Erst Rittertest — dann Hochzeitsfest Kunibert, der arme Ritter, zieht ins sagenhafte Königreich Marsilia, um die schöne...
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Erst Rittertest — dann Hochzeitsfest Kunibert, der arme Ritter, zieht ins sagenhafte Königreich Marsilia, um die schöne Prinzessin Sonja zu gewinnen. Dazu aber muß er erst drei Prüfungen bestehen. Auf Irrfahrten durch fremde Länder, verwunschene Städte und Gespensterschlösser erwarten ihn aufregende und gruselige Abenteuer mit Hexen, Drachen und Geistern … . Ein Märchen also? Ja – und nein. In einem bunten Wirbel voll Witz, Ulk, liebenswürdigem Spott und augenzwinkernder Ironie purzeln Zeiten und Ereignisse durcheinander, bis der Dichter dem Leser und gar sich selbst ein lustiges Schnippchen schlägt. Vom leisen Schmunzeln und verständnisinnigen Lächeln bis zum herzhaften Lachen leuchtet diese Zauberlaterne des Humors in das Märchenreich der unbeschwerten Heiterkeit, das hier für alle großen Leute, die noch wie Kinder lachen möchten und können, fröhliche Wirklichkeit geworden ist.
Wolfheinrich von der Mülbe, geb. am 22. 10. 1879 in Berlin, studierte Medizin, Rechtswissenschaft, Literatur- und Kunstgeschichte und promovierte 1904 in Breslau. Er wirkte als Privatdozent für Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule Hannover und später an der Universität Heidelberg. Seit 1915 lebt er als freier Schriftsteller in München. Er hat Romane, Gedichte und kunstwissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht und Bücher aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und den nordischen Sprachen übersetzt. Schrieb u. a.: HARALD BORCHS TODESFAHRT; DER SCHÖNE CORONEL; DIE PUPPEN DES HERRN MARQUIS.
WOLFHEINRICH VON DER MÜLBE
DIE ZAUBERLATERNE ROMAN
ULLSTEIN BÜCHER
ULLSTEIN BUCH NR. 493 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M-BERLIN Vom Autor für die Taschenbuchausgabe eingerichtet
DAGMAR Dies Märchen ist auf viele Weise Dein. Hätt ich's geschrieben, wenn Du nicht gewesen? Nun soll das erste Wort, das hier zu lesen, Kein andres als Dein lieber Name sein.
Umschlagentwurf: Gisela Schürenberg Alle Rechte vorbehalten (c) 1964 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Printed in Germany, West-Berlin 1964 Scan by Brrazo 05/2005 k-Lesen by Unke Gesamtherstellung Druckhaus Tempelhof
ERSTES ABENTEUER
WIE RITTER KUNIBERT AUSZOG Um die alte Burg Scharfenstein tobte der Herbststurm, peitschte den Regen vor sich her und rüttelte an dem zerbröckelnden Gemäuer. Der Zahn der Zeit hatte der guten Feste übel mitgespielt, und der Wind pfiff durch sie hin von einem Ende bis zum andern. Die Türme waren geborsten, Mauern und Gewölbe hatten Risse oder lagen gar in Trümmern; allein die Kaminwand des großen Rittersaals bot der Zeit und dem Unwetter Trotz und ragte unversehrt in die schwarze Nacht. Im Saal saßen Ritter Kunibert und seine Mutter, Frau Schute, so dicht wie möglich vor dem rauchenden Feuer und versuchten, sich zu wärmen, ohne anzubrennen. Der Regen klatschte gegen die morschen Fenster; er drang durch die Ritzen, und kleine Rinnsale schlängelten sich über den Fußboden. Mutter Schute war schlechter Laune. Eine Weile knurrte sie vor sich hin, dann schlug sie mit der Hand auf die Armlehne ihres Stuhles und sagte: »Kunibert, das geht nicht so weiter. Wir müssen nächstens noch mit Galoschen zu Bett gehen.« Der Sohn seufzte. »Wenn du denkst, Mutter, daß ich dies Wetter schön fände –« Frau Schute fuhr auf. »Wetter hin, Wetter her. Das kommt alles nur davon, daß du ein Nichtstuer bist! Andere junge Ritter ziehen aus, bezwingen Riesen oder Zwerge, töten Drachen und heiraten wohlhabende Feen. Deswegen 5
können sie auch ihre Burgen anständig halten, und ihre Mütter bekommen nicht das Zipperlein. Du sitzt immer zu Hause und guckst in den Mond. Du bist ein Waschlappen!« Kunibert sah traurig zu der krummen Balkendecke auf, dann an seinen feuchten Kleidern hinunter und strich den kastanienbraunen Schnurrbart, um dessentwillen ihm die Mutter sonst viel vergab. Sie war jedoch einmal im Zuge und wollte weiterreden. »Wenn ich denke, was dein seliger Vater in deinem Alter schon alles getan hatte! Er war sogar noch ein Jahr jünger, als er den Riesen Ladislaus – –« Die Geschichte vom Riesen Ladislaus kannte Kunibert aus langjähriger Erfahrung und wollte lieber alles auf sich nehmen, als sie noch einmal hören. Also ging er zur Tür und rief nach seinem Knappen. Bald darauf trat ein stämmiger Mann mit blondem Vollbart ein, der viel in der Burg bedeutete und Schorse hieß. Während er sich mit bedächtigen Schritten dem Feuer näherte, rief ihm sein Herr entgegen: »Knapp, sattle mir mein Dänenroß, ich will in nächt'gen Zeiten auf Abenteuer reiten!« Schorse blieb stehen. »Von wegen Dänenroß«, meinte er. »Du bist in der blumenreichen Rittersprache schlecht bewandert«, sagte Kunibert. »Jedes Ritters Roß ist ein Dänenroß. Sattle mir das meinige, bring mir die Rüstung und vor allem das tapfere Schwert meiner Väter.« »Füttere auch den Gaul noch mal«, befahl Frau Schute.
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»Jawoll«, grunzte der Knappe, »er hat mir schon meinen ganzen Strohsack aufgefressen. Ich habe ihn nämlich bei dem nassen Wetter solange zu mir in den Keller gestellt. Wird ein Stück Arbeit sein, die alte Kracke wieder herauf – zubringen.« »Hilft nichts«, entschied der Ritter, »und mach dich selbst reisefertig. Zieh dein neues Wams an, du sollst mich auf meinen Fahrten geleiten. Der Knabe Theobald mag bei der Mutter bleiben.« Ein Seufzer der Erleichterung wurde aus dem Dunkel hinter der offen gebliebenen Tür hörbar, und der Knabe Theobald drückte sich schnell vor dem Ärger Schorses, der nach dem Eingang zum Keller tappte. Es dauerte geraume Zeit, bis Schorse wieder erschien. Er brachte Rüstung, Schild und Schwert und erklärte, alles sei bereit. Mit der Rüstung gab es einigen Aufenthalt, denn sie war ziemlich verrostet und wollte nicht schließen. Als Schorse mit Bindfaden und Draht nachgeholfen hatte, saß sie aber endlich doch, und die drei gingen nach dem Burgtor, an dessen Seite Pferd und Speer lehnten. Kunibert weckte das Tier und ergriff die große Lanze. Dann bot er seiner Mutter ein letztes Lebewohl. »Mein Junge, mein Junge«, sagte Frau Schute, »laß dir's gut gehen. Mach unserm Namen Ehre da draußen und vergiß nie den Wahlspruch deines Geschlechts: Immer mitten mang – hinten dunkel, vorne blank!« »Verlaß dich darauf, Mutter«, erwiderte der junge Ritter und schwang sich auf.
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»Wenn du im Glück bist, vergiß deine Mutter nicht, die immer in Sehnsucht deiner harren wird«, –rief die alte Frau gerührt. »Wie werde ich denn! Das versteht sich doch von selbst«, entgegnete ihr Sohn und wollte sein Pferd antreiben. Noch einmal hielt die mütterliche Liebe ihn zurück: »Von deinem Schild ist alle Farbe ab, du mußt ihn in der nächsten Stadt neu malen lassen. Geld kann ich dir freilich nicht geben, da mußt du selbst zusehen. Aber versetze vor allem nie die goldenen Sporen, du weißt, dein seliger Vater – –« Schorse gab dem Dänenroß einen Rippenstoß; Kunibert nickte der Mutter beruhigend zu und lenkte auf die Zugbrücke. Der Knappe faßte den Steigbügel und ging nebenher, indem er seinen kurzen Spieß als Bergstock benutzte. Noch einmal wandte sich der Ritter im Sattel und winkte; dann zogen beide den Burgweg hinab, Schorse in Gedanken über das schlechte Wetter und wozu das Ganze eigentlich gut sei, Kunibert darüber grübelnd, ob sein Vater wohl deswegen keine wohlhabende Fee habe finden können, weil er einmal einen Rittersporn versetzt hatte, oder ob er gar aus Versehen die Fee erschlagen und statt ihrer den Dra – –? Doch die kindliche Ehrfurcht verbot ihm, den Satz zu Ende zu denken.
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ZWEITES ABENTEUER
DER RITTER VON DER LETZTEN ROSENKNOSPE Kunibert und Schorse zogen tagaus, tagein über kahle Berge, durch dunkle Wälder und dann in die breite grüne Ebene hinab, ohne Zwergen, Riesen oder sonst etwas Erlebenswertem zu begegnen. In einem sauberen Gasthaus hatten sie einige behagliche Tage geruht. Dann waren sie eines Morgens aus Rücksicht auf den freundlichen Wirt bei Nacht und Nebel aufgebrochen, um dem guten Mann unfruchtbare Auseinandersetzungen über die Rechnung zu ersparen, die doch nur Kuniberts tapferes Schwert hätte begleichen können. »Merke dir diese Gasthäuser«, sagte der Ritter zu seinem Knappen. »Auf dem Rückwege werden wir überall unsere Schulden bezahlen, aber jetzt müssen wir weiter.« »Die Wirte merken sich's schon selbst«, brummte Schorse. Ihr Weg durch den frischen Morgen führte sie zwischen Hecken und Weiden dahin, als ihnen ein zottiger, brauner Hund entgegengelaufen kam und sie in sonderbaren, welschen Lauten anbellte. »Ich verstehe dich nicht, mein Freund«, rief Kunibert lustig. Doch der Hund verstand ihn und bellte in gebrochenem Deutsch: Wau, wau! mein Herr – Schau, schau – au – au! 9
Da ist ein Unglück geschehen, stellte der Ritter fest, und beide folgten dem voraneilenden Tier. Hinter der nächsten Hecke erblickten sie einen bärtigen Mann, der zornrot vor einem Esel stand und laut auf ihn einschimpfte, während die Spitze seines Schwertes hinter ihm erbost auf und nieder zappelte. »Teufel und Gift«, schrie er und gab dem Tier einen Fausthieb vor die Stirn. »Verdammter Esel, Kasimir, Schwindler, du hast gar keine Tochter!« »Y – – ah!« machte der Esel, wobei er den Hals so reckte, daß er dem Mann fast mit der Schnauze ins Gesicht fuhr. »Nein!« brüllte der Fremde, auf das Tier einhauend. »Nein!« Der Esel guckte ihn einen Augenblick an, machte einen hölzernen Sprung und stieß ihn mit dem Kopf vor die Brust, daß er auf den Rücken fiel. Der Mann war zwar gleich wieder auf den Füßen und wollte sich auf seinen Gegner stürzen, doch Schorse trat dazwischen und hielt ihn fest. »Lassen Sie den Esel in Frieden«, sagte der Knappe entrüstet. »Was kann Ihr Kasimir dafür, wenn er keine –« »Scher dich zur Hölle«, rief der Fremde, riß sich los und schlug Schorse auf den Kopf, daß ihm die Sturmhaube über die Ohren rutschte. Nun verstanden Kunibert und der Knappe keinen Spaß mehr; sie prügelten den Mann wacker durch, setzten ihn in den Straßengraben, nahmen neben ihm Platz und fragten ihn, ob er etwa verrückt sei. »Dumme Frage«, war die mürrische Antwort. 10
Kunibert gab ihm einen Kümmel aus der frisch gefüllten Feldflasche. Der so Erquickte atmete tief auf. »Ah, das bekommt!« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und das Blut von der Nase. Dann nickte er seinem Hund zu, der schweifwedelnd vor ihm saß. »Ich bin der Ritter von der letzten Rosenknospe«, erklärte er endlich. »Wie mich das freut«, entgegnete Kunibert verbindlich. »Jetzt geht es mir schon bedeutend besser«, fuhr der andere fort, »ich glaube wahrhaftig, ihr beide habt mich kuriert. So eine Rauferei war gerade, was mir fehlte. Das macht Luft.« »Wer zankt sich denn auch mit einem Esel?« sagte Schorse vorwurfsvoll. »Ach, der Esel«, versetzte der fremde Ritter, »was schert mich der! Der stand gerade da und guckte so dumm zu mir her. An irgendwem mußte ich doch meine Wut über den König und seinen faulen Zauber auslassen«, sprach er weiter und wandte sich rasch zu Kunibert, während seine kleinen, schwarzen Augen wild funkelten. »Denn es ist Schwindel, die ganze Geschichte ist Schwindel, von Anfang bis zu Ende.« »Ich würde besser an Ihren Gefühlen teilnehmen können«, bemerkte unser Ritter zögernd, »wenn ich wüßte, welchen Schwindel Sie meinen.« Der Mann schlug sich mit den Händen auf die Knie. »Na, doch den mit ' der Königstochter, die immerzu ausgeschrieben wird. Welchen sonst?« »Königstochter?« Kunibert horchte auf. »Erzählen Sie«, bat er. »Das interessiert mich.« 11
Der Fremde betrachtete ihn aufmerksam. »Also meinetwegen«, erklärte er, »und sei es auch nur, um Sie zu warnen. Sie wissen, ich bin der Ritter von der letzten Rosenknospe; mein Schloß liegt etwa eine Stunde weit dahinten.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter. »Aber haben Sie denn wirklich noch nichts von König Kasimir dem Zartbesaiteten und seiner schönen Tochter Sonja gehört?« Als Kunibert verneinte, fuhr er fort: »Das muß man dem Mann ja lassen, er herrscht über ein riesengroßes Reich. Ich bin Gott weiß wie lange geritten, bis ich nach Marsilia kam, das seine Residenz ist und wo er ein wunderschönes Schloß bewohnt. Also das Schloß, mein Lieber, das ist geradezu eine Sehenswürdigkeit! Außerdem soll der König noch über Reichtümer ohne Ende verfügen. Leider hat er keinen Sohn, seine Frau ist tot, und nun ist es die alte Geschichte: die einzige Tochter und später die Krone soll der tapfere Ritter haben, der drei Bedingungen erfüllt. Wissen Sie, was die erste ist? Der Bewerber wird in einen großen Saal geführt, wo der ganze Hof, Hunderte von Herren und Damen, versammelt ist, und soll unter allen Frauen die Prinzessin als die Schönste erkennen. Der König meint, das Herz des Freiers müsse bei ihrem Anblick sprechen und sagen: Die oder keine! Es soll nämlich eine Liebesheirat sein. Jeder Bewerber wird in ein großes Buch geschrieben und darf nie wiederkommen, wenn er die erste Probe nicht besteht. Bis jetzt ist es noch keinem geglückt. Ich habe auch eine falsche erwischt und konnte abziehen. Hab' ich mich gebost! Unterwegs habe ich aus Ärger meinen Gaul vertrunken, und wie ich nun 12
eben zu Fuß heimging, dachte ich darüber nach, wie es sein könne, daß täglich Dutzende von Freiern kommen und noch keiner die Königstochter erkannt hat. Da ging mir plötzlich ein Licht auf: Humbug ist es, die Königstochter ist gar nicht im Saal. Weiß Gott, ob sie lebt oder je gelebt hat. Am Ende ist sie nur eine alberne Großtuerei vom zarten Kasimir. Und da habe ich eine solche Wut bekommen – na, Sie haben es ja gesehen. Lassen Sie sich raten –.« Er sah Kunibert an und sprang auf. »Natürlich, da sitzt der Mensch und denkt an nichts, als wie er möglichst schnell hinreiten kann! Also, in Gottes Namen, reiten Sie, wenn Sie es nicht lassen können und hineinfallen wollen. Zum Dank für Ihren guten Kümmel will ich Ihnen noch versprechen, daß ich das Geheimnis keinem anderen verraten werde. Aber ein Dummkopf sind Sie doch. Und damit Gott befohlen!« Er pfiff seinem Hund und lief davon. Kunibert war Feuer und Flamme. Er ritt so schnell, daß Schorse nur keuchend Schritt halten konnte. Beim nächsten Krug hielt er an und rief nach dem Wirt. »Herr Wirt«, fragte er, als der Gerufene in weißer Schürze unter der Tür erschien, »wissen Sie etwas von der Prinzessin Soja?« »Soja ist eine Bohne und keine Prinzessin«, war die würdevolle Antwort, »aber eben deswegen nicht nur zum Viehfutter geeignet, sondern auch als Beilage zu Pichelsteiner, Rumpsteak, Saftbraten und Matrosenfleisch.« »Das ist mal sicher was Traniges«, brummte Schorse und drängte weiter. Mit leisem Erröten über die erhaltene
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Belehrung gab Kunibert nach, und beide zogen nun viele Tage immer gen Süden.
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DRITTES ABENTEUER
DER GOLDENE RITTER UND BEPPOS LATERNE Sie waren längst im Reich des Königs von Marsilia. Je mehr sie sich der Hauptstadt näherten, desto öfter hörten sie von der Prinzessin Sonja, und immer wieder lasen sie den Aufruf des Königs, der offenbar fürchtete, ohne Nachfolger sterben zu müssen. Überall wurde von der wunderbaren Schönheit der Königstochter gesprochen, von ihrer Klugheit und Güte, von ihrem Reichtum. Niemand hatte sie gesehen, und eben wegen jener ersten Bedingung wurde sie sorgfältig vor allen Blicken bewahrt. Unsere beiden Abenteurer zogen weiter und weiter. Die Hufe des Dänenrosses klapperten müde auf dem schattenlosen, steinigen Wege, der in der Mitte eines kleinen Tales mählich bergab führte. Die steilen Hänge waren mit dunkeln Wäldern bedeckt, aber die Sonne stand hoch und füllte das Tal mit ihren Strahlen. Die Blätter der Büsche glänzten weißlich, und die Luft flimmerte. Kunibert war es, als sähe er fern auf dem Weg eine gelbe Flamme. Er rieb sich die sonnengeblendeten Augen. Das Leuchten blieb und wuchs. Er zeigte es Schorse, und sie erkannten den blitzenden Harnisch eines Reiters. Bei einer Biegung des Weges verschwand die Gestalt des Fremden hinter einigen Büschen, dann tauchte sie dicht vor ihnen wieder auf und näherte sich. Es war ein Ritter in strahlend goldener Rüstung auf einem schneeweißen Pferd mit feuerroten Hufen. An der Seite hing ihm ein breites goldenes Schwert, dessen Knauf ein großer Rubin bildete. 15
Den Helm hatte er abgenommen, und das blonde Haar fiel frei um sein Haupt. Sein ernstes Gesicht war von der Sonne gebräunt, und seltsam hell waren darin die weitoffenen, grauen Augen. Der Fremde grüßte mit höfischem Anstand. Unwillkürlich beugte Kunibert die Stirn tiefer als sonst. Als er sie wieder hob, begegnete er den Augen des Unbekannten und hielt sein Pferd an, erstaunt über die ausdruckslose Leere des Blickes. Das waren die Augen eines Blinden, fühlte er und lenkte sein Roß hinüber. »Verzeiht, aber ich sehe Euch allein, ohne Euren Knappen. Ihr seid des Augenlichts beraubt und könnt leicht vom Wege abirren oder überfallen werden. Wo ist Eure Burg? Wohin dürfen wir Euch geleiten?« Der goldene Ritter hielt seinen Schimmel an und lächelte. »Ihr habt recht, doch es hat nichts auf sich. Mein Pferd kennt Wege und Stege besser als irgendein Mensch, und mein Schwert fand noch immer ohne meine Augen den Weg in die Herzen meiner Feinde. Doch mit Eurem Anerbieten nehme ich Euch beim Wort. Meine Burg ist nicht weit; ich bitte Euch, seid meine Gäste.« Ehe Kunibert recht nachgedacht hatte, ritt er schon neben dem Fremden hin. Sie bogen in einen schattigen Waldweg, der den Berg hinanstieg und durch dessen grünes Dunkel das Licht zitterte. Der Blinde führte, und obgleich er sich ganz auf sein Pferd zu verlassen schien, das mit großen, klugen Augen um sich sah, war es doch verwunderlich, wie gut er die kleinsten Pfade kannte. Nachdem alle ihren Durst aus einer Quelle gelöscht hatten,
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die klar aus Moos und Steinen sprang, erzählte er von sich und den Seinigen. »Ich bin der Ritter Seldomir«, sagte er, »freilich ist unser Name eigentlich Sedlmeier. Einer unserer Ahnen ist vor langer Zeit aus Bayern hierher eingewandert. Er hat dem damaligen König von Marsilia unschätzbare Dienste geleistet und wurde dafür reich mit Land und Leuten belohnt. Er baute die Burg, die Ihr bald sehen werdet.« Nun berichtete auch Kunibert, wer er sei, woher er komme und daß er um die Prinzessin freien wolle. Über die Züge des blinden Ritters glitt ein Leuchten. Seine leeren Augen schienen in die Ferne zu irren. »Prinzessin Sonja«, sprach er halblaut und schwieg. So ritten sie eine Weile hin. »Ob sie wirklich so schön ist?« sagte Kunibert in Gedanken versunken. Ritter Seldomir wandte sich zu ihm. »Ob sie schön ist? Schön? Wenn der Frühling über Nacht zu uns kommt und die Knospen springen läßt, dann sagen die Leute: Prinzessin Sonja hat vom Turm ihres Schlosses über das Land geschaut. Wo sie geht, breiten die Blumen ihre Kelche und duften ihr entgegen. Der Rosenstrauch, den ihre Hand berührt, schlägt in hundert roten Blüten auf wie eine entfachte Flamme. Sie ist schön wie der junge Tag, wenn er in der Frühe die tauigen Gärten grüßt, strahlend schön wie das blaue, sonnenschillernde Meer. Ihre Schönheit ist weich und still wie die Stunde, da das Licht sich hinter den Hügeln birgt und die Wege träumen. Leicht und lind sind ihre Hände wie die Winde des Abends. Sie ist
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schön wie weiße Rosen im dunkeln Laube, köstlich und selten gleich Perlen und Edelsteinen.« Ritter Seldomir war ernst geworden. Kuniberts Augen glänzten, und sein Herz pochte. Sie schwiegen beide. Kunibert wurde nachdenklich und fragte: »Woher wißt Ihr denn, Ritter Seldomir, wie schön die weißen Rosen im dunkeln Laube sind?« »Vielleicht war ich nicht immer blind«, gab der goldene Ritter zur Antwort, »und überdies sehe ich Beppos Laterne.« »Beppos Laterne?« wiederholte sein Begleiter erstaunt. »Ihr werdet erfahren, was es damit auf sich hat«, vertröstete ihn der andere. Der Wald lichtete sich. Ein schroffer Felskegel wurde sichtbar. Auf ihm lag die Burg, aus grauen Steinen hoch und mächtig gebaut. Sechs Türme standen an den glatten Mauern, der siebente in der Mitte überragte sie alle. Ein steiler Pfad führte zur Höhe hinan. Als das Dänenroß ihn sah, machte es einen schiefen Kopf, schüttelte sich und fiel vor Schrecken tot um. Sein Reiter konnte gerade noch abspringen. Nun tat es den beiden doch leid um das gute Tier, das ihnen auf allen Wegen so treu gedient hatte, und Kunibert dachte daran, daß es zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen gehöre. Außerdem mußte er nun zu Fuß den Berg hinaufklettern. Zur Freude Schorses versprach der goldene Ritter, Sattel und Zaumzeug holen zu lassen, und so begannen sie den Aufstieg. Bei ihrem Nahen erscholl von den Zinnen der Hornruf des Wächters; die schwere Zugbrücke rasselte herab, und 18
sie schritten durch das dunkle Tor in den hellen Hof. Wie durch einen Zauber fanden sie sich auf der Höhe des kahlen Felsens in einem grünen, blühenden Garten. Rosen hatten sich zu voller Pracht entfaltet, Flieder und Goldregen standen duftend im Sonnenschein, und bunte Schmetterlinge flatterten über die Beete. »Das ist Beppos Werk«, sagte Seldomir, der das Erstaunen seiner Gäste zu erraten schien. Ohne zu zögern ging der Blinde voran durch die Wege des Gartens und die Stufen zum Wohnhaus hinauf. Sie betraten ein Zimmer des Erdgeschosses. Mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt, stand eine weißgekleidete junge Frau. Das Licht umspann sie, und ihre Schönheit war so groß, daß Kunibert erstaunt stehenblieb. Es war des Ritters Schwester Agnete. Sie ähnelte ihrem Bruder, war biegsam und schlank gewachsen wie er, hatte dieselben feinen, ernsten Züge, auch seine grauen Augen, doch voller Tiefe und Leben. Dagegen war ihr Gesicht weiß und zart, und ihr Haar lag in glänzend schwarzen Flechten um den schmalen Kopf. Sie schritt den Gästen entgegen, bewillkommnete sie freundlich und lächelte froh, als Seldomir ihr erzählte, wie Kunibert ihn angerufen habe. Nach einem reichlichen Mahl pflegten Kunibert und sein Knappe der wohlverdienten Ruhe, und erst gegen Abend ging unser Ritter hinunter, um sich den Burggarten anzusehen. Er traf Agnete, die ihn auf verschlungenen Wegen durch das dichte Grün und die blühenden Büsche führte. Dann erstiegen sie eine Treppe und schritten den Wehrgang hinter den Zinnen entlang, des schönen Blickes über die Täler genießend, in denen schon der Abend däm19
merte. Auf dem nächsten Mauerturm blitzte etwas in den Strahlen der sinkenden Sonne. Kunibert hob den Kopf und legte die Hand über die Augen. Dort oben stand der goldene Ritter, das Antlitz nach Westen gerichtet, die Hände auf die Brüstung gestützt. Der laue Wind strich um seine Stirn und rührte leise sein Haar. Unaufhörlich bewegte er die Lippen; man konnte nicht hören, ob er spreche oder singe. Auch Agnete sah hinauf; dann senkte sie den Kopf und ging weiter. Ihr Begleiter folgte. Als sie durch einen anderen Turm kamen, trat aus dem Schatten der Fensternische ein alter Mann auf sie zu. Er war klein und gedrungen, ein wenig verwachsen. Über seiner großen Stirn wuchs dichtes, fast weißes Haar; ein breiter, kurzgeschnittener grauer Bart umrahmte das Gesicht mit den beweglichen braunen Augen und stand noch ein wenig über die weiße Krause seines dunkeln Wamses. »Das ist Beppo«, rief Agnete, und sie begrüßten sich. Der Alte fuhr mit den Fingern durch den Bart. »Ich habe den Ritter von weither kommen sehen«, erklärte er. Der blickte ihn zweifelnd an und meinte: »Doch erst seit wir den Wald verließen und mein Pferd stürzte!« Beppo schüttelte den Kopf. »Viel weiter her«, entgegnete er, »viel weiter.« Als Kunibert ein ungläubiges Gesicht machte, zog er lächelnd ein kunstvoll gearbeitetes Kästchen hervor, entnahm ihm ein Stück Glas, ging ans Fenster und bat Kunibert, hindurchzusehen. Der Ritter tat es. Seine Hand fuhr nach dem Schwert. Gewappnete sprengten den Burgweg herauf! Voran der
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Bannerträger in schwarzem Panzer, auf mächtigem Rappen, eine blutrote Fahne in der Rechten, hinterher viel andere in funkelnden Rüstungen mit roten Waffenröcken, die Visiere geschlossen, blanke Schwerter in den drohenden Fäusten. Und der Wächter schwieg? »Feinde!« rief Kunibert und wandte sich schnell um. »Zu den Waffen, zu den Waffen!« Beruhigend legte sich Beppos Hand auf seinen Arm. »Seht noch einmal hinab, Herr Ritter«, bat er. Kunibert folgte seinem Wunsch. Unter ihm lag der Burgweg in tiefstem Frieden. Aber dort hinten am Waldrand, waren da nicht Reiter? Er glaubte, ganz deutlich zwei Männer und eine weißgekleidete Frau gesehen zu haben, wie sie eilig in den Wald hinein sprengten. Fragend blickte er Beppo an. Der vertauschte das Glas mit einem andern von trüberem Ton und lud Kunibert mit einer Handbewegung ein. Der Ritter sah wogenden Nebel, der heller und glänzender wurde. Was war das? Schnee lag in den Tälern, Schnee auf den Bergen. Wie kam der hierher? Das war eine ganz andere Landschaft – und doch so bekannt. Die Burg dort, das war seine eigene Burg Scharfenstein! »Schorse«, rief er, »komm bloß mal her!« »Nanu«, sagte der, »das ist ja unsere Burg.« Immer deutlicher konnte man sehen, bis in das Innere der alten Feste. Da saß Mutter Schute mit einer großen Hornbrille auf der Nase und spann. Jetzt leckte sie den Faden. Sie schaute zum Fenster hinaus in den Burghof und sprang auf. Nun erblickte man den Hof. In der Mitte stand
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der Knabe Theobald, eine Mütze mit Ohrenklappen auf dem Kopf, ein dickes Halstuch um, graue Pulswärmer über den roten Händen, und kehrte den Weg zum Burgtor. Oder vielmehr, er sollte es tun, denn der Besen lag neben ihm, er hatte Sophie das kleine Küchenmädchen, umgefaßt und versuchte, ihr trotz allem Sträuben einen Kuß zu geben. »Lausbub«, schrie Schorse, der einen ganz roten Kopf bekommen hatte, »warte, ich will dir helfen!« Statt seiner erschien Frau Schute im Hof und näherte sich leise den beiden von hinten. »Die Gnädige«, flüsterte der Knappe entzückt, »das genügt.« Mutter Schute faßte vorsichtig den Besen, und ehe die zwei etwas ahnten, fuhr er wuchtig zwischen ihre Köpfe. Sie stoben auseinander. Sophie lief in die Küche, auch Theobald brachte sich in sichere Entfernung. Nun ging ein Donnerwetter nieder, das man leider nicht hören, dessen Wirkung man aber an dem Gesicht des trefflichen Knaben sehen konnte. Frau Schute verschwand im Haus, Theobald ergriff den Besen und kehrte eifrig. »Man sieht, es geht auch ohne uns«, brummte Schorse. Der Schnee fiel stärker, der Abendnebel wurde dichter und dichter, man konnte nichts mehr erkennen. Beppo nahm sein Glas an sich. »Heute abend werde ich Euch mehr zeigen und andere Dinge«, versprach er. Am Abend saßen die Gäste mit dem Ritter und seiner Schwester im Saal. Beppo trat ein und verbeugte sich schweigend. Er nahm die Kienfackeln aus den Ringen an der Wand und löschte sie auf dem steinernen Estrich aus.
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Unter dem weiten, schwarzen Mantel, den er umgeworfen hatte, brachte er eine kleine, rötlich schimmernde Laterne zum Vorschein, die er auf den Tisch setzte. Alles Gespräch war verstummt; neugierig näherte sich Schorse, der im Hintergrunde gesessen hatte, seinem Herrn. Der Raum lag in purpurnem Licht, das immer stärker erglühte. Die vielen bunten Gläser der Laterne fingen an sich zu drehen, sie schoben sich durcheinander und umkreisten langsam die Flamme. Es entstand ein schillerndes Farbenspiel hinter den Schatten des großen Saales, dessen Wände sich zu weiten schienen. Unter roten, blaßblau umgebenen Lichtern wogte es dunkelblau und violett. Es wurde heller und gewann Gestalt. Ein azurnes Meer dehnte sich in endlose Ferne, darüber wurde es Tag, lichter und lichter zu strahlendem Schein. Eine Küste tauchte auf, eine schimmernde Stadt, ein reger Hafen. Schwanke Fischerboote, deren spitze, gelbe Segel sich im Winde bauschten, fuhren aus. Im Gewirr des Hafens trugen farbige Lastträger aus großen, kühn geformten Schiffen bunte Früchte, Ballen kostbarer Stoffe und seltene Hölzer. Volkreiche Straßen führten durch das Innere der Stadt hinauf zu den Hügeln, wo die Häuser der Reichen hinter Mauern und schattigen Bäumen lagen. In weißer Wand öffnete sich ein schweres, erzenes Tor; dahinter breitete sich ein Garten voller Palmen und Bananen, voll großer, leuchtender Blumen. Mit bunten, blitzenden Steinen waren die Wege bestreut. Eine weißverschleierte Frau, deren bauschiges, gelbes Gewand, sich um die Füße in gebogenen, rot- und goldgestickten Schuhen schlang, schritt langsam dahin. Sie drückte auf 23
eine kleine Tür und trat in das umschattete Bad. In großer, rosiger Marmorschale spiegelte das hellgrüne Wasser, das sprühend und plätschernd aus dem hohen Springbrunnen in der Mitte niederfiel. Gefährtinnen warteten, die Kleider glitten zu Boden, und weiße Leiber tauchten in das kühle Bad. Die Mädchen neckten einander, tummelten sich spielend in der klaren Flut, sprangen und schlugen ins Wasser, daß es wogte und hoch aufspritzte. Ein Regen von Schaum und Tropfen stand in der Luft und verband sich mit dem niederstäubenden Strahl der Fontäne zu einem perlenblitzenden Schleier. Der wurde dichter und dichter, zog sich zu blühender Weiße zusammen, wuchs, erstarrte und wurde zu einem riesigen Schneeberg, der einsam in die blaue Stille des Himmels ragte. Nie schien ein Mensch diese Einsamkeit betreten zu haben. Himmel und Schnee färbten sich zu rosigem Rot, sie verglühten, und es dunkelte. Mit tiefem Blau, aus dem ein Stern nach dem anderen leuchtete, wuchs die Nacht über den Berg, der im Dunkel versank. Weite Ebene breitete sich aus, endlos weit, mit langen, sanften Erhebungen. Die Wüste. Lasttragende Kamele und Reittiere, auf denen weißgekleidete Männer saßen, kamen gezogen und näherten sich der Oase, deren dichte Palmengruppen sich deutlich gegen den Himmel abhoben. Oben in den Bäumen brannten kleine Feuer, in deren Schein man sehen konnte, daß dort Hütten in die Kronen gebaut waren. Schwebende Brücken spannten sich von einer zur andern; zwerghafte Gestalten huschten hin und her und glitten an langen, geflochtenen Leitern herab. Unten loderte ein helleres Feuer. Am Fuß der nächsten Palme saß ein alter 24
Mann mit merkwürdigem Kopfputz und spielte Drehorgel. Vor ihm tanzten die kleinen, beweglichen Schatten. Die Flammen drohten zu erlöschen, man brachte Haufen grüner Äste und warf sie hinein. Dichter Qualm entstand, ballte sich zu düsteren Massen und verschlang alles. Ein schwarzes Gewölbe tat sich auf; ein Mann tastete furchtsam darin vorwärts. Endlich begann grünliches Licht die Wände zu durchglühen. Es war wie ein riesiger, leuchtender Smaragd, klar, als sei man auf dem Grunde des Meeres. Lange Schatten zogen dahin wie von fahrenden Schiffen. Aber sie wurden fest und blieben. Langsam gestaltete sich ein lichtdurchwobener, schattiger Laubwald, auf dessen Boden schwere, moosbewachsene Steine lagen. Sie bildeten eine kleine Höhle, vor der unter einem großen Pilz ein seltsames Männlein saß, das ein rundes Mäntelchen umhatte und seine Perücke kämmte, die es in der Hand hielt. Es horchte auf und versteckte sich eilig zwischen den Steinen. Ein Ritter erschien, hoch zu Roß; er sah sich vergebens in der Wildnis nach dem verlorenen Wege um und folgte dann dem Laufe des Baches, bis er an den dunkeln Spiegel eines Sees kam, um den die schwarzen Stämme mit reichem rotem und goldenem Laub standen wie im Herbst. Der Ritter war abgestiegen, hielt seinen Rappen am Zügel und sah lange in das Wasser. Da brach hinter ihm eine wilde Rotte aus dem Wald und fiel über ihn her. Er sprang auf sein Pferd und riß das Schwert aus der Scheide. Riesige Männer mit langen Bärten, die ihn weit überragten, schwangen mächtige, schwarze Keulen, große Hunde mit roten, aufgerissenen Rachen sprangen lechzend an ihm empor. Aber das blitzende Schwert traf 25
einen nach dem andern und erschlug sie alle. Regungslos hielt der Sieger, die bluttropfende Waffe in der hängenden Rechten. Er trieb sein Roß einige Schritte in das dunkel spiegelnde Wasser, damit es seinen Durst löschen könne. Er stieg ab, löste den Helm, füllte ihn mit blinkendem Naß und führte ihn an die Lippen. Das Pferd senkte den Kopf und trank. Aber kaum berührten beide die erquickende Kühle, da brauste und schäumte der See wild auf. Wie mit tausend Armen umschlangen die tosenden Wogen Roß und Reiter, die sich vergebens wehrten, und rissen sie weiter und weiter hinaus, bis beide in den Tiefen verschwanden. Drei schwarze Schwäne mit roten Schnäbeln zogen über die wieder beruhigte Flut. Es war, als führten sie die Barke, in der ein Mann ruderte und ein Gewappneter stand. Lautlos glitten sie hin. Der See verengte sich, ein Fluß zog durch Wiesen, die bunt von Herbstzeitlosen waren. Die drei Schwäne erhoben sich und flogen nach verschiedenen Seiten davon. Die Barke folgte dem Strom; hohe, glatte Steinufer engten das Wasser, aus dem große, gefleckte Schlangen auftauchten und nach dem Boote zischten. Aber sie wagten sich nicht heran und verschwanden, sich furchtsam krümmend, in der Tiefe. Grüne Marmorbrücken spannten kühne Bogen von einem Ufer zum andern, schneeweiße Drachen griffen von ihnen herab und öffneten purpurne Rachen, doch der Gewappnete hob seinen glänzenden Schild, und sie wurden zu Stein. Ein goldenes Tor schloß den Fluß. Der Gewappnete berührte es mit der Schwertspitze; die Flügel sprangen auf, hinter ihnen verschwand der Nachen. Der Blick öffnete sich auf die unendliche See. Schäumend wogte das blutrote 26
Meer, auf dem dunkle Schiffe fuhren, deren gekreuzte, schwarze Segel vor einem gelben Himmel dahinzogen. Eines kam nahe vorüber, an seinem Mast stand ein Mädchen in perlmutterfarbenem Gewande. Alles war licht an ihr und Anmut; sie schlug die Augen auf und war so schön, daß Kunibert mit der Hand an sein Herz griff, denn er meinte, es wolle stillstehen. Das Schiff glitt vorüber. Der Himmel errötete und verblaßte zu grünlichem Blau, das über den veilchenfarbenen Wellen rasch dunkelte. Immer noch zog die Barke über die Wogen. Lichter wurden sichtbar, Strahlen brachen durch die Nacht. Aus schimmerndem Hafen fuhren erleuchtete Schiffe der Einsamen entgegen, Hunderte von blumengeschmückten Booten mit bunten Lampions, voller Musik und festlich gekleideter Menschen. Mit kostbaren, bestickten Stoffen waren die Borde behangen, daß Samt und Seide schillernd im Wasser schleppten. Die Ruder trieften von Gold. Ein großes Schiff mit vielen Ruderern nahm die Ankommende auf. Sie stieg samtene Stufen zu einem schimmernden Thron hinan, legte den Mantel aus Purpur und Hermelin um ihre Schultern und nahm auf dem vergoldeten Sessel Platz. Nun setzten sich alle Gondeln auf den Hafen zu in Bewegung, der voll Licht und Menschen harrte. Als die festliche Flotte der Hafeneinfahrt nahe war, stiegen bunte Raketen in den Himmel, die immer zahlreicher und dichter aufblühten, platzten und einen funkelnden Regen niederstäuben ließen. Ein Feuerwerk entbrannte, daß es über Hafen und Stadt wie eine glänzende, farbenprächtige Garbe
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aus Flammen und Sternen stand, die im Steigen, Sprühen und Fallen alles verhüllte. Langsam entschlief das Licht, und der Saal, indem der Ritter und seine Gäste saßen, war erfüllt von bunter, purpurner Finsternis. Die farbigen Gläser der Zauberlaterne standen still. Man verharrte in Schweigen. Beppo erhob sich, entzündete die Kienfackeln und steckte sie in die Ringe. Er barg die Laterne unter seinem Mantel und wollte gehen. Der goldene Ritter hielt ihn zurück, Agnete trat dazu, und die drei sprachen leise miteinander. Dann verabschiedete sich Beppo von allen. Als er an der Tür war, ging Schorse ihm nach, machte einen Kratzfuß und sagte: »Viel Dank auch, Herr Beppo, weil Sie das wirklich sehr schön gemacht haben. Dagegen sind die schönsten Moritaten rein gar nichts. Mit so was könnten Sie einen Haufen Geld verdienen.« Er schüttelte Beppo die Hand. Der schmunzelte verschmitzt. »Nichts für ungut«, meinte Schorse, »vielleicht haben Sie es nicht nötig. Ich meinte man bloß, weil wir jetzt viel herumgekommen sind und Sie hier so auf dem Lande sitzen.« Beppo lachte vergnügt auf. »Bleib du nur immer brav bei deinem Herrn, lieber Schorse, dann wirst du noch viel sehen und manchmal an mich denken.« Kunibert ging wie im Traum. So bot er seinen Gastgebern gute Nacht, so ging er in seine Kammer, warf seine Kleider ab und legte sich nieder. Die Bilder der
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Laterne verließen ihn nicht; er fiel in Schlaf, und sie füllten seine Träume. Mitten in der Nacht fuhr er auf. Schorse stand im Dunkel an seinem Lager, rüttelte ihn derb an der Schulter und schrie: »Aufstehen! Feuer! Feuer! Die Burg brennt!« Kunibert sprang auf die Füße. Die Luft war voll Rauch, durchs Fenster drang rötlich flackernder Schein. Er tastete nach seinen Sachen und fuhr in die Kleider. Es ging nicht so schnell wie sonst, manches kam ihm ungewohnt vor, doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er waffnete sich und rannte mit Schorse auf den Gang. Dichter Qualm schlug ihnen entgegen, Flammen zuckten auf, glühende Balken stürzten nieder. Sie fanden zur steinernen Wendeltreppe und sprangen hinunter. Ein Diener kam ihnen entgegen. »Schnell, Herr, schnell. Rettet Euch, man trachtet nach Eurem Leben. Am Burgtor stehen Pferde. Flieht!« Kunibert packte den Knecht am Kragen. »Schuft«, rief er. »Wo ist dein Herr und seine Schwester? Sind sie in Sicherheit?« Der Mann entwand sich seiner Faust und floh. Die beiden stürmten die Stufen hinab. Unten trafen sie einen anderen Diener. »Herr«, keuchte er, »das Fräulein erwartet Euch mit Pferden an der Zugbrücke. Sie läßt Euch entbieten und um Eure Dienste bitten. Führt sie davon und rettet sie!« Damit verschwand er. »Pack!« schrie Kunibert. Aber der Botschaft mußte er gehorchen, und beide liefen zum Tor. Rings um den Hof brannte die Burg. In dem roten Licht sahen sie Agnete auf 29
dem Schimmel; zwei andere Pferde waren angebunden und bäumten sich erschrocken und ungeduldig auf. Sie winkte. »Schnell«, rief sie, »schnell! Folgt mir. Ich berichte Euch alles.« Kunibert stand vor ihr. »Wo ist Euer Bruder?« Seltsam, Agnete lächelte. Sie reichte ihm die Hand. »Kommt nur. Ihr dürft und müßt. Beeilt Euch.« Schorse hatte die Pferde losgemacht und führte sie vor. Beide sprangen in den Sattel und folgten Agnete, die den Burgweg hinabsprengte. Es war ein verwegenes Reiten im Dunkel den steilen Weg hinunter. Kunibert merkte, daß Agnete nicht mehr neben ihm ritt. War sie gestürzt? Er hielt, Schorse galoppierte weiter. Der Ritter sah sich um, er konnte die Verlorene nicht entdecken. Über ihm lag die lodernde Burg; krachend stürzte ein Turm zusammen, Rauch, Funken und Flammen stoben in die Nacht. Wer stand dort oben über dem Tor? Das konnte nur der goldene Ritter sein; im Schein des Feuers blitzte sein Gewaffen. Neben ihm lehnte eine helle Gestalt. Winkte sie nicht mit einem weißen Schleier? Agnete! dachte Kunibert. Da hörte er Schorse: »Herr, wo bleibt Ihr? Das Fräulein ist weit voraus. Dort unten sehe ich sie auf dem Schimmel!« Er gab seinem Roß die Sporen und folgte dem Ruf. Wie weit war es bis zum Wald, erreichte man ihn nie? Endlich fand Kunibert den Knappen. »Wo ist sie?« »Weiß nicht, Herr. Ich konnte sie nicht einholen. Der Schimmel läuft ja wie besessen querfeldein. Ich verlor ihn aus dem Gesicht, gerade als ich Euch rief.« 30
Sie wandten sich um, sahen zurück und rissen die Augen auf: dort oben lag deutlich in der klaren, sternhellen Nacht die graue Burg, dunkel und still. Unversehrt lag sie da, kein Stein war gefallen. Sie blickten sich an. Eine andere Burg? Nein, es war unweigerlich dieselbe. Kunibert trieb sein Pferd an. »Hinauf! Das geht nicht mit rechten Dingen zu.« »So eine Gemeinheit«, schimpfte Schorse, »einen um nichts und wieder nichts aus dem Bett zu hetzen. Gerade, als ob man jede Nacht eins hätte.« Sie verfehlten den Weg und gerieten in den Wald. Sie suchten und suchten und fanden nicht hinaus. Der Morgen brach an, und beide sahen sich zu ihrem Erstaunen in neuen, reichen Gewändern und stark gewappnet. Nur der Ritter hatte Schild und Schwert behalten. Dazu saßen sie auf trefflichen Pferden. »Das lasse ich mir schon gefallen«, meinte der Knappe, und sein Eifer, die Burg wiederzufinden, war wie weggeblasen. Doch sein Herr schleifte ihn den ganzen Tag über Berg und Tal. Endlich fanden sie zur Höhe hinauf, wo sie die Burg vermuteten, aber der Gipfel war kahl und leer. Drei Tage irrten sie umher, ehe sie wieder auf die Landstraße kamen. Kunibert fragte überall, wo er Menschen begegnete, nach der Burg und dem Ritter. Alle schüttelten den Kopf. Es gebe in der ganzen Gegend nichts, worauf die Beschreibung passe. Schließlich traf unser Ritter einen alten Hirten. Den fragte er auch.
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Der Greis sah ihn erstaunt an und nahm umständlich seinen Hut ab. »Glück auf, Herr, Ihr seid ein Sonntagskind! Seit hundert Jahren hat sicherlich niemand den goldenen Ritter gesehen. Als Kind hörte ich wohl von ihm, doch hielt ich es für ein Märchen.« Kunibert beschenkte den Alten, denn er hatte in seinem Mantelsack einen Beutel voll roter Dukaten gefunden, und frohgemut ritt er mit seinem Knappen weiter auf dem Weg nach Marsilia.
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VIERTES ABENTEUER
MARSILIA Je weiter der Ritter und sein Knappe im Reiche des Königs von Marsilia vordrangen, desto südlicher wurde die Landschaft. Aus den Bergen waren sie in die Ebene gekommen, und ringsum breitete sich reiche Fruchtbarkeit. Unter dem strahlend blauen Himmel flimmerten niedrige Steinhäuser mit flachen Dächern aus dem dichten Grün der Felder, in denen sich Weinreben von einem Obstbaum zum andern rankten. Endlos zog die heiße, weiße Straße vor ihnen hin. Manchmal ging es lange zwischen alten, bewachsenen Mauern, hinter denen Gärten lagen mit schwarzgrünen Lorbeerbäumen und grauen Oliven. Dunkle Zypressenalleen führten vom Wege ab zu Landhäusern mit geschlossenen Sonnenläden über breiten Terrassen. Kunibert und Schorse wußten kaum noch, wie lange sie schon unterwegs seien, und meinten, wenn Marsilia nicht am andern Ende der Welt liege, müßten sie doch endlich einmal hinkommen. Eines Nachts ritten sie eine breite Hügelkette hinauf. Rechts und links vom Wege dehnten sich Wälder phantastischer Ölbäume, die mit ihren schmalen Blättern im Mondlicht flimmerten wie Silber. Die Straße erreichte den Kamm, vor ihnen lag es zwischen den Bäumen wie ein weit offenes Tor. Als sie hinanritten, sahen sie das schwarzblaue Meer mit langen, blassen Wogenkämmen unter dem sternenfunkelnden Himmel liegen. Sie gewannen die Höhe und hielten still; zu ihren Füßen 33
schlief, um die dunkle Bucht geschmiegt, eine große, weiße Stadt: das war Marsilia. Lange blickten sie hinunter. Dann trieben sie ihre Rosse an und folgten der Straße, die in weiten Biegungen bergab führte. Der Abstieg war lang. Als sie endlich den letzten großen Bogen hinter sich hatten und sich der Stadt näherten, war es heller Morgen. Am Tor hielt die Wache sie an. Der wichtige Torschreiber buchte die Namen, dann durften sie einreiten. Drinnen herrschte schon reges Leben. Bauern fuhren Lebensmittel aller Art nach dem Markt. Die Bäckerjungen liefen von einem Hause zum andern, und Milchwagen rasselten vorüber. In offenen Gewölben begannen die Handwerker ihre Arbeit, Tagelöhner gingen mit Gerätschaften auf der Schulter, einzelne dicke Bürger machten aus Gesundheitsrücksichten ihren Morgenspaziergang. Unsere beiden Reisenden waren müde; sie fanden am Markt einen schmucken Gasthof mit blitzblanken Fenstern, kehrten ein und ruhten aus. Gegen Mittag machten sie sich schön und gingen zum Schloß. Jetzt war lustiges Leben und Treiben auf allen Plätzen und Gassen. Geputzte Herren und Damen promenierten lachend und plaudernd vor reichen Läden, in denen alles feilgeboten wurde, was man sich nur denken kann. Andere ritten, saßen in stattlichen Karossen oder ließen sich in vergoldeten Sänften tragen. Dazwischen riefen Verkäufer ihre Waren aus; da gab es sowohl Früchte, Zuckerwerk und Blumen, als auch Luftballons, Bänder und Hampelmänner. Soldaten mit Musik und Trommeln marschierten vorbei; an allen Fenstern waren Blumen, 34
wehten Fahnen und hingen buntgestickte Teppiche hernieder. Darüber lachte die Sonne vom blauen Himmel. Kunibert fragte einen Bürger, ob ein Fest gefeiert werde, weil alles so geschmückt und froh sei. Der lachte. »Nein, Herr Ritter, bei uns in Marsilia ist das alle Tage so. Gott sei Dank!« Das Königsschloß lag etwa in der Mitte der Stadt in großen, herrlichen Gärten, die für jedermann offen waren. Es bestand aus vielen Gebäuden und war bunt und lustig anzuschauen. Häuser aus weißem, rosa oder gelbem Marmor wechselten mit hellgrünen, himmelblauen und blaßvioletten. Eins war moosgrün. Die Dächer waren dem angepaßt. Die Paläste lagen in wohlgeordneten Gruppen, zwischen denen sich weiße Kieswege um grüne Rasenplätze schlangen, die von schimmernden Fontänen übersprüht wurden. Inmitten der Gebäude betrat man schöne Höfe mit steinernen Brunnen und Bogengängen. Dort tummelten Reitknechte die Pferde des Königs, Kavaliere ritten einher und ließen sich von Damen bewundern, Prunkwagen hielten und warteten ihrer Herrschaft, Lakaien liefen nach der Hofküche und taten, als ob sie gar keine Zeit und wirklich was zu tun hätten. Zwischen allen Palästen sah man immer wieder in den schattigen Park. Kunibert fragte sich zum Hofmarschallamt durch, das er in dem Hause aus moosgrünem Marmor fand. Ein alter Kammerherr erklärte ihm, es sei heute gerade ein Freierstag und alles im blauen Kuppelsaal versammelt, der liege in einem Flügel des weißen Palastes. Aber er gab ihm doch lieber einen Diener mit. 35
Der blaue Kuppelsaal war das Wunder des Schlosses. Er war bei weitem der größte Saal darin, und die längliche Wölbung, die ihn deckte, wurde von einem einzigen, klarblauen Stein gebildet, der aussah wie Saphir. Niemand wußte, woraus sie eigentlich bestehe; sie sollte, samt den Marmorwänden, die sie trugen, so alt sein wie das Königreich selbst. Es ging die Sage, das wunderbare Gewölbe sei ein Geschenk der Jungfrau Maria an den ältesten Ahn des Königs, der ihr das erste Kloster erbaut habe. Dann gingen die Meinungen darüber auseinander, ob es ein Teil ihres Mantels sei, den die Jungfrau schützend über die Stätte gebreitet habe, oder ob sie die Decke von Engeln aus einem Stück ihres Himmels habe formen lassen. So sah es eigentlich aus. Im Innern war der lange Saal über die Maßen prächtig. Wegen des durchsichtigen Daches hatte er nur an den kurzen Seiten Fenster; an den andern Wänden aber blitzten so viel köstlich geschliffene Spiegel, daß nur schmale Pfeiler dazwischen blieben, die große Wandarme aus Bergkristall mit unzähligen Kerzen trugen. Das flimmerte und schimmerte bei abendlichen Festen zum Entzücken. Früher war es noch schöner gewesen. Der Fußboden bestand nämlich aus reinem Glas, und man war darüber hingegangen wie auf der Fläche eines Sees von klarstem Wasser. Der jetzige Zeremonienmeister, ein Edler von Buchsbaum, hatte es durchgesetzt, daß man die spiegelblanke Glätte mit dicken, weißen Teppichen belegte. Das war sehr unpraktisch, denn sie mußten jeden Morgen gefegt und jeden Sonnabend geklopft werden. Die Lakaien schimpften gewaltig. Aber der Zeremonienmeister, der 36
Edle von Buchsbaum, war etliche Male bei seinen kunstvollsten Verbeugungen ausgerutscht und hingefallen. Überdies war er der Ansicht, daß die Herren, wenigstens die unverheirateten, in der Überzeugung zu halten seien, daß die Damen des Hofes keine Füße hätten, sondern auf Rollen gingen – das erfordere der Anstand! Die boshaften alten Kammerherren schnitten schiefe Gesichter und seufzten, die gute, alte Zeit der Grazie und Galanterie sei unwiederbringlich dahin. Nur einmal im Jahr, am Geburtstag der Prinzessin, wurde auf deren besonderen Wunsch der weiße Teppich entfernt und ein Ball auf dem spiegelnden Glasboden abgehalten. Wer dabeigewesen war, konnte nicht genug erzählen, wie über alle Begriffe herrlich der Saal an solchen Abenden aussehe. Zwei Kammerherren und ein Kammerjunker, der eine schöne Hand schrieb, trugen Kuniberts Namen in ein dickes Buch ein, dessen Deckel himmelblau und mit vielen roten Herzen geschmückt war, aus denen Flammen in Gestalt eines Fragezeichens schlugen. Dann durfte er in Begleitung seines treuen Knappen den Kuppelsaal betreten. Dort war der ganze Hof versammelt; Hunderte von prächtig gekleideten Herren und Damen standen oder gingen umher, sprachen lebhaft miteinander und schienen sich köstlich zu unterhalten. An einer Fensterseite des Saales war der Fußboden erhöht. Hinter dem Thron waren schwere Vorhänge gezogen, die in reichen Falten niederfielen. Der eine Thronsessel war leer, auf dem andern saß König Kasimir, umgeben von Ministern und Großen seines Reiches. Unter 37
dem Königsmantel aus Purpur und Hermelin trug er ein langes Gewand von rotem, golddurchwirktem Damast, seine Beine staken in gelbseidenen Trikots, und an den Füßen hatte er weiche Brokatschuhe, die an den Knöcheln umgeschlagen waren. Zepter und Reichsapfel hatte er zwei Ministern zu halten gegeben, aber die goldene Krone saß auf seinen weichen, braunen Locken. Er war schlank und mittelgroß, seine blauen Augen blickten freundlich und heiter. Bei der Sorgfalt seiner Erscheinung und der zarten Frische seiner Haut nahm es sich seltsam aus, daß ihm große Bartstoppeln im Gesicht standen und er augenscheinlich seit mehreren Tagen nicht rasiert war. Zu Füßen des Throns standen Pagen und vor ihnen der Zeremonienmeister, der die zu beiden Seiten wartenden Freier einzeln aufrief, unter den Damen die Prinzessin zu erraten. Alle hatten sich schon vorher sorgfältig umgesehen, aber einem nach dem andern mißlang es; immer wurde eine falsche als die Prinzessin bezeichnet, und jedesmal gab das Anlaß zu großer Heiterkeit. Kunibert trat ein, machte eine tiefe Verbeugung vor dem Thron, vor den Würdenträgern und grüßte dann die übrigen Gäste. Er stellte sich an die Seite und sah sich um. Der Glanz der Versammlung und das wunderbare blaue Licht des Gewölbes nahmen ihn ganz gefangen. Unter den Freiern bemerkte er manch bekanntes Gesicht, das ihm unterwegs begegnet war. Die Wahl ging weiter, ein Freier nach dem andern mußte betrübt abziehen. Schließlich blieb Kunibert allein übrig und wurde vor den Thron gerufen. Er verbeugte sich tief und sprach: 38
»Mein König, viel edle Damen schmücken diesen Kreis, und eine ist immer schöner als die andere. Doch Prinzessin Sonja ist nicht unter ihnen!« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, breitete sich ringsum erstauntes Schweigen. Nur ganz hinten lachte noch eine kleine Hofdame, aber auch sie schwieg erschrocken still Der König hatte sich erhoben, der Zeremonienmeister trat zur Seite. »Herr Ritter«, fragte Kasimir, »warum glaubt Ihr das?« Wieder machte Kunibert eine Verbeugung und antwortete: »Erhabener König! Erblickte ich die Prinzessin, so müßte ich in die Knie sinken und alle andern mit mir, Beträte Prinzessin Sonja diesen Saal, würde sich strahlende Helle darin breiten, als ginge die Sonne auf. Und die blitzenden Spiegel dort an den Wänden, sie würden alle mit hellem Klang zerspringen, aus Verzweiflung, soviel Schönheit nicht wiedergeben zu können, und aus Neid darüber, daß ihr Abbild nie die Schönheit der Prinzessin Sonja erreichen kann!« Der König ließ sich Zepter und Reichsapfel geben, trat einen Schritt vor und sah den Ritter lange an. »Du hast recht«, sagte er. Auf seinen Wink glitten die großen Vorhänge ein wenig auseinander, und Kunibert erblickte ein junges Mädchen, in blasses Rosa gekleidet, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Sie trug einen schmalen, goldenen Reif im Haar, war blond und frisch und sah aus ihren lachenden, blauen Augen keck unseren Ritter an. Der ganze Hof, auch der König, schien erstaunt, aber man faßte sich schnell.
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Kunibert verneigte sich artig. »So berückend die Prinzessin ist, deren Anblick die Gnade des Königs mir gönnt«, sprach er, »so groß mein Glück wäre, dürfte ich ihr nahen – wer den Gedanken an Prinzessin Sonja im Herzen trägt, kann nicht irren!« Da knickste die rosa Prinzeß, machte dem König blitzschnell eine lange Nase, kam herabgesprungen und schob ihren Arm unter den Kasimirs. Im Saal hörte man unterdrücktes Kichern und Flüstern, der Zeremonienmeister erbleichte und mußte sich auf einen Stuhl setzen. »Aber Mira«, sagte Kasimir ein wenig vorwurfsvoll, »du hast auch nichts als dummes Zeug im Kopf.« »Ach, Onkel Kasimir, gib's auf, du kannst doch kein böses Gesicht machen«, war die Antwort. Der König wandte sich zu Kunibert: »Wieder hast du recht. Dies ist meine Nichte Mira.« In weiße, fließende Seide gekleidet, eine kleine, goldene Krone auf dem Haupt, war Prinzessin Sonja zwischen den Vorhängen erschienen. Kunibert strömte alles Blut zum Herzen, sein Blick wurde unsicher. Er trat zurück. Unklare Erinnerungen wogten in ihm. Agnete – ? Oder die Einsame im Boot, deren glänzenden Empfang im nächtlichen Hafen ihm Beppos Laterne gezeigt hatte? Hinter ihm beugten die Pagen die Knie, alle Gäste verneigten sich bis zur Erde, die Würdenträger senkten das Haupt und legten die Hand auf die Brust. Prinzessin Sonja tat noch einen Schritt, da wurde es licht im Saal wie von strahlendstem Sonnenschein, und klingend rissen die Spiegel von oben bis unten entzwei. Der Finanzminister fiel in Ohnmacht. Einmal im Jahr war
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es ja im Budget vorgesehen, aber zweimal! Man hielt ihm ein Riechfläschchen unter die Nase und brachte ihn hinaus. Kuniberts Blicke suchten die der Prinzessin. Sie hatte auf dem Throne Platz genommen, da kniete er vor ihr nieder und küßte den Saum ihres Gewandes. Kasimir hob ihn auf, und seine Hand in der einen, die Sonjas in der anderen haltend, sagte er: »Du hast die erste Probe bestanden, und ich verlobe dich nun mit meiner Tochter. Ihr dürft aber nicht eher heiraten, als bis die beiden andern Bedingungen erfüllt sind, deren nächste du noch heute erfahren sollst.« Der König winkte, das Brautpaar trat vor, man drängte herzu, und der Edle von Buchsbaum hatte alle Hände voll zu tun, schnell eine gehörige Gratulationsdefiliercour anzuordnen. Zu seinem großen Ärger stieg Schorse die Stufen hinan, machte ein paar Kratzfüße und schüttelte seinem Herrn, der Prinzessin, selbst dem Könige die Hand – und die nahmen es nicht einmal übel. Jetzt tat der entsetzliche Mensch, der keine Ahnung von irgendwelcher Etikette zu haben schien, auch noch einen Luftsprung, schlug dem Verlobten der allerdurchlauchtigsten Prinzessin frech auf die Schulter und schrie: »Fein, was wird sich Frau Schute freuen!« Während des großen Prunkmahls mit Musik – zuerst gab es eine sehr schöne Bouillonsuppe – sammelte sich das Volk vor dem Schloß, denn die Nachricht war schnell hinausgedrungen, und alle wollten die Prinzessin und den glücklichen Ritter sehen, der womöglich einmal ihr König werden würde.
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Es half nichts, man mußte vom besten Essen aufstehen, gerade als der köstliche Gang queue de mouton à la fourchette du roi, sauce pastorale, aufgetragen wurde. Der König ging mit Prinzessin Sonja und Kunibert auf den Balkon. Auch Prinzessin Mira schloß sich an und schleifte sogar einen flachsblonden Kammerjunker mit Kalbsaugen mit, dem sie das Apportieren beigebracht hatte. Den holte aber der Edle von Buchsbaum schnell wieder herein. Der Platz vor dem Schloß war voll dichtgedrängter Menschen. Seit vielen Jahren hatte sich Sonja der Freier wegen nicht öffentlich gezeigt. Kaum einer aus der Menge hatte sie je gesehen. Nun erregte ihr Erscheinen neben Kunibert doppelte Freude. Der Jubel und die Hochrufe wollten kein Ende nehmen. Die Fensterscheiben zitterten, und dem armen Finanzminister wankten die Knie. Die Leute unten schrien immer toller, warfen Hüte, Stöcke und Schirme in die Luft, die Straßenjungen kletterten an den Laternen hinauf, man winkte mit Händen und Taschentüchern und schleuderte Massen von Blumen gegen das Schloß. Dann nahte der Festzug. Eine große bunte Musikkapelle zog voran, geschmückte Wagen mit den Vätern der Stadt folgten. Der Bürgermeister, der vor Begeisterung beinahe platzte, hielt eine jubelnde und rührende Rede, nach der ihn der König zu einem Glase Wein herauf winkte. Der Zug ging weiter; es kamen die Professoren der Universität, die Ärzte und die Gelehrten der Stadt. Der älteste von ihnen hielt eine Ansprache in lateinischen Versen, die niemand verstand, und die endlich auch einen Schluß hatte. Er wurde hinaufbefohlen wie alle Sprecher nach ihm. 42
Die Gewerbe und Handwerker waren vollzählig vertreten, mit allen Innungen, deren blumengeschmückten Abzeichen und wehenden Fahnen. Jeder einzelne hatte sich mit Bändern und Sträußen festlich hergerichtet. Als alle Handwerker mit ihren Musikkapellen und Bannern vorübergezogen waren, erschienen die Kaufleute, die jenen aus Höflichkeit den Vortritt gelassen hatten, doch noch immer war der Zug nicht zu Ende. Mit langsamen, wuchtigen Schritten nahte die Schiffergilde. Voran ging ein mächtiger Mann mit eisgrauem Bart. Er mußte weit über sechs Schuh messen und kam in großen Transtiefeln mit Ölrock und Südwester daher. Hinter ihm geleiteten die Alten der Schiffer, Lotsen und Fischer einen schlichten Wagen, auf dem sie ein Boot gefahren brachten, das war dunkel geteert und hatte schwarze Segel. Der Wagen hielt, der Obmann zog den Südwester vom Kopf und erzählte mit lauter, ruhiger Stimme, daß dies Schiff das jüngste der aus der gemeinsamen Werft der Gilde hervorgegangen sei. Er bat, daß es auf den Namen der Prinzessin getauft werden dürfe, und versprach dafür im Namen aller, daß der Kutter, welcher der seetüchtigste und schnellste der ganzen Küste sei, Tag und Nacht fahrbereit im Hafen liegen solle, um der Prinzessin zu dienen, wann und wozu sie auch seiner bedürfe. Dann sagte er in einer merkwürdigen altertümlichen Sprache, die niemand mehr verstand, einen langen Spruch mit dumpfklingenden Reimen her. Als Kunibert das Boot sah, wurde ihm wunderlich zumut, und er flüsterte der Prinzessin zu: »Sonja, kennst du das Schiff?«
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Sie blickte zu ihm auf, denn er war ein wenig größer als sie, und antwortete ebenso leise: »Wie kannst du mich so seltsam fragen, Kunibert? Eben dachte ich auch daran. Mir ist, ich träumte irgendwann von ihm, doch da fuhr es auf einem blutroten Meer.« »Was träumtest du noch?« fragte er weiter. »Vielerlei«, gab sie lächelnd zurück, »aber das erzähle ich dir ein andermal.« Sie grüßte dankend hinab. Der Wagen fuhr weiter, die Schiffer, Lotsen und Fischer zogen vorüber, hinterher mit Mützenschwenken und singend die jungen Matrosen und die lustigen Schiffsjungen. Endlich war alles vorbei. Unter brausenden Hochrufen zog man sich vom Balkon zurück; der Braten war warmgestellt worden, und man aß weiter. Prinzessin Sonja und Kunibert schrieben zwischen zwei Gängen eine Karte mit dem Inneren des blauen Saals an Frau Schute, auch Schorse durfte seinen Namen daraufmalen. Sie wurde vom Postminister sofort einem Eilboten übergeben. Der Mensch vertrank jedoch noch am selben Abend sein ganzes Reisegeld, und so blieb es lange ungewiß, ob und wann die Botschaft den Ort ihrer Bestimmung erreichen werde. Nach Tisch versammelte sich die königliche Familie im engsten Kreise auf der Terrasse des gelben Marmorpalastes. Nicht einmal der Edle von Buchsbaum durfte dabeisein. »Gott sei Dank«, sagte König Kasimir, nahm die Krone ab, legte sie auf die steinerne Brüstung und betupfte sich mit dem seidenen Taschentuch die Stirn, »Gott sei Dank, Kinder, das war schön, aber anstrengend.«
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Mira schenkte den Kaffee ein und reichte die erste Tasse ihrem Onkel. Der nahm sie und rührte den Mokka mit dem goldenen Löffelchen um, damit der Zucker schneller schmelze. Dabei begann er: »Nun, lieber Kunibert, will ich dir sagen, was du zunächst zu tun hast, um Sonja zu gewinnen. Die zweite Probe, die ich dir auferlegen muß, ist etwas schwerer als die erste. Laß mich ein wenig ausholen, damit du verstehst, worauf es ankommt. Zunächst muß ich dir erzählen, daß leider, leider vor einigen Wochen mein Hofbarbier gestorben ist, der noch meinen seligen Vater rasiert hatte. Der Mann war ein Künstler in seinem Fach; er hatte eine wunderbar leichte Hand, und man spürte sein Messer kaum wie einen sanften Hauch. Ich kann auf keine Weise Ersatz für ihn finden. Alle seine Nachfolger, und sie haben sich weiß Gott Mühe gegeben, haben mich jämmerlich zerkratzt und zerschunden. Mag ja sein, daß ich besonders empfindlich bin. Ich habe Preisausschreiben und Aufrufe durch mein ganzes Königreich erlassen. Zu Hunderten kamen sie, und alle meine Kammerherren haben sich zur Probe rasieren und schaben lassen müssen, bis sie aussahen wie geplatzte Pellkartoffeln. Da habe ich es aufgegeben und lasse mir seitdem den Bart stehen, was ich sehr häßlich finde und mir außerdem unbequem ist, weil ich nicht daran gewöhnt bin. Eines Abends hat mir mein Leibastrolog aus den Sternen folgende Geschichte vorgelesen, die einen Schimmer von Trost in sich birgt.« Kasimir nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort: »In grauer Vorzeit liebte die Fee Süffisande einen jungen König, der einen so starken Bartwuchs hatte, daß er die zarten Wangen der Fee arg zerkratzte. Da ließ Süffisande, 45
des ewigen Coldcreams müde, von flinken Zwergen ein kunstvolles Rasierzeug anfertigen. In einem mit weichem Saffian bezogenen Silberkasten lagen auf purpurrotem Samt Spiegel, Messer, Pinsel, Becken und Seife. Ein Streichriemen war nicht nötig, denn das Messer kann sowenig stumpf werden, wie die Seife sich abnützt. Über das Ganze sprach die Fee einen mächtigen Bann. Wenn man das Zauberwort sagt, das sie ihrem Geliebten verriet, kommt der Spiegel aus dem Kasten und stellt sich auf, der Pinsel schlägt mit der Seife im Becken Schaum, fährt schnell im. Gesicht umher und seift es ein, das Messer springt heraus und rasiert einen im Fluge und, ohne daß man das geringste spürte, so weich und glatt, als habe man nie an einen Bart auch nur gedacht. Nach getaner Arbeit ist alles wieder sauber, kehrt an seine Stelle im Kasten zurück, und der Deckel schließt sich. Das Wunderwerk ist noch auf der Welt; leider konnte mein Astrolog nicht feststellen wo, noch über welches Land der König herrschte oder wie er hieß. Auch der Aufenthalt der Fee Süffisande ist unbekannt. Dies köstliche Rasierzeug, lieber Kunibert, bitte ich dich, mir zu verschaffen. Das ist die zweite Bedingung. Mögest du deine Aufgabe rasch und glücklich lösen!« Kunibert erhob sich und sagte: »Noch heute werde ich in See stechen. Schorse, geh schnell zum Hafen und suche ein Schiff, das vor Mitternacht ausfahren kann.« Der Knappe verschwand. Sonja sah gedankenvoll vor sich hin. »Am Ende«, meinte sie, »ist das auch ein Spiegel für mich, wenn er einen so starken Zauber birgt. Jetzt kann ich mich immer nur im Wasser eines Sees spiegeln und muß alles meinen Kammerfrauen überlassen. Nur der 46
Fußboden des blauen Saals hält es noch aus, weil er so dick ist, aber seit die dummen Teppiche liegen – und dann kosten die andern Spiegel auch auf die Dauer zuviel.« »Ich muß das Rasierzeug finden, und ich werde es finden«, rief der Ritter, »und sei es am Ende der Welt!« »Daß du es aber nicht ausprobierst, Kunibert«, bat die Prinzessin eifrig, »das mußt du mir versprechen.« Und ihre Augen ruhten besorgt und zärtlich auf dem weichen, kastanienbraunen Schnurrbart ihres Verlobten. Gegen Abend kam Schorse zurück. Er war schlechter Laune. Es liege nur ein Schiff im Hafen, das heute abend in See gehen könne, aber der Kapitän sei ein grober Kerl und wolle niemand mitnehmen. Kasimir fragte Schorse, wie das Schiff heiße und ob er nicht gesagt hätte, von wem er komme. »Doch«, erklärte der Knappe, »gesagt habe ich es schon, aber er meinte, das sei ihm ganz egal, und wenn es des Teufels Großmutter wäre, er nähme sie nicht mit. Das Schiff heißt der ›Kuhklops‹ oder so ähnlich. Der Kapitän mag den Namen augenscheinlich nicht gern hören, denn er drohte, mich wie eine junge Katze ersäufen zu lassen, wenn ich ihn noch einmal sagte. Dabei ist der alte Kerl kaum zu verstehen. Weil er Seemann ist, bildet er sich ein, er müsse Platt sprechen, und kann es gar nicht. Der König schüttelte den Kopf und befahl, einen anderen Boten auszusenden, um den Kapitän zu rufen. Nach geraumer Zeit meldete ein Lakai zwei Seeleute. Auf das Kopfnicken Kasimirs traten sie näher. Voran kam ein kurzer, breiter Mann mit weißem Haar und zugekniffenen
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Augen. Ein gelblicher Bart lief unter seinem glatten Kinn von einem Ohr zum anderen. Er schob seinen Kautabak mit der Zunge hinter die Zähne und pflanzte sich breitbeinig auf, in einer Faust den Hut, die andere in der Rocktasche. Seiner roten Nase nach war es der Kapitän. Neben ihn stellte sich der Steuermann, jünger, groß und breitschultrig, mit kurzem, spitzgeschnittenem blondem Bart. Er trug einen blauen seemännischen Anzug. »Dag ok«, sagte der Kapitän, »un altid vorup!« Der Steuermann hustete und versuchte, so etwas wie einen Bückling zu machen; er sah alle der Reihe nach mit hellen Augen an. »Herr Kapitän«, begann Kasimir freundlich, »wollt Ihr heute abend den Ritter Kunibert und seinen Knappen mit in See nehmen?« Der Seebär schüttelte stumm den Kopf und gab keinen Laut von sich. Der König wiederholte: »Ich meine, ob Ihr nicht auf Eurem wackern Schiff den Ritter und seinen Knappen mitnehmen wollt. Es braucht ja nicht unbedingt schon heute zu sein.« Der Kapitän schob sein Priemchen mit einem Ruck in die linke Backentasche. »Da hett ne Ule seeten«, sagte er. »Wie meinen Sie?« erkundigte sich Kasimir. Der Seemann grinste. »Da hett ne Ule seeten, Herr König«, wiederholte er breit. »Es wäre mit lieb«, bat Kasimir, »wenn Sie mir Ihre Gründe etwas ausführlicher auseinandersetzen wollten,
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denn ich kann mir gar nicht denken, was Sie eigentlich gegen den Ritter und seinen Knappen haben.« Der Kapitän wiegte den Kopf. »Gegen den Ridder«, erklärte er, »harr ik gor nix intauwennen, awersten de Düwel schall mi sösteinmal int Water smieten un wedder heruthalen, wenn ik den murdverbrannten Kakeljan da an Bord nehmen do.« »Was hat Ihnen mein Knappe denn getan?« fragte Kunibert. »Hei hett up min Schipp schimpt, hei hett dor en Namen for seggt, den mag ik gor nich wedder seggen. Min Schipp het de ›Cyklop‹, was en ollen Griechen west is, un wer da wat anners seggt un von Kühen un Klopsen redt, dem slag ik den Brägenkasten in. So, un nu kann wi woll gähn. Adjüs ok, Herr König, un altid vorup, as de olle Petersen seggt.« »Nun, nur nicht so schnell, Herr Kapitän«, rief Kasimir begütigend. »Der Mann hat sich eben geirrt, hat falsch gelesen und es sicher nicht böse gemeint, dafür will ich Ihnen bürgen. Ich denke, wenn ich für jeden Fahrgast hundert Pistolen gebe und der Knappe sich entschuldigt, sehen Sie die Sache vielleicht anders an. Sie können schließlich von einem Landbewohner nicht so genaue nautische Kenntnisse verlangen.« Der alte Seebär war stehengeblieben und sah auf Schorse. Kunibert gab seinem Knappen einen Rippenstoß. »Herr Kapitän«, sagte Schorse, indem er vortrat, »es tut mir leid, daß Sie sich so geärgert haben. Entschuldigen Sie
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man und nehmen Sie uns ruhig mit, ich habe es nicht schlimm gemeint.« »Na, for mienswegen denn«, brummte der Alte. »Awersten, dat segg ik di, wenn du dat Wurt noch mal utsprekst, dann kannst du bi de Haifische Swimm-stunde nehmen, die wem die denn woll de Knaken langtrecken. Und de twehunnert Pistolen möt ik gliks hebben.« Während das Geld geholt wurde, verabredete man die Abfahrt auf elf Uhr abends. Die zweihundert Pistolen wurden aufgezählt, und schmunzelnd steckte Kapitän Petersen in jede Rocktasche einen schweren Beutel. »Altid vorup«, sagte er und stülpte den Südwester auf. Der Steuermann versuchte seinen Bückling, und beide gingen. Im Schloß war nur kleine Abendtafel, aber sie dauerte doch so lange, daß man sich mit ihrem Ende nach dem Hafen begeben mußte. Es gestaltete sich ein langer Zug, denn Kunibert sollte im Triumph zu seinem Schiff geleitet werden. Der ganze Hof schloß sich an, und aus der Stadt strömte es in hellen Haufen herbei. In der vordersten Galakutsche saßen der König, Sonja, Mira und Kunibert. Kasimir war müde, es war eine schweigsame Fahrt. Man hörte nur die Musik und das Gewirr der Menge. Vor dem Hafen verließen alle die Wagen, und man ging zu Fuß. Der »Cyklop« war segelfertig; eine dreirudrige Galeere lag bereit, ihn bis vor die Mole zu schleppen. Der Kapitän und der junge Steuermann standen an der Laufbrücke und grüßten. Man stellte sich im Halbkreise vor dem Schiffe auf, und es galt,
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Abschied zu nehmen. Die Musikkapelle spielte. Alle drängten herzu, um Sonja und Kunibert zu sehen. Die Hellebardiere konnten kaum Ordnung halten. Plötzlich fühlte Kunibert, daß jemand von hinten seine Hand berührte. Er blickte sich um, ein gebückter Mann in einem weiten Mantel, einen riesigen Schlapphut tief in die Stirn gezogen, stand neben ihm. Der Fremde steckte ihm ein winziges Kästchen zu und flüsterte: »Von fernen Freunden, die immer nahe sind.« Dann war er verschwunden. Der Ritter barg die geheimnisvolle Gabe schnell in der Tasche, denn schon zog ihn jemand am andern Arm. Ein freundlich aussehender Mann hielt ihm ein Blatt hin und sagte eindringlich: »Sofort lesen, von eminenter Wichtigkeit. Sie dürfen nicht reisen, ohne dies unterschrieben zu haben. Es wäre unverantwortlich. Denken Sie an Ihre alte Mutter!« Kunibert sah näher hin, es war die Police einer Unfallund Lebensversicherung für die Reise. Unwillig wandte er sich ab. Hellebardiere rissen den Frechen, der, sich verzweifelt wehrend, mit dem Papier in der Luft herumfuchtelte, zurück. Als unser Ritter auf Kasimir zutrat, bemerkte er, wie der Edle von Buchsbaum dem Könige einen gewaltigen Kasten überreichte. »Richtig«, rief der König, »mein lieber Buchsbaum, das hätte ich doch bestimmt wieder vergessen.« Darauf gab er dem Ritter den Kasten und sagte: »Hier, lieber Kunibert, verleihe ich dir den großkarierten
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Nashornorden mit Piepvögeln und Heupferden auf der Rückseite, erster Klasse, zum Halse heraus, mit Stern, Band, kurz mit allen Schikanen. Ich weiß zwar nicht recht, was du damit sollst, aber mein Zeremonienmeister, der sich darauf versteht, meint, es sei unerläßlich, wenn du an fremden Höfen als mein zukünftiger Schwiegersohn auftreten willst. Die Brillanten sind übrigens echt; hoffentlich brauchst du sie nie, sonst tu dir keinen Zwang an.« Kunibert dankte geziemend. Der König umarmte den Ritter herzlich. »Leb wohl, komm gesund wieder und bring mir bald das Rasierzeug. So ein Vollbart ist schauderhaft.« Mira schüttelte dem Ritter freundlich die Hand und lachte: »Sei brav, Kunibert, und bring mir auch was Schönes mit.« Aber Sonja gab ihm eine Rose aus ihrem Strauß und sagte lächelnd: »Rot ist ja deine Farbe. Ich hoffe, die Dornen werden nicht schlimm sein!« Kunibert küßte ihr die Hand. »Und wenn sie es wären, Prinzessin, ich würde sie nicht fürchten!« Er trat zurück, grüßte Sonja, den König sowie alle andern und ging auf die Laufbrücke. Schorse ergriff sein Gepäck, machte mehrere Kratzfüße und schritt stolz hinter ihm drein. Die Brücke wurde eingezogen, und der alte Petersen rief: »Tüderjan, büst all klor?« Eine hohle Stimme tönte aus dem Dunkel zurück: »Ja Komma Kaptein Komma ganz klar Punkt.« »Na, denn altid vorup!« schrie Petersen.
