macht zur Bejahung der Differenz durch die Figuren der qualitativen und quantitativen Beschränkung, des qualitativen und quantitativen Gegensatzes entstellt. Die Beschränkungen, die Gegensätze sind Spiele auf der Oberfläche, in der ersten und zweiten Dimension, während die lebendige Tiefe, die Diagonale von negationslosen Differenzen bevölkert ist. Unter der Flachheit des Negativen liegt die Welt der ,,Disparation“. Der Ursprung der Illusion, die die Differenz der falschen Macht des Negativen unterwirft, darf gerade nicht in der sinnlichen Welt selbst, muß vielmehr darin gesucht werden, was in der Tiefe wirkt und sich in der sinnlichen Welt verkörpert. Wir haben gesehen, daß die Ideen wahre Objektivitäten waren, die aus differentiellen Elementen und Differentialquotienten bestehen und mit einem spezifischen Modus ausgestattet sind - dem ,,Problematischen?. Das so definierte Problem bezeichnet keinerlei Unwissenheit im denkenden Subjekt, drückt ebensowenig einen Konflikt aus, sondern kennzeichnet objektiv die ideelle Natur als solche. Es gibt also ein @-l Ov, das man aber nicht mit dem OCX verwechseln darf und das das Sein des Problematischen und in keiner Weise das Sein des Negativen meint: ein expletives NE anstatt eines ,,non“ der Negation. Dieses @l 6, heißt so, weil es jeder Bejahung vorausgeht; dafür ist es völlig positiv. Die Problem-Ideen sind positive Mannigfaltigkeiten, volle und der Differentiation unterliegende Positivitäten, die durch den Prozeß der reziproken und durchgängigen Bestimmung beschrieben werden, die das Problem auf seine Bedingungen bezieht. Es ist der Sachverhalt des ,,Gestellt”-Seins [he ,,pos?~ (und damit des Bezogenseins auf seine Bedingungen, des völligen Bestimmtseins), der die Positivität des Problems konstituiert. Freilich erzeugt das Problem unter diesem Gesichtspunkt die Sätze, die es als Antworten oder Lösungsfälle verwirklichen. Diese Sätze repräsentieren ihrerseits Bejahungen, deren Gegenstände Differenzen sind, die den Verhält-
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nissen und Singularitäten des differentiellen Feldes entsprechen. In diesem Sinne können wir eine Unterscheidung zwischen dem Positiven und dem Affirmativen treffen, d.h. zwischen der Positivität der Idee als differentieller Position und den Affirmationen, den Bejahungen, die sie erzeugt, durch die sie verkörpert und gelöst wird. Von letzteren muß nicht nur gesagt werden, sie seien differente Affirmationen, sondern auch: Bejahungen von Differenzen in Abhängigkeit von der Mannigfaltigkeit, die jeder Idee eignet. Als Bejahung von Differenz wird die Affirmation durch die Positivität des Problems als differentielle Position hervorgebracht; die mannigfaltige Bejahung wird durch die problematiche Mannigfaltigkeit erzeugt. Es gehört zum Wesen der Bejahung, daß sie an sich selbst mannigfaltig ist und die Differenz bejaht. Was das Negative betrifft, so ist es nur der Schatten des Problems auf den erzeugten Affirmationen; neben der Affirmation hält sich die Negation wie ein ohnmächtiger Doppelgänger, legt aber für eine andere Macht Zeugnis ab, für die Macht des wirkkräftigen und fortbestehenden Problems. Nun verkehrt sich alles, wenn man von den Sätzen ausgeht, die diese Bejahungen im Bewußtsein repräsentieren. Denn die Problem-Idee ist von Natur aus unbewußt: Sie ist extrapropositional, subrepräsentativ, sie ähnelt nicht den Sätzen, die die von ihr erzeugten Affirmationen repräsentieren. Wenn man das Problem nach dem Bild und der Ähnlichkeit der Sätze des Bewußtseins wiederherzustellen versucht, so nimmt die Illusion Gestalt an, belebt sich der Schatten und scheint autonomes Leben zu gewinnen: Man könnte sagen, daß jede Affirmation auf ihr Negatives verweist und ,,Sinn“ nur durch ihre Negation erhält, während gleichzeitig eine verallgemeinerte Negation, ein 6vx den Platz des Problems und seines FQ 6, einnimmt. So beginnt die langewährende Geschichte einer Verfälschung der Dialektik, die sich mit Hegel vollendet und darin besteht, das Spiel der Differenz und des Differentiellen durch die Arbeit des Negativen zu ersetzen. Anstatt sich durch ein (Nicht)-Sein als Sein der Probleme und Fragen zu definieren, wird die dialektische Instanz nun durch von ein Nicht-Sein als Sein des Negativen definiert. Die Komplementarität Positivem und Affirmativem, von differentieller Position und Affirmation von Differenz wird durch die falsche Genese der Bejahung ersetzt, die durch das Negative und als Negation der Negation entsteht. Und eigentlich wäre all dies gegenstandslos ohne die praktischen Implikationen und moralischen Voraussetzungen einer derartigen Verfälschung. Wir haben all das gesehen, was diese Aufwertung des Negativen bedeutete, den konservativen Geist eines derartigen Geschäfts, die Flachheit der Bejahungen, die man damit erzeugen will, die Art und Weise, wie wir dann von der höchsten Aufgabe abgekommen sind jener Aufgabe, die darin besteht, die Probleme zu bestimmen, unsere Entscheidungs- und Schöpfungsmacht in sie hineinzutragen. Darum sind uns die Konflikte, die Gegensätze, die Widersprüche als Oberflächeneffekte erschie-
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Frz. Position, d.h. auch das ,,Stellen“ (eines Problems) [A.d.Ü.].
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nen, als Epiphänomene des Bewußtseins, während das Unbewußte von den Problemen und Differenzen lebt. Die Geschichte verläuft nicht über die Negation und die Negation der Negation, sondern über die Entscheidung der Probleme und die Bejahung der Differenzen. Sie ist darum nicht weniger blutig und grausam. Einzig die Schatten der Geschichte leben von Negation; die Gerechten aber gehen sie mit all der Macht eines gestellten [po&] Differentiellen, einer bejahten Differenz an; sie verweisen den Schatten an den Schatten und verneinen nur als Folge einer ursprünglichen Positivität und Affirmation. Bei ihnen ist, wie Nietzsche sagt, die Bejahung ursprünglich, sie bejaht die Differenz, und das Negative ist nur eine Folge, ein Reflex, in dem sich die Bejahung verdoppelt2. Darum haben die wahren Revolutionen auch Festcharakter. Der Widerspruch ist nicht die Waffe des Proletariats, sondern eher die . Art, wie sich die Bourgeoisie verteidigt und bewahrt, der Schatten, hinter dem sie ihren Anspruch auf Entscheidung der Probleme aufrecht erhält. Man ,,löst” die Widersprüche nicht, man zerstreut sie, indem man sich des Problems bemächtigt, das bloß seine Schatten auf sie warf. Überall ist das Negative die Reaktion des Bewußtseins, die Verfälschung des wahrhaften Handelnden, des wahrhaften Akteurs. Daher verfällt die Philosophie auch, solange sie innerhalb der Grenzen der Repräsentation verbleibt, theoretischen Antinomien, die die Antinomien des Bewußtseins sind. Die Alternative: muß die Differenz als quantitative Beschränkung oder qualitativer Gegensatz begriffen werden? ist nicht weniger sinnlos als die Alternative des Großen und Kleinen. Denn als Beschränkung oder Gegensatz wird die Differenz zu Unrecht einem negativen Nicht-Sein angeglichen. Daher eine weitere trügerische Alternative: Entweder ist das Sein volle Positivität, reine Bejahung, dann aber gibt es keine Differenz, und das Sein ist undifferenziert; oder das Sein enthält Differenzen, ist Differenz, und es gibt Nicht-Sein, ein Sein des Negativen. Alle diese Antinomien sind miteinander verknüpft und hängen von derselben Illusion ab. Wir müssen zweierlei zugleich sagen: daß das Sein volle Positivität und reine Bejahung ist, daß es aber (Nicht)-Sein gibt, das das Sein des Problematischen, das Sein der Probleme und Fragen ist, und keineswegs das Sein des Negativen. In Wirklichkeit liegt der Ursprung der Antinomien in folgendem: Sowie man die Natur des Problematischen und die Mannigfaltigkeit verkennt, die eine Idee definiert, sowie man die Idee auf das Selbe oder die Identität eines Begriffs reduziert, nimmt das Negative seinen Aufschwung. Anstatt des positiven Prozesses der Bestimmung in der Idee fördert man einen Prozeß des Gegensatzes von konträren Prädikaten oder der Beschränkung von ursprünglichen Prädikaten zutage. Die Wiederherstellung des Differentiellen in der Idee und der Differenz in der Bejahung, die sich daraus herleitet, bedeutet den Abbruch jener ungerechtfertigten Bindung, die die Differenz dem Negativen unterordnet.
2 Vgl. Nietzsche: Zur
Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, § 10.
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Die vierte Illusion schließlich betrifft die Unterordnung der Differenz unter die Analogie des Urteils. Die Identität des Begriffs nämlich verschafft uns noch keine Regel konkreter Bestimmung; sie präsentiert sich nur als Identität des unbestimmten Begriffs, als Sein oder Ich bin (jenes Ich bin, von dem Kant sagte, es wäre die Wahrnehmung oder das Gefühl einer von jeder Bestimmung unabhängigen Existenz). Letzte Begriffe oder erste, ursprüngliche Prädikate müssen denn auch als bestimmbar gesetzt werden. Man erkennt sie daran, daß jeder oder jedes davon einen inneren Bezug zum Sein unterhält: Gerade in dieser Hinsicht sind die Begriffe analog oder ist das Sein analog im Verhältnis zu ihnen und gewinnt gleichermaßen die Identität eines distributiven Gemeinsinns und eines ordinalen gesunden Menschenverstands (wir haben gesehen, wie die Analogie zwei Formen annahm, die nicht auf der Gleichheit, sondern auf der Inwendigkeit der Urteilsbeziehung beruhte). Es genügt also nicht, daß sich die Repräsentation auf die Identität eines unbestimmten Begriffs gründet, vielmehr muß die Identität selbst immer in einer gewissen Anzahl bestimmbarer Begriffe repräsentiert werden. Diese ursprünglichen Begriffe, bezüglich derer das Sein distributiv und ordinal ist, werden Seinsgattungen oder Kategorien genannt. Nun können unter ihrer Voraussetzung spezifische abgeleitete Begriffe ihrerseits durch eine Teilungsmethode bestimmt werden, d. h. durch das Spiel von gegensätzlichen Prädikaten in jeder Gattung. Auf diese Weise erfährt die Differenz zwei Eingrenzungen in zwei irreduziblen aber komplementären Gestalten, die sehr genau ihre Zugehörigkeit zur Repräsentation kennzeichnen (das Große und das Kleine): die Kategorien als Begriffe a priori und die empirischen Begriffe; die ursprünglichen bestimmbaren Begriffe und die bestimmten abgeleiteten Begriffe; die analogen und die entgegengesetzten; die großen Gattungen und die Arten. Diese Verteilung der Differenz, die ganz den Anforderungen der Repräsentation entspricht, gehört wesentlich zur analogischen Sicht. Aber diese durch die Kategorien gesteuerte Verteilungsform schien uns sowohl die Natur des Seins (als eines kollektiven und kardinalen Begriffs), als auch die Natur der Verteilungen selbst (als nomadischen, nicht aber seßhaften oder festen Verteilungen) zu entstellen, und schließlich auch die Natur der Differenz (als individuierender Differenz). Denn das Individuum wird nurmehr als dasjenige gedacht, was Differenzen allgemein trägt, während gleichzeitig das Sein selbst sich in den festen Formen dieser Differenzen aufteilt und auf analoge Weise von dem aussagt, was ist. Man muß allerdings feststellen, daß die vier Illusionen der Repräsentation ebenso die Wiederholung deformieren, wie sie die Differenz verfälschen; und dies aus in mancherlei Hinsicht vergleichbaren Gründen. Zunächst verfügt die Repräsentation über keinerlei direktes und positives Kriterium zur Unterscheidung zwischen der Wiederholung und der Ordnung der Allgemeinheit, Ähnlichkeit oder Äquivalenz. Darum wird die Wiederholung als eine vollkommene Ähnlichkeit oder äußerste Gleichheit repräsentiert. Tatsächlich und das ist der zweite Punkt - beruft sich die Repräsentation auf die Identität des Begriffs ebenso, um die Wiederholung zu explizieren, wie um die Diffe-
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renz zu begreifen. Die Differenz ist im identischen Begriff repräsentiert und dadurch auf eine bloß begriffliche Differenz reduziert. Demgegenüber wird die Wiederholung außerhalb des Begriffs, als begrifflose Differenz repräsentiert, stets aber unter Voraussetzung eines identischen Begriffs: Somit gibt es Wiederholung, wenn sich Dinge in numero, im Raum und in der Zeit unterscheiden, wobei ihr Begriff derselbe bleibt. Ein und dieselbe Bewegung ist es also, mit der die Identität des Begriffs in der Repräsentation die Differenz begreift und sich auf die Wiederholung erstreckt. Daher rührt ein dritter Aspekt: Offensichtlich kann die Wiederholung nurmehr negativ expliziert werden. Denn es handelt sich um die Explikation der Möglichkeit von begrifflosen Differenzen. Entweder wird man sich auf eine logische Beschränkung des Begriffs in jedem seiner Momente berufen, d.h. auf eine relative ,,Blockierung“, so daß es - wie weit man den Begriffsinhalt auch ausdehnen mag - stets eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die ihm entsprechen können, da man ja, de facto, niemals das Unendliche dieses Inhalts erreichen wird, die aus jeder Differenz eine begriffliche Differenz machen würde. Hier aber wird die Wiederholung nur in Abhängigkeit von einer relativen Beschränkung unserer Repräsentation des Begriffs expliziert; und gerade aus dieser Perspektive begeben wir uns jeglichen Mittels, um die Wiederholung von der bloßen Ähnlichkeit zu unterscheiden. Oder aber man wird sich, im Gegenteil, auf einen realen Gegensatz berufen, der dem Begriff eine absolute natürliche Blockierung aufzuerlegen vermag, sei es dadurch, daß man ihm einen notwendig endlichen Inhalt de jure zuschreibt, sei es dadurch, daß man eine Ordnung definiert, die außerhalb des Inhalts des selbst unbestimmten Begriffs liegt oder sei es dadurch, daß man Kräfte ansetzt, die sich den subjektiven Begleitmomenten des unendlichen Begriffs (Gedächtnis, Rekognition, Selbstbewußtsein) entgegenstellen. Wir haben gesehen, wie diese drei Fälle ihre Illustration in den Nominalbegriffen, den Begriffen der Natur und den Begriffen der Freiheit zu finden schienen - in den Wörtern, der Natur und im Unbewußten. Und dank der Unterscheidung zwischen absoluter natürlicher Blockierung und künstlicher oder logischer Blockierung verfügt man in all diesen Fällen sicherlich über das Mittel zur Unterscheidung zwischen Wiederholung und bloßer Ähnlichkeit, da sich ja die Dinge dann wiederholen sollen, wenn sie unter einem absolut identischen Begriff differieren. Dennoch wird hier nicht nur diese Unterscheidung, sondern auch die Wiederholung auf gänzlich negative Weise expliziert. Man (die Sprache) wiederholt, weil man (die Wörter) nicht real ist, weil man nur über eine nominale Definition verfügt. Man (die Natur) wiederholt, weil man (die Materie) keine Interiorität besitzt, weil man partes extra partes ist. Man (das Unbewußte) wiederholt, weil man (das Ich) verdrängt, weil man (das Es) kein Erinnern, keine Rekognition und kein Selbstbewußtsein besitzt - im äußersten Fall, weil man keinen Trieb besitzt, wobei der Trieb das subjektive Begleitmoment der Art als Begriff darstellt. Kurz, man wiederholt stets mit Bezug auf das, was man nicht ist und nicht
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hat. Man wiederholt, weil man nicht versteht. Es ist, wie Kierkegaard sagte, die Wiederholung des Tauben, oder eher für die Tauben, Taubheit der Wörter, Taubheit der Natur, Taubheit des Unbewußten. Die Kräfte, die die Wiederholung garantieren, d.h. die Mannigfaltigkeit der Dinge für einen absolut identischen Begriff, können in der Repräsentation nur negativ bestimmt werden. Das rührt, viertens, daher, daß sich die Wiederholung nicht nur im Verhältnis zur absoluten Identität eines Begriffs definiert, sie muß gewissermaßen selbst diesen identischen Begriff repräsentieren. Es ergibt sich hier ein Phänomen, das der Analogie des Urteils entspricht. Die Wiederholung begnügt sich nicht mit der Vervielfältigung der Exemplare unter demselben Begriff, sie treibt den Beriff aus sich heraus und läßt ihn als ebenso viele Exemplare, hic et nunc, existieren. Sie fragmentiert die Identität selbst, wie Demokrit das Eins-Sein des Parmenides in Atome fragmentiert und vervielfältigt hat. Oder eher: die Vervielfältigung der Dinge unter einem absolut identischen Begriff zieht die Teilung des Begriffs in absolut identische Dinge nach sich. Diese Verfassung des aus sich herausgetretenen Begriffs oder des unendlich wiederholten Elements wird durch die Materie verwirklicht. Darum verschmilzt das Modell der Wiederholung mit der reinen Materie, und zwar als Fragmentierung des Identischen oder Wiederholung eines Minimums. Die Wiederholung besitzt also einen ursprünglichen Sinn aus der Perspektive der Repräsentation, den Sinn einer materiellen und nackten Wiederholung, einer Wiederholung des Selben (und nicht mehr nur unter demselben Begriff). Jeder weitere Sinn wird von diesem äußerlichen Modell abgeleitet sein. Das heißt: Immer wenn wir auf eine Variante, eine Differenz, eine Verkleidung, eine Verschiebung stoßen, werden wir sagen, es handle sich um Wiederholung, allerdings nur auf abgeleitete und ,,analoge” Weise. (Selbst bei Freud wird die bemerkenswerte Konzeption der Wiederholung im psychischen Leben nicht nur durch ein Schema des Gegensatzes in der Theorie der Verdrängung, sondern auch durch ein materielles Modell in der Theorie des Todestriebs beherrscht.) Dieses äußerliche materielle Modell jedoch gibt sich die Wiederholung als fertige vor, präsentiert sie einem Beobachter, der sie von außen betrachtet; es beseitigt die Dichte, in der sich selbst in der Materie und im Tod die Wiederholung entwickelt und herstellt. Daher, im Gegenteil, der Versuch, die Verkleidung und Verschiebung als konstitutive Elemente der Wiederholung zu repräsentieren. Dies geschieht dann aber unter der Bedingung, daß die Wiederholung mit der Analogie selbst verwechselt wird. Die Identität ist nicht mehr die des Elements, sondern, in Übereinstimmung mit der traditionellen Bedeutung, die Identität eines Verhältnisses zwischen distinkten Elementen oder eines Verhältnisses zwischen Verhältnissen. Die physische Materie hat vorhin den ursprünglichen Sinn der Wiederholung ausgemacht, jeder andere (biologische, psychische, metaphysische . . .) Sinn kam durch Analogie zur Geltung. Jetzt ist die Analogie durch sich selbst die logische Materie der Wiederholung und verleiht ihr einen
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distributiven Sinn3. Stets aber geschieht dies in Bezug auf eine gedachte Identi-
tät, auf eine repräsentierte Gleichheit, so daß die Wiederholung ein Begriff der Reflexion bleibt, der die Verteilung und Verschiebung der Terme, den Transport des Elements garantiert, allerdings nur in der Repräsentation für einen noch äußerlichen Beobachter.
