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Auf den ersten Blick sieht Magnus Ridolph nicht wie ein Tausendsassa aus, sondern eher wie ein würdiger Herr, ein Bonvivant, stets korrekt gekleidet, charmant, ein Kavalier alter Schule. Doch seine Gegner lehrt er das Fürchten. Hinter dem unscheinbar harmlosen Äußeren steckt der beste Detektiv der Galaxis, mit einem messerscharfen Verstand und zäher Beharrlichkeit. Magnus Ridolph ist eine der beliebtesten und bekanntesten Figuren, die Jack Vance je geschaffen hat. In diesem Band sind die Erzählungen von dem galaktischen Meisterdetektiv zum ersten Mal vereint.
Der vor allem durch seinen DÄMONENPRINZENZYKLUS und seine DURDANE-TRILOGIE bekannte amerikanische SF- und Fantasy-Autor errang den größten Erfolg mit seinem Roman DIE STERBENDE ERDE und wurde zweimal mit dem begehrten HUGO GERNSBACK AWARD ausgezeichnet.
Von Jack Vance erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Start ins Unendliche (06/3111) Jäger im Weltall (06/3139) Die Mordmaschine (06/3141) Der Dämonenprinz (06/3143) Emphyrio (06/3261) Der Mann ohne Gesicht (06/3448) Der Kampf um Durdane (06/3463) Die Asutra (06/3480) Trullion: Alastor 2262 (06/3563) Marune: Alastor 933 (06/3580) Der graue Prinz (06/3652) Showboot-Welt (06/3724) Maske: Thaery (06/3742) Wyst: Alastor 1716 (06/3816) Die sterbende Erde (06/3977) Das Gesicht (06/4013) Das Buch der Träume (06/4014) Die Welten des Magnus Ridolph (06/4053) Außerdem erschien: »Die letzte Festung« in: Science Fiction Jahresband 1981, hrsg. von Wolfgang Jeschke (06/3790)
JACK VANCE
DIE WELTEN DES MAGNUS RIDOLPH Die gesammelten Magnus Ridolph Stories Science Fiction-Erzählungen
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 06/4053 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE MANY WORLDS OF MAGNUS RIDOLPH Deutsche Übersetzung von Lore Strassl Das Umschlagbild schuf Michael Pfeiffer Die Illustrationen im Text zeichnete Hubert Schweizer
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1966, 1980 by Jack Vance Copyright © 1984 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1984 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels/Österreich Druck und Bindung: Elsnerdruck Berlin ISBN 3-453-30996-0
INHALT DIE KOKODKRIEGER .................................. Seite (The Kokod Warriers)
7
DER UNNENNBARE McINCH ................... Seite 67 (The Unspeakable McInch) DIE HEULENDEN SCHLINGER ................. Seite 99 (The Howling Bounders) DER KÖNIG DER DIEBE .............................. Seite 133 (The King of Thieves) KURORT ZWISCHEN DEN STERNEN ...... Seite 165 (The Spa of the Stars) GNADENSTREICH ....................................... Seite 201 (Coup de Grace) DIE MANIPULIERTEN SARDINEN ........... Seite 240 (The Sub-Standard Sardines) DAS MYSTERÖSE VERSCHWINDEN ....... Seite 282 (To B or not to C or to D)