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Am Lande herrschte einen Augenblick Stille, dann erhob sich fröhliches Lachen und Rufen. Die Galeere setzte sich in Bewegung, und der »Cyklop« folgte langsam. Die Musik blies einen Tusch, der König und die Prinzessin winkten, die Menge rief: »Hoch!« und warf Blumen. Jubelnd lief das Volk auf dem Kai neben den Schiffen hin bis zur Mole hinaus. Der Schlepper machte los und verließ den »Cyklop«, der in das Dunkel hineinglitt. Draußen stand die Brandung hoch, denn es war Wind aufgekommen, und die Wogen donnerten sprühend gegen die Klippen. Doch das stolze Schiff achtete ihrer nicht und stach kühn mit windgeblähten Segeln in die haushohen Wellen.
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FÜNFTES ABENTEUER
DIE MEERFAHRT Die ersten Tage war das Wetter stürmisch. Schorse litt am meisten darunter, denn die Seekrankheit hatte ihn gepackt. Er spuckte greulich und fluchte zwischendurch auf die Erfinder der Schiffahrt. Sein Herr teilte ihm mit, daß man die Phönizier dafür verantwortlich zu machen pflege. »Das hätte ich mir denken können«, grunzte Schorse, »so sehen die Kerle aus. Bande! Na, wartet.« »Hast du denn schon mal einen gesehen?« erkundigte sich Kunibert. »Und ob«, fuhr der Knappe auf. »Die rennen ja mit ihrer Ledermappe unterm Arm jedem die Tür ein. Hinterher nageln sie ein Schild mit ›Phönix Feuerversicherung‹ ans Haus, und dann wollen sie jedes Jahr Geld haben wie von meinen armen Eltern. Dabei nutzt es gar nichts, die Häuser brennen ebensogut wie jedes andere. Der Mann, dem Sie bei der Abfahrt den Zettel unterschreiben sollten, war womöglich auch so ein verdammter Phönizier. Natürlich, er hatte ja auch 'ne Mappe.« Kunibert wollte den Knappen über seinen Irrtum aufklären, aber Schorse, der fühlte, daß sein Innerstes sich umkehrte, winkte ab und wankte bleich zur Bordwand. Als er wiederkam, sagte er: »Es heißt überhaupt Gott versuchen, sich in einem so kleinen Schiff auf ein so großes Meer zu wagen. Es hat auch gar keinen Sinn. Ich meinesteils tue es nie wieder. Nie wieder!«
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»Aber, Schorse«, versetzte der Ritter lachend, »du wirst doch mit mir nach Marsilia zurückfahren wollen?« »Wenn es zu Lande geht, sofort!« erklärte der Knappe. »Aber zu Wasser? Nein. Da bleibe ich schon lieber in Afrika, und wenn ich eine Mohrin heiraten und einen Kramladen anfangen muß. Wenn Sie klug sind, machen Sie es ebenso. Es gibt sicherlich überall reiche Könige mit schönen Töchtern, und Kasimir kann sich seinen Rasierapparat geradesogut selber suchen, anstatt zwei ehrliche Christenmenschen mit so einer Wellenschaukel in den sicheren Tod zu schicken, bloß weil er sich nicht, wie jeder vernünftige Mensch, selbst rasieren kann. Denn, daß das hier nicht gut geht, sieht jedes Kind!« Was Schorse am meisten ärgerte und ihn in seinen leichteren Augenblicken schreckliche Rachepläne schmieden ließ, war der Spott der Matrosen, die eine unbändige Freude an ihm hatten. Sie mochten ihn nicht, denn sie konnten ihm den Namen nicht vergessen, mit dem er, nach ihrer und des Kapitäns Meinung, ihr wackeres Schiff so tief gekränkt hatte. Sie verschworen sich, ihn zu erschlagen, wenn er das Wort noch einmal ausspräche. So blieb denn, auch als das Wetter schön geworden war und Schorse sich an das Seefahren gewöhnt hatte, ein gespanntes Verhältnis zwischen ihm und dem Schiffsvolk bestehen. Doch beließ man es bei Blicken und herausfordernden Worten, denn einerseits war Schorse ein stämmiger Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen war, wenn es darauf ankam, und andererseits war da noch Kunibert und vor allem der alte Tüderjan, der auf Ruhe und Ordnung hielt. Vor dem Ersten Steuermann hatten die 55
Matrosen eine abergläubische Furcht, und so warteten sie einen günstigen Augenblick ab. Der alte Tüderjan war wirklich ein merkwürdiger Mensch. Er war riesengroß, und von seinem verrunzelten Gesicht war eigentlich, außer den scharfen, dunklen Augen, nichts zu sehen als ein mächtiger, weißer Bart, der wild nach allen Seiten wuchs. Wenn er sprach, was freilich selten vorkam, öffnete sich in dieser stachlichten Wildnis etwas wie ein Scheunentor. Ein Pferd hätte scheu werden können. Er mußte uralt sein und fuhr länger als alle andern mit dem »Cyklop«. Petersen hatte ihn vorgefunden, als er das Schiff übernahm. Kapitän hatte der Alte nicht werden wollen; selbst das bißchen Schreiberei, das allerdings auch Petersen von seinem Zweiten Steuermann besorgen ließ, war ihm ein Greuel. Tinte sei Teufelsdreck, behauptete er standhaft. Er war einmal von seinem Reeder gefragt worden, wann er geboren sei; da hatte er den Mund zu einem Grinsen von einem Ohr bis zum andern geöffnet, daß sich, sein Brotherr hatte am Tisch festhalten müssen, um nicht umzufallen, und mit seiner hohlen Stimme, die wie ein nahender Orkan klang, geantwortet: »Das Komma Herr Reeder Komma habe ich vergessen Komma denn ich war damals noch sehr klein Punkt.« Klaus Tüderjan verachtete nämlich das Plattdeutsche und im Grunde auch jeden, der es sprach. Er hatte es immer ungebildet gefunden und sich deswegen schon vor langer Zeit ein Büchlein »Richtig deutsch sprechen« gekauft, das er während einer endlosen Windstille in der Südsee von vorn bis hinten auswendig gelernt hatte, zur Sicherheit samt der Interpunktion. Die gehörte nach seiner 56
Ansicht dazu. Erst das sei das richtige Hochdeutsch, erklärte er, und jeder, der es nicht nur aus Unwissenheit anders spräche, sei ein Windhund und sicherlich unzuverlässig. Bei alledem war der Alte ein Seemann wie kein zweiter, hatte alle Meere befahren und unzählige Stürme und Schiffbrüche glücklich überstanden. Er roch das Wetter drei Tage vorher, und seine Augen waren schärfer als das längste Fernrohr. Der Reeder war froh, daß er in seinem Dienst blieb, denn er wußte noch von seinem Großvater her: ein Schiff, das Klaus Tüderjan verließ, ging auf der nächsten Reise rettungslos unter. An einem sonnigen Nachmittag glitt der »Cyklop« mit guter Fahrt, unter seinem weißen Segel leicht auf der Seite liegend, durch das strahlend blaue Meer. Bei dem guten Wetter saß die Mannschaft fröhlich auf dem Deck beisammen. Der rothaarige Zebedäus spielte Ziehharmonika, während Schlüter, etwas außerhalb des Kreises sitzend, vergnügt in sein märchenhaft dick belegtes Mettwurstbutterbrot biß, dessen stockweiser Aufbau sein Geheimnis war. Der Musikant hatte soeben das »Seemannslos« zum besten gegeben, da riefen alle: »Auf, nun lasset uns das schöne Cyklopenlied singen! Greift doch kein zweites gleich ihm an die Seele und macht sie so weit, so frei. Spiel zu, Zebedäus, spiel zu!« Auch Schlüter stimmte mit vollen Backen ein, und kernig erscholl aus den jungen Kehlen das frische Lied: Schiff ahoi! Die Anker gehißt!
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Heißa »Cyklop«! Wie groß ist die See. So weit ich auch seh', Überall Meer, Und wo es zu Ende ist, Da ist noch mehr. Wo ich auch schau, schau, schau, Alles ist blau, blau, blau! Heißa »Cyklop«! Den alten Seebären oben auf der Brücke wurde es warm ums Herz bei dem markigen Sang, den die braven Blaujacken nicht oft genug wiederholen konnten. Als sie endlich schwiegen, blickten sich die beiden Männer stumm an, und einem jeden rann es salzig die wettergebräunte Wange hinab. »So eine Hitze Punkt Gedankenstrich«, sagte Tüderjan und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Augen suchten den Horizont ab und hefteten sich auf eine Stelle. Dann wandte er sich zu Petersen und meinte bedächtig: »Kaptein Komma wenn du zehn Strich Backbord abfallen läßt Komma dann läuft der ›Cyklop‹ fünf Knoten mehr Punkt.« »Altid vorup«, erwiderte Petersen, »dat kann woll sin, awersten dats min Kurs nich, un wotau schall ik da in de Welt rumjökeln? Ik segg man jümmer altid vorup.« Aber Klaus Tüderjan tat wiederum sein Scheunentor auf: »Kaptein Komma wenn du zehn Strich Backbord abfallen läßt Komma dann läuft der ›Cyklop‹ fünf und einen halben Knoten mehr Ausrufungszeichen.«
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Petersen horchte auf. Wenn der Erste Steuermann mit Ausrufungszeichen sprach, war etwas los; doch er konnte sich durchaus nicht denken was, und so murmelte er bloß: »Ik segg man jümmer, altid vorup, un dat is so, as dat Ledder is.« Noch einmal kam es dumpf aus Tüderjans Schlund: »Kaptein Komma wenn du zehn Strich Backbord abfallen läßt Komma dann läuft der ›Cyklop‹ sechs Knoten mehr zwei Ausrufungszeichen und ein Gedankenstrich.« Darauf machte Klaus kehrt, stieg die Treppe hinab und verschwand in der Richtung seiner Kajüte. Der Mann am Ruder sah Petersen an, griff sich an den Kopf und sagte: »Dat is ne bannige Hitze heut, Kaptein.« Der aber warf sich in einen Liegestuhl, zog die Mütze übers Gesicht und schlief ein. Nach einiger Zeit kam Kunibert vom Vorderschiff her und begegnete seinem Knappen am Großmast. »Nimm dich in acht, Schorse«, rief er ihm zu, »die Matrosen lauern dir auf. Sie wollen dir die Seetaufe geben und haben schon ein großes Faß aufgestellt.« Damit ging er weiter. Na, das wäre doch, dachte Schorse, aber kaum war der Ritter weg, sprangen auch schon die Matrosen vor und umringten ihn. Kurz entschlossen rannte er zwei um und lief davon. Jubelnd folgten sie ihm, er konnte ihnen ja nicht entkommen; doch da schrie die Wache im Mastkorb, die mit Spannung die Ereignisse an Bord verfolgt hatte: »Segel in Sicht!« Davon erwachte sogar der Kapitän. »Wo?« rief er und griff nach dem Fernrohr, aber er hatte weder dies noch
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Antwort nötig. Ganz nahe schössen drei Feluken auf sein Schiff zu. »Alle Mann an Deck!« schrie der Steuermann. »Seeräuber! Klar zum Gefecht!« Es war zu spät. Ehe man auch nur Waffen gefunden hatte, war der »Cyklop« schon geentert. Die Überzahl machte jeden Kampf aussichtslos, man mußte sich ergeben. Vielleicht ließen die Piraten mit sich handeln. Die Feluken hatten am »Cyklop« festgemacht, und wilde Gesichter, weiße, braune und schwarze, sahen, Schwerter oder Dolche in den Zähnen, von allen Seiten über die Schanzkleidung. Endlich erschien der Räuberhauptmann selbst auf der Reling. Er war kugelrund und ganz in knallrote Seide gekleidet. Auf dem Kopf trag er einen mächtigen, mit dem Halbmond und vielen Federn geschmückten Turban. Der große Schnauzbart gab seinem Gesicht etwas äußerst Martialisches; eine breite, grüne Schärpe, in der zwei Pistolen mit ungeheuren Mündungen staken, umwand seinen Bauch. Wild rollte er die Augen, und in jeder seiner brillantenblitzenden Hände einen entsetzlich krummen Säbel schwingend, kam er mit einem gewaltigen Satz auf das Deck. Er schien sehr wütend zu sein, denn eine ganze Weile sprang er wie ein Gummiball auf und nieder und schrie wie besessen dazu: »Bassa manelka! Bassa manelka!« Als er glaubte, das Schiffsvolk genügend in Schrecken gesetzt zu haben, hörte er auf und schlug zum Überfluß noch schnell zwei der Zunächststehenden die Köpfe ab, mit jedem Säbel einen. Dabei erwischte er allerdings einen seiner eigenen Leute. »Bassa manelka«, rief er, »das ist ja Abu Hassan. Da müssen wir seiner Frau einen anderen 60
Mann mitbringen. Wir wollen ihr einen aussuchen«, setzte er, durch seinen Mißgriff ein wenig abgekühlt, hinzu. Er blickte umher. »Wer ist das?« sagte er und zeigte auf Schorse. Schorse hatte in dem allgemeinen Wirrwarr des plötzlichen Überfalls Petersens Fernrohr erwischt und es ans Auge gesetzt. Leider verkehrt. So hatte er ein kleines Gesichtsfeld und sah nur den dicken Piraten in weiter Entfernung auf und nieder hüpfen. Der ist aber mal schnell ausgekratzt, dachte der Knappe. Hei, wie der alte Kümmeltürke sich ärgert. Der huppt ja wie ein Zinshahn. Aus diesem schönen Traum wurde Schorse durch eine rauhe Faust gerissen, die ihm das Fernrohr aus der Hand schlug. Im Umsehen hatten ihn die Seeräuber, noch ehe er sich von seinem Erstaunen halbwegs erholt hatte, gefesselt und vor ihren Anführer geschleppt. »Das ist der Kapitän«, versicherten sie, »er hielt das Fernrohr in der Hand.« »Bassa manelka!« donnerte der Pirat. »Gerade der Richtige für Abu Hassans Witwe. Recht geschieht's dem Christenhund.« Schorse riß die Augen weit auf. So einen Menschen hatte er noch nie gesehen. »Geehrter Herr Oberpirat«, fing er an, doch der Räuberhauptmann winkte, und er wurde abgeführt. Die Räuber durchsuchten das Schiff, und die ganze Bemannung mußte sich in einer Reihe aufstellen. Alle waren da, nur Tüderjan fehlte und kam auch nicht zum 61
Vorschein. Später bemerkte Petersen, daß auch die Jolle verschwunden war, aber rätselhaft blieb es doch. Der Hauptmann schien mit seiner Beute zufrieden zu sein. Sehr erfreut war er über Kunibert. »Gut behandeln«, befahl er, »gut behandeln. Ein richtiggehender Ritter. Daß ihr ihm nichts wegnehmt. Ohne Schwert und Sporen ist ein Ritter nicht echt und höchstens die Hälfte wert.« So durfte Kunibert seine Sachen behalten und sogar in der Kajüte bleiben, während die andern gefesselt in den Raum oder auf die Feluken gebracht wurden. Der »Cyklop« erhielt eine neue Bemannung und mußte als gute Prise mit den drei Feluken nach deren Heimathafen segeln.
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SECHSTES ABENTEUER
DER KÖNIG VON SPEYER Es war alles so gekommen, wie es kommen mußte, und wie es sich Kunibert gleich hätte sagen können, da er sowohl mehrere Ritterromane als auch einige romantische Opern kannte. Ein reicher Moslem hatte ihn gekauft und ihn, da er kein Handwerk verstand, zum Gärtnersklaven gemacht. Kunibert waren die nötigen Demütigungen, denen ein Christ im Dienste eines Ungläubigen ausgesetzt ist, widerfahren, und die schöne Tochter des Hauses hatte nicht gezögert, sich in den interessanten Sklaven zu verlieben. Ja, sie hatte sogar mit der Zeit in dem alten Obergärtner eine solche Befähigung zum Plantagendirektor entdeckt, daß er auf die Besitzungen im Innern geschickt wurde und der Ritter an seine Stelle aufrückte. Wirkungslos waren an Kuniberts treuer Seele alle Versuche, ihn zum Islam zu bekehren, abgeprallt. Somit war alles in schönster Ordnung, und es fehlte zum letzten Akt nur noch die edle Tat, die den großmütigen Moslem bewegen muß, dem Ritter die Freiheit zu schenken. Dem alten Hatim wäre ein solcher Entschluß keineswegs leicht gefallen, denn er hatte für Kunibert ein Heidengeld bezahlen müssen und um der lieben Eitelkeit willen dem Ritter befohlen, immer in der Rüstung mit Schwert und Sporen einherzugehen, selbst bei der Gartenarbeit. Das war sehr unbequem.
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Schmerzlicher als für den Vater wäre die Trennung freilich noch für die schöne Subaidah gewesen, aber auch Kunibert hatte sich an seine neue Lage gewöhnt. Er wußte, für immer war es nicht, und im Augenblick fühlte er sich ganz wohl. Wie der herrliche Garten, der seiner Sorge unterstand, war ihm das Haus mit all seinen Bewohnern vertraut geworden. Er wußte, wo die geheime Tür nach der Straße war, die auch nachts offenblieb, und wo hinter den dichten Sarribüschen ein Spalt in der hohen weißen Mauer in das Bad zu sehen erlaubte. Zuweilen ergötzte er sich daran zuzuschauen, wie helle schlanke Leiber unter dem dichten Schatten der Bäume in dem grünen Wasser des weiten blaßroten Marmorbeckens flimmernd auf und nieder tauchten und die Mädchen sich mutwillig den niederstäubenden Strahl des Springbrunnens auf den Rücken fallen ließen. Doch wenn Subaidah das Bad betrat, ging er an seine Arbeit. Das war ganz gut, denn wenn die Tochter seines Herrn Zeit hatte, unterhielt sie sich mit dem Ritter, und die Gärtnersklaven lagen irgendwo hinter den Büschen, schliefen oder rauchten. Subaidah war noch sehr jung. Ihr Gesicht war weiß und durchsichtig wie Wachs, ihre Haare waren rabenschwarz und ihre mandelförmigen Augen dunkel. Sie hatte eine gute Erziehung genossen, kannte den Koran in sieben Lesarten auswendig und dazu unzählige Sprüche, Gedichte und Geschichten. Sie spielte alle Instrumente, sang und konnte sogar aus dem Stegreif Verse sprechen. Ihre Wißbegierde war groß; stundenlang konnte sie sich von 64
Kunibert aus seiner Heimat erzählen lassen. Besonders gegen Abend kam sie gern mit einer kunstvollen Stickerei in den Garten hinunter, um den Worten des Ritters zu lauschen, der ihr dann zu Füßen auf einem Teppich saß, in dessen Fransen er sich zu seinem Ärger immer wieder mit den Sporen verwickelte. Manchmal erzählte auch Subaidah, bisweilen sang sie ihm was weniges zur Laute. Als sie wieder einmal gesungen hatte und dann gegangen war, hörte er verworrenes Geräusch von der Straße her, als sei die ganze Stadt in Bewegung. Er ging in den Säulenhof, wo ihm Schlüter begegnete. Der Matrose war damals auch von Hatim gekauft und zunächst als Koch angestellt worden; wegen seiner unüberwindlichen Vorliebe für Mettwurst hatte man ihn jedoch bald dieses Postens enthoben und zum Oberfliegenfänger gemacht. »Was ist denn los?« erkundigte sich Kunibert. Schlüter gab ihm Auskunft. »Es geht ein alter Sänger in der Stadt umher, der ein so rührend schönes Lied singen soll, daß alle Welt hinter ihm dreinläuft, sich der Tränen nicht erwehren kann und ihn reich beschenkt. Soeben sind ein paar hinaus, um ihn hierher auf den Hof zu holen.« Das Tor öffnete sich, eine große Menschenmenge wollte hereinfluten, doch die Türhüter stießen die Andrängenden zurück und gestatteten außer dem alten Sänger nur denen Eintritt, die zum Hause gehörten. Der Fremde, ein würdiger, hochgewachsener Greis in langem, dunkelm Gewand, einen großen, breitkrempigen Hut auf den Silberlocken, trug an einem Gurt um den Nacken eine Drehorgel, die freilich so alt war, daß der fehlenden und der vorhandenen Töne ungefähr gleich viele waren. Mit 65
edler Bescheidenheit und stolzem Anstand trat er in die Mitte der Marmorfliesen und drehte den Griff der Orgel. Tut, futt, futt, futt, tirallala, tut, futt, futt, futt, erklang es in seltsamer Melancholie, und dazu sang der Alte mit vor Wehmut zitternder Stimme das schöne Lied: Mein Königreich ist abgebrannt, Es steht nicht mehr 'ne hohle Wand. Ich bin der König von Speyer. Wer schenkt mir einen Dreier? Ringsum tiefe Ergriffenheit, teilnehmende Zurufe und Seufzer. Die Goldmünzen regneten aus allen Fenstern. Der Orgelmann dankte mit Anmut und Würde. Er setzte sich auf die feingemeißelte Steinbank, die im Schatten der Arkaden an der Hauswand hinlief, und machte Kasse, indem er die Münzen sortierte, jede Rolle einwickelte und in einem Beutel auf der Brust barg. Kunibert fühlte sich zu dem Alten hingezogen. Er stand auf und sah ihm zu. »Euer Geschäft scheint nicht übel«, begann er. »Es ernährt seinen Mann«, erwiderte der Sänger, ohne aufzuschauen, und steckte die letzten Geldrollen zu sich. Dann blickte er den Ritter an. »Ich könnte mehr verdienen«, fuhr er fort, »aber nun habe ich mich daran gewöhnt und kann mich von meinem Leierkasten nicht mehr trennen. Man soll das Gute, das man hat, nicht leichtsinnig wegwerfen. Das bringt selten Glück. Erst neulich wurde mir eine Stelle in einem Hotel angeboten, für die ich mich meiner Erscheinung und meinen Sprachkenntnissen nach nicht übel geeignet hätte, aber seht« – und seine Augen
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wurden immer freundlicher –, »das geht nun einmal nicht. Ein vertriebener König mag als Bettler durch die Lande ziehen, sein Leben lang, doch in einer kleinen Stellung unterzukriechen, das wäre geschmacklos.« Kunibert war erstaunt. »Seid Ihr wirklich ein König?« fragte er. Der Alte erhob sich und lüftete den breiten Hut, unter dem auf seinen weißen Haaren eine alte, nur wenig verbogene Krone sichtbar wurde. »Dagobert der Erste von Speyer, König a. D.«, sagte er. Der Ritter verbeugte sich. »Ritter Kunibert von Scharfenstein!« »Sehr erfreut«, sprach der König. »Sehr erfreut! Aber sagt mir, Herr Ritter, wie kommt Ihr hierher?« »Auf die einfachste Weise der Welt«, war die Antwort. »Piraten haben mich auf einer Seefahrt gefangen und als Gartensklaven in dies Haus verkauft.« Dagobert der Erste riß die Augen auf. »Und da sitzt Ihr nun hier, schon Gott weiß wie lange, und rührt Euch nicht? Lockt Euch die Welt so wenig? Habt Ihr keine Verwandten oder Freunde, an die Ihr schreiben könnt, damit sie Euch loskaufen? Warum flieht Ihr nicht? Habt Ihr zu tief in die Augen der schönen Subaidah gesehen?« Dem Ritter schoß das Blut in die Wangen. Er schüttelte den Kopf. »Ihr habt recht, Herr König. Nun Ihr es sagt, verstehe ich es selbst kaum. Doch ist mein Weg so wunderlich, daß ich nicht weiß, wo ich ihn anfangen soll, und überall meinem Ziel gleich nahe und gleich fern zu sein glaube. Ich vertraue auf den Lenker meines Geschicks 67
und darauf, daß er mich von hier fortbringen wird, sobald es zur Erfüllung meiner Aufgabe nötig ist.« Der König nickte beifällig. »Das ist hübsch von Euch, Ritter Kunibert. Doch sagt: Euer Leben hat eine Aufgabe? Ihr habt ein Ziel und einen Weg, einen wirklichen Weg, nicht so wie die anderen, deren Weg nie weiter reicht als ihre Augen?« »Ich soll ein Wunderding suchen«, erklärte Kunibert, »ein Wunderding, um dafür ein Königreich und eine Prinzessin zu bekommen.« Der Alte wurde nachdenklich. Nach einer Weile lachte er. »Nun sitzen hier zwei halbe Könige und geben doch zusammen keinen ganzen! Laßt sehen, Herr Ritter«, fuhr er fort, »wenn es Euch gefällt, erzählt mir mehr von Euch. Ich habe alle Reiche und Länder durchwandert, vielleicht kann ich Euch helfen.« Kunibert hatte Vertrauen zu dem würdigen Könige gefaßt. Es war lange her, daß er jemand sein Herz hatte ausschütten können, und nun konnte er es gar in seiner Muttersprache tun. Seine eigenen Worte führten ihn weiter und weiter, bis er schließlich seine ganze Geschichte erzählt hatte. Dagobert hörte gespannt zu. Als die Erzählung zu Ende war, erhob er sich. Sein Antlitz leuchtete, er legte dem Ritter die Hände auf die Schultern und begann: »Da laufen wir in der Welt umher und meinen, es sei ohne Plan und Ziel. Bedenkt, Herr Ritter, wieviel dazu gehörte, daß wir uns hier trafen. Wie lange habt Ihr in Geduld meiner harren müssen, der allein Euch genaue Kunde geben kann. Wie
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recht hattet Ihr mit Euerm Vertrauen auf den Lenker unseres Geschicks! Wie hat er mich im rechten Augenblick in Euer Leben eingeführt. Fürwahr: Herrlich hat er sich ∗ erwiesen!« »Ihr wißt etwas von dem Rasierzeug?« flüsterte Kunibert, vor Freude zitternd. »Sprecht, sprecht!« »Alles weiß ich«, erwiderte der König hoheitsvoll. Er setzte sich und zog den Ritter auf die Bank nieder. »So hört denn«, begann er, »ich bin Dagobert der Erste von Speyer.« Erwartungsvoll sah er seinen Zuhörer an. Der verneigte sich und sagte: »Jawohl, jawohl, Herr König! Doch das Rasierzeug – ?« »Mein eigener Urahn«, fuhr Dagobert fort, »war jener Geliebte der Fee Süffisande. Das Wunderwerk blieb sorglich in unserem Schatz bewahrt, ich selbst habe es in der sagenhaft fernen Zeit meiner Jugend häufig benützt. Oh, es ist trefflich, über die Maßen fürtrefflich. Seit ich es nicht mehr habe, lasse ich mir den Bart stehen. Es ist mir unmöglich, ein anderes Messer auszuhalten.« »So ist es nicht mehr in Euerm Besitz?« warf Kunibert atemlos ein. »Wo ist es? Wo ist es?« »Gemach, Herr Ritter, gemach!« beruhigte ihn der Alte. »Ich werde Euch alles haarklein berichten, doch habt die Güte, mich nicht zu unterbrechen. Es möchte den Faden meiner Erzählung verwirren. Die Schätze unseres Hauses hatten von je den Neid unserer Nachbarkönige erregt. Als ich blutjung zur Regierung kam, hielten die Feinde den ∗
Oh, oh, Dagobert! Wo bleibt meine Bescheidenheit? (Anm. des Verf.)
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Augenblick für gekommen. Mit gewaltiger Heeresmacht brachen sie unversehens ins Land, verbrannten die Dörfer und erschlugen die Männer. Mit knapper Not gelang es mir, mich und die königlichen Insignien in Sicherheit zu bringen. Meine Krone habe ich stets treu bewahrt. Zepter und Reichsapfel jedoch –« Dagobert hielt dem Ritter zwei schmutzige Papierfetzen hin, die Kunibert als Versatzzettel erkannte. »Ja, ja, Herr Ritter«, sprach der König weiter, »ich habe es nicht immer leicht gehabt. Die erste Zeit nach meinem Unglück lebte ich hin und wieder bei Verwandten, aber auf die Dauer sah man mich nicht gem. Solange ich jung war, fürchteten sie, ich würde eine ihrer Töchter heiraten wollen, und später wurde ihnen der Alte lästig. Schließlich veranstaltete ein herzoglicher Vetter eine Landeslotterie, von deren Erlös er mir auf dem Jahrmarkt seiner Hauptstadt diese schöne Drehorgel kaufte. Durch seine weitreichenden Verbindungen verschaffte er mir auch einen Gewerbeschein, der freilich nur außerhalb seines Landes gilt. So zog ich in die Welt und besitze nun seit langem nichts mehr als meinen Leierkasten und mein Lied. Mein schönes Lied! Es ist unwiderstehlich, kein Auge kann trocken, keine Börse kann geschlossen bleiben. Ich schmeichle mir freilich, daß auch mein Vortrag das Seinige dazu beiträgt, zumal gegen Ende, wo ich das Ich mit einem großen Anfangsbuchstaben zu singen pflege. Vor allem aber ist es meine Orgel, lieber junger Freund, die du des näheren betrachten mußt. Schau sie dir an.« Kunibert überwand mit Mühe seine fiebernde Ungeduld und heuchelte Interesse. 70
»Freilich fehlen ein paar Töne«, meinte der König, »doch sind es nur unbedeutende. Sieh bloß diesen Handgriff! Echtes altes Elfenbein. Ihm zuliebe traf ich eigentlich die Wahl. Wie leicht und sicher er in der Hand ruht! Den ganzen Tag kann man ihn drehen, ohne zu ermüden. Dabei bin ich fest überzeugt, daß er ursprünglich nicht zu dem Instrument gehört, sondern einem andern Zweck gedient hat. Besieh ihn dir genau.« »Ganz recht«, sagte Kunibert, »er hat eine absonderliche Form.« »Euer Auge ist scharf, Herr Ritter«, lobte der König. »Was meint Ihr wohl, woher dies Elfenbein stammen mag? Ich habe viel darüber nachgedacht und will es Euch auseinandersetzen.« Dem Ritter riß die Geduld. »Liebster, bester Herr König«, rief er, »Gnade und Barmherzigkeit! Ich sitze wie auf Kohlen wegen des Rasierzeugs.« Dagobert stellte die Orgel beiseite und brach in ein gewaltiges Gelächter aus. Der ganze Hof dröhnte. Die Tränen liefen ihm aus den Augen, er hielt sich die Seiten und warf sich stöhnend hintenüber. Kunibert saß verlegen daneben und wartete das Ende des Ausbruchs ab. Es dauerte lange. Endlich wischte sich der König mit seinem langen Ärmel die Lachtränen von den Backen und sagte, noch immer von stoßweisen Erschütterungen unterbrochen: »Köstlich – köstlich – unbezahlbar – echt Dagobert von Speyer – echt Dagobert! Wahrhaftig, da sitzt der Unglücksmensch und wartet auf meine Erzählung vom Rasierzeug, während ich von Gott weiß was für Dingen
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rede und alles vergesse. Seid nicht böse, mein Lieber, zum Lohn für Eure Geduld will ich Euch gleich das Rätsel lösen.« Er räusperte sich und sprach nun ernsthaft: »Zu meiner Genugtuung kann ich Euch berichten, daß die geraubten Schätze, unter denen sich auch das Rasierzeug befand, unseren Feinden kein Glück gebracht haben. Solange der alte König Baldrian lebte, ging es noch, als aber seine siebzehn Söhne das Erbe antraten, war es bald aus mit der Herrlichkeit. Sie konnten sich über nichts einigen, am wenigsten über das Rasierzeug. Da keiner es dem andern gönnte, blieb nichts übrig, als es zu teilen, und da es zu wenig Teile waren, löste man das Messer aus seinem Griff, ja die Pinselhaare aus dem Stiel, und die Jüngsten bekamen jeder ein Büschel davon. Selbst dieser beschränkte Besitz erhielt sich nicht in den Familien, denn nur Zank und Zwietracht erbte sich in dem verruchten Geschlecht fort. Die Kinder der jüngsten Söhne konnten ja wiederum ihre Borsten teilen, aber unter den Nachkommen der älteren kam es zu Brudermord durch Gift und Dolch. Den Bösen flieht das Glück, der königliche Stamm verarmte, die Tradition ging verloren, und die späten Enkel ahnten nicht mehr den Wert ihres Erbes. So weiß ich, daß die wunderbare Klinge zu einem Spottpreis als altes Eisen verkauft wurde. Heute ist das Geschlecht vielleicht schon ausgestorben, und sollten noch Nachkommen leben, so sind sie verschollen und nicht mehr im Besitz des Wunderwerks. Vielmehr ist alles verloren, verschleudert, gestohlen, geraubt oder verkauft, Gott weiß, an wen und wohin. So gehen bösartige Kinder mit ihrem Erbe um. Da ist es bei 72
mir anders. Mein Bruder, arm gleich mir, hat einen Sohn und eine Tochter, die haben als Erbgut nichts zu erwarten als meine Krone und meinen Leierkasten, aber was meint Ihr, wie sie sich darauf freuen und wie sie jetzt schon in Gedanken beides hegen und pflegen? Die Tochter hat sich, ihren vorgerückten Jahren zum Trotz, in der Aussicht auf die Drehorgel mit einem Musiker verlobt. Gute Kinder – brave Herzen!« Der Alte seufzte befriedigt. Kunibert überlegte sich verzweifelt, wer ihm einmal vom Vater des Geschwätzes erzählt habe. »Herr König«, fing er ungeduldig an. Doch weiter kam er nicht. Durch die klare Abendluft verkündeten laute Stimmen von den Minaretts das Ende des Tages. »Du meine Güte«, rief Dagobert aufspringend, »schon so spät? Da muß ich eilen, sonst bekomme ich in meiner Karawanserei kein Abendbrot mehr. Gott befohlen, Herr Ritter, Gott befohlen!« Er schlüpfte schnell in den Gurt der Drehorgel und wollte davon. Mit einem Sprung war Kunibert hinterher und packte das weite Gewand. »Herr König, Ihr habt vergessen, mir zu sagen, wo die Dinge, die ich suche, jetzt sind.« »Woher soll ich das wissen,« erwiderte der Alte, unwillig darüber, daß er aufgehalten wurde. »Keine Ahnung! Auf ein andermal, Herr Ritter!« Er riß sich los und verließ mit raschen Schritten den Hof. Entsetzt über das Gehörte starrte Kunibert auf die Tür, die sich hinter dem greisen Sänger geschlossen hatte. Der Kopf war ihm wirr, die Erzählung Dagoberts hatte sein Innerstes aufgewühlt. Nun galt es, die ganze Welt abzu-
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suchen. Ihm graute vor der endlosen Unternehmung. Wieviel kostbare Zeit hatte er schon verloren! »Zur Tat!« rief er und schlug mit der Faust auf die klirrende Panzerbrust. »Zur Tat!« Mit federnden Schritten ging er durch den Garten nach dem kleinen Pavillon, den er bewohnte. Noch heute, murmelte er vor sich hin, noch heute nacht muß ich fliehen. Schnell packte er seine Habseligkeiten in einen Mantelsack, obenauf den Kasten mit dem Nashornorden. Noch war es zu früh. Er hielt die kleine Schachtel in der Hand, die er am Abend seiner Abreise von Marsilia auf so geheimnisvolle Weise erhalten hatte, und überlegte, ob er sie mitnehmen solle. Der Inhalt war eine Enttäuschung gewesen. In der Kajüte des »Cyklop« hatte er das Kästchen geöffnet und nichts darin gefunden als ein Monokel. Eine Gabe des goldenen Ritters oder Agnetens war es also nicht, denn denen war das nicht zuzutrauen. Kunibert stand vor dem offenen Mantelsack und hielt den runden Scherben in der Hand. Was sollte er mit dem Ding? Er trug nie ein Monokel. Wie würde das aussehen? Zum Scherz trat er vor den Spiegel und klemmte es ins Auge. Da sah er wie in einer Vision Sonjas lachendes Antlitz vor sich und ließ vor Überraschung das Glas in die Hand fallen. Albernheiten, murmelte er. Wie kann ich mich mit solchen Spielereien abgeben? Ich will lieber ein wenig an Sonja denken. Gleichgültig legte er das Monokel in das Kästchen und warf es zwischen die andern Sachen in den Sack. Dann setzte er sich hin und versuchte, sich das Bild der Prinzessin zurückzurufen. Vergebens, es wollte nicht wieder gelingen. 74
Als die Nacht weit genug vorgerückt war, warf er den Mantelsack über die Schulter, öffnete vorsichtig die Tür des Pavillons und trat in den Garten. Der Mond schien nicht, doch die Sterne standen hell am Himmel. Die Kieswege schimmerten durch das blaue, samtene Dunkel. Behutsam schritt er über die knirschenden Steine. Die Blumen dufteten stark, kein Lüftchen rührte sich, alles schwieg. Büsche und Bäume waren schwarz und groß; ganz selten raschelte es im Gras oder in den Blättern. Kunibert erschrak. Vor ihm stand eine Gestalt. Es war Subaidah, vom Kopf bis zu den Füßen in ein schimmerndes Tuch gehüllt, das ihr blasses Gesicht und ein wenig von ihrem schwarzen Scheitel frei ließ. Nur ihre Augen schienen zu leben. »Subaidah –!« flüsterte Kunibert. Sie legte den Finger auf die Lippen und sah ihn an. »Du gehst fort, Kunibert?« fragte sie. Die Stimme zitterte ein wenig. Der Ritter nickte stumm. Ihm war nicht ganz wohl dabei, er kam sich ertappt vor. Wenn sie nun riefe? Sie las den Gedanken in seinen Augen und lächelte kaum merklich. »Wie schlecht du mich kennst, Kunibert«, sagte sie leise. »Ich wußte es doch und bin gekommen, dir Lebewohl zu sagen.« Sie reichte ihm die Hand. »Eile!« setzte sie hastig hinzu. »Du mußt so schnell wie möglich dreimal drei Meilen zwischen dich und die Stadt legen. Hüte dich vor der Wache und geh zum östlichen Tor. Zweihundert Schritte davon ist eine alte Bresche in der Mauer. Leb wohl, und wirst du beim Wandern müde, so
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lies diese Worte des Dichters.« Sie legte ihm einen schmalen Pergamentstreifen in die Hand und verschwand im Dunkel, ehe er etwas sagen konnte. Noch einmal sah er dicht am Hause etwas Weißes, dann ging er weiter und schlüpfte durch die geheime Pforte. Als er auf der Straße stand, kam lautes Pferdegetrappel um die Ecke; Fackeln wehten über den Weg, er sah sich von Reitern umringt. »Wer bist du?« herrschte ihn eine grobe Stimme an. Kunibert sah Waffen blitzen. Er warf den Mantelsack auf die Erde und griff nach dem Schwert. Kräftige Fäuste packten seinen Arm. »Wer bist du?« rief der Hauptmann der Wache noch einmal. »Ein fahrender Ritter«, erwiderte Kunibert. »Mein Pferd ist vor dem Tor gestürzt.« »Wie kamst du zur Nacht in die Stadt?« »Ich suchte lange vergebens ein Unterkommen. Die Stadt ist mir fremd.« »Oder auch nicht«, versetzte einer der Soldaten, »und du bist ein entlaufener Christensklave.« »Wir sind vor Hatims Haus. Der hält sich so einen Franken«, sagte ein Fackelträger. »Klopf an«, gebot der Hauptmann. Doch ehe es geschehen konnte, rief eine Stimme aus dem Fenster: »Wen habt ihr da?« Der Offizier erkannte Hatims Tochter und grüßte: »Daß dein Weg schnurstracks ins Paradies führe, Licht meiner 76
Augen! Wir glauben, einen eurer Sklaven auf der Flucht ertappt zu haben.« »Laßt mich sein Gesicht sehen«, befahl Subaidah. Zwei Fackeln kreuzten sich über dem Ritter. »Ich kenne ihn nicht«, klang es vom Fenster her. »Laßt ihn gehen.« Kunibert sah auf. »Dank sei deiner Hilfe!« rief er, doch das Fenster war leer, und niemand antwortete. Der Wachhauptmann entschuldigte sich. »Ich werde Euch zu einem Khan geleiten, wo Ihr gute Unterkunft findet«, versprach er. Ein Soldat stieg ab, Kunibert setzte sich auf das Pferd, nahm den Mantelsack vor sich, und sie trabten weiter. Der höfliche Wirt wies Kunibert in ein Zimmer. »Ich brauche nichts als Ruhe«, sagte der Ritter, »auch soll man mich nicht wecken.« Der Wirt verbeugte sich und ließ ihn allein. Kunibert horchte seinen Schritten nach; dann löschte er das Licht und sprang aus dem Fenster. Im Schatten der Häuser glitt er durch Gassen und Straßen, kam ans Tor und fand die Bresche. Er trat hinaus und war in Freiheit. Die aufgehende Sonne fand ihn weit vor der Stadt. Er dachte an Subaidah und daran, daß er ihr nicht einmal recht hatte danken können. Der Pergamentstreifen fiel ihm ein. Er zog ihn heraus und las: Dein Weg ist deines Tages Glück, Der Weg, der dein Geleite, Drum blicke nicht zu oft zurück Und nicht nur in die Weite Des Weges Sinn ist: was er trennt, 77
Das muß er auch verbinden, Und daß man diesen Sinn erkennt, Das heißt, ihn finden. Nachdenklich setzte Kunibert seinen Weg fort.
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SIEBTES ABENTEUER
KNURKS ODER
WIE KUNIBERT DEN DRACHEN BESTAND Eines Tages kam Kunibert an einen großen Wald. Schon von weitem erblickte er am Eingang, da, wo sich die helle Straße im Schatten verlor, eine große Tafel. Näherkommend las er: Vorsicht! Drachen!! Internat. Touring Club. Drachen hin, Drachen her, dachte Kunibert, wird schon nicht so schlimm sein. Überdies muß ich doch mal einen Drachen bestehen. Andere Ritter tun das alle Tage; manche können gar nichts anderes. Eigentlich soll man hoch zu Roß und mit langem Speer kämpfen, aber es wird auch so gehen. Man muß nicht gleich aus jeder Kleinigkeit eine Ballade machen. Er ging weiter. Der Wald wurde immer dichter und stiller. Ein undurchsichtiges Gewirr von breitblättrigen Pflanzen und Schlinggewächsen wucherte zwischen den Stämmen, deren Kronen so eng ineinander verflochten waren, daß die Blätter ein durchscheinendes Gewölbe bildeten, unter dem alles in gedämpftem, grünem Sonnenlicht lag. In der regungslosen Luft hingen von hohen Ästen lange Ranken mit gelben, zackigen Blüten hernieder, die stark dufteten. Es war ein richtiger Urwald, durch den die Straße führte.
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Ein Wegweiser wies zur Rechten einen schmalen Pfad hinan. In altmodisch ungefügen Buchstaben stand geschrieben: »Zur schönen Aussicht. Nur fünf Minuten!« Während Kunibert überlegte, hörte er ein feines Klingeln. Er starrte ins Grüne. Was ist das nur? dachte er. Wenn ich es nur sehen könnte! Der Ritter strengte seine Augen gewaltig an und erblickte endlich einen kleinen Mann, halb so groß wie ein gewöhnlicher Mensch; der war ganz durchsichtig, denn man sah alle Blätter hinter ihm. Sein Gesicht war deswegen gar nicht zu erkennen, hie und da aber spiegelte sein Körper helle Lichter und Bilder. Er mußte wahrhaftig aus Glas sein. Nun lachte es wieder und lauter. Das gläserne Männlein lachte den Ritter aus. Dann sagte es: »Stimmt schon. Ich bin's, bin wirklich aus Glas.« Kunibert trat näher. »Komm mir nicht zu nahe, ich habe eine zarte Konstitution.« Der Ritter blieb stehen. »Du bist eine putzige kleine Kruke«, sagte er. »Gar keine Kruke«, entgegnete das Männlein hitzig. »Ich bin aus Glas und noch nicht einmal eine Flasche, denn ich habe keinen Kork und diene zu nichts als zu meinem eigenen Vergnügen.« »Jedem das Seine«, meinte der Ritter versöhnlich, »aber ich möchte nicht mit dir tauschen.« »Ich weiß alles, alles«, rief das Männchen. »Alles scheint durch mich hindurch, und nichts macht mir etwas
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aus. Man kann alles durch mich sehen, und ich kann nichts verbergen.« »Dann bist du nicht viel wert«, entschied Kunibert. »Ich bin die lautere Wahrheit«, prahlte der Gläserne. »Du bist niemand«, antwortete Kunibert, »höchstens ein Schwätzer, und außerdem bekommst du einen Sprung, sobald man dich bloß anrührt.« »Ich will dir gleich zeigen, was ich wert bin«, tönte das Stimmchen eifrig. »Wenn du diesen Pfad bergan gehst, kommst du geradenwegs in die Höhle des Drachen.« »Das ist wirklich eine schöne Aussicht«, rief Kunibert. »Ihr seid hier ein nettes Gesindel.« »Den Wegweiser hat der alte Lindwurm selbst als Lockvogel hingestellt«, verteidigte sich der Kleine. »Siehst du denn nicht die ungelenke Schrift? Der mit seinen schweren Tatzen!« »Niederträchtig!« sagte Kunibert entrüstet, zog sein Schwert und stieg den Weg hinan, ohne auf das gläserne Geklingel hinter ihm zu achten. Der Wald lichtete sich, mächtige Felsen ragten zwischen den Bäumen. Der Ritter gewann die Höhe. Bald mußte der Ausblick frei werden. Statt dessen erblickte er plötzlich den Lindwurm. Zuerst nur den gewaltigen Rachen, aus dessen Nüstern eine große Dampfwolke fuhr. Unangenehm, dachte Kunibert, das ist einer, der Feuer speit. Recht überflüssig. Er faßte sein tapferes Schwert fester, stieg über einige Felsblöcke und konnte nun das Ungeheuer ganz sehen. Es saß auf einer Steinbank neben dem Eingang seiner Höhle, mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, hatte 81
die dicken Hinterbeine übereinandergeschlagen und kratzte sich mit einer Vorderpfote den Bauch, während es in der andern eine lange Tabakspfeife hielt. Von Zeit zu Zeit stieß der Lindwurm eine dicke Rauchwolke aus den Nasenlöchern und blinzelte behaglich in die Sonne. »Man lernt nie aus«, sagte sich Kunibert und steckte das Schwert in die Scheide. Der Drache, der es hörte und mit seinen Glotzaugen zu ihm hinsah, stellte rasch die Pfeife weg, erhob sich, reckte sich auf den Hinterbeinen zu ansehnlicher Höhe und fuchtelte bedrohlich mit den kräftigen, gespreizten Krallen. »Huh, huh, huh!« machte er dabei mit grabestiefer Stimme, die wie rollender Donner klang, und jedesmal schlug eine ellenlange Flamme aus seinem aufgerissenen Schlund. Also doch, dachte Kunibert, zog wieder blank und rannte auf das Ungeheuer zu. »Stirb, Untier!« schrie er. Doch der Drache winkte eifrig mit beiden Tatzen ab. »Alles halb so schlimm«, sagte er, während er sich wieder hinsetzte. »Man muß nur ein bißchen so tun, als ob. Sonst denken die Leute, man wäre nicht echt, und dann ist der Respekt zum Teufel. Ihr seid ein mutiger Mann. Setzt Euch. Wer seid Ihr denn?« »Ich bin der Ritter Kunibert.« »Und ich der Drache Knurks«, antwortete der Lindwurm. Er wies einladend neben sich auf die Steinbank, wo noch Platz war. »Danke«, sagte Kunibert und setzte sich, immer noch ein wenig mißtrauisch wegen des Feuerspuckens.
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Das Ungeheuer wandte den Kopf zum Eingang der Höhle und rief: »Kunigunde! Besuch!« Was mag das für eine Kunigunde sein? wunderte sich der Ritter. Wenn hier womöglich noch ein Drache haust – ? »Ich war auf dem Wege zur schönen Aussicht«, erklärte er dem Lindwurm. »Bitte«, versetzte Knurks lachend, »seht Euch nur um.« Er beschrieb mit dem langen Schuppenschwanz unter den Hinterbeinen her einen großen Bogen durch die Luft. Der Ritter hatte das Untier noch nicht aus den Augen gelassen; nun erstaunte er, als er, aufblickend, in die herrliche Landschaft hinaussah. Ein Stück vor ihm fiel der Berg steil ab, und dahinter dehnte sich unter dem wolkenlosen Himmel das Meer der Baumwipfel weithin bis an die gelbe Wüste, die an einer Stelle tief in den Wald schnitt. In der Ferne lag die See wie ein schmaler Streifen Türkis. Kunibert hatte lange nicht so ins Weite geblickt und konnte seine Augen nicht abwenden. »Na«, meinte Knurks stolz, »habe ich nicht recht mit meinem Wegweiser?« »Freilich«, antwortete der Ritter, »ich muß Euch dankbar sein.« »Der Gläserne hat Euch wohl warnen wollen?« fragte Knurks. »Das ist ein aufgeblasener Geselle«, lachte Kunibert kopfschüttelnd. »Er hat ewig Angst vor mir«, grunzte der Lindwurm. »Ganz überflüssig. Der leere Happen. Da bin ich kräftigere Kost gewohnt. Ihr müßt wissen, daß ich Knurks heiße, weil 83
ich Granitblöcke zermalmen kann wie ein anderer Drache Eisenpanzer.« Dabei klappte er den Rachen hart zu und knirschte grimmig mit den Zähnen. Aus der Höhle trat eine Frau, die nicht mehr ganz jung war, aber noch frisch und rundlich. Sie trug ein altmodisches, faltiges Kleid und eine schneeweiße, gestärkte Haube, die hinten in eine lange Spitze auslief wie eine Zuckertüte. Sie hatte gutmütige, rote Wangen. »Gundelchen«, wandte sich Knurks freundlich zu ihr, »wir haben Besuch bekommen, netten Besuch, einen Naturfreund. Wie wär's mit einem kleinen Imbiß, mit« – er schnalzte mit der Zunge – »einer Tasse Schokolade hier draußen, wo es sich so hübsch sitzt? Vielleicht ist auch noch etwas von dem guten Apfelkuchen da?« »Wenn du nur Süßes schlecken kannst«, sagte Kunigunde mütterlich und begrüßte den Ritter. Kunibert dachte an die Granitblöcke und mußte lachen. »Na ja«, brummte der Drache etwas verlegen, »der Geschmack an so was kommt mit den Jahren.« »Oh, auch schon früher«, begütigte Kunibert, der selbst gern Schokolade trank. »Schön«, sagte Kunigunde, »ihr sollt eure Schokolade haben. Siehst du nun, Knurks, wie gut es ist, daß ich dir heute mittag nicht mehr Kuchen gegeben habe? Jetzt ist noch welcher da.« Sie verschwand in der Höhle. »Sie ist eine Prinzessin«, erklärte der Drache dem Ritter. »Ich habe sie in meiner Jugend geraubt. Das ist nun eine ganze Weile her. Dafür hat sie sich eigentlich recht gut gehalten, wenn wir auch andere Jahre zählen als ihr Men84
schen. Erst dachte ich, es sei kein besonderer Fang, weil niemand sie auslösen oder befreien wollte. Jetzt denkt natürlich erst recht niemand daran. Ich bin aber froh darum. Sie hat ihre guten Seiten› wenn sie auch manchmal ein bißchen genau ist.« Nach einer Weile erschien Kunigunde wieder. Sie hatte sich eine weiße Schürze umgebunden, richtete Schokolade und Kuchen zierlich auf einem Tischchen an und setzte sich dem Ritter gegenüber. Knurks schmunzelte zufrieden, und alle langten zu. »Ihr kommt gewiß von weither«, fing Kunigunde sogleich an. »Ach, ich kann mir nichts Schöneres denken, als ein fahrender Ritter zu sein. Immer auf flinkem Pferd sorglos von einem Abenteuer zum andern, von einer furchtbaren Gefahr in die andere. Von allen guten Königen geehrt, über alle bösen Sieger in der Schlacht. Immer den ersten Preis im Turnier, stets in einer Fehde für eine geheimnisvolle, unglückliche Dame, unaufhörlich unterwegs in ferne Länder und mit jedem andern fahrenden Ritter im Kampf auf Leben und Tod! Das könnte mich auch begeistern. Und wie herrlich muß es dann sein, sich einmal auszuruhen und die schrecklichen Wunden von zarten Händen pflegen zu lassen.« »Das sind so die Ritterromane«, meinte Kunibert. »In Wirklichkeit – ? Nun, auf die Wunden kann man noch am ersten verzichten.« »Nein«, widersprach Kunigunde, »die gehören dazu. In der Geschichte, die ich lese, hat der Held gerade zwanzig tiefe Wunden bekommen und wäre unfehlbar daran verblutet, hätte ihn nicht seine Dame mit einem 85
Wunderbalsam so rasch geheilt, daß er schon nach zwei Stunden einen neuen Kampf bestehen konnte.« »Und wenn sie den Wunderbalsam nicht schnell genug gefunden oder gar keinen gehabt hätte?« wandte Kunibert ein. »Dann wäre sie keines Ritters würdig gewesen«, entgegnete Kunigunde eigensinnig. »Überhaupt muß –« »Iß erst mal deinen Apfelkuchen, Kunigunde«, ermahnte Knurks, der mit seinem Stück längst fertig war und vor ihr und dem Gast kein zweites zu nehmen wagte. Kunigunde überhörte ihn. »Ihr werdet doch zugeben«, fuhr sie zu Kunibert fort, »daß es Pflicht ist, zu kämpfen, um den Schwachen zu schützen und den Mächtigen im Zaum zu halten?« »Das ist freilich eine Pflicht des Ritters«, gab Kunibert zu. »Die meisten machen es umgekehrt und müssen es wohl, nur sind sie eben keine Ritter.« »Ja«, triumphierte Kunigunde, »in solchen Anschauungen bin ich auch erzogen. Ich und meine siebzehn Brüder. Habe ich dir das nicht oft erzählt, Knurks?« »Iß erst mal deinen Apfelkuchen«, versuchte der Drache, der nun doch schon beim zweiten Stück war, ihre Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Aber es war ungeschickt, denn jetzt sah Kunigunde, daß bloß noch eine Schnitte auf der Schüssel lag. »Nein, weißt du, Knurks«, fing sie empört an, »das ist doch –« »Sie hatten siebzehn Brüder?« fragte Kunibert eifrig.
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»Ja, wir waren ein stolzes, kriegerisches Geschlecht. Wo mögen sie heute alle sein?« »Hier hat sich nie einer sehen lassen«, brummte der Drache. »Keiner hat es je versucht.« »Mein Vater war der König Baldrian«, fuhr Kunigunde fort. Der Ritter sprang auf, »König Baldrian?« rief er. »Von dem weiß ich.« »Das glaube ich. Es gibt viele Lieder und Balladen über ihn.« »Wißt Ihr etwas von seinem Rasierzeug«, fragte Kunibert, »dem kostbaren Zauberding, das er in seinem Schatz hatte und das von der Fee Süffisande stammte?« »Rasierzeug – ?« antwortete Kunigunde gedehnt »Ach, lieber Herr Ritter, mein Vater besaß in seinem Schatz so viele herrliche, wunderbare Dinge, von denen ich leider kein einziges geerbt habe, und um Rasierzeuge habe ich mich als junges Mädchen nicht im geringsten gekümmert.« »Hätte ich auch nicht getan«, stimmte der Drache zu. »Aber mir liegt unendlich viel daran«, rief der Ritter und berichtete rasch, warum. Die beiden andern lauschten ihm teilnahmsvoll und gespannt. »Leider kann ich Euch nicht die kleinste Auskunft geben«, sagte Kunigunde, als der Ritter schwieg. »Schade, wirklich zu schade.« »Am Ende weiß Süffisande was«, meinte Knurks, »oder kann etwas herauskriegen.«
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»Lebt sie noch?« fragte Kunibert schnell. Der Drache lachte dröhnend. »Feen sind doch unsterblich, mein Lieber.« »Ach so, richtig«, sagte Kunibert. »Und wißt Ihr, wo sie sich aufhält?« »Ja. Gar nicht mal so weit. Neulich kam ein alter Freund von mir hier vorbeigeflogen und blieb ein bißchen bei uns. Der hatte sie gerade besucht. Ich mag sie nicht besonders, und wenn Ihr mit ihr zu tun habt, nehmt Euch in acht. Sie ist ein unangenehmes Frauenzimmer und gefährlich für Euresgleichen.« »Versuchen möchte ich es doch«, versetzte Kunibert. »Dann macht ihr vor allem gründlich den Hof, was Euch nicht sonderlich schwerfallen wird, denn hübsch ist sie. Ganz früher, als ich sie kennenlernte, war sie recht nett, aber dann hatte sie eine alberne Liebschaft mit einem Jüngling aus der Gegend von Speyer. Es sollte ein Prinz sein oder so was. Das war ein ewiges Getue, Gehimmle und Geknutsche. Gar nicht mit anzusehen. Doch kein Benehmen für eine erwachsene Fee. Darüber haben wir uns verzankt, und ich habe sie nie wiedergesehen.« »Könnt Ihr mir den Weg zu ihr sagen?« fragte der Ritter. »Hm. Wenn Ihr die Berge hinabreitet, dort unten durch die Wüste bis zum Meer, dann müßt Ihr Euch an der Küste nach Osten wenden. Ihr kommt durch einige Städte. Bei der dritten mündet ein breiter Strom, den reitet aufwärts. Nach ein paar Tagereisen kann Euch dort jedes Kind Süffisandes Schloß weisen. Und reitet geradenwegs ans
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Meer; landeinwärts liegt eine verrufene Gegend, die Ihr besser meidet. Seid Ihr gut beritten?« »Gar nicht«, antwortete Kunibert lächelnd. »Gar nicht?« riefen die beiden andern erstaunt. Kunibert erzählte von seiner Flucht und daß er froh sei, zu Fuß weggekommen zu sein. »Das geht doch nicht«, jammerte Kunigunde. »Ein fahrender Ritter mit goldenen Sporen zu Fuß? Wie wollt Ihr durch die Wüste vorwärtskommen und unten am Meer?« »Nein«, erklärte Knurks entschlossen, »das geht wirklich nicht. Das machen wir anders. Herr Ritter, Ihr habt mir gleich gefallen, und nun, nach Eurer schönen Geschichte, bin ich Euer Freund geworden. Nehmt von mir ein Gastgeschenk an. Ich schenke Euch ein gutes Pferd.« »Das wäre ja herrlich«, sagte Kunigunde, »aber wo willst du eins herbekommen, Knurks?« Der Drache stand auf und ließ sich auf alle viere fallen. Jetzt sah der Ritter wieder, wie groß das Untier war, und bemerkte auch, daß es auf dem Rücken gefaltet ein Paar Flügel trug. Der Drache machte einen Buckel und fing an, die Schwingen zu spreizen. Es ging nicht sehr schnell und krachte bei jedem Ruck. . »Knurks«, sagte Kunigunde erschrocken, »du willst doch nicht etwa fliegen? Bedenke, wie lange du es nicht mehr getan hast.« »Papperlapapp«, antwortete Knurks, »wer mal Flügel hat, kann immer fliegen.« Dabei reckte er seine Flügel weit aus und versuchte ein paar schwerfällige Sprünge. 89
»Du hast gar keine Übung mehr«, rief sie. »Wenn dir etwas zustößt?« »Dann hast du endlich deine Freiheit«, knurrte er ärgerlich. »Die will ich ja gar nicht«, widersprach sie. »Weiß ich«, antwortete er. »Ihr wollt sie immer nur, solange ihr sie nicht haben könnt.« Er schlug ein paarmal mit den Flügeln. Es gab einen gewaltigen Wind. »Meine Kaffeedecke!« rief Kunigunde entsetzt und stürzte zu dem Tischchen. Als sie sich wieder umdrehte, war er schon abgeflogen. Erst flatterte er heftig, um sich in der Luft zu halten; dann aber wurden seine Flügelschläge gleichmäßiger und langsamer, und er flog überraschend schnell und sicher davon. »Wenn das bloß gut geht«, meinte Kunigunde. »Es passiert jetzt soviel beim Fliegen. Alle Tage steht was in der Zeitung.« »Ich finde, er fliegt ausgezeichnet«, sagte Kunibert bewundernd. »Nun ja, und etwas Bewegung tut ihm auch gut. Er wird zu behäbig.« Kunibert holte seinen Mantelsack, den er zwischen den Felsen hatte liegenlassen, um besser kämpfen zu können, und wühlte darin herum. Schließlich fand er eine mit bunten Steinen besetzte Spange, die er bei Gelegenheit eines sonntäglichen Ausgangs im Basar gekauft hatte, und überreichte sie Kunigunde, die sich sehr über das Geschenk freute.
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Nach einer Stunde hörten sie ein lautes Rauschen in der Luft, und über ihnen erschien der Drache, ein braunes Pferd in den Klauen, das er vorsichtig vor sich hinstellte. Es war ein schönes, kräftiges Tier, gut gesattelt und wohlgezäumt. Kunibert beruhigte den aufgeregten Braunen, führte ihn beiseite, band ihn an einen Baum und kehrte zu Knurks und Kunigunde zurück, um sich mit herzlichem Dank zu verabschieden. »Reitet nur«, riet der Drache. »Haltet Euch nicht auf. Und seht zu, daß Ihr bei Tageslicht den Wald hinter Euch bringt. Nachts ist es für Euch nicht geheuer darin. Ihr wißt, im Wald lebt viel und folglich auch manch ungutes Wesen. Nicht jedes ist so harmlos wie der Gläserne.« »Glück auf den Weg«, sagte Kunigunde, »und laßt uns wissen, was Ihr erlebt. Auch ob Süffisande noch so hübsch ist, wie Knurks es behauptet.« Kunibert saß schon im Sattel. Sie reichte ihm die Hand hinauf. In der Nähe des Lindwurms zitterte das Pferd und stieg, so daß der Ritter es kaum zu zügeln vermochte und fröhlich winkend davonsprengte. »Ja«, meinte Knurks hinterherblickend, »zum Kampf mit einem Drachen wird es nicht mehr taugen. Dafür wird es um so schneller mit ihm weglaufen, wenn er einem begegnet, und das ist bestimmt das vernünftigste.« »Aber Knurks«, sagte Kunigunde, »ein Ritter –« »Ritter hin, Ritter her«, brummte der Drache. »Ein Ritter hat auch lieber heile Knochen. Wenn er nun einem wie mir begegnet, der Granitblöcke zermalmt.« »Ach, Knurks«, lachte sie, »du ißt doch viel lieber –« 91
Doch der Lindwurm machte ein greuliches Gesicht und blies die Backen auf, als wolle er Feuer speien, so daß Kunigunde als kluge Frau es vorzog, den Satz diesmal nicht zu beenden.
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ACHTES ABENTEUER
DIE VERSINKENDE STADT Den Waldrand hatte Kunibert bald hinter sich. Vor ihm lag eine weite, einförmige Ebene, auf der nichts wuchs als mageres Gras, niedrige Büsche und ab und zu ein spärlicher Baum. Er sah nach der Sonne und schlug die Richtung ein, die zum Meer führen mußte. Die Nacht verbrachte er im Freien. Den ganzen nächsten Tag ritt er unverdrossen durch die Einsamkeit weiter. Ein dunkler Vogel, der lange über ihm kreiste, ab und zu eine Schlange, die durch das trockene Gras raschelte, oder ein scheues Tier, das bei seinem Nahen geschwind in ein Erdloch schlüpfte, war alles Lebendige, das ihm begegnete. Gegen Abend kam er an ein kleines Gehöft, bei dem ein Brunnen war und um das ein paar ärmliche Felder lagen. Die Leute waren wortkarg und mißtrauisch und kaum zu bewegen, ihn über Nacht zu beherbergen. Beim Morgengrauen brach Kunibert auf. Er fragte den Bauern nach dem Weg, doch der wollte oder konnte ihm keine rechte Auskunft geben. »Mag sein, daß das Euer Weg ist«, sagte er schließlich, als Kunibert nach Norden wies. »Möglich, daß es da ans Meer geht. Von dort gekommen ist noch niemand. Reitet nur zu. Ich tät's freilich nicht.« »Warum?«
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Der Bauer hob die Schultern. »Weiß nicht. Mein Vater hat mich gewarnt. Der hatte es von seinem Vater. Warum? Das ist längst vergessen.« Der Ritter trabte in den trüben Tag hinein. Nach und nach hörte auch das bißchen dürre Grün auf. Schwärzlich wie steinige Asche lag ringsumher die Erde unter dem drückenden grauen Himmel. Nach mehreren Stunden erblickte Kunibert in der Ferne undeutliche Umrisse wie von Mauern, die sich kaum von der Luft und dem Boden abhoben. Allmählich sah er, daß es eine Stadt war. Er ritt darauf zu. Je näher er kam, desto mehr wunderte er sich, wie verloren die Stadt dalag. Keine Straße, kein Weg schien zu ihr hinzuführen, kein Garten lag vor den düsteren Mauern, hinter denen man hie und da die nächsten Häuser sah. Kein Feld war bestellt, kein Strauch, kein Baum grünte, kein Mensch war zu erblicken, kein Tier. Nur Schweigen und Öde. Endlich hielt Kunibert vor der verwahrlosten Stadtmauer. Große Steine waren herabgestürzt und lagen in dem flachen, ausgetrockneten Graben. Er ritt weiter, bis er an ein Tor kam, zu dem eine Brücke hinüberführte. Es stand halb offen, doch Kunibert sah, daß das nicht Absicht war, sondern Not, denn der eine Torflügel lag morsch und zerfallen am Boden. Die Bohlen der Brücke waren so vermodert, daß Kunibert nicht hinüberreiten mochte, sondern abstieg und die Zügel durch einen Ring am Brückenkopf schlang. Dann ging er hinüber. Das Tor schien unbewacht und die Straße dahinter menschenleer. Weit konnte er sie freilich nicht übersehen, denn sie senkte sich nach dem Innern zu. 94
Was mochte dieser Stadt geschehen sein? Ob eine Hungersnot, eine Seuche, ein Krieg unter den Einwohnern gewütet hatte? Mit einem Gemisch von Neugier, Staunen und Scheu vor der fremden Einsamkeit wollte Kunibert eintreten. Kaum hatte er einen Fuß durchs Tor gesetzt, als er einen Stoß vor die Brust bekam, daß er zurücktaumelte. Er zog sein Schwert und trat wieder vor. Hinter dem aufrechten Torflügel stand gebückt ein Mann in zerlumpten Kleidern, eine alte, verrostete Hellebarde in den Händen, mit der er zum zweiten Stoß ausholte. Kunibert schlug die Waffe beiseite. Der Mann sprang zurück, und Kunibert sah mit Entsetzen, daß der Torwächter sich nicht nur gebückt hielt, sondern keinen Kopf hatte. Das unheimliche Wesen verkroch sich in die Tür des Pförtnerhäuschens. Der Ritter wandte sich ab und ging weiter. Nach ein paar Schritten fühlte er einen jähen Schmerz im Rücken und stürzte aufs Pflaster. Gleichzeitig klirrte neben ihm die Hellebarde auf die Steine, mit der der Torwächter nach ihm geworfen hatte und die von der Rüstung abgeprallt war. Kunibert sprang auf und bückte sich nach der Waffe. Ehe er sie fassen konnte, umschlangen ihn von hinten zwei starke Arme und preßten ihm die Brust durch den Harnisch zusammen. Es entspann sich ein Ringen, bei dem der Ritter sich lange vergebens bemühte, den Dolch zu ziehen oder seinen Gegner vor sich zu bringen. Sein Ekel vor dem Unwesen, mit dem er rang, wurde so groß, daß er seinen Feind mit einem plötzlichen Ruck von sich schleuderte. Noch im Fallen ergriff der Torwächter die Hellebarde, richtete sich auf und schlug 95
nach dem Ritter. Jetzt sah Kunibert, daß sein Gegner viel größer war als er und mächtige Gliedmaßen hatte. Er wich den plumpen Schlägen aus und traf mit einem scharfen Schwerthieb den Schaft des Spießes, der zersplitterte. Der Torwächter ließ den Stumpf fallen und floh ins nächste Haus. Kunibert hörte ihn in den Keller laufen, nahm die zersprungene Waffe auf, warf die Stücke über die Dächer und setzte seinen Weg fort. Kein Mensch ließ sich sehen. Die meisten Haustüren waren zerbrochen oder aus den Angeln gefallen. Durch die leeren Fenster sah Kunibert verkommenen Hausrat, zerfetzte Vorhänge, Schmutz und Trümmer. Gewölbe von Handwerkern oder Kaufleuten standen offen; drinnen lagen zur Unkenntlichkeit verdorbene Waren und Gerümpel durcheinander. Stumm und ausgestorben zogen sich die Straßen mit ihren verlassenen Häusern unter dem bleiernen Himmel hin. Kein Wind regte sich; die Luft war schwül und dumpf. Hie und da huschten ein paar magere, schwarze Katzen an dem Ritter vorüber, lautlos und blitzschnell. Sie schienen die einzigen übriggebliebenen Bewohner zu sein. Immer wieder erblickte Kunibert welche, die bei seinem Nahen flohen, in Kellerlöcher schlüpften oder an den Hauswänden hinauf in die Fenster sprangen, so rasch, daß er kaum ein grünliches Blitzen ihrer boshaften Augen sah. Ab und zu hörte er aus den dunkeln Türen ein leises, scharfes Fauchen. Je mehr er sich dem Stadtinnern näherte, desto zahlreicher wurden die Tiere. An einer Ecke scheuchte er ein ganzes Rudel auf, das nach allen Seiten auseinanderstob. 96
Ein Stück weiter lag eine schwarze Katze am Wege. Sie versuchte, auf dem Bauch wegzukriechen, blieb aber wieder liegen. Das Tier sah merkwürdig aus. Kunibert drehte es mit dem Fuß um. Es hatte sechs Beine. »Widerliches Ungeziefer«, brummte er und warf das Tier mit einem Fußtritt beiseite. Nun wurden ihm die Katzen unheimlich, die immer häufiger seinen Weg kreuzten, hinter Türen und Fenstern lauerten, vor ihm flohen, sich hinter ihm zusammenrotteten und ihm in Scharen von fern folgten. Der Weg wurde beschwerlicher. Alle Gassen senkten sich nach der Mitte der Stadt zu, und je weiter Kunibert vordrang, desto öfter kam er an eingestürzten Häusern vorbei und mußte über Mauerwerk und Balken steigen. Er erreichte einen Platz, der wie in einem Trichter lag, denn von allen Seiten führten Straßen zu ihm herab. Um den Platz hatten einst Paläste gestanden, jetzt waren sie halb in der Erde versunken oder zusammengestürzt. Ein Seufzer zog durch die Luft, ein Stöhnen. Kunibert blickte sich um. Wieder ging das Stöhnen durch die graue Stille. Auf der anderen Seite stand vor den Resten eines Palastes eine halb offene Halle, die noch ziemlich unversehrt war. Von dort mußte es kommen. Er ging hinüber. Ein paar Stufen führten zu den Säulen der Halle empor. Kunibert trat ein und begegnete plötzlich den Augen eines Menschen, die ihn weit aufgerissen anstarrten. Dem Ritter lief es kalt über den Rücken vor diesem Blick. Der Oberkörper des Menschen war nackt, und Kunibert dachte erst, der Mann stecke halb in einem schwarzen Marmorblock. Dann bemerkte er, daß der Mann darauf saß; nur 97
waren die Glieder von den Hüften abwärts schwarz und blank wie der Marmor und wie mit dem Stein verwachsen. Aufwärts wurde der Leib heller, doch nur das Gesicht hatte natürliche Farbe. Dafür war es totenbleich und wirkte noch weißer gegen die schwarzen Haare und Brauen. Die Augen waren dunkelgrau und fahl wie Asche die Lippen, aus denen ein tiefer Seufzer kam. Kunibert mußte sich zusammenraffen; das war schlimmer als die tote Einsamkeit, aus der er kam, schlimmer als der unheimliche Torwächter und das ekle Geziefer. Er trat vor den Menschen hin und fragte: »Wer bist du?« Der Mann lallte und brachte mühsam die Sprache in seine Gewalt. Dann sagte er langsam: »Der König. Der Herrscher dieser Stadt. König Muukh.« »Was ist dir geschehen?« »Du siehst es«, antwortete der König. »Ich werde zu Stein. Es kriecht kalt und langsam in mir aufwärts, immer höher. Langsam – immer – höher.« »Wie kannst du zu Stein werden?« »Ein Magier hat mich verzaubert. Mich und mein Volk. Weil ich ihm meine Schwester nicht zum Weibe geben wollte, dem Hund.« »Vermag nichts dich zu retten?« »Doch. Das Blut eines Jünglings und eines Mädchens. Das warme Herzblut.« Kunibert runzelte die Stirn. »Ist dein Leben so wertvoll? Sollen zwei sterben für einen?«
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»Narr. Denke an mein Volk. Tausende teilen mein Schicksal. Verkünde es überall, wenn du weiterziehst. Jugend ist opferbereit, besonders für einen edeln, unglücklichen König.« Er könnte ebensogut warten, bis ihn ein anderer edel nennte, dachte Kunibert, aber unglücklich ist er allerdings. »Wer bist du, und was führt dich hierher?« fragte König Muukh. »Ich bin ein fahrender Ritter und auf dem Wege zur Fee Süffisande.« »Geh nicht hin. Es wäre dein Verderben.« »Ich muß«, erwiderte Kunibert. »Sie hat einst von kunstreichen Zwergen ein Rasierzeug schmieden lassen. Das suche ich.« »Sie wird es dir nicht geben. Du mußt es mit Gewalt nehmen. Getraust du dich das?« »Sie hat es nicht mehr. Es ist über die Welt zerstreut. Doch weiß sie vielleicht, wie ich es finden kann.« König Muukh schloß die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sagte: »Du irrst. Sie hat alles wieder in ihrem Schatz, bis auf die goldene Schale. Die habe ich. Liegt dir so viel daran, dann will ich sie dir geben, wenn du mir die Opfer bringst, die mich erlösen können.« »Fordere, was du willst«, antwortete Kunibert, »nur –« »Woran soll mir sonst liegen?« fragte der König. Der Ritter schüttelte den Kopf. »Du glaubst mir vielleicht nicht?« meinte Muukh. »Geh in meine Schatzkammer. Da du so viel weißt, wirst du die 99
Schale erkennen. Du magst sie dir ansehen, denn du kannst gegen meinen Willen die Stadt nicht verlassen, weder mit ihr noch ohne sie.« Kunibert horchte auf. »Wer wollte mich daran hindern?« »Das wirst du sehen. Jetzt geh nur. Der dritte Pfeiler dort hinter mir dreht sich. Steige getrost die Treppe hinab. Du brauchst kein Licht. Unten brennt eine Lampe, die nie erlischt.« Kunibert trat zu dem Pfeiler und stemmte sich dagegen. Der Stein drehte sich, und da er flach war, wurde Raum zum Eintreten frei. Kunibert sah Stufen und blickte hinunter. Die schmale Treppe, die an der Wand hinablief, verlor sich im Dunkeln, aber auf der anderen Seite brannte unten ein Licht. »In der Porphynische neben der Lampe stehen drei goldene Schalen. Die kleinste, die in der Mitte, ist es«, sagte der König. »Nun? Ein Ritter ohne Tadel magst du sein, ohne Furcht anscheinend nicht.« Kunibert hatte ein Geräusch gehört, vermochte jedoch nicht zu erkennen, woher es gekommen sei. Er zog den Dolch und stieg hinunter. Nach ein paar Schritten wurde es so finster, daß er die Stufen nicht mehr sehen, sondern nur noch fühlen konnte. Die Steine waren glitschig. Kunibert rutschte aus und wäre hinabgestürzt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich mit beiden Armen rückwärts an die Wand zu pressen. Dabei entglitt ihm der Dolch, den er nach ein paar Augenblicken in der Tiefe dumpf niederfallen hörte. Er hätte auf der Treppe aufschlagen müssen, dachte Kunibert verwundert, zog das Schwert und
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tastete vorsichtig nach den nächsten Stufen. Er tastete ins Leere. Die Stufe, auf der er stand, war die letzte. Mitten in der Luft hörte die Treppe auf. Als Kunibert wieder hinter dem Pfeiler hervortrat, sagte der König, der vergebens den Kopf zu ihm umzuwenden suchte: »Noch keinen Mut gefaßt, du vorsichtiger Held? Fürchtest du das Dunkel?« Ohne zu antworten riß der Ritter ein wenig verdorrtes Gestrüpp aus, das neben der Halle wuchs, kehrte zur Treppe zurück, zündete es an und warf es hinab. Es flammte nur einmal auf und erlosch gleich wieder, doch Kunibert hatte genug gesehen. Dort unten lagen Leichen, Gerippe, Schädel. Kunibert kehrte noch einmal zurück, schleppte aus den Ruinen einen großen Steinblock herbei und schmetterte ihn mit Macht auf den Anfang der Treppe. Krachend zerbarsten die Stufen und polterten hohl in die Tiefe. König Muukhs Lider zuckten, als Kunibert blaß, mit zusammengebissenen Zähnen, vor ihn hintrat. »Selbst deine Wehrlosigkeit könnte dich nicht schützen«, sprach Kunibert, »aber nun du mit dieser List niemand mehr verderben wirst, kann ich dir nichts Schlimmeres antun, als dich deinem Schicksal zu überlassen. Dir ist recht geschehen.« »Und nun glaubst du, gehen zu können?« höhnte der König. »Hüte dich. Du siehst, meine Untertanen warten auf dich.« Kunibert drehte ihm den Rücken.
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Auf dem öden Platz saßen kleine Rudel von schwarzen Katzen, andere strichen ruhelos umher. Weiter weg saßen sie dichter, am Rande war ein Gewühl, und die Mündungen der Gassen waren schwarz von dem widerwärtigen Getier. »Nimm dich in acht«, flüsterte der König heiser, »sie sind klein, aber es sind viele, und sie sind hungrig. Noch ist ihnen keiner entgangen.« Kunibert ging über den Platz auf die Straße zu, aus der er gekommen war. Die Tiere wichen ihm aus und folgten ihm dann. Nach und nach kreisten sie ihn ein, umdrängten ihn, liefen ihm zwischen die Füße und sprangen an ihm empor. Er schlug mit dem Schwert nach ihnen und tötete einige. Sofort stürzten sich andere auf die Getroffenen, rissen ihnen gierig das blutige Fleisch von den Knochen und verschlangen es. Trotzdem wurden seine Feinde mehr, und er mußte kräftiger nach ihnen schlagen. Während er über Balken und Trümmer die Straße hinabstieg, wurde das Gewühl noch ärger. Die Katzen sprangen aus den Häusern herab auf seine Schultern. Er schloß das Visier und schüttelte sie ab, doch es war schwarz um ihn her, und er konnte nur mühsam einen Fuß vor den andern setzen. Aus allen Seitengassen, aus allen Türen quollen neue Scharen. Lechzend und geifernd kletterten die Tiere an ihm hinauf, krallten sich in den Fugen der Rüstung fest und umklammerten seine Glieder. Er packte sie mit dem linken Eisenhandschuh, schleuderte sie gegen die Häuser und schlug um sich wie ein Rasender. Immer langsamer kam er vorwärts. Die Straße war steil, er keuchte.
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Der Schweiß rann ihm in Strömen vom Körper, Grausen schüttelte ihn, und allmählich fühlte er seinen Arm erlahmen. Endlich strauchelte er und fiel. Sofort war er unter einem wimmelnden schwarzen Berg begraben. Das ist nicht das Ende eines Ritters, dachte er, diesen Tod will ich nicht sterben! Mit verzweifelter Anstrengung raffte er sich auf und schaffte sich mit ein paar wütenden Hieben für einen Augenblick Luft. Doch seine Füße waren wie Blei, die Glieder schmerzten ihn, und sehnsüchtig blickte er die Straße hinauf. Da sah er den grausigen Torwächter vor sich, der, eine Keule über seinen Schultern schwingend, herangelaufen kam. Der Schreck gab dem Ritter noch einmal Kraft. Mit kühnem Sprung kam er dem Schlag der niedersausenden Keule zuvor und stieß dem Riesen das Schwert in die Brust. Lautlos sackte der gewaltige Leib zusammen. Im Umsehen fielen die schwarzen Katzen über den Gefallenen her und begannen ihn zu zerfleischen. Sie drängten sich, balgten sich, sprangen übereinander, so daß nichts mehr von dem Sterbenden zu sehen war. Kunibert lief die Straße hinan. Zwar verfolgten ihn auch jetzt noch die Tiere, aber es waren weniger, und er konnte sich ihrer erwehren. Immer noch um sich schlagend, erreichte er das Tor und sprang auf die Brücke hinaus. Die Katzen blieben zurück, keine folgte ihm über die Schwelle. Vom Innern der Stadt her kam ein langgezogenes Stöhnen. Kunibert hörte es kaum. Er stieg auf sein Pferd, öffnete aufatmend das Visier und galoppierte davon. In der Rechten hielt er noch das entblößte Schwert, von dem
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schwere, rote Tropfen auf die Erde fielen, die schwärzlich war wie steinige Asche.