Begründen heißt bestimmen. Aber woraus besteht die Bestimmung, worauf richtet sie sich? Der Grund ist das Geschäft des Logos oder der ratio sufficiens. Als solcher besitzt er einen dreifachen Sinn. In seinem ursprünglichen Sinn ist der Grund das Selbe oder Identische. Er verfügt über die höchste Identität, über eine Identität, die man der Idee, dem aC~6 xaO’aCz6 zuschreibt. Was er ist, was er hat, ist er und hat er als erster. Und wer wäre mutig, wenn nicht der Mut, tugendhaft, wenn nicht die Tugend? Was der Grund begründen soll, ist also nur der Anspruch derer, die nachträglich ankommen, der Anspruch all derer, die bestenfalls als zweite besitzen werden. Was einen Grund verlangt, was an einen Grund appelliert, ist stets ein Anspruch, d. h. ein ,,Bild“: etwa der Anspruch der Menschen, mutig, tugendhaft zu sein - kurz, zu partizipieren, teilzuhaben (~&&x~lv, das heißt: nachträglich haben). Man unterscheidet somit den Grund als ideelle Wesenheit, das Begründete als Bewerber [prktendant] oder Anspruch [prktention] und dasjenige, worauf sich der Anspruch bezieht, d. h. die Qualität, die der Grund als erster besitzt und der Bewerber, sofern wohlbegründet, als zweiter besitzen wird. Diese Qualität, der Gegenstand des Anspruchs, ist die Differenz - die Braut, Ariadne. Das Wesen als Grund ist das Identische, sofern es ursprünglich die Differenz seines Gegenstands enthält. Das Verfahren der Begründung macht den Bewerber dem Grund ähnlich, verleiht ihm von Innen die Ähnlichkeit und läßt ihn dadurch, unter dieser Bedingung, an der Qualität, am Gegenstand seines Anspruchs teilhaben. Dem Selben ähnlich, heißt es vom Bewerber, er ähnle; aber diese Ähnlichkeit ist keine äußere Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, sondern eine innere Ähnlichkeit mit dem Grund selbst. Man muß dem Vater ähneln, um die Tochter zu bekommen. Die Differenz wird hier unter dem Prinzip des Selben und der Bedingung der Ähnlichkeit gedacht. Und es wird soviele Bewerber an dritter, vierter, fünfter Stelle geben, wie es Bilder gibt, die in der Hierarchie dieser inneren Ähnlichkeit begründet sind. Darum selektiert der Grund und differenziert zwischen den Bewerbern selbst. Jedes Bild oder jeder wohlbegründete Anspruch wird Re-präsen-
3 Der fortgeschrittenste Versuch in diese Richtung wurde von S.-J?.Faye men, und zwar in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel: Zur Verschiebung und Verkleidung in beliebigen Reihen, Wiederholung als Analogie für ein trotz allem äußeres Auge Und zur Rolle eines analogisch gedeuteten Todestriebs vgl.
unternomAnalogues (Paris 1964). die aber gleichzeitig die ansetzen, vgl. S. 14-15. passim.
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tation (Ebenbild) genannt, da das erste in seiner Rangordnung noch das zweite an sich, bezüglich des Grunds ist. In diesem Sinne eröffnet oder begründet die Idee die Welt der Repräsentation. Was die widerspenstigen und unähnlichen Bilder (Trugbilder) betrifft, so werden sie als unbegründet, als falsche Bewerber ausgesondert, zurückgewiesen und verworfen. In einem zweiten Sinn wird der Grund - ist die Welt der Repräsentation einmal errichtet - nicht mehr über das Identische definiert. Das Identische ist zum inneren Merkmal der Repräsentation selbst geworden, wie die Ähnlichkeit zu ihrem äußeren Bezug auf das Ding. Das Identische drückt nun einen Anspruch aus, der seinerseits begründet werden muß. Denn der Gegenstand des Anspruchs ist nich t mehr die Diffe renz als Quali tät, sondern das, was an der Differenz zu groß oder zu klein ist, das Übermaß oder der Mangel, d.h. das Unendliche. Was b egründet werden muß, ist der Anspruch der Repräsentation auf die Eroberung des Unendlichen, damit man die Tochter sich selbst allein zu verdanken hat und sich des Innersten der Differenz bemächtigen kann. Nicht mehr das Bild ist es, das sich bemüht, die Differenz zu erobern, wie sie ursprünglich im Identischen enthalten schien, es ist vielmehr die Identität, die im Gegenteil das zu erobern versucht, was sie von der Differenz nicht erfaßte. Begründen bedeutet nicht mehr die Eröffnung und
Ermöglichung der Repräsentation, Begründen bedeutet vielmehr, die Repräsentation ins Unendliche zu wenden. Der Grund muß nun im Innern der
Repräsentation wirken, um deren Grenzen bis zum unendlich Kleinen wie unendlich Großen hin auszudehnen. Diese Operation wird von einer Methode vollzogen, die eine Monozentrierung aller möglichen endlichen Repräsentationszentren, eine Konvergenz aller endlichen Perspektiven der Repräsentation garantiert. Diese Operation drückt den zureichenden Grund aus. Dieser ist nicht die Identität, sondern das Mittel, dem Identischen und den anderen Forderungen der Repräsentation dasjenige unterzuordnen, was ihnen an der Differenz im ersten Sinn entging. Die beiden Bedeutungen des Grunds vereinigen sich jedoch in einer dritten. Begründen heißt nämlich stets krümmen, biegen, umbiegen - die Abfolge der Jahreszeiten, Jahre und Tage organisieren. Der Gegenstand des Anspruchs (die Qualität, die Differenz) wird in einen Kreis umgesetzt; Kreisbögen unterscheiden einander, sofern der Grund im qualitativen Werden Stockungen, Augenblicke, Pausen herbeiführt, die zwischen den beiden Extremen des Mehr und des Weniger enthalten sind. Die Bewerber werden um den beweglichen Kreis verteilt, und jeder von ihnen erhält den Anteil, das Los, das dem Verdienst seines Lebens entspricht: Ein Leben wird hier einer strikten Gegenwart gleichgesetzt, die ihren Anspruch auf einen Abschnitt des Kreises geltend macht, diesen Abschnitt ,,kontrahiert“, ihm einen Verlust oder einen Gewinn entnimmt, und zwar in der Ordnung des Mehr oder Weniger gemäß ihrer eigenen Progression oder Regression in der Hierarchie der Bilder (eine andere Gegenwart, ein anderes Leben kontrahiert einen anderen Abschnitt). Am Platonismus läßt sich deutlich sehen, wie der Kreisumlauf und die Losver-
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teilung, der Zyklus und die Meternpsychose die Prüfung oder die Lotterie des Grunds bilden. Aber noch bei Hegel verteilen sich alle möglichen Anfänge, alle Gegenwarten in dem einzigen, stetig sich drehenden Kreis eines Prinzips, das begründet und sie in seinem Zentrum erfaßt und auf seiner Umfangslinie verteilt. Und bei Leibniz ist die Kompossibilität selbst ein Konvergenzkreis, auf dem sich alle Gesichtspunkte, alle Gegenwarten verteilen, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Begründen in diesem dritten Sinn meint die Repräsentation des Präsenten, das heißt: die Gegenwart in der (endlichen oder unendlichen) Repräsentation geschehen und vergehen lassen. Der Grund erscheint dann als unvordenkliches Gedächtnis oder reine Vergangenheit, als Vergangenheit, die selbst nie gegenwärtig war, die also die Gegenwart vorübergehen läßt und bezüglich welcher alle Gegenwarten im Kreis koexistieren. Begründen meint stets die Begründung der Repräsentation. Wie aber läßt sich eine für den Grund wesentliche Ambiguität erklären? Man könnte sagen, er werde von der Repräsentation, die er (in diesem dreifachen Sinn) begründet, angezogen, gerate zugleich aber in den Sog eines Jenseits. Als ob er zwischen seinem Sturz in das Begründete und seinem Untergang in einem Ungrund hin und her taumeln würde. Wir haben dies am Gedächtnis-Grund gesehen: Dieser strebt selbst danach, sich als frühere Gegenwart repräsentieren zu lassen und als Element in den Kreis einzutreten, den er als Prinzip gestaltet. Und ist es nicht das allgemeinste Merkmal des Grunds, daß der von ihm gestaltete Kreis auch der Teufelskreis des ,,Beweises“ in philosophischer Hinsicht ist, in dem die Repräsentation beweisen muß, wodurch sie bewiesen wird, wie noch bei Kant die Möglichkeit der Erfahrung zum Beweis ihres eigenen Beweises dient? Wenn demgegenüber das transzendentale Gedächtnis sein Schwindelgefühl meistert und die Unreduzierbarkeit der reinen Vergangenheit auf jede in der Repräsentation vorübergehende Gegenwart bewahrt, SO um zu sehen, wie diese reine Vergangenheit auf andere Weise schwindet, wie sich der Kreis auflöst, in dem sie Differenz und Wiederholung allzu einfach verteilte. Auf diese Weise überschreitet oder verkehrt sich die zweite Synthese der Zeit, jene Synthese, die Eros und Mnemosyne vereinte (Eros als Sucher nach Erinnerungen, Mnemosyne als Hort der reinen Vergangenheit) - überschreitet und verkehrt sie sich in einer dritten Synthese, die in Form der leeren Zeit einen desexualisierten Todestrieb und ein wesentlich amnetisches narzißtisches Ich vergegenwärtigt. Und wie läßt sich vermeiden, daß der Grund mit seinen anderen Bedeutungen - nicht durch die Mächte der Divergenz und der Dezentrierung, des Trugbilds selbst angefochten wird, die die falschen Verteilungen, die falschen Zuteilungen wie den falschen Kreis und die gefälschte Lotterie zu Fall bringen ? Die Welt des Grunds wird durch dasjenige unterminiert, was sie auszuschließen versucht, durch das Trugbild, in dessen Sog sie gerät und durch das sie zersplittert wird. Und wenn sich der Grund in seinem ersten Sinn auf die Idee beruft, so unter der Bedingung, daß er ihr eine Identität verleiht, die sie nicht durch sich selbst besitzt und die ihr nur über
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die Forderungen dessen zukommt, was sie zu beweisen beansprucht. Die Idee impliziert so wenig eine Identität wie ihr Aktualisierungsprozeß sich durch die Ähnlichkeit expliziert. Unter dem ,,Selben“ der Idee rumort eine regelrechte Mannigfaltigkeit. Und sicher hat uns die Beschreibung der Idee als eine substantivische Mannigfaltigkeit, die sich nicht auf das Selbe oder das Eine reduzieren läßt, gezeigt, wie sich die ratio sufficiens selbst unabhängig von den Forderungen der Repräsentation im Durchlaufen des Vielen als solchen zu erzeugen vermochte, indem sie die der Idee entsprechenden Elemente, Verhältnisse und Singularitäten in der dreifachen Gestalt eines Prinzips von Bestimmbarkeit, Wechselbestimmung und durchgängiger Bestimmung determinierte. Auf welchem Untergrund aber entsteht nun diese mannigfaltige ratio und treibt sie ihr Spiel, in welche Unvernunft taucht sie ein, aus welchem Spiel, aus welcher Lotterie neuen Typs erhält sie ihre Singularitäten und ihre Verteilungen, die auf all das, was wir gerade gesehen haben, nicht reduzierbar sind? Kurz, die ratio sufficiens, der Grund [f 072 dement], ist auf seltsame Weise gekrümmt. Auf der einen Seite neigt er sich dem von ihm Begründeten zu, den Formen der Repräsentation. Auf der anderen Seite aber biegt und taucht er in einen Ungrund [sans fond] ein, in ein Jenseits des Grunds, das allen Formen widersteht und sich nicht repräsentieren läßt. Wenn die Differenz die Braut, Ariadne, ist, so gerät sie von Theseus an Dionysos, vom begründenden Prinzip zum universalen ,,Zu-Grunde-Gehen“ [effondementl. Denn Begründen heißt das Unbestimmte bestimmen. Diese Operation ist allerdings nicht einfach. Wenn ,,die“ Bestimmung durchgeführt wird, so begnügt sie sich nicht mit Formgebung, mit der Gestaltung der Materien unter Voraussetzung der Kategorien. Aus dem Untergrund steigt etwas zur Oberfläche auf, steigt auf, ohne Form zu gewinnen, schleicht sich eher zwischen die Formen ein, als autonome Existenz ohne Gesicht, formlose Base. Sofern er nun an der Oberfläche ist, heißt jener Untergrund Tiefe, Ungrund. Umgekehrt zersetzen sich die Formen, wenn sie sich in ihm reflektieren, jedes Urbild zerfällt, alle Gesichter sterben ab, und bestehen bleibt allein die abstrakte Linie als Bestimmung, die dem Unbestimmten absolut entspricht, als Blitz gleich der Nacht, als Säure gleich der Base, als deutliche Unterscheidung [distinction], die der Dunkelheit insgesamt entspricht: das Ungeheuer. (Eine Bestimmung, die sich dem Unbestimmten nicht entgegensetzt, es nicht beschränkt.) Darum läßt sich der Mechanismus der Bestimmung mit dem Paar Materie/Form nur ganz unzulänglich beschreiben; die Materie ist bereits gestaltet, die Form ist nicht trennbar vom Urbild der species oder der morphe, das Ganze steht unter dem Schutz der Kategorien. In Wirklichkeit ist dieses Paar der Repräsentation ganz und gar inhärent und definiert ihre ursprüngliche Verfassung, die Aristoteles festgelegt hat. Es ist bereits ein Fortschritt, sich auf die Komplementarität von Kraft und Untergrund als zureichenden Grund der Form, der Materie und ihrer Vereinigung zu berufen. Noch tiefer und bedrohlicher aber das Paar von abstrakter Linie und Ungrund, das die Materien auflöst und die Urbilder zerfallen läßt. Als reine Bestimmung, als
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abstrakte Linie muß sich das Denken diesem Ungrund, dem Unbestimmten, stellen. Dieses Unbestimmte, dieser Ungrund ist auch die dem Denken eigene Animalität, die Genitalität des Denkens: nicht diese oder jene Tierform, sondern die Dummheit4. Wenn nämlich das Denken nur unter Zwang und Nötigung denkt, wenn es stumpfsinnig bleibt, solange es durch nichts zu denken genötigt wird - ist dann nicht das, wodurch es zu denken genötigt wird, nicht auch die Existenz der Dummheit, weil es nämlich ohne irgendeinen Zwang nicht denkt? Greifen wir hier noch einmal das Wort Heideggers auf: ,,Das Bedenklichste ist, daß wir noch nicht denken.” Das Denken ist die höchste Bestimmung und steht der Dummheit als dem ihm entsprechenden Unbestimmten gegenüber. Die Dummheit (nicht der Irrtum) bildet die größte Ohnmacht des Denkens, aber auch die Quelle seiner höchsten Macht darin, wodurch es zu denken genötigt wird. Dies ist das großartige Abenteuer von Bouvard und Pecuchet oder das Spiel von Unsinn und Sinn’. So daß das Unbestimmte und die Bestimmung gleich bleiben, ohne voranzukommen, das eine stets der anderen entsprechend. Eine seltsame Wiederholung, die sie ans Spinnrad oder eher ans selbe Doppelpult zurückbringt. Schestow sah in Dostojewski den Abschluß, d.h. die Vollendung und den Ausgang aus der Kritik der reinen Vernunft. Es sei uns für einen Augenblick gestattet, in Bouvard und Pecuchet den Abschluß des Discours de la methode zu sehen. Ist das Cogito eine Dummheit? Es ist notwendig Unsinn in dem Maße, wie dieser Satz sich selbst und seinen Sinn ausagen will. Es ist aber auch Widersinn (wie Kant zeigte) in dem Maße, wie die Bestimmung Ich denke beansprucht, sich unmittelbar auf die unbestimmte Existenz Ich bin zu beziehen, ohne die Form festzusetzen, in der das Unbestimmte bestimmbar ist. Das Subjekt des kartesianischen Cogito denkt nicht, es besitzt nur die Möglichkeit zu denken, es verharrt stumpfsinnig im Innern dieser Möglichkeit. Es mangelt ihm an der Form des Bestimmbaren: keine Spezifität, keine spezifische Form, die eine Materie gestaltet, kein Gedächtnis, das eine Gegenwart gestaltet, sondern die reine und leere Form der Zeit. Die leere Form der Zeit ist es, die die Differenz im Denken einführt und konstituiert, von der aus es denkt, als Differenz von Unbestimmtem und Bestimmung. Sie ist es, die auf beiden Seiten ihrer selbst ein durch die abstrakte Linie gespaltenes Ego und ein passives Ich aufteilt, das
4 Fr-z. betise; vgl. Fuflnote 18, S. 1% [P;.d.Ü.]. 5 Es besteht kein Grund zur Frage, ob Bouvard und Pecuchet selbst dumm sind oder nicht. Dies ist keineswegs die Frage. Flauberts Projekt ist enzyklopädisch und ,,kritisch”, nicht psychologisch. Das Problem der Dummheit ist auf philosophische Weise gestellt, als transzendentales Problem der Beziehungen zwischen Dummheit und Denken. Im selben denkenden Wesen, das gespalten oder eher wiederholt wird, handelt es sich zugleich um die Dummheit als Vermögen und um das Vermögen, die Dummheit nicht zu ertragen. Flaubert erkennt hier in Schopenhauer seinen Lehrer.