DIE KOKODKRIEGER 1 Magnus Ridolph saß auf der gläsernen Anlegebrücke von Providencia mit einem kleinen Glas Blauem Ruin in der Hand. Hinter ihm erhob sich das Granateekap, vor ihm dehnte der Tausend-Eiland-Ozean sich aus mit seinen Myriaden winziger Inseln – jede Insel mit einer neoklassizistischen Villa und Bäumen. Über ihm wölbte sich, so weit das Auge reichte, ein strahlendblauer Himmel, und unter dem Glasdeck zu seinen Füßen lag der Korallencañon mit seinen Schwärmen von Seefalterfischen, die wie metallische Schneeflokken glitzerten. Magnus Ridolph nippte an seinem Likör und dachte über den Kontoauszug nach, den er eben erst von seiner Bank erhalten hatte. Wenn sich an seiner Lage nicht bald etwas änderte, würde er bald am Hungertuch nagen. Er war eben ein bißchen zu vertrauensselig mit der Verwaltung seiner Finanzen gewesen. Vor ein paar Monaten hatte die Investment und Immobilien Gesellschaft Äußeres Reich bankrott gemacht. Der Vorstandsvorsitzende Mr. See und der leitende Direktor, Mr. Holpers, hatten einander erstaunlich hohe Gehälter bezahlt, die zum größten Teil aus Magnus Ridolphs Investitionskapital kamen. Seufzend blickte Magnus Ridolph auf seinen Likör. Das würde sein letzter Blauer Ruin sein. Von jetzt an würde er sich höchstens noch Vin Ordinaire leisten können – ein Getränk, das wie Estragonessig schmeckte und aus fermentierter Rinde eines einhei-
mischen Kaktus zubereitet wurde. Ein Kellner kam auf Magnus Ridolph zu. »Eine Dame möchte Sie sprechen, Sir.« Magnus Ridolph strich über seinen gepflegten weißen Bart. »Aber gern. Führen Sie sie doch bitte zu mir!« Der Kellner kam zurück. Ridolph hob die Brauen, als er seinen Besuch sah: eine Frau von respekteinflößender Haltung die einen streitbaren und gleichzeitig tugendhaften Eindruck machte. Ihr Interesse an Magnus Ridolph war zweifellos rein geschäftlich. Abrupt blieb sie knapp vor ihm stehen. »Sie sind Magnus Ridolph?« Er verbeugte sich höflich. »Ja. Setzen Sie sich doch bitte!« Sichtlich zögernd nahm die Frau Platz. »Irgendwie, Mr. Ridolph, hatte ich mir eine etwas andere Vorstellung von Ihnen gemacht...« »Sie hatten einen jüngeren Mann erwartet?« fragte er. »Mit strotzenden Muskeln, einem Waffengürtel, vielleicht auch einem Raumhelm? Oder stört mein Bart Sie?« »Nein, nicht direkt, aber meine Angelegenheit...« »Ah, Sie möchten mich in einer geschäftlichen Sache sprechen?« »Allerdings.« Trotz des unerfreulichen Kontoauszugs, den er jetzt faltete und in seine Tasche steckte, sagte Magnus Ridolph entschieden: »Wenn Ihre Angelegenheit Muskelkraft erfordert, muß ich Sie ersuchen, sich an einen anderen zu wenden. Möglicherweise käme mein Hausmeister in Frage. Er ist ein sehr kräftiger Bursche, der sich in seiner Freizeit mit Gewichtheben beschäftigt.«
»Nein, nein!« wehrte die Frau hastig ab. »Sie müssen mich mißverstanden haben. Ich hatte Sie mir nur eben anders vorgestellt.« Magnus Ridolph räusperte sich. »Womit, glauben Sie, könnte ich Ihnen möglicherweise helfen?« »Ich bin Martha Chickering, Schriftführerin der Frauenvereinigung zur Erhaltung von Sitte und Ordnung. Wir kämpfen im Augenblick gegen besonders schändliche Mißstände, gegen die die Obrigkeit jedoch nichts unternimmt. Wir haben an den Anstand der Verantwortlichen appelliert, aber sie sind, wie ich befürchte, nur am Gewinn interessiert, an nichts anderem.« »Würden Sie mir bitte Ihr Problem darlegen?« »Sind Sie mit dem Wort ›Kokod‹ vertraut?« Sie sprach es aus, als fühle sie sich allein schon bei der Erwähnung beschmutzt. Magnus Ridolph nickte mit ernstem Gesicht und strich über seinen weißen Bart. »Ihr Problem nimmt Form an.