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NEUNTES ABENTEUER
SÜFFISANDE Die Sonne war untergegangen, auch ihr letzter Widerschein am Himmel war längst verschwunden. Der Weg lag im Dunkel, und das alte Bäuerlein, das quer auf dem hochbepackten zweirädrigen Karren saß, konnte von dem Reiter, der neben ihm auftauchte und nach dem Weg zum Schloß der Fee Süffisande fragte, nicht mehr erkennen, als daß er bewaffnet war und sein Pferd müde zu sein schien. Der Alte irrte sich nicht. Kunibert war seit vielen Stunden scharf geritten, um das Schloß noch bei Tageslicht zu erreichen. Er hatte oft nach dem Weg gefragt, und dieser war ihm jedesmal genau, nur leider auch jedesmal anders beschrieben worden. »So«, sagte der Bauer. »Ihr wollt auch heute abend zum Schloß und seid fremd hier. Reitet neben mir her; es wird Eurem Pferd guttun, ein wenig Schritt zu gehen. Ich zeige Euch einen Feldweg, der ein großes Stück abschneidet.« Kunibert blickte nach den Feldern, die schwarz und undeutlich zur Rechten und Linken lagen, und dachte an Scharfenstein. »Wie wird die Ernte?« fragte er. »Seid Ihr zufrieden?« »Mittelmäßig«, antwortete der Bauer. »Nur die Kartoffeln werden gut.« »Ja, ihr habt hier merkwürdig viel sandigen Boden.«
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Die Äuglein des Alten blitzten verschmitzt zu dem Schatten des fremden Reiters hin. »Warum merkwürdig? Bedenkt, die Fee hat eine Menge Schwestern, was weiß ich, wieviel. Jetzt kommen sie ja selten her, aber sie sind alle hier aufgewachsen, und alle heißen sie so ähnlich. Süffisande, Melisande, Sakrosande, Palisande – was Wunder, daß schließlich die Gegend versandet ist.« Er kicherte in sich hinein. »Ihr seid wohl der Witzbold in Eurem Dorfe?« fragte Kunibert lachend. »Nein«, entgegnete der Bauer, »so alt wie der Witz bin ich denn doch nicht.« Er spuckte in großem Bogen zwischen die Wagenspur. »Hoffentlich hat die Fee auch noch einen segensreichen Einfluß«, meinte Kunibert. »Hm. Na ja, wir leben alle mehr oder weniger vom Schloß. Sie tut auch manches Gute, legt mal was Schönes in die Wiege oder so. Nur – man ist eben Luft für sie. Solange man ihr nicht widerspricht. Denn das gibt's nicht. Und mit Feen ist nicht gut Kirschen essen. Merkt's Euch, wenn Ihr sie nicht kennt. Aber«, und das Bäuerlein kicherte wieder in sich hinein, »am Ende eßt Ihr gar nicht gern Kirschen.« Kunibert ritt eine Weile schweigend neben dem Karren hin, den das Pferdchen wacker durch den tiefen Weg zog. Ab und zu gab es einen leichten Stoß gegen einen Stein, einen Ruck und ein leises Räderknarren. »So«, sagte der Bauer, ohne anzuhalten, »hier könnt Ihr abbiegen. Das hohe Schwarze da drüben ist der
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Schloßpark. An der Mauer reitet nach links, bis Ihr an die große Straße kommt, dann seht Ihr das Tor. Der Feldweg ist gut. Ihr könnt getrost galoppieren.« Kunibert dankte und folgte dem Rat. Der Braune griff kräftig aus, als ob er den Stall wittere. Über den Feldern stand der Himmel voller Sterne. Kunibert hörte nur das dumpfe Aufschlagen der Hufe im Sand, das Schnauben des Pferdes und das Knirschen im Sattelzeug. Die dunkle Masse vor ihm wurde größer und wuchs hoch in die Nacht. Sterne flimmerten zwischen den Ästen gewaltiger Bäume. Kunibert trabte an der hellen Parkmauer entlang, über die ein schwerer Blütenduft kam. Als er sein Pferd im Schritt verschnaufen ließ, war ein leises Singen in der Luft wie von Musik. Kunibert lenkte auf die breite Straße. Die Musik klang deutlicher. Hie und da leuchtete es zwischen den Bäumen auf wie ferne strahlend erhellte Fenster. Eine sechsspännige Karosse mit zwei Vorreitern überholte ihn, jagte klirrend und funkelnd an ihm vorüber und bog in ein weit offenes Tor. Kunibert folgte. Ein kurzer, halbrunder Weg zwischen dunklen Bäumen, auf den vom Schloß her Licht fiel, dann hielt er auf einem freien Platz mit unwirklich beschienenem Rasen und Blumenbeeten und sah vor sich Süffisandes Schloß von oben bis unten in Licht getaucht. Alle Fenster waren erleuchtet, doch das war es nicht, das Licht glänzte durch die Wände, die aus glattem, mattrosa Stein waren. Dazu glühte die ganze Auffahrt in einem duftigen Weiß; es konnte nur durchleuchteter Alabaster sein.
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Das sieht wirklich wie ein Feenschloß aus, dachte Kunibert und trieb sein Pferd mit leisem Schenkeldruck vorwärts. Der Braune spitzte vorsichtig die Ohren, als er die durchleuchtete Alabasterrampe hinaufgehen sollte. Dann faßte er rasch Vertrauen und trug seinen Reiter hinan. Vor dem Portal aus hellrotem Kupfer und Kristall hielt ein Stallknecht dem Ritter Pferd und Bügel. Ein anderer folgte ihm mit dem Mantelsack über die wenigen flachen Stufen zur Tür, deren Flügel zwei würdevolle Diener öffneten. Kunibert trat ein. Blendendes Licht und plötzlich anschwellende Musik empfingen ihn. Nach wenigen Schritten blieb er bewundernd stehen. Durch die Türen drang gedämpftes Stimmengewirr. Auch die große Halle war aus dem rosigen Stein, der glänzend und klar war, so daß man tief in ihn hineinzublicken glaubte. Zwischen den silbernen Wandleuchtern, die strahlende Kerzen trugen, hing fremdartiger Zierat. In einigen Nischen standen Marmorbilder. Die blanken Türen waren abwechselnd aus Rosenholz und Veilchenholz, und große bunte Teppiche bedeckten den Fußboden. In der Mitte sprühte aus einer in sanft ansteigendem dichtem Rasen gebetteten Schale ein schneeweißer Wasserstrahl, um den bunte Vögel flatterten. Kunibert sah sich zwischen zwei langen Reihen in Samt und Seide gekleideter Lakaien mit Wadenstrümpfen und Schnallenschuhen. Alle starrten unbeweglich den Fremden an, der nach dem langen Ritt von oben bis unten bestaubt vor ihnen stand und mehr nach Abenteuer und Landstraße als festlich aussah. Hinter Kuniberts Rücken hielt der 108
Stallknecht den abgenützten Mantelsack hoch und schnitt ein Gesicht. Kunibert bemerkte, daß einer der Lakaien höhnisch die Lippen verzog. Er ging weiter. Der Lakai vertrat ihm den Weg. »Seid Ihr zum Fest geladen?« Kunibert stieg das Blut in die Stirn. »Ruft mir jemand, dem diese Frage zukommt«, antwortete er kalt und blickte sich in der Halle um, wo jedoch sonst niemand zu sehen war. »Was habt Ihr im Schloß zu suchen?« fragte der Lakai hochmütig. »Wäre noch schöner, wenn hier jeder –« Er verstummte etwas erschrocken vor Kuniberts Blick, trat aber nicht zurück. Indem wurden Musik und Stimmen für einen Augenblick laut und klar. Eine Tür war aufgegangen. Zwei junge Mädchen, die nur aus Lachen, Locken und fliegender Seide zu bestehen schienen, rannten durch die Halle auf eine andere Tür zu. Hinter ihnen drein lief ein hübscher blutjunger Page in weißseidenen Trikots, roten Saffianschuhen und enganliegendem Wams, dessen weißer Samt mit durchbohrten kirschroten Herzen bestickt war, aus deren jedem drei Blutstropfen fielen. An Hals und Ärmeln war das Wams mit Zobel verbrämt. Der Page versuchte die Mädchen aufzuhalten, blieb jedoch beim Anblick Kuniberts wie angewurzelt stehen und musterte ihn mit strahlenden Augen von oben bis unten. »Ein fahrender Ritter«, rief er und schlug leicht mit der Faust in die flache Hand. »Bei allen Göttern! Ein fahrender Ritter!« Er eilte auf Kunibert zu.
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Kunibert ging ihm entgegen und trat dabei dem Lakaien, der nicht rasch genug auswich, mit dem Eisenschuh kräftig auf die Zehen. Der Mann erblaßte und machte einen Luftsprung, aber nicht aus Freude. »Willkommen, Herr Ritter«, rief der Page, sich artig verbeugend. »Willkommen im Namen unserer Herrin. Bitte, bemüht Euch!« Er machte eine einladende Handbewegung. Kunibert dankte. »Ich hätte lieber bei Tage die Gastfreundschaft der Fee erbeten«, sagte er, »doch ist mir der Weg falsch beschrieben worden. Jetzt, zu so später Stunde und inmitten dieses Festes –« »Die Herrin würde dem nie vergeben, der Euch ziehen ließe, Herr Ritter«, antwortete der Page. »Nie!« Er geleitete den Gast zu einer der schön geschwungenen Treppen, die wie versteinerte rosige Kaskaden in die schmalen Seiten der Halle mündeten und über deren Stufen in der Mitte ein dunkelroter Teppich herablief. »Ihr trefft es gut, daß Ihr heute abend kommt«, versicherte der Page. »Doch –«, er blieb erschrocken stehen, als habe er etwas vergessen, »Euer Schild?« »Hängt bei einem reichen Moslem«, beruhigte ihn Kunibert. »Ich war in Gefangenschaft.« »In Gefangenschaft?« rief der Page begeistert. »Richtig in Gefangenschaft?« Ein würdiger schwarzgekleideter Mann mit einem Doppelkinn und einer dicken, goldenen Kette um Brust und Schultern kam ihnen auf der Treppe entgegen.
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»Das ist Selim, unser Haushofmeister«, sagte der Page, sprang voran und flüsterte dem Doppelkinn eifrig etwas zu. Selim begrüßte den Gast. »Darf ich Euch einstweilen den Willkomm bieten, den Euch unsere Herrin bald selbst sagen wird, Herr Ritter?« »Ich bin dankbar, zu so später Stunde aufgenommen zu werden«, versetzte Kunibert. »Doch möchte ich mich nicht in das Fest drängen.« »Die Herrin rechnet auf Euer Erscheinen«, widersprach Selim. »Ich sende Euch alles hinauf, dessen Ihr bedürft, und denke, es wird Euch an nichts fehlen, doch bitte ich: verschweigt keinen Eurer Wünsche. Für jetzt – entlaßt mich. Ihr werdet begreifen, daß ich heute abend alle Hände voll zu tun habe. Bindo«, er wandte sich streng an den Pagen, »dir vertraue ich die Sorge für den Ritter an. Tu deine Pflicht.« Der Page kreuzte die Arme über der Brust, verbeugte sich tief, so daß seine halblangen braunen Haare vornüber fielen, und murmelte etwas Unverständliches. Selim zog die Brauen in die Höhe und drohte mit dem Finger. »Euch plagt mal wieder alle der Übermut. Daß ihr mir heute abend keinen Unfug anstellt!« Er seufzte. »Die Pagen, Herr Ritter, hat Allah, sein Name sei erhöht und erhoben, in einer bösen Stunde erschaffen.« Bindo verbeugte sich mit gekreuzten Armen hinter dem Haushofmeister her. »Allah ist Allah«, sagte er halblaut. »Bismillah – bis morgen, bis du mich wiedersiehst.« Dann war er mit zwei Sprüngen auf dem nächsten Treppenabsatz.
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Der Page führte den Ritter über helle Treppen und Gänge, die bald schmaler, bald breiter wurden, sich mit andern Gängen kreuzten und unvermutet um Ecken bogen. Ab und zu sah Kunibert von weitem fremdartige Gestalten, sonst begegneten ihnen nur vereinzelte Diener, die lautlos vorübereilten. In einem runden Raum, in den mehrere Gänge mündeten, lagen in der Mitte, friedlich schlafend und eng aneinandergeschmiegt, ein Reh und ein kleiner Fuchs, der flüchtig zu dem Ritter aufblinzelte. Kunibert blickte sich eifrig um. Alle Türen waren aus erlesenem Holz, seltene Kostbarkeiten aus fernen Ländern schmückten die Wände, die alle aus demselben hellen Stein waren, in dessen blanker Oberfläche sich die Lichter spiegelten. »Das ganze Schloß ist von oben bis unten aus Rosenquarz«, sagte Bindo. »Es kann auf der Welt nichts Schöneres geben.« »Gewiß nicht«, antwortete Kunibert überzeugt. Ab und zu wurde die Außenwand eines Ganges von weitgespannten Bogen unterbrochen, durch die man in dunkle oder erhellte Höfe hinabsah, hinter denen man die Bäume des Parks und die Sterne erblickte. Vor einer offenen Tür warteten zwei arabische Diener, die sich tief verneigten. Bindo ließ den Ritter vorangehen, und Kunibert trat in ein großes, luftiges, prächtig eingerichtetes Gemach. »Die Sklaven können nur Arabisch«, erklärte der Page, »und verstehen uns nicht.«
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Kunibert nahm den Helm ab und stellte ihn auf den Tisch, wo schon sein Mantelsack lag. »Darf ich Euch bedienen?« fragte Bindo, nahm dem Ritter das Schwertgehenk ab und fing mit flinken Händen an, ihm die Rüstung zu lösen. »Du bist geschickt«, lobte ihn Kunibert. »Hast du das hier gelernt?« Bindo, der neben ihm kniete, blickte auf. »Nein, bei meinem verstorbenen Vater, weil ich der Älteste war. Er war ein Ritter wie Ihr. Aber hier lernen wir auch alles, was ein Page können muß: tanzen, reiten, fechten und jagen, dichten, singen, die Laute schlagen und schönen Frauen dienen.« »Mir scheint, du bist gern hier?« »Nirgends auf der Welt kann es schöner sein, Herr Ritter. Ein Jahr bin ich hier, zwei darf ich bleiben. Es ist aber auch schwer, herzukommen. Man muß sehr gute Verbindungen haben. Was immer Ihr schon gesehen habt, Herr Ritter, Ihr werdet Augen machen. Das Schloß ist voller Wunder. Und unter uns, ja, unter uns Männern: Wo gäbe es so viel schöne Frauen wie hier?« »Dann sind die Frauen wohl doch das Schönste?« »Wie sollten sie nicht? Nur –« »Nur? Haben sie einen Fehler?« »Bloß einen einzigen. Sie lachen zuviel. Unter uns vierundzwanzig Pagen sind ja welche, die noch richtige Kinder sind, aber man muß doch unterscheiden.« »Das sollte man freilich«, lachte Kunibert.
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Bindo sprang auf. »Seht Ihr, Herr Ritter, jetzt lacht Ihr auch.« »Doch nicht über dich, Bindo. So heißt du doch?« »Ja, hier. Jeder Page bekommt bei seiner Ankunft einen Pagennamen. Ich bin ein Marquis. Aber ich will Ritter werden wie Ihr und mein Vater. Das ist viel mehr, denn man muß es sich verdienen.« »Das wirst du, Bindo.« »Wenn es nur bald wäre. Und dann will ich auch auf Abenteuer ausziehen. Ist das Euer Schwert, das Eure Taten miterlebt hat? Darf ich es ansehen?« Kunibert nickte. Der Page nahm wichtig das Schwert, zog es und betrachtete die Klinge mit dem Ausdruck eines im Handwerk ergrauten Waffenschmieds. »Eine treffliche Arbeit«, sagte er, »ein herrliches Schwert. Wie oft: Ihr es im Ernst gezogen habt! Und wieviel Blut mag es getrunken haben?« Katzenblut, dachte Kunibert und runzelte die Stirn. »Habt Ihr auch Drachen bestanden?« Kunibert lachte hell auf. »Einen. Er war freilich sehr ungefährlich.« Bindo machte ein erstauntes Gesicht. »Und Riesen und Zwerge?« fragte er eifrig weiter. »Riesen? Ja, einen, noch dazu einen üblen Gesellen, denn er hatte keinen Kopf. Er war viel ungemütlicher als der Drache. Doch hat schon mein Vater dies Schwert geführt, manche gute Rittertat damit getan und auch Riesen bekämpft. Den Riesen Ladislaus –«
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Bindo riß die Augen auf. »Wie?« rief er entzückt. »Euer Vater war es, der den Riesen Ladislaus erschlagen hat? Erzählt, bitte, erzählt!« Um Himmels willen, dachte Kunibert, jetzt war ich dicht daran, selbst die Geschichte zu erzählen, vor der ich davongelaufen bin. »Ein andermal, lieber Bindo«, lenkte er ab und war froh, daß ein bloß mit Turban und Lendenschutz bekleideter Neger eintrat, der ihn ins Bad begleiten wollte. Nachdem er in einem üppigen türkischen Bad von Sklaven gewaschen, geknetet, mit aromatischen Essenzen gerieben, mit duftenden Wassern übersprüht und schließlich in köstliches Linnen gehüllt worden war, fühlte sich Kunibert wie neugeboren. Der Diener, der ihn geholt hatte, brachte ihn in einen Nebenraum, wo sich ein zierlicher Mann auf ihn stürzte, der einen halblangen, weißen Kittel trug und in dessen schwarzer Lockenfülle ein riesiger Frisierkamm aus Elfenbein stak, jedoch nur zur Zierde, nicht zum Gebrauch. Es war der Friseur. Er umglitt Kunibert mit geschmeidigen Bewegungen und fragte verbindlich: »Wie wünschen der Herr frisiert zu werden? Nach welcher Mode auf der Erden? Fränkisch, russisch, hindustanisch? Persisch, indisch, afrikanisch? Irokesisch, schwedisch, römisch? Feuerländisch oder böhmisch? Syrisch, finnisch, katalonisch? Kalabresisch? Babylonisch? Englisch, wienerisch, tatarisch? Alles! Eines nicht: barbarisch. Alles kann ich, alles weiß ich, denn ich bin Francis. So heiß' ich.« Er neigte anmutig sein Lockenhaupt und klapperte sprungbereit mit der schnappenden Schere, die jedoch, 115
während er Kunibert mit kleinen Tanzschritten umflattert hatte, schon bei kürzeren oder längeren Angriffen auf dessen unterwegs etwas lang gewordenes Haupthaar zur Anwendung gekommen war. »Wie wäre es, wenn Sie mich so frisierten, wie es zu mir paßt?« meinte Kunibert. Francis legte den Kopf auf die Seite, kniff ein Auge zu und betrachtete sinnend den Ritter. »Gut. Vaterland – bleibt unbekannt«, murmelte er. »Aber nennt Wesen mir und Temperament. Sanguinisch, pessimistisch? Düster, heiter, fatalistisch? Offen, ehrlich, schlicht? Verschlagen? Heldenhaft und ohne Zagen? Voller Leichtsinn, voller Glut, Würde oder Übermut? Sanft? Still? Heftig? Stolz Fanatisch? Alles – eines nicht: phlegmatisch.« »Ein Künstler wie Ihr müßte mir das eigentlich ansehen«, antwortete Kunibert. Francis ließ sich nicht dadurch stören, daß die Diener den Gast in ein ritterliches Festgewand aus golddurchwirktem Brokat kleideten, sondern jonglierte blitzschnell mit Brenneisen und Kamm weiter. Dabei fuhr er mit unaufhaltsamer Zungenfertigkeit fort: »Oh – auch ungenannt seid Ihr längst erkannt. Doch, wie möchtet Ihr den Frauen heute in die Augen schauen? Sagt, wie wollt Ihr sie bezwingen, mit dem Blick zum Herzen dringen? Lyrisch? Dramatisch? Keck und soldatisch? Lustig, voll Scherz? Innig, ganz Herz? Schmachtend verehrend? Stürmisch begehrend? Zart enthusiastisch? Prahlend, bombastisch? Hochmütig, herrisch –«
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»Alles, Francois, nur nicht närrisch«, unterbrach ihn Kunibert lachend. Der Friseur stand vor ihm, hielt in der Linken den Kamm, ließ in der erhobenen Rechten die Brennschere wirbeln und betrachtete ihn stolz. Dann steckte er sein Werkzeug in die Tasche, machte seine zierlichste Verbeugung und sprach: »Nun tragt Ihr das Siegel meiner Kunst! Bitte sehr, dort steht der Spiegel. Eurer Gunst bleibt Francois zu jedem Dienst gewärtig. Ihr seid fertig!« Kunibert hatte bei dem eifrigen Hantieren mit dem Brenneisen befürchtet, daß er den Kopf in eine Waschschüssel werde stecken müssen. Nun sah er im Spiegel, daß sein Haar so natürlich und kleidsam fiel wie noch nie. Auch sonst war er von seinem Aussehen befriedigt. Das prächtige Gewand stand ihm gut. Er fand, daß er sich so durchaus sehen lassen könne. Bindo, der in diesem Augenblick eintrat, um ihn zu holen, blieb bewundernd stehen. »Fabelhaft!« rief er. In der Halle stand eine Gruppe von Pagen, alle so gekleidet wie Bindo, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und eifrig tuschelten. Beim Erscheinen des fremden Ritters verstummten sie und verneigten sich. Zwei liefen herbei und öffneten eine der glänzenden Türen. Kunibert trat mit seinem Pagen ein. Laute Stimmen, Lachen und Musik schlugen ihm entgegen. Freundlich erwiderten die Zunächststehenden seinen Gruß. Bindo führte den Ritter durch ein paar herrliche, festliche Räume, in denen sich fröhlich die bunteste Gesellschaft unterhielt, die Kunibert je gesehen hatte.
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Kunibert, der sich gespannt nach der Herrin des Hauses umsah, bemerkte flüchtig einige Chinesen, eine Tscherkessin, ein paar Griechinnen, einen Wüstenscheich, einen indischen Zauberer im Gespräch mit einem Mann, der ein Sterndeuter sein mochte, Spanierinnen, Ägypterinnen, Ritter, Priester, Kaufleute, Seefahrer und Gelehrte aus aller Herren Ländern und dazwischen Erscheinungen, die er nicht zu deuten wagte. Schließlich konnten doch nicht Nixen und Nymphen unter den Gästen sein. Warum nicht? fiel es Kunibert ein. In einem Feenschloß –? Die Luft war voll Frische und köstlichen Wohlgeruchs. Bald war es Kunibert, als atme er Waldluft, dann wieder, als sei er auf einer Wiese, an einem Fluß, am Meer oder hoch oben in den Bergen. »Wenn du die Herrin siehst, sag es mir gleich«, wandte er sich an Bindo. »Denke daran, daß ich sie nicht kenne.« »Das macht nichts aus«, antwortete Bindo. »Sie ist nicht zu verkennen.« Sie traten in einen großen, flimmernden Saal, wo viele Paare tanzten und auf einem erhöhten Platz eine Zigeunerkapelle spielte. Der Primas war so begeistert und spielte mit solcher Hingebung, daß er neben besonders schönen Paaren hinglitt und sie geigend ein Stück begleitete. Meistens geriet er dabei in den Strudel der Tanzenden, und es war nicht abzusehen, wie er wieder herausfinden werde. Ein junger javanischer Zauberer, der an der Tür stand und ihn lächelnd beobachtete, machte sich jedesmal den Spaß, ihn wieder zu seinen Musikern zurückzuzaubern, worauf dann der Zigeuner einen Augenblick verblüfft war, plötzlich wieder bei seiner Kapelle zu 118
stehen, aber gleich wieder von der Musik mitgerissen wurde. Zuweilen sah Kunibert ein Leuchten und Blitzen, das helle Strahlen um sich warf. Er bemerkte, daß es von einem wunderbaren Brillanten kam, den eine der Tanzenden am Finger trug. Sie näherte sich. Es war eine schlanke, herrlich gewachsene Frau mit kastanienroten Haaren und schönen Augen von der unergründlichen Farbe dunkeln, goldbraunen Bernsteins. Sie trug ein helles Gewand, das schimmerte, als ob es aus Tausenden von Schmetterlingsflügeln bestanden hätte. »Das ist die Herrin«, flüsterte Bindo. Süffisande machte vor Kunibert halt, streckte, ohne sich von ihrem Tänzer zu lösen, einen ihrer weißen Arme aus und reichte dem Ritter die Hand. »Sie da, Kunibert!« rief sie. »Nett, daß du da bist. Geh nur gleich ans Büfett. Du mußt schrecklich hungrig sein, armer Kerl. Später gibt's noch was Warmes, aber inzwischen sehen wir uns. Hast du je solche Tanzmusik gehört? Unterhalte dich gut!« Sie winkte ihm zu und tanzte weiter. Kunibert schaute ihr nach. Also das ist Süffisande, dachte er. So sieht eine Fee aus. Ihr Blick zitterte noch in ihm, und er fühlte noch die Berührung ihrer Hand, die er mehr bewundert hatte als den Brillanten, der daran funkelte. »Daß sie wußte, wer ich war«, sagte er. »Selim hat mich ihr wohl angemeldet.«
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»Kann sein«, erwiderte Bindo. »Doch die Herrin weiß auch so alles.« Sie gingen durch die anderen Zimmer zurück. Kunibert sah sich genauer um. Nicht möglich, dachte er, das kann nicht alles Wirklichkeit sein. Es ist wohl doch ein Mummenschanz, ein Maskenfest. Ein junger arabischer Ritter mit edeln, sonnengebräunten Zügen schien ihm die Zweifel vom Gesicht zu lesen und lächelte ihm zu. »Nein«, sagte er, »hier ist jeder, was er scheint. Vielleicht habt Ihr das noch nie erlebt, und es begegnet Euch auch nie wieder. Nutzt Eure Augen.« Kuniberts Gedanken wurden im nächsten Gemach durch den Anblick dreier blonder junger Mädchen abgelenkt, die, in leichte, weiße Gewänder gekleidet, am offenen Fenster standen und hinaussahen. Sie schienen ein Lied vor sich hinzusummen, wenigstens wiegten sie sich leise nach demselben Takt, was man freilich mehr ahnte als sah. Es lag etwas so Lichtes, Anmutiges über ihnen, daß Kunibert fragte: »Wer sind die hübschen jungen Mädchen?« »Drei Elfen auf Urlaub«, erklärte Bindo. »Ich glaube, aus Thüringen. Sie sind süß, nicht? Nur leider sehr schüchtern.« »Elfen – ?« wiederholte Kunibert. »Nun ja«, sagte Bindo. »Jetzt ist es da oben kalt und dunkel. Winter. Da können sie doch nicht nachts im Walde tanzen und sehen sich ein wenig die Welt an. Sie haben es gut, sie können mit dem Wind reisen. Manchmal, wenn die Herrin sie sehr bittet, tanzen sie, und dann ist alles begeistert.«
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Kunibert beschloß, sich über nichts mehr zu wundern, und ging weiter. Am Ende der Zimmerreihe war in einem kleinen Saal das kalte Büfett aufgestellt. Während Kunibert sich mit köstlichen Leckerbissen stärkte, kam er bald mit diesem, bald mit jenem der Gäste ins Gespräch. Alle behandelten ihn wie einen Bekannten. Er fand, daß er sich noch nie unter Fremden so wohl gefühlt habe. Eine Inselgriechin fragte ihn nach seinen Abenteuern. Sie hatte so rätselhafte dunkle Augen, daß er immer wieder hineinsehen mußte, obwohl seine Erzählung in Gefahr kam, zu stocken. Die Augen erinnerten ihn an tiefdunkeln Wein, und doch mußte er an den schwarzen Spiegel eines nächtigen Teiches und an Schilf denken. Plötzlich sah er Süffisande vorübergehen und ihm lachend drohen. »Kunibert, Kunibert«, rief die Fee, »vergiß Sonja nicht.« Sie trat zu ihnen. »In solche Augen sieht niemand ungestraft«, setzte sie hinzu und wandte sich dann an die Griechin. »Der junge Mann ist verlobt, meine Liebe.« Die beiden Frauen lachten. Kunibert fühlte zu seinem Ärger, daß er rot wurde »Nachher«, sagte Süffisande, nickte ihm zu und ging weiter. Kunibert durchschritt neugierig die Gemächer, blieb hie und da stehen, knüpfte eine Unterhaltung an oder wurde begrüßt und in ein Gespräch gezogen. Er machte die erstaunlichsten Bekanntschaften und hörte Dinge, die für ihn kaum denkbar waren, als die allereinfachsten 121
erwähnen. Bindo ließ sich von Zeit zu Zeit in seiner Nähe blicken und verschwand wieder. In einem hohen Lehnstuhl saß ein kleiner, untersetzter Mann mit eisgrauem Bart, der ein grobes, graues Gewand und eine rote Zipfelmütze trug. Er erzählte wohl etwas, denn ein enger Kreis von Zuhörern umstand seinen Armstuhl, in dem er fast verschwand. Auf allen Gesichtern lag ein Lächeln, das wie ein Widerschein war. Kunibert fand Gefallen an dem runzligen Gesicht, das so gutmütig und zufrieden wirkte. Als er näher kam, sah der Alte zu ihm auf, und Kunibert blickte in zwei kleine, hellblaue Augen, die klar und ganz voll Leben waren, gleichzeitig ernst und verschmitzt und vor allem voll unendlicher Güte. Nun lächelte auch Kunibert. »Du«, sagte der graue Mann zu ihm, »bist du nicht der Ritter, der heute abend angekommen ist?« »Freilich«, antwortete Kunibert und trat höflich neben den Stuhl. Der Alte stützte die Hände auf die Armlehnen, nahm einen Schwung und stellte sich auf den Sitz. Er war jetzt fast so groß wie der Ritter. »Du bist ja ein Sonntagskind!« rief er vergnügt. »Sieht man das?« fragte Kunibert erstaunt. Der Alte lachte. »Daß ihr Menschen immer alles zu sehen glaubt! Hättest du mir im Dunkeln die Hand gegeben, hätte ich es gefühlt; hätte ich dich nur sprechen hören, hätte ich es gehört. Das sind doch alles bloß Wege zu derselben Brücke.«
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»Ach so«, sagte Kunibert, der sich den Kopf darüber zerbrach, wer das wohl wieder sein mochte, und sich vergebens bemühte, kein neugieriges Gesicht zu machen. »Nun möchtest du gern wissen, wer ich bin, und bringst es nicht heraus«, meinte der Graue schmunzelnd. »Dir fehlt die Übung. Du hast ja auch erst angefangen zu leben. Ich komme von Norden wie du, nur von viel weiter her. Weißt du, wo Finnland liegt?« »Ja«, erwiderte Kunibert, »aber ich war noch nicht dort.« »Dann reise einmal hin«, riet der Alte. »Die Welt ist gewiß überall herrlich, aber schöner kann es nirgends sein, wenn auch wohl jedem seine Heimat am besten gefällt. Du kommst aus Deutschland?« »Ja«, antwortete Kunibert. »Das muß ein schönes Land sein. Ich bin nur darüber hingeflogen, ohne etwas davon zu sehen. Erst wollten sie ja ein Loch in meinen Korb machen, damit es nicht so langweilig für mich wäre, doch das ging nicht, weil es gezogen hätte.« »Bist du in einem Korb gereist?« rief Kunibert. »Ja, denke dir. In einem Korb, den die Wildgänse geflochten und ganz mit Daunen ausgepolstert haben. Sie hatten fürchterlich viel dabei zu schnattern. Dann wurden ein paar Stangen hindurchgesteckt, und als die Wildschwäne im Herbst nach Süden flogen, haben sie den Korb auf den Nacken genommen. Sie konnten das besser als die Gänse, weil sie so stark sind. Du glaubst nicht, wie schnell sie fliegen. Oh, die Wildschwäne sind tüchtig.« 123
»Reist du oft so?« »Wo denkst du hin? Dies ist meine erste Reise. Ein Tomt kann nie von daheim weg.« »Ein Tomt – ?« »Wie man uns in Deutschland nennt, weiß ich nicht, aber sicherlich hat in der ganzen Welt jedes Haus seinen Tomt, wenn wir auch wohl im Norden, wo es die Menschen am schwersten haben, am nötigsten sind. Oh, wir haben viel zu tun. Wir müssen darauf achten, daß die Kinder nicht in die Kellerluke fallen, daß der Schornstein zieht und die Dachrinne sich nicht verstopft, daß das Vieh sein Fressen bekommt und die Magd nicht verschläft, daß der Mann aufwacht, wenn nachts das Pferd in die Halfterkette getreten ist und um sich schlägt, daß kein Funken ins trockene Holz oder ins Stroh fliegt und kein Brand auskommt, und daß der morsche Balken bricht, wenn niemand darunter steht. Und immer die Kinder. Ich weiß nicht, ob sie überall so sind; bei uns sind sie schrecklich wild.« »Du hast ein schwieriges Amt.« »Glaub mir, lieber Ritter, niemand kennt die Menschen so gut wie wir.« »Ich wollte, du erzähltest mir mehr«, sagte Kunibert. »Setz dich morgen im Park zu mir, wenn ich aus der heißen Quelle komme und mein Sonnenbad nehme.« »Ist hier eine heiße Quelle?« »Deswegen bin ich doch hergekommen. Süffisande hat mich jedes Frühjahr einladen lassen, wenn unsere Hausschwalben kamen, und nie konnte ich weg. Diesmal 124
ging es endlich. Du mußt nämlich wissen, wir wohnen etwas feucht, und wenn man dreihundert Jahre in einem feuchten Hause wohnt, bekommt man schließlich Rheumatismus. Nun, die Quelle tut mir sehr gut. Unterhaltend ist es hier auch, und seit sie gar gelernt haben, Grütze zu kochen, fühle ich mich noch einmal so wohl.« Süffisande trat ein. »Ah«, rief sie schon von der Tür her, »Kunibert hat unseren Tomt gefunden. Das habe ich mir gedacht.« Sie kam zu dem Sessel, auf dem der Tomt stand, und legte die Arme auf die Rückenlehne. »Da warst du gut aufgehoben, Kunibert. Du kannst viel von ihm hören. Ein Geheimnis freilich vertraut er bloß Auserwählten an, nämlich, wie man Grütze kocht.« »Nein, Süffisande!« rief der Tomt. »Hab' ich nicht recht?« versetzte sie lachend. »Du mußt wissen, Kunibert, der Tomt gehört zu unseren liebsten Gästen, nur ist er viel zu bescheiden. Mit seiner Grütze aber versteht er keinen Spaß. Wenn die nicht richtig ist, dann mauzt er.« Der Tomt hatte sich auf die Armlehne gesetzt und lachte, daß es ihn schüttelte. »Nun ja«, verteidigte er sich, »es ist doch so. Zaubern in allen Ehren, aber Grütze muß nun mal stundenlang auf dem Herd vor sich hinpruzzeln und darf nicht so eins, zwei, drei gekocht werden in ein paar Minuten.« »Siehst du, Kunibert«, sagte Süffisande, »jetzt weißt du es. Vergiß nicht, Sonja beizeiten darauf aufmerksam zu machen. Leider, lieber Tomt, muß ich dir deinen Freund 125
entführen. Ich habe ernsthaft mit ihm zu sprechen. Euern Arm, Herr Ritter.« Sie trat mit Kunibert auf eine Terrasse hinaus, von der breite Stufen in den Park hinabführten. »Erzähle mir nun«, bat Süffisande, während sie langsam in der lauen Nachtluft auf und ab gingen, »erzähle mir, was du seit Marsilia erlebt hast. Von deiner Verlobung mit Sonja weiß jeder.« »So?« fragte Kunibert erstaunt, doch da Süffisande nicht antwortete, berichtete er von seiner Gefangenschaft, von König Dagobert und von seiner Flucht, dem Besuch in der Drachenhöhle und dem Abenteuer mit König Muukh. »Knurks ist wirklich eine Seele von einem Drachen!« rief Süffisande. Sie lehnte sich rückwärts an die Brüstung der Terrasse und stützte die Hände zu beiden Seiten auf den hellen Stein. Kunibert konnte sie in dem Licht, das vom Schloß her auf sie fiel, deutlich sehen. »Und nun«, sprach sie weiter, »du bist hier und hast vermutlich etwas auf dem Herzen. Da will ich dir gleich sagen: ich bin keine von den Feen, die in euren Märchen jedem, der ihnen begegnet, drei Wünsche freigeben. Du kannst dich also auch nicht in dein Unglück wünschen. Vielleicht vermag ich aber doch etwas für dich zu tun.« »Viel. Alles!« versicherte Kunibert. »Du hast das Rasierzeug, das ich suche.« »Ich – ? Lieber Kunibert, ich habe es gleich verschenkt, als ich es hatte machen lassen. Wie kommst du darauf?« »König Muukh hat es mir gesagt. Daß er die goldene Schale hätte, habe ich ja nicht mehr geglaubt, weil er mich
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dadurch ins Verderben locken wollte, doch daß du alles wieder hast –« Süffisande schüttelte den Kopf. »Muukh hatte noch nie etwas von dem Rasierzeug gehört und weiß nicht mehr davon, als du ihm erzählt hast.« Kunibert sah sie erstaunt an. »Nun ja. Er hat noch nie ein wahres Wort gesprochen, es sei denn, um eine größere Lüge damit glaubhaft zu machen.« »Ist er deswegen verzaubert worden?« »Verzaubert? Die Mühe hat sich niemand zu machen brauchen. Weißt du nicht, daß König Muukh in seinen eigenen Lügen versteinert?« »Aber du kannst mir doch sagen, wo das Rasierzeug steckt?« rief Kunibert erschrocken. Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe mich nie darum gekümmert.« »Mächtig, wie du bist«, bat Kunibert eindringlich, »ist es dir gewiß ein leichtes, es zu erfahren oder gar –« Süffisande warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf. »Ach so, jetzt möchtest du, daß ich dreimal mit dem Zauberstab hier auf den Stein klopfte, Hokuspokus sagte, und das Rasierzeug dann dastände, so daß du es nur unter den Arm zu nehmen und damit nach Marsilia zu reisen brauchtest. Nein, mein Lieber.« Sie richtete sich auf und sah ihn an. In ihren dunkeln, bernsteinfarbenen Augen blitzten kleine Goldfunken.
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»Schönste aller Feen!« rief Kunibert und wußte nicht recht, ob ihn Bewunderung oder Verzweiflung treibe. Ihre Lippen kräuselten sich leicht. »Schmeicheleien? Aber Kunibert, du machst dich ja!« Er trat zurück. »Verzeih. Ich vergaß, daß du deinen Wert besser kennst, als ein einfacher Ritter das je vermöchte.« »Bravo, Kunibert!« Sie legte ihren schlanken Arm um seine Schultern und zog ihn auf das Schloß zu. »Laß nur«, sagte sie vergnügt. »Ich kenne dich doch, wie wir alle hier. Aber sag selbst: Soll ich König von Marsilia werden und Sonja heiraten oder du?« »Hoffentlich ich!« entgegnete er. Sie stand vor ihm. »Siehst du«, sagte sie und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Meinst du nicht, daß dann auch du das Rasierzeug finden mußt? Ihr Menschen seid eine drollige Gesellschaft. Immer wollt ihr alles umsonst haben, obwohl es das noch nie gegeben hat, solange die Welt besteht.« Kunibert dachte nach. »Du hast recht«, antwortete er ehrlich. »Du hast wirklich recht.« »Also, das hast du begriffen«, sprach sie weiter, »und das ist immerhin nicht wenig. Nun etwas anderes, mein kluger Herr Ritter. Das Rasierzeug ist über die Welt verstreut. Wenn du ein Stück davon findest, woran willst du es erkennen?« »Darüber habe ich schon nachgedacht«, erwiderte er, »doch da ich es nicht wissen kann, muß ich mich auf mein gutes Glück verlassen.«
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»Das ist das Gescheiteste, was du tun kannst«, sagte Süffisande. Sie zog ein Stück Pergament hervor, auf dem eine seltsame Zeichnung war, die einem krausen Schlüssel ähnelte, und gab es Kunibert. »Hier ist dein gutes Glück. Die kunstreichen Zwerge haben auf jedem Stück des Rasierzeugs ihr Werkstattzeichen angebracht.« Kunibert küßte Süffisandes Hand. »Wie soll ich dir danken?« rief er froh. Sie gingen weiter auf das Schloß zu, bis Kunibert vor der offenen Tür des Tanzsaales stehenblieb. »Wieviel klüger ihr seid«, sagte er nachdenklich. »Wir sind wirklicher als ihr«, antwortete Süffisande, »und jetzt wollen wir die Elfen tanzen sehen. Sie haben es mir versprochen. Komm!« Alle schienen Bescheid zu wissen. Man drängte nach den Türen. Kunibert ließ sich vom Strom mitziehen. »Wer magst du sein?« fragte er ein schönes junges Mädchen, das neben ihm ging und ein leichtes, helles Gewand trug, in dessen rieselnden Falten bunte, veilchenfarbene Schatten spielten. Sie lachte ein leises, hüpfendes Lachen. »Ich wohne ganz oben in den Bergen, wo nur Gemsen und Steinböcke hinkommen oder ab und zu ein Raubvogel.« Kunibert fand, daß ihre klaren blaugrünen Augen gut zu ihrer Heimat paßten. »Es muß schön dort sein«, sagte er. »Und ob! Alles ist hell und weit, und nachts sind die Sterne ganz nah. Ich könnte anderswo nicht sein « »Und doch bist du hier«, meinte er.
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»Von Zeit zu Zeit ist es gut, einander zu sehen und zu hören. Dann versteht man die Einsamkeit.« »Ich bekomme Lust, dich zu besuchen.« »Tu es doch.« »Wenn ich den Weg wüßte.« »Oh, dort hinauf gehen keine Wege – oder so viele wie du willst.« Ein würdiger Perser mit langem, silberweißem Bart, der vor ihnen ging, drehte sich um und nickte ihr zu. »Du auch hier? Du bist immer eine Wohltat« »Wäre ich sonst da?« fragte sie. »Gewiß nicht«, antwortete er ernst und ging weiter. Sie neigte sich zu Kunibert. »Das ist ein Magier, ein großer Zauberer. Einer, der hinübergefunden und nun über vieles Macht hat.« »Ein Zauberer?« wiederholte Kunibert. Der Perser wandte sich wieder um. »Zeig dem Ritter etwas von deiner Kunst, er sieht selten dergleichen«, bat sie ihn. Sie standen in einem Vorraum, der zu dem Saal führte, wo die Elfen tanzen sollten. Der Magier blickte Kunibert mit verschmitzter Gutmütigkeit an und sagte etwas zu einem vorüberkommenden Chinesen, der ihm darauf im Weitergehen verbindlich zulächelte. Das dunkle Seidengewand des Chinesen war mit gelben Vögeln bestickt. Der Perser streckte die Hand aus. Eins der gelben Tierchen loste sich aus der Seide, flatterte auf den ausgestreckten Finger und barg sich in der Handfläche, wo
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es den Kopf einzog und sich aufplusterte. Zu seiner Überraschung bemerkte Kunibert, daß der Vogel auf einmal wie eine Zitrone aussah. Die Zitrone fing an, von innen heraus zu glühen, wie aus hundert kleinen Fenstern. Kunibert blickte genauer hin. In der Hand des Magiers lag eine winzige Stadt, eine nächtige, erleuchtete Stadt mit Mauern und Türmen, Straßen, Plätzen, vielen, vielen Häusern, Moscheen, Minaretts. Aus den Fenstern strahlte Licht, Plätze und dunkle Gärten schienen beleuchtet, und kaum sichtbare helle Pünktchen bewegten sich wie Laternen. Die Stadt wuchs. Sie dehnte sich aus, mehr und mehr. Es war unfaßlich, wie groß sie wurde. Besonders die Kuppel der Moschee reckte sich auf, über die anderen Gebäude hinaus, bis sie alle verdrängt hatte und höher und höher aufstrebend mit der Wölbung des Raumes verschmolz, in dem Kunibert und der Perser standen. Ein feiner Lichtstrahl fiel von oben in die Hand des Magiers und verwandelte sich sogleich in eine schlank und hoch aufschießende Palme, deren Krone sich prächtig entfaltete. Einen Augenblick überspannte das grüne Dach alles, dann erglühte es zu einer Wölbung aus Licht, die sich auflöste, in goldenen Flocken herabfiel und als gelbe Blüten auf die Gäste niederrieselte, die es jedoch kaum zu bemerken schienen. Der Perser fing Flocken und Blüten, ballte sie, und in seiner geöffneten Hand lag wieder eine Zitrone. Er warf die Frucht in die Luft. Ein gelber Vogel flog eilig in der Richtung davon, in der der Chinese weitergegangen war.
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Das Mädchen neben Kunibert lachte ihr leichtes, halblautes Lachen. »Niemand kann das so hübsch wie du«, sagte sie zu dem Perser. »Ein artiges Kunststück«, beeilte sich Kunibert etwas verwirrt zu versichern. »Wirklich ein artiges Kunststück.« »Eigentlich hast du es heute nicht gut getroffen«, sagte das Mädchen zu Kunibert. »Drinnen im Saal ist nämlich eine Art Theater. Manchmal ist den halben Abend Vorstellung. Einer nach dem andern gibt etwas zum besten.« Der Perser war weitergegangen. Das schöne Mädchen neben ihm zog die Hand zurück, die auf seinem Arm gelegen hatte, sagte freundlich: »Auf Wiedersehen!« und glitt in die Menge der Gäste. Kunibert folgte ihr langsam, obwohl er sie nicht mehr sehen konnte. Der Saal war voll; alle Gäste schienen sich versammelt zu haben. Süffisande gab ein Zeichen, und ein gefälliger junger Mann, der beim Westwind in der Lehre war, blies rasch die Lichter aus. Einen Augenblick war es finster. Auf der Bühne schimmerten drei weiße Gestalten. Im Saal herrschte tiefes Schweigen. Eine zarte Rampenbeleuchtung wurde hell, und man sah nun deutlicher. Die Elfen standen dicht beieinander, hielten sich an den Händen und rührten sich nicht. Langsam kam Leben in sie. Hier regte sich ein Fuß, dort ein Arm, ein Nacken, die Falte eines Gewandes. Sie fingen an, sich zu wiegen, sich auf den Füßen zu schwingen, immer leichter, immer gelöster, immer freier voneinander. Sie kreisten im Reigen, ließen sich los, eine
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glitt weg, eine andere, sie fanden sich wieder, schwebten harrend auf einer Stelle, wehten auseinander, kehrten zurück, wirbelten spielend umher, wiegten sich Hand in Hand, alles leicht wie Licht und mit der Anmut von Ranken und Blumen. Die Zuschauer waren so bestrickt, daß man kaum einen Atemzug hörte. Keine Musik? hatte Kunibert anfangs gedacht. Aber gleichzeitig hatte er ein leises Klingen und Tönen vernommen, das nach und nach anschwoll und wie eine traumhafte Musik jede Bewegung der Elfen zu tragen schien. Wo mag das herkommen? dachte er und reckte den Kopf. Wer mag so spielen? »Sucht Ihr die Musik, Herr Ritter?« flüsterte es hinter ihm. »Sucht sie nicht anderswo. Sonst gibt Euch wohl die Musik den Tanz, hier ist es umgekehrt.« Kunibert wünschte, der Tanz möge nie ein Ende nehmen, denn nie hatte ihn etwas so entzückt. Allmählich aber wurden die Bewegungen der Elfen stiller; sie schwebten nicht mehr auseinander, blieben zusammen, schwangen leise auf den Fußspitzen. Die Musik verklang. Die Elfen standen still. Ein kurzes Schweigen, dann brach das Entzücken aller in lauten Jubel und Beifall aus. Die Elfen erschraken, als ob sie jäh erwacht wären, doch dann freuten sie sich. Sie lächelten, winkten, dankten und warfen Kußhände. Die Elfen schwebten von der Rampe zurück. »Licht!« rief Süffisande.
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Ein kleiner Heidegnom, der immer ein halbes Dutzend Irrlichter in der Tasche hatte, warf einige davon in die Luft und schickte sie nach allen Seiten, um die Kerzen wieder anzuzünden, was rasch geschehen war. In fröhlichster Stimmung verließen die Gäste den Saal. Kunibert ging langsam, er wollte gern noch einmal die Elfen sehen. Endlich erblickte er sie und blieb stehen, um sie vorüberzulassen. Er grüßte sie ehrerbietig, und sie dankten freundlich, aber schon wieder ein wenig schüchtern. Sie kamen so dicht an ihm vorbei, daß der wehende Schleier der einen an seinem leeren Wehrgehenk hängenblieb. Kunibert versuchte schnell, ihn zu lösen, doch das feine Gewebe zerriß, und ein Stück blieb ihm in der Hand. »Tut nichts«, sagte die Elfe, »tut nichts«, winkte ihm zu und eilte den andern nach. Spät in der Nacht ließ Kunibert sich auf sein Zimmer führen. Bindo saß auf einem Fell am Boden, hatte Kopf und Arme auf den Sitz eines Sessels gestützt und schlief. Neben ihm lag eine Laute. Beim Eintreten des Ritters sprang er schlaftrunken auf. »Verzeiht«, sagte er. »Schlaf nur weiter«, entgegnete Kunibert, »aber suche dir ein bequemeres Lager.« Der Page ließ es sich nicht nehmen, ihm beim Ablegen des Festkleides zu helfen. Dann zog er ihm ein leichtes Hausgewand an, das bereitgelegen hatte. »Ich bin nicht im geringsten müde«, beteuerte er eifrig. Während Bindo die abgelegten Kleidungsstücke ordnete, trat Kunibert auf den Altan hinaus, unter dem zwischen den schwarzen Bäumen des Parks ein großer Rasenplatz lag.
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Auf einmal hörte er hinter sich einen Ausruf der Überraschung und drehte sich um. Bindo stand im Zimmer und betrachtete beim Licht der Kerzen den Pergamentstreifen, den Süffisande Kunibert gegeben und den der Ritter auf den Tisch gelegt hatte. »Verzeiht, Herr Ritter«, rief der Page, »wißt Ihr den Sinn dieses Zeichens?« »Kennst du es?« fragte Kunibert. »Solange ich lebe«, antwortete der Page. »In unserer Familie ist seit unvordenklichen Zeiten ein silberner Kasten, mit altem Saffianleder bezogen. Jetzt verwahrt meine Großmutter ihre Schmucksachen darin. Der trägt im Deckel dies Zeichen. Immer, wenn wir ihn als Kinder besehen durften, haben wir nach dem Zeichen gefragt und was es bedeute. Niemand wußte es.« »Ein Schmuckkasten?« murmelte Kunibert zweifelnd. »Jetzt dient er dazu, doch alle meinen, er habe ursprünglich einen anderen Zweck gehabt, denn es sind merkwürdige Vertiefungen darin und Einteilungen, in die kein Schmuck paßt.« »Bindo«, sagte Kunibert ernst, »diesen Kasten und was hineingehört suche ich durch die ganze Welt. Morgen werde ich es dir genauer erzählen.« »Warum nicht sogleich, Herr Ritter, wenn Ihr nicht zu müde seid?« »Also komm.« Kunibert ging mit dem Pagen auf den Altan. Er legte sich auf ein Ruhebett, das dort stand, Bindo setzte sich auf einen Schemel, und der Ritter erzählte, was es mit dem Rasierzeug, das er suche, auf sich habe. 135
Als er geendet hatte, sprang Bindo begeistert auf. »Wenn meine Zeit hier zu Ende ist und ich heimgekehrt bin, setze ich mich sofort wieder aufs Pferd und bringe Euch den Schrein nach Marsilia. Seid Ihr noch nicht dort, gebe ich ihn mit Euren Grüßen König Kasimir, damit er ihn in seinem Schatz aufbewahren läßt.« »Ich danke dir«, antwortete Kunibert. »Du erweist mir damit einen großen Dienst. Wünsche dir, was in meiner Macht steht.« »Oh, gar nichts«, rief Bindo strahlend. »Laßt es mich so tun. Nur – wenn Ihr wieder in Marsilia seid, laßt mich kommen. Dem edeln König Kasimir möchte ich gern dienen. Und wenn Ihr selbst König seid und ich ein kampferprobter Ritter bin, dann –« »Nun?« »Dann könnte ich vielleicht Euer Feldhauptmann werden, Euer Heerführer.« Kunibert streckte ihm die Hand hin. »Topp, Bindo! Das soll gelten. Du hast das Zeug zu einem rechten Ritter.« »An mir soll's nicht fehlen«, versicherte Bindo glücklich. »Sehr anstrengend wird dein Amt übrigens nicht sein«, erklärte Kunibert lächelnd, »denn Marsilia führt keine Kriege.« »Keine Kriege ?« »Es ist groß und mächtig genug. Jeder Nachbar weiß, daß ihm König Kasimir in jeder gerechten Sache hilft. So darf es niemand wagen, Marsilia anzugreifen, denn jeder wäre gegen ihn.« 136
»Das ist gewiß herrlich«, rief Bindo, »aber ich will kämpfen.« »Ich bin ja auch noch nicht König«, sagte Kunibert. »Du hast also noch Zeit genug, und an Gelegenheit zum Kampf fehlt es nicht in der Welt.« »Ja«, rief Bindo, »ich will gegen alles kämpfen, was schlecht ist, was niedrig ist und gemein, denn das muß ein Ritter tun!« »Recht so, Bindo.« »Überall werde ich mein Schwert ziehen, wo ein Unrecht geschieht.« Bindo war aufgesprungen und blickte über den Park hinaus. »Von hier heimwärts«, flüsterte er aufgeregt, »dann nach Marsilia und dann weit durch die Welt, Abenteuer zu erleben wie Ihr, Herr Ritter.« »Eines meiner Abenteuer ist dies Schloß«, erwiderte Kunibert, »und wahrlich nicht das geringste.« »Aber ich kenne es«, antwortete Bindo. »Mir schien, du seist auch hier manchem Abenteuer auf der Spur«, versetzte Kunibert lächelnd. »Ach, solche Abenteuer! Ja, freilich – wenn –« Er schwieg nachdenklich und etwas verwirrt. »Du hast deine Laute mitgebracht«, erinnerte ihn Kunibert. »Magst du mir ein Lied singen?« Bindo holte die Laute, setzte sich auf die Brüstung des Altans, stimmte die Saiten und schwieg. »Nun?« sagte Kunibert.
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Bindo überlegte. »Es gibt wunderschöne arabische Liebeslieder. Mögt Ihr eines hören?« »Ja.« Der Page stimmte noch einmal, begann ein kleines Vorspiel und hörte wieder auf. »Eigentlich«, erklärte er, mit den Fingern über die Saiten streichend, »möchte ich Euch etwas fragen, Herr Ritter. Ihr habt Erfahrung –« »Nur zu.« »Ach, es ist bloß, weil Ihr von solchen Abenteuern gesprochen habt.« Er klimperte ein wenig auf der Laute und fuhr dann halb sprechend, halb singend fort: »Sagt, Herr Ritter, ich bin jung, und Ihr rnüßt's wissen – sagt es mir, wie soll – wie soll man küssen?« Kunibert lachte auf. »Nun, Bindo, das kann jeder von selbst. Dazu hat noch niemand Unterricht gebraucht.« »So meint' ich's nicht«, rief Bindo, »und wenn ich allein bin, weiß ich genau, was ich sagen und tun will, nur dann, wenn es soweit ist –.« Er begleitete sich wieder. »Nein, ich wollt' Euch fragen, soll man's wagen? Soll man denen glauben, die da sagen: Liebe – Liebe muß man rauben?« »Daran ist etwas«, antwortete Kunibert. »Manche Liebe wartet wohl nur darauf, geraubt zu werden. Warte ab. Das gibt der Augenblick. Oder, wenn du mir von dem Mädchen erzählen willst, in das du verliebt bist, kann ich dir am Ende raten.« Bindo ließ die Hände über die Laute sinken. »Ach, Herr Ritter, das ist es ja. Es ist nicht eine.«
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»Nanu – mehrere?« »Alle! Und man kann ebensogut sagen: keine.« Er zupfte an den Saiten. »Das ist so. Ihr wolltet ja ein Lied hören, Herr Ritter. Es ist freilich eines von mir.« Und er sang: Zur hellen, grünen Frühlingszeit Wird mir das Herz so warm und weit, Fängt an, mit mir zu streiten: Warum sind wir denn so allein? Viel schöner war' es doch, zu zwei'n Durchs bunte Land zu reiten. Im späten, blauen Abendlicht Da schweigt mein Herz noch immer nicht Und will sich wieder regen: Warum sind immer wir allein? Viel besser war' es doch zu zwei'n Auf diesen stummen Wegen. Es flüstert hier, es flüstert dort, Und enge Schatten huschen fort – Wir sind allein geblieben! Willst du denn niemand lieben? Mein Herz, mein Herz, schweig still, schweig still, Du willst nichts andres, als ich will, Wie gern möcht' ich sie sehen! Ich liebe, ach, ich liebe ja, Nur weiß ich noch nicht wen. Weiß nicht, ob schwarz, ob blond, ob braun, Weiß nicht, wie ihre Augen schaun, Nur, daß sie sonnenwarm mich grüßen! 139
Daß weiß ihr Arm, die Glieder schlank, daß ihre Lippen frisch und frank – Und weich und süß zu küssen. »Das war hübsch, Bindo«, sagte Kunibert. »Du wirst dich noch in manches Herz singen. Ich bin nicht bange, daß sich deine Träume nicht erfüllen. Einstweilen – wie wär's, wenn wir zwei einmal durch das bunte Land ritten? Du reitest doch gern?« »Oh! Nichts Schöneres! Und Pferde gibt es hier – lauter arabisches Vollblut. Ich könnte Euch einen Dunkelbraunen verschaffen, Sehnen wie Stahl und einen Galoppsprung wie ein Hirsch. Nie habt Ihr ein besseres Pferd unter Euch gehabt. Besonders auf der Falkenjagd. Man jagt hier die Gazellen mit Falken.« »Dann wollen wir reiten, Bindo. In ein paar Stunden geht die Sonne auf. Solange schlafen wir ein wenig. Wer zuerst aufwacht, weckt den andern.« Kunibert blieb auf dem Ruhebett auf dem Altan. Bindo legte sich auf einen Diwan im Zimmer. Seine Laute vergaß er draußen und merkte es erst am nächsten Tage daran, daß sie vom Morgentau verstimmt war. Kunibert blieb noch drei Tage lang bei der Fee Süffisande. Dann ritt er weiter, eine halbe Tagereise weit von Bindo geleitet.
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ZEHNTES ABENTEUER
DER GRASAFFE Kunibert ritt immer nach Osten und hielt sich dabei im Innern des Landes, denn so hatte es ihm der persische Magier beim Abschied geraten. Wie es auf Reisen so geht, begegnete ihm mancherlei. Sein Weg führte ihn durch herrliche fruchtbare Länder, in denen die Werke der Menschen blühten; dann wieder verirrte er sich in wilde, unbewohnte Gegenden voller Gefahren für den, der einsam ist, und mußte Durst und Hunger, Hitze und Kälte ertragen. Er lernte Königreiche kennen, die in Frieden und Gerechtigkeit regiert wurden, aber auch andere, wo das Volk in Haß und Furcht lebte. Mit vielerlei Menschen traf er zusammen, mit reichen und armen, hohen und niedrigen, guten und bösen. Er erlebte, was ihn entzückte und was ihn erschreckte, was ihn beglückte und was ihm Not schuf, nur nach dem, was er suchte, sah er vergebens aus. Eines Tages kam er in eine Stadt und ritt, um dem Gewühl des beendeten Marktes in der Hauptstraße auszuweichen, eine lange, gewundene Gasse hinunter. Während die Hufe seines Pferdes zwischen den alten, winkligen Häusern über das krumme Pflaster klapperten, unterhielt er sich damit, das Leben zu beobachten, das sich in der Gasse abspielte. Handwerker arbeiteten in offenen Werkstätten oder vor den Türen, Händler warteten bei ihren Waren auf Käufer oder feilschten mit Kunden. Vor kleinen Kaffeehäusern saßen Müßiggänger, tranken und rauchten, schwatzten oder schwiegen. Hunde lungerten um 141
Fleischerläden oder schnupperten den warmen Fettgeruch ein, der mit dem Geklirr von Töpfen und Pfannen aus den Garküchen drang. Hin und wieder kam ein ärmlicher Lastträger daher oder ein Ausrufer. Kinder ließen ihr Spiel, um lärmend ein Stück hinter dem fremden Reiter herzulaufen, und Frauen, die an den Straßenecken standen, unterbrachen ihr Gespräch, blickten neugierig dem Ritter nach und tauschten dann eifrig ihre Meinungen aus. Über einem Laden las Kunibert die Worte: Tritt ein, dein Wunsch wird erfüllt! Das klingt vielversprechend, dachte er, und bemerkte gleichzeitig in dem offenen Eingang einen Korb Feigen. Er bekam Lust, davon zu essen, hielt an und rief. Da niemand herauskam, sprang er vom Pferd, gab die Zügel einem jungen Burschen zu halten und trat ein. Im Hintergrand des halbdunkeln Raumes, in dem sich eng die verschiedensten Waren häuften, saß mit dem Rücken zur Tür ein behäbiger Mann in einem langen, gestreiften Rock. Seine Füße lagen auf ein paar Säcken, die Hände hielt er gemütlich auf dem Bauch gefaltet, und der Kopf mit dem großen, weißen Turban hing ihm schwer auf die Brust. Er schlief tief und hörbar. »Heda!« sagte Kunibert laut, doch der Kaufmann ließ sich nicht stören. »Heda!« wiederholte Kunibert, klopfte mit dem Fuß an eine Kiste und setzte, da der Schläfer zu erwachen schien, hinzu: »Gib mir von den Feigen, die an deiner Tür stehen.« »Führen wir nicht«, murmelte der Mann verschlagen. »Geh mit Allah.« 142
»Nun, hör mal –« »Dann – uah – ohne ihn«, gähnte der Mann und ließ den Kopf wieder sinken. »Dummkopf«, rief Kunibert, »da stehen ja die Feigen.« Ohne sich umzuwenden, winkte der Kaufmann ab. »Gesegnet sei, der da schlummert«, grunzte er. »Kauf nebenan.« Damit rückte er sich wieder zurecht und zog behaglich die Schultern hoch, um weiterzuschlafen. »Schockschwerenot!« fuhr Kunibert ihn an und stieß mit dem Schwert hart auf die Fliesen. »Sei nicht so faul, verdammte Schlafmütze!« Auf einmal war der Mann wach und sprang ungestüm auf. Durch das Gewirr seiner Waren stürzte er auf den Ritter los, stolperte über einen Sack Bohnen, streifte, als er sich an einem Gestell festhalten wollte, mit dem Ärmel eine Reihe Sandalen in die offene Siruptonne, und fiel, während ein Ölkrug in den nächsten Zwiebelhaufen rollte, Kunibert um den Hals. »Herr Ritter – Ihr!« Kunibert fing ihn mit offenen Armen auf und klopfte ihm herzlich auf den Rücken. »Ja – Schorse – Schorse – so eine Überraschung! Du? Was machst du denn hier?« »Ich?« Schorse freute sich wie ein Pudel. »Das ist doch unser Laden«, keuchte er. »Nur ein bißchen eng. Ich verkaufe. Die Alte ist ausgegangen.« Kunibert lachte hellauf. »So, du verkaufst? Gut, daß du es sagst. Seit wann bist du Kaufmann?«
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Schorses Gesicht wurde lang. Er kratzte sich hinterm Ohr. »Eigentlich gehört der Laden meiner Frau.« »Verheiratet bist du auch?« Schorse schlenkerte mit der Hand. »Ach, Herr Ritter, das ist so 'ne Geschichte. Schön ist sie nicht. »Wer?« »Beide nicht. Das ist es ja. Entsinnt Ihr Euch, wie der alte Kümmeltürke, der Pirat, unversehens einem seiner eigenen Leute, Hassan hieß er, den Kopf abschlug? Na, und dessen Witwe hat mich der niederträchtige Kerl als Ersatz mitgebracht. Da habe ich sie eben heiraten und« – Schorse blickte von der Seite zu dem Ritter auf – »Muselmann werden müssen.« »Das habe ich schon an deinem weißen Turban gesehen, Schorse.« »Was soll man machen, Herr Ritter? Wenn's heißt: Kopf ab oder Mohammed, dann schon sehr viel lieber Mohammed. Schließlich, das ginge noch. Fatimah ist schlimmer.« »Im Honigmond scheint ihr nicht mehr zu leben.« »Honigmond? Hat sich was. Mit so 'ner Drahtbürste. Aber daß Ihr plötzlich da seid, Herr Ritter! Vor Freude möchte ich gleich durch die Decke springen.« »Ich freue mich genauso, lieber Schorse. Auch darüber, daß du damals so gut weggekommen bist, denn ich habe mir oft Sorgen um dich gemacht. Nun hast du doch eigentlich Glück gehabt.« »Ich? Hm, möglich. Hassan bestimmt.«
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»Hör mal, abgehärmt siehst du wirklich nicht aus.« Schorse schlug sich auf den Bauch. »Alles Kummerspeck«, versicherte er. »Alles Kummerspeck. Wenn ich bloß mit Euch wegkönnte.« »Natürlich kommst du mit. Glaubst du, ich ließe dich hier allein in der Fremde, wenn du nicht dableiben willst?« »Sie läßt mich nicht. Ich bin nun mal verheiratet und noch dazu auf mohammedanisch.« »Um so besser. Da brauchst du deiner Frau nur einen Scheidebrief zu geben, und die Sache ist erledigt. Der Laden gehört sowieso ihr.« Schorses Gesicht glänzte wie der Vollmond. »Wenn es brieflich geht, dann sofort. Nein, daß es so vernünftige Gesetze gibt! Wißt Ihr's auch genau?« »Ganz gewiß.« Schorse wußte sich nicht zu lassen vor Freude. Er schlug sich auf die Schenkel, erschrak aber gleich und blickte sich vorsichtig um. »Nichts wie weg«, flüsterte er, »nichts wie weg. Bloß nicht warten, sonst kommt sie wieder, und mit der werden wir alle beide nicht fertig.« Er drängte auf die Straße. »Hätte ich nun auch ein Pferd«, seufzte er, als Kunibert aufstieg. »Am besten ein Rennpferd.« Durch enge, abgelegene Gassen führte er Kunibert in ein kleines Kaffeehaus. »Hier sind wir sicher«, sagte er. »Hier hat sie mich noch nie gefunden. Nun aber nicht gefackelt.« Er bestellte bei
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dem Aufwärter, der den Kaffee brachte, Schreibzeug und machte sich, während Kunibert schmunzelnd zusah, sofort ans Schreiben: Liebe Fatimah! Allah gebe Dir langes Leben, denn er ist sehr groß, und zu ihm kehren wir zurück. Allwissend ist er auch. »So 'nen Schmus muß man hier immer erst machen«, erklärte er Kunibert, »sonst gilt es nachher auf mohammedanisch nicht, und es klingt ja auch ganz schön.« Schorse war ordentlich aufgeregt und schrieb hastig weiter: Hiermit scheide ich mich von Dir ein für allemal und für immer und ewig, weil ich Dich nur aus Muß genommen habe wegen des Köpfens, was niemand mag, denn Du bist nun mal ein Ekel, jawohl, und die neuen Sandalen liegen im Sirup. Auf Nimmerwiedersehen Dein treuer –. Nein, Dein untreuer? Hm –. Besser so: Dein treu gewesener, dreimal unterstrichen gewesener Achmed ibn Schorse. »Geht es so?« »Ausgezeichnet«, bestätigte Kunibert. »Du hast ja einen feinen Namen bekommen.« »So heiße ich als Moslem«, antwortete Schorse. »Soll ich ihn nicht beibehalten? Es macht sich besser.« Er las stolz noch einmal seinen Brief. »Ich glaube wirklich, so ist es gut geworden«, meinte er. »Nun brauchst du einen Boten«, sagte Kunibert. »Könnten wir es nicht so machen?« fragte Schorse. »Aus der Stadt müssen wir doch weg. Wenn wir einen Kameltreiber mieteten und ihn halbwegs zur nächsten Stadt mitnähmen, dann könnte ich auch ein Stück weit reiten. 146
Unterwegs schicken wir den Mann mit seinem Kamel und dem Brief zurück. Nein, Kamele laufen zu schnell; ein Esel ist besser, und man wird auch nicht so leicht seekrank.« Da Kunibert sowieso an diesem Tage weiter wollte, war er einverstanden, und es geschah, wie es Schorse vorgeschlagen hatte. Bis zur nächsten Stadt war es nicht weit, und so hatten sie noch vor Abend den halben Weg hinter sich. Kunibert lohnte den Eseltreiber ab, der ihm feierlich dankte. Schorse glitt seufzend von seinem Tier und beschrieb dem Mann genau die Gasse und das Haus, wo er gewohnt hatte. »Dort fragst du nach Fatimah«, sagte er, »und gibst ihr den Brief. Du kannst sie nicht verkennen, sie ist alt und knochig und sieht aus wie eine Hexe. Auf Trinkgeld brauchst du nicht zu warten. Mach dich lieber schnell aus dem Staube, sonst schreibt sie dir noch die Antwort auf den Rücken, und sie hat eine verflucht deutliche Handschrift, das kann ich dir sagen. Daß du alles ordentlich besorgst!« »Auf meinem Haupt und auf meinen Augen«, antwortete der Eseltreiber ernst. »Hören ist Gehorchen.« Vergnügt pfeifend ging Schorse neben seinem Herrn hin und schritt tüchtig aus. Bald aber wurde ihm das Marschieren sauer, und er verstummte. »Das kommt von dem ewigen Herumsitzen«, brummte er. »Jetzt muß man sich erst wieder den Kummerspeck wegschwitzen. Wenn Ihr mögt, Herr Ritter, erzählt mit doch, wie es Euch seither ergangen ist. Ich bin neugierig, ob Ihr am Ende das
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Rasierzeug schon gefunden habt und auf dem Heimweg seid.« Kunibert schüttelte den Kopf. »Nein, lieber Schorse, das leider noch nicht. Doch erlebt habe ich viel.« Er erzählte. Schorse hörte so aufmerksam zu, daß er Staub, Durst und Müdigkeit fast vergaß. Als Kunibert zu Ende war, lag die Stadt, wo sie übernachten wollten, in der Abenddämmerung vor ihnen. Es war eine nicht sehr große, aber sehr lebhafte Hafenstadt, und Kunibert beschloß, einige Tage dort zu bleiben und sich dann wieder ins Binnenland zu wenden. Das erste, was er am nächsten Morgen tat, war, für seinen Knappen andere Kleidung und Waffen zu besorgen. Dann besahen sich beide die Stadt, den Basar mit den reichen Warenvorräten aus aller Herren Ländern, die Gerichtshalle, den großen Marktplatz, und als nachmittags die Sonne nicht mehr hoch stand, gingen sie am Hafen spazieren. »Ich will nachsehen, ob hier kein Schiff nach Marsilia fährt, das einen Brief mitnehmen könnte«, sagte Kunibert. »Mach derweil, was du willst, Schorse. Aber daß du mir nirgends einkehrst.« »Nun, Herr Ritter, so ein kleines Gläschen Wein, bei dem Durst und der Hitze und der Seeluft.« »Du wirst zuviel trinken.« »Ich? All meiner Lebtage nicht!« verteidigte sich Schorse. »Hab' ich nie getan.« »Nie, Schorse? Einiger Male kann ich mich schon entsinnen, auch daß du unterwegs manchmal dicht daran warst, wenn ich nicht aufgepaßt hätte.« 148
»Kann mir jetzt nicht mehr passieren, Herr Ritter. Inzwischen habe ich so viel von der Welt gesehen –« »Also meinetwegen, lauf. Du weißt ja, wo wir wohnen. Mach keine Dummheiten. Wir sind hier in der Fremde, und ich will deinetwegen keine Scherereien haben.« Schorse trollte sich. Kunibert ging den steinernen Damm entlang, wo die Schiffe vertäut waren, die Ladung einnehmen oder löschen sollten, und suchte lange nach einem, das nach Marsilia führe. Vergebens. Es lagen nur Küstenfahrer im Hafen und einige verdächtige Fahrzeuge, denen nicht viel Gutes zuzutrauen war. Endlich, gegen Abend, entschloß er sich, unverrichteterdinge heimzukehren. Als er eine der Gassen hinaufging, die zu der Karawanserei führten, wo sie abgestiegen waren, sah er an einer Straßenecke eine kleine Menschenansammlung. Alle blickten auf etwas hinab, was vor ihnen sein mußte, was der Ritter aber nicht sehen konnte. Kunibert vernahm die Töne eines rauhen Gesanges und hob den Kopf. Ihm schwante Unheil, denn er glaubte Schorses Stimme zu erkennen. Er beschleunigte seine Schritte und drängte sich durch den Haufen von Müßiggängern und jungen Burschen, zwischen denen auch einige ehrsame Handwerker standen, die Feierabend gemacht hatten. Im Innern des Halbkreises saß, den Rücken an den Prellstein der Hausecke gelehnt, Schorse mit gespreizten Beinen am Boden. In der einen Hand schwang er seine Mütze, in der anderen hielt er einen dicken Knüppel, mit dem er den Takt zu seinem Gesang aufs Pflaster schlug. Sein Gesicht war krebsrot, und seine Augen schwammen in 149
unbestimmter Seligkeit. Er sang unaufhörlich, so laut er konnte: Mein Kopf, der ist ein Kürbis Schaut alle her! Das freut mich sehr Und noch viel mehr. O Allah, o Allah, o juvivaleralla! Die Umstehenden lachten; nur einige machten unwillige Gesichter. »Ein Ungläubiger, der zuviel des süßen Weines hat«, sagte ein Obstverkäufer zu Kunibert. »Vielleicht einer aus deinem Volk«, setzte ein ernster Handwerker mahnend hinzu. Da die Leute gutmütig zu sein schienen, wollte Kunibert Schorse seinem Schicksal überlassen, als plötzlich ein Derwisch, der hinzugetreten war und etwas von Schorses Singsang gehört hatte, rief: »Wahrlich, er lästert Allah, den Gewaltigen, den Erbarmungsreichen. Hört ihr es, Moslems? Steinigt den Christenhund!« »Führt ihn zum Wachhauptmann«, schrie ein anderer. »Fünfhundert Stockhiebe für den Giaur.« »Zum Richter mit ihm! Zum Scharfrichter!« »Mein Kopf, der ist ein Kürbis«, grölte Schorse unentwegt weiter. Kunibert trat zwischen seinen Knappen und die aufgebrachten Leute. »Der Mann singt in der Sprache der Franken, die ich kenne«, sagte er. »Er hat keinen heiligen Namen genannt. Es ist ein zufälliger Gleichklang. Beruhigt euch.« Die hohe Gestalt des vornehmen, gut bewaffneten Fremden machte Eindruck. Man schwieg.
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»Zum Teufel mit dir, Schorse«, fuhr Kunibert seinen Knappen an. »Das freut mich sehr –«, sang Schorse selig darauf los. »Du hast dich doch betrunken, du Dummkopf!« »Und noch viel mehr. O Allah, oh –« »Halt den Mund.« »Mein Kopf –« Schorse konnte sich nicht von seinem schönen Lied trennen. »Steh auf. Ich will dich nach Hause bringen.« »Das freut mich sehr!« Schorse schlug gewaltig mit dem Knüppel auf die Steine. Kunibert mußte trotz allem lachen, und einige der Zuschauer lachten mit, obwohl sie kein Wort verstanden hatten. »Wenn du dich nicht zusammennimmst, gieße ich dir einen Eimer Wasser über den Kopf!« »Und noch viel mehr –. O Allah –« Der Ritter riß den Knappen vom Boden auf. »Vorwärts!« Schorse taumelte. »Das freut mich sehr. O Allah, o Allah, o juvivaleralla –« »Hört ihr's?« schrie der Derwisch. »Nieder mit dem Ungläubigen.« Kunibert schob den Knappen vor sich her um die Hausecke. Einige Schritte ging es, dann sackte Schorse zusammen. »Mein Kopf, der ist ein Kürbis – schaut alle her!« Bums lag er auf dem Pflaster. »Zum Wachhauptmann, zum Wachhauptmann!« klang es hinter ihnen. Kunibert packte kurz entschlossen den Knappen, warf ihn sich wie einen Mehlsack auf die Schulter, so daß ihm Schorses Oberkörper mit ausgestreckten Armen über den Rücken hing, und ging rasch mit ihm davon. Die Leute stutzten, riefen ihnen aber Drohungen nach.