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aus einem von ihm betrachteten Ungrund hervorgegangen ist. Sie ist es, die Denken im Denken erzeugt, denn das Denken denkt nur mittels der Differenz, im Umkreis jenes Punkts des Zu-Grunde-Gehens. Die Differenz oder die Form des Bestimmbaren ist es, die das Denken in Gang bringt, d.h. die ganze Maschine des Unbestimmten und der Bestimmung. Die Theorie des Denkens ist wie die Malerei, sie bedarf jener Revolution, die die Wendung von der Repräsentation zur abstrakten Kunst bewerkstelligt - was den Gegenstand einer Theorie des bildlosen Denkens ausmacht. Die Repräsentation ist, vor allem wenn sie sich zum Unendlichen aufschwingt, von einer Vorahnung des Ungrunds durchdrungen. Weil sie sich aber ins Unendliche gewendet hat, um für die Differenz einzustehen, repräsentiert sie den Ungrund als gänzlich undifferenzierten Abgrund, als differenzloses Universales, als indifferentes schwarzes Nichts. Denn die Repräsentation hat mit der Bindung der Individuation an die Form des Ego und an die Materie des Ichs ihren Ausgang genommen. Für sie ist nämlich das Ego nicht nur höhere Individuationsform, sondern das Rekognitions- und Identifikationsprinzip für jedes Individualitätsurteil, das sich auf die Dinge bezieht: ,,Dasselbe Wachs ist es .. “ Für die Repräsentation muß jede Individualität personal (Ego [Je]) und j e d e Singularität individuell (Ich [Moi] sein. Wo man nicht mehr ,,Ich“ [Je/ sagt, hört also auch die Individuation auf, und wo die Individuation aufhört, gibt es auch keine mögliche Singularität mehr. Gezwungenermaßen wird der Ungrund folglich ohne jede Differenz, weil ohne Individualität und Singularität, repräsentiert. Man sieht dies noch bei Schelling, bei Schopenhauer oder sogar am ersten Dionysos, am Dionysos der Geburt der Tragödie: Ihr Ungrund erträgt die Differenz nicht. Das Ich als passives Ich jedoch ist nur ein Ereignis, das sich in vorgängigen Individuationsfeldern vollzieht: Es kontrahiert und betrachtet die individuierenden Faktoren eines solchen Felds und bildet sich am Resonanzpunkt ihrer Reihen. Ebenso läßt das Ego als gespaltenes Ego alle Ideen passieren, die durch ihre Singularitäten definiert sind, die selbst wiederum den Individuationsfeldern vorausgehen. Als individuierende Differenz ist die Individuation ebenso Ante-Ego, Vor-Ich, wie die Singularität als differentielle Bestimmung präindividuell ist. Eine Welt unpersönlicher Individuationen und präindividueller Singularitäten - dies ist die Welt des MAN oder des ,,sie“$ die nicht auf die alltägliche Banalität hinausläuft, eine Welt vielmehr, in der die Begegnungen und Resonanzen entstehen, letztes Gesicht des Dionysos, wahre Natur des Tiefen und des Ungrunds, der die Repräsentation übersteigt und die Trugbilder geschehen läßt. (Schelling wurde von Hegel vorgeworfen, sich mit einer indifferenten Nacht zu umgeben, in der alle Kühe schwarz seien. Wenn wir aber im . Überdruß und in der Beklommenheit unseres bildlosen Denkens murmeln: ,,ah, die Kühe“, ,, sie übertreiben“ usw. - welche Vorahnung von Differen-
6 Frz. ils,
d. h.: 3.
Pers.
Pl. [A.d.Ü.].
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zen, die in unserem Rücken wimmeln, wie sehr ist dieses Schwarz differenziert und differenzierend, obgleich nicht identifiziert, nicht oder kaum individuiert, wie viele Differenzen und Singularitäten verteilen sich jeweils als Angriffe, wie viele Trugbilder steigen in-dieser nun weiß gewordenen Nacht auf, um zusammen die Welt des ,,man“ und des ,,sie“ zu bilden)‘. Daß der Ungrund ohne Differenz sei, während er doch davon wimmelt, ist die äußerste Illusion, die Illusion, die außerhalb der Repräsentation liegt und aus allen inneren Illusionen resultiert. Und was sind die Ideen mit ihrer konstitutiven Mannigfaltigkeit anderes als jenes Ameisengewimmel, das am Riß des Ego ein- und auszieht?
Das Trugbild ist jenes System, in dem sich das Differente mittels der Differenz selbst auf das Differente bezieht. Derartige Systeme sind intensiv; sie beruhen in der Tiefe auf der Natur der intensiven Quantitäten, die eben über ihre Differenzen zu kommunizieren beginnen. Daß es Bedingungen für diese Kommunikation gibt (kleine Differenz, Nähe usw.), darf uns nicht an eine Bedingung vorgängiger Ähnlichkeit glauben lassen, sondern bloß an die besonderen Eigenschaften der intensiven Quantitäten, insofern sie sich teilen, sich aber nicht teilen, ohne sich gemäß der ihnen eigenen Ordnung in ihrer Natur zu verändern. Was die Ähnlichkeit betrifft, so schien sie uns aus der Funktionsweise des Systems zu resultieren, und zwar als ein ,,Effekt“, den man zu Unrecht für eine Ursache oder Bedingung halten würde. Kurz, das System des Trugbilds muß mit Begriffen beschrieben werden, die sich von Anfang an von den Kategorien der Repräsentation stark zu unterscheiden scheinen: 1. die Tiefe, das spatium, wo sich die Intensitäten organisieren; 2. die disparaten Reihen, die sie bilden, die Individuationsfelder, die sie umreißen (individuierende Faktoren); 3. der ,,dunkle Vorbote”, der sie miteinander kommunizieren läßt; 4. die Kopplungen, die internen Resonanzen, die erzwungenen Bewegungen, die daraus hervorgehen; 5. die Konstitution passiver Ichs und larvenhafter Subjekte in diesem System und die Bildung reiner raum-zeitlicher Dynamiken; 6. die Qualitäten und Extensionen, die Arten und Teile, die die doppelte Differenzierung des Systems ausmachen und die vorangehenden Faktoren verdecken; 7. die Umhüllungszentren, die gleichwohl die Beständigkeit dieser Faktoren in der entfalteten Welt der Qualitäten und Ausdehnungen bezeugen. Das System des Trugbilds bejaht die Divergenz und die Dezentrierung; die einzige Einheit, die einzige Konvergenz aller Reihen ist 7 Arthur Adamov schrieb zu diesem Thema ein sehr gelungenes Stück: La grande et la petite mancmvre, in: Th6tre 1, Paris 1953.
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ein formloses Chaos, das sie alle umfaßt. Keine Reihe ist privilegiert gegenüber einer anderen, keine besitzt die Identität eines Urbilds, keine die Ähnlichkeit eines Abbilds. Keine steht im Gegensatz zu einer anderen oder ist ihr analog. Jede besteht aus Differenzen und kommuniziert mit den anderen über Differenzen von Differenzen. Die gekrönten Anarchien ersetzen die Hierarchien der Repräsentation; die nomadischen Verteilungen die seßhaften Verteilungen der Repräsentation. Wir haben gesehen, wie diese Systeme der Aktualisierungsort von Ideen waren. Eine Idee ist in diesem Sinne weder eine noch viele: Sie ist eine Mannigfaltigkeit, besteht aus differentiellen Elementen, aus Differentialverhältnissen zwischen diesen Elementen und aus Singularitäten, die diesen Verhältnissen entsprechen. Diese drei Dimensionen, Elemente, Verhältnisse, Singularitäten, bilden die drei Aspekte der mannigfaltigen ratio: die Bestimmbarkeit oder das Quantitabilitätssprinzip, die reziproke Bestimdie durchgängige Bestimmung oder mung oder das Qualitabilitätsprinzip, das Potentialitätsprinzip. Sie projizieren sich alle drei auf eine ideale zeitliche Dimension, die die der progressiven Bestimmung ist. Es gibt also einen Empirismus der Idee. In den verschiedensten Fällen müssen wir danach fragen, ob wir tatsächlich mit idealen Elementen konfrontiert sind, d . h . mit gestaltlosen und funktionslosen Elementen, die aber in einem Netz von - Differentialverhältnissen wechselseitig bestimmbar sind (nicht lokalisierbare ideale Verbindungen). Etwa: entsprechen die physikalischen Partikel diesem Fall, und welche? Entsprechen die biologischen Gene diesem Fall? Und die Phoneme? Wir müssen gleichermaßen danach fragen, welche Verteilung von Singularitäten, welche Aufteilung von singulären und regulären, ausgezeichneten und gewöhnlichen Punkten den Werten der Verhältnisse entsprechen. Eine Singularität ist der Ausgangspunkt einer Reihe, die sich über alle gewöhnlichen Punkte des Systems hinweg fortsetzt, bis in die Umgebung einer anderen Singularität; diese erzeugt eine andere Reihe, die mit der ersten bald konvergiert, bald divergiert. Die Idee hat die Macht zur Bejahung der Divergenz; sie errichtet eine Art Resonanz zwischen den divergierenden Reihen. Wahrscheinlich haben die Begriffe singulär und regulär, ausgezeichnet und gewöhnlich für die Philosophie selbst eine wesentlich größere ontologische und epistemologische Bedeutung als die Begriffe von wahr und falsch, die Repräsentation betreffend; denn was man Sinn nennt, hängt von der Unterscheidung und Verteilung dieser leuchtenden Punkte in der Struktur der Idee ab. Es ist also das Spiel der Wechselbestimmung aus der Perspektive der Verhältnisse und das Spiel der durchgängien Bestimmung aus der Perspektive der Singularitäten, das die Idee an sich selbst progressiv bestimmbar macht. Dieses Spiel in der Idee ist das des Differentiellen; es durchläuft die Idee als Mannigfaltigkeit und bildet die Methode der Vize-Diktion (die Leibniz so genial handhabte, obwohl er sie illegitimen Konvergenzbedingungen unterordnete, die noch den Forderungsdruck der Repräsentation bekundeten).
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Die so definierte Idee verfugt über keinerlei Aktualität. Sie ist reine Virtualität. Alle Differenzialverhältnisse - vermöge der reziproken Bestimmung - und alle Verteilungen von Singularitäten - vermöge der durchgängigen Bestimmung - koexistieren in den virtuellen Mannigfaltigkeiten der Ideen gemäß einer Ordnung, die ihnen eignet. Erstens aber verkörpern sich die Ideen in den Individuationsfeldern: Die intensiven Reihen individuierender Faktoren umhüllen ideelle, an sich selbst präindividuelle Singularitäten; die interseriellen Resonanzen bringen die idealen Verhältnisse ins Spiel. Wie grundlegend hat Leibniz auch hier gezeigt, daß sich die individuellen Wesenheiten auf dem Grund dieser Verhältnisse und dieser Singularitäten bilden. Zweitens aktualisieren sich die Ideen in den Arten und Teilen, den Qualitäten und Ausdehnungen, die diese Individuationsfelder überdecken und entfalten. Eine Art besteht aus Differentialverhältnissen zwischen Genen, die organischen Teile und die Ausdehnung eines Körpers bestehen entsprechend aus aktualisierten präindividuellen Singularitäten. Man muß jedoch die absolute Unähnlichkeitsbedingung hervorheben: Die Art oder die Qualität ähneln nicht den Differentialverhältnissen, die sie aktualisieren, so wenig die organischen Teile den Singularitäten ähneln. Ähnlich sind einander das Mögliche und das Wirkliche, keineswegs aber das Virtuelle und das Aktuelle. So wenig die Idee auf das Identische zurückgeht oder über eine Identität überhaupt verfügt, so wenig vollziehen sich Verkörperung und Aktualisierung der Idee mittels Ähnlichkeit oder können auf eine Gleichartigkeit zählen. Wenn es stimmt, daß die Arten und Teile, die Qualitäten und Ausdehnungen, oder eher die Spezifikation und die Partition, die Qualifizierung und die Extension die beiden Aspekte der Diff erenzierung bilden, so wird man sagen, daß sich die Idee durch D’ff i erenzierung aktualisiert. Aktualisierung bedeutet für sie Differenzierung. An sich selbst und in ihrer Virtualität belegt sie also völlige Nichtdifferenzierung. Dennoch ist sie keineswegs unbestimmt: Sie unterliegt, im Gegenteil, vollständig der Differentiation. (In diesem Sinn ist das Virtuelle nicht im geringsten ein vager Begriff; es besitzt volle objektive Realität; es läßt sich keineswegs mit dem Möglichen verwechseln, dem es an Realität mangelt; daher ist das Mögliche der Modus der Identität des Begriffs in der Repräsentation, während das Virtuelle die Modalität des Differentiellen im Innern der Idee ist.) Man muß dem ,,distinktiven Merkmal“ t/z als Symbol der Differenz allergrößte Bedeutung beimessen: Differentiation und Differenzierung. Die Gesamtheit des Systems, das die Idee, ihre Verkörperung und ihre Aktualisierung ins Spiel bringt, muß sich im komplexen Begriff ,,(Indi)Differentidtion/zierung” artikulieren. Jedes Ding hat gleichsam zwei unpaarige, asymmetrische und unähnliche ,,Hälften“, die beiden Hälften des Symbols, von denen sich jede selbst wiederum in zwei Hälften teilt: eine ideelle Hälfte, die ins Virtuelle eingebettet ist und einerseits aus den Differentialverhältnissen, andererseits aus den entsprechenden Singularitäten besteht; eine aktuelle Hälfte, die einerseits aus den Qualitäten, die diese Verhältnisse
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aktualisieren, andererseits aus den Teilen, die diese Singularitäten aktualisieren, besteht. Die Individuation ist es, die die Schachtelung der beiden großen unähnlichen Hälften gewährleistet. Die Frage nach dem ens omni modo determinatum muß folgendermaßen gestellt werden: In der Idee kann ein Ding vollständig bestimmt sein (Differentiation), und dennoch kann es ihm an Bestimmungen mangeln, die die aktuelle Existenz ausmachen (es ist undifferenziert und noch nicht einmal individuiert). Wenn wir ,,deutlich” [distinct] die Verfassung der Idee mit vollständiger Differentiation nennen, ,,klar“ [clair] aber die Formen der quantitativen und qualitativen Differenzierung, müssen wir mit der Proportionalitätsregel hinsichtlich des Klaren und des Deutlichen brechen: Die Idee an sich selbst ist deutlich-dunkel. Und gerade auf diese Weise ist sie dionysisch, im Gegensatz zum Klar-und-Deutlich der apollinischen Repräsentation, und zwar in jener dunklen Zone, die sie in sich wahrt und hütet, in jener Nichtdifferenzierung, die dennoch völlig der Differentiation unterliegt, in jenem Präindividuellen, das nichtsdestoweniger singulär ist: ihre Trunkenheit, die niemals gelindert sein wird - das Deutlich-Dunkel’ als zweifache Farbe, in der die Philosophie die Welt malt, mit allen Kräften eines differentiellen Unbewußten. Es ist ein Irrtum, in den Problemen einen vorläufigen und subjektiven Zustand zu sehen, durch den unsere Erkenntnis auf Grund ihrer tatsächlichen Begrenzungen hindurchgehen müßte. Dieser Irrtum setzt die Negation frei und verfälscht die Dialektik, indem er das (Nicht)-Sein des Problems durch das Nicht-Sein des Negativen ersetzt. Das ,,Problematische“ ist ein Weltzustand, eine Dimension des Systems und sogar sein Horizont, sein Brennpunkt: Es bezeichnet exakt die Objektivität der Idee, die Realität des Virtuellen. Als Problem ist das Problem vollständig bestimmt, ihm bleibt die Differentiation vorbehalten, und zwar in dem Maße, wie man es auf seine völlig positiven Bedingungen bezieht - obwohl es noch nicht ,,gelöst“ ist und darum in der Nichtdifferenzierung verharrt. Oder besser: es ist gelöst, sobald es gestellt und bestimmt ist, aber es besteht dennoch in den von ihm erzeugten Lösungen objektiv fort und unterscheidet sich wesentlich von ihnen. Darum findet die Metaphysik der Differentialrechnung ihre wahre Bedeutung, wenn sie der Antinomie des Endlichen und Unendlichen in der Repräsentation entkommt, um in der Idee als das erste Prinzip der Theorie der Probleme zu erscheinen. Perplikation haben wir jenen Zustand der Problem-Ideen genannt, mit ihren koexistierenden Mannigfaltigkeiten und Varietäten, ihren Elementbestimmungen, ihren Verteilungen beweglicher Singularitäten und ihrer Bildung ideeller Reihen um diese Singularitäten. Und das Wort ,,Perplikation“ bezeichnet hier alles andere als einen Bewußtseinszustand. Komplikation nennen wir den
8 Frz. distinct-obscur, Malerei gedacht.
hier auch als Anspielung an das Clair-obscur,
das Helldunkel der
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Zustand des Chaos, das alle aktuellen intensiven Reihen festhält und umfaßt, die jenen ideellen Reihen entsprechen, sie verkörpern und deren Divergenz bejahen. Daher versammelt dieses Chaos in sich das Sein der Probleme und verleiht allen Systemen und Feldern, die sich in ihm bilden, den dauerhaften Wert des Problematischen. Implikation nennen wir den Zustand intensiver Reihen, sofern sie über ihre Differenzen kommunizieren und durch die Bildung von Individuationsfeldern in Resonanz geraten. Jede wird von den anderen ,,impliziert“, die sie selbst wiederum impliziert; sie konstituieren die ,,umhüllenden“ und ,,umhüllten“, die ,,lösenden“ und ,,gelösten“ des Systems. Explikation nennen wir schließlich den Zustand der Qualitäten und Ausdehnungen, die nun das System zwischen den Basisreihen verdecken und entfalten: Hier zeichnen sich die Differenzierungen, die Integrationen ab, die die Gesamtheit der endgültigen Lösung definieren. Die Umhüllungszentren aber zeugen noch von der Beständigkeit der Probleme oder der Beständigkeit der Implikationswerte in der Bewegung, die sie expliziert und löst (Replikation).