« »Glauben Sie, daß Sie uns helfen können? Jeder anständige Mensch verdammt, was hinter diesem Wort steckt: Brutalität, Erniedrigung, abscheuliche...« Wieder nickte Ridolph, als er sie unterbrach: »Der Mißbrauch der Eingeborenen von Kokod ist wahrhaftig nicht erfreulich.« »Nicht erfreulich?!« rief Marthy Chickering. »Dieses Verbrechen schreit zum Himmel! Es ist ein Handel mit Blut! Wir verurteilen die Sadisten, die Stierkämpfe veranstalten oder auch nur besuchen. Aber wir dulden, ja ermutigen die schrecklichen Verbrechen auf Kokod, die Holpers und See täglich ein Vermögen einbringen!«
»Ha!« rief Ridolph. »Bruce Holpers und Julius See?« »Ja, genau.« Sie blickte Magnus Ridolph fragend an. »Kennen Sie sie?« Ridolph lehnte sich in seinen Stuhl zurück und nahm einen Schluck Likör. »In gewissem Maße, ja. Wir hatten eine... ah... was man wohl Geschäftsverbindung nennt. Doch das spielt hier keine Rolle. Bitte fahren Sie doch fort! Ihr Problem interessiert mich, und zweifellos sind die Zustände verabscheuungswürdig.« »Dann sind Sie ebenfalls der Ansicht, daß mit dem Kokod-Syndikat ein Ende gemacht werden muß? Sie werden uns helfen?« Magnus Ridolph breitete die Arme in einer unmißverständlichen Geste aus. »Mrs. Chickering, ich wünsche Ihnen alles Glück für Ihr Unternehmen, doch ob ich mich aktiv daran beteiligen werde, hängt von der Höhe des Honorars ab, das Ihr Verein zu zahlen gewillt ist.« Mrs. Chickering straffte die Schultern und sagte steif: »Nun, wir nehmen an, daß ein Mann mit Prinzipien bereit ist, gewisse Opfer zu bringen...« Magnus Ridolph seufzte. »Sie treffen da eine empfindliche Stelle, Mrs. Chickering. Ich werde tatsächlich ein Opfer bringen, statt mir die vorhergesehene längere Erholung zu gönnen, werde ich mich mit all meinen Fähigkeiten Ihrem Problem widmen. Also, besprechen wir mein Honorar – nein, sagen Sie mir zuerst, was genau Sie erwarten.« »Wir bestehen darauf, daß mit den Wetten im Schattentalhotel ein Ende gemacht wird. Wir verlangen die Verurteilung und Bestrafung von Bruce Hol-
pers und Julius See. Wir fordern die Beendigung der Kokod-Kriege!« Magnus Ridolph blickte schweigend in die Ferne. Als er endlich sprach, klang seine Stimme sehr ernst. »Sie zählten Ihre Wünsche in einer Reihenfolge abnehmender Durchführbarkeit auf.« »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Ridolph.« »Den Wetten im Schattentalhotel könnte ohne weiteres durch eine Bombe oder eine Mayerheims Schwellungs-Seuche ein Ende gemacht werden. Um Holpers und See vor Gericht zu stellen, verurteilen und bestrafen zu lassen, muß bewiesen werden, daß sie ein nichtexistentes Gesetz auf kriminelle Weise gebrochen haben. Und um die Kokodkriege zu beenden, ist es erforderlich, das Erbgut, die Drüsentätigkeit, den Instinkt, die Ausbildung und die Lebensanschauung als solche der unzähligen Kokodkrieger zu verändern.« Mrs. Chickering blinzelte und wollte etwas sagen, doch Magnus Ridolph hob höflich die Hand. »Nun, was nie versucht wird, kann auch nie geschehen. Ich werde mein Bestes tun, Ihren Anforderungen gerecht zu werden. Mein Honorar – nun, aufgrund der altruistischen Ziele, will ich bescheiden sein – tausend Muniten die Woche und Spesen zahlbar im vorhinein.« Magnus Ridolph verließ die Anlegebrücke und stieg die in den grüngemaserten Kalkstein gehauenen Stufen zum Granateekap hoch. Oben angekommen lehnte er sich an die schmiedeiserne Brüstung, um wieder zu Atem zu kommen und auch, um die herrliche Aussicht über das Meer zu genießen. Dann drehte er sich um und betrat das Foyer des Tausendeiland-