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Etwa hundert Schritte ging alles gut, und Schorse versuchte vergebens, mit schlenkerndem Kopf sein Lied vom Kürbis anzustimmen. Die veränderte Lage und die Bewegung schienen ihm jedoch nicht gut zu bekommen, denn er gab plötzlich seine Zeche von sich. »Das freut mich sehr«, lallte er dazwischen. »Und noch viel mehr –« Auch damit behielt er recht. Schorse verstummte. Langsamer ging Kunibert mit der schweren Last auf der Schulter weiter. Er hoffte, man werde sie nicht verfolgen und war froh, daß es allmählich schummrig wurde. Auf einmal hörte er hinter sich das Geräusch eiliger Füße und erregte Stimmen. Er verstand einzelne Rufe. »Die Wache – die Wache – fangt ihn, den Ungläubigen – schlagt ihn tot!« Kunibert lief um eine Hausecke, bog auch um die nächste und bemerkte gleich darauf, daß er sich in einer dämmerigen Sackgasse befand. Er wollte umkehren, auf die Gefahr hin, den Verfolgern entgegenzulaufen, deren Rufe sich näherten, da hörte er an einem Gitterfenster dicht über sich flüstern: »Warte.« Neben ihm öffnete sich eine Tür, die er nicht beachtet hatte. Eine Hand winkte. Er trat ein und erhaschte, ehe sich die Tür hinter ihm schloß, wie im Fluge das Bild eines jungen anmutigen Gesichts mit undurchdringlich dunklen Augen. Dann stand er im Finstern, sah aber vor sich den breiten, türlosen Eingang eines anderen Raums, in dem rötliches Licht schimmerte. Er folgte dem voranhuschenden hellen Gewand und trat ein. Im Hintergrund brannte eine Öllampe, in deren schwachem Lichtkreis er undeutlich eine sehr kleine weißhaarige Gestalt sitzen sah. Rechts 152
flackerte ein Feuerchen auf einem Herd, an dem eine Frau mit Töpfen hantierte. »Fremdlinge, die in Not sind«, sagte das Mädchen, das die Tür geöffnet hatte, und trat in den Schatten. »Ich habe den Derwisch schreien hören, der ihnen das Volk nachhetzte.« Die Frau am Feuer blickte stirnrunzelnd auf. Sie schien keine Freundin des Derwischs zu sein. Einen Augenblick musterte sie erstaunt die seltsamen Flüchtlinge. Dann trat sie vor. Kunibert kannte Sitte und Sprache des Landes. Er begrüßte die Frau mit dem Salam und sagte: »Ich möchte heute nacht dein Gast sein.« »Wohlgekommen und willkommen«, erwiderte die Frau. »Mit Liebe und Freude.« »Mein Diener ist krank«, fuhr Kunibert fort, »deswegen muß ich ihn tragen. Er hat unwissentlich das Volk gegen sich aufgebracht. Wenn es deiner Güte gefällt, verbirg ihn und halte deine Tür geschlossen.« Die Frau zog einen Vorhang zurück, hinter dem in einer Nische eine niedrige Lagerstatt stand. Kunibert legte den Knappen darauf. Schorse versuchte ins Licht zu blinzeln und schlief sofort ein. Von der Straße her hörten sie Stimmen und Rufe. Man klopfte an die Haustür. Das Mädchen war schon hingeeilt. Die Zurückgebliebenen lauschten. Das Mädchen kam zurück. »Ich habe aus dem Fenster mit ihnen gesprochen und ihnen gesagt, daß das zweite Haus neben uns einen 153
Ausgang nach einer anderen Gasse hat. Sie suchen jetzt dort.« Die Frau war zu Schorse getreten. »Dein Diener ist nicht krank«, sagte sie. »Er scheint betrunken.« »Leider scheint er es nicht«, antwortete Kunibert, »sondern ist es wirklich.« »Dann hättest du ihn liegenlassen sollen, wo er war!« rief das Mädchen. »Er ist aus meiner Heimat«, entgegnete Kunibert, »und hat mir lange treu gedient. Ich konnte ihn nicht verlassen.« »Warst du auch bei ihm«, fragte sie, »als –« »Nein«, erwiderte Kunibert. »Getrunken hat er allein.« »Da hättest du ihn nicht verlassen sollen!« »Aus einem schönen Munde ist Weisheit doppelt süß«, sagte Kunibert lächelnd. Das Mädchen zuckte die Achseln und setzte sich an die dunkelste Stelle der Wand. Von der Öllampe her kam eine trockene Stimme. »Sei aller Sorge bar und halte dein Auge kühl und klar. Dir soll nichts Arges widerfahren.« Kunibert drehte sich um, und da seine Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah er jetzt genauer im Schein des Lämpchens eine uralte, verschrumpfte Greisin sitzen, die eine Handspindel hielt. Sie hatte dieselben undurchdringlich dunkeln Augen wie das Mädchen. Gegen die Haustür polterten laute Schläge. »Aufmachen! Die Wache!«
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Die Frau zog den Vorhang vor die Nische. Draußen polterten die Schläge lauter. »Die Wache! Aufmachen!« »Man muß öffnen«, erklärte die Frau. »Die Tür ist nicht stark genug. Sie schlagen sie ein.« Damit ging sie hinaus. Man hörte sie draußen sprechen. »Wenn du zwei deiner Soldaten mitnimmst, wirst du wohl stark genug gegen uns sein. Nein – nur die Wache darf herein. Auch nicht der Derwisch –.« Dann ging die Tür auf, fiel wieder ins Schloß, und gleich darauf kam die Frau mit dem Führer der Wache und zwei Soldaten zurück. »Du siehst, hier ist nur der Fremde, den du nicht suchst.« »Wo ist der andere?« fragte der Mann barsch den Ritter. »Hier suchst du ihn vergebens«, sagte Kunibert. »Vielleicht ist er seiner Wege gegangen.« »Konnte er denn gehen?« »Ich glaube nicht, daß er es sonst getan hätte. Morgen werde ich deinem Wachhauptmann erzählen, wie du nachts in fremde Häuser dringst. Ich kenne ihn.« Der Mann betrachtete ihn mißtrauisch. »Ich hätte Lust, dich gleich vor ihn zu führen«, meinte er. »Das ist möglich. Nur wirst du es nicht können.« Der Führer der Wache blickte sich zögernd um. Aus dem Lichtkreis der Öllampe kam wieder die trockene Stimme. »Du bist Talib ibn Mulak. Der Vater deines Urgroßvaters war Abd al-Malik ibn Marwan ibn alNabighah al-Zubjani al-Kudus al-Samadi.«
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»Keiner dauert außer Allah, dem Höchsten«, rief der Mann in größtem Erstaunen, »denn er ist der vergebende Gott, und er allein ist allwissend. Woher weißt du das?« »Ich habe ihn gekannt.« »Allah verlängere dein Glück! Wie kannst du den Vater meines Urgroßvaters gekannt haben?« »Ich war jung, als er starb. Er ist wegen Diebstahls öffentlich gehenkt worden. Es waren unser viele dabei.« »Es gibt keinen Gott als den Gott«, murmelte der Mann, »und was geschehen muß, muß geschehen.« Kunibert griff in die Tasche. »Siehst du dies Goldstück?« sagte er zu dem Führer der Wache. »Es stammt aus der Zeit deines Ahnen. Vielleicht erfreut dich sein Besitz und macht dir die Erinnerung angenehm.« »Ich bin Beamter«, antwortete der Mann. »Mir geht nichts über die Tradition.« Damit steckte er das Goldstück ein. »Wirst du morgen zum Wachhauptmann kommen«, fragte er Kunibert, »und den anderen Fremden mitbringen?« »So gewiß, wie das Goldstück aus der Zeit deines Ahnen stammt.« Der Führer der Wache wandte sich mit seinen Leuten zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf das junge Mädchen, das von einer aufzuckenden Herdflamme beleuchtet wurde. »Bei Allah«, rief er, »deine Schönheit gehört nicht in diese elende Gasse. Du bist wie die Gazelle an der Tränke
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und wie der Mond in vierzehnter Nacht Weißt du, daß der Derwisch hinter dir her ist?« »Der Schmutzfink!« erwiderte das Mädchen verächtlich. »Ich wollte, der Statthalter ließe ihm tausend Stockhiebe geben, ihn verkehrt auf einen Esel setzen und neben ihm ausrufen: Dieser Derwisch ist mondsüchtig. Geh!« Brummend verließ der Mann mit seinen Soldaten das Haus. Man hörte, wie ihn draußen anschwellendes Gemurmel empfing, wie er zu den Leuten sprach und daß dann alle abzogen. »Er mag nicht, daß jemand weiß, er stammt von einem Dieb ab«, sagte das junge Mädchen zu der Greisin. »Diesmal hat dein Gedächtnis geholfen.« »Nur was war, hat Wert«, antwortete die Alte. »Nur was wird«, widersprach die Junge. »Was sein wird, kann man nicht wissen.« »Was war, braucht man nicht zu wissen. Wozu sich um Vergangenes kümmern?« »Wozu von einer Zukunft träumen, die nie kommt? Man weiß nicht, was wird, aber sicherlich kommt nur schon Gewesenes wieder.« »Das glaubst du! Jeder Tag ist neu.« Die Frau mischte sich ein. »Laß«, sagte sie zu der Alten. »Bedenke, sie ist noch so jung.« Sie ging an der Tochter vorbei. »Bedenke, sie ist schon so alt.« »Und du, Mutter?« fragte das Mädchen.
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»Ich denke daran, daß wir eine Melone im Keller haben. Geh, hole sie für unseren Gast.« Die Tochter nahm eine kleine Öllampe, entzündete sie an der andern und ging. Als man sie zurückkommen hörte, klopfte es an der Haustür. »Mein Mann«, sagte die Frau. Das Mädchen öffnete, flüsterte mit dem Vater und trat dann mit ihm ein. Es war ein einfach gekleideter, breitschultriger Mann mit schwarzgrauem Bart und ebenso dunkeln Augen, wie sie die Alte und das Mädchen hatten. »Freude und Willkommen dem Besucher«, sagte er zu dem Ritter. Kunibert dankte. Der Mann ging zu der Nische, hob den Vorhang und betrachtete Schorse. »Er schläft tief«, sagte er. »Preis ihm, der weder schläft noch schlummert.« Er ließ den Vorhang fallen. »Und gepriesen der, der sieht und nicht gesehen wird.« Die Frau hatte einen Tisch mit Speisen herangerückt. Kunibert setzte sich auf die Bitte des Mannes zu ihm, und die Männer aßen. Die Frauen hatten schon vorher gegessen. Das Mahl verlief schweigsam. Ab und zu das Klirren einer Schüssel, ein leises Schmatzen des Mannes oder ein Schnarchen Schorses hinter dem Vorhang. Auch nach dem Essen sprach der Mann nicht sogleich, sondern stocherte sich stumm die Zähne und sah von einem zum andern. Die Mutter hatte sich zu der Alten gesetzt und flickte. Das Mädchen saß an einer helleren Stelle der Wand, so daß sie im Licht des verflackernden Herdfeuers 158
und der beiden kleinen Öllampen besser zu sehen war. Des Raumes größter Teil lag in tiefem Schatten. Als er mit seinen Zähnen fertig war, heftete der Mann die dunkeln Augen auf Kunibert und sagte: »Du kommst von weither und kennst doch unsere Sitten und unsere Sprache.« »Ich bin schon lange in diesen Ländern, bin ein fränkischer Ritter und heiße Kunibert.« »Ich bin Hasib, der Kameltreiber. Mein Vater hat auch seine Heimat am Fuß der Berge verlassen, doch ihn trieb die Not. Die Alte dort war ihm vorangezogen. Nun ist unsere Heimat hier. Du bist heute nacht die Freude unserer Augen und Herzen, doch was trieb dich in die Ferne? Die Fremde ist hart.« »Vor vielen Jahren bin ich ausgezogen, um ein Wunderding zu suchen, ein Zauber –« Der Kameltreiber hob die Hand. »Nenne es nicht. Das taugt nicht.« Seine Augen waren lebendiger geworden; auch die Alte und das Mädchen blickten auf. Nur die Mutter flickte weiter. »Hast du dein Ziel erreicht und gefunden?« fragte Hasib. »Noch nicht. Ich weiß nicht einmal, wo es ist. Es kann hier sein oder dort. Ich weiß es nicht.« Die Alte sah ihn groß an. »Das Wasser weiß es«, sagte sie. »Das Wasser?«
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»Das Wasser weiß alles. Es weiß mehr als Licht und Luft. Es kommt überallhin. Es rinnt durch die Berge und ist in den Tiefen der Erde. Kein Tropfen, der nicht schon überall einmal gewesen wäre. Das Wasser weiß alles.« »Aber es ist unstet«, widersprach Hasib bedächtig. »Und wankelmütig. Es schlüpft in jede Form. Es spiegelt und vergißt. Es ist unbeständig. Die Berge sehen nicht soviel, aber sie sind unveränderlich und bleiben immer dieselben. Sie hüten ihre Schätze. Frage die Berge.« »Wie kann ich das?« »Frage den Berggeist.« »Wo finde ich ihn?« »Mein Vater ist am Fuß der Weißen Berge geboren. Weder er noch einer von den Seinigen hat je den Berggeist gesehen, doch glaubten sie, daß er in den höchsten Schluchten und Klüften wohne.« »Was ich suche, ist von Zwergen geschmiedet«, sagte Kunibert nachdenklich. »Dann frage den Berggeist.« »Wo liegen die Weißen Berge?« »Weit landeinwärts. Nach Sonnenaufgang zu.« »Das ist mein Weg. Kannst du mich führen?« »Sieh diese drei«, antwortete der Kameltreiber. »Ich muß dafür sorgen, daß Allah ihnen das Tor des täglichen Brotes öffnet.« »Wenn ich dir einen Teil deines Lohnes im voraus gebe?« »Dann kann ich dich bis zur Landesgrenze begleiten.« 160
»Gut. Wir brechen so bald wie möglich auf. Willst du ein Pferd für meinen Knappen beschaffen und uns ohne Aufsehen aus der Stadt führen?« »Das ist ein leichtes«, versicherte Hasib. »Noch vor Tagesanbruch will ich bereit sein.« Und so brachen sie denn bei Morgengrauen auf, obwohl Schorse nicht die geringste Lust dazu hatte und sich sehr unbehaglich im Sattel fühlte.
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ELFTES ABENTEUER
LAPPALIEN Kunibert und Schorse hatten sich von Hasib getrennt und ritten durch das Kaiserreich Lappalien. Sie wußten von dem Kameltreiber, daß das Reich aus einer endlosen Wüste bestand, durch die sich ein Streifen bewohnbaren Landes zog, und auch, daß dieser Streifen ihr Weg sei. »Wenn ihr Lappalien hinter euch habt«, hatte Hasib beim Abschied gesagt, »seht ihr in der Ferne die Weißen Berge, aber lange vorher kommt ihr in die Hauptstadt Lappa, die in der Mitte des Reiches liegt. Ihr habt einen sehr weiten Weg vor euch, denn das Land ist, glaube ich, das größte der Erde. Verliert die Geduld nicht und versucht nicht abzukürzen; wer in die Wüste von Lappalien gerät, kommt darin um.« Kunibert und Schorse ritten seit langem allein, tagaus, tagein, immer weiter und weiter zwischen mageren Feldern auf heißen, staubigen Straßen, die nur selten durch ein kümmerliches Gehölz führten. Das Land gefiel weder dem Ritter noch dem Knappen. Es war gewiß nicht fruchtbar, schien aber auch nicht besonders emsig bestellt zu werden. Die Gegend war so eintönig, daß sie meinten, sie kämen nicht vom Fleck, und manchmal sogar fürchteten, im Kreise zu reiten. Wenn sie dann Leute fragten, hörten sie immer, daß sie auf der richtigen Straße seien. Die Dörfer und Städte, durch die sie kamen, waren nicht vergnüglicher. Alle sahen kahl und langweilig aus, und dazu waren sie, ebenso wie die Landstraßen, schlecht 162
gehalten, als ob es den Einwohnern gleichgültig gewesen wäre, wie lange man die Häuser bewohnen und ob man auf ihren Wegen auch fahren oder gehen könne. In den Städten standen freilich hin und wieder riesengroße Gebäude, die irgendwelche Ämter beherbergten, aus denen Kunibert nicht klug werden konnte und die offenbar im Leben der Einwohner eine wichtige Rolle spielten. Doch auch diese Bauten waren nicht schön, sondern eben nur groß. Die Untertanen des Kaisers von Lappalien sahen wunderlich aus. Fast alle waren unheimlich lang und dürr; dazu hatten sie verknitterte Gesichter mit kleinen, unsicheren Augen und spinnenfingrige Hände. Sie waren nicht unfreundlich, nur immer eilig, sehr beschäftigt, ohne daß man je hätte sehen können womit, und taten sehr wichtig. Daß einer lachte, war eine Seltenheit; singen hörte man nie jemand. Kunibert und Schorse hielten sich so wenig wie möglich auf und ritten so schnell, wie es auf den schlechten Wegen ging, weiter. »Wenn wir nur erst die Weißen Berge sähen«, sagte Kunibert, »oder wenigstens nach Lappa kämen, dann hätten wir doch die Hälfte hinter uns.« »Und wenn man bloß einmal in diesem Land ein anständiges Gasthaus fände«, brummte Schorse. Es ging jedoch nicht so schnell, wie Kunibert es wollte. Ein Tag nach dem andern verstrich, und sie waren noch immer nicht in der Nähe der Hauptstadt. Die Wege zogen sich endlos hin. In den Gasthöfen fanden sie meist nur
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elende Kammern und dürftige Kost; oft mußten sie im Stall schlafen. Als sie eines Abends spät zu einem einsamen Wirtshaus kamen, fanden sie nicht einmal im Stall Platz, sondern mußten mit ihren Pferden in einem kleinen Schuppen übernachten. Kunibert ließ Stroh aufschütten, und müde, wie sie nach dem heißen Tage waren, warfen sie sich auf die Streu. Die Pferde lagen, Schorse schnarchte, nur Kunibert blieb noch eine Weile wach und sah durch eine offene Luke in der gegenüberliegenden Wand in den Nachthimmel. Dann fielen auch ihm die Augen zu. Etwa um Mitternacht erwachte er von einem Pochen auf seinem Brustharnisch und erblickte dicht vor sich zwei leuchtende Augen. Er bemühte sich, zu sehen, was für Augen das seien, und unterschied gegen die hellere Luke den schwarzen Umriß eines Käuzchens, das auf seiner Brust saß. Er war so erstaunt, daß er ruhig liegenblieb. Der Vogel spreizte einen Flügel und strählte die Federn mit dem Fuß. Dabei rutschte er auf dem glatten Stahl aus, und seine Krallen tickten leise auf dem Panzer. Lautlos schlug er einmal mit den Schwingen, saß wieder still und starrte den Ritter eindringlich an. Kunibert rührte sich nicht. »Komischer Mann«, sagte das Käuzchen. »Trägt einen Rock aus Eisen. In dem Klima. Weißt du nicht, daß Metall ein guter Wärmeleiter ist?« »Was ist das?« fragte Kunibert. »Übrigens trage ich die Rüstung nicht der Wärme wegen.«
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»Du hast eine schlechte Schulbildung, mein Lieber«, sagte das Käuzchen vorwurfsvoll. »Du scheinst um so klüger zu sein.« »Das machen die Jahre. Ich habe die Pyramiden bauen sehen. Dem großen Pharao Amenemhet habe ich eine Maus weggefangen, die seine schwarze Lieblingskatze haben sollte. Ich mußte deswegen auswandern, so jung ich war.« »Hätte es nicht genügt, wenn du ein Haus weiter geflogen wärst?« meinte Kunibert. Das Käuzchen schüttelte mißbilligend den Kopf. »Reden wir von etwas Leichterem«, sagte es nachsichtig. »Warum treibst du dich in der Welt umher, du blecherner Jüngling?« »Ich suche ein Wunderding, um dafür König zu werden.« »Das lohnt sich nicht. Königreiche halten nicht lange. Was hat man davon? Ärger. Gestohlene Mäuse.« »Ich soll auch eine Prinzessin bekommen.« »Ist sie schön?« »Sehr.« »Das lohnt sich eher. Prinzessinnen sind zwar auch nicht dauerhaft, aber solange sind sie unterhaltend. Spute dich.« »Ich habe noch einen weiten Weg vor mir.« »Wo kommst du her?« »Weither, von Norden.« »Ach, du liebe Güte. Da ist es doch immer Winter?« »Im Sommer nicht«, erwiderte Kunibert gleichmütig.
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Das Käuzchen kicherte. »Du bist doch nicht so dumm«, sagte es. »Für einen Menschen gefällst du mir ganz gut.« »Das klingt nicht nach allzuviel Achtung.« »Haben wir alle nicht, ihr Narren der Erde. Man muß schon ein Kauz sein wie ich, sich um euch zu kümmern.« Plötzlich bückte sich das Käuzchen und streckte den Kopf so tief hinab, daß sein Schnabel fast den Panzer berührte. Dann richtete es sich wieder auf und blickte den Ritter scharf an. »So seid ihr nun«, sagte es. »Unter dem Blech trägst du einen Elfenschleier auf der Brust.« »Wie kannst du das wissen?« »Ich rieche es. Woher hast du ihn?« »Vermutlich von einer Elfe«, antwortete Kunibert. »Bist du immer so neugierig?« »Wißbegierig«, verbesserte das Käuzchen. »Gib den Schleier deiner Prinzessin. Solange sie ihn trägt, bleibt sie jung und schön.« »Danke für den Rat.« »Du hättest ihn ihr längst geben sollen.« »Ich habe ihn erst unterwegs bekommen. Bei der Fee Süffisande.« »Bei Süffisande?« Das Käuzchen schloß die Augen und dachte nach. »Ach, der bist du?« rief es. »Der! Ich habe mir doch gleich gedacht, daß etwas Besonderes mit dir los sei. Du bist der Ritter, der das Rasierzeug sucht.« »Woher weißt du denn das wieder?« fragte Kunibert verblüfft. 166
»Na, hör mal. Tu nicht so bescheiden. Allmählich wissen wohl alle von dir.« Das Käuzchen öffnete die Schwingen. »Gute Nacht. Wir sehen uns wieder.« Es flog lautlos davon. »Wir reiten morgen weiter«, rief ihm Kunibert nach. Das Käuzchen machte auf dem Rand der offenen Luke halt. »Glaubst du, ich bliebe in diesem lächerlichen Lande?« antwortete es. »Du bleibst länger als ich. Du mußt ja noch nach Lappa.« »Ach, Lappa«, erwiderte Kunibert. »Das wird auch was Rechtes sein. Wir reiten nur durch.« Bedenklich wiegte das Käuzchen den Kopf. »Eijeijei«, kicherte es, »er weiß nicht mal, daß er auf dem Wege zu Prinzessin Zippzipp ist.« Im nächsten Augenblick war die Luke leer. Das Käuzchen war weggeflogen. Kunibert blickte nach den Sternen und wunderte sich über das seltsame Gespräch. Seine Gedanken wiegten ihn bald in tiefen, erquickenden Schlaf. In den nächsten Nächten wartete Kunibert manchmal darauf, daß das Käuzchen ihn wieder besuchen werde, denn er wollte es gern fragen, was es mit Prinzessin Zippzipp auf sich habe. Doch das Käuzchen kam nicht, und schließlich dachte Kunibert nicht mehr daran. Endlich näherten sie sich der Hauptstadt. Schorse freute sich. In so einer großen Stadt gibt es bessere Gasthöfe als diese verwünschten Dorfschenken, dachte er. Sie erreichten die Stadt auf der befestigten Seite. Schon unterwegs hatten sie gehört, daß Lappa nur auf einer Seite 167
befestigt sei. Ein Kaiser hatte es einmal unternommen, die Hauptstadt mit einer Mauer zu umziehen, war aber darüber gestorben, und keiner seiner Nachfolger hatte das Werk weitergeführt. »Kein Schade«, hatte ein kleiner Bürger zu Kunibert gesagt. »Unser bester Schutz soll die Wüste sein, aber unsere unübertrefflichen Einrichtungen sind es. Niemand will gegen Lappalien kämpfen.« Als Kunibert mit seinem Knappen durchs Tor ritt, trat der Wächter vor und sprach: »Einreiten darfst du, o Fremdling, ins Tor des herrlichen Lappa, Ausreiten darfst du allein mit des großen Kaisers Erlaubnis.« »Wir werden ja sehen«, sagte Kunibert. »Jetzt sind wir einmal hier.« Lappa war bei weitem die größte Stadt des Landes. Das merkte man gleich, aber schöner als die andern Städte, die der Ritter und sein Knappe unterwegs gesehen hatten, war es auch nicht. Die Straßen waren ebenso eintönig, kahl und grau wie in den Landstädten, nur daß sich unzählige Leute in ihnen durcheinanderdrängten, auch alle lang und dürr und alle mißmutig. Auch sahen sie in Lappa noch vertrockneter und verstaubter aus. Der Wirt des ansehnlichen Gasthofes, wo sie zu Schorses Befriedigung abstiegen, bestätigte dem Ritter, daß er zum Weiterreisen einer Erlaubnis bedürfe. »Geht ins Ministerium für Durchreisende«, riet er. »In den Zimmern 450 bis 876 werden Ritter und Reiter überhaupt 168
eingetragen. Ihr werdet einige Tage brauchen, bis Ihr alle Fragen beantwortet habt, doch dann geht die Sache ihren Gang. Es dauert kaum ein paar Monate.« »So lange habe ich nicht Zeit«, antwortete Kunibert. »Ich werde mich an den Kaiser wenden.« Der Wirt zog die Brauen in die Höhe. »Das wird noch sehr viel länger dauern«, warnte er. »Man muß es versuchen«, meinte Kunibert. »Morgen werde ich ins Schloß gehen.« »Gehen – ?« Dem Wirt blieb vor Entsetzen der Mund offenstehen. »Gehen? Ihr braucht mindestens eine sechsspännige Karosse mit sieben Vorreitern, sonst lauft Ihr Gefahr, wegen Mißachtung der kaiserlichen Erhabenheit auf Lebenszeit in den Kerker geworfen zu werden. Kaiser Kratius ist ein milder Herrscher, aber er muß über seine Erhabenheit wachen.« »Besorgt zu morgen mittag die Karosse und die Vorreiter«, sagte Kunibert. Als er sich am nächsten Tage in das kostbare Gewand kleidete, das ihm Süffisande geschenkt hatte, fand er unten im Mantelsack den Kasten mit dem Nashornorden. Ei, dachte er, wenn der Kaiser soviel Wert auf Prunk legt, dann ist vielleicht jetzt der Augenblick. Er öffnete den Kasten und hängte sich den großen bunten Orden um, der mit seinen blitzenden Brillanten auf dem Brokat des Festkleides prächtig genug aussah. Dann ging er hinunter und stieg in die Glaskutsche, die von nahe besehen ein altes, unbequemes Fuhrwerk mit harten, abgenutzten Polstern war, aber wirklich von sechs Pferden 169
gezogen wurde. Der Kutscher schielte, und Kunibert fand die Vorreiter ziemlich schäbig, doch es waren sieben, die einer hinter dem anderen der Karosse vorausritten. Das kaiserliche Schloß lag auf einem großen, freien Platz. Es war ein altertümlicher Bau mit dicken Mauern und kleinen Fenstern. Kunibert sah, daß die Wache am Schloßtor die Vorreiter zurückwies, die warten mußten, bis der Wagen herankam. Auch die Kutsche schien der Soldat nicht durchlassen zu wollen, doch als Kunibert sich am Fenster zeigte, stieß der Mann einen Schrei aus, worauf ungefähr zwanzig Soldaten herbeieilten und sich in Reih und Glied aufstellten. Der Führer der Wache näherte sich der Karosse, erblickte den blitzenden Nashornorden und blieb einen Augenblick wie erstarrt stehen. Dann faßte er sich, machte eine tiefe Verbeugung, riß sein Schwert aus der Scheide, reckte es gen Himmel und rief begeistert: »Nur Lappalien! Nur Lappalien!« Er wandte sich zu seinen Leuten. »Achtung«, kommandierte er. »Sprechrohr! Drei Strophen.« Die Soldaten standen wie versteinert mit erhobenen Schwertern und glotzten ihn mit aufgerissenen Mäulern erwartungsvoll an. »Ha!« rief der Offizier und stach mit der Schwertspitze in die Luft. »Erste Strophe. Ha!« Sofort fingen die Soldaten wie aus einem Munde an: Ja, es gibt nur einen Kaiser! Niemals war ein Kaiser weiser, Als der unsern Thron besitzt. Andre Länder mögen dürsten
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Ewiglich nach solchen Fürsten, Unser Herrscherhaus beschützt Nur Lappalien! Nur Lappalien! »Zweite Strophe«, schrie der Offizier. »Ha!« Sogleich setzten die Soldaten ein: Abenteuer, Freiheit, Künste, Wissen, Schönheit – blaue Dünste! Regelmäßigkeit erhält. Regeln für das Allgemeinste, Vorschrift für das Allerkleinste Haben wir nur in der Welt. Nur Lappalien! Nur Lappalien! »Dritte Strophe! Ha!« Überall gibt's grüne Wälder Und, wo Korn steht, gelbe Felder, Recht und Ordnung hier allein. Wald und Feld sind gut und tüchtig, Aber lange nicht so wichtig, Wie Lappalien treu zu sein. Nur Lappalien! Nur Lappalien! Kunibert verbeugte sich leicht. »Was war das?« fragte er höflich. »Die drei ersten Strophen unseres Nationalliedes«, antwortete der Offizier. »Wären Eure hochritterliche Gnaden mit acht Pferden und neun Vorreitern gekommen, hätten Euch vier Strophen gebührt.« Kunibert durfte in den Schloßhof einfahren, wo ihn ein trübseliger Diener empfing und zum Kanzler des kaiserlichen Hauses führte, der in einem leeren Zimmer an einem leeren Schreibtisch saß und sich langweilte. Hinter 171
dem Kanzler stand ein junger Sekretär und hinter diesem eine Reihe verschiedener Stühle, die sich vom prunkvollen Polstersessel bis zum kleinen hölzernen Hocker abstuften. Der Kanzler musterte Kunibert von oben bis unten. »Achanton«, sagte er zu seinem Sekretär, »einen ritterlichen Sitz.« Der Sekretär nahm aus der Reihe hinter ihm einen ledergepolsterten Stuhl und machte sich um den großen Tisch herum auf den Weg. »Falsch«, schnarrte der Kanzler. »Dem Ritter eines so hohen Ordens gebühren Armlehnen.« Der Sekretär trug den Stuhl zurück und ergriff einen lederbezogenen Armstuhl. Unterdessen hatte sich der Nashornorden bei einer Bewegung Kuniberts umgedreht, so daß man die Rückseite mit den Piepvögeln und Heupferden sah. Der Kanzler riß die Augen auf. »Achanton«, schnarrte er. »Der Ritter hat einen noch höheren Orden. Er hat auch was auf der Rückseite. Einen Polstersessel.« Während Achanton den Armstuhl wieder an seinen Platz schob, einen damastbezogenen Polstersessel herbeischleppte und hinter den Ritter stellte, sagte Kunibert: »Herr Kanzler, ich habe eine Botschaft an Kaiser Kratius von Lappalien zu überbringen.« Sofort erhob sich der Kanzler. Kunibert fuhr also stehend fort: »Der König von Marsilia, Kasimir der Zartbesaitete, sendet Seiner Kaiserlichen Erhabenheit, dem Kaiser Kratius von Lappalien, seinen Gruß und die Versicherung 172
seiner unwandelbaren Gesinnung. Ich bitte, diese Botschaft dem Kaiser selbst überbringen zu dürfen.« Der Kanzler schüttelte den Kopf. »Das sagt Ihr jetzt erst, Herr Ritter?« erwiderte er verweisend. »Achanton, eine königliche Botschaft! Das Troddelkissen.« Achanton sprang auf und legte auf den Sessel hinter Kunibert ein riesiges, hartgestopftes Seidenkissen mit vier mächtigen goldenen Troddeln. Ernsthaft sah der Kanzler zu. »Herr Ritter«, sagte er dann, »als Kanzler des kaiserlichen Hauses kann ich Euer formloses Gesuch nicht gehört haben. Da jedoch mein kaiserliches Herr die Güte selbst ist und Ihr ein Fremdling seid, wollet ein Gesuch einreichen. Achanton, ein Gesuch.« Achanton griff in eine Schublade und legte dem Ritter ein beschriebenes Blatt hin, das Kunibert rasch überflog und unterzeichnete. Es war ein Gesuch um einen Empfang beim Kaiser. »Damit«, sagte der Kanzler und reichte das Gesuch Achanton, »müßt Ihr Euch zum Eingabenamt begeben, Herr Ritter. Mein Sekretär wird Euch geleiten, denn erfahrungsgemäß finden sich in der hohen Kultur von Lappalien, deren wir glücklichen Bewohner dieses Landes uns erfreuen, Fremde nicht so leicht zurecht, da sie meist aus Ländern kommen, in denen sich das Leben einfacher Menschen auch in bei uns längst überwundenen einfachen Formen abspielt.« Kunibert verbeugte sich. Auch der Kanzler machte eine Verneigung, und Kunibert sah, daß er einen letzten, scharfen Blick auf den Nashornorden heftete, von dem er
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freilich während des ganzen Gesprächs seine Augen kaum abgewendet hatte. Achanton warf einen großen Mantel über den Arm, ergriff einen Ledersack, öffnete dem Ritter die Tür und folgte ihm hinab in den Hof. »Wir können meinen Wagen nehmen«, sagte Kunibert. Sie stiegen in die Kutsche. Die Pferde wollten schon anziehen, da gab es einen Aufenthalt. Durch das Schloßtor kam ein glänzender Jagdzug herein. Jäger zu Fuß und zu Pferde, mit Hirschfängern, Armbrüsten und blitzenden Speeren bewaffnet, auf gewundenen Hörnern Fanfaren blasend und von Hunden umbellt. »Der Jagdzug der Prinzessin Zippzipp«, erklärte Achanton. Zippzipp? dachte Kunibert. Dann hat das Käuzchen doch recht gehabt. »Ist die Prinzessin dabei?« fragte er. »Wo denkt Ihr hin?« antwortete Achanton entrüstet. »Prinzessin Zippzipp wird doch nicht selbst auf die Quaulkappenjagd gehen.« »Auf was für eine Jagd?« fragte Kunibert. »Nun auf die Quaulkappenjagd!« Kunibert schüttelte den Kopf. »Ihr könnt doch nicht Kaulquappen meinen?« sagte er schließlich. »Schweigt, ums Himmels willen, schweigt!« schrie Achanton auf, mit beiden Händen abwehrend und ängstlich nach allen Seiten spähend. »Ich weiß wohl«, flüsterte er, »daß die Lieblingstiere der Prinzessin in fernen Ländern anders heißen sollen, aber Prinzessin Zippzipp nennt sie seit ihrem zweiten Jahre, ja, seit sie sprechen kann, 174
Quaulkappen, und niemand im Kaiserreich würde es je wagen, ein anderes Wort zu gebrauchen, besonders nicht, seit jüngst dafür einem Fremden feierlich die Zunge herausgeschnitten worden ist.« Der Jagdzug war in einem inneren Hof verschwunden, und die Glaskutsche ratterte mit so fürchterlichem Geklirr und Getöse über die spitzen Steine, daß kein Wort zu verstehen war. Nach einer Weile hielt der Wagen an. »Hier ist das Eingabenamt«, sagte Achanton und ergriff seinen Mantel und den Ledersack. »Wollt Ihr mit hineinkommen?« fragte der Sekretär, als Kunibert mit ihm ausstieg und auf die Tür des Amtes zuging. »Ja, ich denke doch«, antwortete Kunibert. Achanton blieb stehen. »Wo habt Ihr Euren Proviant, Herr Ritter?« »Proviant?« wiederholte Kunibert verblüfft. Achanton schüttelte verständnislos den Kopf. Dann schien er zu begreifen. »Ach so, Ihr kommt aus kleinen Ländern, wo es so große Ämter nicht gibt. Seht, Herr Ritter, hier vor uns ist der Eingang, dort unten« – er deutete die Straße hinunter, an der sich die Fensterreihen des Amtes unabsehbar weit hinzogen –, »dort am Ende ist der Ausgang. Es gibt nur einen Weg durch das Amt, denselben, den Eure Eingabe nimmt, durch alle Stockwerke, durch alle Zimmer des Gebäudes. Ein rüstiger Fußgänger ginge ununterbrochen dreißig Stunden, aber man muß doch essen und schlafen.« 175
»Große Güte«, sagte Kunibert, »wenn nun etwas eilig ist?« »Oh, dafür ist auf den breiten Gängen durch die Räume ein berittener Stafettendienst eingerichtet, dessen Pferde Filzschuhe tragen, um die Ruhe nicht zu stören. Dieser Dienst befördert allerdings nur Schriftliches.« »Ich lasse Euch lieber allein gehen«, erklärte Kunibert. »Doch eine Frage: Wenn meine Eingabe alle Zimmer durchlaufen muß, gebt Ihr sie dann nicht im ersten ab, und liegt das nicht vielleicht am Eingang?« »Freilich liegt es da«, antwortete Achanton. »Ihr würdet es sehen, wenn das Tor hier offenstünde.« »Dann könnten wir doch gleich wieder hier herausgehen«, rief Kunibert. Achanton erblaßte. Er schnappte nach Luft und nahm den Hut ab. Kalte Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. »Zum Eingang– hinausgehen–?« stammelte er. »Unfaßlich. Was es noch für wilde Länder geben muß! Herr Ritter«, setzte er mit überredender Milde hinzu, »habt Ihr je die Sonne im Osten untergehen sehen?« »Wenn Ihr es der Sonne gleichtun wollt, Herr Achanton«, lachte Kunibert, »dann will ich Euch nicht stören. Geht getrost im Westen unter. Wie lange braucht denn mein Gesuch bis zum Ausgang?« »Fünfunddreißig Tage«, erwiderte Achanton stolz. »Ich werde es eilig machen, und wir arbeiten schnell.« »Und dann?« fragte Kunibert mißtrauisch. »Dann kommt es ins Abschriftenamt.«
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»Wozu das?« »Wißt Ihr es wirklich nicht, Herr Ritter? Dort wird Eure Eingabe fünfhundertmal abgeschrieben, und nachdem diese Abschriften untereinander verglichen worden sind, losen drei Waisenknaben drei Abschriften aus, eine für den Kaiser und je eine für die Abschriftenarchive A und B, denn die Abschrift des Kaisers kommt ins Schloßarchiv. Der Rest der Abschriften und Eure ursprüngliche Eingabe werden vernichtet. Man kann nicht alles aufheben, und die Archive bilden schon einen ansehnlichen Stadtteil.« »Warum werden überhaupt welche aufgehoben?« »Weil sie jährlich miteinander verglichen werden müssen, ob sie noch gleichlautend sind«, antwortete Achanton. »Was Ihr für Fragen stellt, Herr Ritter!« »Ich komme aus fernen Ländern«, sagte Kunibert und beschloß, die Stadt so schnell wie möglich in aller Stille zu verlassen. »Lebt wohl, Herr Achanton.« Der aber betrachtete noch einmal den Nashornorden und konnte sich nicht so rasch von dem Anblick trennen. »Und aus solchen Ländern«, seufzte er, »kommt ein so herrlicher Orden, wie ihn nicht einmal unser Kaiser hat.« Kunibert packte die Gelegenheit beim Schopf. »Ich bin ja auch gekommen«, versetzte er, »um Kaiser Kratius einen solchen Orden zu bringen.« In Achanton kam Leben. »Wie?« rief er. »Ihr wollt Kaiser Kratius diesen Orden – ?« Kunibert nickte. Im nächsten Augenblick stürzte Achanton wieder in die Karosse und schlug die Tür zu. »Ins Schloß!« schrie er dem schielenden Kutscher zu, und 177
die Glaskutsche rasselte davon, so schnell die Pferde laufen wollten. Kunibert blickte dem Gefährt nach. Das hat gewirkt, dachte er. Aber für heute habe ich genug erlebt. Er irrte sich. Schon am Nachmittag erschien der Kanzler des kaiserlichen Hauses bei ihm im Gasthof, und nachdem ihm Kunibert bestätigt hatte, daß er dem Kaiser einen Nashornorden bringe, bat er den Ritter, sich am nächsten Tage zur Mittagsstunde zum großen Empfang beim Kaiser Kratius einzufinden. »Eure Eingabe geht dessenungeachtet ihren Weg weiter«, setzte er beruhigend hinzu. »Ich habe sie ins Amt geschickt, und Euer Gesuch wird zu seiner Zeit genehmigt werden.« Am nächsten Mittag wurde Kunibert mit Pauken und Trompeten empfangen. Über den ganzen großen Schloßplatz hin bildete die kaiserliche Leibwache Spalier. Während er hindurchfuhr, sprach jedes Fähnlein eine andere Strophe des Nationalliedes, und um ihm möglichst viele Strophen zu geben, sprachen alle gleichzeitig. Es war bloß der Ehre wegen; zu verstehen war nichts. An der Auffahrt empfingen ihn hohe Würdenträger und geleiteten ihn in den Thronsaal, wo der ganze Hof und alle Großen des Reiches versammelt waren. Kaiser Kratius saß in vollem Staat auf dem Thron. Er war ein unendlich langer, dürrer Mann mit grauem Haar, herabhängendem dünnem, grauem Schnurrbart und ausdruckslosem grauem Gesicht. Neben ihm thronte die Kaiserin, von der Kunibert wußte, daß sie aus einem Nachbarlande stammte. Sie war
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groß und schwer und hatte ein rundes Gesicht, eine kleine rote Knopfnase und wässerige Äuglein. Die Kaiserin hatte eine Eigentümlichkeit. Von Zeit zu Zeit zog sich nämlich ihr Gesicht zusammen, als ob sie in etwas unmenschlich Saures gebissen hätte, immer mehr und mehr, so daß man schließlich in einem Gewirr von Falten über ihren gespitzten Lippen nur noch den roten Nasenknopf sah und winzige Augenschlitze, bis sich ihre Züge langsam wieder glätteten. Neben dem Thron saß die Erbin des Reiches, Prinzessin Zippzipp, eine etwas abgenutzte Jungfrau mit länglicher Nase, mageren Armen und fröstlicher Haut. Kunibert verneigte sich. Der Kaiser winkte ihn heran. »Willkommen, Herr Ritter. Sprecht. Entledigt Euch Eurer Botschaft.« Kunibert verbeugte sich dankend, trat einen Schritt vor, nahm den Ordenskasten in beide Hände und sprach: »Erhabener Kaiser! Der König von Marsilia, Kasimir der Zartbesaitete, sendet Euch Grüße und die Versicherung seiner unwandelbaren Gesinnung, als deren Zeichen er Euch bittet, den höchsten Orden seines Landes« – Kunibert klappte den. Kasten auf –, »den großkarierten Nashornorden mit Piepvögeln und Heupferden auf der Rückseite, zum Halse heraus, mit Stern, Band, kurz mit allen Schikanen, entgegenzunehmen und in derselben Gesinnung zu tragen, die er für Euch, erhabener Kaiser, hegt.« Der Kaiser hatte einen langen Hals gemacht und versucht, in den offenen Kasten zu gucken. Als Kunibert sich dem Thone näherte, stand er auf, kam eine Stufe herunter, nahm dem Ritter den Kasten aus der Hand und besah begierig den Orden. 179
»Ein herrlicher Orden!« rief er. »Ich wünsche ihn sofort anzulegen.« Zwei Würdenträger traten hinzu und halfen ihm, worauf ihm ein dritter einen Spiegel vorhielt, in dem sich der Kaiser höchst befriedigt betrachtete. Die Umstehenden brachen in Rufe des Beifalls und der Bewunderung aus, und auch Prinzessin Zippzipp kam herbei, die sich bisher nicht viel um den Orden gekümmert, sondern neugierig den Ritter betrachtet hatte. Kaiser Kratius heftete seinen Blick beunruhigt auf Kuniberts Brust. »Herr Ritter«, sagte er, »man hat mir berichtet, Ihr selbst habet einen solchen Orden getragen.« Kunibert hatte an diese Frage gedacht und sich eine Ausrede zurechtgelegt. »Ohne Band und Stern«, versicherte er, »aber trotzdem könnte mich nichts dazu vermögen, so vermessen zu sein, in Eurem Lande einen Orden zu tragen, der nun Eure Brust schmückt, erhabener Kaiser.« Kratius atmete auf und wandte sich in seiner Freude an die Kaiserin, die immer noch in zufriedener Gleichgültigkeit auf dem Thron saß. »Sieh mal her, Admarilla«, sagte er. »Wie gefällt dir der Orden?« Die Kaiserin bekam sofort ihr saures Gesicht, worüber der überraschte Kunibert etwas erschrak. Sie brachte es jedoch fertig, aus ihren zusammengezogenen Lippen etwas zu flöten, das wie: »Hübsch! Dschüh – hübsch!« klang. Kratius bestieg den Thron. »Herr Ritter«, sprach er, »das Geschenk Eures Königs hat uns hoch erfreut. Wenn Ihr uns verlaßt, werden wir Euch ein Schreiben und eine Botschaft
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an König Kasimir mitgeben. Bis dahin seid Ihr der Gast unseres kaiserlichen Hauses.« Das schien etwas Unerhörtes zu sein, denn es ging eine Bewegung durch die ganze Versammlung. Kratius aber neigte den Kopf und verließ mit der Kaiserin, Prinzessin Zippzipp und einem kleinen Gefolge den Saal. Die Zurückbleibenden scharten sich um Kunibert. Man fragte ihn, woher er komme, fragte nach Marsilia, nach König Kasimir, hörte seine Antworten ungläubig an und beglückwünschte ihn grämlich zu der Gnade des Kaisers. Schließlich kam der Kanzler und bat Kunibert, ihn zu begleiten. »Ihr seid zur kaiserlichen Tafel geladen, Herr Ritter«, sagte er. »Ich werde Euch inzwischen Eure Gemächer zeigen, da Ihr im Schlosse wohnen sollt.« Hoffentlich kann ich Schorse und die Pferde in der Herberge lassen, dachte Kunibert, während er dem Kanzler folgte. Aus dem Gasthause können wir, wenn's not tut, leichter entwischen als aus dem Schloß. »Nach Eurem Knappen und den Pferden habe ich schon geschickt«, bemerkte der Kanzler. »Ich danke Euch für Eure Güte«, antwortete der Ritter höflich. An der Tafel hatte Kunibert seinen Platz zwischen hohen Würdenträgern gegenüber vom Kaiser, neben dem Admarilla saß, auf die Prinzessin Zippzipp folgte. Hinter dem Kaiser und der Prinzessin stand je ein Diener, hinter dem Sessel der Kaiserin standen zwei. Einer davon hielt eine große Weinflasche, aus der er der Kaiserin, so oft ihr 181
Glas leer war, einen tiefdunklen Wein einschenkte, von dem sie allein bekam. Kuniberts Nachbarn waren der Minister der öffentlichen Strafen und der Minister für Rechtschreibekunst, der neben seinem Todfeind, dem Staatssekretär für Frage- und Ausrufungszeichen, saß. Die Unterhaltung bei Tisch war dürftig. Ab und zu stellte Kratius eine trockene Frage an den Ritter nach dessen Reisen oder nach dem Hof von Marsilia. Die meisten aßen stumm, hastig und gleichgültig. Die Kaiserin sprach kein Wort. Dafür trank sie tapfer, hieb mit wahrer Wonne auf jedes Gericht ein, das ihr vorgesetzt wurde, und schlang mit einer Art strahlender Wut mächtige Brocken hinunter. In den Pausen bekam sie manchmal ihr saures Gesicht. In einer dunklen Ecke des Saals bemerkte Kunibert einen ältlichen, in eng anliegendes Schwarz gekleideten Mann mit steifer, weißer Halskrause, der trübselig und allein an einem niedrigen leeren Tischlein saß. Kratius sah Kuniberts Blick. »Das ist unser Erbnarr«, erklärte er. »Das Narrenamt ist bei uns seit langem erblich.« Der Kaiser war noch immer guter Laune. »Narr!« rief er. »Sei komisch.« Der Mann sprang auf und trat an eine Stelle, wo ihn alle sehen konnten. Dann setzte er eine spitze Kappe auf, an der vorn ein einsames goldenes Glöckchen hing, stellte sich auf ein Bein, fuchtelte mit dem anderen und beiden Armen in der Luft umher und schnitt dazu eine greuliche Fratze.
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»Hä«, lachte der Kaiser auf, so trocken wie die Wüste, die sein Land umgab. »Hä«, wiederholten die Gäste, ohne vom Teller aufzublicken. »Nummer siebenunddreißig«, rief der Kaiser. »Das ist eine besonders geschätzte Nummer«, hörte Kunibert seinen Nachbarn zur Rechten, den Minister für öffentliche Strafen, flüstern. Der Narr hatte seine Kappe abgenommen. »Nummer siebenunddreißig der kaiserlichen Witzliste«, erklärte er, setzte die Kappe wieder auf und fuhr blechern fort: »Wenn die Elefanten so groß wie Flöhe wären –« »Hä«, lachte der Kaiser. »Hä«, wiederholte die Tischgesellschaft. »Und die –«, wollte der Narr weitersprechen, doch die Kaiserin, die ein wenig nachhing, hatte den Anschluß gefunden und lachte: »Höh, höh!« »Hä, hä«, folgte die Tischgesellschaft, wiewohl gedämpft. »Und die Flöhe wie Elefanten«, fuhr der Narr unbeirrt fort, »so wäre es schwierig, auf einem Elefanten zu reiten, und der stärkste Mann müßte an einem einzigen Flohstich sterben.« »Hä«, lachten alle auf, und diesmal gleichzeitig. »Der stärkste Mann an einem Flohstich sterben, ist doch gut«, meinte der Minister für Rechtschreibekunst. »Hervorragend«, bestätigte Kunibert artig. »Es ist jedoch nicht möglich«, bemerkte der Minister für öffentliche Strafen ernsthaft.
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Der Kaiser warf dem Narren ein Stück Braten zu. Der Narr fing es mit den Zähnen und kehrte kauend an sein Tischchen zurück. Um zu dem Ritter sprechen zu können, beugte sich der Staatssekretär vor. »Der Kaiser hat einen der neueren Witze für Euch ausgesucht, weil sie zündender sind«, erklärte er. »In der ersten Hälfte der Liste sind die ältesten Witze der Menschheit gesammelt.« »Daran zweifle ich keinen Augenblick«, antwortete Kunibert, dem noch rechtzeitig einfiel, daß die Worte des Staatssekretärs kein Witz seien und er also nicht darüber lachen dürfe. Die Kaiserin glotzte vor sich hin. Mit dem Witz Nummer siebenunddreißig konnte sie nicht so schnell fertig werden wie mit dem Essen. Sie schien noch an ihm zu kauen und umsonst zu versuchen, ihn hinunterzuschlucken. »Wenn die Elefanten Flöhe hätten –«, sagte sie grübelnd und hielt inne. »Haben sie aber nicht«, setzte sie rauh hinzu, schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch und trank ihr Glas aus, das der Diener wieder füllte. Niemand beachtete sie. »Hat König Kasimir auch einen Erbnarren, Herr Ritter?« fragte Kratius über den Tisch hin. »Nein«, antwortete Kunibert, dem es eng um die Brust wurde. »Vielleicht hält er es für überflüssig, jemand dafür zu bezahlen.« Er mußte von ungefähr an das Käuzchen denken und sah Prinzessin Zippzipp an, deren beobachtendem Blick er begegnete.
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Die Kaiserin hatte sich noch nicht beruhigt. »Wenn die Flöhe Elefanten wären«, murmelte sie eigensinnig, »dann hätten, hätten –« Doch ihr Gesicht verzog sich, wurde sauer, saurer, und aus ihren aufgeworfenen Lippen kam nur noch ein undeutliches Pfeifen. Kratius antwortete Kunibert. »Bei uns in Lappalien ist das anders«, sagte der Kaiser stolz, »wir können es uns leisten, ein solches Erbamt zu besolden.« »Er bekommt soviel wie ein erster Folterknecht«, erklärte der Minister für öffentliche Strafen. »Sehr verständlich«, erwiderte der Ritter. Die Kaiserin wurde laut. Das Nachdenken hatte sie ganz verwirrt. »Flöhele – fanten – fanten«, lallte sie, »wären größer, und der stärkste Reiter –.« Sie fiel mit dem Oberkörper über den Tisch. Die Diener packten sie vorsichtig, drückten sie wieder auf den Sitz, zogen den Sessel, der Rollen hatte, zurück und schoben ihn mit der Kaiserin hinaus, die schnell noch ihr Glas ergriffen hatte, das sie nun auf den Knien hielt. Als der Sessel aus der Tür rollte, erhoben die Diener, die dort in einer Reihe standen, ihre Stimmen und sagten: »Holdselige Ruhe, erhabene Kaiserin. Holdselige Ruhe!« An der Tafel kümmerte sich niemand um den Vorfall. Nur Kuniberts linker Nachbar beugte sich dicht an das Ohr des Ritters und tuschelte: »Es ist nicht der Wein. In dem ist ein Beruhigungsmittel. Sie ist immer so. Seit Jahren. Ausländerin. Hat nie hergepaßt.«
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Das Mahl war fast zu Ende. Der Kaiser hob die Tafel bald auf. Prinzessin Zippzipp winkte Kunibert heran. »Der Kaiser muß jetzt regieren«, sagte sie. »Mögt Ihr Tiere, Herr Ritter?« »O ja«, antwortete Kunibert, der ungeduldig und verwirrt war. »Nur nicht eben – nicht eben alle.« »Aber Quaulkappen?« »Kaul –«, Kunibert dachte an den Unglücklichen mit der herausgeschnittenen Zunge und verbesserte sich rasch. »Quaulkappen? Warum nicht?« »Meine Jäger haben gestern einen guten Fang getan«, sagte die Prinzessin. »Ich will ihn Euch zeigen.« Sie ging mit Kunibert voran. Zwei Hofdamen folgten. Die Gemächer der Prinzessin waren ein wenig wohnlicher als die anderen Räume des Schlosses. Auf der grünen Marmorplatte eines Tisches stand eine kleine goldene Schale von getriebener Arbeit. Es war Wasser darin, in dem es von Kaulquappen wimmelte, und zwar so dicht, daß die Tierchen keinen Platz hatten, sondern verzweifelt durcheinanderdrängten. Die Hofdamen unterhielten sich leise in einiger Entfernung, während die Prinzessin ihrem Gast die goldene Schale wies. »Ist das nicht hübsch?« fragte Prinzessin Zippzipp. »Gewiß«, antwortete Kunibert zögernd.
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Die Schale gefiel ihm. Er beugte sich nieder und betrachtete die köstliche Goldschmiedearbeit. »Die Schale ist schön«, sagte er. Sie zuckte mit ihren spitzen Schultern. »Ach, die Schale«, meinte sie verächtlich. Kunibert unterdrückte einen Ausruf der Überraschung. Zwischen den Ornamenten hatte er ein Zeichen entdeckt, das einem krausen Schlüssel glich, das Werkstattzeichen der kunstreichen Zwerge, das ihm Süffisande gegeben hatte. Das muß das Rasierbecken sein, dachte er. Es ist das Rasierbecken! Wie kann ich es bekommen? »Die Schale ist zu klein«, erklärte er. »Ich nehme nie eine andere«, antwortete die Prinzessin gleichgültig. »Die Tiere haben keinen Platz«, beharrte er. »Sie sterben ja.« »Allerdings«, erwiderte sie. »Aber das ist gerade das Vergnügliche, wie sie durcheinanderwühlen, immer nach oben wollen und wieder hinuntergedrängt werden. Ich kann stundenlang zusehen und warte das ganze Jahr auf die Zeit, wo es wieder Quaulkappen gibt.« »Ihr müßt ein größeres Becken nehmen, Prinzessin«, riet er. »Dann könnt Ihr viel mehr hineintun, und es ist noch vergnüglicher.« »Vielleicht nächstes Jahr«, erwiderte sie und ließ ihre aufgestützten Hände über die Tischplatte gleiten, wobei sie Kuniberts Hand streifte. Ihre Finger waren kalt und feucht. Auch das noch! dachte Kunibert. Wenn ich nur die Schale hätte. Er blickte die Prinzessin an. Ihre Augen flimmerten zwischen den rötlichen Lidern, und sie hatte
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Flecken auf den Wangen. Es entstand ein kurzes Schweigen. »Die Kaiserin ist nicht meine Mutter«, sagte Zippzipp plötzlich. »Der Kaiser hat noch einmal geheiratet, um einen Sohn zu bekommen. Ich bin aber doch die Erbin des Reiches geblieben.« Kunibert verbeugte sich. »Eure Mutter stammte gewiß aus Lappalien«, sagte er. »Nein, auch aus einem Nachbarland«, engegnete die Prinzessin kurz und schwieg einen Augenblick. »Sie ist sehr plötzlich gestorben«, setzte sie hinzu. »Man wird Euch erzählen, sie habe ihre Heimat nicht vergessen können. Das ist nicht wahr, und ich glaube auch nicht, daß andere Länder anders sind.« »Ihr wart nie in der Heimat Eurer Mutter, Prinzessin?« »Wer über Lappalien herrschen will, darf das Land nicht verlassen, und ich trage auch kein Verlangen danach«, antwortete Prinzessin Zippzipp hochmütig. »Doch erzählen lasse ich mir gern.« Sie nahm auf einem Sessel Platz. »Setzt Euch, Herr Ritter. Berichtet mir von Euren Fahrten.« Kunibert gehorchte, doch setzte er sich so, daß er die goldene Schale im Auge behielt. Kunibert und Schorse wohnten nun im Schloß, und dem Knappen gefiel das ganz gut. Nach einiger Zeit gab der Kaiser zu Ehren seines Gastes ein Fest, bei dem aller Prunk und alle Langweiligkeit des Hofes umständlich entfaltet wurden und auf dem er Kunibert durch Verleihung des hohen Ordens der Zehntausend Paragraphen zum Ehrenritter von Lappalien erhob. Diese neue Gnade des Kaisers erregte großes Aufsehen, und Kunibert fühlte sich noch mehr als vorher von heimlichem Neid umgeben. 188
Mehr als die Gunst des Kaisers schien man dem Ritter freilich die der Prinzessin Zippzipp zu neiden. Viele Höflinge suchten sich bei ihm einzuschmeicheln, um sich bei der Prinzessin in gutes Licht zu setzen, denn Prinzessin Zippzipp stand bei Hofe in großem Ansehen und war in ganz Lappa sehr beliebt. Man bewunderte sie und nannte sie stolz eine echte Tochter Lappaliens. Kunibert fand auch, daß sie das sei, doch war sie ihm deswegen nicht lieber. Er dachte nur an die kleine goldene Schale. Die hielt ihn allein in Lappa fest; sonst wäre er längst heimlich davongeritten, um sich bis zur Grenze durchzuschlagen. Tag und Nacht grübelte er darüber nach, wie er sie bekommen könne, und sagte sich immer wieder: Nur von der Prinzessin, nur von der Prinzessin! Er war also ganz froh, daß Zippzipp ihn fast täglich nach der kaiserlichen Tafel in ihre Gemächer rufen ließ, bewunderte höflich die Kaulquappen und erzählte ihr von seinen Reisen, was er erzählen mochte. Sie schien nichts davon zu glauben, wurde aber täglich freundlicher gegen ihn, soweit es ihre eckige, trockene Art zuließ. Er hütete sich, es mit ihr zu verderben. Kunibert hatte gehofft, daß es mit der Freude an den Kaulquappen bald vorbei sein werde, doch er bemerkte zu seinem Entsetzen, daß es den Jägern der Prinzessin immer wieder gelang, neue Kaulquappen zu bringen als Ersatz für die, die gestorben waren oder es fertiggebracht hatten, als winzige, dunkle Fröschchen in den sicheren Tod des Verschmachtens davonzuhüpfen. Einmal muß es ja ein Ende haben, dachte er. Noch ein paar Wochen und dann – ja, was dann, wenn sie mir die 189
Schale nicht schenkt? Haben muß ich sie; koste es, was es wolle. Kunibert und Schorse machten jeden Morgen einen weiten Ritt vor die Stadt hinaus, nicht nur zum Vergnügen, sondern auch, um einen Weg auszukundschaften, auf dem sie fliehen könnten, wenn es soweit wäre, denn der Ritter sah für die Erlaubnis zur Abreise endlose Förmlichkeiten voraus, die er nicht abwarten wollte. Anfangs waren sie auf ihren Ritten von einem Stallmeister begleitet worden. Kunibert hatte das zuerst als Mißtrauen aufgefaßt, aber bald eingesehen, daß niemand in Lappalien daran dachte, es könne jemand in den Sinn kommen, ohne Erlaubnis weiterzureisen. Nach und nach war der Stallmeister immer öfter zu Hause geblieben, und schließlich ritten sie immer allein. Eines Tages, als sie sich auf einem solchen Ritt Lappa wieder näherten, überholten sie einen seltsamen Zug. Es waren von Maultieren gezogene grüne Wohnwagen, vor deren weißen Fenstern zwischen zurückgeschlagenen Läden rote Blumen blühten. Phantastisch gekleidete Männer gingen nebenher; allerhand Tiere liefen zwischen den Wagen, Hunde, auch ein Bär, auf dem ein Affe saß. Dann kamen ein paar hochbepackte Karren und zum Schluß ein altes Kamel, das philosophisch den Kopf hängen ließ und auf der öden Straße nach etwas Eßbarem schnupperte. Der Zug wurde von Soldaten begleitet, die ihre Waffen drohend gegen die Wagen gerichtet hielten, und voran ritt ein Offizier, neben dem ein gewichtiger Mann ging, der malerisch in einen schwarzen Mantel gehüllt war und einen mächtigen Schlapphut trug. Er war 190
mit der linken Hand an den Steigbügel des Reiters gefesselt. An den Füßen hatte er Filzschuhe, und das Gehen schien ihm ungewohnt und beschwerlich zu sein. Kunibert ritt zu dem Führer der Begleitmannschaft und erkundigte sich, was der Zug bedeute. Der Führer, der, wie alle in Lappa, den Ritter als Günstling des Kaisers kannte, grüßte untertänig. »Erhabener Ritter«, sagte er eifrig, »freut Euch mit mir! Wir haben einen guten Fang gemacht. Eine Gauklerbande.« »Was haben die Leute getan?« fragte Kunibert. »Noch nichts«, erwiderte der Offizier stolz. »Aber wir dulden solche Landstreicher in Lappalien nicht. Wir ersäufen sie.« »Um Himmels willen!« rief Kunibert. »Wenn sie doch gar nichts verbrochen haben?« »Herr Ritter, Ihr kennt dies Gesindel nicht. Früher hatten wir zu milde Gesetze, und man hat solch Volk nur in die Wüste gejagt. Doch seit dem letzten Mal hat Kaiser Kratius einen strengen Befehl erlassen, weil – ja, das wißt Ihr vielleicht nicht? Hört also: Vor ein paar Jahren kam eine Gauklerbande nach Lappa und wollte eine Eingabe machen, um Vorstellungen geben zu können. Sie veranstaltete einen Umzug durch die Stadt und erschien im Eingabeamt. Da sie nun einmal darin waren, mußten sie zum Ausgang wieder hinaus. Über zwei Tage sind sie marschiert, Männer, Weiber und Kinder, Luftspringer, Seiltänzer, Akrobaten, Schlangenmenschen, Zauberer, Hanswurste, Tierbändiger und was es sonst noch für 191
Gaukler und Gauklerinnen gibt, mit Purzelbäumen und anderen Kunststücken und in ihren schrecklichen Kostümen. Und wenn es nur die Menschen gewesen wären, nein, sie hatten ihre Tiere mit, Esel, Katzen, Hunde und Papageien, Pferde, die auf zwei Beinen gingen, Dromedare, Bären, Riesenschlangen und kleinere, die tanzten, Affen, die wie Menschen angezogen waren, sogar einen kleinen Elefanten, der Trompete blies und Pauke schlug, und eine minderjährige Giraffe, die nichts dergleichen konnte. Das ganze Amt geriet in Aufruhr. Zehn Schreiber und drei Oberschreiber haben sich verschrieben, so daß sie brotlos wurden. Einer hat sogar zwei Fehler auf derselben Seite gemacht, so daß man ihm auf dem Marktplatz die rechte Hand abhacken mußte, denn das Gesetz gestattete keine Gnade, obwohl es in den Räumen des Amtes wild hergegangen war. In einem Saal haben die Affen mit Tintenfässern nach der Büste des Ministers für Rechtschreibekunst geworfen und den Schreibern Streusand auf die Köpfe geschüttet. Auf Zimmer zwölfhundert hat eine Frau der Bande ein Kind bekommen und in kaiserliches Löschpapier gewickelt, das nachher fehlte. Die minderjährige Giraffe hat den Kopf in einen Papierkorb gesteckt, konnte ihn nicht wieder herauskriegen, wurde wild und raste, mit dem Korb auf dem Kopf, zum Eingang zurück. Man hat sie getötet, aber der Papierkorb war entzwei. Entzwei! Entzwei, sage ich. Nein, es ist besser, man ersäuft solche Menschen, ehe sie Eingaben machen.«
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»Übereilt nichts«, bat Kunibert. »Versprecht mir, daß den Leuten nichts geschieht ohne den ausdrücklichen Befehl des Kaisers.« »Die Gefangennahme der Bande muß ihm gemeldet werden«, antwortete der Führer, »doch dann kriegen alle einen Mühlenstein um den Hals und kommen ins Wasser, groß und klein, Mensch und Tier.« Der Zug war zum Stehen gekommen. Der schwarzdrapierte Mann hob sein faltiges Gesicht unter dem Schlapphut zu dem Ritter auf und sah ihn forschend an. Dann sprach er mit rollender Stimme: »Herr Ritter, Sie sind ein Fremdling gleich uns. Erbarmen Sie sich unser. Ich flehe Sie an: Retten Sie uns. Sie tun eine unsterbliche Tat für die Kunst des Universums. Wir sind mitnichten eine Gauklerbande, sondern die erste Theatertruppe der Welt. Wir haben Schauspieler, die jeden an die Wand spielen, und Künstlerinnen von unnachahmlicher Schönheit. Wir spielen Stücke, wie man sie noch nie gesehen hat. Gehen wir unter, so klafft für ewig ein Riß durch das Leben der Völker. Gehen Sie zu diesem blutdürstigen Kaiser aus Marmelerz, erreichen Sie, daß ich den Prolog vor ihm sprechen darf, mit dem ich allabendlich unsere Vorstellung eröffne, weil er auf jedes Stück paßt – nichts als das, und Sie werden sehen, daß der Tyrann in sein staubiges Nichts zurückgeschmettert wird und uns zu Hof schauspielern ernennt.« »Ich werde mein möglichstes tun«, wollte Kunibert sagen, doch er unterbrach sich, denn ihm flog eine rote Blüte an die Nase. Er wandte den Kopf und sah gerade
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noch am Fenster des nächsten Wagens ein hübsches Mädchengesicht mit lustigen Augen verschwinden. »Heissassa!« rief der Direktor. »Du weißt, ich dulde kein Anbandeln. Widme dich deiner Kunst!« Der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Aus dem Wagen klang ein Lachen, das in einen hellen, glockenreinen Lauf überging. Der Direktor lauschte entzückt. »Ich habe sie entdeckt«, erklärte er. »Sie wird werden! Aber wir haben Sängerinnen, die ganze Arien auf einem Fuß stehend singen können und dabei noch eine Pfauenfeder auf der Stirn balancieren. Wenn sie eine Pause haben, schlagen sie einen Salto, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen, und setzen, bums, wenn sie wieder herunterkommen, richtig ein.« »Sie führen gewiß recht hübsche Stück auf«, meinte Kunibert und sah sich nach dem Wagen um. Eine kleine, winkende Hand erschien am Fenster und verschwand wieder, während die Stimme einen lustigen Triller aushielt und mit einem Doppelschlag schloß, »Ich reite zum Kaiser«, sagte Kunibert, nickte dem Direktor zu, winkte Schorse und galoppierte davon. Kratius hörte gerade die Vorträge einiger Minister, und als Kunibert vorgelassen wurde, wußte er schon von dem großen Ereignis. Für Kuniberts Bitten war er taub. »Sie werden ersäuft«, erklärte er. »Alle. Noch heute. Man mißt bloß noch die Halsweiten, um passende Mühlsteine auszusuchen.« »Erhabener Kaiser«, rief Kunibert, »bedenkt, diese Menschen sind unschuldig!« 194
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Kratius. »Erstens können sie gegen die Grundfesten des Staates freveln, und es ist besser, die Verbrecher vor der Tat zu bestrafen, zweitens haben wir das Gesetz.« »Laßt dieses eine Mal noch Gnade walten«, bat der Ritter. »Wer Lappalien über alles liebt, kennt keine Gnade«, antwortete Kratius. »Ich muß Euch warnen«, sagte Kunibert. »König Kasimir würde Eure Tat nicht billigen, und wenn Ihr sie tut, wird der Nashornorden um Euren Hals blind werden wie schlechtes Blech und in Stücke zerfallen.« Entsetzt griff Kratius nach dem Orden, den er täglich trug, und schielte auf ihn hinab. »Ein Zauber?« rief er. »Keineswegs«, beruhigte ihn Kunibert. »Doch es ist das Wesen dieses Ordens, daß er nur auf dessen Brust glänzt, der im Sinne des Stifters handelt.« Während Kratius zum Spiegel ging und besorgt den Orden betrachtete, kam Prinzessin Zippzipp herein. »Der Orden steht dir wirklich gut, Papa«, sagte sie. »Der ganze Hof ist begeistert. Nur« – sie trat zu ihrem Vater und nahm den Orden in die Hand – »du solltest deinem Kammerdiener sagen, daß er den Orden besser putzt. Er ist nicht mehr so blank, wie er war.« Der Kaiser erbleichte und drehte sich rasch zu Kunibert um. »Die Leute sind begnadigt«, rief er. »Alle. Auch die Hunde und Katzen. Sogar der Direktor.« »Sprichst du von der Wandertruppe, Papa?« fragte Zippzipp. »Soll sie nicht ertränkt werden?« 195
»Der Ritter hat für sie gebeten.« Prinzessin Zippzipp zuckte die Achseln. »Meinetwegen«, sagte sie gleichgültig und wandte sich zu Kunibert. »Was tun diese Leute eigentlich?« »Sie führen Theaterstücke auf, Prinzessin.« »Ach ja, Ihr habt mir von dergleichen erzählt. Weißt du, Papa, wenn du sie doch am Leben läßt, könnten sie uns eigentlich auch was vorspielen.« Der Kaiser versuchte, auf den Orden zu hauchen, und rieb ihn verzweifelt mit dem Taschentuch. »Meint Ihr, daß er wieder blank wird?« fragte er den Ritter. »Laßt die Leute nur spielen«, antwortete Kunibert, und setzte mit beruhigendem Blick hinzu: »Gewiß.« Kratius atmete auf. »Nun denn, mein Kind«, sagte er, »wenn du es willst, und da es doch die letzte Truppe ist, die unser Land besucht, und du noch nie im Theater gewesen bist, mögen sie spielen, wenn sie ein ordentliches Stück haben. Aber nur im Schloß. Das Volk darf nichts davon sehen.« Der Kaiser ließ den Direktor holen, der bald darauf geknickt und angsterfüllt erschien, jedoch seine Würde wiederfand, sobald er Kuniberts Gesicht gesehen hatte. Er machte eine tiefe Verbeugung, hüllte sich eng in seinen Mantel und stand mit dem Schlapphut in der Hand düster da. »Ich habe euch allen euer elendes Leben geschenkt«, sagte Kratius zu ihm, »doch müßt ihr uns heute abend hier im Schloß ein Stück spielen, das uns gefällt. Habt ihr eins?« 196
»Eins?« rief der Direktor mit dröhnender Stimme und reckte die Arme gen Himmel. »O Kaiser! Zehntausend. Genug, ein Jahr lang jeden Abend ein anderes zu spielen und jedesmal ein schöneres, ergreifenderes, herrlicheres.« »Eins genügt«, unterbrach ihn der Kaiser. »Vor Morgengrauen müßt ihr die Stadt verlassen haben. Was habt ihr für Stücke?« »Ihr werdet uns nimmermehr ziehen lassen, großer Kaiser! Es ist unser Grundsatz, dem verehrten Publiko nicht viel zu bieten, sondern einfach alles. Jede andere Bühne versinkt neben uns in nichts und Ärmlichkeit. Von den berühmtesten Werken der Dichtkunst haben wir immer mehrere zu einem Stück verarbeitet, das dann doppelt und dreifach ergötzlich und höchst erstaunlich ist, was man auch den Titeln schon anmerkt.« »Laßt hören!« Der Direktor zog eine Pergamentrolle aus dem Busen, fing an, sie zu entrollen, und überflog die Zeilen. »Da haben wir«, begann er, »zunächst: Die lustigen Räuber von Genua.« »Räuber sind in meinem Land verboten«, widersprach der Kaiser. »Das Stück ist stark«, versuchte der Direktor einzuwenden. »Es verfehlt nie seine Wirkung. Das Volk rast.« »Es soll nicht rasen«, bestimmte Kratius. »Jeder soll auf seinem Platz bleiben und den Mund halten. Weiter.« »Maria, das Fiasko von Orleans«, schlug der Direktor vor.