Wir haben dies hinsichtlich des Anderen in den psychischen Systemen gesehen. Der Andere verschmilzt nicht mit den im System implizierten individuierenden Faktoren, sondern ,,repräsentiert“ sie in gewisser Weise, steht für sie. Denn unter den entfalteten Qualitäten und Ausdehnungen der Wahrnehmungswelt umhüllt er, drückt er mögliche Welten aus, die außerhalb ihres Ausdrucks nicht existieren. Damit bezeugt er beständige Implikationswerte, die ihm eine wesentliche Funktion in der repräsentierten Welt der Wahrnehmung verleihen. Wenn nämlich der Andere bereits die Organisation von Individuationsfeldern voraussetzt, so ist er umgekehrt die Bedingung dafür, daß wir in diesen Feldern distinkte Objekte und Subjekte wahrnehmen und sie als solche wahrnehmen, die auf verschiedene Weise wiedererkennbare, identifizierbare Individuen bilden. Daß der Andere eigentlich niemand ist, weder Sie noch ich, bedeutet, daß er eine Struktur ist, die durch variable Terme in den verschiedenen Wahrnehmungswelten bloß verwirklicht wird ich für Sie in der Ihrigen, Sie für mich in der meinigen. Es genügt nicht einmal, im Anderen eine besondere oder spezifische Struktur der Wahrnehmungswelt allgemein zu sehen; in Wirklichkeit ist es eine Struktur, die die ganze Funktionsweise dieser Welt insgesamt begründet und garantiert. Das kommt daher, daß die zur Beschreibung dieser Welt notwendigen Begriffe Form/Untergrund, Umrisse/Objekteinheit, Tiefe/Länge, Horizont/Brennpunkt usw. - leer und unanwendbar blieben, wenn der Andere nicht da wäre und mögliche Welten ausdrückte, in denen dasjenige, was (für uns) im Untergrund liegt, vorweg oder unterschwellig zugleich auch als eine mögliche Form wahrgenommen wird, die Tiefe als mögliche Länge usw. Der Zuschnitt von Objekten, die Übergänge wie die Brüche, der Wechsel von einem Objekt zum anderen und sogar die Tatsache, daß eine Welt zu Gunsten einer anderen vergeht, die Tatsache, daß es stets etwas Impliziertes gibt, das noch expliziert, entfaltet werden muß - all das wird nur durch die Struktur des
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Anderen und seine Ausdrucksmacht in der Wahrnehmung ermöglicht. Kurz, die Individuation der Wahrnehmungswelt wird durch die Struktur des Anderen gewährleistet. Sie ist keineswegs das Ego oder Ich; diese bedürfen vielmehr jener Struktur, damit sie als Individualitäten wahrgenommen werden können. Es sieht ganz so aus, als ob der Andere die individuierenden Faktoren und präindividuellen Singuluritäten in die Grenzen von Objekten und Subjekten integrierte, die sich der Repräsentation nun als
wahrgenommen oder wahrnehmend darbieten. So daß man - um die individuierenden Faktoren, wie sie in den intensiven Reihen gegeben sind, und die präindividuellen Singularitäten, wie sie in der Idee gegeben sind, wiederzufinden - diesem Weg in Gegenrichtung folgen und ausgehend von den Subjekten, die die Struktur des Anderen verwirklichen, wieder zu jener Struktur an sich selbst aufsteigen und also den Anderen als Niemand auffassen muß; daß man dann, der Krümmung der ratio sufficiens entlang, noch weiter gehen und in jene Regionen gelangen muß, in der die Struktur des Anderen nicht mehr wirksam ist, fern der Objekte und Subjekte, die sie bedingt - damit sich die Singularitäten ausbreiten, sich in der reinen Idee verteilen und die individuierenden Faktoren sich in der reinen Intensität aufteilen können. In diesem Sinne stimmt es, daß der Denkende notwendig einsam und solipsistisch ist. Denn woher stammen die Ideen, ihre Verhältnisvariationen und ihre Verteilungen von Singularitäten ? Auch hier folgen wir dem Weg, der eine Biegung macht, an der die ,,ratio“ in ein Jenseits eintaucht. Der radikale Ursprung wurde stets einem einsamen und göttlichen Spiel gleichgesetzt. Es gibt freilich mehrere Spielweisen, und die menschlichen und kollektiven Spiele ähneln nicht jenem einsamen göttlichen Spiel. Wir können die beiden Arten von Spiel, das menschliche und das ideale, einander in mehreren Merkmalen gegenüberstellen. Zunächst setzt das menschliche Spiel vorgängige kategorische Regeln voraus. Sodann bewirken diese Regeln die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten, d. h. Verlust- und Gewinn-,,Hypothesen“. Drittens bejahen diese Spiele niemals den ganzen Zufall, im Gegenteil, sie fragmentieren ihn, und in jedem einzelnen Fall entziehen sie dem Zufall, schließen sie vom Zufall die Konsequenz des Spielzugs aus, da sie ja diesen Gewinn und jenen Verlust als notwendig mit der Hypothese verbunden festsetzen. Darum schließlich operiert das menschliche Spiel mit seßhaften Verteilungen: Denn die vorgängige kategorische Regel übernimmt darin die invariante Rolle des Selben und verfügt über eine metaphysische oder moralische Notwendigkeit; sie subsumiert als solche gegensätzliche Hypothesen, denen sie eine Reihe von numerisch geschiedenen Spielzügen, Streichen und Würfen korrespondieren läßt, die eine Verteilung dieser Hypothesen durchführen sollen; und die Ergebnisse der Spielzüge, der Niederschlag, verteilen sich gemäß ihrer Konsequenz im Sinne einer hypothetischen Notwendigkeit, d.h. gemäß der verwirklichten Hypothese. Dies ist die seßhafte Verteilung, in der eine starre Aufteilung des Verteilten besteht, einer Verhältnis-
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mäßigkeit zufolge, die durch die Regel festgelegt wird. Diese menschliche Verfahrensweise, diese falsche Spielweise verbirgt ihre Voraussetzungen nicht: Es sind dies moralische Voraussetzungen, die Hypothese ist hier die Hypothese von Gut und Böse und das Spiel ein moralischer Lernprozeß. Das Modell dieses schlechten Spiels liegt in der Wette Pascals, hinsichtlich der Art, wie sie den Zufall fragmentiert, dessen Stücke verteilt, um menschliche Existenzweisen zuzuteilen, und zwar unter der konstanten Regel der Existenz eines niemals infragegestellten Gottes. Von der platonischen Lotterie bis hin zum leibnizschen Schachspiel in De rerum originatione radicali aber stößt man auf diese gleiche Konzeption des Spiels, die insgesamt ins Netz des Notwendigen, des Hypothetischen und der hypothetischen Notwendigkeit eingeschrieben ist (kategorisches oder apodiktisches Prinzip, Hypothese, Konsequenz). Dieses Spiel verschmilzt bereits mit dem Vollzug der Repräsentation, es weist all deren Elemente auf, die höhere Identität des Prinzips, den Gegensatz der Hypothesen, die Ähnlichkeit der numerisch geschiedenen Würfe, die Verhältnismäßigkeit im Bezug zwischen Hypothese und Konsequenz. Ganz anders das göttliche Spiel, jenes Spiel, von dem vielleicht Heraklit spricht, das Spiel, das Mallarme mit soviel religiöser Scheu und Reue, das Nietzsche mit so großer Entschiedenheit anruft - ein Spiel, das unserem Verständnis den größten Widerstand entgegensetzt und sich in der Welt der Repräsentation nicht beherrschen läßt9. Zunächst gibt es hier keine vorgängige Regel, das Spiel bezieht sich auf seine eigene Regel. So daß mit jedem Mal der gesamte Zufall in einem notwendig siegreichen Spielzug bejaht wird. Nichts bleibt vom Spiel ausgenommen: Die Konsequenz wird vom Zufall keineswegs durch die Bindung an eine hypothetische Notwendigkeit abgezogen, die ihn mit einem bestimmten Bruchstück vereinigen würde, sie entspricht vielmehr, im Gegenteil, dem Zufall insgesamt, der alle möglichen Konsequenzen einbehält und verästelt. Man kann folglich nicht mehr sagen, die verschiedenen Spielzüge seien numerisch geschieden: Jeder notwendig siegreiche zieht die Reproduktion des Wurfs nach einer anderen Regel nach sich, der wiederum alle seine Konsequenzen aus den Konsequenzen des vorangehenden herausschneidet. Die verschiedenen Spielzüge unterscheiden sich jedesmal nicht numerisch, sondern formal, wobei die verschiedenen Regeln die Formen ein und desselben Wurfs sind, der in ontologischer Hinsicht über alle Male hinweg der eine bleibt. Und die verschiedenen Niederschläge teilen sich nicht mehr gemäß der Verteilung der
Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960; und Kostas Axelos: Vers l a Paris 1964 - zwei Autoren, die aus einer ganz anderen als der hier vorgeschlagenen Perspektive den Versuch unternehmen, göttliches und menschliches Spiel ZU unterscheiden, um daraus eine Formel dafür zu gewinnen, was sie mit Heidegger ,,ontologische Differenz“ nennen.
9 Vgl. Eugen Fink: pensee
@anitaire,
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von ihnen verwirklichten Hypothesen auf, sie verteilen sich vielmehr selbst im offenen Raum des einzigen und ungeteilten Wurfs: eine nomadische Verteilung an Stelle der seßhaften. Eine reine Idee des Spiels, d. h. eines Spiels, das ausschließlich Spiel wäre und nicht durch die Geschäfte der Menschen fragmentiert, begrenzt, unterbrochen. (Welches menschliche Spiel kommt jenem einsamen göttlichen Spiel am nächsten? Wie Rimbaud sagt: X suchen, das Kunstwerk.) Nun haben die Verhältnisvariationen und die Verteilungen von Singularitäten, wie sie in der Idee gegeben sind, keinen anderen Ursprung als jene formal geschiedenen Regeln für jenen ontologisch einen Wurf. Dies ist der Punkt, an dem sich der radikale Ursprung in die Abwesenheit von Ursprung verkehrt (im stets verschobenen Kreis der ewigen Wiederkunft). Ein aleatorischer Punkt verschiebt sich über alle Punkte auf den Würfeln hinweg, als ein einziges Mal, das für alle gilt. Diese verschiedenen Würfe, die ihre eigenen Regeln erfinden und aus denen der einzige Spielzug mit seinen mannigfaltigen Formen und seiner ewigen Wiederkunft besteht, sind entsprechend viele imperative Fragen, stillschweigend vorausgesetzt durch ein und dieselbe Antwort, die jene Fragen offen läßt und niemals zuschüttet. Sie rufen die idealen Probleme ins Leben, deren Verhältnisse und Singularitäten sie bestimmen. Und über diese Probleme bewirken sie die Niederschläge, d. h. die differenzierten Lösungen, die diese Verhältnisse und Singularitäten verkörpern. Welt des ,,Willens“: zwischen den Bejahungen des Zufalls (imperative und Entscheidungsfragen) und den erzeugten resultierenden Bejahungen (entschiedene Lösungsfälle [cas de solution] oder Entschließungen [rholutionsj) entfaltet sich die ganze Positivität der Ideen. Das Spiel des Problematischen und des Imperativs hat das Spiel des Hypothetischen und Kategorischen ersetzt; das Spiel der Differenz und der Wiederholung hat das des Selben und der Repräsentation ersetzt. Die Würfel werden gegen den Himmel geworfen, mit der ganzen Kraft der Verschiebung des aleatorischen Punkts, mit all ihren imperativen Punkten gleich Blitzen, und treten am Himmel zu idealen Problemkonstellationen zusammen. Sie prallen auf die Erde zurück, mit der ganzen Kraft siegreicher Lösungen, die den Wurf wieder zurückbringen. Ein Spiel auf zwei Tischen. Wie sollte es an der Grenze, an der Nahtsstelle zwischen den beiden Tischen keinen Riß geben.? Und wie ließe sich auf dem ersten ein mit sich identisches, substanzielles Ego, auf dem zweiten ein mit sich ähnliches, kontinuierliches Ich erkennen? Die Identität des Spielers ist ebenso verschwunden wie die Ähnlichkeit dessen, der für die Konsequenzen aufkommt oder von ihnen profitiert. Der Riß, die Nahtstelle ist die Form der leeren Zeit, das Aion, das von den Würfelwürfen durchlaufen wird. Einerseits nichts als ein durch diese leere Form gespaltenes Ego. Andererseits nichts als ein passives und stets in dieser leeren Form aufgelöstes Ich. Einem zerrissenen Himmel entspricht eine aufgebrochene Erde. ,,O Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit [. . .]/ - daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, daß du mir ein Göttertisch
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bist für göttliche Würfel und Würfelspieler!““. Worauf es von dem anderen Tisch her antwortet: ,,Wenn ich je am Göttertisch der Erde mit Göttern Würfel spielte, daß die Erde bebte und brach und Feuerflüsse heraufschob: -/ denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd von schöpferischen neuen Worten und Götter-Würfen [. . .]“. Und dennoch ist allen beiden, dem zerrissenen Himmel und der aufgebrochenen Erde, das Negative unerträglich, sie speien es aus mittels dessen, was sie zerreißt oder zerbricht, sie stoßen alle Formen von Negation und gerade jene, die das falsche Spiel repräsentieren, von sich - ,,[e]in Wurf mißriet euch./ Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muß!“ Wir haben fortwährend deskriptive Begriffe vorgeschlagen: Begriffe, die die aktuellen Reihen beschreiben, oder die virtuellen Ideen, oder den Ungrund, aus dem alles hervorgeht. Aber: Intensität-Kopplung-Resonanz-erzwungene Bewegung; Differentielles und Singularität; Komplikation-Implikation-Explikation; Differentiation-Individuation-Differenzierung; Frage-Problem-Lösung usw. - all das bildet mitnichten eine Liste von Kategorien. Vergeblich behauptet man, eine Liste von Kategorien könne prinzipiell offen sein; sie kann de facto offen sein, nicht aber prinzipiell. Denn die Kategorien gehören zur Welt der Repräsentation, in der sie die Verteilungsformen ausprägen, nach denen sich das Sein gemäß Regeln seßhafter Proportionalität unter den Seienden aufteilt. Die Philosophie war darum oft versucht, den Kategorien Begriffe ganz anderer Natur gegenüberzustellen, wirklich offene Begriffe, die einen empirischen und pluralistischen Sinn der Idee bezeugen: ,,Existenzialien“ gegen ,,Essenzialien“ , percepts’l gegen concepts’2 - oder die Liste empirioideeller Begriffe, die man bei Whitehead findet und Process and Reality zu einem der größten Bücher der modernen Philosophie macht. Derartige Begriffe, die man insofern ,,phantastisch“ nennen muß, als sie sich auf die Phantasiegebilde oder Trugbilder beziehen, unterscheiden sich von den Kategorien der Repräsentation unter mehreren Gesichtspunkten. Zunächst sind sie Bedingungen der realen und nicht nur der möglichen Erfahrung. Gerade in dieser Hinsicht - da sie nicht weiter gefaßt sind als das Bedingte - vereinen sie die beiden so unglücklich auseinandergerissenen Teile der Ästhetik, die Theorie der Formen der Erfahrung und die Theorie des Kunstwerks als Experiment. Dieser Aspekt aber erlaubt uns noch nicht zu bestimmen, worin der Wesensunterschied zwischen den beiden Begriffstypen besteht. Das kommt daher, daß zweitens diese Typen gänzlich voneinander geschiedene, irreduzible und unvereinbare Verteilungen steuern: den seßhaften Verteilungen der Kategorien stehen die in den phantastischen Begriffen vollzogenen nomadi10 Dieser Text und die beiden folgenden stammen aus Also sprach Zayathtistra: Dritter Teil, Vor Sonnenaufgang (a.a.O., Bd. 2, S. 416), D’ ie sieben Siegel (S. 474); Vierter Teil, Vom höheren Menschen (S. 528) [ Hervorhebungen von G. Deleuze; d.Ü.1. ” D h empirische Anschauungen“ (bei Bergson) [A.d.Ü.]. l2 D. h. ,,Begriffe“ , ,,begriffliche Vorstellungen“ [A.d.Ü.]. l
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sehen Verteilungen gegenüber. Denn diese sind weder Universalien wie die Kategorien, noch Fälle des hic et nunc, des now here wie das Verschiedene, auf das sich die Kategorien in der Repräsentation beziehen. Sie sind Raumund Zeitkomplexe, die sicher überallhin transportierbar sind, vorausgesetzt aber, daß sie ihre eigene Landschaft aufzwingen, daß sie ihr Zelt dort aufschlagen, wo sie sich für einen Augenblick niederlassen: Sie sind daher Gegenstand einer wesentlichen Begegnung und nicht einer Rekognition. Das beste Wort zu ihrer Bezeichnung ist zweifellos das von Samuel Butler geprägte: Erewhod3. Sie sind Erewhons. Kant hatte das lebhafteste Gespür für derartige Begriffe, die an einer Phantastik der Einbildungskraft beteiligt sind und sich auf das Universale des Begriffs so wenig wie auf die Besonderheit des Hier-und-Jetzt reduzieren lassen. Wenn sich nämlich die Synthese auf das Verschiedene hier und jetzt erstreckt, wenn die synthetischen Einheiten oder Kategorien stetige Universalien sind, die jede mögliche Erfahrung bedingen, so sind die Schemata Bestimmungen a priori von Raum und Zeit, die überall und jederzeit - auf diskontinuierliche Weise allerdings - reale Komplexe von Orten und Augenblicken transportieren. Das kantische Schema würde seinen Aufschwung nehmen und sich in Richtung auf eine Konzeption der differentiellen Idee überschreiten, wenn es nicht unbegründeterweise den Kategorien untergeordnet bliebe, die es auf den Stand einer bloßen Vermittlung in der Welt der Repräsentation reduzieren. Und weiter noch, jenseits der Repräsentation vermuten wir ein regelrechtes Problem des Seins, das von diesen Differenzen zwischen den Kategorien und den phantastischen oder nomadischen Begriffen ins Spiel gebracht wird, die Art und Weise nämlich, wie sich das Sein auf das Seiende verteilt - in letzter Instanz die Analogie oder die Univozität?
Wenn wir die Wiederholung als Gegenstand der Repräsentation betrachten, so begreifen wir sie über die Identität, erklären sie aber auch auf negative Weise. Denn die Identität eines Begriffs qualifiziert keine Wiederholung, wenn nicht gleichzeitig eine negative Kraft (von Beschränkung oder Gegensatz) den Begriff daran hindert, sich in Abhängigkeit der Mannigfaltigkeit, die er subsumiert, zu spezifizieren, zu differenzieren. Die Materie vereint, wie wir gesehen haben, diese beiden Merkmale: einen absolut identischen Begriff in ebenso vielen Exemplaren existieren zu lassen, wie es ,,Male“ oder ,,Fälle“ gibt; diesen Begriff daran zu hindern, sich weiter zu spezifizieren, und zwar wegen seiner natürlichen Dürftigkeit oder seines unbewußten, entfremdeten Naturzustands. Die Materie ist also die Identität des Geistes, d. h. der Begriff, aber als ent-
l3 Butlers Evewhon scheint uns nicht nur eine Verballhornung des no-where ,zu sein, sondern auch eine Verkehrung des now-here.