hotels mit seiner blauen Spitzen- und SilberfiligranAusstattung. Die Musterung des Empfangschefs beantwortete er mit freundlicher Miene und eilte in die Bibliothek. Er suchte sich eine Kabine aus und setzte sich vor den Mnemiphot. Er überflog den Index und gab schließlich den Kode für Kokod ein. Der Schirm leuchtete auf. Als erstes studierte Magnus Ridolph die Tabellen, denen zu entnehmen war, daß es sich bei Kokod um eine ungemein kleine Welt mit hoher Schwerkraft handelte. Als nächstes war eine Oberflächenabbildung zu sehen, mit langsam weiterwanderndem Text darunter: Obgleich Kokod eine sehr kleine Welt ist, bietet sie dem Menschen, aufgrund ihrer Schwerkraft und Atmosphäre, gute Lebensbedingungen. Sie wurde jedoch nie kolonisiert, da sie eine zahlenmäßig starke autochthone Bevölkerung aufweist und über keine wertvollen Minerale verfügt. Touristen sind im Schattentalhotel – einem Urlauberhotel im Schattental – gern gesehen. Es gibt eine wöchentliche Flugverbindung zwischen dem Schattentalhotel und dem Raumhafen. Kokods interessanteste Charakteristik ist seine Bevölkerung. Die Karte verschwand. An ihrer Statt zeigte der Schirm eine Abbildung mit der Überschrift T Y PISCHER KOKODKRIEGER (von der Felsenflußhorde). Zu sehen war ein menschenähnliches Geschöpf, etwa fünfundsechzig Zentimeter groß, mit schmalem spitzen Kopf, einem bienenähnlichen Rumpf – lang und mit gelbem, daunenweichem Haar bedeckt. Die hageren Arme hielten eine mehr als meterlange Lanze.
Von einem Gürtel hing ein steinernes Messer. Die Chitinbeine waren mit einer Art Stacheln versehen. Die Miene dieses Kokodkriegers wirkte milde, leicht vorwurfsvoll. Eine Stimme erklang: Sie hören jetzt Sam 192 vom Felsenfluß. Der Kokodkrieger atmete tief ein, dabei erzitterten die Hauptlappen um sein Kinn. Aus dem Mnemiphotschirm war ein durchdringendes Schrillen zu vernehmen. Die Übersetzung stand rechts neben dem Bild. Ich bin Sam 192, Schwadronit der 14. Sturmtruppkompanie, im Dienst der Felsenflußhorde. Unser Mut wird allgemein bestaunt. Unsere herrliche Stele ist tief verwurzelt, und nur die Stelen der Rosenhanghorde und der listigen Muschelstrandhorde übertreffen sie an Durchmesser. Ich bin heute auf Einladung der [nicht übersetzbar] Kleinplatzhorde hier, um Ihnen von unseren Siegen und unendlich wirkungsvollen Strategien zu erzählen. Eine andere Stimme war zu hören, offenbar die eines Menschen, der kokod sprach. Als Übersetzung war zu lesen: INTERVIEWER: Erzählen Sie uns vom Leben in der Felsenflußhorde. SAM 192: Es ist sehr gesellig. I: Was machen Sie jeden Morgen als erstes? S: Wir halten eine Parade vor den Matronen ab, um uns die nötige kriegerische Fruchtbarkeit zu verschaffen. I: Was essen Sie? S: Wir werden auf dem Feld versorgt. [ANMERKUNG: Der Metabolismus der Kokod ist nicht genau bekannt. Offenbar fermentieren sie die organischen Stoffe eines Feldes und oxydieren den derart entstehenden Alkohol].