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»Kein Fiasko«, sagte der Kaiser kurz. »Politik gehört nicht auf die Bühne.« »Es kommt eine feuerfeste Jungfrau darin vor«, meinte der Direktor, »eine aufsehenerregende Hinrichtung und eine Schlacht mit Masken, Musik und Tanz von äußerster Akrobatik.« »Wenn auch«, rief der Kaiser. »Weiter.« »Romeo und Julia, die beiden Rosen aus dem Liebesgarten, oder Weh dem, der euch gefällt«, las der Direktor ab. »Liebe ist dummes Zeug«, erklärte Kratius, »und außerdem braucht man keinen Garten dazu.« »Das Liebespaar hat aber eine Szene auf einem Balkon, der abbricht«, klagte der Direktor. »Es rettet sich auf ein Wäscheseil zwischen den Häusern und tanzt darauf einen Pas de deux, bei dem es mit vollen Bechern, brennenden Fackeln, spitzen Dolchen und Vogelkäfigen jongliert.« Kratius runzelte die Stirn. Seufzend rollte der Direktor seine Liste ein Stück weiter auf. »Vielleicht ein Märchenstück?« fragte er. »Dornröschens Zeitvertreib mit den sieben jungen Geißlein?« »Märchen sind in Lappalien verboten. Weiter. Habt ihr kein Stück, das an einem Hof spielt?« »Das tun viele, großer Kaiser. Die Ahnfrau mit dem zerbrochenen Krug, Der Erbförster wider Willen, Cäsar und Clavigola, ein Morituritatenstück mit Gladiatoren und unerhörten Zirkusdressuren? Doch hier ist eins, das sogar an zwei Höfen spielt, nur hat es einen bescheidenen Titel: Drei Musketiere und ein Glas Wasser!« 198
»Halt!« rief Kratius. »Das klingt vernünftig. Das scheinen ordentliche Leute zu sein. Das Stück wird gespielt.« Dabei blieb es. Mit fieberhafter Eile wurde in einem großen Saal des Schlosses die Bühne aufgeschlagen, und die Vorstellung begann ziemlich pünktlich vor dem versammelten Hof. Kunibert saß neben Prinzessin Zippzipp. Auch die Kaiserin war anwesend. Sie unterbrach manchmal das Stück durch befremdliche Zwischenrufe oder fröhliches Lachen an falschen Stellen, schlief aber bald ein. Das Stück war etwas anders, als es sich der Kaiser wohl vorgestellt hatte, aber doch sehr schön, laut, reich an Überraschungen und hatte so großen Erfolg, daß Heissassa nach Fallen des Vorhangs vorsichtig den Kopf hinaussteckte und Kunibert eine Kußhand zuwarf. Nach diesem Abend zog sich Prinzessin Zippzipp in ihre Gemächer zurück und blieb mehrere Tage unsichtbar. Einmal schickte sie nach Kunibert, empfing ihn dann aber nicht. Als sie wieder erschien, war eine Wandlung mit ihr vorgegangen. Sie trug ein anderes Kleid, das nur zu bunt und phantastisch für sie war, auffallend prächtigen Schmuck und hatte ihr Haar anders geordnet. Der Kaiser erteilte ihr einen Tadel. »Mein Kind«, sagte er, »du irrst dich. Das ist weder die Kleidung noch die Haartracht einer Prinzessin.« »Warum nicht?« gab Zippzipp zur Antwort. »Mir gefällt es so.«
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Kratius war sprachlos. »Du kennst doch sonst so gut unsere Gesetze, Verordnungen, Statuten und Gebräuche. Lies nach, was du vergessen hast.« Prinzessin Zippzipp aber las nichts nach und kümmerte sich nicht um den Verweis ihres Vaters. Da ein solcher Fall von Ungehorsam im kaiserlichen Hause nicht vorgesehen war, gab es nichts dagegen zu machen. Am Hofe ging ein verwundertes Tuscheln an, und es bildeten sich Parteien für und gegen die Neuerungen der Prinzessin. Viele hielten zu der künftigen Herrscherin. Prinzessin Zippzipp ließ Kunibert zu sich rufen. Sie war noch bunter gekleidet als bei der Tafel. Er fand sie reizloser als je. Die Prinzessin stand vor dem Tisch mit den Kaulquappen, und der Ritter bemerkte zu seiner Freude, daß die Tiere endlich weniger wurden. Nun nahte die Entscheidung. Sollte er schon die Bitte wagen? Er fing eine harmlose Unterhaltung an, doch Prinzessin Zippzipp war einsilbig, und es beunruhigte ihn, daß sie ihn häufig fragend ansah, als ob sie auf etwas warte. Schließlich sagte sie kühl: »Denkt Ihr noch an die Theatertruppe, Herr Ritter? War das nun, was man bei Euch in der Fremde schöne Frauen nennt?« »Einige waren dabei«, antwortete Kunibert möglichst gleichgültig. »Das läßt sich nicht leugnen.« Er sah die Falten um ihren Mund schärfer werden und lenkte schnell ab. »Was kümmert uns das fahrende Volk, Prinzessin? Ich verwünsche es, wenn es Euch in schlechte Stimmung versetzt hat, denn ich warte schon lange auf einen günstigen Augenblick, Euch um eine Gunst zu bitten, um eine sehr große Gunst –« 200
Rasch wandte sich Zippzipp zu ihm. Ihre kleinen Augen flackerten unsicher, und es war sogar Farbe in ihre Wangen gekommen. »Sprecht«, sagte sie mit etwas heiserer Stimme. »Es ist nicht nur eine Gunst, um die ich Euch bitten möchte, Prinzessin«, fing Kunibert an, »es ist mehr, es ist ein Geschenk, und die Gnade, mit der Ihr, die Erbin des großen Kaiserreiches Lappalien, es mir einfachem Ritter vergönnt habt, in Eurer Nähe zu weilen, macht mich allein so kühn –« »Ihr habt meine Gnade«, entgegnete Zippzipp und holte hastig Atem. »Bittet.« »Ich wage es kaum«, sagte Kunibert zweifelnd, denn ihr erregter Ton machte ihn stutzig. »Es steht in meiner Macht, Euch jede Gunst, jedes Geschenk, jede Gnade zu gewähren, die ich will. Hört wohl: jede.« »Und doch«, antwortete Kunibert, »weiß ich nicht –« »Man muß Euch Mut machen«, unterbrach ihn Zippzipp. »Ich bin Herrin meiner selbst und kann verschenken, was mir gefällt. Und wäre es meine Hand.« Kunibert erschrak heftig und verwünschte seine Übereilung. Nun war es nicht mehr möglich, von der goldenen Schale zu sprechen. »Welch Glück für Euch, Prinzessin«, sagte er rasch, »daß Ihr über Euch verfügen dürft. Wenn Ihr geneigt seid, einen Gatten zu nehmen, werden die Freier in Menge herbeieilen.«
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»Glaubt Ihr, es habe noch niemand um mich geworben? Viele, sage ich Euch, nur habe ich noch keinen meiner Gunst, wie Ihr es nennt, für würdig befunden – bis jetzt.« »Es wird sich bald ein Prinz finden, dem Ihr Eure Gunst schenken mögt, Prinzessin.« »Er braucht kein Prinz zu sein, nur edel geboren.« »Ihr dürft also ganz Eurem Herzen folgen, Prinzessin? Warum wählt Ihr nicht unter den Edeln von Lappalien? Ich kann es kaum glauben, daß Euch unter den vielen, die um Euch geworben haben, noch keiner gefallen hat.« In Zippzipps Gesicht war ein harter Zug. »Ach, man hat Euch wohl von dem Prinzen aus der Fremde erzählt, dem einzigen, der mir« – sie stockte – »und der am Morgen nach dem ersten Empfang verschwunden war? Er soll von Neidern ermordet worden sein.« Sie lachte grell auf. »Das Glück kann für Euch nicht ausbleiben, Prinzessin«, versuchte Kunibert sie zu beruhigen, »und es ist ein Schmerz für mich, daß ich bei Eurer Vermählung nicht zugegen sein werde, denn die Pflicht ruft mich fort. Jedoch für Euch, die Erbin eines großen Kaiserreiches, jung und schön –« Er verstummte vor ihrem stechenden Blick. Das Blut stieg ihr ins Gesicht. »Glaubt Ihr, Herr Ritter«, rief sie, »es gäbe keine Spiegel im Schloß, und –«, sie versuchte etwas zurückzuhalten, was sich doch auf ihre Lippen drängte – »und Augen seien nicht auch Spiegel?« Sie drehte sich kurz um und verließ das Zimmer. Am nächsten Tag trat er ungerufen bei ihr ein. Er bemerkte sofort, daß die kleine goldene Schale von der 202
grünen Tischplatte verschwunden war und leer auf einem Seitentischchen stand. Zippzipp blickte ihm erstaunt entgegen. »Prinzessin«, begann er, »Ihr habt mich gestern so eilig verlassen, daß ich nicht zu Ende sprechen konnte.« »Das war auch nicht nötig«, sagte sie kalt. »Doch«, widersprach er, »denn meine Tage hier sind gezählt.« Sie runzelte die Stirn. »Wer schickt Euch weg? Es steht bei Euch, zu bleiben – oder auch, zu gehen.« Achselzuckend trat sie beiseite. »Der Dienst meines Königs zwingt mich, Prinzessin«, antwortete er. »Nun ist es in unserem Lande Sitte, bei einer Trennung Andenken mit denen zu tauschen, mit denen uns Freundschaft verbindet, und ich komme, um Euch eine Gabe zu bieten und Euch um eine zu bitten. Ich weiß nicht, wann mein Weg mich wieder hierher führt.« Sie sah ihn mißtrauisch an. »Habt Ihr schon die Erlaubnis, zu reiten?« »Ich habe noch nicht einmal darum nachgesucht.« »Nun dann –!« sagte sie. »Ich weiß aber heute schon, worum ich Euch bitten möchte, Prinzessin«, fuhr er fort. »Es ist die kleine goldene Schale dort.« »Die? Warum gerade die? Wißt Ihr nichts Wertvolleres von einer Prinzessin zu erbitten?« »Nein«, antwortete Kunibert. »Die Schale war immer dabei, so oft ich hier war. Jedesmal haben wir sie
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betrachtet, und Ihr führtet mich zu ihr, als ich Euch das erstemal hierher folgen durfte.« »Und deswegen – ?« »Weswegen sonst, Prinzessin?« sagte Kunibert. »Auch ist die Gabe, die ich Euch bitten möchte von mir anzunehmen, keineswegs wertlos, obwohl sie so aussieht. Es lebt gewiß keine Frau, die nicht den höchsten Preis dafür geben würde.« Nur Sonja braucht sie nicht, dachte er im stillen. Sie könnte nicht schöner sein, und ihre Schönheit kann nicht vergehen. »Habt Ihr so wertvolle Dinge zu verschenken?« fragte Zippzipp. »Ihr, ein einfacher Ritter, wie Ihr sagt?« »Es ist etwas, was kein Kaiser kaufen und nur der Zufall schenken kann, Prinzessin. Es ist ein Stück von einem Elfenschleier. Solange eine Frau ihn auf dem Herzen trägt, bleibt sie jung und schön.« Zippzipp kniff die Lippen zusammen. »Ich brauche Eure Gabe nicht«, antwortete sie kurz. »Und doch würde keine Frau auf der Welt sie ausschlagen«, versicherte Kunibert, zog den Schleier hervor und hielt ihn Zippzipp hin. Zögernd griff sie danach, hielt ihn eine Weile in der Hand und befühlte das feine glänzende Gewebe, das ihren Fingern wohlzutun schien. Dann warf sie den Schleier verächtlich auf den Tisch, konnte jedoch ihren Blick nicht von ihm lösen. Sie zweifelte. Sie kämpfte mit sich. Schließlich nahm sie mit raschem Griff das Stückchen Schleier wieder auf. 204
»Meinetwegen«, sagte sie, nahm die goldene Schale und reichte sie Kunibert. »Nehmt.« »Ich danke Euch, Prinzessin«, rief Kunibert froh. Sie sah ihn erstaunt und fragend an. »Daß Ihr Euch so freut!« »Ihr wißt, warum, Prinzessin«, antwortete Kunibert, verbeugte sich und ging. Auf der Treppe begegnete er dem Kanzler. »Herr Ritter«, sagte dieser zu ihm, »morgen wird dem Kaiser Eure Eingabe überreicht. Vorher losen die drei Waisenknaben die Abschriften aus. Wollet zugegen sein. Das Gesetz will es so.« Kunibert wunderte sich schon längst über nichts mehr und erkundigte sich bloß, ob er das Amt gleich wieder verlassen könne. Da er hörte, das Zimmer habe einen eigenen Eingang und einen eigenen Ausgang, ging er am nächsten Vormittag hin. In dem schmucklosen Raum waren einige höhere Beamte versammelt, die drei Waisenknaben und die Kommission, die die Größe dieser Knaben festzustellen hatte, da die Abschrift, die der größte aus dem Haufen ziehen sollte, für den Kaiser bestimmt war, die vom zweitgrößten gewählte für das Abschriftenarchiv A und die dritte für das Archiv B. Die Kommission bestand aus einem Mathematiker, einem Astronomen und einem Schneider. Nachdem sie ihre Arbeit begonnen hatte, dauerte es gar nicht einmal so lange, bis sie verkündete, daß der größte Waisenknabe einen Fuß fünf Zoll größer sei als der zweite, der den 205
dritten nur um einen halben Fuß überragte. Da sich kein Widerspruch erhob, traten die Waisenknaben, nachdem sie vereidigt worden waren, an den Tisch, auf dem in drei Haufen die Abschriften lagen, nahmen jeder von einem Haufen das oberste Blatt und gaben es einem Beamten. Die für den Kaiser bestimmte Abschrift wurde in eine goldene Kapsel getan und zum Fenster hinaus auf die Straße geworfen, wo sie ein berittene! kaiserlicher Kurier auffing, der mit ihr in rasendem Galopp zum Schloß jagte. Diese Kuriere ritten die schnellsten Pferde des Kaiserreichs, die eigens für sie am Wüstenrand gezogen wurden. Als Kunibert ins Schloß kam, fand er im Vorzimmer des Thronsaals den wartenden Kurier zwischen schwerbewaffneten Soldaten, die ihn und seine Botschaft beschützten. Im Saal waren die Beamten und die Herren des Hofes, die bei allen wichtigen Regierungshandlungen dabeisein mußten, versammelt. Kratius erschien und setzte sich auf den Thron, worauf der Kurier eingelassen wurde, der an der Tür die goldene Kapsel einem Hofbeamten überreichte. Dieser gab sie einem anderen, der sie dem nächsten gab, bis die Kapsel, von Hand zu Hand wandernd, an den Kanzler kam, der sie öffnete und dem Kaiser mit feierlicher Verbeugung hinhielt. Kratius ließ sich vom Hofbrillenmeister eine dicke goldene Brille aufsetzen, die mit Edelsteinen verziert war, und winkte dem Kanzler, der das Blatt aus der Kapsel zog und es den beiden vor dem Thron stehenden Oberhoflautsprechern reichte, die gemeinsam Kuniberts Gesuch, von Kratius empfangen zu werden, vorlasen. Der Kaiser nickte Gewährung. Der 206
Kanzler steckte das Gesuch wieder in die Kapsel. Die Kapsel wanderte von Hand zu Hand ihren Weg zurück zur Tür und wurde dort einem Schnelläufer umgehängt, der mit ihr in höchster Eile durch die Gänge des Schlosses zum Kaiserlichen Archiv rannte, in jeder Hand eine Glocke schwingend, damit man ihm Platz mache und niemand ihn aufhalte. Der Kaiser zog sich zurück, die Versammlung lief auseinander, und Kunibert trat zu dem Kanzler. Er stellte ihm vor, daß seine Zeit in Lappa abgelaufen sei und er weiterreiten müsse. »Herr Ritter«, erwiderte der Kanzler, »soeben ist Eure erste Eingabe voller Huld genehmigt worden, es stände Euch übel an, jetzt schon um Erlaubnis zur Weiterreise zu bitten. Unser erhabener Kaiser würde baß erstaunt sein. Wartet noch.« »Ist es denn nicht wenigstens möglich, den Gang meines Gesuchs abzukürzen?« fragte Kunibert. »Ich kann nicht noch einmal so lange warten.« »Die Gesetze von Lappalien sind unbeugsam«, antwortete der Kanzler kalt. »Versucht nicht, sie zu umgehen. Ich warne Euch«, setzte er mit mißtrauischem Blick hinzu und ließ den Ritter stehen. Kunibert hatte längst gemerkt, daß die Stimmung am Hofe immer feindlicher gegen ihn geworden war, namentlich seit dem Theaterabend und seitdem man wußte, daß der Kaiser die Truppe auf seine Fürbitte hin begnadigt hätte. Auch in der Stadt begegnete er kalten, gehässigen Mienen. Er konnte nicht daran zweifeln, daß den
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Einwohnern von Lappa das Schauspiel des Ertränkens lieber gewesen wäre. Prinzessin Zippzipp erschien nicht an der kaiserlichen Tafel. Sie fehlte auch am nächsten Tag, und dabei blieb es eine ganze Woche. Als sie bei Tisch ihren Platz neben der Kaiserin wieder einnahm, machte Kunibert große Augen. Der Elfenschleier hatte gewirkt. Zippzipp war so hübsch geworden wie nur möglich. Ihre Augen und ihr Haar glänzten, ihre Haut war zart, ihr Mund frisch, sogar die Bewegungen waren weicher geworden, und die Falten ihres Kleides fielen anmutiger. Kratius gönnte seiner Tochter keinen Blick, aber Admarilla merkte es gleich. Immer wieder sah sie die Prinzessin an und goß dazwischen ein Glas Wein nach dem anderen hinunter. Endlich konnte sie es nicht mehr aushalten und sagte: »Was ist denn mit dir, Zippzipp? Wie siehst du aus? Gar nicht wie du selbst!« Die Prinzessin lächelte zu Kunibert hinüber und schwieg. Admarilla aber regte sich so auf, daß sie bald hinausgerollt wurde. Von der Tischgesellschaft achteten viele gar nicht auf das Aussehen der Prinzessin. Einige jedoch waren offenbar peinlich berührt oder sogar entrüstet, und diese sorgten dafür, daß es auch die anderen bemerkten. Als Kunibert nach dem Essen an einer Gruppe vorbeiging, die sich eifrig unterhielt, hörte er einen Staatssekretär sagen: »Wie eins von diesen unsagbaren Frauenzimmern, diesen Luftspringerinnen! Sieht so eine Prinzessin aus? Nun, wir wissen ja, wer sie verzaubert hat
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und mit welcher Absicht. Glücklicherweise gibt es Gesetze, und zwar strenge!« »Nicht nur für ihn, sondern auch für sie«, sagte der Minister für öffentliche Strafen dumpf. »Er hat schon um die Erlaubnis zur Abreise nachgesucht«, wandte ein anderer Minister ein. »Spiegelfechterei!« rief der Staatssekretär und schwieg erschrocken, als er Kunibert in der Nähe bemerkte. Der Ritter ging zu Kratius. »Erhabener Kaiser«, sagte er, »meine Zeit hier ist zu Ende. Ich komme, um Euch meinen Dank für Eure Gnade und Eure Güte zu sagen und um Euch zu bitten, mich zu beurlauben.« »Habt Ihr Eure Eingabe gemacht?« fragte der Kaiser. »Ja.« »Darin müßt Ihr abwarten.« »Ich kann nicht, erhabener Kaiser«, antwortete der Ritter. »Der Dienst meines Königs ruft mich. Gebt mir eine außerordentliche Erlaubnis.« Kratius mochte von der Stimmung an seinem Hofe wissen. Es war deutlich, daß es ihm lieber gewesen wäre, den Ritter bald wieder loszuwerden, doch er schüttelte den Kopf. »Außerordentliches gibt es nicht«, sagte er. »Ihr begreift, mein erhabener Kaiser«, erwiderte Kunibert, »daß König Kasimir darauf brennt, zu hören, ob Euch der Nashornorden gefällt und ob Ihr ihn tragt. Es würde sein höchstes Mißfallen erregen, bliebe ich länger.«
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Kratius griff unwillkürlich nach seinem Orden. »Oh, meint Ihr nicht, daß er es verstehen würde, wenn ich Euch länger zurückhielte?« Kunibert schüttelte den Kopf. »Nein!« »Und daß er es nicht billigen würde?« »Noch weniger.« Erregt ging der Kaiser auf und ab. »Ich werde den Kronrat einberufen«, sagte er. »Verzieht noch wenige Tage.« Kunibert versteckte sich vor den Dienern der Prinzessin, die ihn hätten zu ihr rufen können. Abends fand er in seinem Schlafzimmer Schorse, der ein bedenkliches Gesicht machte. »Nach und nach wird es hier ungemütlich«, sagte der Knappe. »Die Leute bilden sich ein, Ihr hättet die Prinzessin verzaubert, um Kaiser von Lappalien zu werden.« »Gott behüte mich!« rief Kunibert. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Schorse. »Ich glaube, es ist das beste, wir kratzen aus.« »Noch drei Tage«, antwortete sein Herr. »Vielleicht habe ich bis dahin vom Kaiser die Erlaubnis.« In diesen drei Tagen wurde nicht nur Kuniberts, sondern auch Prinzessin Zippzipps Stellung am Hofe unhaltbar. Sogar gegen die Tochter des Kaisers beobachtete man nur noch die unvermeidlichen Formen. Man beachtete sie so wenig wie möglich, sie, die einst so viel Einfluß gehabt und so bewundert worden war. Selbst ihre Hofdamen
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machten eisige Gesichter und wichen ihr aus, wo sie es konnten. Prinzessin Zippzipp war hilflos. Immer seltener blickte sie bei Tisch zu Kunibert hinüber, und schließlich wurde ihr Gesicht wieder spitz und verkniffen. Der Ritter achtete sorgfältig darauf, nur an der Hoftafel mit ihr zusammenzutreffen. Am dritten Tage ging er wieder zum Kaiser. Kratius machte ein unglückliches Gesicht. »Es geht nicht«, klagte er. »Es geht nicht.« Kunibert schwieg. Nervös griff Kratius nach seinem Orden. »So reitet denn«, rief er plötzlich verzweifelt. »Reitet! Ich will dafür sorgen, daß Euch niemand beachtet.« »Ich danke Euch«, fing Kunibert an. Der Kaiser unterbrach ihn. »Nichts von Dank! Kein Abschied, von wem es auch sei! Ich kann Euch nicht Lebewohl sagen und Euch kein Schreiben an den König Kasimir mitgeben. Ihr müßt ihm mündlich berichten. Kein Wort weiter!« Er drehte dem Ritter den Rücken, ging zur Tür, machte jedoch wieder halt und wandte sich um. Augenscheinlich hätte er die gegebene Erlaubnis am liebsten wieder zurückgenommen. Plötzlich blitzte es in seinen Augen auf. »Ich werde Euch die Erlaubnis zur Abreise mit einem Eilboten nachsenden«, erklärte er, »und solange verbieten, daß man Eure Abwesenheit bemerkt. Ja«, setzte er mit einem Seufzer der Erleichterung hinzu, »so geht es. Lebt – «
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Er hatte in seiner Freude beinahe »Lebt wohl« gesagt, doch er verschluckte das letzte Wort und verließ schnell das Zimmer. »Morgen früh, mit dem ersten Morgenlicht, reiten wir«, sagte Kunibert am Abend zu Schorse. »Höchste Zeit«, meinte der Knappe. »Man spricht in der Stadt schon von einem Prozeß gegen Euch wegen Zauberei. Manche wollen sogar Prinzessin Zippzipp vor Gericht ziehen. Übrigens argwöhnt man auch, daß Ihr Lappa verlassen wollt, und will Euch vor der Stadt einen Hinterhalt legen.« Kunibert dachte nach. »Sie denken, daß wir denselben Weg zurückreiten, den wir gekommen sind, aber wir wollen nach der andern Seite weiter.« Er hatte seinen Mantelsack gepackt und fühlte noch einmal nach der goldenen Schale, die zuunterst lag. »Gut«, sagte Schorse, »dann können sie in ihrem Hinterhalt so lange warten, bis wir einen hübschen Vorsprung haben.« Mit dem ersten Tagesgrauen gingen beide in den Stall, sattelten, schwangen sich auf und ritten durch die halbdunkeln Höfe. Keine der Wachen schien sie zu bemerken. Als sie im äußersten Hof an einer Freitreppe vorbeiritten, öffnete sich oben die Tür. Zippzipp trat heraus und kam die Stufen herab. Ihr Gesicht war welk; sie sah aus wie bei Kuniberts Ankunft. Die Prinzessin ging auf den erstaunten Ritter zu, schaute ihn an und steckte ihm den Elfenschleier in die Hand.
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»Nehmt Eure Gabe zurück«, sagte sie. »Ich will sie nicht. Die Schale mögt Ihr behalten, wenn Euch daran liegt.« Sie lief die Stufen wieder hinauf. »Aber Prinzessin«, rief Kunibert, »warum wollt Ihr den Elfenschleier nicht – ?« Sie blieb stehen und blickte nach dem hohen Tor, durch das helles Morgenlicht in den dämmerigen Hof fiel. Ihre dünnen Lippen verzogen sich, und sie zuckte die Achseln. »Wozu hier jung und schön sein?« antwortete sie und verschwand in der Tür. Einen Augenblick sah ihr Kunibert nach, dann ritt er mit Schorse an der Wache vorbei, die sich von ihnen abkehrte, und zum Schloßtor hinaus. Sie trabten durch die leeren Straßen. Draußen vor der Stadt setzten sie ihre Pferde in Galopp und ritten auf den Seitenwegen, die sie ausgekundschaftet hatten, davon.
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ZWÖLFTES ABENTEUER
DER SCHNEEKÖNIG Die Weißen Berge ragten hoch in den blauen Himmel. Erst waren sie ganz in der Ferne aufgetaucht, zart und duftig, man hätte sie für Wolken halten können. Dann waren sie vor Kuniberts und Schorse’s Augen täglich höher und klarer über der grünen Ebene aufgewachsen, bis die Reiter nicht mehr die ganze Kette überblicken, sondern nur noch die nächsten gewaltigen Berge sehen konnten, die bis weit hinauf bewaldet waren. Über dem Wald waren Wiesen zu sehen, die in Geröllhalden und Felswände übergingen, und in hoher Ferne glänzte über allem der ewige Schnee der mächtigen Gipfel. Kunibert und Schorse ritten auf die höchste Bergspitze zu, durch ein breites Tal und durch dunkle Wälder hinan. Die Dörfer, die sie in der Ebene und im Tal häufig angetroffen hatten, waren selten geworden, und endlich kamen sie in eins, wo man ihnen versicherte, dies sei das letzte, höher hinauf gebe es keines mehr. Nun begann die Einöde. Kunibert hatte sich unterwegs viel mit allerlei Volk unterhalten und immer die Rede auf den Berggeist zu bringen versucht, doch er hatte bemerkt, daß die Leute von dem Berggeist lieber schwiegen als sprachen. Nur ein Hirt hatte ihm gesagt: »Wenn du den Berggeist suchst, mußt du so weit hinauf wie möglich in die Einsamkeit der höchsten Felsen und Klüfte, wo nichts mehr lebt. Will er sich dir zeigen, wirst du ihn sehen; will er nicht, dann ist dein Gang 214
vergebens. Versuche, wenn du Mut hast. Hier würde es niemand wagen.« Am Abend der Ankunft in dem letzten Dorf sagte Kunibert zu Schorse: »Morgen gehe ich zu Fuß höher ins Gebirge hinauf. Da sind die Pferde zu nichts mehr nütze. Du mußt bei ihnen bleiben.« Schorse, der kein Bergsteiger war, versteckte sein Aufatmen unter einem Räuspern. Er wiegte den Kopf, kämpfte ein wenig mit sich und meinte dann: »Wäre es nicht besser, ich ginge mit?« Kunibert lachte, »Bleib nur hier. Ich gehe allein. Das ist dem Berggeist vielleicht auch lieber.« »Es wird 'ne ziemliche Kletterei werden«, wandte Schorse ein, »und wenn Ihr nun abstürzt, was dann? Ich meine, wir sollten beide nur noch ein Stückchen hinaufgehen, so etwa bis dahin, wo die Felsen anfangen, und dann recht laut nach dem Berggeist rufen. Ich kann mächtig schreien, und uns beide zusammen hört er auf jeden Fall.« »Ich will's versuchen«, versprach Kunibert, »aber allein. Du mußt bei den Pferden warten, bis ich wiederkomme. Wie lange das dauern wird, kann man nicht sagen. Drei Tage, drei Wochen oder Monate? Wer kann wissen, was einem mit einem Berggeist begegnet?« Beim frühen Morgengrauen brach der Ritter auf. Der Knappe wollte ihn ein Stück begleiten und nahm den leichten Mantelsack auf die Schulter, in dem Kunibert außer dem Mundvorrat nur das Nötigste gelassen hatte. Als 215
sie aus der Tür traten, war die Luft frisch; an dem blaugrauen Himmel verblaßten kleine silberne Sterne, und die hohen Schneegipfel schimmerten gespenstisch. Sie fröstelten und schritten wacker aus. Unter den letzten Bäumen des Waldes schickte Kunibert den Knappen, der ihm zu langsam ging, zurück. Es war längst Tag geworden, und die blühenden Wiesen lagen in hellem Sonnenschein. Hie und da wehte aus einer verborgenen Schlucht ein leichter Nebel auf. Kunibert fühlte, wie die würzige Morgenluft seine Kräfte wachsen ließ. Der weiche Boden schien zu federn, so leicht trug er seinen Schritt. Eine Geröllhalde schnitt tief in die Wiese ein. Er überquerte sie und stieg wieder bergan. Die Stunden verrannen. Kunibert blieb stehen und trocknete die Stirn. Ringsum nur Sonnenschein und Stille. Zu seinen Füßen flatterte ein kleiner blaßroter Falter um die Blüten. Über ihm flimmerte der Schnee des Gipfels, und hoch im Blau kreiste ein Adler. Unter ihm lag fern der dunkle Wald, auch ein paar Felder im Tal konnte er sehen und winzige Häuschen. Drüben ruhten in bläulichem Duft die andern mächtigen Berge. Kunibert wanderte weiter. Große nackte Steine durchbrachen das Grün. Dann kamen Felsen. Kunibert konnte nicht mehr geradeaus auf den Gipfel zugehen, sondern mußte sich einen Weg suchen. Er nahm immer die Richtung, die am schnellsten bergauf zu führen schien. Lange ging er an einer steilen Wand hin, wagte schließlich den Aufstieg, kam aber an glatte senkrechte
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Felsen und mußte wieder ein Stück hinunter. Es war heiß geworden, und sein Mund wurde trocken. Die leichte Kürbisflasche, die er bei sich trug, war schon leer. Von einem Vorsprung aus erblickte er weiter am Abhang hin einen spitz zulaufenden Wiesenstreifen, der hoch hinaufreichte. Dort schien ein Einschnitt in den Felsen zu sein, vielleicht war von dort der Aufstieg möglich. Er machte sich auf den Weg. Es war weiter, als er gedacht hatte. Immer wieder mußte er klettern und Umwege machen. Oft verlor er den grünen Streifen aus den Augen. Endlich bog er um eine Felsecke und sah die Halde vor sich liegen. In der lautlosen Stille glaubte er ab und zu etwas wie ein leises, kaum vernehmbares Glucksen und Plätschern zu hören. Eine Bergquelle, dachte er. Welche Wohltat! Er beschleunigte seinen Schritt und erreichte den blühenden Streifen, der freilich nur schmal war, in dessen Mitte aber ein blitzendes Bächlein floß. Eilig plätscherte das Wasser über glatte, blanke Kiesel, die im Sonnenlicht bunte Schatten auf den Grund warfen. Von der nahen Quelle her kam ein heller, frischer Hauch. Kunibert sah das Wasser aus dem Gestein springen. Er ging die paar Schritte hinauf und fand, daß es sich dort, ehe es über einen runden Stein hinabglitt, in einem kleinen Becken sammelte. Sonnenstrahlen spielten und zitterten in der kristallenen Klarheit. Er kniete nieder und stützte die Hände zu beiden Seiten des Randes auf. Eben wollte er sich hinunterbeugen, da hörte er, als ob es ihn leise umwehe: »Kunibert.« Und ein ganz zartes, hüpfendes Lachen: »Kunibert.« 217
Er hob den Kopf, sah sich um und konnte dann doch seinen Blick nicht mehr von dem spiegelhellen Wasser lösen. Das Murmeln nahm ihn gefangen. Er lauschte und lauschte, bis das Glucksen und Plätschern zu einem Flüstern wurde und zu Worten: Fandst du doch den Weg zum Quell, Lockte dich der klare? Quellenwind ist silberhell, Gold sind meine Haare. Sonnenfäden spann ich dicht Überm Kieselgrunde. Eine Schale, flimmernd licht, Biet' ich deinem Munde. Neige zu dem blanken Rand, Neige dich hernieder. Hell und bunt ist mein Gewand, Silbern meine Glieder. Auf die weiche, kühle Flut Laß die Lippen sinken: Meine Gabe, rein und gut, Sollst du durstig trinken.
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Kunibert trank und trank in vollen Zügen. Nie hatte ein Trunk ihn so erquickt, nie ihm so köstlich gemundet. Er richtete sich auf. Undeutlich sah er sein Bild in dem zitternden Wasser, wie von leichten Schleiern umgeben. »Kunibert, bist du da?« flüsterte es dicht an seinem Ohr. »Kunibert, grüß dich Gott!« Er blickte hinter sich und sah, daß es wirklich um ihn her war wie silbrige Schleier oder wie ein leichter Nebel über dem Wasser. Er setzte sich ins Gras. »Du hast lange gebraucht, Kunibert«, klang es wie ein Hauch, »aber dein Weg war auch weit.« »Ach, du bist es?« rief Kunibert. »Du!« Die gleitenden, hüpfenden Wellen, die über dem Grunde mit Sonnenlichtern und leichten Schatten spielten, hatten plötzlich das Bild des schönen jungen Mädchens in ihm geweckt, mit dem er bei Süffisande hinter dem Zauberer gegangen war und auf dessen Bitte der Perser seine Künste gezeigt hatte. Jetzt entsann er sich auch ihres leichten, hüpfenden Lachens wieder. »Freilich«, klang es. »Freilich bin ich es.« »Eine Bergquelle bist du?« »Was sonst? Aber sag', wohin willst du?« Er glaubte, sie zu sehen, und je mehr er hinsah, desto deutlicher wurde ihm ihr Bild. »Zum Berggeist«, antwortete er. Sie schien sich neben ihn ins Gras gesetzt zu haben. Durch die duftige Erscheinung hindurch sah er das Wasser;
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zuweilen war es ihm, als erblicke er ihre klaren blaugrünen Augen. »Zum Berggeist?« sagte sie. »Willst du ihn nach dem Rasierzeug fragen?« »Seine Zwerge haben es geschmiedet.« »Die Zwerge, die schmieden, wohnen in der Tiefe, Kunibert, und der Berggeist zeigt sich dir nicht. Da bist du auf falschem Wege. Doch geh nur weiter hinauf. Geh zum Schneekönig. Dort oben auf dem höchsten Gipfel wohnt er. Heute gelangst du nicht mehr zu ihm. Aber geh weiter, es gibt nur einen Weg. Wenn du nicht säumst, kommst du vor Abend an eine tiefe Höhle, wo du ungefährdet übernachten kannst. Morgen brich früh auf, dann bist du um die Mittagsstunde oben.« Kunibert konnte den Blick nicht von ihr wenden. »Beim Schneekönig?« fragte er zweifelnd. »Glaubst du?« »Spute dich«, sagte sie leise. »Frage nicht. Geh! Ich rate dir gut.« Ihr Bild wurde undeutlicher. »Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich habe dir schon mehr gesagt, als ich durfte. Aber« – vor Kuniberts Augen zerflossen silberne Nebel – »du hast mich ja geküßt!« Sie war verschwunden. Kunibert saß eine Weile und sann. Dann erinnerte er sich, daß sie ihm geraten hatte, nicht zu säumen. Er stand auf, füllte die Feldflasche im Bach, beugte sich noch einmal über den klaren Rand der Quelle, tauchte die Lippen in die Flut und trank. »Leb wohl!« flüsterte es aus dem Murmeln des Wassers. »Leb wohl, Kunibert!« »Leb wohl!« antwortete er halblaut und ging. 220
Kunibert hatte die Schneegrenze längst hinter sich. Der Aufstieg war schwierig. Bald fiel er bis an die Brust in eine Schneewehe und muße sich hinausarbeiten, bald versank er bei jedem Schritt bis über die Knie. Bisweilen fand er wieder harte Stellen, auf denen er rascher vorwärtskam. Unter dem tiefblauen Himmel umgab ihn das große Schweigen der Höhe. Ringsum nur Schnee, grünlich blitzendes Eis und wieder Schnee, Schnee mit blauen, blauvioletten Schatten. Die Sonne war warm und stark, die Luft so rein und leicht, wie Kunibert sie noch nie geatmet hatte. Er wurde weder müde noch hungrig, obwohl sein Mundvorrat zu Ende war. In der Flasche war noch ein wenig Quellwasser. Er nahm einen Schluck und fühlte sich wieder wie beschwingt. Er blickte aufwärts. Blendendes Weiß und endloses stilles Blau. Weit konnte der Gipfel nicht mehr sein. Unverdrossen stieg er weiter, immer höher und höher, frei und beglückt wie in einem hellen Traum, fast wie in einem Rausch. Bums! traf ihn etwas auf die Brust. Der Panzer klirrte. Kunibert schaute hin. Ein Schneeball? Das war doch nicht möglich. Patsch, patsch, patsch! Eine ganze Salve, anscheinend lauter Treffer. Er schloß das Visier und versuchte zu erspähen, wer die sicheren Schützen seien. Ein ganzes Stück bergan glaubte er weiße Gestalten zu sehen, die sich freilich kaum von den Schneewänden dahinter abhoben. Wirklich. Sie bewegten sich. Wie Menschen in dicken weißen Pelzen sehen sie aus, dachte Kunibert, täppisch sind sie und doch sehr beweglich. 221
Im nächsten Augenblick prasselte wieder ein Hagel von Schneebällen auf ihn nieder. Er senkte den Kopf, lief bergauf und hörte durch das Sausen der Schneebälle fröhliche Stimmen und Lachen. Eine Schneeballschlacht? dachte er. Warum nicht? Er bückte sich, knetete tüchtige Schneebälle, warf, bückte sich wieder, warf im Aufwärtssteigen so schnell er konnte, und traf auch. Hei! dachte er, ich bin gar nicht so aus der Übung gekommen seit unseren Schneeballschlachten im Dorf. Kunibert war im Nachteil gegen die Überzahl, aber seiner Rüstung konnten die weichen Geschosse nichts anhaben, und der Eifer packte ihn so, daß er gar nicht merkte, wie schnell er vorwärtsdrang, bis er auf einmal erhitzt und keuchend zwischen den weißen Gestalten stand, die ihn neugierig umringten. Kunibert öffnete sein Visier. »Ihr seid ja lauter Schneemänner!« rief er verblüfft. Ein unmäßiges Lachen war die Antwort. Dann riefen alle durcheinander. »Ein Mensch! Ein Ritter! Hab's euch doch gleich gesagt' Fein werfen kann er. Mich hat er an die Nase getroffen. Mich auf den Bauch. Wir müssen ihn zum König bringen. Der wird sich freuen. Rasch!« Sie umdrängten Kunibert und schoben ihn weiter. Einer hatte ihm den Mantelsack abgenommen und über die Achsel geworfen. Alle redeten gleichzeitig. Es war kein Wort zu verstehen, und Kunibert konnte nur aufs Geratewohl ja und nein antworten. Das Gedränge wurde dichter. Der Ritter fühlte, daß er den Boden unter den Füßen verlor, 222
und ehe er es sich versah, saß er auf kräftigen Schultern aus Schnee. Wie im Fluge trugen sie ihn bergan. Kunibert blickte um sich und machte große Augen. Vor ihm lag ein mächtiges Burgtor, ganz aus Schnee gebaut, an das sich eine lange, zinnengekrönte Schneemauer schloß, die im Bogen um die Bergkuppe lief. Mit Windeseile ging es durchs Tor und ein Stück an der Innenseite der Mauer hin. Kunibert sah, daß hinter den Zinnen riesige Schneebälle wie Kanonenkugeln aufgehäuft waren und daß auf dem Wehrgang in weiten Abständen Wachen standen mit langen Speeren, die grünlich in der Sonne blitzten. Ganz in der Ferne erblickte er einen Schneemann, der so groß war wie ein gewaltiger Riese. Es wird ein Bildwerk aus Schnee sein, dachte er und bemerkte gleichzeitig, daß ihn die Schneemänner über einen freien Platz auf einen Palast zu trugen, der auch ganz aus Schnee gebaut war, aber Fenster aus hellem, dünnem Eis hatte. Rechts und links von der Freitreppe, die zu dem breiten Tor hinaufführte, stand je ein Schneemann mit einem schmalen Helm auf dem Kopf, der aus blauem Papier geknifft war, und mit einer Axt aus glänzendem Eis auf der Schulter. Vor der Treppe stellten die Schneemänner Kunibert vorsichtig auf die Füße. Neben dem großen Gebäude lagen kleinere Häuser, dahinter wieder andere, alle aus Schnee. Der Lärm, den die Schneemänner machten, schien gehört worden zu sein. Von allen Seiten lief das Schneevolk zusammen, nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Unter der Tür des Schlosses aber erschien der Schneekönig. 223
»Der König, der König!« jubelte alles. »Freu dich, König, freu dich!« Und der Schneekönig freute sich wirklich. Über sein ganzes rundes Gesicht lachte er, so daß die Mohrrübe, aus der seine Nase bestand, mitzulachen schien und die schwarzen Kohlenstücke seiner Augen lustig blinkten. Er war ein großer, stämmiger Schneemann, der fest auf seinen dicken Füßen stand. Auf dem Kopf trug er ein kurzes Stück Ofenröhre, das jedoch, zumal an dem zackig abgebrochenen Rand, mit Schnee und Eiskristallen so überfroren war, daß es in der Sonne wie tausend Diamanten blitzte, so schön, wie es keine Kaiserkrone vermocht hätte. Als Zepter trug er einen dicken Reiserbesen, und auf der Brust hing ihm an einer Schnur ein rotes Kohlblatt, aber auch Besen und Kohlblatt waren überfroren und funkelten wie von Edelsteinen. Hinter dem König drängten sich andere Schneemänner und sahen einander über die Schultern auf den Ritter hinab. Der Schneekönig stieg würdevoll die Treppe hinunter und blieb auf der letzten Stufe stehen. Sein Gefolge kam ihm nach. Er nahm das Zepter in die Linke und streckte Kunibert seine dicke, feste Hand entgegen. »Sei willkommen«, rief er, »herzlich willkommen! Wir haben oft und gern Besuch, doch ein Mensch, ein Ritter, wie du, war noch nie bei uns. Tritt ein.« »Halt«, sagte er dann und wandte sich zu den Schneemännern, die Kunibert heraufgebracht hatten. »Das habt ihr gut gemacht. Laßt euch jeder vom Kellermeister einen Eiskümmel geben. Und nachher wieder auf eure 224
Posten vorm Tor. Schöne Wache, die so davonläuft! Trollt euch.« Er klatschte in die Hände, daß der Schnee nur so stäubte, und die Schneemänner eilten vergnügt zum Eingang in den Keller. »Du kommst zu guter Stunde, lieber Ritter«, sagte der Schneekönig zu Kunibert, während beide durch das Gefolge die Treppe hinaufstiegen. »Wir wollen gerade zu Mittag essen.« Sie traten in einen großen Saal, in dem eine lange Tafel gedeckt war. Kunibert mußte sich neben den König setzen. Es ging zwanglos und gemütlich zu, aber vor dem Schneekönig schienen alle große Achtung zu haben, denn obwohl die meisten Schneemänner, wie Kunibert deutlich sah, vor Neugierde fast platzten, warteten sie geduldig darauf, daß der König den Gast nach dem Woher und Wohin fragen werde. Der König tat es, und Kunibert gab Auskunft. »So, die Bergquelle hat dir den Weg herauf gewiesen«, sagte der Schneekönig. »Das war recht von ihr. Wir mögen sie alle gern und sorgen gut für sie, so daß sie nie zu darben braucht.« Kunibert erzählte weiter und mußte unzählige neugierige Fragen beantworten. Im Laufe der Unterhaltung erfuhr er, daß einer der freundlichen, behäbigen Schneemänner, die in der Nähe saßen, der Gestöbermeister war, ein anderer der Lawinengeneral und einer der Gletscherrat. Von Süffisande und ihrem Schloß wußten alle, aber dort gewesen war keiner.
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»Es ist zu warm für uns«, erklärte der Lawinengeneral und schüttelte sich. »Hu!« Während des Gesprächs wurde das Essen aufgetragen, zuerst Schokoladensuppe mit Schneeklößen, dann Schneehühner mit Marzipankartoffeln und Eissalat und endlich Schneebälle mit Vanillensauce. Die Schneemänner waren offenbar rechte Leckermäuler, denn sie aßen tüchtig und kauten behaglich mit vollen Backen. Der König freute sich, daß es seinem hungrigen Gast schmeckte. »Recht so«, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Recht so. Nur ordentlich eingehauen.« Zum Schluß wurde jedem ein klarer Eisbecher mit Gletschersekt hingestellt. »Dir zu Ehren«, sagte der König stolz, »um deinen Willkommen zu trinken. Koste einmal.« Dem Ritter schmeckte das Getränk nicht übel, er fand es nur etwas kalt. »Hoch sollst du leben«, rief der Schneekönig und stieß mit ihm an. »Hoch, hoch!« riefen alle Schneemänner begeistert und schwangen ihre Becher. Der dicke Gestöbermeister schlug vor Freude mit der linken Faust so kräftig auf den Tisch, daß ihm der Arm an der Schulter abbrach. Es gab ein großes Gelächter. »Schadet nichts«, brummte der Gestöbermeister. »Der war schon lange wacklig. Ich kann ganz gut einen neuen gebrauchen.« Der Schade war rasch gutgemacht. Ein Schneemann, der zugleich Hofzuckerbäcker und Hofbildhauer war, stand auf, man brachte ihm ein längliches Stück Schnee, das 226
wohl für solche Fälle vorbereitet war, und in fünf Minuten hatte er dem Gestöbermeister einen schönen neuen Arm angesetzt. »Jetzt mußt du ihn aber einen Tag lang schonen«, sagte der Bildhauer, »bis er hübsch festgefroren ist.« »Weiß ich«, antwortete der Gestöbermeister ungeduldig. »Danke schön.« »Das ist dies Jahr schon dein siebenter Arm«, rief der Schneekönig lachend. »Kann ich dafür, daß er keinen festeren Schnee nimmt?« verteidigte sich der dicke Meister. Alle lachten ihn aus. »Schnee – natürlich am Schnee soll's liegen«, hieß es ringsumher. »Du bekommst denselben Schnee wie alle«, entgegnete der Bildhauer, »aber du bist ein quirliger Kopf und kannst dich nicht ruhig halten.« »Doch nun«, sagte der Schneekönig zu seinem Gast, »möchte ich eins von dir wissen. Was suchst du auf all deinen großen Reisen und weiten Fahrten? Wir blicken hier weit in die Länder hinein. Am Ende können wir dir einen Rat geben.« »Das hatte ich gehofft, Herr König«, erwiderte Kunibert. »Und was ich suche, ist ein wunderbares Rasierzeug, das König Kasimir der Zartbesaitete haben will. Es ist eine Arbeit kunstreicher Zwerge. Ich soll dafür Prinzessin Sonja bekommen und König werden.« »Von Rasierzeugen verstehen wir hier freilich nicht viel«, meinte der Schneekönig. »Wir brauchen sie nie. Das mußt du uns schon genauer erklären.« 227
Kunibert berichtete, und der König hörte gespannt zu. Von allen Seiten rückten die Schneemänner näher, steckten die Köpfe zusammen, lauschten eifrig und nickten. Die an den Enden der Tafel saßen, standen auf und kamen herbei, um besser zu hören. Das Gesicht des Schneekönigs, der sich mit behaglichem Schmunzeln zurechtgesetzt hatte, wurde immer ernster, so daß ihn manchmal einer seiner Untertanen erstaunt und besorgt ansah. Endlich seufzte er tief. Kunibert blickte auf. Der Schneekönig hatte den Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt; seine Krone war etwas schief gerutscht. Er seufzte noch einmal »Ja, dann hilft es nichts«, sagte er traurig. Er richtete den Blick seiner schwarzen Kohlenaugen auf den Ritter, und Kunibert sah mit Erstaunen, daß seine Augen feucht waren, daß Tränen darin glänzten. Auch die Schneemänner hatten es bemerkt, und es entstand eine große Aufregung. Sie sprangen von den Stühlen, sprachen durcheinander, beugten sich über den Tisch und redeten auf den König ein. Wenn sie es nur gekonnt hätten, wären sie vor Entsetzen blaß geworden, denn es lebte unter ihnen die alte Sage, daß das Reich untergehen müsse, wenn der Schneekönig weine. »König, König!« riefen sie verzweifelt. »Was ist? Was sollen wir tun? Sei nicht betrübt. Denke an dein Reich!« Der Schneekönig winkte ab. »Laßt nur. Es ist schon gut. Sprich weiter, lieber Ritter.«
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»Nicht, wenn es dich traurig macht«, antwortete Kunibert. »Doch das konnte ich nicht wissen.« »Nein«, sagte der König, »das konntest du nicht. Ich habe nämlich«, fuhr er nach einigem Besinnen fort, »sieben Borsten aus dem Pinsel, der zu deinem Rasierzeug gehört, und die stecke ich mir sonntags als Schnurrbart an, vier rechts und drei links. Ich muß sie dir geben, denn du brauchst sie. Aber«, setzte er vor sich hinblickend hinzu, »was wird aus meinem Sonntagsschnurrbart?« »Du gibst sie ihm nicht«, rief der Lawinengeneral grimmig. »Was kommt es in dem Pinsel auf sieben Borsten an?« »Sehr viel«, entgegnete der König. »Bei einem Zauber muß alles vollständig sein.« Kunibert dachte nach. Er fand, daß ein Schnurrbart aus sieben Haaren nicht viel wert sei, und strich über seinen eigenen. »Herr König«, rief er plötzlich. »Ich hab's. Schenkst du mir die sieben Borsten, dann gebe ich dir vierzehn von meinen eigenen Schnurrbarthaaren. Du hast dann das Doppelte und noch dazu auf jeder Seite gleichviel.« Das Gesicht des Schneekönigs verklärte sich wie im Sonnenschein. Er hielt dem Ritter die Hand hin. »Topp«, sagte er, »so machen wir's!« »Hurra«, riefen die Schneemänner, »der König freut sich wieder! Brav, Herr Ritter, das war schön von dir.« »Man findet immer zueinander, wenn man nur will«, sagte der Schneekönig. 229
Während der Leibarzt des Königs dem Ritter vierzehn Schnurrbarthaare ausrupfte, wobei alle Schneemänner laut mitzählten, brachte der Kammerdiener in einem Kästchen aus klarstem Eis die sieben Rasierpinselborsten, die Kunibert sogleich einwickelte und zu sich steckte, da der Kasten doch geschmolzen wäre. Inzwischen waren die Stunden verronnen, und Kunibert sah besorgt aus dem Fenster nach dem Stand der Sonne, die schon anfing, zu sinken. »Es wird Zeit für dich«, sagte der Schneekönig. »Die Nacht kannst du nicht hier oben verbringen. Du müßtest erfrieren.« »Ich glaube, es ist schon zu spät«, antwortete der Ritter. »Bis ich zu der Höhle komme, wo ich übernachtet habe, ist es vermutlich schon dunkel, und ich weiß nicht einmal bestimmt, ob ich sie bei Tage wiederfände.« »Du brauchst keine Höhle«, versicherte der Schneekönig. »Wir können dich schneller befördern, so daß du noch heute abend wieder unten im Tal bist.« Er winkte dem Lawinengeneral. »General«, sagte er zu dem Schneemann, der vor ihn hintrat und sich hoch aufrichtete, daß Kunibert staunte, wie groß er wurde. »General, nimm deine zuverlässigsten Leute und befiehl ihnen, mit unserem Gast sofort ins Tal niederzugehen. Schärfe ihnen ein, daß dem Ritter kein Haar gekrümmt werden darf.« »Das soll geschehen, Herr König«, erwiderte der Lawinengeneral. »Meine Leute haben freilich schon
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Feierabend, doch du weißt ja, wie leicht sie zu wecken sind.« Er verließ den Saal. Der Schneekönig, Kunibert und die andern folgten ihm langsam. Sie gingen auf die große Schneemauer zu, die schon Schatten warf und deren Zinnen sich zart von dem erblassenden Himmel abhoben. Eine Treppe aus Eisblöcken führte hinauf. Von der Mauer aus hatte man einen weiten Blick. Oben auf der Bergspitze war es noch hell, doch unten lag schon die Dämmerung, und die Sonne war im Niedergehen. Der Lawinengeneral stand auf einem kleinen Mauerturm. Er hob den Arm. Kunibert sah, daß aus dem Schneefeld unter ihm, wo er vorher nichts bemerkt hatte, ein paar riesige Gestalten aufwuchsen und langsam zur Mauer heraufkamen. Obwohl sie dunkel gegen den helleren Himmel standen, waren ihre Umrisse undeutlich, und man konnte nicht sehen, ob sie aus Wolken oder aus Schnee seien. »Das sind die Lawinenmänner, die dich begleiten werden«, sagte der König zu Kunibert. »Du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten. Sie kommen dir vielleicht ein wenig unheimlich vor, und sie haben gewaltig starke Hände, doch mit dir werden sie gut umgehen. Leb wohl. Schade, daß du vielleicht nie wiederkommen wirst, aber ich freue mich, daß du hier warst.« Kunibert dankte dem Schneekönig, nahm von ihm und den andern Schneemännern Abschied und schüttelte allen herzlich die Hand.
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Unterdessen waren zwei Lawinenmänner an die hohe Mauer getreten, die sie mit den Schultern weit überragten. Ein eisiger Hauch ging von ihnen aus. Sie griffen über die Zinnen, nahmen Kunibert vorsichtig auf, bückten sich und setzten ihn auf ihren Händen, die fast so groß wie Scheunentore waren, in den Schnee. »Los!« rief der Lawinengeneral. Kunibert spürte, daß der Schnee unter ihm leise ins Gleiten kam. Seine Augen schweiften über den weiten Abhang, der vor ihm' in den grauen Abend versank. Anfangs ging es langsam, langsam. Allmählich wurde das Gleiten schneller; erst nahm es unmerklich zu, dann rascher und rascher. Die Luft fing an zu sausen. Kunibert sah, daß das Schneefeld weit umher in Bewegung gekommen war und immer mehr unförmig große Lawinenmänner daraus erstanden, die sich seiner Fahrt gesellten. Einige liefen voraus und stapften bis an die Hüften durch den fliegenden Schnee, andere liefen oder rutschten nebenher und schienen zu schieben oder zu lenken. Der Schnee stäubte, und die Luft pfiff an Kunibert vorüber. Es war dunkler geworden, und ein weißgraues Gestöber umgab ihn. Die Riesenhände hielten ihn fest und sicher. Bei einer kurzen Stockung versuchte er, zurückzublicken. Hoch über sich sah er durch den aufwehenden Schnee den Berggipfel rosenrot leuchten. Dann riß es ihn wieder mit. Ein Sprung, ein Fall, der ihm den Atem raubte, ein weicher Sturz, und er fühlte sich tief versinken. »Paß doch auf«, fuhr einer der Lawinenmänner den andern an, griff bis an den Ellbogen in die rutschende Lawine und zog den Ritter wieder heraus. 232
Mit Donnern und Brausen ging die rasende Fahrt weiter. Kunibert konnte kaum noch atmen und sah fast nichts mehr. Große Schneetrümmer rollten an ihm vorbei oder flogen umher. Lockere Felsen rissen sich los und sprangen durch die Luft. Die Lawinenmänner fingen sie auf und schleuderten sie weit hinab ins Tal. Gleich blassem wehendem Schaum hing der Schneestaub über den Massen, die in die Nacht hinunterstürmten, weiter, unaufhaltsam weiter. Wie lange, das wußte Kunibert nicht. Er fühlte, wie seine Sinne sich in dem Rauschen und Zischen, dem wirbelnden Stürzen, dem dunkeln Toben, Tosen und Donnern auflösten und untergingen. Er warf den Kopf in den Nacken und spannte die Glieder. Eine schwarze Wand stand auf. Der Wald? dachte er und hörte schon durch den Lärm das Krachen der splitternden Bäume und das Knallen brechender Äste. »Obacht!« brüllte ein Lawinenmann, daß das Echo die Berge entlangrollte. Mächtige Stämme versanken und kamen wieder herauf, wurden mitgerissen und weitergewirbelt, große Äste peitschten vorüber. Die Lawinenmänner fegten alles mit der Hand beiseite. Der Wald war zu Ende. Es wurde stiller. Kunibert bemerkte, daß das Gleiten sich verlangsamte. Der Schnee drängte und preßte sich zusammen, türmte sich auf. Kunibert wurde gehoben, höher und höher; leise schob es ihn vorwärts, dann glitt er bis zur Spitze der Schneemassen hinab. Er wollte aufstehen, doch in seinem Kopf schwirrte und brauste es, er taumelte, sank ins Gras und schloß die 233
Augen. Nach einer Weile öffnete er sie wieder. Es war tiefe Nacht. Sternenhimmel. Der Mond schien. Er sah keine Berge mehr vor sich, nur Hügel und flaches Land und in der Nähe spärlichen Wald. Er drehte sich um und blickte über die Schneefläche der Lawine hinauf. Das mußten die Lawinenmänner sein, die dort oben heimwanderten. Schattenhaft stiegen die riesigen Gestalten über die schimmernde Fläche bergan, fern und still wie graue, ziehende Wolken.
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DREIZEHNTES ABENTEUER
SAINA Kunibert erwachte in dem Wäldchen, wo er die Nacht verbracht hatte. Er erhob sich und reckte die Glieder. Es war ein trüber Morgen. Er fröstelte, fühlte Hunger und Durst und ging aufs Geratewohl über die Hügel hin auf der Suche nach Menschen. Der Stand der Sonne zeigte ihm, daß er mit der Lawine auf der anderen Seite des Gebirges abgefahren war und also über die Berge zurück mußte, um seinen Knappen wiederzufinden. Nach kurzem Wandern stieß er auf eine alte Straße, die aus der Ebene kam und über die Hügel bergaufwärts führte. Kunibert folgte ihr auf die Berge zu. Frische Hufspuren zeigten, daß die Straße noch benützt wurde. Im Laufe des Tages kam Kunibert an einen Bauernhof, wo man ihm zu essen und zu trinken gab und er seinen Mundvorrat ergänzen konnte, und noch am Abend erreichte er ein Dorf, wo er Unterkunft fand. Bei den Bauern erkundigte er sich nach dem nächsten Paß über das Gebirge, doch alle schüttelten den Kopf. »Es gibt keinen Paß.« »Aber die Straße?« fragte Kunibert. »Die Straße geht am Gebirge hin, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, durch Schluchten und Täler.« »Und wo ist sie zu Ende? Wohin führt sie?« »In die Welt. Sie hat kein Ende.« 235
Kunibert wanderte und wanderte auf der Straße weiter. Überall bekam er dieselbe Antwort. Ein Kaufmann, den er im Gasthaus einer kleinen Stadt traf, bestätigte ihm, was die Bauern gesagt hatten. »Ich habe nie von einem Paß gehört«, erklärte der Kaufmann, »so oft ich auch diese Straße gekommen bin. Wenn Ihr auf die andere Seite wollt, werdet Ihr um das Gebirge herumreiten müssen.« »Dazu brauchte ich ein Pferd«, sagte Kunibert lächelnd. »Meines habe ich verloren, und ich habe noch keins kaufen können.« »Das ist auch nicht leicht«, erwiderte der freundliche Kaufmann. »Gute Pferde sind hier nicht häufig, und die Leute sind mißtrauisch gegen Fremde. Ich glaube aber, daß ich Euch eines besorgen kann.« Am nächsten Morgen brachte der Kaufmann dem Ritter ein Pferd. Es war ein kleiner, zäher Rappe von guter Rasse und an die Berge gewöhnt, Kunibert bezahlte, dankte dem Kaufmann und war froh, wieder im Sattel zu sitzen. »Die Straße führt mehr als einmal hoch in die Berge hinauf«, sagte der Kaufmann. »Dort ist es sehr einsam und nicht ganz geheuer. Nehmt Euch in acht.« »Wovor?« fragte Kunibert. »Vor Räubern. Es gibt Bergnester, deren Machthaber nur von Raub leben – und von der Arbeit der Armen, versteht sich. Doch Ihr tut immer noch am besten, auf der großen Straße zu bleiben.« Schon wenige Tage darauf mußte Kunibert an den Kaufmann denken, als sein Weg mit jäher Wendung in eine 236
düstere Schlucht bog, an deren Wand er sich auf halber Höhe weiterzog. Die Wolken hingen tief, unten rauschte Wasser. Regen stäubte nieder, Rinnsale rieselten von den blanken, glatten Felsen herab und über den Weg. So ging es tagelang fort. Die Straße kletterte langsam höher, durch Schluchten und Täler, über kleine, stürzende Bäche und brausende Gebirgsflüsse; sie lief an Bergnestern vorbei, die über schroffen Abgründen klebten und aus der Ferne kaum von den Felsen zu unterscheiden waren, und führte durch kleine, befestigte Städte in breiten Tälern, an deren Mauern tiefere Flüsse mit hastigen Wellen und Strudeln vorüberrauschten. Nur selten war etwas Grünes zu sehen, noch seltener wurzelten in einem Tal-breite, alte Bäume. Eines Abends bog Kunibert in ein Bergtal, das von einem Fluß durchströmt wurde, und sah auf einmal eine kleine Stadt mit einer Burg darüber. Ein steiler Weg führte aus der Stadt zum Tor der Zwingburg, und daneben klebten an der schroffen Wand Hütten wie Vogelnester. Die Stadtmauer war eng und berührte den Fluß nur da, wo die Brücke zu ihrem Tor hinüberführte. Dahinter drängten sich dunkle Häuser in gewundenen Gäßchen zum Fuß der Burg hinan. Vor der Stadtmauer lag am Ufer ein ärmliches Dorf. Kunibert ritt das Tal hinauf. Er kam über einen Hügel und sah, daß die Straße zwischen alten Bäumen, die im Schutz des überhängenden Berges standen, an der Brücke vorüberführte. Auch dort, jenseits der Brücke, schienen noch Häuser oder Felder zu liegen, denn ab und zu kamen von dorther zu dieser Feierabendzeit Menschen und gingen 237
über den Fluß auf das Stadttor zu. Die Luft war rein geworden, aber die Stunde war spät, und es dunkelte rasch. Kunibert ritt unter den dichten, regennassen Bäumen hin. Vor dem letzten Baum, da wo die Brüstung der Brücke begann, stand eine kleine Gestalt, barfuß, die Schultern in ein Tuch gehüllt, mit ausgestreckter Hand. Keiner der Vorübergehenden kümmerte sich viel um sie. Kunibert hielt unter den breiten Ästen des Baumes an. Es war ein kleines Mädchen etwa von zwölf Jahren. Er konnte nur ein wenig von einem braunen Gesicht sehen und bei einer Kopfbewegung ein flüchtiges, schwarzes Augenblitzen. Was das Kind in der Hand hielt, war nicht zu erkennen, denn die Finger waren geschlossen und öffneten sich nur, wenn jemand vorüberging, für einen Augenblick. Kaum einer wandte den Kopf zu ihr. Das Kind sang halblaut vor sich hin. Kunibert beugte sich über den Sattelknopf und verstand die Worte: Keiner schaut doch her zu mir, Lange muß ich stehen. Was ich immer biete dir, Niemand mag es sehen. Sag, wer hat es so gemacht? Nichts kann bei sich weilen, Wellen ziehen Tag und Nacht, Und die Schwalben eilen. Gärten duften warm und mild Über Mauern nieder, Sterne spiegeln sich im Bild Deiner Augen wider. 238
Eines reift dem andern zu, Muß am Leben weben. Mit den Gärten möchtest du Grünen, blühen, geben. »Was ist das für ein Lied?« fragte Kunibert erstaunt. »Weiß nicht«, antwortete das Kind, ohne sich umzuschauen. »Jemand hat es gesungen.« Ein altes Lied, dachte Kunibert, und fragte: »Wie heißt du?« »Saina.« Ein Mann kam vorbei, blickte flüchtig in die geöffnete Hand und ging achselzuckend weiter. »Ein Schloß ohne Schlüssel«, knurrte er. »Unfug.« Eine Frau schaute im Vorübergehen her. »Nichts da«, rief sie entrüstet. »Bettle anderswo um dein Brot!« Ein paar Männer und Frauen sahen die Kleine gar nicht. Dann kam ein Kaufmann und blieb einen Augenblick stehen. »Spielzeug«, lachte er verächtlich und wandte sich ab. »Was soll mir der Plunder?« Das Kind schlug die Augen zu Kunibert auf. »Das ist kein Plunder«, sagte es vorwurfsvoll. »Es ist mein Herz.« Kunibert bückte sich, nahm das Kind vor sich in den Sattel und ritt auf die Brücke. »Du bist eine sonderbare kleine Seele«, sagte er. »Wer wird sich auch mit seinem Herzen auf die Brücke stellen?« 239
Saina blickte ihn groß an. »Ich habe nur, was ich bin«, antwortete sie. »Und ich bin allein.« Sie schluckte ein paarmal, warf die Arme um Kuniberts Hals und weinte, daß die Tränen über den blanken Panzer rollten. Sie beruhigte sich jedoch wieder, und sie hatten die Mitte der Brücke kaum hinter sich, da fragte sie: »Wohin reitest du?« »Durch die ganze Welt«, antwortete der Ritter. »Warum?« »Weil ich muß.« Sie nickte nachdenklich mit gesenktem Kopf. Dann hob sie ihr Gesicht zu ihm auf. »Du bist schön«, sagte sie mit Überzeugung. »Danke«, antwortete Kunibert, lächelnd auf sie hinabsehend. Sie hörte nicht hin. Sie blickte ihn nur an. In ihre Züge kam ein Lächeln, und sie jubelte auf. »Du hast es ja genommen!« rief sie. »Du hast es ja genommen!« Damit küßte sie ihn rasch auf den Mund, glitt vom Pferd und sprang den Uferweg vor dem Tore hinunter. Kunibert sah ihr nach, wie sie davonhüpfte, und hörte sie singen. Er ritt in das Tor. Unter dem düsteren Licht, das in der Wölbung hing, standen zwei breitschultrige Männer, in Rot und Schwarz gekleidet. Sie sperrten ihm mit mächtigen Schwertern, deren Spitzen sie gegeneinander hielten, den Weg. »Kehr um!« sagte der eine rauh.
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»Meinst du?« antwortete Kunibert, gab dem Rappen die Sporen, setzte über die Schwerter weg und ritt in die halbdunkle Stadt ein. Der Rappe ging widerwillig über das schmutzige, holperige Pflaster der steilen Gassen. Aus den Häusern schien hie und da ein Licht oder rötliches Herdfeuer. Männer gingen vorüber, rauhe, wilde Gesellen, alle bewaffnet. Im Schatten der Haustüren standen dunkle Gestalten. Scharfe Seitenblicke trafen den Ritter. Ab und zu erklang das Aufkreischen einer Weiberstimme oder ein grelles Lachen. Kunibert suchte nach einem Wirtshaus. Endlich blickte er durch ein offenes Fenster in eine fast leere Schenkstube. Er ritt in den schmalen Torweg, brachte das Pferd in den Stall und ging mit seinem Mantelsack ins Gastzimmer. Das Essen, das er bekam, war gut und kräftig, und der Wirt setzte ihm einen feurigen Wein vor. Nach und nach füllte sich die Stube mit Männern, wie sie Kunibert auf der Straße begegnet waren. Nun sah er sie deutlicher und fand, daß sie noch roher und wüster aussähen als vorher im Halbdunkel. Sie saßen an allen Tischen, tranken, schwatzten, würfelten und lärmten. Sie wurden lauter und blickten frech und höhnisch zu dem fremden Ritter hin. Ein paar große, grobknochige Kerle setzten sich ohne Gruß an Kuniberts Tisch. Der Wirt brachte Wein, und da Kunibert nichts mehr bestellte, ließ er sich von dem Ritter die Zeche bezahlen. Kunibert fragte nach einem Nachtquartier. »Wird sich schon finden«, antwortete der Wirt vieldeutig und stellte einem verwegen aussehenden Mann 241
mit narbigem Gesicht, der Kunibert gegenüber saß, einen Würfelbecher hin. Die beiden tauschten einen Blick. Der Ritter sah, daß drei Männer an die Tür traten, sich mit dem Rücken dagegenlehnten und erwartungsvoll nach seinem Tisch blickten. Gleichzeitig schwoll der Lärm ab, und die Aufmerksamkeit kehrte sich dem Fremden zu. Die Männer saßen breit da; ein paar grinsten, andere machten grimmige Gesichter und tasteten nach ihren Waffen. Das wird ungemütlich, dachte Kunibert und stand auf. »Sitzen bleiben!« rief der rotbärtige Mann, der neben ihm saß, und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wir wollen mit dir würfeln.« Kunibert blickte in ein paar kleine blutunterlaufene Augen unter einer niedrigen Stirn. »Raus mit den Goldfüchsen!« schrie einer, der schielte, und stieß mit dem Schwertgriff unter die Tischplatte. Kunibert warf ein Geldstück auf den Tisch. »Das will ich mit euch verspielen, mehr nicht.« Der Narbige stürzte den Würfelbecher um und strich, ohne nach den Würfeln zu sehen, Kuniberts Geld ein. »Weiter!« rief er. »Nein«, antwortete Kunibert. »Was?« Der Mann stand auf und beugte sich drohend über den Tisch. »Du – du – Landstreicher«, zischte er und fuhr mit den Fäusten nach Kuniberts Kehle. Kunibert schlug die Hände beiseite und sah ringsum Waffen aufblitzen. Er packte den Tisch, stürzte ihn um, so daß die Gegenübersitzenden mit ihren Schemeln unter ihm 242
zu Boden rollten, sprang zurück und riß das Schwert aus der Scheide. Die Männer warfen sich auf ihn. Zwei fielen unter seinen Hieben, aber schon hing ihm einer am Rücken. Er schüttelte ihn von sich. Dolche und Schwertklingen prallten an seiner Rüstung ab. Er wußte, daß er um sein Leben kämpfte, schützte sich und schlug blitzschnell um sich. Er fühlte, daß er verwundet wurde, empfand aber keinen Schmerz. An seinem linken Arm rann es warm hinunter. Noch einer seiner Gegner fiel, dann sauste ein Schwerthieb auf ihn nieder, den er nicht ganz auffangen konnte und der ihn flach auf den Kopf traf. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, und er sank besinnungslos zu Boden. Als er erwachte, war es dunkel um ihn her. Er richtete sich auf, fühlte sich aber so schwindelig und verwirrt, daß es eine Weile dauerte, bis er stehen konnte. Vorsichtig machte er ein paar unsichere Schritte, stieß gegen eine roh behauene Wand aus Felsen und tastete sich weiter. Felsen, Felsen, dann eine Tür mit breiten Eisenbändern, Felsen, eine hölzerne Bank, wieder Felsen und endlich wieder die Tür und die Holzbank. Der Raum mußte groß sein und tief im Berg liegen. Kunibert war von dem Blutverlust geschwächt; er legte sich auf die Bank und schlief ein. Jemand stieß ihn an die Schulter. Im Licht einer Fackel sah er zwei Männer vor sich. Der eine war riesengroß und massig, hatte ein breites, rotes Gesicht und hielt in der einen Hand ein Schlüsselbund und in der andern eine irdene Weinkanne. Er schwankte ein wenig hin und her. 243
Der andere, der mehr im Schatten stand, war kleiner, stämmig, ordentlich gekleidet und schaute finster drein. »Frr – eu dich«, sagte der Kerkermeister mit den Schlüsseln, »freu dich, hupp« – er rülpste – »morgen wird dir der Kopf abgeschlagen.« Kunibert richtete sich auf, griff an die Stirn und versuchte, sich zurechtzufinden. Seine Wunden taten weh. Ja, der Kampf in der Schenke – »Ich habe noch vor keinem Richter gestanden«, antwortete er. »Wir – haben hier bloß einen Richter«, sagte der Kerkermeister, auf den Füßen wackelnd, »den mit dem langen Schwert. Der kann's allein. Freu dich, morgen wirst du geköpft. Aber – hupp – wenn du noch Geld hast« – er hielt die leere Kanne vor sich hin und drehte sie um – »hol' ich Wein.« »Laß mich in Ruhe«, erwiderte Kunibert. Der Mann sackte neben ihm auf die Bank und packte ihn mit seiner fleischigen Hand im Nacken. »Gib dein Geld her, sonst nehm' ich mir's – hupp!« Dem Ritter gab der Ärger Kraft. Er schüttelte den Arm ab und stieß den nach Wein riechenden Dicken zurück. »Bleib mir vom Leibe!« Er griff in die Tasche, wo er gewöhnlich loses Geld trug. Sie war leer. Er suchte in andern Taschen, fand ein Geldstück und gab es dem Kerkermeister. »Da, und nun geht beide.« Mit schweren Schritten machte sich der Kerkermeister auf den Weg zur Tür. »Schann, ich hole – hole jetzt Wein«, versicherte er. 244
»Ich heiße nicht Schann«, rief der andere erbost, »sondern Jean, und trinke deinen Wein nicht.« »Schann«, fing der Dicke wieder an, »jetzt hol' ich uns –« »Geh nur, du dickes Schwein«, unterbrach ihn der andere ungeduldig. »Sauf deinen Wein allein.« Der Dicke blieb stehen. »Schwein – Wein allein«, murmelte er. »Das klingt wie ein – Lied im Frühling –« Der andere fuhr auf. »Scher dich zum Teufel! Das habe ich gar nicht gemerkt. Geh –« An der Tür blieb der Kerkermeister wieder stehen und stieß zweimal mit der Kanne in die Luft. »Schwein – allein – wie im Frühling.« Er schwankte hinaus. »Warum gehst du nicht auch?« fragte Kunibert. »Ich bin der Barbier. Ich will dich rasieren.« »Rasieren? Dummes Zeug. Wenn du Barbier bist, sieh lieber nach meinen Wunden.« »Das lohnt nicht bei einem, der hingerichtet wird«, erwiderte der Barbier. »Morgen ist doch alles vorbei. Oder vorüber – alles, Lieder, Fieber –«, setzte er nachdenklich hinzu und schüttelte den Kopf. »Wieder nichts!« Er nahm einen dunkeln Beutel vom Boden auf. »So, jetzt wirst du rasiert.« »Was soll das?« fragte Kunibert. »Nur ein bißchen«, antwortete der Barbier, holte ein Rasierbecken und einen Pinsel aus dem Beutel und stellte beides neben Kunibert auf die Bank. »Bloß im Nacken, so ungefähr bis dahin.« Er hielt die Hand in der Höhe seiner Ohren an den Hinterkopf. »Die Henker wollen's mal so.« 245
Er suchte in seinem Beutel. »Gut gesiffen ist halb geschliffen«, sagte er mit zufriedenem Grinsen, während er ein Stück Seife und ein Messer mit gesprungener Schale herauszog. »Wo ist denn das Wasser?« Er nahm einen Krug, der unter der Bank stand, und goß ein wenig Wasser in das Becken. »Gut gesiffen ist halb geschliffen«, wiederholte er stolz mit einem erwartungsvollen Seitenblick auf Kunibert. Dem Ritter dämmerte es auf, daß das alles Wirklichkeit war und daß er sterben sollte. Unwillkürlich blickte er sich nach seinem Schwert um. Der Mantelsack lag in einer Ecke, aber seine Waffen waren nicht zu sehen. Er betrachtete den Barbier genau. Der Mann sah nicht mehr so finster aus, es war ein gutmütiger Zug in seinem Gesicht. Vielleicht – ? Unterdessen hatte der Barbier den Pinsel eingetaucht und angefangen, Schaum zu schlagen. Ein zarter Duft kam von der Seife zu Kunibert her, der ihn begierig einzog. Wie frisch, dachte er. Blumen, Wiesen, Gärten, Bergluft – oder wie am Meer unter freiem hellblauem Himmel. Kuniberts Sinne verdunkelten sich wieder. Weiße Blüten –. Der Schloßgarten von Marsilia stand vor ihm, in dem er neben Sonja unter dichten Bäumen hingegangen war. Er sah den hellen Schimmer ihres Kleides und ihr Gesicht; ihre Augen waren ernst, doch er sah sie nur unbestimmt wie eine schöne Erinnerung aus einem Traum. Der Barbier sprach. Gibt es eine Blüte, die Sonja heißt und so duftet, oder ist Sonja eine Blume? dachte Kunibert verwirrt und erwachte. 246
»Fertig«, sagte der Barbier. »An die Arbeit. Ich hätte dich auch morgen rasieren können, kurz vor der Hinrichtung, aber ich bin so weichherzig. Morgen möchte meine Hand zittern, und ich könnte dich schneiden, und – und – das mag ich nicht – nicht –. Auch nichts«, brummte er und setzte heftig hinzu: »Also komm her.« Kunibert war wieder bei Sinnen. »Was ist das für eine Seife?« fragte er. »Eine gute. Die beste der Welt. Du hast Glück wie be –« »Ich möchte ein Stück davon haben«, sagte Kunibert. »Unterbrich mich nicht«, schrie der Barbier wütend. »Fast hätte ich's gehabt.« Kunibert nahm ihm die Seife aus der Hand und zog tief den Duft ein, der ihm die Brust weitete und ihn kräftigte. »Verkaufe mir ein Stück«, bat er. »Wozu?« lachte der Barbier. »Fürs Schafott brauchst du dich nicht zu waschen.« Kunibert betrachtete das Stück genauer. Es steckte in einem Ring aus gelblichem, angelaufenem Metall. Er fühlte, daß in den Rand etwas eingeschnitten war, trat an die Fackel und erkannte das Zeichen der kunstreichen Zwerge. Die Seife, die zum Rasierzeug gehört, dachte er und rief: »Ich muß das Stück haben! Hörst du?« »Geht nicht«, entgegnete der erstaunte Barbier. »Diese Seife hat mein Glück gemacht und wird das noch lange tun. Es ist merkwürdig, sie braucht sich nicht auf und wird nie weniger. Ich kann sie dir nicht geben, ich muß – ich 247
muß – sie behalten«, schloß er kopfschüttelnd. »Bei einem andern hätte sich das gereimt«, setzte er tiefsinnig hinzu. »Warum soll es sich denn reimen?« versetzte der Ritter lachend. »Und wenn, dann hättest du es einfach genug gehabt: Ich kann sie dir nicht geben, ich muß davon leben.« »Hab' ich's nicht gesagt?« klagte der Barbier verzweifelt. »Bei andern reimt sich alles, nur bei mir nicht!« »Du bist ein verdrehter Kauz«, sagte Kunibert. »Weshalb sind eigentlich die Barbiere hierzulande so aufs Versemachen versessen? Einen habe ich getroffen, der sprach nie anders als in Reimen.« »Wann? Wo?« fragte der Barbier aufgeregt. »Es war freilich in einem Feenschloß«, erwiderte Kunibert. »Er hieß François.« »Mein Bruder!« schrie der Barbier. »Den kennst du? François? Der war immer voran. Bei dem reimt sich alles. Jedes Wort. Der war von jeher mehr als ich. Nun ist er auch noch Schloßbarbier.« Fäusteschüttelnd lief er auf und ab. »Schloßbarbier!« »Hör mal zu«, sagte Kunibert. »Wenn du mir das Stück Seife gibst, mache ich dich zu etwas viel Besserem, zum Hofbarbier des Königs von Marsilia.« Der Barbier horchte auf. »Hofbarbier? Bei einem König? Das wäre freilich eine andere Sache als so ein Feenschloß, das jeden Tag wieder verschwunden sein kann. Aber« – er blickte Kunibert mißtrauisch an – »wie willst du das fertigbringen?« »Es kostet mich nur ein Wort«, versicherte Kunibert. »Ich bin nicht nur ein Ritter des Königs, ich soll die 248
Prinzessin zur Frau bekommen und später selbst König werden.« »Zuerst wirst du mal morgen geköpft«, warf der Barbier bedächtig ein. »Du mußt mich befreien!« »So, deswegen – ?« »Nein«, widersprach Kunibert nachdrücklich. »Nicht deswegen. Gibst du mir die wunderbare Seife nicht, liegt mir auch nichts an meinem Leben.« Dem Barbier schienen Kuniberts Blick und der Ton seiner Worte Eindruck zu machen. »Wenn ich dir glauben könnte«, meinte er zögernd. »Ein Ritter bist du ja wohl, wenn du auch jetzt ein wenig zerzaust aussiehst, und Hofbarbier würde ich gern, schon um meinen Bruder zu ärgern.« »Mein Wort«, rief Kunibert und streckte ihm die Hand hin, »mein Ritterwort.« Der Barbier entschloß sich. »Gut«, sagte er und schlug ein. »Ich will dir glauben. Doch das sage ich dir, ich gebe meine Seife erst dann her, wenn mir der König eine feierliche Urkunde gibt, daß ich auf Lebenszeit sein Hofbarbier bin.« »Einverstanden«, antwortete Kunibert. »Dich zu befreien ist ein Kinderspiel«, behauptete der Barbier. »Denn den Dicken hat noch nie jemand nüchtern gesehen. Komm.« Er stopfte sein Handwerkszeug wieder in den Beutel, ergriff die Fackel und ging voran.
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Kunibert nahm seinen Mantelsack und folgte ihm. »Willst du die Fackel mitnehmen?« fragte er erstaunt. »Ohne Fackel findet sich kein Mensch hier unten zurecht«, erwiderte der Barbier, indem er das Schlüsselbund nahm, das der Kerkermeister an die Tür gehängt hatte. Sie schritten durch lange, düstere Gänge, in denen feuchte Kellerluft wehte, an eisenbeschlagenen Türen vorüber, eine steinerne Treppe hinan. Im Fackellicht sah Kunibert, daß Wasser von den feuchten Wänden tropfte. Wieder Stiegen, Gänge und Stufen, Stufen, Stufen. »Alles in den Berg gehauen«, erklärte der Barbier. »Vor undenklichen Zeiten.« Sie begegneten keinem Menschen. Endlich kamen sie an ein offenstehendes Zimmer, aus dem Lichtschein fiel und eine grölende Stimme klang. »Da sitzt der Dickwanst«, flüsterte der Barbier. »Bleib stehen.« Er ging hinein. Kunibert hörte ihn drinnen sprechen. »Gib mir deinen Mantel«, sagte der Barbier, »und deine Kappe. Es ist kalt draußen.« Die Antwort war ein Brummen. Der Barbier erschien wieder. »Die Schlüssel«, grunzte der Kerkermeister. »Liegen neben dir«, rief der Barbier, während er Kunibert Mantel und Kappe gab und ihn weiterzog. Das Schlüsselbund hielt er in der Hand. Es ging eine hohe,
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gerade Treppe hinauf bis an eine dicke Tür, die verschlossen war. »Hier hätte ich klopfen müssen«, flüsterte der Barbier, öffnete mit einem großen Schlüssel und schob Kunibert hinaus. Ehe er die Tür zudrückte, schleuderte er das Schlüsselbund mit weitem Schwung über die Stufen hinab vor die Tür des Kerkermeisters. »Da mag er es finden«, sagte er und warf die Fackel hinterdrein. Die Schlüssel schlugen hart auf. »Vorsichtig«, raunte der Barbier. »Schnell.« Sie eilten durch einen breiten, schwach erleuchteten Gang an einem offenen Raum vorüber, in dem die Wache trank und lärmte, und traten durch eine Tür in den dunkeln Hof. Am Himmel zogen dichte Wolken. Die Nacht war schwarz. Der Barbier lief so rasch voran, daß Kunibert ihm kaum folgen konnte und ihn fast aus den Augen verlor. »Wir müssen bis zum Tor über die Mauer«, sagte der Barbier. »Durch die Höfe können wir nicht.« Sie erstiegen eine steile Treppe, die auf dem Wehrgang endigte. Kuniberts Augen hatten sich etwas an die Finsternis gewöhnt. Er sah, daß sich zu seiner Linken die Zinnen schwarz abhoben. Draußen war es ein wenig heller; unten lagen die dunkeln Häuser. Rechts war ein düsterer Abgrund. »Halte dich links an den Zinnen«, flüsterte der Barbier und eilte voraus. Schatten tauchten vor ihnen auf.
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»Verflucht«, raunte der Barbier. »Die Runde. Duck dich.« Er zog Kunibert in eine Nische zwischen den Zinnen. Sie kauerten sich nieder. Die Runde kam vorüber. Drei, vier, fünf Mann. Der Barbier lauschte. »Weiter«, sagte er, »die Gefahr ist vorbei.« Er rannte gegen einen Nachzügler der Runde. »Halt!« schrie der Mann und griff nach seinem Schwert. »Wer da?« Kunibert konnte nicht sehen, ob der Mann ausglitt oder ob der Barbier ihn stieß. Er sah nur einen Schatten verschwinden, hörte einen Schrei und das Aufschlagen eines schweren Körpers unten im Hof. Rufe der Wachen antworteten. Vom Hofe klangen Schritte und Waffenklirren herauf. »Flieh«, rief der Barbier, rannte davon und verschwand im Dunkel. Kunibert lief hinterdrein. Nach einer Weile kam er wieder an eine Treppe, die in den Hof führte, und glaubte, unten einen Schatten zu sehen, der sich bewegte. Das mußte der Barbier sein. Er eilte hinab. Zwei Männer kamen ihm entgegen. Er stieß sie zur Seite, drängte sich an ihnen vorbei und lief weiter. »Halt ihn, halt ihn!« klang es hinter ihm. »Halt!« Im Hof bewegten sich Menschen. Eine Fackel schwelte. Er sprang über die letzten Stufen aufs Pflaster. Mit dumpfem Knurren stürzte eine große Dogge auf ihn zu und sprang ihn an. Kunibert packte sie an der Kehle, aus der ein rauhes Gurgeln kam. Das Tier röchelte laut. Aber der Hund 252
war stark, und dem Ritter schmerzte der Arm. Sie wälzten sich übereinander auf den Steinen. Endlich erschlaffte das Tier. Kunibert ließ los und hörte in demselben Augenblick dicht hinter sich Stimmen. Er fühlte sich von vielen Fäusten emporgerissen, gestoßen und festgehalten. Vor sich sah er eine Fackel, Bewaffnete und funkelnde Klingen. Man band ihm die Hände auf dem Rücken und führte ihn ab. Der Weg war nicht weit. Ein kurzer, enger Gang, dann stießen die Burgknechte den Ritter in ein kleines Verlies. Kunibert fiel auf nasses, verfaultes Stroh. Die Tür schloß sich. Es war dunkel. Er versuchte, sich umzudrehen, um besser zu liegen, aber er war zu erschöpft. Den Rest der Nacht über konnte er weder zu klarem Bewußtsein gelangen noch schlafen. Er bekam Wundfieber. Von Zeit zu Zeit schüttelte ihn ein Frost. Fieberbilder ließen ihn nicht los und hielten ihn in einem, verschwommenen Traumzustand zwischen Wachen und Schlaf. Er kämpfte mit Männern und schwarzen Doggen, floh über endlose Mauern, war in Scharfenstein, in Marsilia, begegnete dem goldenen Ritter, der ungeheuerlich groß war, und kam an ein blutrotes Meer, auf dem schwarze Segel vor einem gelben Himmel fuhren. Ganz selten tauchte einmal dazwischen Sonjas schönes Gesicht auf mit einem weichen, halb erschrockenen, halb sehnenden Blick ihrer Augen, aber es blieb nicht, er mußte weiter und strebte mit brennenden Gliedern verzweifelt an Felsen aufwärts, um die Bergquelle zu suchen, die er nicht finden konnte. 253
Morgens traten Bewaffnete in seinen Kerker, rüttelten ihn auf und winkten ihm, ihnen zu folgen. Seine Wunden brannten. Ein Mann gab ihm Wasser, das ihn etwas erfrischte. Draußen in der Luft schwankte er ein wenig; doch er bemerkte die spöttischen Blicke der Knechte und riß sich zusammen. Er atmete tief, und nach und nach wurde sein Kopf klarer. Man führte ihn aus dem Burgtor, den steilen Weg zur Stadt hinunter. Es war ein klarer Tag, die Sonne stand schon hoch. Vor ihm lagen die Berge, das Tal und der Fluß. Drunten sah er die Häuser, das Stadttor und am Ufer das kleine Fischerdorf, zu dem Saina froh hinuntergesprungen war. Man wird mich vor den Richter bringen, sagte er sich und blickte in die Gassen der Stadt. Ein enger Platz war schwarz von Menschen. Markt? dachte er. Oder – ? Einen Augenblick schrak er zusammen. Warten die Leute da unten? Er hätte seine Begleiter fragen können, aber er wollte diese Galgengesichter um nichts bitten. Unten in der Stadt bogen sie in eine krumme Gasse. Leute glotzten ihn an, gingen neben ihm und seiner Wache her oder folgten. Man wies mit Fingern auf ihn. Das Stimmengesumm vom Platz her wurde lauter. Sie kamen um die Ecke, und die Menge war dicht vor ihnen. Bewaffnete hielten einen Weg durch das Volk frei. Kunibert sah etwas Hohes, Rotes, ein Schafott. Das Gerüst war aus rotgestrichenem Holz. Oben stand ein schwarzer Block, auf dem ein großes blinkendes Richtschwert lag. Die Henker, riesige Kerle in schmutzigen, braunroten 254
Kleidern, warteten. Einer, der einen wulstigen, kahlen Schädel hatte, aß; die andern unterhielten sich. Kunibert fühlte, daß sein Herz eiskalt wurde. Es packte ihn im Nacken, und ein Schwindel faßte ihn. Er reckte sich auf und biß die Zähne zusammen. Wenn ich sterben soll, dachte er, dann aufrecht. Vor diesem Gesindel aufrecht. Die Burgknechte brachten ihn hinauf und verließen dann wieder das Schafott. Nun stand Kunibert oben. Hinter ihm trafen die Henker ihre letzten Vorbereitungen, spuckten in die Hände und rückten an dem Block, während ein großer, wild aufgeputzter Mann, mit einem langen Schwert an der Seite, wohl einer der Gewalthaber der Stadt, die Stufen hinanstieg. Von seiner Samtmütze nickten riesige Federn. »Du hast als Fremder unsere Stadt betreten«, redete er Kunibert an, »hast den Frieden gebrochen und drei Männer erschlagen. Du mußt sterben.« »Ich bin überfallen worden«, antwortete Kunibert. »Kein Richter hat mich verurteilt. Ihr habt kein Recht, mich zu ermorden.« »Recht!« lachte der glatzköpfige Henker höhnisch auf. »Wir brauchen kein Recht. Wir haben das Schwert.« Der geputzte Man winkte den Henkern. »Nehmt ihn«, sagte er. Zwei von den Knechten traten zu Kunibert und packten ihn an den Schultern. Das Stimmengewirr wurde leiser. »Verflucht«, sagte der dritte Henker. »Der Barbier, der faule Hund –« 255
Es entspann sich ein Streit zwischen ihnen. Kunibert hörte nicht hin. Durch eine bergangehende Gasse, die ein Loch in die Häuserwand des Platzes riß, konnte er ein Stück vom Tal sehen und Berge. Er blickte dorthin und über die Schneegipfel in den Himmel. Das soll das letzte sein, was ich sehe, dachte er, und nichts anderes. Das Gemurmel auf dem Platz schwoll an. Rufe ertönten. Es war eine helle Stimme darunter. Der Wortwechsel hinter Kunibert verstummte. Die Männer ergriffen den Ritter und schoben ihn auf den schwarzen Block zu. Er ging ihnen voran. »Hinknien!« Kunibert, dem die Hände auf den Rücken gebunden waren, strauchelte beim Niederknien. Grobe Fäuste fingen ihn auf und rückten ihn zurecht. Der Glatzkopf ließ sich das Schwert reichen. In der schweigenden Menge entstand eine Bewegung. Die helle Stimme erklang wieder. Diesmal näher, fast am Fuße des Schafotts. »Halt!« tönte es deutlich durch das lautlose Schweigen. »Halt –«, wie in höchster Angst. »Ihr dürft nicht, ihr dürft nicht!« Jemand lief die Stufen zum Schafott herauf. Einzelne unverständliche Schreie aus dem Volk. Ein Lachen. Rufe und Gegenrufe. Ein plötzliches Aufbrausen von Stimmen, dann Stille. Die Schritte waren auf der obersten Stufe. Saina stand oben. »Er gehört mir!« rief sie, stürzte auf Kunibert zu und warf sich über ihn. »Das ist mein Ritter!«
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Sie stellte sich vor die Henker. »Das ist mein Ritter. Niemand darf ihm den Kopf abschlagen. Niemand!« Das Volk rief durcheinander, lachte, schrie. Die Kette der Bewaffneten, die selbst zum Schafott hinaufblickten, war durchbrochen. Kunibert hatte sich langsam erhoben. Ein paar Männer aus dem Fischerdorf stapften schwer die Stufen herauf. »Es ist mein Ritter«, rief ihnen Saina entgegen, indem sie mit beiden zitternden Händen Kunibert festhielt, damit ihn ihr niemand wegnehme. »Ich habe ihn zuerst gesehen, schon auf der Brücke. Er hat mich auf sein Pferd gehoben.« Der älteste der Fischer wandte sich an den Mann mit der Federmütze. »Du kennst unsere Gerechtsame«, sagte er ernst. »Das Kind gehört zu uns und hat ihn zuerst im Stadtgebiet gesehen. Wir brauchen Männer, denn von uns sterben viele. Der Fremde gehört uns.« »Mir!« rief Saina. Der Fischer winkte ab. »Ich weiß«, erwiderte der aufgeputzte Mann und warf einen Blick auf das andrängende Volk, unter dem die Fischer vorn standen. »Ich weiß, daß ihr Männer braucht, wie wir eure Arbeit. Für euch sind solche Leute gut genug. Wollt ihr ihn als Sklaven oder – wie alt ist das Kind?« »Dreizehn.« »Dann hat sie das Alter. Wollt ihr ihn als Sklaven oder will ihn das Mädchen zum Mann?« »Zum Mann«, antwortete Saina eifrig. »Er darf kein Sklave sein.« 257
Das Volk lachte, johlte, jubelte. Der Geputzte zuckte die Achseln, winkte den Henkersknechten, Kuniberts Fesseln zu lösen, und ging seiner Wege. »Gebt ihm wieder, was sein ist«, rief er von den Stufen zurück. »Es gehört dem Mädchen.« Kunibert war frei. Er nahm Saina vom Boden auf, küßte sie auf den Mund, sah sie an und sagte: »Das danke ich dir, Saina, nur dir!« Saina nickte strahlend, nahm ihren Ritter bei der Hand und verließ mit ihm das Schafott. Unten stand der Barbier. Die Fischer gingen voraus. »Du hast es besser gemacht als ich«, sagte der Barbier zu Saina. »Dafür bekommst du ihn auch zum Mann.« »Was du dir denkst!« rief sie. »Er ist viel zu groß und schön für mich. Auch muß er durch die ganze Welt reiten, und da könnte ich nicht mit. Sie sollten ihm nur nicht den Kopf abschlagen.« Sie preßte die Lippen zusammen und drückte Kuniberts Hand. »Auf dem Weg hierher erzählte einer, wie das ist mit unseren Rechten, und ich ging mit, weil ich fürchtete, du könntest es sein. Ein Fremder, hieß es. Ich habe gleich gerufen, als ich dich sah, aber niemand hat mich gehört, bis ich mich ganz vorgedrängt hatte.« Die Menge, die den Ritter genug angestarrt hatte und nun kein Schauspiel mehr erwartete, verlief sich. Die drei gingen die Gasse hinunter. Ein paar Stadtknechte kamen mit Kuniberts Rappen, seinen Waffen und dem Mantelsack und übergaben ihm alles.