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fremdeter Begriff, ohne Selbstbewußtsein, außer sich gebracht. Es kommt wesentlich der Repräsentation zu, eine materielle und nackte Wiederholung zum Modell zu nehmen, eine Wiederholung, die sie über das Selbe begreift und über das Negative expliziert. Aber liegt nicht auch hierin eine Antinomie der Repräsentation, daß sie sich nämlich die Wiederholung nur in dieser Gestalt vorstellen [se reprhenter] kann, und daß sie sie doch nicht ohne Widerspruch - auf diese Weise repräsentieren kann? Denn das materielle und nackte Modell ist im eigentlichen Sinne undenkbar. (Wie könnte sich das Bewßtsein das Unbewußte vorstellen [se reprbsenter/, jenes Unbewußte, das nur eine Gegenwart [pr&ence/ besitzt?) Identische Elemente wiederholen sich nur unter der Bedingung einer Unabhängigkeit von ,,Fällen“, einer Diskontinuität von ,,Malen”, die bewirkt, daß das eine nicht erscheint, ohne daß das andere verschwunden ist: In der Repräsentation ist die Wiederholung wohl gezwungen, sich zugleich mit ihrer Bildung aufzulösen. Oder eher: sie bildet sich überhaupt nicht. Sie kann sich unter diesen Bedingungen nicht an sich selbst bilden. Darum muß man, um die Wiederholung zu repräsentieren, hier und da betrachtende Seelen installieren, passive Ichs, subrepräsentative Synthesen, Gewohnheiten, die die Fälle oder Elemente ineinander zu kontrahieren vermögen, um sie daraufhin in einem Aufbewahrungsraum und in einer Aufbewahrungszeit wiederherzustellen, die der Repräsentation zugehören. Nun ergeben sich daraus entscheidende Konsequenzen: Da diese Kontraktion eine Differenz ist, d.h. eine Modifikation der betrachtenden Seele und gar die Modifikation dieser Seele, ihre einzige Modifikation, nach der sie stirbt, wird deutlich, daß sich die materiellste Wiederholung nur durch und in einer Differenz bildet, die ihr durch Kontraktion entlockt wird, durch und in einer Seele, die der Wiederholung eine Differenz entlockt. Die Wiederholung wird also repräsentiert, allerdings unter der Bedingung einer Seele ganz anderer Natur, einer betrachtenden und kontrahierenden, nicht aber repräsentierenden und repräsentierten Seele. Die Materie wird in der Tat von derartigen Seelen bevölkert und überzogen, die ihr eine Dichte verleihen, ohne die sie auf der Oberfläche keinerlei nackte Wiederholung aufweisen würde. Und glauben wir nicht, daß die Kontraktion dem äußerlich wäre, was sie kontrahiert, oder daß diese Differenz der Wiederholung äußerlich wäre: Sie ist deren integrierender Bestandteil, sie ist deren konstitutiver Bestandteil, sie ist die Tiefe, ohne die sich an der Oberfläche nichts wiederholen wurde. Damit verändert sich alles. Wenn eine Differenz notwendig Bestandteil (in der Tiefe) der oberflächlichen Wiederholung ist, der sie sich entlockt, so geht es um die Frage, worin diese Differenz besteht. Diese Differenz ist Kontraktion, worin aber besteht diese Kontraktion? Sollte diese Kontraktion nicht selbst der höchste Kontraktionsgrad sein, die höchste Spannungsstufe einer Vergangenheit, die mit sich selbst auf allen Ebenen von Entspannung und in allen Graden koexistiert? In jedem Augenblick die ganze Vergangenheit, aber in verschiedenen Graden und Ebenen, von denen die Gegenwart nur die am
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stärksten kontrahierte, am stärksten gespannte darstellt. So lautete die glanzende Hypothese Bergsons. Die gegenwärtige Differenz ist dann nicht mehr, wie noch eben, eine Differenz, die einer oberflächlichen Wiederholung von Augenblicken abgewonnen wird, um eine Tiefe zu entwerfen, ohne welche diese nicht existierte. Jetzt entfaltet sich vielmehr diese Tiefe selber für sich selbst. Die Wiederholung ist nicht mehr eine Wiederholung von sukzessiven äußeren Elementen oder Teilen, sondern von Totalitäten, die auf verschiedenen Ebenen oder in verschiedenen Graden koexistieren. Die Differenz wird nicht mehr a u s einer elementaren Wiederholung gewonnen, sie liegt vielmehr zwischen den Graden oder Ebenen einer stets totalen und totalisierenden Wiederholung; sie verschiebt und verkleidet sich von einer Ebene zur anderen, wobei jede Ebene ihre Singularitäten als die ihr zugehörigen privilegierten Punkte umfaßt. Und was läßt sich von der elementaren Wiederholung, die sich in Augenblicken abwickelt, anderes sagen, als daß sie selbst die entspannteste Ebene dieser totalen Wiederholung darstellt? Und was läßt sich von der aus der elementaren Wiederholung gewonnenen Differenz anderes sagen, als daß sie im Gegenteil den höchsten Kontraktionsgrad dieser totalen Wiederholung darstellt? Somit liegt die Differenz selbst zwischen zwei Wiederholungen: zwischen der oberflächlichen Wiederholung von identischen und augenblicklichen äußeren Elementen, die sie kontrahiert, und der tiefen Wiederholung von inneren Totalitäten einer stets variablen Vergangenheit, deren höchste Kontraktionsstufe sie darstellt. Auf diese Weise besitzt die Differenz zwei Gesichter, oder die Synthese der Zeit bereits zwei Aspekte: den einen, Habitus, der auf die erste Wiederholung gerichtet ist, die er ermöglicht; den anderen, Mnemosyne, die sich der zweiten Wiederholung darbietet, aus der sie resultiert . Es macht also keinen Unterschied zu sagen, die materielle Wiederholung besitze ein passives und verborgenes Subjekt, das nichts tut, in dem aber alles geschieht, und es gebe zwei Wiederholungen, von denen die materielle die oberflächlichere ist. Vielleicht ist es ungenau, alle Merkmale der anderen dem Gedächtnis zuzuschreiben, selbst wenn man unter Gedächtnis das transzendentale Vermögen einer reinen Vergangenheit versteht, das ebenso erfinderisch wie erinnernd ist. Immerhin ist das Gedächtnis die erste Gestalt, in der die gegensätzlichen Merkmale der beiden Wiederholungen erscheinen. Die eine dieser Wiederholungen betrifft das Selbe und verfügt über Differenz nur, insofern ihr diese entwendet und entlockt wird; die andere betrifft das Differente und umfaßt die Differenz. Die eine besitzt feste Terme und Stellen, die andere umfaßt wesentlich die Verschiebung und die Verkleidung. Die eine ist negativ und defizient, die andere positiv und exzessiv. Die eine betrifft Elemente, Fälle und Male, äußerliche Bestandteile; die andere innere variable Totalitäten, Grade und Ebenen. Die eine ist sukzessiv in tatsächlicher Beziehung, die andere koexistent in rechtlicher Beziehung. Die eine ist statisch, die andere dynamisch. Die eine extensiv, die andere intensiv. Die eine gewöhnlich, die andere ausgezeichnet und auf Singularitäten bezogen. Die eine ist horizon-
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tal, die andere vertikal. Die eine ist entfaltet und muß expliziert werden; die andere ist umhüllt und muß interpretiert werden. Die eine ist eine Wiederholung von Gleichheit und Symmetrie in der Wirkung, die andere Wiederholung von Ungleichheit und Asymmetrie in der Ursache. Die eine beruht auf Exaktheit und Mechanismus, die andere auf Selektion und Freiheit. Die eine ist eine nackte Wiederholung, die nur als Zugabe und nachträglich maskiert werden kann; die andere ist eine bekleidete Wiederholung, deren Masken, Verschiebungen, und Verkleidungen die ersten, letzten und einzigen Elemente darstellen. Aus diesem Merkmalsgegensatz müssen wir zwei Folgerungen ziehen. Wenn man die Wiederholung über das Selbe begreifen und auf negative Weise erklären will, so geschieht dies zunächst aus ein und derselben Perspektive und gleichzeitig. Für die Philosophie der Wiederholung liegt hierin ein Widersinn, der genau demjenigen entspricht, der die Philosophie der Differenz beeinträchtigte. Man definierte nämlich den Begriff der Differenz durch das Moment oder die Weise, wie sich diese in den Begriff überhaupt einschrieb; man verwechselte also den Begriff der Differenz mit einer bloß begrifflichen Differenz; man erfaßte damit die Differenz in der Identität, wobei der Begriff überhaupt nur das Prinzip von Identität ist, wie sie sich in der Repräsentation entfaltet. Entsprechend konnte die Wiederholung ihrerseits nurmehr als eine Differenz ohne Begriff definiert werden; offensichtlich setzte diese Definition auch weiterhin die Identität des Begriffs hinsichtlich dessen voraus, was sich wiederholte, anstatt aber die Differenz in den Begriff einzuschreiben, verlegte sie sie als numerische Differenz außerhalb des Begriffs und trieb den Begriff selbst aus sich heraus, so daß er in ebenso vielen Exemplaren existiert, wie numerisch geschiedene Male oder Fälle vorhanden waren. Sie berief sich somit auf eine äußere Kraft, auf eine Form von Äußerlichkeit, die die Differenz aus dem identischen Begriff und den identischen Begriff aus sich selbst herauszutreiben vermochte, indem sie seine Spezifikation blockierte - wie vorhin eine innere Kraft oder eine Form von Innerlichkeit geltend gemacht wurde, die die Differenz in den Begriff und den Begriff in sich selbst zu verlegen vermochte, im Durchgang durch eine stetige Spezifikation. Zur gleichen Zeit und aus ein und derselben Perspektive also geschah es, daß die vorausgesetzte Identität des Begriffs die Differenz als begriffliche Differenz integrierte, verinnerlichte und im Gegenteil die Wiederho1ung ausstieß, und zwar als korrelative aber begriffslose Differenz, die negativ oder defizient expliziert wird. Wenn nun in dieser widersinnigen Verknüpfung alles miteinander verbunden ist, so muß es auch in der Wiederherstellung von Differenz und Wiederholung miteinander verbunden sein. Die Idee ist nicht der Begriff; sie unterscheidet sich von der Identität des Begriffs als die ewig positive differentielle Mannigfaltigkeit; anstatt die Differenz durch ihre Unterordnung unter den identischen Begriff und damit unter die Ähnlichkeit der Wahrnehmung, den Gegensatz von Prädikaten, der Analogie im Urteil zu repräsentieren, befreit sie sie, befördert sie
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deren Entfaltung in positiven Systemen, in denen sich das Differente auf das Differente bezieht, wobei sie aus Dezentrierung, Disparität und Divergenz jeweils Gegenstände von Bejahung macht, die den Rahmen der begrifflichen Repräsentation aufbrechen. Nun sind Verschiebung und Verkleidung Mächte der Wiederholung, wie Divergenz und Dezentrierung Mächte der Differenz sind. Die eine gehört nicht weniger zur Idee als die andere, denn die Idee hat nicht mehr Innen als Außen (sie ist ein Erewhon). Aus Differenz und Wiederholung macht die Idee ein und dasselbe Problem. Die Idee zeichnet sich durch ein Übermaß, durch eine Übersteigerung aus, die aus Differenz und Wiederholung das vereinte Objekt, das ,,Simultane“ der Idee machen. Gerade von diesem Übermaß der Idee profitiert der Begriff auf ungerechtfertigte Weise, aber er profitiert von ihm, indem er es entstellt und verfälscht: Denn der Begriff teilt den ideellen Exzeß in zwei Portionen auf, in die der begrifflichen Differenz und die der begrifflosen Differenz, die des Gleich- oder Ähnlichwerdens mit seiner eigenen Identität als Begriff und die der defizienten Bedingung, die weiterhin ebendiese Identität, allerdings blockiert, voraussetzt. Wenn wir uns jedoch fragen, wodurch der Begriff blockiert wird, so sehen wir freilich, daß dies niemals ein Mangel, ein Defekt, ein Entgegengesetztes ist. Keine nominale Beschränkung des Begriffs; keine natürliche Indifferenz des Raums und der Zeit; ebensowenig eine geistige Entgegensetzung des Unbewußten. Immer ist es das Übermaß der Idee, das die höhere Positivität bildet, durch die der Begriff angehalten oder der Anspruch der Repräsentation zu Fall gebracht wird. Und zur gleichen Zeit und aus ein und derselben Perspektive wird die Differenz nicht länger auf eine bloß begriffliche Differenz reduziert, knüpft die Wiederholung ihre tiefste Bindung an die Differenz und findet ein positives Prinzip sowohl für sich selbst wie für diese Bindung. (Jenseits des Gedächtnisses lag das offensichtliche Paradox des Todestriebs darin, daß er uns trotz seines Namens von Anfang an mit einer zweifachen Funktion ausgestattet schien: nämlich in der Wiederholung die ganze Kraft des Differenten zu erfassen und gleichzeitig der Wiederholung auf positivste, exzessivste Weise Rechnung zu tragen.) Die zweite Konsequenz besteht darin, daß es nicht genügt, zwei Wiederholungen einander gegenüberzustellen, die eine materiell und nackt entsprechend der Identität und des Mangels des Begriffs, die andere psychisch, metaphysisch und bekleidet entsprechend der Differenz und dem Übermaß der stets positiven Idee. Man mußte in dieser zweiten Wiederholung die ,,ratio“ der ersten suchen. Die lebendige und bekleidete, vertikale Wiederholung, die die Differenz umfaßt, mußte die Ursache darstellen, aus der nur die horizontale, materielle und nackte Wiederholung resultiert (bei der man sich begnügt, die Differenz hervorzulocken). Hinsichtlich der drei Fälle der Freiheits-, Naturund Nominalbegriffe haben wir dies immer wieder gesehen: Stets resultiert die materielle Wiederholung aus der tieferen Wiederholung, die in der Dichte entsteht und jene als Resultat erzeugt, als äußere Umhüllung gleich einer
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ablösbaren Schale, die aber jeden Sinn und jede Fähigkeit zur eigenen Reproduktion verliert, sobald sie nicht mehr von ihrer Ursache oder der anderen Wiederholung belebt wird. Auf diese Weise ist es das Bekleidete, das unter dem Nackten liegt und es erzeugt, es ausscheidet [excrete] als Wirkung seiner Sekretion [sk&tion]. Die verborgene [secrkte] Wiederholung ist es, die sich mit einer mechanischen und nackten Wiederholung als einer letzten Barriere umgibt, die hier oder dort den äußersten Rand der Differenzen markiert, die sie in einem beweglichen System miteinander kommunizieren läßt. Und immer ist es ein und dieselbe Bewegung, in der die Wiederholung die Differenz umfaßt (nicht als eine zufällige und äußerliche Variante, sondern als ihr Herzstück, als die wesentliche Variante, aus der sie zusammengesetzt ist, als die Verschiebung und die Verkleidung, durch die sie für eine selbst divergierende und verschobene Differenz gebildet wird) und in der sie ein positives Prinzip erhalten muß, aus dem die indifferente materielle Wiederholung resultiert (eine leere Schlangenhaut, entkernte Hülle, die das, was sie impliziert, nicht mehr enthält, Epidermis, die nur mit ihrer verborgenen Seele oder ihrem verborgenen Inhalt lebt und stirbt). Dies trifft bereits auf die Naturbegriffe zu. Niemals würde die Natur wiederholen, stets wären ihre Wiederholungen hypothetisch und dem guten Willen des Experimentators und Wissenschaftlers ausgeliefert, wenn sie sich auf die Oberfläche der Materie reduzierte, wenn diese Materie nicht selbst über eine Tiefe als den Schoß der Natur verfügte, in dem die lebendige und tödliche Wiederholung entsteht, imperativ und positiv wird, vorausgesetzt, sie verschiebt und verkleidet eine stets gegenwärtige Differenz, die die Wiederholung zu einer Evolution als solcher macht. Ein Wissenschaftler, mehrere Wissenschaftler machen noch keinen Frühling, auch nicht die Wiederkehr der Jahreszeiten. Niemals würde das Selbe aus sich heraustreten, um sich auf mehrere ,,Gleiche“ in zyklischen Wechselfolgen zu verteilen, wenn es nicht die Differenz gäbe, die sich in diesen Zyklen verschiebt und in diesem Selben verkleidet, die Wiederholung imperativ macht, aber den Augen des externen Beobachters nur das Nackte darbietet, eines Beobachters, der nun glaubt, die Varianten seien nicht das Wesentliche und modifizieren kaum,-was sie doch von innen heraus konstituieren. Dies gilt noch mehr für die Freiheits- und Nominalbegriffe. Die Worte und Handlungen der Menschen erzeugen materielle oder nackte Wiederholungen, allerdings als Effekt von tieferliegenden Wiederholungen, Wiederholungen ganz anderer Natur (,,Effekt“ im dreifachen Sinne von Kausalität, Optik und Bekleidung verstanden). Die Wiederholung ist Pathos, die Philosophie der Wiederholung Pathologie. Es gibt aber so viele Pathologien, so viele Wiederholungen, die einander überschneiden. Wenn ein Zwangsneurotiker ein Zeremoniell einmal, zweimal wiederholt; wenn er eine Aufzählung wiederholt, 1, 2, 3 - so betreibt er eine extensive Wiederholung von Elementen, die aber eine andere, vertikale und intensive
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Wiederholung bannt und übersetzt, die Wiederholung einer Vergangenheit, die sich mit jedem Mal oder bei jeder Zahl verschiebt und sich in der Gesamtheit der Zahlen und Male verkleidet. Dies ist das Äquivalent zu einem kosmologischen Beweis in pathologischer Hinsicht: Die horizontale Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen in der Welt verlangt eine erste totalisierende, außerweltliche Ursache als vertikale Ursache der Wirkungen und Ursachen. Man wiederholt zweimal gleichzeitig, aber nicht mit derselben Wiederholung: einmal mechanisch und materiell in der Breite, das andere Mal symbolisch, mit Trugbildern in der Tiefe; einmal wiederholt man Teile, ein anderes Mal das Ganze, von dem die Teile abhängen. Diese beiden Wiederholungen ergeben sich nicht in derselben Dimension, sie koexistieren; die eine ist die Wiederholung von Augenblicken, die andere die der Vergangenheit; die eine ist elementar, die andere totalisierend; und die tiefste, die ,,produktive“ ist offenbar nicht die sichtbarste oder die mit dem größten ,,Effekt“. Die beiden Wiederholungen allgemein treten in so viele verschiedene Bezüge, daß eine streng systematische klinische Untersuchung erforderlich wäre - die, wie wir meinen, noch nicht geleistet wurde -, um die Fälle zu unterscheiden, die ihren möglichen Kombinationen entsprechen. Betrachten wir gestische oder sprachliche Wiederholungen, Iterationen und Stereotypien vom Typ Demenz oder Schizophrenie. Sie scheinen keinen Willen mehr aufzuweisen, der fähig wäre, im Rahmen des Zeremoniells ein Objekt zu besetzen; sie fungieren eher als Reflexe, die ein allgemeines Scheitern der Besetzung kennzeichnen (daher die Unfähigkeit des Kranken, in den Tests, denen man ihn unterzieht, willentlich zu wiederholen). Die ,,unwillkürliche“ Wiederholung jedenfalls hängt nicht von aphatischen oder amnetischen Störungen ab, wie es eine negative Erklärung nahelegen würde, sondern von subkortikalen Verletzungen oder Störungen der ,,Thymie”. Ist dies eine weitere negative Erklärungsweise der Wiederholung, als ob der Kranke durch Degeneration in nicht-integrierte primitive Schaltkreise zurückfallen würde? In Wirklichkeit muß man in den Iterationen und sogar in den Stereotypien die stete Präsenz von Kontraktionen erkennen, die sich zumindest in parasitären Vokalen oder Konsonanten manifestieren. Nun besitzt die Kontraktion auch weiterhin zwei Aspekte, den einen, durch den sie sich auf ein physisches Wiederholungelement bezieht, das sie modifiziert, den anderen, mit dem sie eine psychische Totalität betrifft, die in verschiedenen Graden wiederholbar ist. In diesem Sinne läßt sich in jeder Stereotypie eine anhaltende Intentionalität erkennen, selbst noch in einem hebephrenen Knirschen mit den Kiefern, eine Intentionalität, die aus Mangel an Objekten darin liegt, mit dem ganzen psychischen Leben ein Bruchstück, eine Geste, ein Wort zu besetzen, das selbst zum Element für eine andere Wiederholung wird: so jener Kranke, der sich immer schneller auf einem Fuß dreht, das andere Bein ausgestreckt, um eine womöglich in seinem Rücken auftauchende Person zuruckzustoßen, wobei er auf diese Weise seinen Abscheu vor Frauen und seine Furcht mimt,
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sie könnten ihn überraschen’“. Im eigentlichen Sinne pathologisch ist, daß einerseits die Kontraktion keine Resonanz mehr zwischen zwei oder mehreren Ebenen garantiert, die gleichzeitig auf differenzierte Weise ,,spielbar“ wären, sondern sie allesamt aufreibt und im stereotypen Bruchstück komprimiert. Und andererseits entlockt die Kontraktion dem Element keine Differenz oder Modifikation mehr, die dessen Wiederholung innerhalb eines Raums und einer Zeit ermöglichte, die durch den Willen gestaltet sind; im Gegenteil, sie macht die Modifikation selbst zum Wiederholungselement, sie nimmt sich zum Objekt in einer Beschleunigung, die gerade eine nackte Elementwiederholung vereitelt. In den Iterationen und Stereotypien wird man also nicht eine Unabhängigkeit der rein mechanischen Wiederholung sehen, sondern eher eine spezifische Störung des Bezugs zwischen den beiden Wiederholungen und des Prozesses, durch den die eine die Ursache der anderen ist und bleibt. Die Wiederholung ist die Macht der Sprache; und weit davon entfernt, sich auf negative Weise, durch einen Mangel der Nominalbegriffe, zu explizieren, impliziert sie eine Idee der stets exzessiven Dichtung. Die koexistenten Ebenen einer psychischen Totalität können den Singularitäten zufolge, durch die l4 Alle möglichen Beispiele dieser Art -kann man bei Xavier Abely: Les st&-eotypies (Paris 1916) finden. Eine der besten klinischen Untersuchungen von Stereotypie und Iteration bleiben weiterhin die Studien von Paul Guiraud: Psychiatrie clinique, Paris November 1956, S. 106ff.; und: Analyse du symptbne Stereotypie, in: L’Encephale, 1936. Paul Guiraud unterscheidet deutlich zwischen Perseveration und Wiederholung (schnell aufeinanderfolgende Iterationen oder Stereotypien mit Intervallen). Wenn sich nämlich die Perseverationsphänomene negativ durch einen Defekt oder eine Leere in mentaler Hinsicht erklären lassen, so haben die Wiederholungsphänomene die doppelte Eigenschaft, daß sie Verdichtungen und Kontraktionen aufweisen, und dai3 sie ein primäres und positives Erklärungsprinzip verlangen. In dieser Hinsicht wird man bemerken, daf3 der Jacksonismus, wenn er die Wiederholung auf die Kategorie ,,positiver“ Symptome bezieht, trotzdem das Prinzip einer gänzlich negativen Erklärung aufrechterhält; denn die von ihm geltend gemachte Positivität ist die einer mechanischen und nackten Wiederholung, die eine der Annahme nach niedrigere oder archaische Gleichgewichtsstufe ausdrückt. In Wirklichkeit drückt die mechanische Wiederholung, die den manifesten Aspekt einer Iteration oder Stereotypie ausmacht, nicht eine Stufe des Ganzen aus, sondern betrifft im Wesentlichen Bruchstücke, ,,Bausteine“, wie Monakow und Mourgue sagten. Daher die Bedeutung der bruchstückhaften Kontraktionen und Verdichtungen. In diesem Sinne aber ist die wirkliche Positivität diejenige, die das Bruchstück mit der Totalität des psychischen Lebens besetzt, d.h. die mechanische Wiederholung mit einer Wiederholung ganz anderer Natur besetzt, die der Sphäre des stets verschiebbaren und verkleideten ,,Triebs” zugehört (Thymie). Man konnte sagen, dai3 in der Stereotypie einzig der Signifikant archaisch ist, nicht aber das Signifikat: ,,Unter der Fragmentierung des Symptoms liegt stets ein kontinuierliches Signifikat, das mehr oder weniger Sinn enthält“ (A. Beley und J.-J. LefranCois: Apercu s&v&ologique drdmatique de quelques st&-kotypies motrices c-bez l’enfant, in: Annales medicopsychologiques, April 1 9 6 2 ) .