I: Erzählen Sie uns von Ihrem täglichen Leben. S: Wir üben die verschiedenen Kampfarten, exerzieren, bilden die Kinderlinge aus und ehren die Veteranen. I: Wie oft werden Sie zum Kampf eingesetzt? S: Immer, wenn die Zeit dazu gekommen ist – wenn die Kampferklärung eingegangen ist und die Kampfbestimmungen mit dem Feind vereinbart wurden. I: Heißt das, daß Sie je nach Abmachung auf unterschiedliche Weise kämpfen? S: Es gibt siebenundneunzig verschiedene Kampfabkommen. Beispielsweise Kode 48 – durch den wir die starke Schwarzeglashorde besiegten – sieht vor, daß die Lanze nur mit der Linken gehalten wird und verbietet das Durchtrennen der Beinsehnen mit dem Dolch. Kode 69 dagegen verlangt die Durchtrennung der Beinsehnen, ehe der Gegner getötet werden darf, und hier werden die Lanzen schräg und zum Hieb, nicht zum Stoß, verwendet. I: Weshalb kämpfen Sie. Warum überhaupt diese ständigen Kriege? S: Kämpften und siegten wir nicht, würden die Stelen anderer Horden bald die Größe der unseren übertreffen. [ANMERKUNG: Die Stele ist ein Mehrfachbaum, der in jeder Horde gezogen wird. Nach jedem Sieg wird bei einer Feier ein neuer Schößling hinzugefügt, der mit dem Baum zusammenwächst und so den Umfang der Stele vergrößert. Die Felsenflußstele ist fünfeinhalb Meter im Durchmesser, und ihr Alter wird auf viertausend Jahre geschätzt. Die Rosenhangstele hat einen Durchmesser von sechzig Metern, und die des Muschelstrands fast fünfundsechzig.] I: Was würde passieren, wenn Krieger der Froschtümpelhorden die Felsenflußstele fällten? Sam 192 antwortete nicht. Seine Hautlappen am
Hals blähten sich auf und sein Kopf schien zu hüpfen. Nach wenigen Sekunden drehte er sich um und verschwand aus dem Bild. Ein Mann mit den Schulterklappen der Commonwealth-Überwachung erschien auf dem Schirm. Er blickte Sam 192 mit einem Ausdruck humorvoller Herablassung nach, über die Magnus Ridolph sich ärgerte. Durch die zahllosen soziologischen Abhandlungen, die auf der Erde veröffentlicht wurden, sind die Kokodkriegergut bekannt. Am aufschlußreichsten dürfte die der Carlisle Stiftung sein. Ihr Titel: KOKOD – EINE MILITARISTISCHE GESELLSCHAFT. Ihr Mnemiphotkode ist AK-SKRD-BP. Lassen Sie mich zusammenfassen. Auf Kokod gibt es einundachtzig Horden – ein Wort, das gleichzeitig für den Trupp als auch den burgähnlichen Wohnsitz benutzt wird –, von denen jede einen höchst formalisierten Krieg mit den anderen führt. Die evolutionäre Funktion dieser Kriegsführung ist die Verhinderung einer Übervölkerung der kleinen Welt. Die Hordenmatronen sind ungemein fruchtbar. Nur diese vielgestaltigen Maßnahmen versichern eine ausgewogene Ökologie. Ich wurde oft gefragt, ob die Kokodkrieger den Tod fürchten. Nach meiner Meinung ist die Identifizierung mit der Heimhorde so stark, daß die Krieger keine richtige Individualität entwickeln. Ihre einzige Ambition ist, einen Kampf zu gewinnen und so den Durchmesser ihrer Stele und damit das Ansehen ihrer Horde zu vergrößern. Der Mann in der Uniform der CommonwealthÜberwachung redete weiter. Magnus Ridolph griff nach einem Knopf und schaltete auf beschleunigten Bildablauf.