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»So kannst du nicht reiten«, sagte der Barbier. »Man muß erst nach deinen Wunden sehen. Und – wie ist es mit deinem Ritterwort?« »So wie du es weißt«, erwiderte Kunibert. »Du mußt mitkommen.« »Gut«, antwortete der Barbier und trat dicht zu ihm hin. »Es ist auch besser für mich, ich gehe weg. Der Mann, der heute nacht von der Maurer gestürzt ist –« Alle drei gingen in die Wohnung des Barbiers, der Kuniberts Wunden wusch und mit einer lindernden Salbe verband, die dem Ritter wohltat. Der Barbier stellte Essen und Wein auf den Tisch, und die Männer langten zu. Kunibert fühlte, daß ihn die Mahlzeit und der starke Wein kräftigten. Auch Saina hielt ein wenig mit und nippte an Kuniberts Becher. Sie saß da und sah froh ihren Ritter an. »War der Fischer vorhin dein Vater?« fragte Kunibert das Kind. »Meine Eltern sind tot«, antwortete Saina. »Aber ich wohne in unserer alten Hütte.« »Allein?« Sie nickte. »Wovon lebst du?« Erstaunt blickte sie ihn an. »Bei uns hungert niemand«, erwiderte sie. »Magst du nicht mit mir kommen?« fragte Kunibert. Sie schüttelte lachend den Kopf wie über einen Scherz. »Nein.« Dann wurde sie ein wenig nachdenklich.
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Der Barbier und Kunibert beschlossen, am nächsten Morgen aufzubrechen. »Hier ist nicht gut sein für dich«, meinte der Barbier. Bevor das Stadttor geschlossen wurde, war Saina verschwunden. Kunibert suchte früh sein Lager auf, der Barbier mischte ihm einen kühlen Trank, und er schlief einen ruhigen, erquickenden Schlaf. Am Morgen, als sie sich in aller Frühe zum Aufbruch rüsteten, war Saina schon wieder da und sah neugierig zu. Der Barbier kam mit einem alten Maultier, an dessen Sattel der dunkle Beutel hing. Sonst nahm er nichts mit. Kunibert fühlte sich noch etwas schwach, und seine Wunden schmerzten, aber er war kräftig genug, die Reise anzutreten. Er wollte Saina etwas schenken, als Dank oder zum Andenken, doch was er ihr auch vorschlug, sie nahm nichts. »Was soll ich damit?« fragte sie und schüttelte ihre schwarzen Haare. »Ich kann ja nichts davon gebrauchen. Aber nimm mich ein Stück Wegs mit. Vor dir auf dem Sattel, wie neulich.« Er nahm sie vor sich aufs Pferd, und sie ritten zum Stadttor hinaus, über die Brücke. Saina deutete mit dem Finger. »Da hab' ich gestanden«, sagte sie glücklich und sah zu Kunibert auf. »Damals.« Sie reckte sich vor Freude auf dem Sattelkopf. »Heute bist du wieder schön«, rief sie. »Fast so schön wie an dem Abend, als du mich zum erstenmal aufs Pferd nahmst. Und 260
du bist doch mein Ritter«, setzte sie hinzu, »und gehörst mir.« »Du hast recht, Saina«, antwortete Kunibert ernst. »Ich werde dich nie vergessen.« »Das ist schön«, sagte sie und streichelte nachdenklich den blanken Stahl seines Arms. Sie wandten sich flußaufwärts und kamen nach einer Weile durch ein großes Dorf mit steinernen Häusern und Gärten, um das im Schütze des Talkessels schmale Äcker und Wiesen grünten. »Die Leute hier und die Fischer«, erzählte der Barbier, »sind die alten Bewohner des Tals. Deswegen hat man ihnen auch einige alte Rechte gelassen. Sonst wären sie vielleicht weggezogen.« Die Straße stieg an. Von den Wellen des Flusses her kam Kühle. Sie ritten lange bergauf. Es ging durch eine gewundene Schlucht, von deren hohen Wänden ab und zu kleine Bäche stäubten. »Bald muß ich heim«, meinte Saina. »Willst du wirklich nicht mit mir kommen?« fragte Kunibert. Ernsthaft schüttelte sie den Kopf. »Du reitest in die Welt«, antwortete sie. »Das ist mir zu weit. Ich bleibe lieber hier.« Sie ritten neben dem Fluß hin, der schäumend über die Felsen hinabbrauste. Ein paar Vögel schössen über das Wasser. Saina blickte ihnen nach.
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Sie richtete sich auf und sah Kunibert an. Ihre Augen waren feucht. »Leb wohl«, sagte sie leise, und wie am ersten Abend warf sie plötzlich die Arme um seinen Hals, küßte ihn, glitt vom Pferd und lief davon. »Leb wohl, Saina«, rief Kunibert. »Und Dank!« Er hielt an und blickte ihr nach, solange er sie sehen konnte. Vor einer Felsenecke drehte sie sich noch einmal um, rief und winkte. Ihre W7orte übertönten das Wasserrauschen. »Leb wohl!« rief Kunibert. Dann war sie verschwunden.
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VIERZEHNTES ABENTEUER
DER STURM Der Barbier hatte zwar seine Schrullen, erwies sich aber als ein biederer, zuverlässiger Mann, der das Leben in den Bergen kannte. Er und sein altes Maultier waren unverdrossene, unermüdliche Begleiter auf dem beschwerlichen Ritt. Kunibert drängte vorwärts, denn er wollte so schnell wie möglich zu Schorse zurückkehren. Der Knappe konnte nicht wissen, was aus seinem Herrn geworden sei, und Kunibert fürchtete, Schorse werde ausziehen, um ihn in den Bergen zu suchen, wenn ihm das Warten zu lange dauerte. Wie aber sollten sie sich dann in diesem zerklüfteten, unwirtlichen Gebirge wiederfinden? Kuniberts Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Straße, der er mit dem Barbier folgte, schien wirklich kein Ende zu haben, sondern nur immer tiefer in die Berge hineinzuführen. Sie wand sich durch endlose Täler, ging bald bergauf, bald bergab, von einem Bergnest, von einem Dorf zum andern, dann wieder durch weite Einöden und bald in dieser, bald in jener Himmelsrichtung. Kunibert konnte sich kein Bild mehr davon machen, wo der Schneegipfel liege, zu dem er hinaufgestiegen war, noch hätte er sagen können, wie lange er schon über diese Bergrücken und durch diese Schluchten ziehe. Eines Tages ritten sie über sanft ansteigendes, kahles Hochland, das so steinig war, daß sie die Straße kaum noch 263
zu erkennen vermochten. Der Himmel hatte sich bewölkt und hing grau und niedrig über ihnen. Der Weg stieg gleichmäßig an, und die Wolken sanken tiefer. Sie senkten sich bis auf den felsigen Boden hinab und trieben Kunibert und dem Barbier entgegen. Feuchter, silbriger Dunst wehte die Reiter an, und ehe sie sich dessen versahen, waren sie mitten in den ziehenden Wolken. Ein feines Sprühen war um sie her. Sie ritten wie durch ein Gewirr von Schleiern aus grauen Tropfen, und Kunibert fühlte, daß es sich ihm eng und kalt um die Brust legte. Ein schwacher Windstoß wühlte in den Wolken und erstarb wieder. Kunibert war es, als erblicke er in den wogenden Massen wallende Gestalten in schwebenden, grauen Gewändern. Fahle Gesichter sah er, ausdruckslose, halb geschlossene Augen, trübe Stirnen unter triefenden Haaren und kraftlose Gebärden gebreiteter Arme, verhüllt in den Falten weiter, wehender Ärmel. Der Barbier drängte sein Maultier dicht an den Rappen. Kunibert sah, daß sein Begleiter entsetzt um sich starrte. »Die Regenfrauen«, flüsterte der Barbier. »Es ist schlimm, wenn man sie sieht. Das bringt nichts Gutes.« »Was sollen sie bringen?« antwortete Kunibert fröstelnd. »Regen! Was sonst?« Der Barbier schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Kunibert blickte sich um. Die grauen Gestalten hingen über ihm in der Luft, schwebten ihm entgegen, zogen an ihm vorüber, streiften ihn mit ihren nassen Gewändern, die 264
sie über den Boden schleiften, das Fetzen in den verkrüppelten Bäumen hängenblieben. »Euch kenne ich nicht«, rief Kunibert ihnen zu. »Ich wollte, ihr zeigtet mir den Weg zur Bergquelle. Wenn ihr hinkommt, grüßt sie von mir.« Doch die Regenfrauen antworteten nicht. Stumm zogen sie ihren Weg, wiegten sich in ihren grauen Schleiern, wanden sich, dehnten sich, lagerten sich auf die Felsen, schwebten auf und verkrochen sich hintereinander. »Bist du toll?« zischte der Barbier. »Bist du toll, zu ihnen zu sprechen? Sie können dich ersticken oder dich hinterrücks in einen Abgrund stoßen.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte der Ritter, »aber ich wollte, sie trollten sich.« Die Reiter trieben ihre Tiere an. Nasse Kälte kroch ihnen unter die Kleider und machte ihre Glieder klamm und steif. Geduckt saß der Barbier auf seinem Maultier; er hatte den Kopf eingezogen und sah nur manchmal scheu zur Seite. Nach einer Weile hielt Kunibert an. »Wir haben die Straße verloren«, rief er und schaute sich vergebens um. »Weiß ich lange«, antwortete der Barbier zähneklappernd. »Jetzt können wir sie nicht suchen, sonst entrinnen wir denen da nie.« Er wagte es, sich hastig umzublicken. »Verlaß dich auf Lala«, fuhr er fort und deutete auf sein Maultier, dem er die Zügel auf den Hals legte. »Sie irrt sich nie.« Eins wird so gut sein wie das andere, dachte Kunibert, und sie ritten weiter. 265
Auf einmal bog das Maultier deutlich von der Richtung ab, und bald darauf tauchte aus dem Wolkennebel eine kleine Hütte auf. Sie ritten hin. Die Hütte hatte nur eine schmale Türöffnung. Ihre fensterlosen Wände bestanden aus rohen Felsblöcken, und das überhängende Dach war mit mächtigen Steinen belastet. Die Reiter stellten ihre Tiere unter das vorspringende Dach und traten ein. Drinnen war eine alte Feuerstelle, und an einer Wand lag dickes Knüppelholz aufgeschichtet. Jäger mochten die Hütte gebaut haben und als Unterschlupf benutzen. »Uff«, atmete der Barbier auf, »hier sind wir geborgen.« Er machte Feuer, stellte sich mit dem Rücken zur Tür und hielt die Hände behaglich über die auflodernde Flamme. »Ohne Lala hätten wir nie hergefunden«, erklärte er stolz. »Gib acht!« rief Kunibert. In einem Winkel der Hütte hatte er den Feuerschein über eine schwarze Schlange zucken sehen, die sich gegen die Männer aufrichtete. Der Barbier ergriff einen großen Stein. »Sie ist nicht giftig«, sagte er, »aber ich kann sie ja totschlagen.« »Laß sie leben«, antwortete Kunibert. Der Barbier ließ den Stein fallen. »Wenn man sie hinausjagt, kommt sie doch wieder herein.« Die Männer setzten sich auf die Felsblöcke, die um die Feuerstelle lagen. Kunibert öffnete seinen Mantelsack, und sie nahmen einen Imbiß. Die Schlange hatte sich auf der andern Seite des Feuers zusammengerollt und sah sie mit 266
kleinen glitzernden Augen an. Um die Hütte wurde es Abend. Ein leises Heulen kam von fernher. Gleich darauf pfiff es in den Lücken der Wände; die Flamme bog sich. Ein heftiger Wind fuhr durch die Hütte. Kunibert trat hinaus. Ringsumher war die Luft klar, aber hoch oben am Himmel jagten Wolken durch die graue Dämmerung. »Es gibt Sturm«, sagte der Barbier hinter ihm. »Ich will nach meinem Rappen sehen«, erklärte Kunibert und ging voran. Die Tiere standen dicht beieinander hinter der Hütte. »Wir wollen sie nicht anbinden«, riet der Barbier. »Lala läuft nicht weg, und dein Rappe bleibt bei ihr. So können sie sich die Seite aussuchen, wo sie am meisten Schutz haben.« Es war nichts anderes zu tun. Mit jedem Augenblick wurde es dunkler, und weiterzureiten schien nicht mehr möglich. Die Männer kehrten in die Hütte zurück, setzten sich auf die großen Steine und warteten. Langsam und stetig nahm der Wind zu. Er heulte um die Hütte, und die Flamme tanzte. »Wenn man die Regenfrauen sieht, kommt immer ein Unglück«, sagte der Barbier dumpf. Der Wind wurde zum Sturm. Er fegte über die kahle Fläche heran, rüttelte am Dach, stieß gegen die Wände, daß sie bebten, und brauste um die Hütte. Wenn das Feuer auf den Boden schlug, wurde es für Augenblicke finster.
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»Wir hätten weiterreiten sollen, statt uns hier vor den Regenfrauen zu verkriechen«, meinte Kunibert. »Vielleicht hätten wir diese verwünschte Hochebene hinter uns gebracht und besseren Schutz gefunden.« Der Barbier schwieg. Draußen war es Nacht geworden. »Wenn es nicht schlimmer wird, mag es noch gehen«, murmelte der Barbier. Aber es wurde schlimmer. Die Männer fuhren zusammen. Mit jäher Wucht schwoll ein Brüllen über die Ebene heran, tobte um die Hütte, packte sie, umklammerte sie wie mit zornigen Riesenfäusten. Die Erde schien zu zittern. Ein gewaltiges Donnern und Krachen, als hätten sich die Berge in Ungeheuer verwandelt, die kämpfend übereinanderstürzten. Der Barbier war bleich geworden. Plötzlich richtete sich die Schlange hoch auf und zischte sinnlos vor Wut oder Angst nach der Tür hin. Man sah es nur und hörte es nicht. Fast in demselben Augenblick prallte der Sturm herein. Staub, Asche und Funken wirbelten in der dröhnenden Luft. Zuckend und züngelnd wand sich die Flamme am Boden. Dem Ritter lief es kalt über den Rücken. Ein mächtiges Haupt tauchte vor ihm aus dem Dunkel der Tür, ein zerfurchtes Riesenantlitz mit grauen, wehenden Locken und grauem Bart, blitzenden Augen und weit offenem Mund. Es war viel größer als die Hütte, Kunibert sah es durch die Wände hindurch und sah auch mächtige Schultern, geschüttelte Fäuste und sturmgepeitschte Gewänder, die sich in der tobenden Nacht verloren. Er
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sprang auf, doch er schwankte und konnte nur mit Mühe stehen. »Ho – ho!« brüllte der Sturm ihn an. »Ho – ho – Kunibert – du reitest irr – du reitest irr – ho – ho – Kunibert!« Kunibert fühlte, daß sich sein Haar sträubte. Seine Glieder waren wie aus Stein. Der Barbier schien die Erscheinung nicht zu sehen. Er krampfte die Fingern um den Felsblock, auf dem er saß, und starrte zitternd vor sich hin. Das Riesenhaupt schüttelte die fliegenden Locken. »Ho – ho –!« gellte das gewaltige Lachen. »Auf, Kunibert! Auf!« Dumpf krachend stürzte ein Stück des Daches in die Hütte. »Fort!« schrie der Barbier und stürzte zur Tür. Er stolperte über das Feuer, daß die flammenden Brände umherflogen. Die Schlange sprang ihn an. Er merkte es nicht, klammerte sich an den Türpfosten und rang sich hinaus. Die Erscheinung war verschwunden. Mit einem Sprung war Kunibert draußen. Der Sturm preßte ihn an die Wand. Mühsam kämpfte er sich weiter, um eine Ecke, um noch eine, bis er bei seinem Pferd stand. Wie einen großen Schatten sah er den Barbier auf sein Maultier klettern. Ohne zu wissen, was er tat, warf Kunibert den Mantelsack, den er in der Hand hielt, über den Sattelknopf und stieg auf. Das Pferd zitterte. Er gab dem sich bäumenden Tier die Sporen. Das Maultier galoppierte mit harten Sprüngen davon. Der Rappe folgte behende. 269
Mit übermächtiger Kraft packte der Sturm die Reiter und jagte sie vor sich in die Nacht hinein. Eine kurze Weile ritt Kunibert neben dem Barbier, dann war er voraus, um ihn her nur Finsternis und das Brüllen des Sturms. Dazwischen gellte ihm noch das gewaltige Lachen in den Ohren. Er spürte, daß es leicht bergan ging. Kunibert hielt den Rappen, so gut er konnte, im Zügel; jeden Augenblick erwartete er, das Pferd werde stürzen. Der Sturm sprang um und drängte die Reiter in eine andere Richtung. Kein Widerstand war möglich, kein Anhalten; es war wie eine riesige schwarze Woge, die sie tobend und tosend mitriß. Bergab ging es, bergauf und wieder bergab. Der Rappe glitt, sprang ins Dunkel hinein, rutschte, fast auf den Hinterbeinen, über nicht enden wollendes Geröll, bekam wieder Halt und jagte weiter. Kunibert deuchte es, daß dies wilde Rasen durch die finstere Nacht stundenlang dauere. Auf einmal blieb das Pferd keuchend stehen und drängte sich an eine Felsenwand. Die Luft war still, doch über sich und hinter sich hörte Kunibert den Sturm brausen. Es war so dunkel, daß er den Kopf seines Pferdes nicht sah. Er versuchte, den Rappen vorwärtszutreiben. Das Tier stemmte die Hufe gegen den Boden und rührte sich nicht. Kunibert wartete. Nach einer Weile versuchte er noch einmal, weiterzureiten, doch der Rappe tat keinen Schritt. Lange saß der Ritter regungslos im Sattel. Endlich schwoll der Sturm ab. Zwischen den Wolken blitzten Sterne auf. Es wurde still, und die Nacht wurde klar. Kunibert sah, daß er auf einem schmalen Saumpfad hielt; rechts war eine hohe Felswand, links eine Schlucht, 270
in deren Dunkel er nichts zu erkennen vermochte. Ein Stück vor sich sah er auf dem Weg den Schatten eines Reiters. Es war der Barbier auf seinem Maultier. »Hallo!« rief Kunibert. »Bist du das?« Der Barbier drehte sich im Sattel um. »Leben wir noch?« sagte er. »Ich glaubte, wir ritten geradenwegs in die Hölle.« »Was hältst du von diesem Weg?« fragte Kunibert. »Zum Umdrehen scheint er mir zu schmal, besonders im Dunkeln, und irgendwohin muß er ja führen.« »Reiten wir ihn weiter«, meinte der Barbier. »Für Lala ist so ein Saumpfad eine Kleinigkeit, aber dir würde ich raten, abzusteigen und dich dicht hinter mir zu halten.« Kunibert folgte dem Rat, schwang sich vorsichtig von seinem Rappen und führte ihn dicht hinter dem Maultier. Der Weg ging ziemlich steil bergab und war manchmal so schmal, daß der Ritter kaum neben seinem Pferd Platz hatte. Lange zogen sie zwischen der Felsenwand und der Schlucht unter dem blitzenden Nachthimmel hin. Endlich erblaßten die Sterne, der Himmel wurde hell, der Morgen kam. Zur Linken tauchten hohe Schneegipfel auf, die die Morgensonne zart färbte. Der Ritter musterte sie genau. Der höchste der mächtigen Gipfel ähnelte dem Berg des Schneekönigs, doch Kunibert sah ihn von der Seite und konnte sich nicht recht klar darüber werden. Der Weg senkte sich immer tiefer und führte an einer Bergwand hinab, unter der im Sonnenschein ein grünes Tal lag.
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»Der Sturm scheint uns auf den richtigen Weg geblasen zu haben«, meinte Kunibert. . »Meinetwegen hätte er sich nicht zu plagen brauchen«, antwortete der Barbier. »Vielleicht ritten wir wirklich in der Irre«, sagte der Ritter. »Hast du verstanden, was mir der Sturm da oben zugebrüllt hat?« »Nein«, entgegnete der Barbier, »obwohl er mich ebenso angeheult hat wie dich. Oder meinst du, er habe sich nur deinetwegen so angestrengt?« »Ich weiß nicht«, antwortete Kunibert nachdenklich. Nach ein paar Stunden hatten sie die Wiesen erreicht. Sie ritten das Tal hinab, kamen durch einen Wald und fanden um Mittag ein kleines Wirtshaus, das an einer Straße lag. Auch dort hatte das Wetter gewütet. Zweige lagen umher, und große Wasserlachen standen auf dem Weg. Sie lenkten die Tiere auf den Hof. Der Wirt, ein ärmliches Männchen mit weißen Bartstoppeln und ohne Zähne, kam ihnen entgegen. Im Hintergrunde sahen sie einen halbwüchsigen Burschen aus Leibeskräften Reißaus nehmen. Der Alte begrüßte sie mit eifriger Freundlichkeit. Daß sie über die Berge gekommen seien, glaubte er nicht. »Ihr wollt einen alten Mann zum besten haben«, sagte er, gutmütig lachend. »Oder am Ende habt ihr geträumt. Der Saumpfad, ja, den gehen wohl Ziegenhirten oder ein paar Jäger, aber weiter über die Berge führt er nicht. Und in dieser Sturmnacht? Nein, das müßt ihr einem andern erzählen.« 272
Er brachte den Rappen und das Maultier in einen leeren, kleinen Stall. Kunibert und der Barbier gingen hinterdrein. »Habt Ihr keinen Knecht?« fragte der Ritter. »Ich habe nur meinen Enkel bei mir«, antwortete der Alte, »doch der läuft immer davon, wenn Fremde, und gar wenn so vornehme Fremde einkehren wie ihr. Er kommt erst wieder zum Vorschein, wenn ihr weg seid.« »Für einen Wirt eine tüchtige Hilfe«, sagte der Barbier trocken. »Ich würde es ihm abgewöhnen.« »Die Jahre werden es tun«, versetzte der Wirt. »Ist er erst einmal so alt wie ich –« Der Barbier bereitete mit dem Wirt ein Mittagsmahl, die Reisenden stärkten sich, begaben sich in die Kammer, die ihnen der Alte anwies, legten sich aufs Ohr und schliefen sofort ein. Gegen Abend erwachten sie von lauten Stimmen im Hofe. Der Wirt kam aufgeregt in ihr Zimmer, »Ein großmächtiger Fremder ist angekommen«, sagte er, »ein gewaltiger Herr. Ein sehr hoher Herr, denn er ist fürchterlich grob und hört nicht, was man ihm sagt. Er will den Stall für seine Pferde allein und hat eure Tiere hinausgejagt. Die Sättel hat er ihnen nachgeworfen.« »Meine Lala aus dem Stall ziehen?« schrie der Barbier und stand schon an der Tür. »Zu Seifenschaum schlag ich den Kerl!« Er war draußen, bevor der Ritter ein Wort hatte sagen können. Der Wirt lief hinterdrein. Kunibert lauschte.
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Unten erhob sich gewaltiger Lärm. Man hörte das Fluchen des wütenden Barbiers und dazwischen eine tiefe, heisere Stimme, die nicht zu verstehen war. Kunibert ging rasch hinunter. Im Hof standen der Rappe und das Maultier zu dem Stall gewandt, aus dem sie vertrieben worden waren. Aus der Stalltür blickten zwei Pferdeköpfe. Zwischen den vier Tieren, die ihnen erstaunt zuzusehen schienen, hatten sich der Barbier und ein stämmiger Mann gepackt und prügelten weidlich aufeinander los, wobei sie schimpften, so laut sie konnten. »Lump! Lügenmaul! Wegelagerer! Bartscherer! Räuber! Strauchdieb!« schwirrte es durch die Luft. Der Wirt stand in achtungsvoller Entfernung und wagte nicht, sich in den Streit seiner vornehmen Gäste zu mischen. Auf einmal fielen die beiden Männer eng umschlungen in eine große Pfütze, so daß die dicken Tropfen bis über die Pferde spritzten, die erschrocken die Köpfe schüttelten. Nur das Maultier begnügte sich damit, bedenklich mit den Ohren zu wackeln. Kunibert sprang hinzu und riß mit jeder Faust einen der Kämpfenden vom Boden auf. »Loslassen!« rief er. »Zum Teufel – Schorse –! Wo kommst du her?« »Oh – Herr Ritter«, krächzte Schorse heiser und spuckte das schmutzige Wasser aus. »Mein Maultier aus dem Stall zu jagen«, tobte der Barbier, dessen Gesicht vor Schmutz unkenntlich war. 274
Schorse wandte sich mit rotem Kopf zu ihm. »Der dreckige Kerl da behauptet, König Kasimirs Hofbarbier zu sein – das Lügenmaul!« »Ja doch«, sagte Kunibert ungeduldig. »Jetzt haltet Ruhe!« »Aber, Herr«, widersprach Schorse, »wenn Kasimir einen Hofbarbier hat, braucht er das Rasierzeug nicht mehr, und was wird dann aus uns? Laßt mich ihn totschlagen! »Du Räuber!« zeterte der Barbier. »Du Maultierschinder!« Sie wollten wieder aufeinander losprügeln. »Ruhe!« donnerte Kunibert die beiden an, vergaß in seinem Ärger, daß er auch in der Pfütze stand, und stampfte mit dem Fuß auf, daß allen dreien das Wasser ins Gesicht fuhr. Er sprang zurück. »Du gehst ins Haus«, befahl er dem Barbier. »Du, Schorse, bringst die beiden Tiere da wieder in den Stall und wäschst die Sättel, die du in die Pfütze geworfen hast. Dann kommst du auch ins Haus. Aber – sag mal erst – wie hast du uns hier gefunden?« »Ich habe Euch gar nicht gefunden«, erwiderte Schorse erregt und krächzte dabei erbärmlich. »Schon seit Wochen ziehe ich herum und suche. Gestern habe ich bei dem Regen die ganze Nacht mit den Pferden im Walde gelegen, weswegen ich auch so heiser bin. Wenn der Wirt hier wenigstens einen ordentlichen Grog hat!« »Sollst du haben, Schorse«, lachte Kunibert vergnügt, »aber tu erst, was ich dir gesagt habe.« 275
Der Grog versöhnte die Feinde. Auch der Wirt bekam ein Glas. Er wurde mit jedem Schluck vergnügter und schlief schließlich selig lächelnd und vor sich hinnickend ein.
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FÜNFZEHNTES ABENTEUER
EIN KÖNIG UND EIN WANDRER Kunibert, Schorse und der Barbier zogen mit einer Karawane durch die Wüste. Die Weißen Berge lagen längst hinter ihnen. Sie waren auf dem Wege zur Küste, denn der Barbier wollte den Ritter nicht auf der Suche nach dem Rasierzeug begleiten, sondern so bald wie möglich sein Amt am Hofe König Kasimirs antreten. Es drängte ihn, seinem Bruder Franςois in einem großartigen Briefe davon zu berichten. Nach einem ermüdenden Tag hatte sich die Karawane gelagert. Es war spät am Abend. Die Männer hatten ihr Nachtmahl verzehrt und saßen im Kreise. Ein paar bärtige Kaufleute rauchten bedächtig aus langen, kostbaren Pfeifenrohren. Der Mond war aufgegangen. Die langen Dünen der Wüste lagen in fahlem Schimmer unter dem Nachthimmel. Im Lager türmten sich die Schatten der abgeladenen Traglasten. Daneben lagen die erschöpften Tiere in dem warmen Sand. Ab und zu stöhnte eines im Schlafe, richtete sich halb auf, sank zurück, seufzte und lag wieder still. Das Gespräch der Männer war leiser als sonst. Nur undeutlich sah man über den hellen Gewändern ihre dunkeln Gesichter, in denen manchmal aus dem Weißen eines Auges ein schwarzer Blick aufblitzte. Die Pfeifen glühten. Es war die Stunde des Gesprächs, zu der Erinnerungen, Erfahrungen und Ratschläge ausgetauscht 277
oder Abenteuer erzählt wurden, in der man von der Heimat sprach oder von dem Ziel der Reise und von Hoffnungen. Ein Pferd schlug um sich; auch andere wurden unruhig. Ein Kamel sprang auf. Groß und schwarz stand es gegen den Himmel. Der Führer der Karawane, ein langer, hagerer Mann mit einem Raubvogelgesicht, erhob sich. Seine rascher! Augen schweiften über die Menschen, die aufgestapelten Warenballen und die Tiere. Er ging hin und sprach mit einem Wächter. Dann sah man ihn in seinem weißen Gewand wie einen blassen Schatten um das Lager schreiten. »Die Tiere sind heute unruhig«, sagte Kunibert zu dem arabischen Arzt, der neben ihm saß. Der Araber strich mit der Hand über seinen kurzen, grauen Vollbart und wandte sich zu dem Ritter. Seine regelmäßigen Züge schienen aus Bronze zu sein. Die Augen waren fast schwarz und hatten eine seltsame, stille Gewalt. »Wir haben einen anstrengenden Ritt hinter uns«, antwortete er gemessen. Der Führer der Karawane kam zurück, tauschte einen ernsten Blick mit dem Arzt und setzte sich neben ihn. »Der Sand seufzt«, sagte er leise. Stumm neigte der Arzt den Kopf. »Wahrlich, wir sind Allahs, und zu ihm kehren wir zurück«, murmelte der Führer der Karawane. »Was heißt es, daß der Sand seufzt?« fragte Kunibert.
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Der Karawanenführer legte flüchtig die Fingerspitzen auf die Lippen und sah sich im Kreise um. Die in der Nähe Sitzenden blickten schweigend vor sich hin; man konnte nicht sehen, ob sie etwas gehört hätten. Der Arzt ergriff Kuniberts Hand. »Wenn du es nicht weißt, sollst du es erfahren«, sagte er. »Komm!« Er führte den Ritter an den Rand des Lagers und ein Stück darüber hinaus. Dann setzte er sich in den Sand und beugte sich lauschend nieder. Kunibert legte das Ohr auf den Boden. Er vernahm ein schwaches Geräusch, als ob die feinen Körner mühsam durcheinander mahlten, als ob ein Wühlen aus der Tiefe steige. Es kam und ging und klang wie fernes Seufzen. »Ist es nicht immer so?« fragte Kunibert. »Ich habe nie darauf geachtet.« Der Arzt bewegte verneinend die Hand. »Ich will dir berichten, was man davon erzählt«, sagte er. »Vernimm.« Und er begann: »In alten Zeiten und längst verschollenen Vergangenheiten war hier grünes, fruchtbares Land. Ein großes Reich lag hier mit Städten und Dörfern, über das ein stolzer, gewalttätiger König herrschte. Einst flog der Vogel Rokh über die Hauptstadt des Landes, und seine Schwingen breiteten sich so weit aus, daß sie gleich Wolken die Sonne verdunkelten. Im Trotz und in blindem Stolz auf seine Kunst als Bogenschütze schoß der König vom Turm seines Schlosses mit einem Pfeil nach ihm. Der riesige Vogel spürte den Pfeil nur wie wir einen Nadelstich, aber er ergrimmte in jähem Zorn über den Frevel des Königs, und seine Kehle ward augenblicks wie 279
ein feuerspeiender Berg. Er stieß einen Schrei aus, daß der Turm des Schlosses einstürzte und die Menschen weithin im Lande bleich wurden vor Grausen. Rachgierig kreiste er mit zornigen Flügelschlägen über dem Königreich, nicht achtend der Todesangst von Mensch und Tier noch des Geschreis der Fliehenden, das zu ihm aufstieg. Die Wucht seiner Schwingen warf Paläste und Häuser, Bäume und Mauern um und verheerte die Felder. Sein flammender Atem versengte die Frucht und das Gras und verzehrte alles Leben; Flüsse und Quellen versiegten in der Glut, und die Seen trockneten aus. Endlich flog der Vogel Rokh weiter. Er hatte seine Rache gekühlt. Das Land war verwüstet und wurde unter der brennenden Sonne bald so, wie du es heute siehst. Nach Jahren und Jahren aber brach hier oder dort wieder eine Quelle aus dem Sand, und um sie her breitete sich frisches Grün. Auch Palmen wuchsen auf; da sah es der Vogel Rokh, der alle vierhundert Jahre einmal des Weges flog, und stieß in die Wüste hernieder. Als er wieder aufflog, ließ er ein Ei zurück, so groß wie die Kuppel einer Moschee. Ein Menschenalter lang mußte die Sonne das Ei ausbrüten, ob sie es wollte oder nicht, dann zerbarst es, und heraus sprang ein riesengroßes, falbes Pferd mit weißlichgelber Mähne, wild wehendem Schweif, schäumenden Zähnen und bösen Augen. Es bäumte sich auf, schlug die Luft mit den Vorderhufen und lief in die Wüste hinein. Und als es sprang, sich dehnte und die Glieder reckte, wurde es größer und immer größer, bis es die langen Dünen der Wüste überragte wie ein Ackerpferd die Furchen des Feldes. 280
Auf seinem Wege fand es weder Weide noch Bach, bis es den Rand des grünen Landes erreichte. Der Herr der drei Welten aber hatte es herankommen sehen und zeichnete mit seinem Blick die Grenzen der Wüste, die das wilde Pfer4 nicht überschreiten durfte. Es prallte zurück, warf den mähnenschüttelnden Hals trotzig auf und jagte wieder in die Öde hinaus. Wutschnaubend und zornrollenden Auges stürmte es dahin mit Sprüngen, die im Fluge die Ferne zur Nähe machten und wieder zur Ferne, doch immer von neuem mußte es umkehren. Nur noch rasender wurde sein Lauf. Die kleinen Sandmänner, die unzählig sind und kleiner, als du es dir denken kannst, die unter unseren Füßen wohnen bis tief hinab, wollten das falbe Roß nicht dulden und waren geschäftig. Sie gruben gewaltige Höhlen, über denen nur dünne Sandbrücken schwebten, und das falbe Pferd stürzte hinein. Anfangs konnte es sich etlichemal befreien, doch dann erschöpfte sich seine wilde Kraft, und es vermochte nicht mehr, sich hinauszuarbeiten. Eilig, eilig räumte das kleine Volk den Sand unter ihm weg, andere stürzten ganze Hügel von oben nach, sie gruben tiefer und tiefer und zogen das falbe Pferd immer weiter hinunter, fast bis an das Herz der Erde, wo sie es banden und in Fesseln legten.« »Ist es sein Stöhnen, das wir im Sande vernehmen?« fragte Kunibert. »Liegt es noch dort unten?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nicht immer«, antwortete er. »Die Sandmänner halten gute Wacht, aber von Zeit zu Zeit wachsen dem falben Pferd die Kräfte wieder. Es zerbeißt und zerreißt seine Fesseln, hebt den 281
Kopf und regt die mächtigen Glieder. Es drängt und bohrt und windet sich aufwärts durch den Sand und steigt empor. Dann eilen die kleinen Männer von allen Seiten herbei, ein Raunen und Wühlen geht durch den Sand, und die Wüste seufzt, denn sie wissen es alle: der Kampf ist vergebens, und das falbe Roß ist stärker. Es rastet und ruht nicht, bis es frei und ledig ans Licht springt und sein wildes Rennen wieder beginnt. Dann wehe allem, was auf seinem Wege ist, wehe der Oase, über die es hinwegjagt, wehe allem Lebenden, das ihm begegnet, denn unter seinen Sprüngen, von denen jeder gleich tausend Schritten ist, fliegt der Sand zur Sonne, sein heißer Atem treibt ihn in wirbelnden Säulen dahin, und in der Luft hängen Schleier, die den Tag in Dämmerung verwandeln. Wenn du das falbe Roß siehst, wie es in der Ferne vorüberbraust, wirf dich zu Boden und verbirg dich unter deinem Mantel oder deiner Decke, vielleicht, daß es dich nicht bemerkt und du mit dem Leben davonkommst. Doch stürmt es auf dich zu, dann ist alles umsonst; dann hat der Herr der drei Welten deinen Tagen ein Ziel gesetzt, und sein Tor ist vor dir auf getan.« Der Arzt schwieg. Nach einer Weile erhob er sich. »Nun weißt du, warum der Sand seufzt«, sagte er. Er legte den Finger auf die Lippen und ging voran, in das Lager zurück. Als die Sterne verblaßten, brach die Karawane auf. Je weiter sie in den Morgenstunden kam, desto niedriger wurden die Hügel ringsumher, und schließlich breitete sich die Wüste flach und eben aus. Nur rechts lief noch eine Düne hin. Auf ihrem Kamm erschien ein Reiter. Der Führer der Karawane stutzte. Andere Reiter tauchten neben dem ersten auf. 282
»Haltet die Waffen bereit«, rief der Führer der Karawane. »Das können –« Doch schon wimmelte der Abhang von Reitern, die mit lauten Rufen und waffenschwingend auf die Reisenden zu jagten. »Räuber!« schrie der Karawanenführer. »Ihnen entgegen!« Die Männer griffen zu den Waffen. Einige Wächter blieben bei den Tieren mit den kostbaren Warenballen, die andern stürmten auf die Feinde ein. In Wolken von Staub, in denen Schwerter und Speere blitzten, prallten die Scharen zusammen. Ein zäher Kampf entspann sich, der lange hin und her wogte, für Augenblicke abflaute und dann um so erbitterter wieder aufflammte. Kunibert hatte sich zweier Räuber erwehrt, von denen einer blutend vom Sattel sank, da rief ihm der Barbier zu: »Die Lasttiere fliehen!« Der Ritter wandte sich um. Durch den Dunst des Kampfes sah er, daß eine lange Reihe von Kamelen, ihren schweren Lasten zum Trotz, davonstürmte, wie von einem jähen Schrecken gejagt. Nur wenige hatten die Wächter zurückhalten können. Einige Räuber hatten es erspäht. Fünf oder sechs galoppierten den fliehenden Tieren nach. Kunibert rief ein paar Kaufleuten zu, die in der Hitze des Kampfes nicht auf ihn achteten, dann machte er sich mit Schorse und dem Barbier an die Verfolgung. Die Jagd ging weit in die Wüste hinaus. Auf ihren raschen Pferden holten die Räuber die schwerbeladenen Tiere ein. Sie waren beim besten Plündern, als Kunibert 283
und seine Begleiter über sie herfielen. Die Räuber wehrten sich nur kurz und flohen. Kunibert, Schorse und der Barbier sprengten hinterdrein, doch die Araber hatten schnellere Pferde, und der Abstand wurde größer. Kunibert hielt an und schaute nach dem Kampfplatz zurück. Er konnte nicht viel sehen, nur eine wirre, staubgraue Masse, aus der undeutlich Pferde, Menschen oder blitzende Waffen auftauchten und rauhes Geschrei drang. Merkwürdig, dachte er und bemerkte gleichzeitig, daß ringsum der leichte Sand aufflog und wie dünner Nebel den Blick trübte. »Schorse!« Der Ruf erstarb ihm auf den Lippen. Von der Seite kam es her. Eine ungeheure gelbgraue Wand, die die Welt auszufüllen schien, wälzte sich rasch heran. Vor ihr brandete die Erde auf, rauchige, wehende Fetzen rissen sich los und zitterten in der Luft. Nur selten schimmerte noch ein wenig schwindendes Blau durch den Dunst. Das Licht ertrank, als sei das Ende aller Tage da, und verzehrende Glut stieg aus dem Boden. Dann sah er es selbst, das falbe Pferd, das sich geisterhaft groß aus der wogenden Wand aufbäumte und mit wehender Mähne daherstürmte. Seine Hufe schleuderten die Wüste gen Himmel, sein Schweif peitschte die Flanken, die bösen Augen lohten, und vor dem Schnauben seiner Nüstern sprang der Sand auf und fegte in hohen Wirbeln dahin. Das Geschrei der Kämpfenden erstarrte jäh zu lautlosem Schweigen. Ein Augenblick grausen Entsetzens, dann stoben sie, tief über die Mähnen ihrer Rosse gebeugt, nach allen Seiten auseinander. 284
Kunibert starrte das falbe Roß an. Es sprengt nicht auf uns zu, dachte er. Vielleicht –? Doch der glühende Staub wurde unerträglich. Der heiße Brodem schnürte dem Ritter die Kehle zusammen und wollte ihn ersticken. »Verbergt euch«, schrie er Schorse und dem Barbier zu, warf sich vom Pferd auf den Boden und breitete seinen Mantel über sich. Schorse und der Barbier rissen ihre Decken unter den Sätteln heraus und taten wie er. Lange lagen sie so und ließen von Zeit zu Zeit vorsichtig den Sand von den Decken gleiten, wenn er zu schwer wurde. Als sie sich wieder hervorwagten, war das Sonnenlicht noch trübe verschleiert, aber man konnte wieder atmen. Die Pferde waren verschwunden, weit und breit war nichts Lebendes zu erblicken. Kunibert hatte beim Abspringen vom Pferd den Mantelsack mitgenommen; nun galt sein erster Blick dem Barbier. Er sah zu seiner Beruhigung, daß dieser den schwarzen Beutel am Gürtel trug, der die Seife barg. Die Gegend ringsum hatte sich verändert. Die hohen Dünen, durch die die Karawane gekommen, waren nicht mehr da, und wo es eben und flach gewesen war, liefen Sandwellen und Hügel hin. Sie gingen weit zurück, um die Stelle zu suchen, wo die Räuber die Karawane überfallen hatten, doch sie konnten sie nicht finden. Menschen und Tiere waren geflohen oder im Sande versunken. Beim Suchen stießen sie auf ein halbverschüttetes totes Dromedar, neben dem unter mehreren zerplatzten Wasserschläuchen ein voller Schlauch lag und etwas Mundvorrat. Sie beluden sich damit und brachen in 285
der Richtung auf, in der, wie sie nach dem Stande der Sonne meinten, der Weg der Karawane gegangen war. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, daß wegkundige Reisegefährten von einer Oase gesprochen hatten, die die Karawane in den nächsten Tagen erreichen werde; doch ob die Oase in gerader Richtung liege und ob sie so nahe sei, daß man sie zu Fuß erreichen könne, das wußten sie nicht. Die ersten Tagemärsche brachten sie ganz gut hinter sich, obwohl sie sehr langsam vorwärtskamen. Kunibert erzählte seinen Begleitern die Geschichte des falben Pferdes, und sie sprachen viel vom Weg, von der Oase und von der Möglichkeit, einer Karawane zu begegnen. Da sie in der Mittagsglut nicht wandern konnten, machten sie aus ihren Decken und Mänteln ein Zeltdach, unter dem sie die heißen Stunden ruhten. Gegen Abend brachen sie auf, schliefen um Mitternacht ein wenig und wanderten vor Tagesanbruch weiter. Nach der Sonne und den Sternen hielten sie die Richtung ein, so gut es ging. Bald wurde der Wasserschlauch leer, und ihre Wegzehrung schmolz zusammen, bis jeder nur noch seine gefüllte Feldflasche und ein wenig Essen in der Tasche hatte. Sie ermatteten, die Kehlen wurden trocken, und allmählich verstummte das Gespräch. In dumpfen, unzusammenhängenden Gedanken gingen sie hin. Fast ohne es zu wissen, errichteten sie das Zeltdach, ruhten stumpf und erschöpft, erhoben sich bei Sonnenuntergang wieder, wanderten, blickten nach den Sternen, ließen sich in den Sand fallen und schliefen einen bleiernen Schlaf bis zum ersten Morgenlicht. Unterwegs strauchelte hie und da einer, setzte sich in den Sand und 286
raffte sich wieder auf. Ab und zu glitt eine Hand nach dem letzten kleinen Brocken in die Tasche, oder verdorrte Lippen schlürften behutsam ein paar Tropfen von dem warmen, schalen Wasser, das trotz aller Vorsicht zu Ende ging. Schorse blieb stehen. »Herr Ritter«, sagte er, »eben habe ich doch wahrhaftig gesehen, daß die Gnädige mir Frühstück brachte. Einen großen Krug Bier, wie es höchstens feiertags gab, kühl, frisch und schäumend, und zwei Butterbrote mit Wurst – so dick belegt.« Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger. »So dick! Wenn sie mir’s bloß gegeben hätte.« Kunibert fand sich aus seinen Gedanken zurück. »Laß nur, Schorse«, beruhigte er den Knappen, »das kommt alles wieder. Jetzt heißt es: vorwärts!« »Wäre ich in meinen Bergen geblieben«, klagte der Barbier. »Wäre ich in meinen Bergen geblieben, wo es kühl ist und das Wasser von allen Felsen rinnt. Was ist nun aus dem Hofbarbier geworden? Seifenschaum – Seifenschaum! Wie mein Bruder lachen wird, wenn er das erfährt. Ich kann es hören, wie er lacht!« Er drohte mit der Faust in den blauen Himmel. »Du wirst auch wieder lachen«, sagte der Ritter. »Komm!« Kunibert ging wie im Traum. Er träumte von Sonja, und zwischendurch zog alles an ihm vorüber, was er seit Marsilia erlebt hatte. Undeutlich und drohend quollen Abenteuer vor ihm auf, die ihm die Rückkehr verhüllten.
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Nachts wanderten sie in dem Ungewissen Licht des Mondes. Schweigend gingen sie mit verwirrten, halbwachen Sinnen. Kunibert blickte auf. Neben ihm schritt ein Dromedar, das ihn überholte. Ein zweites kam, und es folgten noch mehr. Hoch waren sie, hoch, schmal und fahl, und Reiter saßen darauf, lang und dürr, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schienen und aus schwarzen Augenhöhlen in die Ferne blickten. Kunibert wunderte sich, aber er blieb nicht stehen. Seine Füße gingen weiter. Ein geheimnisvoller Schauer faßte ihn an; er fühlte: diese Reiter konnte man nicht anrufen. Lautlos zogen sie neben ihm her, an ihm vorüber, vor ihm hin, immer neue, immer andere. Einige trugen Fahnen, einer ritt unter einem Baldachin, manche waren fremdartig gekleidet, wie Kunibert es noch nie gesehen hatte, jeder ritt, als ob er allein sei, keiner beachtete ihn. Eine Musikkapelle kam. Voran der Paukenschläger, der weit ausholend auf seine Kesselpauken einhieb, hinter ihm Bläser und Fiedler, die eifrig bliesen und rastlos fiedelten. Doch kein Laut war zu vernehmen, kein Laut. Ein Sultan ritt vorüber mit reichem Gefolge, Mamelucken und einem Harem verschleierter Frauen. Krieger kamen, Kaufleute, Wüstenreiter auf mageren kleinen Pferden; Jäger trugen Falken auf der Faust, Frauen Kinder im Arm, und zwischen all den Reitern auf Dromedaren, Pferden oder Mauleseln gingen Bettler in Lumpen, Kameltreiber, Lastträger mit nebelhaft schimmernden Lasten auf dem Kopf, aber auch Wanderer, die wie reiche Männer in faltige Gewänder gehüllt waren und doch zu Fuß gingen.
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Manchmal wurde der Zug spärlicher und schien ganz aufzuhören. Dann schritten nur noch in weiten Abständen einzelne dahin oder kleine Gruppen, Männer wie Pilger mit langen Stäben, ein einsamer Händler mit einem Sack auf der Schulter, ein Hirt oder ein Bauer. Eine Frau kam mit einem Kind an der Hand, ganz allein. Doch immer wieder tauchten neue Schatten aus der fahlen Wüstennacht, immer wieder folgten dichte Scharen, und der stumme Zug fand kein Ende. Kunibert fühlte kein Grauen mehr, und gleichgültig warf er sich um Mitternacht in den Sand. Schorse und der Barbier betteten sich neben ihn, ohne ein Wort zu sprechen. Bei Sonnenaufgang war die gespenstische Karawane verschwunden, doch nachdem die Wanderer ein Stück gegangen waren, erblickte Kunibert sie wieder, zuerst in schwachen Umrissen, durchsichtig, vom Morgenlicht durchflirrt, dann deutlicher, bis er sie wieder sah wie in der Nacht beim Mondschein und auch ebenso grau und unwirklich. Sooft er während der Mittagsrast die Augen öffnete, schwebten die farblosen Scharen an ihm vorbei. Als die Nacht sank, waren sie ihm schon gewohnte Begleiter. Er fühlte sich merkwürdig leicht und ging ohne Scheu dicht neben ihnen. Einmal sah er, wie einer der Kameltreiber einem Reiter etwas zuflüsterte. Er horchte hin. Es war ein wesenloser Hauch, doch er glaubte zu verstehen. »Fremde«, flüsterte der Mann. »Fremde. Was soll's mit ihnen?« 289
»Warte ein wenig«, wisperte der Reiter. »Sie werden bald zu uns gehören.« Kunibert war es, als ob dem schon so sei, so vertraut erschienen ihm die Gestalten, so bekannt. Kamen da nicht die Wüstenräuber, die seine Karawane überfallen hatten? Er wandte sich um und sah das Ende des Zuges nahen. Ja, es waren die Wüstenräuber, und zwischen ihnen ritten auch Reisegenossen, die er wiedererkannte. Jetzt kam der Führer der Karawane. Einen Augenblick ruhte sein rascher dunkler Blick auf dem Ritter. Andere folgten, fremde Gestalten, aber der letzte dort, das war der bekannteste von allen, das war der arabische Gelehrte, der ihm von dem falben Pferd erzählt hatte. Der Arzt sah Kunibert mit einem langen Blick an. Er schien verweilen zu wollen, doch sein Pferd trug ihn weiter. So hob er nur die Hand zum Gruß. Kunibert machte eine Bewegung, als wolle er auf ihn zugehen; da wurde der Gruß zur Abwehr. »Bleibe«, sagten die schwarzen Augen, »bleibe!« Kuniberts Schritt stockte. »Sieh dort«, sagte er verwirrt und deutete mit der Hand. »Sieh –« »Was?« fragte Schorse. Kunibert raffte sich auf. Er fuhr mit der Hand über die Stirn. Die Karawane war in der Nacht verschwunden. In mattem Halbdunkel lag die Wüste weit um ihn her. Dunkel war die Ferne. »Wahrhaftig«, rief Schorse, der auf einmal zu erwachen schien, »das sind keine Sterne dahinten, das sind Feuer.«
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»Dann sind dort auch Menschen«, sagte der Barbier heiser. Sie gingen auf die Feuer zu. Kunibert blickte sich noch einmal nach der Karawane um. Vergebens. Das falbe Roß hat all seine Opfer aus ihrer Ruhe aufgeschreckt, dachte er, und nun ziehen sie dahin, bis jedes seine Stätte gefunden hat. Der Weg durch die Nacht kam den drei Wanderern endlos vor. »Die Feuer brennen so hoch«, sagte der Barbier. »Die Leute müssen auf einem Hügel lagern.« Endlich kamen sie näher. Vor ihnen hob sich von dem Nachthimmel der dunkle Umriß eines Palmenwaldes ab. Am Rande der Oase beschatteten die Kronen etwas Hohes, Schwarzes, Spitzes, das aussah wie eine Pyramide. Die Feuer schienen hoch oben in den Bäumen zu hängen; darunter war das Innere des Wäldchens schwach erhellt. Nur eins brannte auf der Erde, nahe bei der Pyramide. Eine merkwürdige Musik klang herüber. »Herr«, rief Schorse, »wenn wir hier nicht Gott weiß wo wären, würde ich sagen: das ist eine alte klapprige Drehorgel, die alle naselang nicht mehr weiterkann und futt – futt – futt macht. Da! Hört Ihr's?« »Vielleicht hast du recht«, versetzte der Ritter. Die Musik kam Kunibert bekannt vor, und auf einmal fielen ihm gleichzeitig eine Melodie und die Worte dazu ein: Mein Königreich ist abgebrannt – Dagobert? dachte er. Wie sollte das möglich sein? 291
Bald sahen sie, daß in die Kronen der Palmen Hütten gebaut waren, vor denen die Feuerchen brannten. Schwanke Stege, wohl aus Palmenfasern geflochten, liefen von einer zur andern, und Strickleitern hingen hernieder. Neben dem Feuer unten saß am Fuß einer Palme, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, ein weißgekleideter Mann, von dessen tief beschattetem Haupt nur ein langer, weißer Bart zu sehen war. Er drehte einen Leierkasten. Um ihn her kauerten kleine, schwarze Gestalten, die verzückt zusahen und lauschten. Schorse blieb stehen. »Herr Ritter«, flüsterte er, »denkt Ihr an Beppos Laterne?« »Ja, Schorse«, antwortete Kunibert, »und nicht zum erstenmal.« Erst als sie in den Schein des Feuers traten, wurden die drei Wanderer bemerkt. Sofort waren sie von einer Schar kleiner, nackter Schwarzer umringt, die alle gleichzeitig in einer unverständlichen Sprache auf sie einredeten. Einer kam mit einem Feuerbrand und leuchtete den Fremden ins Gesicht. Gleich wurde das Geschnatter noch einmal so laut. Im nächsten Augenblick stoben alle auseinander; doch einige wandten sich im Weglaufen um, lachten und winkten mit freundlichen, beruhigenden Gebärden. Kunibert ging auf den alten Mann zu, der den Schwengel der Drehorgel hatte fahren lassen, aber sitzen geblieben war. Unter dem Schlapphut, den der Alte trug, konnte Kunibert nun sein Gesicht erkennen. »König Dagobert!« rief er. »Bist du es wirklich?«
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»Bist du nicht der Ritter, der das Rasierzeug sucht?« fragte der König freundlich und streckte Kunibert die Hand hin. »Du heißt doch Kunibert? Setze dich zu mir und sage mir, was dich zu dieser späten Stunde hierher führt.« Kunibert hatte kaum mit ein paar Worten Bescheid gegeben, da waren die kleinen Wilden wieder da. Sie brachten Speise und Trank. Diesmal drängten sich einige vor, die von durchziehenden Karawanen so viel gelernt hatten, daß man sich mit ihnen verständigen konnte. »Mehr bekommt ihr nicht«, erklärte der Häuptling, nachdem Kunibert und seine Begleiter die kleinen Schüsseln und Becher geleert hatten. »Mehr bekommt ihr nicht, sonst seid ihr morgen früh alle drei tot. Jetzt müßt ihr schlafen.« Die Wilden zogen sich zurück. Man sah sie behende an den Strickleitern hinauflaufen, die sie dann einzogen. »Kunibert«, sagte der König, »es freut mich, daß du da bist. Ich habe oft an dich gedacht, denn ich habe Wichtiges mit dir zu besprechen. Es ist zwar schon spät, doch sei es drum. Ich werde morgen etwas länger schlafen, und du bist gewiß neugierig. Seit wir uns damals trafen, bin ich durch viele Länder gezogen, unentwegt von einem ins andere. Hierher hat mich eine Karawane mitgenommen. Oh, die Leute waren recht nett; sie haben nicht nur meine kostbare Orgel auf ein Kamel geladen, sondern auch mich. Gleichwohl ging es nicht. Es war zu anstrengend. Ich wurde krank, und sie ließen midi hier. Da liege ich nun und bin zu schwach, aufzustehen.«
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»Du wirst dich bald erholen, König Dagobert«, sagte der Ritter, mühsam ein Gähnen verschluckend, »und wenn eine Karawane kommt, mit der wir Weiterreisen können, nehmen wir dich mit.« »Das ist lieb von dir, Kunibert«, antwortete der König, »denn wenn mich die Wilden auch freundlich pflegen und ich über nichts zu klagen habe, eine Sorge plagt mich dennoch.« Er lüftete den Schlapphut, unter dem im Schein des verglimmenden Feuers seine goldene Krone aufblitzte. »Sie ist so blank«, setzte er hinzu, »und man soll niemand in Versuchung führen.« »Jetzt sind wir da«, beruhigte ihn Kunibert. »Nun kann dir nichts mehr geschehen. Jetzt –« Kunibert konnte nicht weitersprechen, die Augen fielen ihm zu. Zufrieden rückte der König seinen Hut zurecht. Dann blickte er Kunibert ernst an und sprach: »Was ich dir mitteilen will, wird dich erfreuen und dich baß erstaunen. Da – sieh dir noch einmal den Handgriff meiner schönen Orgel an, der dir schon damals so gefiel. Ich habe viel darüber nachgedacht, wozu er wohl einmal gedient haben mag. Weißt du, worauf ich gekommen bin? Kannst du es dir gar nicht denken? Nun – Ritter Kunibert?« Doch der Ritter Kunibert war eingeschlafen. Schorse und der Barbier schnarchten schon lange. König Dagobert schüttelte milde den Kopf. Dann legte er sich auch für die Nacht zurecht. Er nahm die Krone vom Haupt, versteckte sie sorgfältig unter der Decke, wickelte sich umständlich ein, zog den Hut übers Gesicht und schloß die Augen. Die Holzscheite zu seinen Füßen 294
verglühten. Eines nach dem andern verloschen die Feuerchen in den Palmenkronen. Die Sterne flimmerten in dem tiefen Blau über den Schatten der Oase und den Weiten der Wüste. Nichts war zu vernehmen als das Schnarchen der müden Männer. Nur ein oder zweimal klang in der Nacht aus den Baumkronen das feine, hüstelnde Bellen eines Eichhörnchens herunter; denn dazu hatten die Wilden diese wachsamen Tiere abgerichtet, von denen einst ein wandernder Savoyarde ein Pärchen aus dem Norden mitgebracht hatte. Freilich nannten die Schwarzen, die nichts von Eichen wußten, sie Palmhörnchen. Als Kunibert am Morgen erwachte, schlief der alte König noch. Dagobert sah so blaß und krank aus, daß der Ritter erschrak und leise mit Schorse und dem Barbier wegging. Vergnügt kamen die Wilden von allen Seiten herbeigelaufen, brachten ihnen zu essen und zu trinken, diesmal mehr als am Tage vorher, und zeigten ihnen die Oase. Mit besonderer Wichtigkeit führten sie die Gäste zu der Pyramide, die aus rotem Stein war und von der sie erzählten, sie sei die höchste Turmspitze einer versunkenen Stadt, die zu dem längst untergegangenen Reiche der Riesen gehört habe. Im Laufe des Vormittags kehrte Kunibert zu dem alten König zurück und setzte sich neben ihn. Dagobert war wach und hatte schon auf ihn gewartet. »Kunibert«, sagte er, »wenn du gewußt hättest, was ich dir sagen wollte, wärest du gestern nicht eingeschlafen.«
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»Verzeih«, antwortete der Ritter. »Wir waren wirklich sehr müde von dem langen Umherirren in der Wüste. Du wirst es verstehen.« Dagobert nickte. »Jugend«, meinte er nachsichtig. »Jugend braucht immer Schlaf. Doch nun erfahre, welch ein Geschenk ich dir zugedacht habe. Du sollst nicht umsonst König Dagobert dem Ersten von Speyer begegnet sein. Meine Gabe wird dein Glück machen, Kunibert.« Der Ritter horchte auf und dachte: Ob er doch noch etwas von dem Rasierzeug hat? Voller Genugtuung beobachtete der König Kuniberts Spannung. Er blickte ihn unter seinen buschigen Brauen hervor an und hob bedeutsam die Hand. »Ich will dir meine Drehorgel vererben, Kunibert«, sprach er. »Ach«, sagte der Ritter und bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. »Du bist ein Kenner, Kunibert«, sagte der König befriedigt. »Die Erfahrung deiner Reisen spricht aus dir. Betrachte dir noch einmal aufmerksam das schöne Instrument. Vor allem den elfenbeinernen Handgriff. Sieh scharf hin.« Dem alten König zu Gefallen beugte sich Kunibert zu dem Schwengel hinüber. Im nächsten Augenblick griff er nach ihm und zog ihn mit einem Ruck in die Höhe, um ihn genauer zu sehen. Tütelü – – tut – machte die Orgel. »In das Elfenbein ist das Zeichen der kunstreichen Zwerge geschnitten«, rief der Ritter und sprang überrascht auf. »Das ist der Stiel des Rasierpinsels!« 296
»Sagte ich dir nicht, daß du dich freuen würdest?« antwortete der König. Kunibert blickte ihn an. »Hast du es denn gewußt, König Dagobert?« »Damals noch nicht. Erst später ist es mir aufgegangen, bei reiflichem Nachdenken.« »Jetzt muß ich ihn haben«, sagte Kunibert entschlossen. »Fordere von mir, was du willst, aber gib ihn mir.« »Du bekommst ja die ganze Orgel«, erwiderte Dagobert. »Ich verspreche dir: wann und wo ich auch sterbe, ich lasse es dich wissen. Fahre getrost nach Marsilia und verkünde dort dein Glück. Man wird dich bewundern.« »Du wirst noch lange leben, König Dagobert«, wandte der Ritter ein. »Überdies fehlt mir noch manches vom Rasierzeug, wonach ich inzwischen suchen muß.« »Hast du denn schon etwas?« fragte der König erstaunt. »Ich weiß, wo der Kasten ist. Ich habe das Becken, die Seife und sieben, Pinselhaare.« »Wie?« rief Dagobert. »So viel hast du schon?« Er brauchte eine Weile, seine Gedanken zu sammeln. Als er sich von der Überraschung erholt hatte, sprach er weiter: »Für sieben Borsten brauchst du keinen Stiel, Kunibert. Und vor allem: wenn du schon so viel gefunden hast, was willst du mehr? Kasimir wird ebenso überrascht sein wie ich, daß du überhaupt etwas bringst.« »Ich muß das ganze Rasierzeug herbeischaffen«, versetzte Kunibert. »König Kasimir will es benützen.«
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»Er soll sich einen Vollbart stehen lassen«, antwortete Dagobert unmutig. »Das ist viel würdiger.« »Die Bedingung lautet nun einmal so«, entgegnete der Ritter. »Ich muß durch die Welt ziehen, bis ich alles gefunden habe.« »Gib's auf«, riet der König. »Glaube mir, denn ich bin viel gewandert. Die Welt ist zu groß, entschieden zu groß, und außerdem ist sie nicht so eingerichtet, daß man alles in ihr fände, was man sucht.« Dagobert schien von dem Gespräch ermüdet zu sein. Er ließ sich zurücksinken und zog den Hut tief ins Gesicht. »Gib's auf«, sagte er noch einmal unter der Krempe hervor, die ihm bis über die Nase reichte. Seufzend ging Kunibert seiner Wege. Tag für Tag lag der alte König auf seinem Lager. Die Kräfte wollten nicht wiederkehren. Kunibert saß oft bei ihm. Auch Schorse und der Barbier gesellten sich manchmal dazu. Wenn die Abendkühle kam und Dagobert sich stark genug fühlte, drehte er seine Orgel Dann liefen die Wilden herbei. Im Halbkreis hockten sie um den weißen Zauberer und hörten mit scheuem, andächtigem Ausdruck zu. Frauen und Kinder mußten oben bleiben, aber die Palmhörnchen folgten mit leichten Sprüngen ihren Herren, setzten sich ihnen auf die Schultern oder auf den Kopf, spitzten die Ohren und lauschten unbeweglich. Dagobert schlief immer mehr. Immer seltener drehte er die Orgel. Der Leierkasten schwieg tagelang. »Wird das singende Wunder nie mehr tönen?« fragte der Häuptling. 298
»O doch«, antwortete Kunibert. »Wird es auch singen ohne den weißen Zauberer?« fragte der Häuptling weiter. »Vielleicht«, antwortete Kunibert vorsichtig. Wieder einmal hatte sich der Ritter neben Dagoberts Lager gesetzt und beobachtete besorgt den Schlafenden. Der König öffnete die Augen und begegnete seinem Blick. »Ich bin nicht krank, Kunibert«, sagte er. »Ich bin nur müde. Du mußt bedenken, daß ich sehr weit gewandert bin.« »Bald wirst du wieder frisch und kräftig sein«, tröstete ihn der Ritter, »aber willst du das Wandern nicht lassen?« »Wie könnte ich das?« erwiderte Dagobert. »Ich muß wandern. Wenn ich hier liege, wandere ich auch. Andere Länder, andere Städte, andere Menschen. Und überdies: wer sollte mein Lied durch die Welt tragen?« Kunibert nickte. »Freilich, das kannst nur du.« »Ich werde auch wieder wandern können«, fuhr der König zuversichtlich fort. »Wäre nur die Orgel nicht so schwer. Auch das Drehen ist anstrengend.« »Ich will dir einen Vorschlag machen«, sagte Kunibert. »Wir reisen mit der nächsten Karawane weiter und nehmen dich in einer Sänfte mit. In den Städten am Meer soll es tüchtige Handwerker geben. Dort lasse ich dir von einem erfahrenen Instrumentenmacher eine Orgel bauen, die dein Lied spielt und die man nicht zu drehen braucht. Man zieht sie auf, und wenn sie anfangen soll, drückt man auf einen Knopf. Die Orgel setzen wir auf ein Wägelchen, worauf du auch Platz hast, spannen ein Maultier davor, und dann 299
kannst du bequem durch alle Länder reisen. Mir gibst du dafür deine alte Orgel.« »Hat die nicht auf noch auf dem Wagen Platz?« fragte der König. »Ich fürchte, die neue Orgel wird mein Lied nicht so schön spielen wie die alte.« »Nicht so schön?« rief der Ritter. »Oh, König Dagobert, vieltausendmal schöner! Solch eine Orgel klingt wie ein ganzes Orchester mit allen Instrumenten. Denke dir einmal dein Lied mit Flöten und Geigen.« Dagobert richtete sich hastig auf. »Mit Flöten und Geigen?« fragte er erregt. »Freilich«, versicherte Kunibert, »und mit Posaunen.« »Mit Posaunen?« Der König wurde nachdenklich. »Mit Posaunen, Kunibert, muß man vorsichtig sein«, setzte er hinzu. »Man spricht von umgefallenen Mauern.« »Nicht mit wirklichen Posaunen, König Dagobert. Es klingt nur so.« »Dann mag es gehen. Also mit Posaunen.« »Und einem Paukenschlag.« »Wo?« »Wo du es willst, König Dagobert. Vielleicht am Schluß?« »Nein. Lieber bei der hohlen Wand. Da paßt es am besten. Doch es sollten zwei Paukenschläge sein.« »Wie wäre es mit einem ganzen Wirbel?« »Ja«, nickte Dagobert. »Mit Flöten und Geigen, vorsichtigen Posaunen und einem Paukenwirbel. Das wird 300
gut klingen. Dazu noch ein Wagen und ein Maultier. Nun, man kann es überlegen.« Dagobert überlegte es sehr ernsthaft. Der Ritter sah ihn oft mit lachendem Gesicht daliegen, die Lippen bewegen und mit der Hand den Takt schlagen. Augenscheinlich bemühte er sich, im Geiste sein Lied mit Begleitung der neuen Orgel zu hören. Kuniberts Vorschlag hatte den alten König neu belebt; doch das hielt nicht lange vor. Seine Gedanken, die von der neuen Orgel erfüllt waren, verdunkelten sich und gingen in Träume über. Die große Müdigkeit umfing ihn wieder, und er fiel in dämmernden Schlaf, aus dem er von Zeit zu Zeit abgerissene Sätze murmelte, die Kunibert nicht verstand. Noch einmal schien er zur Klarheit zu erwachen. Eine ganze Nacht und einen Tag ruhte der König regungslos und sah mit großen Augen in die Ferne. Abends winkte er dem Ritter, sich zu ihm zu setzen. »Kunibert«, sagte er, »mein Lied klingt sehr schön mit Flöten und Geigen. Ich habe es gehört, aber ich werde nicht mehr wandern.« »Wenn du es nicht mehr willst, König Dagobert.« »Laß«, antwortete der König. »Du weißt ganz gut, was ich meine. Es muß alles seine Ordnung haben. Dort an der Pyramide will ich begraben werden. Über das Grab meißelst du in den Stein: Hier ruht Dagobert der Erste, König von Speyer, und darunter einen Grabvers, den ich heute nacht ersonnen habe. Merke ihn dir:
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Ein König und ein Wanderer War er wie manch ein anderer. Nun bracht' sein Weg ihn heim. Möcht'st du auch soweit sein? Es reimt sich nicht richtig«, fuhr Dagobert fort, »aber dafür bin ich ein König. Also laß es nur so. Hast du den Vers behalten?« »Ja, König Dagobert. Ich werde ihn aufschreiben, denn es wird noch lange dauern, ehe er in Stein gemeißelt wird.« »Nein, Kunibert. Es wird sehr bald sein –. Die Sonne ist schon hinunter«, setzte er nach einer Weile hinzu. »Bleibe jetzt noch, bis es ganz dunkel ist. Dann geh.« »Ich bliebe gern länger bei dir.« »Nein. Ich will allein sein. Ich habe viele Länder, viele Städte, viele Menschen verlassen und war immer allein.« Düsteres Grau stieg aus der Wüste. Schon blitzten an dem blassen Himmel einzelne Sterne. Die Dämmerung wurde dichter, das Blau des Himmels tiefer. Stumm saß Kunibert neben dem schweigenden König. Es war dunkel geworden. Dagoberts Gewand schimmerte. Er hob ein wenig die Rechte, als wolle er zu den Sternen aufdeuten. »Wie sie flimmern und strahlen«, sagte er. »Schöner als Flöten und Geigen. Es ist gut sein mit ihnen.« Er öffnete die Hand, die der Ritter ergriff. »Gute Nacht, Kunibert.« »Gute Nacht«, antwortete der Ritter. Dagobert faltete die Hände auf der Brust und wandte seinen Blick von ihm ab.
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Leise zog sich Kunibert zurück. Nachts schlich er einige Male zu dem Lager des Kranken, um nach ihm zu sehen. Er konnte nur erkennen, daß der König noch immer unbeweglich so dalag, wie er ihn verlassen hatte. Kunibert glaubte, er schlafe. Am nächsten Morgen war König Dagobert tot. Kunibert und seine Begleiter begruben ihn am Fuß der Pyramide, in seinem weißen Gewand, die Krone auf dem Kopf, den Schlapphut zu seinen Füßen. Die Grabschrift meißelten sie mit Mühe in den Stein. Neugierig sahen die Wilden zu und wagten nicht, sich dem Grab zu nähern, das ein so unheimlicher Zauber schützte. Als nach Wochen eine Karawane kam, der Kunibert, Schorse und der Barbier sich anschließen konnten, schenkte Kunibert den Schwarzen die Drehorgel. Überraschung und Jubel waren grenzenlos. Einen neuen Handgriff hatten die Wilden schnell gemacht, aber dann wagten sie nicht, das singende Wunder zu drehen. So oft sich einer ein Herz gefaßt hatte, ließ er bei den ersten Tönen den Schwengel fahren und rannte davon. Nach und nach wurden sie jedoch mutig, und nachdem der Häuptling einmal das ganze Lied gespielt hatte, orgelten sie der Reihe nach ununterbrochen. Die ganze Nacht hindurch feierten sie ein Fest, bei dem der gärende Palmenmost in solchen Strömen floß, daß sogar die artigen Palmhörnchen dem Beispiel ihrer Herren folgten, sich an den Pfoten faßten und in weitem Kreis das rastlos singende Wunder umtanzten. Kunibert war froh, als die Karawane beim Morgendämmern aufbrach. 303
SECHZEHNTES ABENTEUER
DAS MEERWUNDER Das Segelschiff, dem sich Kunibert und seine Gefährten anvertraut hatten und das die drei nach Marsilia bringen sollte, war seit Wochen unterwegs. Anfangs hatten es widrige Winde aufgehalten, dann war es vom Sturm ein Stück nach Norden verschlagen worden. Seit einigen Tagen war das Wetter gut, aber es wehte noch immer eine steife Brise, und die See ging hoch. Kunibert saß, ziemlich am Heck, auf der Reling, hielt sich mit einer Hand an einem straffen Tau und ließ sich die Sonne behaglich auf den Rücken scheinen. Das Deck war leer. Er freute sich an dem Auf und Ab des Schiffes und träumte von der Heimkehr nach Marsilia. Das Wiegen und die wohlige Wärme machten ihn schläfrig. Er schloß die Augen. Das Schiff holte stärker über, legte sich tief auf die Seite. Kunibert verlor das Gleichgewicht und kippte hintenüber. Seine Beine hoben sich, das Tau, das er zuletzt nur locker gehalten hatte, entglitt ihm, er griff ins Leere und stürzte rücklings ins Wasser. Es gab einen lauten Plumps. Der Mann am Ruder hörte es, blickte sich um, doch da er nichts sehen konnte, zuckte er nur die Achseln. Auch zwei andere Matrosen hatten es gehört und sahen sich an. »Delphine«, sagte der eine. »Wahrscheinlich«, antwortete der andere. 304
Kunibert wurde erst richtig wach, als er untersank. Auftauchend rief er um Hilfe, doch das Pfeifen und Ächzen im Takelwerk, die rauschenden Wogen übertönten seine Stimme, und das Schiff entfernte sich mehr und mehr. Der Ritter schwamm um sein Leben. Er hatte den Tod vor Augen. Die schwere Rüstung machte ihn ungelenk, auch das Schwert zog ihn hinunter. Bald erlahmten seine Kräfte. Die hohen Wellen hoben und senkten ihn, warfen ihn bald hierhin, bald dorthin. Er schickte einen letzten Gedanken zu Sonja und nach Marsilia. Hinter ihm wuchs ein Schatten auf. Er drehte den Kopf und sah mit Entsetzen, daß vom Kamm einer Welle der aufgesperrte Rachen eines riesigen schwarzen Ungeheuers auf ihn herabschoß. Mit Grausen blickte er in den dunkeln Schlund, der ein Boot mit Ruderern hätte verschlucken können. Seine verzweifelten Anstrengungen zu entkommen, retteten ihn nicht; schon hatte ihn der Rachen gefangen und verschlungen. Mit einem gurgelnden Wasserstrom glitt er durch eine Enge. Etwas öffnete sich vor ihm und schloß sich hinter ihm. Das Wasser nahm ab, doch er rutschte tiefer. Unwillkürlich stemmte er die Hände gegen die glatten Wände des Schlundes und versuchte, sich aufzurichten. Vor ihm schimmerte es weiß; er strengte seine Augen an und las: Eintritt frei! Es wird dringend gebeten, nicht zu rauchen. »Blödsinniges Vieh«, murmelte er. gleichzeitig fiel ihm eine Erklärung ein, und er dachte: Unglaublich, was so ein riesiges Tier alles verschluckt!