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sie charakterisiert werden, als solche betrachtet werden, die sich in differenzierten Reihen aktualisieren. Diese Reihen können unter Einwirkung eines ,,dunklen Vorboten“ in Resonanz geraten, durch ein Bruchstück, das diese Totalität vertritt, in der alle Ebenen koexistieren: Jede Reihe wird also inder anderen wiederholt, während sich zugleich der Vorbote von einer Ebene zur anderen verschiebt und sich in allen Reihen verkleidet. Daher gehört er selbst keiner Ebene, keinem Grad an. Im Fall der Verbalreihen nennen wir ,,Wort höheren Grads“ dasjenige, für das der Sinn des vorangehenden zum Bezeichneten wird. Aber der spachliche Vorbote, das esoterische oder dichterische Wort schlechthin (Objekt = x) transzendiert alle Grade in dem Maße, wie es sich selbst und seinen Sinn aussagen will und als stets verschobener und verkleideter Unsinn erscheint (das sinnlose Geheimwort, Snark oder Blitturi...). Alle Verb a 1rei h enbld i end ah er im Verhältnis zu ihm jeweils ,,Synonyme“, und es selbst übernimt die Rolle eines ,,Homonyms” im Verhältnis zu allen Reihen. In Abhängigkeit von ihrer positivsten und ideellsten Macht organisiert also die Sprache ihr ganzes System als bekleidete Wiederholung. Es versteht sich nun von selbst, daß die wirklichen Gedichte dieser Idee von Dichtung nicht entprechen müssen. Damit das wirkliche Gedicht entstehen kann, genügt es, daß wir den dunklen Vorboten ,,identifizieren“, daß wir ihm eine zumindest nominale Identität verleihen, kurz, daß wir der Resonanz einen Körper verschaffen; dann organisieren sich die differenzierten Reihen wie in einem Lied in Strophen oder Versen, während sich der Vorbote in einer Antiphone oder einem Refrain verkörpert. Die Strophen kreisen um den Refrain. Und was vereint die Nominalbegriffe und die Freiheitsbegriffe besser als ein Lied? Unter diesen Bedingungen entsteht eine nackte Wiederholung: in der Wiederkehr des Refrains als Vertreter des Objekts = x, und zugleich in manchen Aspekten der differenzierten Strophen (Versmaß, Reim oder gar ein Vers, der sich selbst auf den Refrain reimt), die ihrerseits die wechselseitige Durchdringung der Reihen repräsentieren. Es passiert sogar, daß nahezu nackte Wiederholungen den Platz der Synonymie und der Homonymie einnehmen, wie bei Peguy und bei Raymond Roussel. Und daß der Genius der Dichtung selbst in diesen rohen Wiederholungen aufgeht. Aber dieser Genius kommt zunächst der Idee und der Art und Weise zu, wie sie die rohen Wiederholungen von einer verborgeneren Wiederholung aus erzeugt. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen den beiden Wiederholungen noch unzulänglich. Denn die zweite Wiederholung hat an allen Ambiguitäten des Gedächtnisses und des Grunds teil. Sie umfaßt die Differenz, aber sie umfaßt sie bloß zwischen den Ebenen oder Graden. Sie erscheint zunächst, wie wir gesehen haben, in Form der Kreise der an sich koexistenten Vergangenheit; sodann in Form eines Kreises der Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart; und schließlich in Form eines Kreises aller Gegenwarten, die vorübergehen und im Verhältnis zum Objekt = x koexistieren. Kurz, die Metaphysik bringt die Physis, die Physik in Kreisform. Wie läßt sich aber vermeiden, daß diese tiefe Wiederholung von den nackten Wiederholungen, die sie hervorruft,
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überdeckt wird und selbst der Illusion eines Primats der rohen Wiederholung verfällt? Gleichzeitig damit, daß der Grund in die Repräsentation dessen, was er begründet, zurückfällt, beginnen die Kreise sich in der Gangart des Selben zu drehen. Darum schienen uns die Kreise stets in einer dritten Synthese aufgelöst, in der der Grund in einem Ungrund verschwand, die Ideen sich von den Formen des Gedächtnisses befreiten, die Verschiebung und Verkleidung der Wiederholung sich mit der Divergenz und der Dezentrierung als Mächten der Differenz vereinten. Jenseits der Zyklen die zunächst gerade Linie der leeren Form der Zeit; jenseits des Gedächtnisses der Todestrieb; jenseits der Resonanz die erzwungene Bewegung. Jenseits der nackten und der bekleideten Wiederholung, jenseits der Wiederholung, der man die Differenz entlockt, und derjenigen, die sie umfaßt, eine Wiederholung, die den Unterschied ,,macht“. Jenseits der begründeten und der begründenden Wiederholung eine Wiederholung im Zu-Grunde-Gehen, von der jeweils gleichermaßen dasjenige abhängt, was in der Wiederholung fesselt und befreit, stirbt und lebt. Jenseits der physischen und der psychischen oder metaphysischen Wiederholung eine ontologiscbe Wiederholung? Diese hätte nicht die Funktion, die beiden anderen aufzuheben; sondern die Funktion, einerseits die Differenz an sie zu verteilen (als entlockte oder umfaßte Differenz), andererseits selbst die Illusion zu erzeugen, die sie affiziert, indem sie sie jedoch an der Entfaltung des angrenzenden Irrtums hindert, dem sie verfallen. Ebenso versammelt die letzte Wiederholung, das letzte Theater in gewisser Weise alles; und zerstört auf andere Weise alles; und trifft auf noch andere Weise seine Auslese in allem. Es ist vielleicht der höchste Gegenstand der Kunst, all diese Wiederholungen mit ihrer wesentlichen und rhythmischen Differenz, ihrer wechselseitigen Verschiebung und Verkleidung, ihrer Divergenz und ihrer Dezentrierung gleichzeitig in Bewegung zu setzen, sie ineinander zu verschränken und sie, von der einen zur anderen, in Illusionen zu hüllen, deren ,,Effekt“ sich von Fall zu Fall ändert. Die Kunst ahmt nicht nach, ahmt aber vor allem deswegen nicht nach, weil sie wiederholt und aufgrund einer inneren Macht alle Wiederholungen wiederholt (die Nachahmung ist ein Abbild, die Kunst aber Trugbild, sie verkehrt die Abbilder in Trugbilder). Noch die mechanischste, alltäglichste, gewöhnlichste und völlig stereotype- Wiederholung findet ihren Platz im Kunstwerk und wird dabei stets im Verhältnis zu anderen Wiederholungen verschoben, und zwar unter der Bedingung, daß man ihr eine Differenz für diese anderen Wiederholungen abzulocken vermag. Denn das einzige ästhetische Problem besteht darin, die Kunst ins tägliche Leben eindringen zu lassen. Je mehr unser tägliches Leben standardisiert, stereotyp und einer immer schnelleren Reproduktion von Konsumgegenständen unterworfen erscheint, desto mehr muß die Kunst ihm sich verpflichten und jene kleine Differenz entreißen, die überdies und zur gleichen Zeit zwischen anderen Ebenen der Wiederholung wirksam ist, sie muß noch die beiden Extreme der gewöhnlichen Konsumreihen in den Triebreihen der Zerstörung und des Todes widerhallen lassen und damit das Bildnis der Dummheit um das der Grausamkeit
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ergänzen; sie muß im Konsum ein hebephrenes Klappern der Kiefer und in den abscheulichsten Zerstörungen des Krieges noch Prozesse der Konsumtion entdecken, sie muß die Illusionen und Mystifikationen, die das wahre Wesen dieser Zivilisation ausmachen, ästhetisch reproduzieren, damit die Differenz schließlich zum Ausdruck gelangt, mit einer im Zorn selbst repetitiven Kraft, die die fremdartigste Selektion herbeizuführen vermag, und wäre es nur eine Kontraktion hier und da, d. h. eine Freiheit zum Ende einer Welt. Jede Kunst hat ihre eigenen Techniken von verzahnten Wiederholungen, deren kritische und revolutionäre Gewalt den höchsten Punkt erreichen kann, um uns von den öden Wiederholungen der Gewohnheit zu den tiefen Wiederholungen des Gedächtnisses und dann zu den letzten Wiederholungen des Todes zu führen, in denen unsere Freiheit auf dem Spiel steht. Wir wollen hier nur drei Beispiele nennen, so verschiedenartig, so disparat sie auch sein mögen: die Art und Weise, wie in der modernen Musik alle Wiederholungen koexistieren (so bereits die Vertiefung des Leitmotivs in Bergs Wozzek); wie die Malerei der Pop-art das Abbild, das Abbild des Abbilds usw. voranzutreiben vermochte, bis hin zu jenem äußersten Punkt, an dem es sich verkehrt und zum Trugbild wird (so Warhols wunderbare ,,serigenetische“ Reihen, in denen alle Wiederholungen, die Wiederholungen der-Gewohnheit, des Gedächtnisses und des Todes-vereint sind); und wie sich den rohen und mechanischen Wiederholungen der Gewohnheit im Roman kleine Modifikationen entreißen lassen, die ihrerseits Wiederholungen des Gedächtnisses erregen, zugunsten einer allerletzten Wiederholung, in der Leben und Tod auf dem Spiel stehen - auf die Gefahr hin, durch die Einführung einer neuen Selektion auf das Ganze zurückzuwirken, wobei alle diese Wiederholungen koexistieren und doch gegeneinander verschoben sind (Lu modificatio~15 von Butor; oder L’unnee der-n&-e d Marienbud16 (als Beleg für die besonderen Wiederholungstechniken, die das Kino zur Verfügung hat oder erfindet).
All die Wiederholungen - ist es nicht dies, was sich in der reinen Form der Zeit anordnet? Diese reine Form, die gerade Linie, definiert sich nämlich durch eine Ordnung, die ein Vorher, ein Während und Nachher verteilt, durch eine Gesamtheit, die sie alle drei in der Simultaneität ihrer Synthese a priori versammelt, und durch eine Reihe, die jedes davon mit einem Wiederholungstyp verbindet. Aus dieser Perspektive müssen wir die reine Form und die empirischen Inhalte wesentlich unterscheiden. Denn die empirischen Inhalte sind beweglich und folgen aufeinander; die Bestimmungen d priori der Zeit dagegen sind unbeweglich, stillgestellt wie auf einem Photo oder einer erstarrl5 l6
Dt * Paris-Rom oder Die Modifikation, München 19% [A.d.Ü.]. Dt’: Letztes Jahr in Marienbad, Film von A. Resnais, nach dem Drehbuch von A. Robbe-Grillet, Frankreich 1961 [A.d.Ü.].