Auf dem Schirm erschien das Schattentalhotel: ein prächtiges Gebäude unter sechs hohen Schirmbäumen. Der Kommentar dazu war: Im Schattentalhotel heißen die freundlichen Besitzer Julius See und Bruce Holpers Touristen aus dem gesamten Universum willkommen. Zwei Ausschnitte wurden vergrößert. Ein dunkler Mann mit breitem Gesicht und zu einem merkwürdigen Grinsen verzerrten Lippen war zu sehen, darunter stand in Lettern: SEE. Der zweite Ausschnitt zeigte einen schlaksigen Mann mit spärlichem roten Haar. Unter diesem Ausschnitt stand: HOLPERS. Magnus Ridolph hielt die Projektion kurz an, um die beiden Gesichter zu studieren, dann ließ er sie weiterlaufen. Mr. See und Mr. Holpers, lautete der Text, nutzen auf ingeniöse Weise die ständigen Kriege zur Unterhaltung ihrer Gäste. Eine Tafel erteilt Auskunft über die täglichen Kämpfe, und es werden Wetten über den Ausgang abgeschlossen. Ein angenehmer Zeitvertreib für alle Wettbegeisterten. Magnus Ridolph schaltete den Mnemiphot aus. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und fuhr durch seinen Bart. Wo Wetten abgeschlossen werden, gibt es auch immer eine Möglichkeit, den Ausgang der Wettspiele zu beeinflussen, dachte er. Glücklicherweise hindert meine Verpflichtung gegenüber Mrs. Chickering mich nicht daran, mir kleinere Nebeneinnahmen zu verschaffen – oder, in meinem Fall, wohl eher eine Entschädigung.
2 Ridolph ging von Bord der Hesperonis, dem Linienschiff der Phönix Gesellschaft. Im ersten Moment blinzelte er, verwirrt über den nahen Horizont Kokods ringsum. Er hatte den Eindruck, der Himmel begänne geradewegs vor seinen Füßen. Ein etwas überreichlich geschmückter Bus wartete auf die Gäste des Hotels. Magnus Ridolph setzte sich steif. Als der Bus ruckhaft anfuhr wurde eine gewichtige Frau, von der eine wahre Parfümwolke ausging, gegen ihn geworfen. »Also wirklich!« empörte sie sich. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung.« Magnus Ridolph lüftete den Hut, verbeugte sich höflich und lehnte sich zurück. »Das nächstemal werde ich versuchen, Ihnen nicht im Weg zu sein.« Die Frau bedachte ihn mit einem abfälligen Blick und setzte sich zu ihrer Begleiterin, einer Frau mit dem kleinen Kopf und dem robusten Körper eines Pfaus. »Führer!« rief sie nach einer kurzen Weile. »Ja, Madame?« »Erzählen Sie uns über Kriege hier! Wir hörten so viel über sie.« »Sie sind ungemein interessant, Madame. Die kleinen Burschen sind ausgesprochen wild!« »Ich hoffe, es besteht keine Gefahr für die Zuschauer?« »Nicht die geringste, Madame. Die Kokodkrieger kämpfen nur gegen ihresgleichen.« »Wann finden denn die Ausflüge statt?« »Ich glaube, der Kampf der Elfenbeindünenhorde