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Dem Ungeheuer schien der Ritter an dieser Stelle seiner Kehle unbequem zu sein. Es nahm einen neuen Schluck, und Kunibert wurde von einer kräftigen Welle weitergespült. Das Wasser verlief sich im Bauch des Tieres. Kunibert fühlte mehr Raum um sich her. Ganz hinten sah er einen hellen Lichtschein. Gedanken an Ausgang und Rettung jagten wirr durch seinen Kopf, er sprang auf, ging ein paar Schritte und stieß mit dem Schienbein empfindlich gegen etwas Hartes. »Au«, sagte er, faßte hin und griff an eine Stuhlkante. Er setzte sich. Es war nicht ganz dunkel. Seine Augen hatten sich an das schwache Licht schon gewöhnt, und als er sich umsah, konnte er kleinere und größere Tische erkennen, an denen Stühle standen. Ein möblierter Fisch? dachte er dumpf. An der Wand, ein paar Schritte vor ihm, schienen drei Schilder zu hängen. Er ging hin. »Holla!« rief er überrascht und las: Kaffee, Tee, Schokolade 35 Pf. die Tasse Auf dem Schild daneben stand: Echt westfälischer Korn Das dritte Schild war umgedreht. Vom Hintergrunde her näherte sich rasch ein Mann in einer kurzen, schwarzen Jacke, von der hinten zwei lange Schöße herabhingen. In der Hand schlenkerte er ein weißes Tuch. Er trat zu Kunibert, warf das Tuch unter den linken Arm, verbeugte sich artig und fragte: »Bitt schön, haben der Herr schon bestellt?« »Schnaps«, stöhnte Kunibert. 306
»Bitt schön, sehr wohl«, antwortete der Mann. »Was wünschen der Herr?« Und mit unglaublicher Zungenfertigkeit schnurrte er herunter: »Korn, Curac,ao, Kurfürstlichen Magen, Schwarzwälder Kirschwasser, Chartreuse, Benediktiner, Weinbrand, Kognak echt? Bitt schön?« »Kognak«, murmelte Kunibert verstört. »Sehr wohl, der Herr. Dreisternig?« »Mindestens«, sagte Kunibert. »Kognak echt, dreisternig«, wiederholte der Mann, wischte den Tisch vor Kunibert mit seinem weißen Tuch ab und verschwand. Sofort kam er mit einer Flasche und einem Glas wieder, das er auf einer Untertasse vor Kunibert hinstellte und vollschenkte. Der Ritter goß den Kognak hinunter und atmete tief auf. »Noch einen!« Der Mann verbeugte sich und schenkte ein. Kunibert trank. »Noch einen!« rief er. »Sehr wohl«, sagte der Mann und setzte, während er das Glas von neuem füllte, besorgt hinzu: »Belieben der Herr seekrank zu werden? Wenn ich mir in diesem Fall einen Rat erlauben dürfte, wäre ein kleiner Imbiß zu empfehlen.« »Wie?« stammelte Kunibert. »Zu essen bekommt man hier auch?« »Beste Küche«, erwiderte der Mann ein wenig gekränkt und machte eine zierliche Handbewegung. »Dann ein Butterbrot mit Schinken«, bestimmte Kunibert. 307
Der Mann hob bedauernd die Schultern. »Schinken ist leider ausgegangen. Aber Appetitsild, Bismarckhering, Ölsardinen, Lachs ?« »Lachs«, bestellte Kunibert, und in kurzer Zeit brachte der Mann das Gewünschte. Das Brot schien sehr alt zu sein und schmeckte nach muffigem Schiffszwieback und Meerwasser, doch der Lachs war vorzüglich, und Kunibert aß ihn mit Heißhunger. »Selbstgeräuchert«, erklärte der Mann schmunzelnd. »Eigene Räucherei, leider haben wir zur Zeit keine große Auswahl«, fuhr er fort, »weswegen ich auch das Schild habe umdrehen müssen.« Er trat an die Wand, hob den Pappdeckel auf und hielt ihn dem Ritter hin. »Fertige warme Speisen zu jeder Tageszeit«, las er vor, drehte das Schild wieder gegen die Wand und seufzte. »Unmöglich durchzuführen. Die Gäste sind heuer gar zu selten. Der Herr sind seit drei Jahren der erste.« Er besann sich. »Wenn der Herr nicht eilig sind«, fing er wieder an. »Nach der Karte – ? Wir haben heute Schellfisch, Zander, vor allem schöne frische Seezunge. Sehr zu empfehlen. Muß freilich alles erst zubereitet werden. Seezunge gebacken in fünfzehn Minuten, ä la Colbert etwas länger.« »Ich habe Zeit«, sagte Kunibert. »Sehr wohl, der Herr!« Der Mann wischte mit dem Tuch über den Tisch, holte einen Block hervor und schrieb auf: »Einmal Seezunge ä la Colbert. Trinken der Herr weiß oder rot?« 308
»Was Sie da haben«, murmelte Kunibert. »Der Herr tun sehr wohl daran, sich auf mich zu verlassen«, antwortete der Mann mit einer Verbeugung. »Sie werden zufrieden sein.« Er wollte sich davonmachen, doch Kunibert hielt ihn fest. »Halt. Zuerst sagen Sie –« Der Mann wich zurück. »Gleich, der Herr. Einen Augenblick Geduld. Sofort wieder hier. Vielleicht wünschen der Herr etwas zu lesen? Die Zeitungen sind freilich nicht von heute.« Er verschwand. Kunibert trank seinen Kognak und blickte sich kopfschüttelnd um. Der Mann kehrte zurück. »So«, rief ihm Kunibert entgegen, »jetzt stellen Sie sich hier vor mich hin und sehen mich an. Wo kommen Sie her?« Es war deutlich, daß sich der Mann über Kuniberts aufgeregten Ton wunderte. »Wenn Neugierde nicht bei einem Kellner ein unverzeihlicher Fehler wäre«, entgegnete er zurückhaltend, »dürfte ich vielleicht an den Herrn eine ähnliche Frage richten, obwohl ich, nachdem ich auf den Herrn so lange gewartet habe, keineswegs überrascht, sondern nur erfreut bin.« »Wo bin ich?« rief Kunibert ungeduldig. »Im Schwarzen Walfisch«, antwortete der Kellner artig und stützte die Hände auf die Stuhllehne. »Im Schwarzen Walfisch. Bestens bekanntes Haus, ff. feine und bürgerliche Küche, gutgepflegte Weine. Angenehmster Familienaufenthalt. Abends Stimmungsmusik, sonnabends Tanz. 309
Ach nein«, unterbrach er sich, »daß hat sich letzter Zeit leider nicht durchführen lassen.« »Ich verstehe nicht, wie es möglich ist«, fragte Kunibert verzweifelt, »daß Sie hier – ?« »Ah – der Herr wundern sich, was wir alles bieten? Nun, ich glaube freilich auch nicht, daß Sie in jedem Walfisch so gut bedient werden würden.« »Nein!« schrie Kunibert. »Ich will wissen, wie die ganze Geschichte in diesen Walfisch kommt!« »Ach so –«, antwortete der Kellner gedehnt. »Auf die einfachste Weise von der Welt. Es ist eingebaut worden. Vorn, durch den Rachen des Fisches, ist der Eingang mit der gläsernen Windfangtür, den Sie kennen. Dort«, er wies nach der andern Seite, »die Küche mit Oberlicht, dann meine Schlafkammer, ein paar unentbehrliche Nebenräume, und zuletzt, da, wo es so hell ist, ganz hinten der polizeilich vorgeschriebene Notausgang. Alles sehr praktisch. War keine schlechte Idee. Der Herr entsinnen sich bestimmt der großen Weltausstellung in Rotterdam, die vor bald vier Jahren eröffnet wurde. Kurz vorher war dieser Walfisch, ein selten großes und schönes Exemplar seiner Gattung, an der Küste gestrandet. Ein findiger Unternehmer verfiel darauf, in ihm ein Cafe einzurichten, um den Besuchern der Ausstellung das Wunder des Meeres auch von innen zugänglich zu machen. Wir waren der deutsche Schlager des Vergnügungsparks. Nachmittags und abends kein Stuhl bei uns zu bekommen. Glänzendes Geschäft! Nur gutes Publikum. Reichliche Trinkgelder. Kost und Logis frei. Ich durfte hier schlafen. Dann kam bedauerlicherweise die große Überschwemmung, die einen 310
Teil unserer Ausstellung zerstörte und eines Nachts den Schwarzen Walfisch übers Ufer in die Maas spülte. Kaum wieder in seinem Element, schwamm der Fisch mit der Ebbe den Strom hinunter, dem heimatlichen Meere zu. Als ich erwachte, merkte ich an seinen Bewegungen, daß wir uns schon auf hoher See befanden. Ja«, sprach der Kellner weiter und nickte nachdenklich, »so geht es im Leben. Nun, man kommt ja weit herum, ich weiß gar nicht, wo wir überall schon gewesen sind. Wenn nur die Zeiten nicht gar so schlecht wären. Unser Unternehmen ist wirklich konkurrenzlos, das müssen Sie auch zugeben, mein Herr, vollständig konkurrenzlos. Dabei keine Spesen, keine Steuern, nichts. Und doch kein Geschäft! Ja, ja, die Zeiten, die Zeiten! Ich bin bloß froh, daß ich Junggeselle bin und keine Familie habe. Mit schulpflichtigen Kindern? Gar nicht auszudenken. Halt!« rief er plötzlich und lief davon. »Ihre Zunge, mein Herr, Ihre Seezunge!« Es dauerte eine ganze Weile, bis er ein Tablett brachte, den Tisch deckte und das Essen und eine kleine Öllampe daraufstellte. Während er die Weinflasche zwischen die Knie klemmte und den Kork herauszog, sagte Kunibert: »Holen Sie sich auch ein Glas. Zu zweit schmeckt es besser.« »Danke bestens«, antwortete der Kellner. »Jawohl, bitte, sehr gern.« Er blickte flüchtig nach dem Eingang hin. »Es wird heute wohl niemand mehr kommen«, meinte er. Als Kunibert ihn mit dem Glase zurückkehren sah, rief er ihm zu: »Bringen Sie gleich noch eine Flasche. Der Mosel ist gut.« 311
»Füße hoch!« schrie der Kellner und sprang auf den nächsten Stuhl. Unwillkürlich tat Kunibert, wie ihm geheißen, und fast gleichzeitig glitt eine dunkle, schäumende Welle unter seinem Sitz hin. Der Kellner wartete, bis das Wasser abgelaufen war, dann kam er herbei. »Zum Wohl, der Herr«, sagte er und stieß mit dem Ritter an. »Gut, daß Sie Ihre Füße so schnell in die Höhe gezogen haben. Die Klapptür geht leider immer auf, wenn vorn eine größere Welle hereinschlägt«, fuhr er fort, während er auf Kuniberts Wink Platz nahm, »und das ist etwas unangenehm. Glücklicherweise schließt sie gleich wieder von selbst, so daß die Gäste nicht im Zug sitzen, und das Wasser fließt ja hinten wieder ab. Außerdem sind unter dem vielen, das hereingespült wird, ganz nützliche Dinge. So erst neulich eine Kiste mit einer großen Korbflasche voll Öl. Sonst oft Fische, Treibholz, manchmal ganze Warenballen, die man gebrauchen kann oder auch nicht, gelegentlich ein Kistchen, mit ein paar Kerzen, Strümpfen oder andern Sachen darin. Meist freilich sind es Rettungsringe, leere Flaschen oder weggeflogene Hüte und gar zu selten Gäste. Zum Wohl, der Herr. Das ist ein Mosel für Kenner.« »Prosit«, sagte der Ritter. Er dachte daran, auf wie wunderbare Weise er sich vor dem sicheren Tode gerettet sah, und schlürfte mit Genuß den guten Wein. Das Essen war lecker gewesen, seine Laune wurde mit jedem Augenblick besser. Er streckte behaglich die Beine aus und fühlte sich von Herzen wohl. 312
Der Kellner war froh, nach so langer Zeit wieder einmal mit jemand sprechen zu können, und wurde immer aufgeräumter. Eine Flasche folgte der andern. Die Stimmung stieg. Der Kellner fing an, mit seinem Weinkeller zu prahlen, und die besten Jahrgänge wurden nacheinander gekostet. Das tat seine Wirkung. Die Fröhlichkeit der beiden Männer wurde lauter. Schließlich fingen sie an gleichzeitig zu reden, schwatzten, lachten, sangen und schlugen auf dem Tisch den Takt dazu. Bis tief in die Nacht hinein saßen sie beisammen und zechten. Der dunkle Walfischbauch wurde von dem Licht der kleinen Öllampe nur spärlich erhellt, und die schwarzen Wellen, die draußen rauschend vorüberstrichen, wiegten ihn leise. Am Morgen frühstückten Kunibert und der Kellner in der Küche, die in der Mitte ein Oberlicht hatte. Als sie fertig waren, machte sich der Kellner ans Fischschuppen. Kunibert sah zu. »Schöner Zander«, sagte der Kellner, während er den Fisch umdrehte, »ganz frisch. Erst heute morgen hereingespült.« Er schuppte eifrig weiter. »Wie flink Ihnen das von der Hand geht«, lobte ihn Kunibert. »Man sieht, Sie haben Übung.« »Und ein gutes Messer«, antwortete der Kellner, indem er die rechte Hand hob. »Nanu«, rief Kunibert, »Sie schuppen den Fisch mit Ihrem Rasiermesser?« »Das gebrauche ich zu allem«, entgegnete der Kellner. »Ich bin so daran gewöhnt.« 313
Kunibert lachte. »Nur zum Rasieren nehmen Sie es nicht, wie?« »Gerade dazu«, behauptete der Kellner. »Es schneidet tadellos. Wenn Sie wollen, leihe ich es Ihnen.« »Danke«, wehrte der Ritter ab. Er befühlte seine Wangen. »Nötig wäre es freilich.« »Dann versuchen Sie es nur«, riet der Kellner. »Sie werden sich wundern. Seifen Sie sich ein. Dort stehen Pinsel und Seife. Bis Sie soweit sind, bin ich fertig.« Einmal muß es doch sein, dachte Kunibert. Als er sich eingeseift hatte, wusch der Kellner das Messer sorgfältig und zog es auf seinem Streichriemen ab. »Abziehen ist kaum nötig«, erklärte er dabei. »Aber besser ist besser.« Er reichte das Messer dem Ritter. »Donnerwetter«, rief Kunibert, »sind Sie ein feiner Mann. Ein goldenes Rasiermesser haben Sie?« »Ist doch nicht echt«, erwiderte der Kellner lachend. »Höchstens vergoldet oder so was.« Kunibert fing an, sich zu rasieren. Das Messer war haarscharf. Es schnitt weich und angenehm. Kunibert war begeistert. »Ausgezeichnet«, sagte er mit schiefem Mund, während er mit der linken Hand die Haut glatt zog. »Vorzüglich.« Der Kellner nickte befriedigt. »Sehen Sie? Was habe ich Ihnen gesagt?« Kunibert war fertig, wischte das Messer ab und besah neugierig die Klinge. »Das ist ja mein Messer!« rief er. 314
»Wieso Ihr Messer?« entgegnete der Kellner erstaunt. »Woher haben Sie es?« fragte Kunibert. »Das weiß ich nicht mehr«, antwortete der Kellner. »Ich habe es schon lange. In manchen Stellen muß man mit andern Kellnern zusammenwohnen. Da ist immer so etwas Gütergemeinschaft. Vielleicht hat mal einer mein Messer mitgenommen und seines liegenlassen. Daß es aber Ihnen gehört?« »Ja«, sagte Kunibert entschlossen. »Sehen Sie her. Daran erkenne ich es.« Er wies auf das Werkstattzeichen der kunstreichen Zwerge, das in den blanken Stahl eingegraben war. »Hm«, murmelte der Kellner, »und nun möchten Sie es wohl wiederhaben?« »Allerdings«, antwortete Kunibert, »doch ich will es Ihnen gern abkaufen.« »Was soll man für ein altes Rasiermesser viel verlangen«, meinte der Kellner, »wenn es auch noch so gut ist? Sagen wir zwei Gulden fünfzig.« »Nein«, widersprach Kunibert, »da gebe ich Ihnen schon mehr. Die Schale ist nämlich echt.« »Echt?« rief der Kellner. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich es längst versetzt oder verkauft.« Kunibert gab ihm ein paar Goldstücke. Der Mann war sehr erfreut und bedankte sich. »Nur, solange wir hier zusammen sind, müssen Sie mir das Messer leihen«, bat er. »Abgemacht«, erklärte Kunibert. »Aber wie lange soll das eigentlich dauern? Man wird sich in Marsilia Sorge um 315
mich machen. Ich möchte gern Nachricht geben.« Der Kellner wiegte den Kopf. »Das ist nicht so einfach«, sagte er. »An Briefkästen kommen wir selten vorbei.« Er kicherte über seinen Witz. »Haben Sie denn nie versucht, sich einem Schiff bemerkbar zu machen?« erkundigte sich Kunibert. »Wenn Sie zum Beispiel eine Fahne hinaussteckten, meinetwegen durch den Schornstein Ihres Kochofens da.« »Wem sollte das schon auffallen?« entgegnete der Kellner. »Heutzutage. Jedes Schiff hat eine Flagge, und wenn ein Kapitän uns durchs Fernrohr sähe, dächte er höchstens: Na ja, der Walfisch hat eben auch geflaggt. Ein Naturforscher würde vielleicht neugierig werden, doch auf die Möglichkeit hin kann ich nicht meine gute Tischwäsche opfern.« »Etwas muß geschehen«, beharrte Kunibert kopfschüttelnd. »Wir können nicht in alle Ewigkeit durch die Meere gondeln.« »Ich möchte mich ja auch gern verändern«, gab der Kellner zu, »denn man soll nicht so lange in einer Stellung bleiben. Das Schlimme ist, daß wahrscheinlich die meisten Schiffe ausreißen, wenn sie ein so großes Ungeheuer sehen. Unsere einzige Hoffnung ist ein Walfischfänger, und da haperts mit dem Spucken.« »Womit?« fragte Kunibert verblüfft. »Sie wissen doch«, erwiderte der Kellner, »daß jeder Wal immerzu durch die Nasenlöcher oder sonstwo zum Kopf hinaus einen hohen Wasserstrahl spuckt. Nun sitzen die Walfischjäger in den Mastkörben, das hat mir mal ein 316
Matrose erzählt, und sehen bloß nach diesen Wasserstrahlen aus, und wenn sie die nicht sehen, dann glauben sie im Leben nicht, daß da ein Wal sein könnte.« »Das ist dumm«, sagte Kunibert, »denn daß er spuckt, können wir von unserem Fisch nicht verlangen.« »Ach, er tut's schon«, widersprach der Kellner. »Nur zu wenig. Halt«, rief er, »beim Spucken können Sie mir überhaupt helfen, dann geht es noch mal so gut. Passen Sie auf, jetzt zeige ich Ihnen etwas.« Aus einer Ecke der Küche holte er ein Bündel und wickelte es auf. Es war ein Sack aus geblümtem Stoff. »Das ist der Bezug von meinem Oberbett«, erklärte er. »Ich habe ihn etwas kleiner gemacht. Sie werden gleich sehen, warum. Da unten, an der Ecke, habe ich eine Röhre eingenäht, die ich aus einem alten Blechtopf gebogen habe. War ziemlich mühsam.« Er zog aus dem Fußboden einen dicken Stöpsel. Sofort sprudelte es durch die Öffnung herauf, aber der Kellner steckte rasch die kleine Röhre hinein, und das Wasser lief in den Bettbezug, der sich schnell füllte. »An der oberen Ecke«, fuhr der Kellner fort, »habe ich diesen langen Schlauch aus einem Bettlaken angenäht. Natürlich ist die Ecke aufgetrennt.« Er nahm das Ofenrohr seines Herdes weg und hängte das Ende des Schlauches, an dem ein Ring war, mit einem Besenstiel an einen Haken ganz oben im Schornstein. »So«, sagte er eifrig und stellte sich mit dem Rücken vor den vollgelaufenen Sack. »Achtung!« Er wies mit dem Finger auf den Schornstein, machte einen Sprung und 317
setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Bettbezug, wobei er die Beine in die Luft streckte. Unter dem Druck fuhr das Wasser durch den Schlauch hinauf und aus dem Schornstein. Gleich darauf hörte man es wieder auf den Rücken des Walfisches niederprasseln. Dicke Tropfen liefen über das Oberlicht. Der Kellner saß noch immer auf dem geblümten Deckbett und sah stolz zu dem Ritter auf. Kunibert hielt sich die Seiten vor Lachen. »Dieser Walfisch ist wirklich ein Wundertier«, brachte er schließlich heraus, während er sich die Tränen abwischte. »Wenn uns einmal ein anderer begegnet –« »Um Himmels willen«, unterbrach ihn der Kellner und sprang erbleichend auf, »dann ist es aus. Wir können uns auf keinerlei Annäherung einlassen. Ich weiß gar nicht, warum Sie lachen! Ein richtiger Wal spritzt freilich aus dem Kopf, und wir sind ziemlich weit hinten, aber so genau braucht man es doch nicht zu nehmen. Helfen Sie mir lieber. Wenn wir es zusammen machen, fliegt das Wasser sicherlich noch mal so hoch. Kunibert stellte sich neben ihn. »Ganz gleichzeitig!« ermahnte der Kellner. Sie sahen sich an, zählten mit erhobenen Zeigefingern: eins, zwei, drei – hupf, warfen sich mit voller Wucht rücklings auf den Sack und streckten die Füße in die Luft. Andächtig warteten sie, bis das Wasser wieder auf den Walfisch zurückregnete, und wirklich dauerte es diesmal viel länger. »Sehen Sie?« sagte der Kellner strahlend. 318
Kunibert bekam wieder einen Lachanfall, der den Kellner so ansteckte, daß sie sich aneinanderlehnen mußten, um nicht umzufallen. »Dabei ist es«, stieß der Kellner, der seine Erfindung verteidigen wollte, hervor, »– ist es eine – sehr gute Turnübung, wenn man – so wenig Bewegung hat wie hier.« »Ja doch«, lachte Kunibert. »Seien Sie bloß still, sonst kann ich überhaupt nicht wieder aufstehen.« Nach einer Weile erhoben sie sich, warteten, bis der Bezug vollgelaufen war, zählten: eins, zwei, drei – hupf! und ließen sich wieder mit einem Schwung auf den Sack fallen. Sie bekamen Übung. Es ging immer besser. Eins, zwei, drei – hupf, eins, zwei, drei – hupf, hallte es noch lange durch den Walfisch, bis es den beiden für diesmal zu langweilig wurde. Mit eiserner Regelmäßigkeit wiederholten Kunibert und der Kellner täglich stundenlang ihre Übung, immer in der Erwartung, daß endlich einmal ein Walfänger auf sie Jagd machen werde, bis sich eines Tages ihre Hoffnung erfüllte. Der Schwarze Walfisch war in die Nähe der Küste gekommen und in eine breite Bucht geraten, an der eine Hafenstadt lag. Er fand nicht wieder hinaus. Eine sanfte Strömung, die längs der Küste hinging, und ein stetiger Wind, der allnächtlich aus einem Gebirgstal hinter der Hafenstadt wehte, trieben ihn abwechselnd im Kreise. Zwischendurch lag er manchmal stundenlang, beinahe ohne sich zu bewegen, in gerader Richtung vor der 319
Hafeneinfahrt, gar nicht weit davon, so daß er durch ein Fernrohr deutlich zu sehen war. In der Stadt herrschte große Aufregung, denn unter diesem Himmelsstrich war ein Wal ein unbekanntes Meerwunder. Die ersten Fischerboote, die ihm begegnet waren, hatten sich mit vollen Segeln und leeren Netzen in den Hafen zurückgeflüchtet. Schreckensbleich hatten die Männer von dem gewaltigen Ungeheuer berichtet. Seitdem traute sich kein Fischer mehr hinaus. Ab und zu, wenn der Walfisch von dem Leuchtturm aus, der neben der Hafeneinfahrt stand, lange nicht mehr gesichtet worden war, wurden kühne Späher ausgesandt, doch sie kehrten jedesmal entsetzt heim und erzählten, wie sie mit genauer Not dem Ungeheuer entkommen seien. Kein Schiff lief mehr aus, kaum noch eines ein. Der Hafen war gesperrt. Die Erregung im Volke stieg. Aufruhr und Hungersnot drohten. Endlich entschloß sich der Statthalter, dem die Sorge für die Hafenstadt anvertraut war, einzugreifen. Er ließ den ihm unterstellten Admiral kommen und befahl ihm, mit der gesamten Kriegsflotte auszulaufen und das Meerungeheuer zu erlegen. Der kleine, rundliche Admiral rief seine Kapitäne zusammen und hielt mit ihnen Kriegsrat. Jeder der in Sturm und Wetter ergrauten Seebären machte einen tapferen Vorschlag, doch keiner fand Beifall. Alle atmeten auf, als ein älterer Mann eintrat, der in seiner Jugend als Matrose auf einem Walfischfänger gefahren war und seit einigen Jahren am Hafen eine Kneipe betrieb, die nicht recht ging. Der Mann behauptete, mit Walfischen umgehen 320
zu könnnen wie kein anderer, und erbot sich, dem Admiral bei dem kühnen Unternehmen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Der Vorschlag wurde mit Dank angenommen, und noch in der Nacht wurden unter Aufsicht des alten Matrosen zehn schwere, eiserne Harpunen geschmiedet. Am nächsten Vormittag sichtete man vom Leuchtturm aus den Wal. Sofort lief die Kriegsflotte aus. Es war ein stolzer Anblick, als die fünf dreirudrigen Galeeren und zehn kleinere Kriegsschiffe in langer Reihe den Hafen verließen. Einige unerschrockene Fischer segelten in ihren kleinen Booten hinterdrein, in der Hoffnung, sich durch Rettung Ertrinkender Belohnungen zu verdienen. Die Mole war schwarz von Menschen. Tücher wehten, Tränen rannen über blasse Gesichter, Seufzer und Flüche stiegen auf, Wetten wurden abgeschlossen. Auf dem offenen Umgang des Leuchtturms standen der Statthalter mit seiner Familie und die Spitzen der Behörden. Mit zitternden Händen riß man sich gegenseitig die Fernrohre von den Augen. Draußen machte sich die Kriegsflotte zum Kampfe bereit. Wie es der Schlachtplan war, kreisten die Schiffe das Ungeheuer von weitem an. Signale gingen zwischen ihnen hin und her, und der Admiral, der in großer Uniform mit dem Walfischjäger auf der Kommandobrücke seines Flaggschiffes stand, runzelte mehr als einmal die Stirn. Der Wal hatte eine Zeitlang hohe Wasserstrahlen entsendet, nun hatte er damit aufgehört und schwamm so ruhig seines Weges, daß er kaum vom Fleck kam. Der Walfischjäger setzte das Fernrohr ab und reichte es dem Admiral. »Er bläst nicht mehr«, sagte er. »Er hat uns 321
schon bemerkt, obwohl er uns das Schwanzende zukehrt. Das ist ein ganz hinterlistiges Vieh. Die Art kenne ich. Gerade die, die so tun, als könnten sie kein Wässerchen trüben, sind nachher die ungebärdigsten und ziehen ganze Schiffe auf den Grund.« Er blickte nach den drei Harpunen, die neben ihm lagen, nahm eine auf und wog sie in der Hand. »Schwer«, brummte er, »verdammt schwer. Eigentlich«, setzte er hinzu, »macht man das von einem großen Ruderboot aus, aber bei diesem Fisch, der so groß ist, wie ich noch keinen gesehen habe, möchte ich nicht dazu raten.« »Ich würde auch keinen meiner Leute nutzlos in den sicheren Tod schicken«, entgegnete der gutmütige Admiral, dem vor Aufregung der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Der Kreis um das Meerwunder wurde enger. Das schnelle Flaggschiff war den andern voraus. In dem alten Matrosen erwachten Jugenderinnerungen, und eine wilde Jagdlust packte ihn. »Vorwärts«, schrie er, »vorwärts! Legt euch in die Riemen, Jungen. Vorwärts!« Die Ruderer arbeiteten schneller. Der Walfischjäger gab dem Mann am Steuer die nötigen Winke, der sommersprossige Signalgast, der mit seinen Flaggen hinter dem Admiral stand, signalisierte nach allen Windrichtungen: »Klar zum Gefecht!« Und unter atemloser Spannung schoß das Flaggschiff von hinten auf den Walfisch zu. »Wenn ich ihn harpuniert habe«, sagte der Walfischjäger zu dem Admiral, »müssen wir so schnell wie möglich 322
wegrudern. Mit einem Schwanzschlag kann er unser ganzes Schiff zertrümmern.« »Wir müssen vorsichtig sein«, bestätigte der Admiral kopfnickend. »Vorsicht!« signalisierte der hinter ihm stehende Matrose. Der Bug des Schiffes hatte das Schwanzende des Ungeheuers erreicht. »Ruder weg!« befahl der Walfischjäger. Gehorsam legten sich die Ruder an die Schiffsplanken. Das Flaggschiff glitt so dicht neben dem Wal hin, daß es ihn fast streifte. Das Meerwunder rührte sich nicht. »Bst!« flüsterte der Walfischjäger dem Admiral ins Ohr und legte den Finger auf die Lippen. »Er schläft! Wir haben Glück. Leise. Ja nicht wecken.« »Leise sein!« signalisierte der Matrose den andern Schiffen zu. Der Walfischjäger nahm eine Harpune, schlich auf den Zehenspitzen an das äußerste Ende der Kommandobrücke, wo er über seiner Beute stand, und hob funkelnden Auges und zitternd vor Jagdeifer mit beiden Fäusten den schweren Spieß über seinem Haupt. »Warte, Bestie«, schrie er. »Wenn du aufwachst!« Wuchtig schleuderte er die Harpune hinab. Die Waffe verschwand in dem Rücken des Walfisches. Von drinnen hörte man einen lauten Krach und einen Aufschrei. »Abdrehen, abdrehen«, rief der Walfischjäger und winkte dem Mann am Steuerruder zu. »Auskratzen, auskratzen! Jetzt wird er gleich wild.« 323
»Jetzt wird er gleich wild«, wollte der Matrose signalisieren, brachte es aber in seiner Verwirrung nicht fertig. Das Schiff gehorchte dem Steuer und drehte sich. Schweißtriefend legten sich die Ruderknechte in die Riemen. »Schneller, schneller«, schrie der Walfischjäger, dem es plötzlich vor seiner eigenen Heldentat zu grausen schien. »Das Tau lang lassen, das Tau lang lassen!« Das am Ende der Harpune befestigte Tau hatte sich bei der Wendung des Schiffes irgendwo verknotet und straffte sich. Der Stiel der Harpune war wieder aus dem riesigen Rücken aufgetaucht, doch die Spitze mit dem starken Widerhaken saß in dem Fisch fest. Die Ruder des Flaggschiffes peitschten das schäumende Wasser, das Tau spannte sich immer straffer, zerrte und zerrte, der Wal legte sich etwas auf die Seite und schien sich zu bewegen. Der alte Walfischjäger schleuderte seine Mütze auf die Planken, trampelte auf ihr herum und raufte sich die Haare. »Wir sind verloren«, brüllte er, »wir sind verloren!« »Die Flotte soll eingreifen«, befahl der Admiral mit der kalten Ruhe der Todesverachtung. »Das Flaggschiff ist in Gefahr.« Der Matrose hinter ihm, der mit stieren Augen auf das schwarze Meerungeheuer gestarrt hatte, schrak auf und warf die Arme durch die Luft, daß sie ihm beinahe davonflogen. »Das Flaggschiff ist in Gefahr, das Flaggschiff ist in Gefahr!« signalisierte er den andern, inzwischen 324
herbeigekommenen Schiffen zu, die alle das Signal sofort weitergaben. Kunibert und der Kellner hatten, wie jeden Vormittag, ihren Walfisch fleißig spucken lassen und sich dann mit gutem Appetit zum Mittagessen gesetzt. Sie saßen in dem Gastraum des Fisches an einem der größeren Tische. Zwischen ihnen stand auf der rot und blau gewürfelten Decke eine lange Blechschüssel, in der ein Seelachs lag. Sie hatten sich eine gute Flasche geleistet und langten vergnügt zu. Plötzlich fuhr es wie ein Blitz durch die dunkle Decke über ihnen und schlug krachend durch den Seelachs, die Blechschüssel, das gewürfelte Tuch und die Tischplatte. Der Kellner stieß einen Schreckensschrei aus. Dann begriff er. »Wir sind harpuniert, wir sind harpuniert!« jubelte er und tanzte freudestrahlend um den Tisch herum. »Endlich, endlich!« »Ja«, sagte Kunibert, »es macht wirklich den Eindruck.« Das Tau, das mit der Harpune hereingeschossen war, spannte sich. Gläser, Flaschen und Teller rollten zu Boden. Der Tisch schwebte mit allem, was die Harpune festgespießt hatte, in die Luft und klebte gleich darauf an der Zimmerdecke. Kunibert und der Kellner blickten neugierig zu ihm auf. »Hoffentlich kommt nicht noch eine Harpune«, sagte Kunibert und lief nach seinem Helm. Der Kellner zitterte. »Noch eine Harpune? Zu Hilfe, zu Hilfe!« schrie er und rannte davon. Er stürzte in die Küche, band mit Windeseile ein Handtuch an einen Besenstiel, riß das Ofenrohr herunter, sprang auf die Herdplatte und 325
versuchte mit dem Handtuch zum Schornstein hinauszuwedeln. »Nicht schießen«, rief er, »nicht schießen! Wir ergeben uns.« Kunibert war zurückgekehrt und stand unter der Tür des Gastzimmers. Er sah, wie die Harpune an dem Tisch zerrte. Der Walfisch legte sich ein wenig • auf die Seite. Ab und zu ging ein Zittern durch seinen gewaltigen Körper. Auf einmal gab es einen Ruck. Die Rückenhaut war gerissen, das Tageslicht brach hell herein, der Tisch flog mit wehender Decke in den blauen Himmel empor. Auf dem Schiff, das uns harpuniert hat, wird man ziemlich überrascht sein, dachte Kunibert. Der Schwarze Walfisch lag wieder gerade und schaukelte zufrieden hin und her. Der alte Walfischjäger auf der Kommandobrücke hatte in seiner Aufregung nur gesehen, daß an der herausschnellenden Harpune etwas Großes, Blaurotes hing. »Das ist sein Herz«, triumphierte er. »Er war gleich tot, deswegen leben wir noch.« »Nein«, antwortete der Admiral, »das ist ein gedeckter Tisch. Soviel verstehe ich von Walfischen auch.« Der Tisch war aufrecht ins Wasser gefallen und wiegte sich mit seiner gewürfelten Decke und dem Seelachs einladend auf den Wellen. An Bord des Flaggschiffs brach ein schallendes Gelächter aus. Den Knechten fielen die Ruder aus den Fäusten, sie bogen sich und klatschten sich wiehernd auf die Schenkel. 326
»Immerhin«, sagte der Admiral, »ist es ein erstaunliches Ereignis, das aufgeklärt werden muß.« In dem Loch des Walfischrückens erschienen zwei Köpfe. Kunibert und der Kellner hatten Tische und Stühle aufeinandergetürmt und schauten hinaus, erstaunt über die Nähe der Küste und die vielen kriegerischen Schiffe. Nach einigem Hinundherrufen setzte das Flaggschiff ein Boot aus und holte die beiden an Bord, wo sie mit Fragen überschüttet wurden. »Gefecht abbrechen. Kurs nach der Heimat«, signalisierte der sommersprossige Matrose. Während Kunibert und der Kellner dem Admiral berichteten, nahm das Flaggschiff das erjagte Ungeheuer ins Schlepptau, und die ganze Flotte segelte nach Hause. Den ganzen Tag über herrschten in der Stadt ein noch nie dagewesener Jubel und laute Fröhlichkeit. Abends gab der Statthalter im Rathaus für Kunibert und den Kellner ein Fest, zu dem auch der alte Walfischjäger geladen war. Die Stimmung wurde immer lustiger. Schon vor Mitternacht hatte der Admiral mit Kunibert Brüderschaft getrunken. Der Kellner und der Walfischjäger beschlossen, zusammen am Hafen ein Hotel aufzumachen, und stritten sich nur noch darüber, wie es heißen solle. Der Kellner wollte den Namen »Der Schwarze Walfisch« beibehalten; der eigensinnige Seemann behauptete, »Das Meerwunder« würde mehr ziehen. Da der Statthalter das erbeutete Wundertier für den Staat erwerben wollte und dem Walfischjäger eine hohe Belohnung zugesichert worden war, fehlte es den beiden nicht an Geld. Dem Ritter schenkte die Stadt als Ehrengabe ein schönes Pferd. 327
Kunibert blieb noch einige Tage. Er schrieb einen Brief an Sonja, und der Admiral versprach, den Brief dem nächsten Schiff mitzugeben, das in der Richtung nach Marsilia führe. Kunibert hielt nach seinen Erfahrungen den Landweg für kürzer und sicherer, nahm Abschied von dem Kellner und ritt eines Morgens, das goldene Rasiermesser wohlverwahrt in der Brusttasche seines ledernen Wamses, frohgemut zum Tore hinaus.
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SIEBZEHNTES ABENTEUER DER WALD Weihnachtsbier Der Weg nach Marsilia war weit, und niemand kannte ihn genau. Der rundliche Admiral hatte seinem neuen Duzbruder Kunibert nur sagen können: »Reite gen Mitternacht. Soviel ich weiß, kommst du in einen dichten Wald. Wenn du auch wieder hinauskommst, ohne daß dich die wilden Tiere gefressen oder Räuber erschlagen haben, mußt du der untergehenden Sonne folgen. Irgendwo wirst du ein Gebirge sehen, das so hoch ist, daß seine Gipfel in den Himmel ragen. An die höchsten Spitzen stößt manchmal der Mond an, dann gibt es ein Erdbeben, und die Steine fliegen so weit umher, daß man sie sogar auf unseren Feldern findet. Glücklicherweise geschieht das selten. Am sichersten reist man immer zur See.« Da Kunibert auch unterwegs keine genauere Auskunft erlangen konnte, ritt er weiter nach Norden und verließ sich auf sein Glück. Auf langen Straßen und gewundenen Wegen zog er durch Felder und Wälder, durch Städte und Dörfer, über grüne Berge und kahle Höhen, über klare Flüsse und reißende Ströme. Je weiter er nordwärts kam, desto stiller wurde die Landschaft, desto karger wurden die Felder. Es ward Herbst, und es ward Winter, und endlich kam auch der tiefe Wald, den ihm der Admiral versprochen hatte.
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Kunibert ritt zwischen den düsteren Tannen hin. Es schneite. Nur wenige Flocken fanden den Weg durch die dichten Äste; die meisten blieben darauf liegen. Manchmal, wenn ein großer Vogel aufflog oder der Wind sausend durch die Wipfel fuhr, stäubte es weiß hernieder. Schwer hing der graue Himmel über den Spitzen der Bäume. Die Tage waren kurz. Ab und zu stieß Kunibert auf ein Dorf, das mitten auf einer gerodeten Lichtung zwischen stummen, beschneiten Feldern lag; meist mußte er bei Köhlern, Jägern oder Holzfällern übernachten, manchmal auch im Freien, unter einer großen Tanne oder in einer engen Felsschlucht, in der herabgestürzte Stämme ein Dach gebildet hatten. Es war Abend. Kunibert ritt durch tiefes Dunkel. Nur die dünne Schneedecke schimmerte blaß. Der Wald schwieg. Kunibert hörte kaum die gedämpften Tritte seines Pferdes. Kein Stern blitzte durch die Zweige. Der Ritter trieb sein müdes Pferd vorwärts, denn ein Jäger hatte ihm versichert, daß er noch vor Mitternacht ein großes Dorf erreichen könne. Ein Klang kam durch das Schweigen. Noch einer. Kunibert horchte auf. Bim – bam, bim – bam. Glocken. Die Töne schienen aus der Richtung zu kommen, in der das Dorf liegen sollte. Der Jäger hatte also recht gehabt. Doch wer läutete so spät noch die Glocken? Unwillkürlich hielt der Ritter sein Pferd an. Er überlegte, rechnete die Tage nach. »Weihnachten«, murmelte er betroffen vor sich hin. »Weihnachten!«
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Im Weiterreiten suchte er sich zu erinnern, wie lange er keinen Weihnachtsbaum gesehen habe. Er dachte an Scharfenstein, an Mutter Schute, an die kleinen Tannen aus dem Burgwald, die die Mutter mit Kerzen, vergoldeten Äpfeln und Nüssen geschmückt hatte, an Steckenpferde, von des Vaters altem Knappen geschnitzt, an bunte Holztiere, Knarren und Lebkuchenmänner, Pfeffernüsse und Weihnachtskuchen. Die kalte Dorfkirche fiel ihm ein, der dünne Gesang, die spärlichen Lichter und der Hauch, der wie Dampf von des Pfarrers Mund gegangen war, das dicke wollene Halstuch, das Mutter Schute ihm immer so fest umgewickelt, und ihr schwerer Fußsack, den er hatte tragen müssen. Dunkel entsann er sich des Vaters, des ersten hölzernen Schwertes, das ihm der Vater geschnitzt, und der Heldentaten, die er damit in der Burg und im Walde vollbracht hatte. Die Drachen, Riesen und Zwerge und die feindlichen Ritter waren unzählig gewesen, doch das hölzerne Schwert hatte merkwürdig lange gehalten. Wie mochte es jetzt auf Scharfenstein und in Marsilia aussehen? Zu seiner Rechten blitzte unter den Zweigen her ein Licht auf, verschwand und kam wieder. Kunibert fürchtete, den Weg zum Dorf verfehlt zu haben, und lenkte auf das Licht zu. Anfangs ging es ganz gut, bald aber geriet er in dichtes Unterholz und fand nicht wieder hinaus. Das Licht war verschwunden. Er stieg ab und klopfte dem Pferd auf die Kruppe. »Warte ein bißchen, ich will uns einen Weg suchen«, sagte er und drängte sich durch das Gebüsch. Das Unterholz hörte auf; er erblickte das Licht wieder, und 331
zwar so nah, daß er beschloß, erst hinzugehen und dann mit einem Wegkundigen das Pferd zu holen. Er ging weiter und sah, daß der Lichtschein nicht aus einem Hause kam. Unter den breiten Ästen einer riesigen Tanne entdeckte er den dunkeln Umriß eines alten Weibes, das auf einem Baumstumpf kauerte, die Ellbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände gestützt. Sie starrte geradeaus, über eine Kerze hin, die auf einem vor ihr liegenden, krummen Tannenast brannte. Von der Kerze ging ein seltsam starker Schein aus und eine wohltuende Wärme, die Kunibert anzog. Rings um die Alte her war kein Schnee, sondern grünes, weiches Moos. Das Weib hob den Kopf. Kunibert erschrak. So häßlich dürfte selbst die ärgste Hexe nicht sein, dachte er. Unter dem Kopftuch hingen der Alten ein paar struppige weiße Strähnen in das knochige Gesicht, das aussah wie mit altem, rissigem Leder überzogen. Auf einem Auge war sie blind, das andere triefte und war blutunterlaufen. Ihre Hakennase reichte beinah bis zum Kinn und trug eine dicke Warze, von der lange, boshafte Borsten aufstarrten, und ihre wulstige Unterlippe hing schief herunter. Die Hexe sah dem Ritter mit bösem Blick entgegen, ballte ihre krummen Krallenfinger und schüttelte die Faust. »Was willst du hier?« fuhr sie ihn an. »Dein Licht hat mich hergelockt«, antwortete Kunibert näherkommend. »Feierst du hier Weihnachten?« »Nicht mit dir«, fauchte die Hexe. »Bleib stehen! Tritt mir nicht meine Gäste tot mit deinen klotzigen Eisenschuhen, du Tolpatsch.« 332
»Deine Gäste?« Kunibert blickte sich erstaunt um und bemerkte vor der Alten, auf der andern Seite der Kerze, ein paar Tiere: einen abgemagerten Fuchs, einen Raben, einen Frosch und ein mißgestaltetes kleines Ding, das eine Maus sein konnte. Der Fuchs fraß an einer gerupften Gans. Auch die andern Tiere fraßen. Kunibert konnte nicht recht sehen, was. Keines ließ sich stören. Neben dem Fressen stand vor jedem Tier ein Scherben mit einer dunkeln, klaren Flüssigkeit, in der der Widerschein der Weihnachtskerze funkelte. Der Fuchs, dem die Rippen herausstanden, würgte gierig die Fleischbrocken hinunter; das Beißen wurde ihm sichtlich schwer. Kunibert sah, daß er nur noch ein paar Zähne in der Schnauze hatte. Außerdem fehlte ihm ein Vorderbein, sein Fell war zerzaust und stellenweise kahl. Mit dem Raben schien es nicht viel besser zu stehen. Ein Flügel hing ihm leblos herab, an Kopf und Hals hatte er kaum – noch Federn, und sein linkes Bein taugte wohl auch nicht mehr viel, denn er hockte ganz schief da. Das kleine braungraue Wesen war eine verkrüppelte Waldmaus, und der Frosch hatte keine Hinterbeine mehr. »Dem hochgeborenen Herrn Ritter gefallen meine Gäste wohl nicht?« höhnte die Alte giftig. »Ja, es wird nicht jeder als Ritter geboren und kann mit Schwert und Eisenpanzer herumlaufen und edel sein. Nein, merk dir das, du Gelbschnabel, nicht jeder. Sieh sie dir nur an. Meister Reineke da, der hat in der Falle gesessen. Den Raben hat eine Wildkatze in den Krallen gehabt und die Maus ein Rabe. Vielleicht derselbe. Weiß ich es? Dem Frosch hat ein Dorfbub die Beine ausgerissen, einer von deiner Brut! 333
Aber dafür haben sie mir die Gans lassen müssen und noch mancherlei. Hei«, krächzte sie, »wenn sie das wüßten, wie sie zetern würden über die böse Hexe.« »Ich finde, du bist eine ganz gute Hexe«, sagte Kunibert. Die Alte kicherte, und ihr Auge funkelte boshaft. »Geh nur umher«, schnarrte sie, »geh durch den ganzen Wald und frage, wo du willst. Jeder verwünscht mich. Heissa – jeder!« Sie schlug sich mit den Händen auf die Knie. Die Waldmaus piepste kümmerlich. Kunibert blickte hin. Das Tier war ungeschickt gewesen, hatte einige Brocken beiseite gestoßen und konnte sie nicht wiederfinden. Der Ritter bückte sich. Die Maus war blind. Sorgsam schob ihr Kunibert die weggerollten Stücke vor die Schnauze und richtete sich kopfschüttelnd wieder auf. »Ich weiß, was du denkst«, keifte die Hexe. »Ich weiß, daß du denkst, ich täte besser, das ganze Viehzeug da totzuschlagen.« »Nein«, antwortete Kunibert nachdenklich. Er sah zu, wie die Tiere mit Behagen fraßen und tranken. Der Frosch zog sich mit den Vorderbeinen zu seinem Trinkscherben hin und glotzte dabei zu dem Ritter auf. »Nein«, murmelte Kunibert noch einmal. Die Hexe sah ihn scharf an. »Dann bist du keiner von den Neunmalklugen?« zischte sie. »Keiner von den Neunmalklugen, die immer alles in Ordnung bringen müssen? Ich habe nicht mit dem Schöpfer im Rat gesessen. Ich nicht. Nein. Sonst –.« Sie lachte. Kunibert mußte an ein scharfes, schartiges Messer denken. »Ich weiß nicht«, fuhr die Alte fort, »was aus denen da wird, wenn sie nicht mehr 334
leben, aber ich weiß, daß ihnen heute das Fressen schmeckt und mein Weihnachtsbier erst recht.« »So, ist das Weihnachtsbier?« fragte Kunibert. »Braust du es selbst?« Die Hexe lüftete das durchlöcherte Tuch, das sie umgehängt hatte, und wies auf eine Kruke, die in ihrem Schoß lag. Kunibert schaute flüchtig hin. Sein Blick blieb bei den Tieren, die in dem warmen Kerzenschein immer mehr auflebten. Besonders jeder Schluck des dunkeln, funkelnden Getränks schien ihnen wohlzutun. Sie waren mit dem Fressen fast fertig, nur der Fuchs biß noch mühsam an der Gans herum. »Woraus braust du dein Weihnachtsbier?« fragte Kunibert die Alte. Sie blieb stumm. »Ist es ein Geheimnis?« sagte der Ritter lächelnd. »Ich habe dir geantwortet, woraus ich es braue«, zischelte die Hexe. »Aus Schweigen. Aus tausendjährigem Schweigen.« »Wo findest du das?« »Weit von hier«, erwiderte sie. »Weit. Aber ich bin ja auch kein Ritter, der sich auf einem lahmen Gaul durch die Welt plagen muß.« Kunibert sah noch immer versonnen den Tieren zu. Er hockte sich nieder, um ihnen näher zu sein. Gelegentlich blickte eines zu ihm hin. Jetzt waren sie ihm schon ganz bekannt, fast schien es ihm, als ob er mit ihnen sprechen 335
könne. Nach kurzer Zeit hatten sie, mit Ausnahme des Fuchses, nichts mehr vor sich im Moose liegen. Vielleicht war die Mahlzeit nicht so reichlich gewesen, denn der Frosch und der Rabe blickten erwartungsvoll zu der Hexe auf, und die blinde Waldmaus schnüffelte suchend umher. Kunibert nahm seinen Schnappsack, in dem noch etwas Mundvorrat war, legte der Maus ein Stück gebratenen Speck hin und schüttete den Rest vor der Alten aus. Sie warf dem Frosch und dem Raben ein paar Brocken hinüber. Der Fuchs schoß ihr einen kurzen Seitenblick zu und zerrte hastig ein Stück von dem Gänsegerippe. »Möchtest du mein Weihnachtsbier kosten?« fragte die Hexe lauernd den Ritter. Er sah sie erstaunt an. Sie reichte ihm den offenen Krug, aus dem ein wundervoller, würziger Duft stieg. Kunibert zögerte. Er bemerkte, daß die Tiere zu ihm aufblickten. Sogar die Maus hatte den Kopf gehoben. Er setzte den Krug an die Lippen und trank. Das Getränk war stark und mild zugleich und durchwärmte ihn wohltätig. Er glaubte zu spüren, daß aus der Erde Leben in ihn aufsteige. Die Hexe schaute grinsend zu. Immer noch blickten ihn die Tiere an. Er sah ihnen in die Augen und meinte, darin lesen zu können. Sie waren ihm so nahe. Er empfand sie nicht mehr als fremde Wesen und wußte auf einmal, daß er sie verstand. Ob es ihre Laute, ihre Blicke, ihr Ausdruck, ihre Bewegungen seien, wußte er nicht, doch er verstand, was sie wollten und fühlten, und empfand das, was von ihnen zu ihm herkam, als Worte einer Sprache. Er blickte sich um. Die Welt sah anders aus. Der goldene Lichtschein war stärker geworden. Traumhaft hoch standen die Bäume über 336
ihm wie ein riesiger Dom. Er sah die Tiere nicht mehr so klein. Er empfand keinen Unterschied der Größe mehr zwischen sich, dem Fuchs, dem Raben, dem Frosch, der Maus und der Hexe. Etwas Dunkles hatte sich in den Lichtschein geschoben, etwas, das sich bewegte, aber kaum vom Fleck kam, ein Tier. Es war ein Dachs. »Na, Faulpelz«, rief die Hexe. »Kommst du mal wieder zu spät?« Der Dachs knurrte unzufrieden. »Ich kann doch nicht mehr laufen, seit der Baum auf mich gefallen ist und mich halb zerdrückt hat«, verstand Kunibert. Die Alte brachte einen kleinen Sack zum Vorschein, schüttete dem Dachs Fressen vor, tat den Rest von Kuniberts Mundvorrat dazu und stellte ihm eine Schale mit ihrem Weihnachtsbier hin. »Danke«, knurrte der Dachs. »Schade, daß du das nur einmal im Jahre tust.« »Ich habe nur diese Nacht, du alte Schlafmütze«, antwortete die Hexe kurz. Der goldene Lichtschein umgab Kunibert wie eine Woge und wiegte ihn. Die Alte beugte sich zu ihm. »Das kommt davon, wenn man sich mit Hexen einläßt«, flüsterte sie, »aber du wirst mir noch dankbar sein.« Merkwürdig, daß das Moos so hoch ist, dachte Kunibert. Er war so verwirrt, daß er sich nicht zurechtfinden konnte, aber er bemühte sich auch nicht darum; tief in ihm lag eine große, wohltätige Ruhe. Es war still. Das Schweigen des 337
Waldes kam zu ihm wie eine stumme Musik und war so vertraut. Er hörte die Hexe sprechen. Ihre Stimme hatte nichts Hämisches und Böses mehr. »So«, sagte sie, »nun kommt das Beste.« Sie erhob sich, reckte die Hände weit aus und wuchs zu unheimlicher Größe auf. »Taucht unter –«, raunte sie. Kunibert sah, daß der Fuchs die Schnauze auf seine Vorderpfote legte. Der Rabe steckte den Kopf unter den Flügel, der Frosch schloß die Augen, die kleine Waldmaus kuschelte sich in das Moos. Der Dachs versuchte, sich zusammenzurollen, und ließ sich auf die Seite fallen. Kunibert fühlte, daß seine Glieder sich lösten und seine Brust leicht und weit wurde, als ob er mit dem Atem des ganzen Waldes atme. »Vergeßt«, raunte die Hexe, und ihre Stimme wurde immer leiser. »Vergeßt! Taucht unter in die Nacht, in die Heimat. Holt euch Kraft und Erinnerung. Trinkt aus der Quelle. Schlummert –.« Frühling Kunibert erwachte in einer dämmerigen Höhle. Ein Stück vor ihm drang das Tageslicht durch ein schräges Loch herab. Er lag auf einem Lager aus weichem Moos. Neben ihm schnarchte jemand. Er richtete sich auf, konnte aber nur etwas Schwarzes, Rundliches erkennen und streckte neugierig die Hand aus. Rasch zog er sie wieder zurück, denn sein Nachbar war sehr stachlig. Die dunkle Kugel bewegte sich, eine spitze Schnauze erschien, und darüber blinkten zwei schwarze Äuglein. 338
»Bist du aufgewacht?« fragte der Igel. »Du schnarchst ja so«, antwortete Kunibert. »Schnarch selbst«, knurrte der Igel und rollte sich wieder zusammen, um weiterzuschlafen. Kunibert erhob sich und ging auf den Ausgang der Höhle zu. Der Igel gähnte. »Wenn du Hunger hast«, brummte er, »geh in die Vorratskammer. Dort liegen Äpfel.« »Das wäre kein schlechter Gedanke«, erwiderte Kunibert und blickte sich suchend um. Der Igel kam von seinem Lager herunter. »Ich werde dir den Weg zeigen«, sagte er und reckte sich. »Komm mit.« Er lief voraus. Kunibert folgte ihm durch einen dunkeln Gang in einen schwach erhellten Raum, wo sich zwischen andern Vorräten eine ganze Herde Äpfel ausbreitete. »Nimm dir, soviel du magst«, sagte der Igel. Kunibert nahm ein paar Äpfel auf. »Himmel, bist du ungeschickt«, rief der Igel. »Schau her.« Er kugelte sich mit einem raschen Purzelbaum über die Äpfel hin, und als er wieder auf den Füßen stand, hatte sich eine Menge davon auf seine Stachel gespießt. »So macht man das«, erklärte er, trottete in die Höhle zurück und streifte die Äpfel an einer hervorstehenden Wurzel ab. Einige stieß er zu dem Mooslager hin; einen nahm er in die Schnauze und zog sich auf seine Schlafstätte zurück. »Nun wollen wir schmausen«, knurrte er behaglich.
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Kunibert spaltete mit seinem Schwert zwei große Äpfel und hielt eine Mahlzeit, die ihn sättigte. »Ich werde jetzt ausgehen«, sagte er, als er fertig war. »Tu das«, erwiderte der Igel. »Ich mache meinen Spaziergang abends.« Er schnüffelte nach dem Ausgang hin. »Die meisten im Walde sind schon wach«, fuhr er fort, »aber für den Bären bist du ein zu kleiner Happen, und die andern tun dir nichts. Also geh getrost. Nur merke dir den Rückweg, wenn du wiederkommen willst.« »Wenn du erlaubst«, sagte Kunibert höflich. »Pah –«, schmatzte der Igel mit vollem Maul. »Auf Wiedersehen.« Kunibert stieg den schrägen Ausgang hinan. »Nimm dich vor Pomponius in acht«, rief ihm der Igel nach. »Wer ist Pomponius?« fragte Kunibert, konnte aber die Antwort nicht verstehen, da der Igel gerade herzhaft in einen Apfel gebissen hatte. Draußen schien die Sonne hell und warm. Die Luft war wie junger Wein, herb und würzig. Es roch nach Erde. Durch die Äste schien ein blanker Frühlingshimmel, blau mit blendend weißen Wolken. Kunibert sah, daß die Höhle, aus der er kam, unter den Wurzeln einer großen Eiche lag. Ringsumher standen Laubbäume, zwischen denen einzelne Tannen wuchsen. Die Eiche war noch kahl, aber die andern Bäume trieben schon grüne Knospen und Blätter.
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»Guten Morgen«, hämmerte über ihm ein Specht. »Guten Morgen! Bist du endlich aufgewacht?« »Guten Morgen!« antwortete Kunibert fröhlich. Er blickte zu den Wipfeln auf. »Wie können Bäume so unermeßlich hoch sein?« murmelte er vor sich hin. »Du bist wohl vom Mond gefallen?« rief ihm eine Bachstelze zu, die sich im Fluge vorüberschwang. »Ungefähr so ist es«, erwiderte Kunibert und ging in den Wald hinein. Das Moos zwischen den Bäumen war grün und frisch, dünne Gräser und zarte Kräuter sproßten, Anemonen blühten, und auch andere kleine Blumen wurden schon bunt. Überall war Freude und Emsigkeit. Vögel flogen von Baum zu Baum, hüpften umher, schlüpften ins Gebüsch oder zwischen schützende Äste, bauten an ihren Nestern oder saßen auf biegsamen Zweigen und sangen ihre Freude hell hinaus. In der Luft schwirrte es von Käfern und anderem geflügelten Getier, über die Erde, über Stengel und Halme krochen oder liefen unzählige winzige Tierchen von verschiedenster Gestalt, mehr als Kunibert je gesehen hatte. Daß es so viele gibt, dachte er, so unendlich viele. »Aber keines ist so schön wie ich«, frohlockte ein früher Schmetterling, der vor ihm hinflatterte. »Wir sind wie fliegende Blumen.« »Findest du nicht, daß der Schmetterling sehr eingebildet ist?« flüsterte eine kleine Anemone zu Kunibert auf. »Möchtest du gern fliegen können?« fragte Kunibert. 341
»Laß ihn prahlen«, raunte die große Buche, unter der die Anemone wuchs, und wiegte ihre kleinen hellgrünen Blätter in dem linden Wind. »Er kann auch nur hier oder dort sein, und er hat gar keine Wurzeln.« Kuniberts Herz war froh und leicht. Vergnügt pfiff er im Wandern vor sich hin. Ein Eichhörnchen kam von einem Baum herabgesprungen, blieb aufrecht vor ihm sitzen und musterte ihn. »Wer bist du eigentlich?« fragte es neugierig. »Laß dich mal ein bißchen besehen. Woher kommst du? Wohin gehörst du?« »Ich bin auf der Reise«, antwortete Kunibert, »aber seit ich hier angekommen bin, und das war mitten im Winter, wohne ich bei dem Igel unter der großen Eiche.« Das Eichhörnchen wich ein wenig zurück. »Auf der Reise?« sagte es naserümpfend. »Du bist weder eine Wanderratte noch ein Zugvogel, nicht wahr? Und keine eigene Wohnung? Weißt du, mit unsicheren Leuten gebe ich mich eigentlich nicht gern ab.« »Nun, so schlimm ist es nicht«, wandte Kunibert beruhigend ein. »Du kannst dich ruhig mit mir unterhalten.« »Möglich«, entgegnete das Eichhörnchen. »Schließlich hat ja auch die Hexe mit dir Weihnachtsbier getrunken.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß alles, was im Walde vorgeht«, erwiderte das Eichhörnchen eifrig. »Alles. Die Elster bildet sich ein, sie wisse noch mehr, doch das ist nicht wahr. Ich erfahre alles zuerst. Nur, ich schwatze nicht so viel.« 342
»Wirklich nicht?« sagte Kunibert. Ihm fiel etwas ein, und er mußte lachen. »Kannst du bellen?« fragte er. Jetzt lachte das Eichhörnchen, und zwar so, daß es sich mit seinen Vorderpfötchen den Bauch halten mußte. »Bellen?« rief es. »Das hat mich noch niemand gefragt. Weißt du nicht, daß bloß die Hunde bellen, weil sie sich den Menschen verkauft haben und deswegen so wichtig tun müssen, damit wir sie noch beachten? Füchse sprechen ganz anders. Nein, ein Eichhörnchen und bellen! Mein Lieber, mein Lieber –!« »Ich habe Eichhörnchen gekannt, die bellten«, widersprach Kunibert und erzählte von der Oase und den braven Palmhörnchen. Die Augen des Eichhörnchens wurden beim Zuhören immer runder und blanker. Es konnte kaum stillsitzen und zappelte von einem Fuß auf den andern. »Danke«, sagte es, als Kunibert fertig war. »Das war eine schöne Geschichte. Danke, danke!« Geschwind lief es am nächsten Baum hinauf. »Wenn du so gut im Walde Bescheid weißt«, rief Kunibert hinterher, »dann sag mir noch: wer ist Pomponius?« Das Eichhörnchen machte am Stamme halt und drehte den Kopf zurück. »Von dem alten Wichtikus will ich nichts wissen«, antwortete es nach kurzem Besinnen und lief eilig weiter. Kunibert sah, daß sich in der Ferne der Wald lichtete, und schlug die Richtung dorthin ein. Ehe er den Waldrand
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erreichte, kam er an einen Bach. Er ging an dem grünen Ufer hin. »Heda!« quakte ein großer grüner Frosch, der im Grase saß. »Bist du noch hier? Das freut mich. Mein Onkel ohne Hinterbeine hat mir von dir erzählt.« »Wie geht es ihm?« erkundigte sich Kunibert. »Danke, soso«, erwiderte der Frosch. »Die Tante fängt ihm Fliegen. Nimm dich übrigens in acht. Dort unten wohnt eine Ringelnatter.« »Ich habe keine Angst vor Ringelnattern«, entgegnete Kunibert. »Na, dann hüpf weiter«, quakte der Frosch gleichmütig. »So hüpfen wie du kann ich nicht«, versetzte Kunibert. »Merkwürdig«, sagte der Frosch. »Du hast doch ebenso lange Hinterbeine.« Er sprang hoch in die Luft und schnappte eine Fliege. »Das kannst du wohl auch nicht?« fragte er, während er seine Beute hinunterwürgte. »Ich habe es wirklich noch nicht versucht«, erklärte Kunibert. Der Frosch schluckte und verdrehte dabei eifrig die Augen. Kunibert ging weiter. Zwischen dem Waldrand und Äckern, auf denen schon zartes Grün stand, lief ein breiter Feldweg hin. Kunibert überquerte ihn, stellte sich auf einen Maulwurfhaufen und blickte in die Ferne. Weit drüben lag ein Dorf. Hinter ihm erzitterte der Boden von dröhnenden Schritten. Er drehte sich um. Ein Riese kam des Weges. Er war wie ein Bauer gekleidet und trug eine Axt auf der Schulter. Nun fing er 344
auch noch an zu singen. Seine Stimme war so mächtig, daß Kunibert die Ohren schmerzten. Der Riese näherte sich rasch. Kunibert sah entsetzt zu ihm auf und griff nach seinem Schwert. Auf einmal packten ihn zwei weiche, starke Pfoten und zogen ihn in die Erde hinunter. Schollen prasselten hinter ihm drein. Draußen dröhnten die gewaltigen Schritte vorüber. Der Maulwurf ließ Kunibert los und schaufelte schnell die heruntergestürzte Erde weg. »Du scheinst ein bißchen blöde zu sein«, sagte er. »Wenn ich dich nicht gerettet hätte, wäre es jetzt aus mit dir. Den Bauern ist nicht zu trauen. Plötzlich schlagen sie mit einem Spaten oder einer Hacke zu, und dann ist es meist zu spät, davonzulaufen.« »Danke«, erwiderte Kunibert. »Ich habe nicht gewußt, daß Bauern so gefährlich sind.« »Du lebst wohl in der Wildnis?« fragte der Maulwurf. »Ich wohne bei dem Igel unter der großen Eiche«, antwortete Kunibert. »Igel haben Stacheln«, sagte der Maulwurf mißbilligend. »Dich stört es vielleicht nicht, denn du hast eine harte Schale. Bist du mit den Krebsen verwandt?« »Meines Wissens nicht«, entgegnete Kunibert. »Sag mal, war der Riese vorhin Pomponius?« »Kein Gedanke«, sagte der Maulwurf. »Das war doch ein Bauer. Pomponius ist längst nicht so groß und wohnt tief im Walde.« »Kennst du ihn?«
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»Nein, ich weiß nur, daß er sehr eingebildet ist, vor allem auf seine Perücke, und daß er eine dicke Eichenkeule hat, vor der man sich in acht nehmen muß.« »Der Igel hat mich vor ihm gewarnt«, erzählte Kunibert. Der Maulwurf nickte. »Man soll überhaupt nicht im Walde leben«, erklärte er. »Du glaubst nicht, wie fett hier die Regenwürmer sind. Magst du einen?« »Wozu?« fragte Kunibert verblüfft. Der Maulwurf legte seine große Pfote gedankenvoll auf den Kopf und verfiel in tiefes Sinnen. »Er fragt: wozu?« murmelte er verstört. »Er fragt: wozu? Weißt du was?« sagte er dann. »Geh wieder in deinen Wald. Da paßt du besser hin. Ich werde nachsehen, ob die Luft rein ist.« Er steckte die Nase aus dem eingestürzten Erdhaufen hinaus. »Lauf«, flüsterte er. »Lauf schnell hinüber. Über Wege muß man immer so rasch wie möglich laufen«, setzte er belehrend hinzu. »Danke«, sagte Kunibert. »Leb wohl.« Der Maulwurf hielt ihn zurück. »Ißt du wirklich nicht gern Regenwürmer?« fragte er ungläubig. »Nein«, versicherte Kunibert. »Lieber nicht.« »Geh in deine Wildnis«, brummte der Maulwurf vorwurfsvoll und verschwand in seinem Loch. Kunibert konnte den Rückweg zu der großen Eiche nicht finden, und je mehr er suchte, desto mehr verirrte er sich. Er fragte ein Wiesel nach dem Weg, doch das Wiesel hatte keine Zeit, ihm zu antworten, denn es war auf der Jagd. Andere Tiere gaben ihm freundlich Auskunft, aber Kunibert konnte mit ihren Beschreibungen nichts 346
anfangen. Da hieß es zum Beispiel: »Von der Stelle, wo neulich die beiden Hamster gerauft haben, gehst du bis zur Kreuzschnabeltanne und von dort über die Königskerzenwiese bis zu dem dicken Buchfinken. Dann ist es nicht mehr weit.« Kunibert hätte nicht wieder zu dem Igel zurückgefunden, wenn sich nicht eine Meise seiner angenommen hätte und von Baum zu Baum vor ihm hingeflogen wäre. »Das macht gar nichts«, sagte die Meise. »Das tue ich sehr gern. Ich bin im Nu wieder zu Hause, schneller als du über die kleine Lichtung dort gehst.« Es war schon Abend, als Kunibert schließlich die Eiche erreichte. Der Igel war ausgegangen. Er war meist abends unterwegs und kam gewöhnlich sehr spät heim, denn die Nächte waren schon mild. Tag für Tag wurde es wärmer. Ein Wachsen und Blühen hob an, das den ganzen Wald verwandelte und Kunibert verwirrte wie ein Wunder. Die Blätter wuchsen und wuchsen unaufhörlich, das Laub der Bäume wurde aus einem zarten Schleier zu dichten Massen, Gräser und Kräuter sprossen vor seinen Augen auf, und mehr und mehr und ohne Ende entkeimten der Erde neue, grüne Triebe. Überall öffneten sich Knospen und wurden zu Blumen, zahllos, unermeßlich viele. Es sang, flatterte und zwitscherte in den Zweigen, raschelte und raspelte in den Büschen, summte, surrte und zirpte in der warmen Luft um Stauden und Blüten. Über Wurzeln und Moos wimmelte unzähliges kleines Getier. Ein feines Duften und Brausen zog durch den Wald, kaum vernehmbar wisperten darein die Blätter und rauschten die Zweige. Das dichte, warme 347
Leben umdrängte Kunibert, als wolle es über ihm zusammenschlagen, doch es ließ sich tragen von der leuchtenden Freude, in der die Erde an jedem Morgen erstrahlte, und lebte mit allem ringsumher wie mitten in einem Fest. Der Igel nahm es ruhiger. Er war ein gemütlicher, alter Junggeselle und liebte die Ordnung. Kunibert begleitete ihn zuweilen auf seinen Abendgängen. Anfangs fand er sich schwer zurecht in der schweigenden Finsternis, in der es plötzlich geheimnisvoll raschelte oder knackte und durch die hie und da unkenntliche Schatten glitten. Der Igel gab gut acht auf ihn, denn Kunibert kam weder so schnell noch so leise vorwärts wie er. »Es muß schrecklich langweilig sein, wenn man sein ganzes Leben auf zwei Beinen herumlaufen muß«, sagte der Igel. »Man gewöhnt sich daran«, antwortete Kunibert. »Na«, brummte der Igel, »nimm's nicht übel, kümmerlich bleibt's immer.« Eines Morgens erschienen ein paar Eichhörnchen vor der Höhle und riefen nach Kunibert. Als er herauskam, sagte eines der Eichkätzchen zu ihm: »Du hast mir neulich so schön von den Palmhörnchen erzählt. Die andern Eichhörnchen möchten die Geschichte auch gern hören, denn davon wissen selbst die Zugvögel nichts, die doch große Reisen machen. Würdest du nicht so gut sein und es uns noch einmal erzählen? Wir könnten alle heute abend herkommen.« »Gern«, antwortete Kunibert. »Kommt nur.« 348
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang kamen die Eichhörnchen, rote und schwarze, von fern und nah und von allen Seiten herbei. Die meisten hockten sich im Halbkreis um Kunibert, der auf einer Wurzel saß, ins Gras, andere kletterten in die untersten Äste der Eiche, die sich gefällig herabbogen, alle blieben möglichst nahe, um besser zu hören, denn sie waren sehr neugierig. Kunibert fing an zu erzählen. Der Igel streckte den Kopf aus der Höhle, hörte zu und rieb sich dabei behaglich mit der Pfote die Schnauze. Er war nicht der einzige Zuhörer außer den Eichhörnchen, deren Herbeilaufen im Walde Aufsehen erregt hatte. Immer mehr Tiere erschienen und näherten sich lauschend der Eiche. Als Kunibert zu Ende erzählt hatte, waren die Äste der Bäume ringsumher schwer von Vögeln, die sich auf ihnen drängten. Hinter ihm lugte ein Reh vorsichtig um den dicken Stamm. Er schwieg. »Danke«, riefen die Eichhörnchen stolz. »Danke!« »Nein«, gurrte eine Waldtaube, »nun habe ich nur das Ende der Geschichte gehört. Die Eichhörnchen hätten uns das früher sagen können.« »Das finde ich auch«, fauchte ein Marder, der sich nicht an die Eichkätzchen herantraute, weil es so viele waren. »Fang noch mal von vorn an«, pfiff ein aufgeplusterter Dompfaff und blinzelte mit den Augen. »Was bildest du dir ein?« widersprach der Igel entrüstet. »Wie oft soll er denn erzählen?«
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»Freilich, du kennst die Geschichte schon«, piepte eine Maus aus ihrem Loch im Gebüsch hervor. »Das kann ich mir denken.« »Natürlich«, antwortete der Igel selbstzufrieden. »Bei mir wohnt er ja.« »Ach was«, grunzte ein Wildeber, der auch zu spät gekommen war, »das ist ganz einfach. Er hat gewiß viel erlebt und noch mehr zu erzählen. Morgen kommen wir alle wieder. Hier sind genug Vögel, die es im Walde bekanntmachen können, und wer dann nicht kommt, ist selbst daran schuld.« Sein Vorschlag fand allgemeinen Beifall, und der Eber trottete stolz seiner Wege. Die Vögel rauschten aus den Zweigen auf und flogen nach allen Richtungen davon. Am nächsten Abend, lange vor Sonnenuntergang, kamen die Tiere des Waldes zu Kuniberts Eiche. Die ersten waren die Vögel, die eifrig durch die Zweige flogen und sich ihre schwankenden Plätze suchten. Nur die untersten Äste über Kunibert ließen sich die Eichhörnchen nicht nehmen. Auch die andern Tiere kamen eilig herbei, um nichts zu versäumen. Füchse steckten die Köpfe aus dem Gebüsch, einige Dachse trotteten murrend von verschiedenen Seiten herbei. Marder und Wiesel schlüpften durch die Stauden, eine Wildkatze schlich lautlos heran, sogar ein paar ungesellige Hamster erschienen. Vorsichtig hüpften die Hasen herzu und blieben mit gespitzten Ohren erwartungsvoll sitzen. Rudel von Hirschen und Rehen zogen heran, Wildschweine drängten sich durch die knackenden Äste, und es war gut, daß viel Raum unter den Bäumen um Kuniberts Eiche war. Auch die kleinen Tiere fehlten nicht. 350
Frösche und Kröten hüpften durchs Gras und blickten scheu nach einer Ringelnatter hin, die unter breiten Blättern lag. Glitzernde Eidechsen flitzten bis dicht vor Kuniberts Füße. Sogar eine große Kreuzotter ringelte sich lautlos durch die Stengel. »Daß du Ruhe hältst«, rief ihr der Igel zu. »Du weißt, ich habe keine Angst vor dir und kann dir jeden Augenblick den Kopf abbeißen.« »Ich passe schon auf«, klapperte der Storch, der auf einem Bein stand und alles würdevoll überblickte. Die Kreuzotter tat, als höre sie nichts, und rollte sich zusammen. Es wurde still um Kunibert. Nur die Bienen, Wespen und Hummeln summten und brummten noch um die Blüten, auf denen Falter saßen und langsam die Flügel bewegten. Zwei große braungoldene Libellen schössen spielend hin und her. Auf einmal rauschte es in den Büschen, und Meister Petz erschien mit seiner Frau. Wichtig und breitspurig tappten der Bär und die Bärin durch die Tiere, die achtungsvoll auswichen, auf die Eiche zu und setzten sich behäbig vor Kunibert hin. Der Bär blickte sich im Kreise um und ließ ein drohendes Brummen hören. »Burgfrieden«, brummte er und schlug mit der Tatze auf den Boden, daß es dröhnte, »Burgfrieden für den ganzen Abend. Wer ihn bricht, wird aufgefressen, auch wenn er mir nicht schmeckt.« Er nickte Kunibert zu. »So, nun fang an.«
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Eine kurze Bewegung ging durch die Tiere. Die scheuen unter ihnen faßten Mut und suchten sich rasch bessere Plätze. Kunibert fing mit den Palmhörnchen an, doch ehe er sich dessen versah, war er bei der Wüste, dem falben Roß, dem Geisterzug und der schwarzen Schlange, mit der er die Sturmnacht in der Berghütte verbracht hatte. Die Blicke der Tiere hingen an seinen Lippen, keines regte sich, nur ihre Augen wurden größer. Kunibert wurde es immer wärmer ums Herz vor seinen Zuhörern. Er erzählte von dem gläsernen Mann und dem Drachen, von dem Lügenkönig Muukh und seinen schwarzen Katzen, von dem Käuzchen. Als er von dem Käuzchen sprach, stießen sich die Vögel mit den Flügeln an und blinzelten einander zu. »Ihr kennt wohl das Käuzchen?« fragte Kunibert. »Käuzchen gibt's überall«, plapperte eine Elster hastig. »Weiter – weiter!« Der Wald lag in dunstiger Dämmerung. Kunibert schaute sich um und erzählte von der Bergquelle, zu der nur Adler und Gemsen kamen, vom Schneekönig und den Lawinenmännern, von dem Walfisch, von der Fee Süffisande und den Elfen. Als seine Erzählung zu Ende war, herrschte im Walde tiefe Nacht. Von den Tieren um ihn her sah er nur Schatten. Hier oder dort leuchteten wie Funken ein paar Augen. »Was du alles gesehen hast«, seufzte ein Reh.
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»Daß die Welt so groß ist«, flötete eine Amsel. »Man sollte ein Zugvogel sein.« »Versuch es«, zwitscherte eine Schwalbe. »Wir fliegen über alle Länder. Wir haben auch Wüsten gesehen und verzauberte Wälder und kahle Berge, wo es schwarze Schlangen gibt. An einer Drachenhöhle habe ich einmal nisten wollen, aber um so viel erlebt zu haben wie er, muß man sehr alt sein.« »Stimmt«, klapperte der Storch. »Man sieht viel, wenn man weit fliegt, und von dem falben Roß hat mir einmal ein alter Marabu erzählt, doch so viel Wunderbares, wie ich heute gehört, habe ich nicht gesehen.« »Ich heirate einen Brieftäuberich«, gurrte eine junge Waldtaube träumerisch. »Der macht auch große Reisen.« »Den sperren die Menschen in einen Käfig«, pfiff ein Wiesel. »Pfui!« »Vorsicht vor den Menschen«, warnte ein alter Hase, dessen einer Löffel ausgefranst und mit Narben bedeckt war. »Man soll sich ihnen nicht verkaufen.« »Wenigstens nicht bei Lebzeiten, Meister Lampe«, lachte ein Fuchs. »Du hast Mut«, sagte der Bär zu Kunibert. »Du bist viel mit den Menschen zusammen gewesen. Hier gehen wir ihnen lieber aus dem Wege. Bist du klug aus ihnen geworden?« »Nicht so recht«, antwortete Kunibert, »denn sie bringen es selbst nicht fertig.«
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»Sie sind falsch und hinterlistig«, fauchte die Wildkatze. »Erst tun sie freundlich, und wenn man sie heranläßt, schlagen sie einen tot.« »Manche«, rief eine Meise, »sind wirklich freundlich und streuen einem Futter hin.« »Gib nur acht, daß es nicht vergiftet ist«, piepte eine Maus. »Das ist es immer«, pfiff eine Ratte. »Wenn sie nur nicht so blutgierig wären«, klagte ein Reh. »Sie töten so gern.« »Das ist ihre größte Freude«, krächzte eine Krähe. »Deswegen schlagen sie sich auch untereinander tot. Dazu ziehen sie manchmal in großen Haufen aus und singen dabei, als ginge es zu einem Fest. Nun, wir Krähen haben nichts dagegen, aber warum sind sie nachher so gerührt über sich und so stolz?« »Weil sie grausam sind«, quakte ein Frosch. »Ich glaube, sie haben bei sich wenig Freude«, zwitscherte ein Rotkehlchen. »Darum hören sie uns so gern zu, wenn wir singen.« Die Eiche wiegte ihren Wipfel und bewegte die Zweige vor den fernen Sternen. »Ich habe viel erlebt und gesehen in den fünfhundert Jahren, die ich hier stehe«, rauschte sie. »Auch uns fällen die Menschen zuweilen und sägen Bretter aus uns zu allerhand unnützen Dingen. Aber sagt einmal, freßt ihr euch nicht auch untereinander?« Die Tiere schwiegen. Es war, als ob die Nacht noch dunkler würde. 354
»Leider«, seufzte Meister Lampe nach einer Weile. »Leider.« Ein Hirsch sprang auf. »Es ist richtig«, rief er. »Aber warum ist es so? Wir können nichts dafür.« Ein Wispern lief wie mit tausend feinen Stimmen durch den Wald. »Und wir?« flüsterten die Gräser und die Blätter. »Und wir?« »Hör mal da oben«, grunzte der Eber. »Hör mal, Rabe. Man sagt, du habest einen Großvater gehabt so alt wie die Eiche und ungeheuer klug. Was hat der dazu gesagt?« »Kräh –«, machte der Rabe. »Kräh. Mein Großvater war freilich sehr alt und ungeheuer klug. Wenn wir uns bei ihm beklagten, weil der Bussard einen von uns geholt hatte, dann sagte er: Kräh, das ist das Leben. Wenn es aufhörte, müßte alles sterben. Fändet ihr das besser?« Der Rabe schwieg. Man hörte, wie das Wildschwein mit dem Rüssel im Boden wühlte. »Pah –«, grunzte es. »Wenn dein Großvater weiter nichts gewußt hat –« »Kräh –«, machte der Rabe, und wieder war die Stille einsam und ungewiß gleich einem vergeblichen Harren. Da hob sich aus dem Gebüsch, leise anschwellend, ein Ton von unendlichem Wohllaut, blühte auf und schwang sich in die Nacht, leuchtend und rein wie eine Träne, die ein Stern werden will. Die Nachtigall sang. Ringsum richteten sich die Tiere auf, schauten zu ihr empor und atmeten still. Der Wald lauschte. Die Töne zitterten, schwebten, stiegen auf und verschenkten ihre Schönheit wie ein Glück. Die Nachtigall sang und sang. Kunibert 355
lauschte mit dem ganzen Wald, und die Nachtigall sang ihm fast das Herz aus der Brust. Johannisnacht Eines Abends kehrte Kunibert von einem langen Spaziergang zurück und wollte in eile Höhle unter der Eiche hinabsteigen, da üog aus dem dämmerigen Geäst ein großer Vogel nieder und setzte sich vor ihm hin. Er sah, daß es ein Käuzchen war. »Du meine Güte«, rief das Käuzchen, »das ist ja der blecherne Jüngling! Hätte ich mir gleich denken können. Seit wann erscheinst du in dieser Taschenausgabe, Kunibert? Nein, laß nur, der ganze Wald hat mir schon von dir erzählt. Was sagst du zu Pomponius?« »Wer ist denn bloß dieser Pomponius?« fragte Kunibert. »Das sieht dir ähnlich«, sagte das Käuzchen kopfschüttelnd. »Das sieht dir ähnlich. Der Hexe läufst du sofort in die Arme, und bei Pomponius warst du immer noch nicht.« »Sag mir endlich, wer er ist«, bat Kunibert. »Ich habe zu Anfang ein paarmal nach ihm gefragt, aber keine ordentliche Antwort bekommen. Dann habe ich ihn freilich vergessen.« »Pomponius ist ein Zwerg«, erwiderte das Käuzchen. »Ein ruppiger Geselle, dumm und aufgeblasen. Da mußt du ihn packen, bei seiner Eitelkeit.« »Worauf ist er so eitel?« erkundigte sich Kunibert.