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ten Aufnahme, koexistieren in der statischen Synthese, die an ihnen die Unterscheidung im Verhältnis zum Bild einer gewaltigen Tat vollzieht. In empirischer Hinsicht kann diese Tat jede beliebige sein, zumindest kann sie ihren Anlaß in beliebigen empirischen Umständen finden (Tat = x); es genügt, daß sie durch diese Umstände ,,isoliert“ werden kann und daß sie sich hinlänglich in den Augenblick eingräbt, damit sich ihr Bild über die gesamte Zeit hin erstreckt und gleichsam zum Symbol a priori der Form wird. Hinsichtlich der empirischen Inhalte unterscheiden wir überdies das Erste, das Zweite, das Dritte . . . in ihrer indefiniten Abfolge: Es kann sein, daß sich nichts wiederholt und daß die Wiederholung unmöglich ist; es kann auch sein, daß sich die Abfolge als Zyklus definieren läßt und die Wiederholung entsteht, dann aber entweder in einer intrazyklischen Form, in der 1 durch 2, 2 durch 3 wiederholt wird; oder in einer interzyklischen Form, in der 1 durch 12,2 durch ;P2,3 durch 32 wiederholt wird. (Selbst wenn man eine indefinite Abfolge von Zyklen entwirft, wird der erste Takt als das Selbe oder Undifferenzierte definiert sein, am Ursprung der Zyklen oder zwischen zwei Zyklen.) Die Wiederholung bleibt jedenfalls äußerlich gegenüber einem Wiederholten, das als Erstes gesetzt werden muß; die Grenzlinie zieht sich zwischen einem ersten Mal und der Wiederholung selbst. Die Frage, ob sich das erste Mal der Wiederholung entzieht (man sagt dann, es gelte ,,ein für allemal“), oder ob es sich, im Gegenteil, in einem Zyklus oder von einem Zyklus zum anderen wiederholen läßt - dies hängt einzig von der Reflexion eines Beobachters ab. Wird das erste Mal als das Selbe gesetzt, so fragt man, ob das zweite Mal genügend Ähnlichkeit mit dem ersten aufweist, um mit dem Selben gleichgesetzt werden zu können: eine Frage, die nur durch die Errichtung von Analogiebeziehungen im Urteil unter Berücksichtigung der variablen empirischen Umstände entschieden werden kann (ist Luther das Analogon zu Paulus, die französische Revolution das Analogon zur römischen Republik?). Aus der Perspektive der reinen Form oder der geraden Linie der Zeit aber liegt die Sache ganz anders. Denn nun ist jede Bestimmung (das Erste, das Zweite und das Dritte; das Vorher, das Während und das Nachher) bereits Wiederholung an sich selbst, und zwar in der reinen Form der Zeit und im Verhältnis zum Bild der Tat. Das Vorher, das erste Mal ist nicht weniger Wiederholung als das zweite oder dritte Mal. Insofern jedes Mal an sich selbst Wiederholung ist, läßt sich das Problem nicht mehr über Analogien der Reflexion im Verhältnis ZU einem angenommenen Beobachter entscheiden, sondern muß als das Problem der inneren Bedingungen der Tat im Verhältnis zum gewaltigen Bild gelebt werden. Die Wiederholung bezieht sich nicht mehr (hypothetisch) auf ein erstes Mal, das sich ihr entziehen kann und ihr in jeder Hinsicht äußerlich bleibt; die Wiederholung bezieht sich zwingend auf Wiederholungen, auf Modi oder Typen von Wiederholung. Die Grenzlinie, die ,,Differenz“ hat sich also auf einzigartige Weise verschoben: Sie liegt nicht mehr zwischen dem ersten Mal und den anderen Malen, zwischen dem Wiederholten und der Wiederholung, sondern zwischen diesen Wiederholungstypen. Was sich
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wiederholt, ist die Wiederholung selbst. Mehr noch, ,,ein für allemal“ qualifiziert nicht mehr ein Erstes, das sich der Wiederholung entziehen wurde, sondern im Gegenteil einen Wiederholungstyp, der einem anderen Typ gegenübertritt, der eine unendliche Anzahl von Malen abwickelt (auf diese Weise stehen einander die christliche und die atheistische Wiederholung, die Wiederholungen bei Kierkegaard und Nietzsche gegenüber, denn bei Kierkegaard ist es die Wiederholung selbst, die ein für allemal wirksam wird, während sie bei Nietzsche für alle Male wirkt; und es besteht hier nicht ein numerischer, sondern ein grundlegender Unterschied zwischen diesen beiden Wiederholungstypen). Wie läßt sich erklären, daß die Wiederholung, wenn sie sich auf die Wiederholungen bezieht, wenn sie sie alle zusammenfaßt und die Differenz zwischen sie einführt, bei dieser Gelegenheit eine furchterregende Selektionsmacht erlangt? Alles hängt von der Verteilung der Wiederholungen in der Form, in der Ordnung, in der Gesamtheit und in der Reihe der Zeit ab. Diese Verteilung ist äußerst komplex. Auf einer ersten Ebene definiert sich die Wiederholung des Vorher auf negative und defiziente Weise: Man wiederholt, weil man nicht weiß, weil man sich nicht erinnert usw., weil man zur Tat nicht fähig ist (sei diese Tat nun empirisch bereits vollzogen oder noch ausstehend). Das ,,man“ meint hier also das Unbewußte des Es als erster Potenz der Wiederholung. Die Wiederholung des Während definiert sich durch ein Ähnlich- oder Gleichwerden: Man wird zur Tat fähig, man gleicht sich dem Bild der Tat an, wobei das ,,man“ nun das Unbewußte des Ichs meint, seine Metamorphose, seine Projektion in ein Ego oder Idealich als zweiter Potenz der Wiederholung. Da aber Ähnlich- oder Gleichwerden stets Ähnlich- oder Gleichwerden mit etwas meint, das man als an sich identisch annimmt, von dem man annimmt, es genieße das Privileg ursprünglicher Identität, wird deutlich, daß das Bild der Tat, dem man sich anähnelt oder angleicht, auch hier nur die Identität des Begriffs überhaupt oder des Ego vertritt. Die beiden ersten Wiederholungen versammeln und teilen untereinander auf dieser Ebene also die Merkmale des Negativen und des Identischen, wie wir sie die Grenzen der Repräsentation bilden sahen. Auf. einer anderen Ebene wiederholt der Held die erste Wiederholung, die Wiederholung des Vorher, wie in einem Traum und in einem gewissen nackten, mechanischen, stereotypen Modus, der das Komische ausmacht; und dennoch wäre diese Wiederholung nichtig, wenn sie nicht bereits als solche auf etwas Verborgenes, Verkleidetes in ihrer eigenen Reihe verwiese und dort Kontraktionen einführen könnte, als einen unschlüssigen Habitus, in dem die andere Wiederholung heranreift. Diese zweite Wiederholung des Während ist diejenige, in der sich der Held der Verkleidung selbst bemächtigt, in die Metamorphose schlüpft, die ihm in einem tragischen Modus und zusammen mit seiner eigenen Identität den tiefsten Grund seines Gedächtnisses und all des Gedächtnisses der Welt zurückgibt, ein Gedächtnis, das er, nun zum Handeln bereit, der Zeit insgesamt gleichsetzen will. Hier also, auf dieser zweiten Ebene, werden nun durch die beiden Wiederholungen
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die zwei Synthesen der Zeit, die zwei Formen, die nackte und die bekleidete, die sie kennzeichnen, auf deren eigene Weise aufgegriffen und verteilt. Sicherlich könnte man sich vorstellen, daß die beiden Wiederholungen in einen Zyklus einmünden, in dem sie zwei analoge Teile bilden; und ebenso, daß sie am Ende des Zyklus von neuem beginnen und einen neuen Umlauf einleiten, der selber zum ersten analog ist; und schließlich, daß diese beiden Hypothesen, die intrazyklische und die interzyklische, einander nicht ausschließen, sondern einander verstärken und die Wiederholungen auf verschiedenen Ebenen wiederholen. Bei alledem aber hängt alles von der Natur der dritten Zeit ab: Die Analogie verlangt, daß eine dritte Zeit gegeben sei, wie der Kreis des Phaidon verlangt, daß seine beiden Bögen um einen dritten ergänzt werden, an dem alle Entscheidung über ihre eigene Wiederkehr fällt. So hat man etwa das Alte Testament als Wiederholung durch Mangel und das Neue Testament als Wiederholung durch Metamorphose unterschieden (Joachim von Floris); oder man hat auf andere Weise das Zeitalter der Götter, durch Mangel, im Unbewußten der Menschen vom heroischen Zeitalter unterschieden, das sich durch Metamorphose im Ich der Menschen vollzieht (Vico). Die zweifache Frage: 1. Wiederholen einander die beiden Zeiten in einem analogen Taktmaß, und zwar im Innern desselben Zyklus? 2. Werden diese beiden Zeiten selbst in einem neuen analogen Zyklus wiederholt? - die Antwort auf diese zweifache Frage hängt ganz besonders und ausschließlich von der Natur der dritten Zeit ab (dem kommenden Testament bei Joachim, dem Zeitalter der Menschen bei Vico, dem Namenlosen bei Ballanche). Wenn nämlich die dritte Zeit, die Zukunft, der eigentliche Ort der Entscheidung ist, so kann es sehr gut geschehen, daß sie aufgrund ihrer Natur die zweifache intrazyklische und interzyklische - Hypothese aussondert, daß sie alle beide auflöst, daß sie die Zeit geradlinig anlegt, daß sie sie geradebiegt und deren reine Form freisetzt, das heißt: daß sie sie aus ihren ,,Angeln“ hebt und als ihrerseits dritte Wiederholung die Wiederholung der beiden anderen unmöglich macht. Die dritte Wiederholung garantiert keineswegs den Zyklus und die Analogie, hebt sie vielmehr auf. Damit wird die Differenz zwischen den Wiederholungen gemäß der neuen Grenzziehung - zu folgender: Das Vorher und das Während sind und bleiben Wiederholungen, aber sie wirken nur ein für allemal. Die dritte Wiederholung ist es, die sie gemäß der geraden Linie der Zeit verteilt, aber auch aussondert und dazu bestimmt, nur ein für allemal ZU wirken, wobei sie das ,,allemal” allein für die dritte Zeit bewahrt. In dieser Hinsicht hatte Joachim von Floris das Wesentliche gesehen: Es gibt zwei Bedeutungen für ein einziges Signifikat. Das Wesentliche ist das dritte Testament. Es gibt zwei Wiederholungen für ein einziges Wiederholtes, aber nur das Signifikat, das Wiederholte wiederholt sich an sich selbst und schafft dabei seine Bedeutungen wie seine Bedingungen ab. Die Grenzlinie verläuft nicht mehr zwischen einem ersten Mal und der Wiederholung, die sie hypothetisch ermöglicht, sondern zwischen den bedingenden Wiederholungen und der dritten Wiederholung, der Wiederholung in der ewigen Wiederkunft, die die
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Wiederkehr der beiden anderen unmöglich macht. Einzig das dritte Testament kreist in sich selbst. Es gibt ewige Wiederkunft nur in der dritten Zeit: Hier wird die erstarrte Aufnahme von Neuem zum Leben erweckt, hier bildet sich die gerade Linie der Zeit - gleichsam im Sog ihrer eigenen Länge - zu einer seltsamen Schleife um, die in keiner Weise mehr dem vorangehenden Zyklus ähnelt, sondern ins Formlose mündet und nur für die dritte Zeit und für das, was ihr zugehört, gilt. Wir haben es gesehen: Die Bedingung der Tat - aus Mangel - kehrt nicht wieder, die Bedingung des Handelnden - in Metamorphose - kehrt nicht wieder; es kehrt wieder einzig das Unbedingte im Hervorgebrachten als ewige Wiederkehr. Die expulsive und selektive Kraft der ewigen Wiederkunft, ihre zentrifugale Kraft besteht in der Verteilung der Wiederholung auf die drei Zeiten des Pseudozyklus, sie besteht aber auch darin, die beiden ersten Wiederholungen nicht wiederkehren und nur ein für allemal geschehen zu lassen und zu bewirken, daß einzig die dritte Wiederholung, die in sich selbst kreist, für alle Male, in Ewigkeit wiederkehrt. Das Negative, das Ähnliche, das Analoge sind Wiederholungen, aber sie kehren nicht wieder und werden vom Rad der ewigen Wiederkunft für immer fortgeschleudert. Daß Nietzsche nicht die Darstellung der ewigen Wiederkunft geleistet hat, wissen wir aufgrund der simpelsten ,,objektiven Kritik” der Texte und ebenso aufgrund ihres bescheidensten dichterischen oder dramatischen Verständnisses. Die Beschaffenheit der Texte aus dem Zarathustra macht uns deutlich, daß es zweimal um die ewige Wiederkunft geht, die aber stets wie eine noch nicht erlangte und nicht ausdrücklich formulierte Wahrheit verhandelt wird: das eine Mal in der Rede des Zwergs, des Possenreißers (Dritter Teil, ,,Vom Gesicht und Rätsel”); ein zweites Mal in der Rede der Tiere (Dritter Teil, ,,Der Genesende“). Das erste Mal reicht hin, um Zarathustra krank zu machen, versetzt ihn in einen gräßlichen Alptraum und veranlaßt ihn zu einer Seereise. Das zweite Mal, nach einer neuerlichen Krise, lächelt der genesende Zarathustra über seine Tiere voller Nachsicht, weiß aber, daß sich sein Schicksal erst in einem ungenannten dritten Mal erfüllen wird (welch es durch d a s Ende angekündigt wird, ,,das Zeichen kommt“). Wir können u n s nicht auf die Posturnen Aufzeichnungen stützen, außer wir verwenden sie in einer durch die von Nietzsche publizierten Werke vorgegebenen Richtung, da diese AufZeichnungen ja gleichsam ein zurückbehaltenes Material darstellen und einer künftigen Ausarbeitung vorbehalten waren. Wir wissen nur, daß der Zarathustra unvollendet ist und eine Fortsetzung erfahren sollte, die den Tod Zarathustras einschließt: als eine dritte Zeit, ein drittes Mal. Aber schon der dramatische Fortgang des vorliegenden Zarathustra erlaubt es, eine Reihe von Fragen und Antworten aufzuwerfen. 1. Warum gerät Zarathustra beim ersten Mal in Zorn und wird in einen so schrecklichen Alptraum gestürzt, als der Zwerg sagt: ,,Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“ ? Er wird es später erklären, als er seinen Alptraum interpretiert: Er hat Angst, die ewige Wiederkunft meine die Wiederkehr des G anzen, des Selben, des Ähnlichen, den Zwerg, den kleinsten
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aller Menschen inbegriffen (vgl. Dritter Teil, ,,Der Genesende“). Er fürchtet insbesondere, daß die Wiederholung negativ und defizient sei, daß man nur durch völlige Taubheit, als Zwerg und Krüppel, auf den Schultern der anderen hockend, wiederhole. Durch die Unfähigkeit zur Tat (zum Tod Gottes), selbst wenn die Tat bereits geschehen ist. Und er weiß, daß eine zirkuläre Wiederholung zwangsläufig dieses Typs wäre. Deshalb leugnet Zarathustra bereits, daß die Zeit ein Kreis sei, und antwortet dem Zwerg: ,,Du Geist der Schwere, [. . .] mache dir es nicht zu leicht!“ Er will im Gegenteil, daß die Zeit eine gerade Linie sei, mit zwei entgegengesetzten Richtungen. Und wenn sich ein Kreis, ein seltsam dezentrierter Kreis bildet, so wird dies erst ,,am Ende“ der geraden Linie geschehen . . . 2. Warum durchlebt Zarathustra eine neuerliche Krise und warum genest er.? Zarathustra ist wie Hamlet, die Meerfahrt hat ihn fähig gemacht, er hat das Ähnlichwerden, das Gleichwerden der heroischen Metamorphose erfahren; und dennoch fühlt er, daß die Stunde noch nicht gekommen ist (vgl. Dritter Teil, ,,Von der Seligkeit wider Willen“). Denn er hat den Schatten des Negativen bereits gebannt: Er weiß, daß die Wiederholung nicht die des Zwergs ist. Aber das Gleichwerden, das Fähigwerden der Metamorphose hat ihn nur einer vorausgesetzten ursprünglichen Identität nahegebracht: Er hat noch nicht die scheinbare Positivität des Identischen gebannt. Es bedarf der neuerlichen Krise und der Genesung. Daraufhin können die Tiere sagen, daß das Selbe und das Ähnliche wiederkehren, sie können die ewige Wiederkunft als eine positive natürliche Gewißheit darstellen; Zarathustra hört ihnen nicht mehr zu, stellt sich schlafend, er weiß, daß die ewige Wiederku nft noch etwas anderes ist und nicht das Selbe oder Ähnliche wiederkehren läßt. 3. Warum jedoch sagt Zarathustra noch nichts, warum ist er noch nicht ,,reif“, warum wird er es erst in einem ungenannten dritten Mal werden? Die Erkenntnis, daß weder alles noch das Selbe wiederkehrt, wird ebenso von Angst begleitet wie der Glaube an die Wiederkehr des Selben, obwohl dies eine andere Angst ist. Die höchste Prüfung liegt darin, die ewige Wiederkunft als das selektive Denken, die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr als das selektive Sein zu begreifen. Man muß die aus den Angeln gehobene Zeit erleben und erfassen, die geradlinig verlaufende Zeit, die erbarmungslos all die aussondert, die sich darauf einlassen, die auf diese Weise die Bühne betreten, aber nur ein für allemal wiederholen. Die Selektion geschieht zwischen Wiederholungen: Diejenigen, die negativ wiederholen, und diejenigen, die identisch wiederholen, werden ausgesondert. Sie wiederholen bloß einmal. Die ewige Wiederkunft gilt nur für das dritte Mal: die Zeit des Dramas nach dem Komischen, nach dem Tragischen (das Drama ist definiert, wenn das Tragische fröhlich und das Komische zur Komik des Übermenschen wird). Die ewige Wiederkunft gilt nur für die dritte Wiederholung, in der dritten Wiederholung. Der Kreis steht am Ende der Linie. Weder der Zwerg noch der Held, weder der kranke Zarathustra noch der genesende Zarathustra werden wiederkehren. Nicht nur läßt die ewige Wiederkunft nicht alles wiederkehren, sie weiht auch all die, welche der Prüfung nicht standhalten, dem Untergang.
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(Und Nietzsche kennzeichnet mit Bedacht zwei verschiedene Typen, die die Prüfung nicht überleben: der kleine passive Mensch oder der letzte der Menschen, der heroische, aktive große Mensch, der zum Menschen wurde, der ,,zugrunde gehen [will] “> “. Das Negative kehrt nicht wieder. Das Identische kehrt nicht wieder. Das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Entgegengesetzte kehren nicht wieder. Einzig die Bejahung kehrt wieder, d.h. das Differente, das Ungleichartige. Wie groß die Angst, bevor man aus einer derartigen selektiven Bejahung Freude gewinnt: Nichts davon, wodurch die ewige Wiederkunft verneint wird, kehrt wieder, nicht der Mangel, nicht das Gleiche, einzig das Exzessive kehrt wieder. Einzig die dritte Wiederholung kehrt wieder. Um den Preis der Ähnlichkeit und der Identität Zarathustras selbst: Zarathustra muß sie verlieren, die Ähnlichkeit des Ichs und die Identität des Ego müssen untergehen, Zarathustra muß sterben. Der Held Zarathustra hatte sich angeglichen, aber er glich sich dem Ungleichen an, auf die Gefahr hin, nun die vorgetäusche Identität des Helden zu verlieren. Denn ,,man“ wiederholt in alle Ewigkeit, aber ,,man“ bezeichnet nun die Welt der unpersönlichen Individualitäten und der präindividuellen Singularitäten. Die ewige Wiederkunft ist nicht der Effekt des Identischen auf einer ähnlich gewordenen Welt, sie ist dem Chaos der Welt nicht als äußere Ordnung übergestülpt, die ewige Wiederkunft ist im Gegenteil die innere Identität von Welt und Chaos, Chaosmos. Und wie könnte der Leser glauben, daß Nietzsche in der ewigen Wiederkunft das Ganze, das Selbe, das Identische, das Ähnliche und das Gleiche, das Ego und das Ich implizierte - er, als der größte Kritiker dieser Kategorien ? Wie könnte man glauben, daß er die ewige Wiederkunft als einen Zyklus begriff, er, der ,,seine“ Hypothese jeder zyklischen Hypothese entgegenstellt ‘* . 7 Wie könnte man glauben, daß er auf die fade und falsche Idee eines Gegensatzes zwischen einer zirkulären und einer linearen Zeit, einer antiken und einer modernen Zeit verfiel? Welches ist aber der Inhalt dieser dritten Zeit, dieses Formlosen am Ende der Form der Zeit, dieses dezentrierten Kreises, der sich am Ende der geraden Linie verschiebt? Welches ist der durch die ewige Wiederkunft affizierte, ,,modifizerte“ Inhalt? Wir haben zu zeigen versucht, daß es sich um das Trugbild, ausschließlich um Trugbilder handelte. Die Trugbilder implizieren wesentlich, bei gleicher Potenz, das Objekt = x im Unbewußten, das Wort = x in der Sprache, die Tat = x in der Geschichte. Die Trugbilder sind jene Systeme, in denen sich das Differente durch die Differenz selbst auf das Differente bezieht. Das Wesentliche liegt darin, daß wir in diesen Systemen keinerlei vorgängige Identität, keinerlei innere Ähnlichkeit finden. Alles ist Differenz in den Reihen, und Differenz von Differenz in der Kommunikation der Reihen. Was sich in den Reihen verschiebt und verkleidet, kann und darf Nietzsche: Also spr-ach Zarathustra, a.a.O., ,,Zarathustras Vorrede“ 4 und 5; und zur Kritik des Helden: Dritter Teil, ,,Von den Erhabenen“. 18 Nietzsche*. Werke > Leipzig 1901 ff., Bd. 12, $, 106. 17 Vgl .