gegen die Ostschildhorde soll morgen sein. Das Schlachtfeld ist zweifellos die Muskatwiese. Also wird es vermutlich drei Ausflüge geben. Um die Aufstellung beobachten zu können, müssen Sie den Bus um fünf Uhr früh nehmen. Der nächste Bus um sechs Uhr dürfte genau zum Angriff ankommen. Und um sieben oder acht Uhr fahren die Busse zur eigentlichen Schlacht.« »Das ist ja entsetzlich früh«, beschwerte sich die Frau. »Sonst findet nichts statt?« »Ich bin nicht sicher, Madame. Die Grünball- und Muschelstrandhorden kämpfen möglicherweise ebenfalls morgen, doch höchstwahrscheinlich nach Kode 4, und das ist nicht sonderlich aufregend.« »Und in der Nähe des Hotels ist gar nichts?« »Nein, Madame. Die Schattentalhorde hat eben erst ihren Krieg gegen die Marmorbogenhorde beendet und ist zur Zeit damit beschäftigt, ihre Waffen zu reparieren.« »Wie sieht es denn mit den Odds für den ersten Kampf aus?« »Ich glaube für acht bekommen Sie fünf auf die Elfenbeindünenhordea für fünf vier auf die Ostschildhorde.« »Wie seltsam. Wieso sind die Odds nicht im gleichen Verhältnis?« »Alle Wetten müssen durch die Hotelleitung abgeschlossen werden, Madame.« Der Bus fuhr in den Hotelhof. Magnus Ridolph beugte sich vor. »Bitte halten Sie sich fest, Madame. Der Wagen wird gleich anhalten. Ich möchte kein zweitesmal verantwortlich für einen unliebsamen Zwischenfall sein.«
Die Frau gönnte ihm keine Antwort. Der Bus blieb stehen. Ridolph kletterte hinaus. Vor ihm lag das Hotel und hinter ihm ein Berghang mit saftigen grünen Blumen und leuchtend violetten Büschen. Am Kamm wuchsen hohe pappelähnliche Bäume in Schwarz-Rot. Eine sehr farbenprächtige Welt, schloß Magnus Ridolph. Er drehte sich um und blickte ins Tal, sah mannigfaltige Streifen und Schichten von Farben: Rosa, Violett, Gelb, Grün und Taubengrau. Am Taleinschnitt zur Flußpeneplain sah Magnus Ridolph ein hohes konisches Bauwerk. »Eine der Horde?« fragte er den Busfremdenführer. »Ja, Sir – die Wiesenblickhorde. Die Schattentalhorde ist weiter das Tal aufwärts, hinter dem Hotel.« Magnus Ridolph machte sich daran, das Hotel zu betreten. Sein Blick begegnete dem eines Mannes in schwarzem Anzug. Es war ein kleiner Mann mit gedrungenem Gesicht, das aussah, als wäre es in einen Schraubstock geraten. Natürlich erkannte Ridolph es als Julius Sees Visage. »So eine Überraschung«, sagte Magnus Ridolph. See nickte grimmig. »Ein merkwürdiger Zufall...« »Nach dem bedauerlichen Ende der Investment und Immobilien Gesellschaft Äußeres Reich dachte – ja befürchtete – ich, Sie nie wiederzusehen.« Magnus Ridolph beobachtete Julius See mit blauen Augen, die so ausdruckslos wie die einer Echse waren. »Da haben Sie sich getäuscht«, antwortete See. »Tatsächlich leite ich dieses Hotel. Hm, dürfte ich Sie drinnen kurz sprechen?« »Aber gewiß doch.« Ridolph folgte See durch das vornehme Foyer in ein Büro. Ein Mann mit schmalem Kopf, schütterem
roten Haar und Eichhörnchenzähnen erhob sich. »Sie erinnern sich an meinen Partner, Bruce Holpers?« fragte See mit undeutbarer Stimme. »Natürlich«, versicherte ihm Ridolph. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß Sie mich persönlich willkommenheißen.« See durchschnitt mit der Hand die Luft. »Genug der Floskeln, Ridolph... Was führen Sie im Schild?« Magnus Ridolph lachte sanft. »Meine Herren, meine Herren...« »Meine Herren, daß ich nicht lache! Kommen wir zur Sache! Wenn Sie auf irgend etwas hinaus wollen, das mit dieser Äußeren Reich-Angelegenheit zu tun hat, vergessen Sie es lieber!