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»Auf seinen Bruder Rufus Hurraicus, den Universitätsprofessor«, antwortete das Käuzchen, »und vor allem auf seine struppige Perücke. Jeden Morgen kämmt er sie stundenlang und sieht doch darin aus wie ein verwachsener Besen. Der große Dschingis-Khan hatte jahrelang ein Hausmädchen, das auch immer so strubbelig war. Eines Tages hat er ihr den Kopf abgeschlagen. Ich war dabei.« »Du hast feine Bekanntschaften«, sagte Kunibert. »Das will ich meinen«, erwiderte das Käuzchen selbstbewußt. »Weißt du, wen ich neulich besucht habe? Den goldenen Ritter. Wir haben von dir gesprochen. Alle drei lassen dich grüßen.« »Grüße sie wieder«, bat Kunibert. »Das kann lange dauern«, meinte das Käuzchen. »Ich hatte ihn seit hundert Jahren nicht gesehen.« »Könntest du nicht nach Marsilia fliegen und Prinzessin Sonja von mir erzählen?« schlug Kunibert vor. »Aber sie verstünde dich vielleicht nicht.« »Das überlaß mir«, entgegnete das Käuzchen. »Hast du Lappalien vergessen und daß ich die Pyramiden habe bauen sehen?« »Was hat Prinzessin Sonja mit den Pyramiden zu tun?« fragte Kunibert. Nachsichtig wiegte das Käuzchen den Kopf. »Ich habe mehr gesehen und weiß mehr, als du denkst«, sagte es langsam. Dann schwang es sich auf einen großen Ast, blickte auf Kunibert hinab und ließ seine Augen im Dunkeln glühen. »Gut, ich will dir den Gefallen tun, nach Marsilia zu fliegen«, krächzte es. »Du machst einem viel 357
Arbeit, Kunibert, aber was hilft's? Wer kann für sein gutes Herz?« Lautlos flog es davon. Am nächsten Morgen fragte Kunibert, der doch ein wenig neugierig geworden war, den Igel nach dem Wege zu Pomponius. »Du findest ihn doch nicht«, sagte der Igel. »Ich muß schon mitgehen.« Nachdem er zuerst wegen des weiten Weges etwas gemault hatte, brachen sie auf. Die Morgensonne schien schräg durch die Bäume, zwischen denen zarter Duft hing. Unverdrossen trottete der Igel durch das tauige Gras. Kunibert hatte Mühe, ihm zu folgen. Der Weg war wirklich lang, aber schließlich kamen sie hin. Die Wohnung des Zwerges lag in moosbewachsenen Felsen. Davor war ein kleiner Garten, der von einem grüngestrichenen Holzgitter umschlossen wurde. Kunibert und der Igel suchten sich eine Stelle, wo sie durch den Zaun und die Büsche gucken konnten. Auf einem ebenen Platz vor dem Eingang in die Felsen stand eine Bank, deren Gestell wie Birkenholz aussehen sollte, aber aus Gußeisen war. Über den Rasen waren ein paar bunte Tonfiguren verteilt: ein riesiger Fliegenpilz, unter dem ein bärtiger Gnom mit einer Zipfelmütze saß und Pfeife rauchte, ein liegendes Reh und ein Hase, der Männchen machte. »Albern«, knurrte der Igel. »So groß werden Fliegenpilze nie.«
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Nachdem sie eine Zeitlang geduldig gewartet hatten, kam Pomponius heraus, setzte sich auf die Bank und fing an, seine Perücke zu kämmen, die er in der Hand hielt. Der Zwerg war grobknochig und plump. Er trug enge, rote Hosen, kräftige Schuhe und einen grauen Kittel mit einem Ledergürtel. Sein dunkler Bart war breit geschnitten und verdeckte einen großen Teil seines derben Gesichts. Mit der Perücke ging er sehr behutsam um und wandte kein Auge von ihr. »Gut, daß kein Dachs da ist«, flüsterte der Igel. »Der würde ihm vor Wut in die Beine fahren.« »Warum gerade ein Dachs?« fragte Kunibert. »Siehst du denn nicht, daß die Perücke aus Dachshaaren ist?« antwortete der Igel. »Unsinn«, sagte Kunibert. »Aus Dachshaaren macht man keine Perücken, sondern höchstens –«, er stutzte – »höchstens Rasierpinsel.« »Kenne ich nicht«, brummte der Igel. Ein zweiter Zwerg, in Hemdsärmeln, schwarzen Hosen und geblümten Pantoffeln trat aus dem Felsen. Der spitze Schädel über seinem blassen, faltigen Gesicht war kahl, sein grauer Bart reichte bis auf den rund hervorstehenden Bauch. Der Zwerg reckte die Arme und gähnte laut. Dann rückte er an seiner großen Brille und sah sich prüfend um. »Die Natur ist doch immer etwas überaus Schönes, Bruder Pomponius«, sagte er. »Ich zweifle, ob es dir genügend bewußt sei, welcher Schatz hier ständig vor dir ausgebreitet liegt. Waldluft ist äußerst gesund. Auch solltest du jeden Morgen barfuß im Gras laufen.« 359
»Fällt mir nicht ein«, erwiderte Pomponius. »Wozu habe ich denn meine Schuhe? Du könntest ebensogut hier leben wie ich, wenn es dir nicht zu langweilig wäre.« »Oho«, widersprach Rufus Hurraicus entrüstet. »Wer sich langweilen wollte in den stets offenen Armen der Natur, müßte wohl minderen Geistes sein. Nichts dergleichen, lieber Bruder, nichts dergleichen! Es verhält sich vielmehr so, daß an der Stelle, wo ich stehe, meine reichen Kenntnisse unersetzlich sind. Ich weiß wohl, welcher Kollege längst nach meinem Lehrstuhl schielt, aber er ist ein unwissender Dummkopf, ein grüner Esel!« Rufus ging erregt ein paar Schritte und drehte sich wieder um. »Von grünen Eseln habe ich noch nie gehört«, sagte Pomponius, ohne den Blick von seiner Perücke zu erheben. »Außerdem könnte dir das alles ganz einerlei sein, wenn du hier im Walde lebtest. Hat denn dein Freund, der berühmte Professor der Magie, endlich herausgekriegt, wo die sieben Haare sind, die meiner Perücke fehlen?« »Deine ewige Perücke«, antwortete Rufus ungeduldig. »Nun ja, mir zuliebe und weil er einen Übungsstoff brauchte, hat er seine Schüler Berechnungen anstellen lassen. Einige haben herausbekommen, daß der Schneekönig die sieben Borsten habe, andere behaupten anderes, kurz, die Ergebnisse widersprechen sich.« »Na und?« fragte Pomponius gespannt. »Na und?« rief Rufus achselzuckend. »Weiter nichts. Die Frage ist wissenschaftlich belanglos.«
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»Aber nicht für mich«, schrie Pomponius aufspringend. »Hätte ich die sieben Borsten, wäre der Zauber vollständig, der ganze Wald müßte mir gehorchen, die frechen Tiere würden nicht mehr hinter meinem Rücken lachen, die Wurzelmänner mir nicht mehr die Nase zwischen die Füße stecken, damit ich stolpere, und die Vögel mir nicht mehr von den Bäumen herab auf meine Perücke machen, was so schwer herausgeht.« »Erlaube, lieber Bruder«, sagte Rufus ermahnend, »deine Perücke ist lächerlich. Bäuerisch und lächerlich.« »Lächerlich –!« Pomponius schnappte nach Luft. »Lächerlich? Unseren Ahn hat es Mühe genug gekostet, all die Borsten zusammenzubringen, und wer weiß, ob sie noch beisammen wären, wenn ich nicht den glänzenden Einfall gehabt hätte, eine Perücke daraus zu machen, die ich immer auf dem Kopf, also immer bei mir haben kann.« Mit einem Ruck stülpte er die Perücke auf. Kunibert mußte an die Worte des Käuzchens denken. »Lächerlich? Du bist lächerlich!« schimpfte Pomponius. Wütend liefen die beiden Zwerge mit großen Schritten vor der Höhle hin und her und warfen sich giftige Blicke zu. Rufus beruhigte sich zuerst. Er blieb stehen, ließ seinen langen Bart würdevoll durch die Finger gleiten und rückte an seiner Brille. »Ich habe Nachsicht mit dir, lieber Bruder«, sprach er mit milder Überlegenheit. »Du hast die rauhen, kernigen Sitten des Waldlebens. Ich trage dir nichts nach. Hast du den Wein für heute abend herausgestellt?«
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»Hm –«, knurrte Pomponius. »Hm – Bowlen brauen kannst du ja. Wenigstens etwas.« Rufus bog sich zurück und schlug ihm auf die Schulter. »Siehst du«, rief er, »siehst du, Bruder Pomponius! Und das laß heute die Hauptsache sein. Bin ich doch hergekommen, um mit dir die schöne Johannisnacht bei Becherklang und frohem Sang zu durchzechen wie in alten Zeiten als freier Bursch.« »Willst du deinen Freund, den großen Magier, noch einmal fragen?« erkundigte sich Pomponius. »Aber freilich«, versprach Rufus, »aber freilich. Und diesmal, Bruderherz, spendiere von deinem besten, hörst du, von deinem besten! Komm in den Keller. Wir suchen aus.« Beide verschwanden in den Felsen. »Jetzt können wir uns wohl trollen«, meinte der Igel und lief voran. »Die Perücke muß ich haben«, sagte Kunibert, ihn einholend. »Du bist verdreht«, antwortete der Igel. »Was willst du mit dem alten Ding?« »Ich muß sie haben«, beharrte Kunibert. »Er gibt sie dir nicht«, erwiderte der Igel, »und wegnehmen kannst du sie ihm nicht, denn er ist doppelt so groß und viel stärker als du. Komm jetzt, wir wollen uns sputen und uns daheim noch ein wenig zusammenrollen. Heute, in der Johannisnacht, ist an Schlaf nicht zu denken.« Der Abend umfing den Tag und glitt mit ihm in die Nacht wie Bilder und Wünsche in einen Traum. 362
Die Sonne versank nicht gar zu tief in dieser klaren, kurzen Sommernacht; es war, als hätten sich Licht und Finsternis in die Dunkelheit geteilt. Unzählige Glühwürmchen schwärmten umher, jeder Schatten glich einem kleinen Weltall voll fliegender, tanzender Sterne. Der Wald war lebendig. Alles Leben in ihm regte sich, alles drängte zueinander und wußte nur von sich wie in einer Verzauberung. Die Tiere streiften umher ohne Weg und Absicht gleich frohen Gedanken, die sich selbst genügen und doch ein Echo suchen. Sie waren nicht allein. Die Elfen, die Elfen der Bäume, der Blumen, der Blüten, der Büsche und Gräser, schwebten zwischen den Stämmen hin, aus Quellen und Seen tauchten die Nixen, und aus dem Boden waren die Wurzelmänner gestiegen, die Erdmännchen und die Gnomen der tiefen Gesteine. Alle kannten sich, kannten sich aus der Ewigkeit ihrer Lose und Geschicke her, fanden sich, verstanden sich und waren eins im Wesen dieser Nacht. Es war still im Walde, durch den nur ein Raunen ging, das kaum ein Geräusch war. Selten lohte von irgendwoher ein Feuerschein zum Himmel auf, und zuweilen klangen aus einem fernen Dorf Musik und Stimmen herüber. Die Menschen trauten sich in der Johannisnacht nicht in die Tiefe des Waldes. Kunibert aber erlebte alles mit. Auch er war in dem Zauber gefangen und wanderte über Gras und Moos, ohne zu wissen, wie er sich bewegte. Er hatte teil an dem glücklichen Traum, den der Wald träumte, er fühlte, daß dies Glück ringsumher wuchs und wuchs. Und weil der duftigste wie der schwerfälligste Leib der Freude nachgeben muß, wurde es im Walde lebhafter. 363
Immer rascher wurde das Schweben und Gleiten, immer geschwinder das Laufen, Huschen, Hüpfen und Stapfen. Auf einmal zog durch den ganzen Wald ein einziger Reigen, in dem sich alles mischte: die Tiere, die Elfen, große und kleine, die Nixen, die Nebelgeister, die aussahen wie aus Schleiern zusammengeweht, die wunderlichen Wichtelmänner und dazwischen Gestalten aus silbernem Licht gewoben, die Kunibert als Strahlen erkannte, die von den Sternen oder vom Monde durch die Blätter der Bäume flimmernd auf den Waldboden herabgestiegen waren. Auf einer Waldwiese zog ein Teil des großen Ringelreihens deutlich an ihm vorbei, und er erblickte den Bären, die Nixe eines Waldsees, einen Storch, eine Baumelfe und ein Erdmännchen, dem kleinere Wesen folgten, ein Feuersalamander, eine Drossel, eine Blumenelfe, der Silberstrahl eines fernen, kleinen Sterns und der Igel, den er so gut kannte. Das Raunen im Walde war vernehmlicher geworden und klang wie Flüstern. Aus der Freude sproßte Fröhlichkeit. Lichte Gewänder wehten, zarte Sohlen tappten, doch auch plumpe Tritte waren zu hören, das Schleifen von Füßen und Pfoten, das Flattern leichter Flügel. Die Fröhlichkeit blühte auf zu Lust und Übermut. Ein tönendes Rieseln wie leises, quellendes Lachen schlang sich durch die Äste, und aus dem Rascheln der Blätter kicherte es. Plötzlich erschollen fürchterliche Töne. Zwei laut grölende Stimmen brachen durch die Büsche. »Sauf, Bruderherz – sauf! In die Kanne, Fuchs!«
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»Hoho«, rief Meister Reineke. »Das ist Pomponius mit seinem gelehrten Bruder.« »Ad exercitium salamandri«, schrie eine rauhe Stimme in den Büschen. »Ad exercitium salamandri – eins, eins – zwei, zwei –« »Was will er von mir?« fragte der Feuersalamander, der sich erschrocken vor Kunibert ins Gras gesetzt hatte, und schlüpfte rasch in das nächste Erdloch. Der Bär brummte drohend. Die Nixe hielt sich an seinem Hals und bog sich vor Lachen. »Laßt die Narren«, rief ein Wurzelmännchen mit knarrender Stimme. »Was kümmern die uns?« Die Nixe zog den Bären weiter. Wie kleine, klare Wellen schlüpfte ihr Lachen durch die Nacht. »Einschenken«, schrie Pomponius im Gebüsch. »Einschenken, Rufus, ehe die Kanne wieder leer ist.« Der Kannendeckel klapperte. »Prosit, dein spezielles –«, brüllte Pomponius. »Rufus – du bist – du bist eben mein Bruder – und darauf trinken wir –« Die beiden kamen aus den Büschen heraus, Arm in Arm, der eine die Kanne, der andere den Becher schwenkend. Sie torkelten beträchtlich, stolperten, blieben schwankend stehen, hielten sich aneinander fest und torkelten weiter. Sie versuchten zu singen, doch ihre Stimmen waren heiser; sie brachten die Worte durcheinander, und es wurde nur ein verwirrtes Grölen, über das sie sich vor Lachen ausschütteten. Rufus blieb stehen und versuchte einzuschenken. Das meiste floß daneben. 365
»Wenn – die Kanne der Becher wäre«, lallte Pomponius, »dann könnte man gleich aus der Kanne –« Rufus setzte die Kanne an den Mund. Es war nicht mehr viel darin. Er warf sie ins Gras. »Aus«, sagte er und schlug schwerfällig mit der Hand durch die Luft. Pomponius leerte den Becher. »Weg«, sagte er und warf den Becher zu der Kanne. »Weg!« Er nickte, wobei er fast vornüber fiel. Sie faßten sich unter, stolperten weiter und fingen wieder an zu singen. Da sie sich über die Worte nicht einigen konnten, kam nicht viel dabei heraus, doch schließlich fanden sie sich in einer Art Kehrreim, den sie endlos wiederholten. Kunibert verstand: Jedem eins aufs Dach! Trink und mach Krach! Das ist die höchste Lu – ust, . Das schwellt die stolze Bru – ust Trink und mach Krach! Das lärmende Gejohle störte mehr und mehr. Ein Rehbock senkte drohend das Gehörn. Ein Gnom warf mit Steinen. Zwei Dachse tauschten einen Blick und trotteten knurrend auf die Zwerge zu. Sie brauchten nicht einzugreifen. Die Bäume, unter denen die Zwerge vorwärts schwankten, bewegten die Äste, als ob ein Wind durch sie gefahren wäre. Zuerst schien es ein Wind zu sein, dann ein Sturm, und ehe sich die Zwerge dessen versahen, peitschten die Zweige auf sie ein.
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»Trink und mach Krach«, grölte Pomponius; da traf ihn ein Eichenast, daß er ins Gras kugelte und seinen Bruder mitriß. Sie erhoben sich wieder, doch es half ihnen nichts. Die Schläge regneten auf sie nieder, wirbelten sie weiter, ein Baum trieb sie dem andern zu. Die Zwerge schimpften und schrien, aber das Schimpfen verging ihnen bald. Immer kläglicher wurde ihr Geschrei. Der Schreck schien sie etwas ernüchtert zu haben, und sie liefen, so schnell sie konnten, um den Schlägen der Zweige zu entrinnen, die sie unbarmherzig durch den Wald jagten. Kunibert sah, wie beiden ein breiter Buchenast über Rücken und Kopf fuhr. Rufus stolperte. Seinem Bruder flog die Perücke davon; die Zweige warfen sie hoch in die Luft. Pomponius schrie auf und griff mit den Händen ins Leere. Die Buche ließ ihm keine Zeit, stehenzubleiben. Zwei Tannen hatten ihn schon erreicht und fegten ihn weiter. Sein Jammern verklang im Dunkel. Kunibert sprang hinzu und suchte die Perücke. Ein paar Glühwürmchen umschwirrten sie neugierig und zeigten sie ihm. Eilig nahm er sie vom Boden auf. Er blickte sich um. Der Spuk der Nacht schien weitergezogen zu sein. Nichts sah er als blaues Halbdunkel, Schatten und die glühenden, schwärmenden Käfer. Der Ritter ging in die Nacht hinein. Um ihn her nahm die Finsternis zu. Dichte Tannen schlossen ihre Äste zwischen ihm und dem Himmel zusammen. Endlich kam er auf eine Lichtung, über der er Sterne sah. Die Tannen waren nicht übermäßig hoch. Eine Gestalt kam über die Lichtung. Kunibert ging ihr entgegen und erkannte die Hexe. 367
»Nun«, lachte sie meckernd, »hast du genug von dem Mummenschanz? Suchst du dein Roß, um weiterzureiten? Das haben die Bauern. Nimm's dir, sonst bekommst du es nicht.« Sie verschwand. Kunibert setzte seinen Weg fort und erreichte den Waldrand. Er bog die schweren Tannenäste mit den Händen beiseite und trat auf den schmalen Feldweg hinaus. Vor ihm lag zwischen den Feldern ein hellerleuchtetes Dorf. Auf einem niedrigen Hügel flammte ein großes Feuer, um das es von Menschen wimmelte. Er hörte Musik und lustige Stimmen. Nachdenklich näherte sich Kunibert dem Dorf. Auf halbem Wege blieb er stehen. Er konnte sich noch nicht zurechtfinden und mochte nicht zu den Menschen hingehen, die auf dem Hügel tanzten und sangen. Am Wegrain stand ein offener Heuschober. Er setzte sich vor ihm ins Gras, lehnte sich an die Bretterwand und schaute zu dem flackernden Feuer hinüber. Nach und nach wurden ihm die Augenlider schwer. Er blinzelte. Die kleinen, tanzenden Gestalten verschwammen mit der Flamme zu Schatten in rötlichem Nebel. Er streckte sich aus und schlief ein.
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ACHTZEHNTES ABENTEUER
DER KARPFENPRINZ Es war nicht leicht gewesen, von den mißtrauischen Bauern das Pferd wiederzubekommen, aber mit vielen guten Worten und mit noch mehr gutem Geld hatte Kunibert es fertiggebracht. Er war weitergeritten, bis das himmelhohe Gebirge vor ihm auftauchte, dann hatte er sich nach Sonnenuntergang gewendet. Das Gebirge, an dem er entlangritt, lag zu seiner Rechten. Wochenlang ging sein Weg, bergauf und bergab, durch die Vorberge, immer hoffte er, bald in eine Gegend zu kommen, wo man ihm die Straße nach Marsilia weisen könnte. Alles habe ich nun gefunden, grübelte er vor sich hin, wahrend ihn sein Pferd durch einen Hohlweg bergan trug, nichts fehlt mehr als der Spiegel und das Zauberwort, dem das Rasierzeug gehorcht. Das Zauberwort kennen wohl nur noch die Zwerge, die das Kleinod geschmiedet haben, und die kommen nie ans Tageslicht. Ein Berggeist könnte mir allenfalls den Weg zu ihnen weisen, doch Berggeister lassen sich nicht freiwillig sehen, und wie sollte ich einen dazu zwingen? Wer zeigt mir gar den Weg zu dem Spiegel? Vielleicht weiß niemand auf der ganzen Welt, wo er liegt. Kunibert seufzte. »Da sagt man immer«, murmelte er, »aller Anfang sei schwer, und später helfe einer gut begonnenen Sache alles zum glücklichen Ende. Nun, mancher scheitert auch noch kurz vor dem Hafen.« 369
Das Pferd trat aus dem Hohlweg. Kunibert blickte zu den schneeigen Kuppen auf, die in der klaren Herbstsonne glänzten. Weiter, dachte er und trieb sein Pferd an. Am Abend saß er in der schmalen Schlafkammer, die ihm der Wirt eines kleinen Landkrugs angewiesen hatte. Es war ein elender Winkel, in dem nichts stand als ein hölzerner Schrägen mit einem Strohsack, ein Schemel und ein ärmliches Tischchen. Kunibert saß auf dem Strohsack, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und ließ die Hände hängen. Es war dunkel in der Kammer. Draußen war zwar der Mond schon aufgegangen, aber große Wolken zogen vor ihm hin. Kunibert war müde und enttäuscht. Niemand im Kruge hatte den Namen Marsilia je gehört; es mußte noch sehr weit sein bis zu dem Königreich. Vielleicht hat sich der Admiral in der Himmelsrichtung geirrt, dachte er, und ich reite von Marsilia weg, anstatt drauf zu. »Nein, Kunibert, so schlimm ist es auch nicht«, sagte vor ihm eine leichte Stimme von feinem Wohllaut. Er hob den Kopf. Durch eine breite Lücke in den Wolken leuchtete der Mond, und in seinem Schein sah er vor sich auf dem Tisch eine schöne Frauengestalt sitzen, die in ein weißschimmerndes Gewand gehüllt war. Unter dem Saum glänzte ein zarter Fuß, die Arme waren bloß, und von dem weißen Gesicht hoben sich die dunkeln Augen und die schwarzen Haare geheimnisvoll ab. »Wer bist du?« fragte er erstaunt.
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»Ich bin das Mondlicht«, antwortete sie freundlich. »Mein Vater ist der Mond, und von meinen Kindern, den kleinen Mondstrahlen, kennst du manch eines.« »Gewiß«, bestätigte Kunibert, »Aber woher kennst du mich?« »Ich kenne dich lange«, antwortete sie, stützte die Hände auf die Tischkante, beugte sich ein wenig vor und bewegte leise den Fuß. »Ich habe dich schon als Kind gekannt und mich später manchmal über dich geärgert, weil du nichts tatest als zu meinem Vater aufschauen. Daher habe ich dich oft geneckt, wenn du schlafen wolltest. Auf all deinen Fahrten habe ich dich gesehen und dich begleitet.« »Ärgerst du dich noch über mich?« fragte Kunibert. »Nein«, entgegnete sie, »denn du hast dich wacker durch die Welt geschlagen. Wer das tut, Kunibert, und uns liebt, dem helfen wir. Sieh, deswegen bin ich hier. Es geht wirklich nicht so weiter. Sonja sitzt oft nachts an ihrem Fenster, schaut über das Meer hinaus und seufzt. Ich tröste sie, so gut ich es kann, aber wirklich trösten kannst nur du sie.« »Sonja«, seufzte Kunibert. »Ach, wenn ich zu ihr könnte!« »Du mußt den Spiegel finden, Kunibert«, sagte sie lächelnd. »Deine Abenteuer waren bunt genug, sie müssen auch einmal ein Ende haben.« »Dafür bin ich sehr«, antwortete Kunibert. »Aber weißt du, wo der Spiegel ist?« »Ich allein weiß es«, flüsterte sie und blickte rasch zum Himmel auf, wo ein lichter Schleier über den Mond zog. 371
»Ich allein!« Das Licht wurde wieder klar. »Ohne mich fändest du ihn nie«, fuhr sie fort. »Er liegt auf dem Grunde eines Bergsees. Nur einmal im Jahre kann ich so tief in das Wasser schauen, daß ich ihn blitzen sehe. Eine schöne Frau hat ihn einst in die Flut geworfen, eine schöne Frau, die unglücklich liebte. Sie fuhr in einem Kahn über den See, und eine ihrer Dienerinnen reichte ihr den Spiegel. Lange beschaute sie sich darin, dann warf sie ihn weit von sich in die Wellen und barg ihr Gesicht in den Händen. Was hilft mir meine Schönheit, schluchzte sie, ich mag sie nicht mehr sehen.« »Wo liegt der See?« fragte Kunibert atemlos. »Nicht weit von hier«, antwortete sie. »Deswegen habe ich gewartet, bis du hierher kamst. Wenn du der nächsten Straße zu den Bergen hin folgst, kommst du an den See, nur mußt du einen Wasserlauf, der die Straße kreuzt, aufwärts reiten. Doch nimm dich in acht. Der See ist verzaubert, seitdem der Spiegel darin liegt. Die Nixe spiegelt sich gern in ihm. Sie weiß, daß sie ihn einmal herausgeben muß, und verteidigt ihn gut. Halte dein Schwert locker, wenn du hinkommst, doch noch mehr halte deine Gedanken bereit.« Draußen zogen große Wolken auf. »Ich danke dir«, rief Kunibert. »Doch wie soll ich ihn aus den Wellen heben?« Sie wiegte sich auf dem Tisch, zog die schwarzen Brauen empor und öffnete lächelnd ein wenig die Lippen. Dann glitt sie herab, trat auf ihn zu, griff ihm mit beiden Händen ins Haar und bog seinen Kopf zurück. »Schau mich an«, sagte sie leise. 372
Er blickte auf. »Du wirst es können«, flüsterte sie. »Die Nixe wird ihn dir geben müssen. Du hast noch dieselben Augen wie als Bub.« Sie beugte sich nieder, küßte ihn und verschwand im Dunkel. Einige Tage darauf fand Kunibert die Straße, die auf die Berge zuführte, und nachdem er auch den Wasserlauf, der sie kreuzte, gefunden hatte, geriet er in einen Wald mit hohen, alten Bäumen, die herbstlich verwelkte, braune und braungelbe Blätter trugen. Der Wald war dicht und düster. Zwischen dem fahlen Unterholz standen ab und zu schwarzgrüne Stechpalmenbüsche. Das Flüßchen schäumte über große Steine und rauschte unheimlich und warnend. Einmal erblickte Kunibert einen Wolf, der ihn aus der Ferne mit glühenden Augen anstarrte und rasch ins Dickicht entwich. Als ob er ein Späher wäre, der mein Kommen melden wollte, dachte Kunibert. Er ritt lange. Immer düsterer und einsamer wurde der Weg. Endlich machte das Flüßchen eine Biegung, der er folgte, und dann hielt er auf einer kleinen Wiese am Ufer des dunkelgrünen Sees. Er atmete auf. Die Luft war freier. Blau weitete sich der Himmel über ihm, und ringsumher war es bunt. Wie rote und gelbe Flammen umstanden die Bäume den See, an dem hier und dort Schilf wuchs, das noch grün war. Nur Kunibert gegenüber, weit drüben am andern Ufer, ragte ein wuchtiger schwarzer Fels auf. Nicht die kleinste Welle kräuselte den blanken Wasserspiegel. In der Ferne rief ein Häher. 373
Nach dem weiten, beschwerlichen Ritt war es Roß und Reiter warm geworden, denn der Herbsttag war mild. Kunibert stieg ab, führte sein Pferd an den Uferrand und blickte in das Wasser, das seinen Fuß netzte. Dort unten liegt der Spiegel, dachte er. Wie soll ich ihn nur heraufholen? Das Pferd wurde unruhig. Kunibert wandte den Kopf. Im Wald hinter ihm erhob sich jäher Lärm. Wütendes Hundegebell, dröhnendes Laufen nackter Füße und wüstes Gebrüll roher Stimmen. Halte dein Schwert locker, fuhr es Kunibert durch den Sinn. Große Hunde mit blutroten Rachen und geifernden Zähnen stürzten zwischen den Bäumen hervor. Er sprang in den Sattel und zog blank, denn eine tobende Rotte riesiger, halbnackter Männer folgte den Hunden. Ihr wildes Haar und ihre struppigen Barte wehten; mächtige, schwarze Keulen schwingend stürmten sie auf den Ritter zu. Kunibert tötete einige Hunde, die lechzend an ihm emporsprangen; sein sich bäumendes Pferd schlug mit den Hufen nach den Tieren. Dann gab der Ritter seinem Roß die Sporen und stürzte sich unter die Riesen. Der Kampf war lang und hart. Kunibert hatte all seinen Mut, all seine Kraft und Geschicklichkeit nötig. Doch er fühlte seinen Arm so stark wie noch nie. Funkelnd fuhr sein Schwert durch die Luft, hierhin und dorthin, traf bald eine Schulter, bald ein Haupt oder durchstach eine breite, behaarte Brust. Einem nach dem andern der Riesen entsank die plumpe Keule, einer nach dem andern brach stöhnend und röchelnd zusammen. Heulend wie hohler Wind 374
entflohen die letzten in den Wald, winselnd liefen die blutenden Hunde hinterdrein. Kunibert hielt still und sah auf die Leichen. Er wußte nicht, wie er gekämpft hatte. War er es allein gewesen, hatte sein eigener Arm das Schwert so schnell und sicher, so kraftvoll geführt? Was hatte während des Kampfes . wie Gold über seiner Waffe geblitzt? Nachdenklich löste er den Helm von dem erhitzten Gesicht und nahm ihn ab. Plötzlich hielt er inne. Es war ein Schwert gewesen, das über seinem eigenen geleuchtet hatte! Er sah es wieder vor sich, so wie er es einen Augenblick lang mitten im heißesten Handgemenge erblickt: ein goldenes Schwert mit einem Rubin im Knauf. Der goldene Ritter – dachte Kunibert. »Dank dir!« rief er in die blaue Luft hinaus und schwenkte den Helm. Das Pferd war durstig und schnupperte nach dem Wasser hin. Er ließ ihm den Willen. Das Pferd trat ein paar Schritte in das kühle Naß. Kunibert stieg ab und schöpfte seinen Helm voll, denn auch er war durstig. Die wilden Männer und die Hunde an diesem See mit den bunten Herbstbäumen habe ich schon einmal gesehen, dachte er, als er sich wieder aufrichtete. Gleichzeitig fiel es ihm ein. Beppos Laterne! Rasch schüttete er das Wasser aus seinem Helm und griff nach dem Zügel des Pferdes. Zu spät! Es war schon weitergegangen und trank. Aus der Tiefe des Sees stieg es brodelnd auf. Große Wellen zerwühlten die Flut, griffen strudelnd nach Roß und Reiter und prallten zornig ans Ufer.
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Er konnte das Pferd nicht mehr erreichen und rettete sich mit einem Sprung ans Land. Immer höher rollten die grünen Wogen. Kunibert sah einen glitzernden Fisch durchs Wasser schießen. Das Pferd wehrte sich, bäumte sich und schlug aus. Der glitzernde Fisch flog vor dem Ritter ins Gras. Ein reißender Wirbel zog das Pferd weit hinaus. Es versank. Der Fisch zuckte im Grase und versuchte vergebens, sich ins Wasser zurückzuschnellen. Kunibert hob ihn auf, er war breit und silbrig. Achtlos wollte er ihn ins Wasser zurückwerfen, da sah er auf dem Kopf drei Schuppen aus azurblauem Kristall blinken. »Du bist ein merkwürdiger Geselle«, sagte er. Der Fisch schnappte nach Luft. »Ich bin der Karpfenprinz«, stieß er mühsam hervor. »Wirf mich wieder in den See. Sonst muß ich sterben.« »Gib mir eine von den drei azurblauen Schuppen«, sagte Kunibert. »Nimm sie dir«, jappte der Karpfenprinz, »aber mach schnell. Ich bin der Geliebte der Nixe.« »Hoho«, rief Kunibert, »das trifft sich gut! Du bist mein Gefangener, und ich lasse dich nicht frei, ehe mir die Nixe den Spiegel gibt, der auf dem Grunde des Sees liegt.« »Begnüge dich mit der blauen Schuppe«, flehte der Karpfenprinz mit seinem letzten Atem. »Welchem Fisch du sie auch zeigst, er muß dir Rede und Antwort stehen und tun, was du von ihm verlangst. Schnell – ich –« Kunibert schöpfte den Helm voll Wasser und legte den 376
Karpfenprinzen hinein, der sich freilich unbequem in dem engen Gefäß zusammenbiegen mußte. »Nun, schöne Nixe«, rief der Ritter über den See, »hast du gehört? Gib den Spiegel heraus, oder dein Geliebter muß sterben.« »Hüte dich«, klang eine Stimme aus dem Wasser, »hüte dich! Ich kann dich verderben.« »Das hast du schon versucht«, antwortete Kunibert, »und es ist dir mißlungen. Liegt dir so wenig an dem Leben des Karpfenprinzen?« »Nimm etwas anderes«, sprach die Stimme. »Ich kann dir herrliche Schätze bieten. Wähle –« »Nichts kann mich locken als der Spiegel allein«, erwiderte Kunibert und ließ ein wenig Wasser aus dem Helm rinnen. Der Karpfenprinz hatte sich etwas erholt. »Gib ihm den Spiegel, Liebste«, bat er, so laut er konnte, »sonst muß ich ersticken, oder mein Rücken zerbricht.« »Gut denn«, tönte die Stimme aus der Flut. »Ich will deinen Willen tun, Ritter. Laß den Prinzen frei.« »Sobald ich den Spiegel habe«, entgegnete Kunibert unerschütterlich. »Du wirst es bereuen«, grollte es herauf. »Der Spiegel bringt dir Unglück.« »Das laß meine Sorge sein«, antwortete Kunibert. »Spute dich, Geliebte«, flehte der Prinz aus dem Helm. »Wenn du wüßtest, was ich erdulde!«
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»Dir zuliebe!« rief die Nixe, und sofort wallte der See, der sich beruhigt hatte, von neuem auf. Aus dem Gewirr der Wellen, die wider einander schwankten und sich mit gurgelnden Strudeln vermischten, erhob sich endlich weit draußen eine breite Woge und eilte, grünglühend wie ein durchleuchteter Smaragd, auf den Ritter zu. Mitten in ihr strahlte es gleich einem Diamanten. Kurz vor dem Ufer zerbrach sie, stürzte sprühend über Kiesel und Gras, und als sie verrieselt war, lag zu Kuniberts Füßen der Spiegel. Er nahm ihn auf und besah ihn. »Das Zeichen der kunstreichen Zwerge«, rief er froh. »Hab Dank, schöne Nixe!« Sorgfältig barg er den Spiegel an seiner Brust. Dann löste er vorsichtig eine der drei azurblauen Schuppen vom Haupte des Karpfenprinzen und leerte den Helm mit einem. Schwung in den See. »Leb wohl, mein Prinz«, sagte er lachend, während der Fisch blitzend in die Tiefe fuhr.
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NEUNZEHNTES ABENTEUER
KANALÂPE Kunibert wollte nicht den Weg, den er gekommen war, zurückgehen und wanderte am Ufer weiter. Der See zog sich lang auf der ebenen Talsohle hin, und es wurde Abend, ehe er das Ende erreichte. Kurz vorher kam er an einer Burgruine vorüber. Vielleicht hat hier die schöne Frau gewohnt, die den Spiegel in die Wellen geworfen hat, dachte er. An der Spitze des Sees mündete ein stiller, schmaler Fluß, an dessen sumpfigen Ufern Schilf wuchs. Kunibert folgte seinem Laufe aufwärts. Weit und breit war keine Spur menschlichen Lebens zu erblicken, und er zweifelte daran, noch vor Einbruch der Nacht ein Obdach zu finden. Als es schon fast dunkel war, sah er im Schilf einen kleinen Kahn liegen. Jedenfalls ein besseres Bett als das sumpfige Ufer, sagte er sich und sprang in den Nachen. Ein Stück vor dem Boot lagen auf dem glatten Wasser drei schlafende schwarze Schwäne. Sie erwachten, schauten den Ritter an und fielen wieder in Schlaf. Der Nachen war lang genug, daß Kunibert sich darin ausstrecken konnte, und so legte er sich in dem leise schaukelnden Kahn zur Ruhe. In der Nacht wurde er davon wach, daß das Boot sich bewegte. Er sah nichts, denn es war schwarze Finsternis um ihn her, doch er fühlte, wie der Kahn durch die Flut 379
glitt, und hörte das leise Glucksen des Wassers an den Planken. Ob ich auf dem See treibe? dachte er. Hoffentlich merkt es die Nixe nicht. Er tastete besorgt nach dem Spiegel, der noch auf seiner Brust lag. Das sanfte Wiegen der Barke und das stille Plätschern schläferten ihn jedoch bald wieder ein. Am Morgen stand die Sonne strahlend an dem hellblauen Himmel. Das Boot fuhr mitten auf dem ruhigen, dunkeln Flüßchen zwischen Wiesen, auf denen unzählige Herbstzeitlosen blühten. Die drei schwarzen Schwäne zogen es an doppelten roten Bändern, die sie im Schnabel hielten, stromaufwärts, dem nahen Gebirge zu. »Wohin führt ihr mich?« fragte Kunibert. Die Schwäne schwiegen. Entweder sind sie stumm, dachte er, oder keiner will das Band fallen lassen. Aber mir soll's recht sein. In den Klüften der Berge wohnen Geister, und in der Tiefe hausen die Zwerge. Wer weiß – ? Immer näher rückten die hohen Berge. Das Tal war schmal geworden, die Wiesen erhoben sich steil. Das Schilf hörte auf, und die Ufer wurden steinig. Graue Felsen engten das Wasser ein. Die Strömung, die vorher unmerklich gewesen war, floß stärker. Hier und dort schäumte das Wasser auf. Kleine Wellen leckten an den glatten Steinwänden empor. Die Felsen wuchsen zu düsterer Höhe. Kunibert sah über sich nur einen Streifen des hellblauen Himmels. Der kühne Bogen einer Brücke spannte sich vor ihm über die Schlucht. Hinter der ersten Brücke erschien eine zweite 380
und dann eine dritte, immer eine höher als die andere. Alle drei waren aus lichtgrünem Marmor, und auf jeder wachte ein schneeweißer, geflügelter Drache, der seinen langen, gebogenen Hals weit hinabstreckte und drohend seinen purpurnen Rachen öffnete. Die drei Schwäne erhoben sich und flogen, mit den flatternden Bändern im Schnabel, hoch über die Drachen hin nach verschiedenen Seiten davon. Nun wird der Kahn wieder stromab treiben, dachte Kunibert, der mit gezogenem Schwert im Boot stand, und das ist gut, denn sonst wäre es wohl am besten, ich könnte auch davonfliegen. Wie von einer verborgenen Kraft gezogen, glitt die Barke weiter. Kunibert zückte sein Schwert gegen den Drachen. Der purpurne Rachen senkte sich nicht auf ihn herab, er erstarrte über ihm in der Luft. Der Drache war zu Stein geworden. Dem zweiten Drachen half sein Fauchen nicht, dem dritten auch nicht die Flamme, die über der spitzen Zunge herausschlug. Sie erstarrten beide. Ungehindert fuhr das Boot zwischen den aufragenden Felswänden weiter. Das schwarze Wasser, das immer schneller vorüberglitt, umströmte es schäumend. Große, gefleckte Schlangen stiegen aus der Tiefe und wanden sich gierig neben dem Kahn hin. Wohl hoben sie zischend und züngelnd die Köpfe aus dem Wasser, doch sie wagten sich nicht an den Ritter in der glänzenden Rüstung, krümmten sich furchtsam vor seinem Schwert und tauchten wieder in die dunkle Flut. Kleine Felsen ragten aus der rauschenden Strömung. Kurze Wogen jagten vorüber, Stromschnellen schössen vorbei, klatschende Wellen spritzten hoch auf und 381
übersprühten den Ritter mit schimmernden Tropfen. Die Barke tanzte auf schneeweißem Gischt. Kunibert kniete im Boot und hielt sich mit beiden Händen an den Bordwänden fest. Ein Strudel packte den Nachen, wirbelte ihn im Kreise und schleuderte ihn beiseite, dem Ufer zu. Kunibert ersah einen Augenblick, wo er an dem Felsen einen Vorsprung entdeckte, und sprang ans Land. Der Kahn drehte sich um sich selbst, hielt schaukelnd inne und flog dann wie ein Pfeil stromabwärts. Kunibert blickte sich um. Es gab kein Zurück. Vorsichtig kletterte er weiter. Der Weg, den er fand, war kaum so breit wie sein Fuß, kaum breit genug für einen Fischotter. Doch es wurde besser, als sich die Schlucht noch mehr verengte. Vielleicht führte der wilde Gebirgsbach zuzeiten mehr Wasser mit noch stärkerer Strömung, denn ein Stück über den Wellen waren die Wände tiefer ausgewaschen, und dort lief ein schmaler Vorsprang hin wie ein Pfad. Kunibert ging schneller. Die Felsen über ihm rückten dicht zusammen und schlössen sich bald ganz. Dunkle Dämmerung herrschte in der Schlucht, nur ab und zu drang durch einen schmalen Schlitz fahles Tageslicht in die Tiefe. Unten stürzte das Wasser mit gewaltigem Brausen durch die Enge. Die Luft dröhnte und donnerte, es rieselte von den Wänden. Wenn sich der Pfad senkte, zischte es bis zu Kuniberts Füßen auf. Schon einigemal hatte er in den tosenden Strudeln etwas gesehen wie ein lebendes Wesen. An einer Stelle der Klamm, die ein wenig heller war, sah er es genauer. Ein schillernder Fisch, fast so groß wie ein Mensch, tauchte aus der Flut. Er war schweren Leibes und trug auf seinem 382
dicken Kopf eine kleine diamantene Krone. Sich in den jagenden Wellen zu halten, schien ihm keine Mühe zu machen, denn er glotzte ganz ruhig mit rundgeöffnetem Maul zu dem Ritter auf. »Hallo«, rief ihm Kunibert zu. »Ich wollte, ich könnte schwimmen wie du.« Drohend starrte ihn der Fisch an und schnappte mit dem runden Maul. »Was willst du in meinem Reich?« dröhnte es aus dem Toben zu Kunibert herauf. »Haben dich die Drachen nicht zerrissen, die Schlangen nicht gefressen, die Wellen nicht verschlungen?« »Dann stände ich nicht hier«, antwortete der Ritter, holte die kleine Schuppe des Karpfenprinzen hervor und hielt sie zwischen zwei Fingern in die Luft. »Flupp«, machte der Fisch und riß seine Glotzaugen noch weiter auf. »Flupp. So einer bist du? Das ist etwas anderes.« »Wohin führt dieser Pfad?« schrie ihm Kunibert zu. »Wenn du mich etwas fragen willst«, antwortete der Fisch, »gehe weiter, bis du die Schlucht hinter dir hast. Bei dem Lärm hier versteht man sein eigenes Wort nicht. Ich schwimme voraus.« Kunibert folgte seinem Geheiß. Bald war die Schlucht zu Ende. Die Felsen traten zurück. Es wurde wieder hell. Das Wasser strömte schnell und ruhig, und zwischen ihm und den Felsen war Raum genug für ein wenig Grün. Gerade, wie nach der Schnur gezogen, liefen die Ufer in die Ferne. 383
Kunibert trat auf einen großen Stein am Wasser und blickte sich suchend um. Der gekrönte Fisch erwartete ihn schon; sein dicker Kopf mit dem offenen, runden Maul guckte aus der Flut. »Hier muß ich bleiben«, sagte der Fisch. »Weiter aufwärts wird das Wasser zu warm.« »Zu warm?« rief Kunibert erstaunt. »Wo es unter dem goldenen Tor her aus dem Berg fließt«, erklärte der Fisch, »brodelt und dampft es. Da wäre ich gleich gesotten.« »Eine heiße Quelle?« »Flupp«, gluckste der Fisch. »Ich weiß nicht, was du alles eine Quelle nennst. Es kommt davon, daß das Wasser im Berg um die großen Feuer fließt, an denen die Zwerge schmieden. Damit es schneller abläuft, haben sie es bis hierher so gerade durch die Felsen geleitet wie einen Kanal. Meine Klamm haben sie glücklicherweise in Frieden gelassen. Das war ihnen doch zu mühsam.« »Wie kann ich in den Berg und zu den Zwergen gelangen?« fragte Kunibert. »Ach, weißt du«, antwortete der Fisch, »mit den Zwergen, das ist so eine Sache. Sie haben wenig Zeit und sind unfreundlich.« »Es hilft nichts. Wie komme ich in den Berg?« »Es gibt keinen andern Eingang«, entgegnete der Fisch, »als das goldene Tor. Du mußt sehr laut klopfen. Es sitzt ein hundertarmiger Wächter dahinter, der meistens schläft. Vielleicht bemüht er sich, eine seiner vielen Hände zu 384
heben und dir zu öffnen. Aber du weißt: Wächter haben einen gesunden Schlaf.« »Ich werde ihn schon wecken«, erwiderte der Ritter entschlossen. »Danke.« »Flupp«, machte der Fisch. »Glück auf den Weg.« Kunibert wanderte flußaufwärts. Als er sich nach einer Weile umdrehte, sah er den dicken Fisch immer noch aus dem Wasser gucken und ihm nachglotzen. Die Zwerge hatten gewaltige Arbeit geleistet. Der steinerne Kanal, den sie durch die Felsen geschlagen hatten, zog sich unabsehbar weit hin. Stunde um Stunde ging Kunibert, und noch immer war kein Ende zu erblicken. Schließlich sah er an dem aufsteigenden Dampf, daß das Wasser wärmer wurde. Wie durch Nebel schritt er. Ein Rauschen kam näher, und auf einmal blinkte es durch das schwebende Gewölk. Er stand vor dem goldenen Tor, unter dem es schäumend hervorsprudelte. Der Weg hörte auf. Die glatte Bergwand, die das Tor umschloß, schnitt ihn ab. Das Wasser brodelte und sprang. Kunibert pochte mit dem Schwertknauf laut an das Tor und lauschte, doch außer den zischenden Strudeln blieb alles tot und stumm. Kunibert klopfte noch einmal. Er klopfte noch öfter und rief. Vergebens. Er hob einen großen Stein auf und hämmerte damit an das Tor. Nichts rührte sich. Die brausende Einsamkeit blieb ehern und unbeweglich. Gab es wirklich keinen andern Eingang in den Berg? Er blickte sich um und sah durch die dampfenden Schleier den dunkeln Kanal sich in der Ferne verlieren. 385
Dorthin gab es keinen Ausweg, und wo er stand, umstarrten ihn steile Felsen. Der Ritter riß einen schweren Stein aus der Erde, der doppelt so groß war wie sein Kopf, und schleuderte ihn gegen das Tor. »Wach auf«, schrie er. »Öffne! Wach auf!« Der Stein stürzte in das brodelnde Wasser, in dem auch seine Stimme verklang. Verzweifelt ergriff Kunibert mit beiden Händen einen Felsblock und schlug damit wie rasend wieder und wieder auf das Gold. »Aufmachen«, brüllte er. »Aufmachen!« Es war alles umsonst. Das Tor blieb so unerbittlich wie der Berg. Den Ritter packte die Wut. Er war verloren in dieser Einsamkeit, aus der es keinen Weg und keine Rettung gab, wenn sich das goldene Tor nicht öffnete. Und dahinter saß ein Wächter, der schlief! »Verdammter Esel!« schrie Kunibert und schüttelte die Faust gegen das Tor. »Kannst du nichts als schlafen, du niederträchtiger Kanalaffe?« Blitze fuhren aus dem Gestein, das unter einem Donnerschlag erbebte, und eine Gestalt, hoch wie eine Palme, stieg auf. Der Berggeist Kanalâpe, der so uralt war, daß sein Gehör nicht mehr ganz fein unterschied, hatte in Kuniberts letztem Wort seinen Namen zu hören geglaubt, und da sein Gesetz ihn daran band, jedem, der seinen Namen aussprach, zu erscheinen und zu Diensten zu sein, erschien er Kunibert. Als er sah, daß ihn ein so kleines Wesen wie ein 386
Mensch beschworen hatte, schrumpfte er entsprechend zusammen und trat vor den Ritter hin, den er nur noch um einige Haupteslängen überragte. »Hier bin ich«, sprach er, den Kopf neigend, mit einer dumpfen Stimme, die wie Steingepolter klang. »Was befiehlst du, o Herr?« Der Berggeist trug ein langes, rotes Gewand, das stellenweise mit schimmernden Metallfäden durchwirkt war, und einen breiten gleißenden Gürtel. Sein Gesicht schien aus altem Wurzelholz geschnitzt zu sein, die tiefliegenden Augen waren schwarz. Seine gekreuzten Hände staken in den Ärmelfalten. »Öffne«, sagte Kunibert. »Ich will zu den Zwergen.« »Wo die Zwerge arbeiten, ist es sehr heiß«, antwortete der Berggeist. »Soll ich nicht lieber ein paar davon herholen?« »Das wäre ein Gedanke«, erwiderte Kunibert, »aber ich weiß nicht, ob du die richtigen bringst. Ich will von ihnen das Zauberwort erfahren, dem das Rasierzeug der Fee Süffisande gehorcht.« »Hat Süffisande ein Rasierzeug?« fragte Kanalâpe zweifelnd. »Vor undenklichen Zeiten hat sie es von Zwergen für ihren Geliebten schmieden lassen«, entgegnete Kunibert. »Ich habe es für König Kasimir den Zartbesaiteten gesucht und gefunden. Nur noch das Zauberwort fehlt mir. »Dazu brauchen wir nicht die Zwerge auszufragen«, erklärte der Berggeist mit einem hölzernen Lächeln. »Das 387
können wir einfacher haben. Willst du mir in die Tiefe folgen?« »Gern«, antwortete Kunibert. »Dann tue es«, sagte Kanalâpe sich umwendend. »Hänge dich an meinen Zopf.« Kunibert sah, daß dem Berggeist ein großer Zopf aus schönem, blankpoliertem Mahagoni über den Rücken hing. »Halte dich gut fest«, ermahnte Kanalâpe, als der Ritter den Zopf mit beiden Händen gepackt hatte. Dann hob er die Hand. Die Felswand spaltete sich. Blitzschnell fuhr der Berggeist mit Kunibert durch das Gestein, das wie Wasser vor ihnen wich und sich hinter ihnen schloß. Der Berggeist hielt in der rasenden Fahrt inne. Kunibert stand in völliger Finsternis. »Kannst du sehen?« fragte Kanalâpe. »Nicht die Hand vor Augen«, antwortete der Ritter. »Es ist ja stockdunkel.« »Ach so«, sagte der Berggeist, »ihr seid an das Tageslicht gewöhnt. Warte, ich will es heller machen.« Kunibert hörte ihn mit etwas Hartem an den Fels schlagen, und gleichzeitig glühten im Gestein Adern in allen Farben auf. »Was ist das?« fragte Kunibert. »Metalle«, antwortete Kanalâpe kurz. »Halte dich fest, jetzt geht es hinunter.« Kunibert fühlte den Boden unter seinen Füßen weichen. Langsam glitt er mit dem Berggeist in die Tiefe. Überall leuchteten die Adern im Gestein auf, und in ihrem Licht 388
blitzten die Drusen der Bergkristalle, blitzten Granaten und Amethyste, Topase, Berylle, Chrysopase und unzählige andere Steine in allen Farben. Wie bunte Sterne leuchteten Rubine, Smaragde und Saphire aus dem Dunkel und spiegelten ihr Licht in stumm rinnenden Wasserströmen, die durch den Fels stiegen oder fielen. Gnomen und Zwerge verschiedener Größe und verschiedenen Aussehens, die über das Wachsen der Steine oder über die Gewässer wachten, drängten sich durch den Berg. Dazwischen sah Kunibert undeutliche Formen sich regen und bewegen. Manchmal glaubte er, einen schlafenden Drachen zu erkennen, oder er sah wie einen Schatten ein riesiges Tier im Gestein, das dort stumpf brütend lag oder augenrollend einen dumpfen Kampf gegen Stein und Wasser zu führen schien. Zuweilen konnte er sich die Gestalten, ihr Dehnen und Drängen noch weniger deuten und wußte nicht: war das, was er sah, der gewundene Stamm und das verschlungene Geäst eines riesigen, wilden Baumes oder war es ein furchtbares Tier, das sich mühte, das Gewirr seiner Glieder zu bewegen? Je tiefer Kunibert und der Berggeist hinunterkamen, desto unkenntlicher wurde alles. Die Adern im Gestein verschwammen zu buntem Glühen, die farbigen Steine wurden zu sanft schillernden Wolken und Flecken; Felsgeschiebe bewegte sich dahin wie träge strömende Flut, und Wasser stand starr wie dunkelblanker Fels. Dazwischen drängten dicke, steinerne Nebel aufwärts, deren wunderliche Gebilde sich in zähem Ringen und Wachsen unaufhörlich verloren und wiederfanden.
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»Was ist das um uns her?« fragte Kunibert den Berggeist. »Die Erde schafft«, antwortete Kanalâpe ernst. »Als ob es ungelöste Rätsel waren«, sagte Kunibert, sich umblickend. »Du bist nicht dumm«, erwiderte der Berggeist. »Aber laß gut sein, sie werden gelöst.« Kanalâpe machte halt. Ein Gang, dessen Dämmerung in allen Regenbogenfarben schillerte, lag vor ihnen. »Jetzt kannst du mich loslassen und mir folgen«, sagte Kanalâpe. »Der Gang ist eben.« »Warum trägst du einen Zopf aus Mahagoni?« fragte Kunibert, während er hinter dem Berggeist ging. »Ich hätte mir einen aus einem großen Rubin geschliffen.« »Rubine sind billig wie Brombeeren«, antwortete Kanalâpe. »Aber Mahagoni, mein Lieber, das ist etwas Feines. Ich bin der einzige Berggeist, der einen Zopf aus Mahagoni hat.« Sie traten in eine weite, runde Höhle. »Wir sind am Ziel«, sagte der Berggeist. »Hier ist die magische Tafel, die uns alles sagt. Bleib stehen.« Er trat in die Mitte des Raumes und hob die Hand. Breite Lichtbahnen brachen aus den Wänden, und mit einem Schlag war es blendend hell. Der Berggeist ballte die erhobene Hand zur Faust. Schwarze zackige Strahlen zuckten durch die Luft, trafen sich in der Mitte der Höhle und verwickelten sich zu einer
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Kugel. Kanalâpe bewegte würdevoll die Hände im Kreise. Die Kugel glättete sich zu einer schwarzen Fläche. Der Berggeist trat zu Kunibert. »Denke deinen Wunsch und schweige«, sprach er laut. Seine Stimme hallte unter der Wölbung wider, und von allen Seiten rief es zurück: Denke deinen Wunsch und schweige! Es wurde Kunibert nicht leicht, seine Gedanken zu sammeln, aber kaum war es ihm gelungen, als auch schon auf der schwarzen Tafel das Zauberwort in demantener Schrift erschien, wie von einer riesigen Hand hingeschrieben. Kunibert zog den Spiegel heraus und ritzte das Wort mit einem Griffel, den ihm Kanalâpe reichte, auf der blanken Rückseite ein. Langsam erloschen die Zeichen. Der Berggeist strich mit der Hand durch die Luft. Die schwarze Tafel zerflatterte, die Lichtstrahlen zerstoben, und in der Höhle wurde es finster. »Soll ich dich wieder vor das goldene Tor bringen?« fragte der Berggeist. »Nein«, antwortete Kunibert schnell. »Im Gegenteil.« »Hm«, brummte der Berggeist, »auf der andern Seite des Gebirges ist es dicker Winter mit mannshohem Schnee. Was willst du dort?« »Nichts«, erwiderte Kunibert. »Bring mich in eine wärmere Gegend.« »Ans Meer?« schlug Kanalâpe vor. »Es ist etwas weiter, aber das macht mir nichts aus.« »Ja, ans Meer«, rief Kunibert, »denn –« 391
Er verstummte. In seinem Inneren wurde es so schwarz, wie es vor seinen Augen war. Ein Schwindel packte ihn, ein sausender Wirbel führte ihn davon. Um ihn her krachte, donnerte und blitzte es, als ob er von dem zusammenstürzenden Gebirge durch das Weltall geschleudert worden wäre. Plötzlich stand er allein im grellen Tageslicht. Hinter ihm hohe, kahle Felswände. Vor ihm ein steiler Abstieg zu breiten, nackten Klippen, die weit in ein blaues Meer hinausragten, dessen Brandung sich weißschäumend an ihnen brach.
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ZWANZIGSTES ABENTEUER
DER TIERGARTEN Kunibert ging über eine der breiten Klippen bis ans Wasser. Zwischen den zerklüfteten Felsen waren sandige Einschnitte, in die die Wellen hineinspülten. Er ging bis zur äußersten Spitze und wandte sich um. Seine Augen schweiften über die kahlen Berge, von denen er kam, und nach beiden Seiten über die schroffen Ufer hin, soweit er sehen konnte. Er setzte sich am Rande der Klippe nieder und schaute über das blaue Meer hinaus. Zu seinen Füßen schlug die Brandung an die Felsen. Helle Spritzer flogen vor ihm auf. Das einzige Lebendige, das er erblickte, waren ein paar Möwen, die über ihm durch das Blau segelten. Weit draußen am Horizont kroch ein winziger Dreimaster hin. Hierher verirrt sich gewiß nie ein Schiff, dachte er. Was sollte es auch an dieser öden, steinigen Küste? Mit dem Zauberwort hat es der Berggeist gut gemacht, aber dies ist ein schlechter Streich. Wie soll ich von hier wegkommen? Ob der Berggeist am Ende doch der Wächter war, den ich aus dem Schlaf geschimpft habe? Höflich war ich allerdings nicht." Wie habe ich ihn doch genannt? Esel, ja, und – richtig – Kanalaffe. Kunibert lachte. Na ja, in meinem Ärger! Der Kanal wird mich auf das verrückte Wort gebracht haben. Schließlich ist es die Hauptsache, daß ich das Zauberwort habe. Er zog den Spiegel hervor und drehte ihn um. Kaum fiel sein Blick auf die eingeritzte Schrift, als ihn schwindelte, 393
so blendend weißes Licht schoß aus dem blanken Golde auf. Erschrocken schloß er die Augen, doch die unwirkliche strahlende Helle blieb, und mitten darin schwebte die schwarze Kugel. Sie wuchs, Finsternis verdrängte das Licht, umhüllte Kunibert und drang in sein Inneres, bis ihn das Dunkel ganz erfüllte und er in ihm versank. Erst nach langer Zeit schlug er die Augen wieder auf. Er hielt den Spiegel noch in der Hand. Rasch steckte er ihn ein, ohne die Schrift noch einmal zu lesen. Es war Abend geworden. Die Sonne stand tief hinter schmalen Wolken, zwischen denen sich der Himmel rötete. Kunibert war wie aus einem schweren Schlaf erwacht. Sein Blick war klar, seine Sinne waren wach, aber er war noch losgelöst von seinem Leben und sah alles wie einen Zufall, ohne Zusammenhang. Die grünblauen Wellen rollten gegen die Felsen an, schäumten an ihnen empor und fluteten wie unter großen weißmaschigen Netzen gefangen zurück. Kunibert blickte auf. War da nicht zwischen den Felszacken ein kleines Segel zu sehen gewesen? Hastig tastete er sich an den Felsen hinab, glitt hinunter, bis er auf einem schmalen Vorsprung stand, neben dem auf beiden Seiten das Wasser aufbrandete. Rot wie Blut war das Meer vor ihm und gelb der Himmel darüber. Ein kleines, dunkles Schiff mit schwarzen Segeln flog von der Seite über die Wellen heran. Drei dunkle Schatten saßen darin. Am Mast lehnte eine biegsame Frauengestalt in perlmutterfarbenem Gewande. Rettung! dachte Kuni394
bert. Das Boot eilte herbei, kam näher und näher. Dicht vor Kunibert schoß es vorüber, da wagte er den Sprung. Schwankend stand er auf der Bordwand. Ein Arm reckte sich ihm entgegen, eine weiße Hand. Er ergriff sie und wurde ins Boot gezogen. »Sonja!« rief er, hielt sich mit einer Hand am Mast und umschlang sie mit dem andern Arm. »Sonja – du!« »Kunibert – bist du es wirklich?« »Ja, endlich, endlich!« Die jungen Fischer im Boot hatten alle Hände voll mit den Segeln zu tun, und der Alte am Steuer durfte kein Auge vom Kurs wenden. Nach einer Weile stiegen Sonja und Kunibert zu der Ruderbank hinter dem Mast hinunter und setzten sich. »Wie kann das sein, Sonja, daß du hier bist?« fragte er. »Ich wußte es doch, Liebster«, sagte sie. »Ich wußte, daß du einmal kommen würdest. Wir sind dir oft entgegengefahren. Kennst du denn unser Boot nicht?« »Doch«, antwortete er, »doch. Damals fuhr es auf einem blutroten Meer. Heute erscheint es mir rosenrot.« »Mir auch«, sagte sie leise. »Aber andere würden es vielleicht dunkel nennen.« »Sonja, wie ist es möglich, daß du mir oft entgegengefahren bist? Und wie hast du mich gefunden, hier in der Ferne?« »Siehst du den Berg dort vor uns?« fragte sie lächelnd. »Den, der so weit ins Meer hinausragt? Dahinter liegt die Bucht von Marsilia.« 395
Sie segelten schon im Schatten des Berges, und als sie um die Spitze bogen, ließen die Fischer drei weiße Raketen aufsteigen. »Das ist das Zeichen«, sagte Sonja. Vor ihnen lag die nachtschwarze Bucht. In der Ferne flimmerten winzig die Lichter der Stadt und des Hafens. »Erzähle mir von König Kasimir«, bat Kunibert, »und sage mir, ob meine Mutter noch lebt.« »Beide sind gesund und wohlauf«, antwortete Sonja. »Frau Schute habe ich besucht; Schorse hat mich hingebracht. Sie war auch bei uns in Marsilia, aber sie wollte nicht lange bleiben. Deine Burg Scharfenstein ist ausgebessert und steht da wie neu. Papa meinte, die Burg seines künftigen Schwiegersohnes müsse gut imstande sein, und das war sie nicht so ganz.« »Es regnete von allen Seiten hinein«, gab Kunibert etwas kleinlaut zu. »Ich bin König Kasimir sehr dankbar.« »Mein Vater ist, wie du dir denken kannst, älter geworden«, fuhr Sonja zögernd fort. »Manchmal ist er ein wenig eigensinnig und wunderlich. Es ist besser, ich sage dir das gleich.« »Er hat leider sehr lange auf das Rasierzeug warten müssen«, sagte Kunibert. »Oh, das ist es nicht«, entgegnete Sonja rasch. »Er hat sich einen Vollbart stehen lassen, und der drollige Barbier, den du mit Schorse geschickt hast, klagt über Langeweile. Schorse wird närrisch werden vor Freude, wenn er dich sieht!« Kunibert erkundigte sich nach Bindo. 396
»Bindo hat den Kasten gebracht«, erwiderte Sonja. »Er ist schön.« Schließlich ließ man überall krumm gerade sein, und die Stimmung wurde dadurch nur froher. Das Prunkschiff legte an. Die Menge drängte herzu. Von den wenigen Hellebardieren, die sich zusammengefunden hatten und die den Platz zum Aussteigen freihalten sollten, wo Prinzessin Mira, Bindo und die hohen Kammerherren standen, plumpste gleich einer ins Wasser. Da er aber an seiner Hellebarde rasch wieder herausgezogen wurde, kam er in der warmen Nacht mit einem kleinen erfrischenden Bad davon, und es gab großes Gelächter. Mira und Bindo, der auf weiten Fahrten zu einem schönen jungen Ritter herangewachsen war, umarmten Kunibert und Sonja herzlich. Ehe man sich dessen versah, war Schorse da, fiel Kunibert um den Hals und drehte ihn vor Freude im Kreise, so daß es aussah wie ein Bärentanz. Dann kamen die feierlichen Glückwünsche des Zeremonienmeisters und der Kammerherren, und als das glücklich vorbei war, mußte man versuchen, zu den Wagen zu gelangen, Das war schwierig, da man nur Schritt für Schritt durch die andrängende Menge vorwärts kam. Endlich aber saß man doch in den Galakutschen. Die beiden Prinzessinnen und ihre Ritter waren zusammengeblieben. Schorse thronte stolz auf dem Bock. Die Fahrt zum Schloß ging sehr langsam vor sich, und oft mußte der Zug anhalten in dem Strom von lachenden und rufenden Gesichtern und winkenden Händen. Die Fackelträger, die den Zug begleiten sollten, waren bald an die Häuser gedrängt. Es regnete Blumen, so daß die vier in 397
dem offenen Wagen bis zur Brust in duftenden Blüten saßen, was nicht sehr bequem war. Als die Leute keine Blumen mehr hatten, warfen sie in ihrer unbändigen Freude mit Hüten und Mützen, und die seltsamsten Kopfbedeckungen flogen in die Kutsche. Mira vergnügte sich damit, die unmöglichsten davon auszusuchen und mit spitzen Fingern vornehmen Kavalieren zu reichen, die sich an den Wagen drängten, um Sonja und Kunibert mit Glückwünschen aufzuwarten. Als sie ins Schloß kamen, ließ König Kasimir mit einem Gruß an Kunibert sagen, er sei zu Bett gegangen und habe den Empfang auf den Vormittag festgesetzt. Sonja entließ daraufhin mit freundlichen Worten das ganze Gefolge und verkündete, daß alle Festlichkeiten im Schloß in den nächsten Tagen stattfinden würden. Die Abendtafel fand im engsten Kreise statt, doch die Prinzessinnen, Kunibert und Bindo saßen noch lange nachher zusammen, und während durch die Fenster die Geräusche der feiernden Stadt hereindrangen, plauderten sie und lauschten Kuniberts Erzählung, den Sonja mit ebenso glücklichen Augen ansah wie er sie. Am Vormittag war der ganze Hof im blauen Kuppelsaal versammelt, genauso wie an dem Tage, als Kunibert das Schloß zum erstenmal betreten hatte. Nur waren die Spiegel diesmal mit zarten, weißen Schleiern verhängt worden, denn darauf hatte der Finanzminister bestanden, Fanfaren ertönten, die Flügeltüren öffneten sich, der Zeremonienmeister stieß gewaltig mit seinem großen Stock auf, und König Kasimir trat ein. Hinter ihm gingen Sonja 398
und Kunibert, denen Mira, Bindo und die diensttuenden Kammerherren und Hofdamen folgten. Kasimir setzte sich auf seinen Thron. Er war älter geworden. Durch seine weichen, braunen Haare und seinen dunkeln Vollbart zogen sich silberne Fäden. Er blickte sich im Kreise um, hob, Schweigen gebietend, die Hand, stand auf und sprach: »Lieber Kunibert, ich habe dich zwar schon begrüßt, aber ich heiße dich hier noch einmal herzlich in Marsilia willkommen. Du hast das Rasierzeug der Fee Süffisande gefunden und mitgebracht. Daß ich es nicht mehr brauche, weil ich mich inzwischen an meinen Vollbart gewöhnt habe, ist eine Sache für sich. Das Kleinod wird immer eine Zierde unseres königlichen Schatzes sein, und ich danke dir. Du hast somit die zweite der Bedingungen, die den Freiern meiner Tochter Sonja vorgeschrieben sind, erfüllt. Vernimm jetzt die dritte.« Sonja war blaß geworden. »Papa«, rief sie aufspringend, »Kunibert hat sich wirklich genug geplagt. Wenn du ihn noch einmal wegschickst, begleite ich ihn, das sage ich dir.« »Es waren von Anfang an drei Aufgaben vorgesehen«, antwortete Kasimir. »Dann erlaß ihm die dritte«, bat Sonja. »Erlassen?« fragte Kasimir erstaunt. »Dein Vater hat recht, Sonja«, sagte Kunibert. »Ich habe drei Proben zu bestehen. Jedoch«, fuhr er, sich zum Thron wendend, fort, »da es so schwierig und langwierig war, das 399
Rasierzeug zu finden, hoffen wir auf deine Gnade, König Kasimir.« Kasimir hob die Hand. »Ein Königswort soll man nicht drehen noch deuteln«, antwortete er ernst, »und außerdem habe ich viele schlaflose Nächte darüber nachdenken müssen, was wir in Marsilia dringend brauchen, denn eigentlich fehlt uns nichts. Ich habe es trotzdem gefunden. Es ist ein Zoologischer Garten.« »Aber Papa«, sagte Sonja, »es gibt doch so gute Tierhandlungen, in denen du alles kaufen kannst.« Der König winkte ihr, zu schweigen, und sprach weiter: »Alle großen Städte haben einen mehr oder weniger schönen und wohlversehenen Zoologischen Garten. Nur wir haben keinen, denn ein paar Affen, ein Dutzend Papageien, zahme Rehe und einen Stall mit Meerschweinchen kann man keinen Zoologischen Garten nennen. Das geht nicht. Ich will auch einen haben, und zwar den besten und vollständigsten, den es auf der Welt gibt und geben kann. So stelle ich denn dir, lieber Kunibert, als dritte Bedingung diese: ziehe aus in die Welt und bringe mir von jedem Tier, das es auf oder in der Erde, in der Luft oder im Wasser gibt, eins, und wenn du kannst, ein Pärchen. Erfüllst du mir auch diesen Wunsch, sollst du meine Tochter Sonja heiraten und mein Nachfolger werden. Mögest du deine Aufgabe rasch und glücklich lösen.« »Das ist zu arg, Papa«, flehte Sonja verzweifelt. »Das ist zu arg –«
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Kunibert war erstarrt. Prinzessin Mira blickte den König mit erschrockenen Augen an. Bindo schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Es ist unmöglich, deinen Wunsch zu erfüllen«, sagte Kunibert vorwurfsvoll. »Für einen Freier Sonjas darf es nichts Unmögliches geben«, antwortete der König. »Wenn du dich wenigstens mit den schönsten und seltensten Tieren begnügen wolltest«, schlug Kunibert vor. »Mein Garten muß vollständig sein«, entgegnete der König. »Ich will mich nicht eines Tages von einer andern Stadt übertrumpfen lassen.« »Du hörst doch, daß es unmöglich ist«, sagte Sonja erregt und trat zu ihrem Vater. »Bedenke doch –« Sie redete leise auf ihn ein. Mira kam herbei und sprach dazwischen. Bindo unterstützte die Versuche der Prinzessin, den König zu überzeugen. Kasimir hatte einen roten Kopf bekommen. »Es gibt gar nicht so viele Tiere, wie ihr euch einbildet«, rief er ungeduldig. »Wo sollten sie denn, zum Henker, sein? Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, und damit basta.« »Nicht so laut, Papa«, sagte Sonja, und dann flüsterten sie wieder. Zuweilen hörte man Kasimirs lautere Stimme. »Ja doch, Mira. Mücken und Haifische! Die kann man schließlich ausstopfen. Giftschlangen, lieber Bindo, steckt man in Glaskästen.«
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Kunibert stand gekränkt abseits. Bin ich dazu durch die ganze Welt gezogen und habe all meine Abenteuer bestanden, damit ich jetzt an einer solchen Narrheit scheitern soll? dachte er und kaute vor Ärger an seinem Schnurrbart. Die Hofgesellschaft steckte die Köpfe zusammen und tuschelte. Man tauschte Meinungen aus. Es gab betrübte Gesichter, erschrockene, enttäuschte, schadenfrohe und belustigte. Sonja kam zu Kunibert. »Er hört gar nicht auf uns«, jammerte sie mit gerungenen Händen. »Was soll nur werden? Er ist taub für alles, was man ihm sagt.« Den Ritter packte der Zorn. »Er ist wie der Wächter hinter dem goldenen Tor, der nicht aufmachen wollte«, rief er. »Ebenso taub wie der verdammte Kanalaffe!« Ein Donnerschlag erdröhnte. Blitze fuhren aus dem Boden. Kanalâpe stand vor Kunibert und verbeugte sich würdevoll. »Was befiehlst du, o Herr?« fragte er. Alle ringsum starrten erschrocken und verblüfft den Berggeist an, dessen Stimme wie durcheinanderpolterndes Geröll geklungen hatte. »Wie kommst du hierher?« fragte Kunibert erstaunt. »Du hast mich gerufen«, antwortete Kanalâpe. »Sage mir deinen Wunsch.« »Diesmal wirst du mir auch nicht helfen können«, erwiderte Kunibert und lachte zornig auf. »Ich brauche einen Zoologischen Garten.« 402
»Der ist leicht zu beschaffen«, entgegnete der Berggeist. »Hast du mich deswegen gerufen?« »So einfach ist die Sache nicht«, erklärte Kunibert. »König Kasimir will einen vollständigen Zoologischen Garten, einen, in dem kein Tier fehlt, das auf der Erde oder in der Erde lebt, in der Luft fliegt oder im Wasser schwimmt.« »Hm –«, meinte Kanalâpe nachdenklich. »Das ist schon schwieriger. Laß mich überlegen. Unmöglich ist nichts.« »Siehst du, Kunibert?« sagte König Kasimir. Der Berggeist stand gesenkten Hauptes mit untergeschlagenen Armen da und sah starr vor sich hin. Alle Blicke waren ehrfurchtsvoll und gespannt auf ihn gerichtet. Nach einer Weile hob er den Kopf. »Erwartet mich hier«, murmelte er so dumpf, daß es wie grollendes Erdbeben klang, und verließ mit gemessenen Schritten den Saal. Zuerst folgten ihm ein paar neugierige Lakaien, dann einige jüngere Kammerherren, endlich faßten auch die Damen Mut, und schließlich zog in langer Kette und achtungsvoller Entfernung die ganze Gesellschaft hinterdrein, ängstlich darauf bedacht, nicht von ihm bemerkt zu werden. Der König, die Prinzessinnen und die beiden Ritter waren allein in dem blauen Kuppelsaal zurückgeblieben, denn der Zeremonienmeister, der es unter seiner Würde fand, Neugierde zu zeigen, hatte sich zurückgezogen, um über den Rang nachzudenken, der bei Hofe einem Berggeist zukäme. Sonja und Kunibert traten in eine 403
Fensternische und bestärkten einander in der neuen Hoffnung, die sie aus dem ernsten Benehmen des Berggeistes, vor allem aber einer aus den Augen des andern schöpften. Mira und Bindo waren auf die verlassene Empore der Musik geschlichen, und der König ging mit langschleppendem Hermelinmantel vor seinem Thron auf und ab. Langsam wandelte der Berggeist durch die Höfe des Schlosses und durch die Straßen der Stadt, wo manches seine Neugierde zu fesseln und ihn zu belustigen schien. Ab und zu trat er in einen Spielzeugladen und ließ sich von den verdutzten Verkäufern eine oder die andere Arche Noah vorlegen, schüttelte jedoch nur stumm den Kopf und ging wieder hinaus. Die Spielzeugläden befriedigten ihn anscheinend nicht. Er setzte sich auf eine Bank in den Anlagen, streckte die Beine so weit aus, daß der ganze Weg versperrt war, stützte das Kinn in die Hand und dachte nach. Plötzlich stieß er mit dem Finger vor sich in die Luft, stand auf und ging weiter. Ein kleiner runder Bürger wollte rasch vor ihm in einen Seitenpfad flüchten, doch Kanalâpe vertrat ihm den Weg. »Weißt du in dieser Stadt Bescheid, kleiner Mann?« fragte der Berggeist mit rollender Stimme den Bürger, der angstvoll zu ihm aufsah und sich dabei fast das Genick verrenkte. »Ja, Hochzuverehrender«, stotterte der Erschrockne. »Ich bin in Marsilia geboren.« »Gibt es hier eine Buchhandlung?« erkundigte sich Kanalâpe. 404
»Gewiß, gewiß, überaus bevollmächtigter Herr Riese«, antwortete der verwirrte Bürger eifrig. »Sogar eine Hofbuchhandlung!« »Führe mich hin«, sprach der Berggeist und ging mit dem Mann weiter, der, unsicher zu ihm aufschielend, neben ihm hertrippelte. An der Tür der Hofbuchhandlung drückte Kanalâpe dem Bürger einen faustgroßen Diamanten in die Hand, entließ ihn und trat ein. Kunibert stand noch immer neben Sonja in der Fensternische und konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Sie ist noch schöner geworden, dachte er, noch schöner als damals. »Ich kann mich nicht satt sehen an dir, Sonja«, sagte er. »Wie habe ich mich in der ganzen langen Zeit danach gesehnt, dich nur ein einziges Mal –« »Aber, Kunibert«, unterbrach sie ihn erstaunt, »sehen konntest du mich doch, so oft du wolltest.« Er blickte sie verwundert an. »Hattest du denn das kleine, runde Glas vergessen«, fuhr sie fort, »das dir bei der Abfahrt in einem Kästchen zugesteckt worden ist? Du hättest es nur vors Auge zu halten brauchen. Es kam doch von Beppo.« »O Sonja!« rief Kunibert, dem der Abend vor seiner Flucht aus Hatims Haus einfiel. »O Sonja! Ich unsagbarer – « Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Sie lachte hellauf. »Jetzt hast du ja mich selbst«, tröstete sie ihn. 405
König Kasimir, der unentwegt vor seinem Thron auf und ab ging, blieb stehen und lauschte nach der offenen Flügeltür hin. »Sie kommen wieder«, murmelte er, stieg die Stufen zu seinem goldenen Sessel hinan und setzte sich. Sonja ergriff Kuniberts Hand und verließ mit ihm die Fensternische. Mira und Bindo blickten neugierig von ihrer Galerie herab, denn aufgeregte Herren und Damen eilten in den Saal. Es waren nur wenige. Die meisten warteten an dem Wege, den der Berggeist kommen mußte, um ihn recht in der Nähe zu sehen. Ein anschwellendes Gemurmel der Verwunderung drang von außen herein, und bald betrat der Berggeist wieder den Kuppelsaal, ebenso würdevollen Schrittes, wie er ihn verlassen hatte. Mit unbewegtem Gesicht näherte er sich dem Thron. Hinter ihm kam ein Dienstmann, der einen bepackten Karren schob. Vor dem Thron stürzte Kanalâpe den Handkarren um und befahl dem Dienstmann, ihn wieder hinauszuschieben. Ein Haufe dicker Bücher war heruntergefallen. Kunibert trat neugierig hinzu. »Es ist Brehms Tierleben in der vollständigen Ausgabe«, erklärte der Berggeist, legte die Bände nebeneinander, zog ein Stöckchen hervor, murmelte ein furchtbares Wort, das unverständlich blieb, und strich ritsch, ratsch mit dem Stab über die Bücher. Was nun geschah, war entsetzlich und gab das Zeichen zu einer allgemeinen Flucht der Hofgesellschaft durch Türen und Fenster. Die Bücher bewegten sich, blätterten sich auf. Undeutlich, riesig und unaufhaltsam quoll es aus ihnen heraus. Alle Tiere, die in den Bänden standen, waren von dem Zauber des Berggeists zum Leben geweckt 406
worden. Delphine, Riesenschlangen und Thunfische wälzten sich über Krokodile und Schildkröten. Löwen, Tiger, Gazellen, Büffel und Affen sprangen umher. Ein Walfisch lag da wie ein Felsen. Elefanten trompeteten, Nashörner, Tapire und Nilpferde glotzten, Rehe, Hunde, Hasen und Leoparden jagten durch das Gewirr von Schweinen, Haifischen, Straußen, Eisbären, Giraffen, Kühen, Gemsen, Wölfen und Kamelen. Die Luft war erfüllt von einem dichten Schwärm krächzender, schreiender, pfeifender und kreischender Vögel aller Art, unter denen es quiekte, brüllte, zischte, wieherte, bellte, fauchte und blökte, daß man dachte, die Welt gehe unter. Zuerst hatten die großen Tiere die kleinen zurückgedrängt, aber nun kamen die Ratten und Mäuse, die kleinen Fische, die Eidechsen, die Frösche, die Kröten und Salamander, die Molche, die Würmer, die Schnecken, die Krebse, die Mücken, die Bienen, Wespen und Hummeln, die Schmetterlinge und Libellen, die Kellerasseln, die Flöhe, die Ohrwürmer, die Wanzen, die Spinnen, die Läuse und die Tausendfüßler, die Käfer und die Ameisen. Immer noch nahm es kein Ende, immer mehr und mehr Lebewesen strömten aus den Bänden. Kreideweiß saß Kasimir auf seinem Thron, hielt sich mit beiden Händen fest und zitterte. Kunibert hatte Sonja zu ihm hinauf geschoben und stand schützend vor beiden, obwohl er sofort gesehen hatte, daß der Berggeist die Tiere im Bann hielt. »Genug«, rief Kasimir heiser. »Genug. Halt ein! Halt ein!« 407
»Noch lange nicht genug«, antwortete Kanalâpe. »Es ist erst der zehntausendste Teil. Stunden wird es noch dauern.« »Zaubere die Tiere wieder in die Bücher zurück«, bat der König. »Schnell!« Kunibert wandte sich zu ihm. »Wann wird unsere Hochzeit sein?« fragte er. »Morgen, wenn du willst. Morgen, auf mein königliches Wort!« rief Kasimir. »Nur laß den Geist das gräßliche Viehzeug schleunigst wieder in die Bücher packen.« Kanalâpe blickte fragend den Ritter an, der ihm zunickte. »Ich halte es auch für besser«, murmelte der Berggeist, beschrieb mit seinem Stab ein glänzendes Zickzack durch die Luft, und gehorsam kehrten die Tiere wieder in die Bände zurück, jedes auf seinen Platz. Auch das dauerte geraume Zeit, und als es geschehen war, hatte sich König Kasimir einigermaßen erholt. Bindo und Mira waren von der Tribüne herabgekommen, aber die Hofgesellschaft begnügte sich damit, durch Türen und Fenster zu gucken. »Eine kleine Auswahl hätte man doch zurückbehalten sollen«, meinte König Kasimir, als die Bände wieder sauber und ordentlich vor ihm lagen. »Du behältst ja die Tiere in deiner Bibliothek«, antwortete Kanalâpe, stampfte mit dem Fuß auf und verschwand im Erdboden. Ein halb grinsendes, halb erschrockenes Gesicht tauchte hinter dem Thronhimmel auf. Es war Schorse. Der Knappe 408
hatte in der Gefahr bei seinem Herrn bleiben wollen, aber dann hatte ihn sein Mut ein wenig verlassen. »Wenn ich das in Scharfenstein erzähle«, rief er, »glaubt es mir kein Mensch!« »Lieber Schorse«, sagte der König, »es gibt nichts, was die Menschen nicht glaubten!« »Doch«, widersprach Kunibert, »etwas gibt es, das sind die Abenteuer, die ich erlebt habe und die hier berichtet worden sind!«
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