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nicht identifiziert werden, sondern existiert, agiert als das Differenzierende der Differenz. Nun entstammt aber die Wiederholung hier notwendig auf zwei Arten dem Spiel der Differenz. Einerseits, weil sich jede Reihe nur insofern expliziert und entwickelt, als sie die anderen impliziert; sie wiederholt also die anderen und wiederholt sich in den anderen, von denen sie ihrerseits impliziert wird; aber sie wird von den anderen nicht impliziert, ohne dabei als diejenige impliziert zu werden, die diese anderen impliziert, so daf3 sie an sich selbst ebenso oft wie in einer anderen wiederkehrt. Das Wiederkehren an sich ist der Untergrund der nackten Wiederholungen, wie das Wiederkehren im anderen der Untergrund der bekleideten Wiederholungen ist. Andererseits garantiert das Spiel, das die Verteilung der Trugbilder steuert, die Wiederholung jeder numerisch geschiedenen Kombination, da die verschiedenen ,,Spielzüge” nicht ihrerseits numerisch geschieden, sondern bloß ,,formal“ U nterschieden sind.) so daß alle Resultate in der Zahl eines jeden enthalten sind und zwar gemäß der Verhältnisse zwischen Impliziertem und Implizierendem, die wir gerade in Erinnerung gerufen haben, wobei in Übereinstimmung mit der formalen Unterscheidung der Spielzüge jeder davon im anderen wiederkehrt, zugleich aber auch an sich wiederkehrt, in Übereinstimmung mit der Einheit des Spiels der Differenz. Die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr erscheint unter all diesen Aspekten als spezifische Macht der Differenz; und die Verschiebung und die Verkleidung dessen, was sich wiederholt, reproduzieren bloß die Divergenz und die Dezentrierung des Differenten in einer einzigen Bewegung, in der Diaphora als Transport. Die ewige Wiederkunft bejaht die Differenz, sie bejaht die Unähnlichkeit und das Disparse, den Zufall, das Viele und das Werden. Zarathustra ist der dunkle Vorbote der ewigen Wiederkunft. Was die ewige Wiederkunft aussondert, sind eben all die Instanzen, die die Differenz gängeln, die deren Transport durch Unterwerfung unter das vierfache Joch der Repräsentation anhalten. Erst am Ende ihrer Macht gewinnt sich die Differenz zurück, befreit sie sich, d. h. durch die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr. Die ewige Wiederkehr sondert aus, was, indem es den Transport der Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht. Was sie aussondert, ist das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Negative als Voraussetzungen der Repräsentation. Denn die Re-präsentation und ihre Voraussetzungen kehren wieder, allerdings ein Mal, nur ein einziges Mal, ein für allemal, ausgesondert für alle Male. Trotzdem sprechen wir von der Einmaligkeit des Spiels der Differenz. Und wir sagen wohl ,,dieselbe Reihe“, wenn sie an sich selbst wiederkehrt, und ,,ähnliche Reihen“, wenn eine in der anderen wiederkehrt. Winzige Verschiebungen in der Sprache aber drücken Umwälzungen und Verkehrungen im Begriff aus. Wir haben gesehen, daß die beiden Formeln: ,,das Ähnliche differiert“ und ,,das Differente ähnelt sich“ zu Welten gehörten, die einander gänzlich fremd sind. Dassselbe gilt hier: Die ewige Wiederkunft ist zwar das Ähnliche, die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist zwar das Identische gerade Ähnlichkeit und Identität aber existieren nicht vor der Wiederkunft
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dessen, was wiederkehrt. Sie qualifizieren zunächst nicht das Wiederkehrende, sondern verschmelzen völlig mit seiner Wiederkunft. Nicht das Selbe kehrt wieder, nicht das Ähnliche kehrt wieder, vielmehr ist das Selbe die Wiederkehr des Wiederkehrenden, d. h. des Differenten, ist das Ähnliche die Wiederkehr des Wiederkehrenden, d. h. des Ungleichartigen. Die Wiederholung in der
ewigen Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig von der Differenz und dem Differenten aussagt. Es geschieht hier eine vollständige Verkehrung der Welt der Repräsentation und des Sinns, den ,,identisch“ und ,,ähnlich” in dieser Welt besaßen. Diese Verkehrung ist nicht nur spekulativ, sie ist eminent praktisch, da sie die Bedingungen der Legitimität des Gebrauchs der Wörter identisch und ähnlich festlegt, indem sie sie ausschließlich an die Trugbilder bindet, und da sie die gewöhnliche Verwendung, die sie in der Repräsentation erfahren, als illegitim denunziert. Darum scheint uns die Philosophie der Differenz schlecht eingerichtet, solange man sich mit einer terminologischen Gegenüberstellung begnügt, die der Flachheit des Identischen als des sich selbst Gleichen die Tiefe des Selben entgegensetzt, in dem man das Differente versammelt siehti’. Denn das Selbe, das die Differenz umfaßt, und das Identische, dem sie äußerlich bleibt, lassen einander auf viele Weisen gegenüberstellen, sie bleiben doch stets Prinzipien der Repräsentation; sie bringen bestenfalls den Streit zwischen unendlicher und endlicher Repräsentation in Gang. Die wahre Unterscheidung besteht nicht zwischen dem Identischen und dem Selben, sondern zwischen dem Identischen, dem Selben oder dem Ähnlichen - ganz gleich, sobald sie nur in verschiedener Hinsicht als ursprünglich gesetzt werden -, und dem Identischen, dem Selben oder Ähnlichen, wenn sie als zweite Macht dargestellt werden, deshalb um so mächtiger sind, damit um die Differenz kreisen und sich von der Differenz an sich selbst aussagen. Dann verändert sich tatsächlich alles. Das für immer dezentrierte Selbe kreist nur dann wirklich um die Differenz, wenn es selbst, das für das ganze Sein einsteht, nur für die Trugbilder gilt, die wiederum für das ganze ,,Seiende“ einstehen. Die Geschichte der Repräsentation, die Geschichte der Ebenbilder ist die Geschichte des langewährenden Irrtums. Denn das Selbe, das Identische besitzt einen ontologichen Sinn: die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft dessen, was differiert (die Wiederholung jeder implizierenden Reihe). Das Ähnliche besitzt einen ontologischen Sinn: die ewige Wiederkunft dessen, was verunähnlicht2* (die Wiederholung der implizierten Reihen). Hier aber ruft die ewige Wiederkehr mit ihrem Kreisen nun selbst eine gewisse Illusion hervor, in der sie sich bespiegelt und an der sie sich freut, deren sie sich bedient, um ihre Bejahung des Differierenden zu verdoppeln: Sie erzeugt nun l9 Vgl . Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch . . ., in: Vortäge und Aufsätze 2, Pfullingen 1954, S. 67. 2o Frz . dbpareiller: eigentlich ,,(Zusammengehöriges) trennen, u n v o l l s t ä n d i g m a c h e n “ . Stammverwandt mit pareil: ,,gleich”, ,,entsprechend“, ,,ähnlich“ [A.d.Ü.].
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ein Bild von Identität, als ob dies der Zweck des Differenten wäre. Sie erzeugt ein Bild von Ähnlichkeit als äußeren Effekt des ,,Disparsen“. Sie erzeugt ein Bild des Negativen als Konsequenz dessen, was sie bejaht, als Konsequenz ihrer eigenen Bejahung. Mit dieser Identität, dieser Ähnlichkeit und diesem Negativen umgibt sie sich selbst und umgibt sie das Trugbild [simulacre]. Aber gerade diese Identität, diese Ähnlichkeit und dieses Negative sind jeweils simuliert. Sie spielt damit wie mit einem stets verfehlten Zweck, stets verzerrten Effekt, einer stets abgelenkten Konsequenz: Produkte, die sich aus der Funktionsweise des Trugbilds ergeben. Sie bedient sich ihrer stets, um die Identität zu dezentrieren, die Ähnlichkeit zu entstellen, die Konsequenz auf Abwege zu führen. Denn tatsächlich gibt es Konsequenzen nu r als ab wegige, Ähnlichkeiten nur als entstellte, Identität nur als dezentrierte, Zweck nur als verfehlten. In der Freude über das von ihr Hervorgebrachte denunziert die ewige Wiederkunft jede andere Verwendung von Zwecken, Identitäten, Ähnlichkeiten und Negationen. Sogar und gerade der Negation bedient sie sich auf radikalste Weise, bedient sich ihrer im Dienste des Trugbilds, um all das zu verneinen, wodurch die differente und mannigfaltige Bejahung verneint wird, um darin ihre eigene Bejahung zu spiegeln, um darin das von ihr Bejahte zu verdoppeln. Die Funktionsweise des Trugbilds bestimmt sich wesentlich dadurch, daß sie das Identische, das Ähnliche und das Negative simuliert. Der simulierte Sinn verknüpft sich notwendig mit dem o n tologischen Sinn. Der simulierte Sinn i st Derivat [se dbrive] des ontologisch en, d. h. driftet dahin [reste 2 /LZ db-ive], ohne Autonomie und Spontaneität, bloßer Effekt der ontologischen Ursache, die wie der Sturmwind mit ihm spielt. Wie aber sollte die Repräsentation nicht davon profitieren ? Wie sollte die Repräsentation nicht einst daraus entstehen, in einem Wellental, im Schutz der Illusion? Wie sollte sie nicht aus der Illusion einen ,,Irrtum“ machen? Flugs wird die Identität des Trugbilds, die simulierte Identität auf die innere Differenz projiziert oder zurückgeworfen. Die simulierte äußere Ähnlichkeit wird im System interiorisiert. Das Negative wird zum Prinzip und Handelnden. Jedes Produkt der Funktionsweise gewinnt Autonomie. Es wird dann angenommen, daß die Differenz nur in einem vorgängigen Selben gilt, ist und denkbar ist, in einem Selben, durch das sie als begriffliche Differenz erfaßt und über den Gegensatz der Prädikate bestimmt wird. Es wird angenommen, daß die Wiederholung nur unter einem Identischen gilt, ist und denkbar ist, das sie seinerseits als begrifflose Differenz setzt und auf negative Weise expliziert. Anstatt die nackte Wiederholung als Produkt der bekleideten und diese als Macht der Differenz zu begreifen, macht man aus der Differenz ein Nebenprodukt des Selben im Begriff, aus der bekleideten Wiederholung ein Derivat der nackten und aus der nackten ein Nebenprodukt des Identischen außerhalb des Begriffs. In ein und demselben Medium, im Medium der Repräsentation, wird einerseits die Differenz als begriffliche Differenz und andererseits die Wiederholung als begrifflose Differenz gesetzt. Und da es auch keine begriffliche Differenz zwischen den bestimmbaren letzten Begriffen gibt, in denen sich das
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Selbe verteilt, wird die Welt der Repräsentation in ein Netz von Analogien gezwängt, das aus Differenz und Wiederholung Begriffe der bloßen Reflexion macht. Das Selbe und das Identische können auf viele Arten interpretiert werden: im Sinne einer Perseveration (A ist A), im Sinne einer Gleichheit (A = A) oder Ähnlichkeit (A # B), im Sinne eines Gegensatzes (A # non-A), im Sinne einer Analogie (wie es schließlich das ausgeschlossene Dritte nahelegt, das die Bedingungen bestimmt, unter denen der dritte Term nur in einem Verhältnis bestimmbar ist, das mit dem Verhältnis der beiden anderen identisch ist: A C non-A (B) = non-C (D) Aber all diese Interpretationsweisen gehören zur Repräsentation, der die Analogie einen Schlußstrich, einen spezifischen Abschluß als letztes Element hinzufügt. Sie sind die Entfaltung des irrtümlichen Sinns, der die Natur der Differenz und der Wiederholung gleichermaßen entstellt. Damit beginnt hier der langewährende Irrtum, der um so länger währt, als er sich einmal ereignet. Wir haben gesehen, wie die Analogie wesentlich zur Welt der Repräsentation gehörte. Legt man die Grenzen der Einschreibung der Differenz in den Begriff allgemein fest, so wird die obere Grenze durch bestimmbare letzte Begriffe (die Seinsgattungen oder Kategorien) repräsentiert, die untere Grenze dagegen durch die bestimmten kleinsten Begriffe (Arten). In der endlichen Repräsentation unterscheiden sich gattungsmäßige und artspezifische Differenz in ihrer Natur und in ihrem Verhalten, sind aber strikt komplementär: Die Äquivozität der einen korreliert mit der Univozität der anderen. Denn univok ist die Gattung im Verhältnis zu ihren Arten, äquivok aber ist das Sein im Verhältnis zu den Gattungen selbst oder Kategorien. Die Analogie des Seins impliziert diese beiden Aspekte zugleich: denjenigen, durch den sich das Sein auf bestimmbare Formen verteilt, die notwendig dessen Sinn auszeichnen und variieren, aber auch denjenigen, durch den das so verteilte Sein notwendig in genau bestimmtes Seiendes aufgeteilt wird, das jeweils einen einzigen Sinn besitzt. An den beiden Extremen wird allerdings der Gattungssinn des Seins und das Spiel der individuierenden Differenz im Seienden verfehlt. Alles geschieht zwischen der gattungsmäßigen und der artbildenden Differenz. Das wahrhafte Universale wird ebenso verfehlt wie das wahre Singuläre: Das Sein besitzt gemeinen Sinn nur als distributiven, das Individuum Differenz nur als allgemeine. Man mag die Liste der Kategorien noch so weit ,,öffnen” oder gar die Repräsentation ins Unendliche wenden, das Sein sagt sich auch weiterhin in mehreren Bedeutungen [Sens] gemäß den Kategorien aus, und dasjenige, wovon es sich aussagt, wird immer nur durch Differenzen ,,allgemein“ bestimmt. Denn die Welt der Repräsentation bedingt einen bestimmten Typ seßhafter Verteilung, der das Verteilte teilt oder aufteilt, um ,,jedem“ seinen festen Anteil zu verschaffen (so definieren etwa im schlechten Spiel, in der schlechten Spielweise, die vorgängigen Regeln distributive Hypothesen, nach denen das Resultat der Spielzüge zugeteilt wird). Man versteht nun besser, wie sich die Wiederholung der Repräsentation entgegenstellt. Die Repräsentation >
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impliziert wesentlich die Analogie des Seins. Die Wiederholung aber ist die einzige verwirklichte Ontologie, das he@: die Univozität des Seins. Von Duns Scotus bis Spinoza beruhte die Stellung der Univozität immer auf zwei grundlegenden Thesen. Der einen zufolge gibt es zwar Formen des Seins, im Gegensatz zu den Kategorien aber ziehen diese Formen keinerlei Teilung im Sein als Pluralität ontologischen Sinns [Sens] nach sich. Der anderen zufolge wird das, wovon sich das Sein aussagt, nach wesentlich beweglichen individuierenden Differenzen aufgeteilt, die notwendig ,,jedem“ eine Pluralität modaler Bedeutungen [significations] zuweist. Gleich zu Beginn der Ethik wird dieses Programm genial entworfen und bewiesen: Man erfährt, daß sich die Attribute nicht auf Gattungen oder Kategorien reduzieren lassen, weil sie zwar formal geschieden, alle aber gleich und ontologisch eins sind und keinerlei Teilung in die Substanz einführen, die sich durch sie in ein und demselben Sinn ausdrückt oder aussagt (mit anderen Worten, die reale Unterscheidung zwischen Attributen ist eine formale Unterscheidung und keine numerische). Außerdem erfährt man, dai3 sich die Modi nicht auf Arten reduzieren lassen, weil sie sich in den Attributen nach individuierenden Differenzen aufteilen, die in der Intensität wie Machtabstufungen wirken und durch die sie unmittelbar auf das univoke Sein bezogen werden (mit anderen Worten, die numerische Unterscheidung zwischen verschiedenen ,,Seienden” ist eine modale Unterscheidung, keine reale). Verhält es sich mit dem wahren Würfelwurf nicht ebenso? Die Würfe unterscheiden sich formal, aber hinsichtlich eines ontologisch einen Spielzugs, wobei der Niederschlag deren Kombinationen wechselseitig impliziert, verschiebt und zurückholt, und zwar über den einzigen und offenen Raum des Univoken hinweg? Damit das Univoke zum Gegenstand reiner Bejahung werden konnte, fehlte dem Spinozismus nur, daß er die Substanz um die Modi kreisen ließ, d. h. dap er die Univozität als Wiederholung in der ewigen Wiederkunft verwirklichte. Wenn nämlich die Analogie tatsächlich zwei Aspekte besitzt - denjenigen, durch den sich das Sein in mehreren Bedeutungen [Sens/ aussagt, aber auch denjenigen, durch den es sich von etwas Festem und genau Bestimmten aussagt -, so besitzt die Univozität ihrerseits zwei gänzlich entgegengesetzte Aspekte, denen zufolge sich das Sein ,,auf jede Weise“ in ein und demselben Sinn [Sens] aussagt, sich so jedoch vom Differierenden aussagt, von der Differenz, die selbst immer im Sein beweglich ist und verschoben wird. Außerhalb der Repräsentation sind die Univozität des Seins und die individuierende Differenz ebenso eng miteinander verbunden, wie die gattungsmäßige und die artbildende Differenz in der Repräsentation unter dem Gesichtspunkt der Analogie. Die Univozität meint: Univok ist das Sein selbst, und äquivok ist das, wovon es sich aussagt. Genau das Gegenteil der Analogie. Das Sein wird Formen zufolge ausgesagt, die die Einheit seines Sinns nicht brechen, es sagt sich in ein und demselben Sinn durch alle seine Formen hindurch aus - weswegen wir den Kategorien Begriffe anderer Art gegenübergestellt haben. Dasjenige aber, wovon es sich aussagt, differiert, ist die Differenz selbst. Es ist nicht das analoge Sein, das sich in den
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Kategorien verteilt und den Seienden einen festen Anteil zuteilt, vielmehr verteilen sich die Seienden im Raum des univoken Seins, der durch alle Formen geöffnet wurde. Die Öffnung gehört wesentlich zur Univozität. Den seßhaften Verteilungen der Analogie treten die nomadischen Verteilungen oder gekrönten Anarchien im Univoken gegenüber. Nur hier tönt es: ,,Alles ist gleich!“ und: ,,Alles kehrt wieder!“ Aber Alles ist gleich und Alles kehrt wieder kann nur dort gesagt werden, wo die äuf3erste Spitze der Differenz erreicht ist. Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden. Wenn man nur für jedes Seiende, für jeden Tropfen und jeden Weg den Zustand des Exzesses erlangt hat, d. h. die Differenz, die sie verschiebt und verkleidet und wiederkehren Mt, auf ihrer schwankenden Spitze kreisend.