« »Ich versichere Ihnen...« »Ich habe so allerlei über Sie gehört, Ridolph. Und ich brachte Sie hier ins Büro, um Ihnen zu sagen, daß wir eine friedliche Erholungsstätte leiten und keinen Ärger hier haben wollen.« »Natürlich nicht«, bestätigte Ridolph. »Vielleicht sind Sie um des Spaßes wegen gekommen, um auf diese einheimischen Affen zu setzen. Vielleicht aber auch aus einem Grund, der uns nicht gefällt.« Ridolph hob mit unschuldigem Blick die Hände. »Nun, ich kann nicht behaupten, daß ich mich jetzt noch geschmeichelt fühle. Ich komme als zahlender Gast in Ihr Hotel – und sofort ziehen Sie mich zur Seite und verdächtigen mich alles möglichen.« »Ridolph!« sagte See. »Sie haben einen etwas merkwürdigen Ruf. Bei Ihnen weiß man nie, woran man ist!« »Ich habe genug von Ihrem Geschwätz!« sagte
Magnus scharf. »Öffnen Sie sofort die Tür oder ich werde Beschwerde einreichen!« »Hören Sie!« Sees Stimme klang drohend. »Dieses Hotel gehört uns. Wenn Sie sich unbeliebt machen, werfen wir Sie hinaus. Dann können Sie draußen irgendwo kampieren und zusehen, woher Sie etwas zu essen bekommen, bis das nächste Linienschiff kommt – und es ist erst in einer Woche fällig!« Magnus Ridolph sagte eisig: »Sie werden sich strafbar machen, wenn Sie Ihre Drohung ausführen! Nun, warum tun Sie es nicht? Ich warte darauf!« Der schlaksige rothaarige Holpers legte nervös eine Hand auf Sees Arm. »Er hat recht, Julie. Wir können ihm die Dienste des Hotels nicht verweigern, wenn wir nicht wollen, daß die Überwachung unsere Lizenz einzieht.« »Wenn er sich schlecht benimmt oder etwas anstellt, haben wir das Recht, ihn vor die Tür zu setzen!« »Sie haben also Beweise, daß ich jemanden belästige?« Mit den Händen auf dem Rücken lehnte See sich an die Wand. »Betrachten Sie diese kleine Unterredung als Warnung, Ridolph!« Am Empfang wies Ridolph an, daß sein Gepäck auf sein Zimmer gebracht werde, und dann erkundigte er sich, wo der Commonwealth-Überwachungsoffizier zu finden sei. »Er hat sein Büro am Schwarzsumpf, Sir. Sie müssen einen Luftwagen nehmen, außer Sie wollen die ganze Nacht zu Fuß unterwegs verbringen.« »Bestellen Sie mir einen Luftwagen!« bat Magnus Ridolph.
Magnus Ridolph hatte es sich auf dem weichgepolsterten Rücksitz bequem gemacht und beobachtete, wie das Schattentalhotel unter ihm zurückblieb. Die Sonne Pi Sagittarius, die von dort gesehen bereits untergegangen war, kam wieder in Sicht, als der Luftwagen über den Basaltberg flog, und ging erneut in einem prächtigen Farbenspiel aus Purpur-, Grünund Rottönen unter: ein Phönix, der sterbend in seinem vielfarbigen Blut versinkt. Die Dämmerung senkte sich über den Planeten Kokod herab. Eine herrlich abwechslungsreiche Landschaft zog unter ihm dahin: Seen und Parks, Wiesen, Klippen, schroffe Felsen, sanfte Hänge, schmale und breite Flußtäler. Da und dort sah Ridolph im nachlassenden Licht verschwommene Formen: die bienenstockgleichen Horden. Als der Abend einer taubengrauen Nacht wich, flackerte oranges Licht in den Horden. Der Luftwagen ging tiefer und setzte neben einem Hain auf, dessen Bäume riesigen Staubwedeln ähnelten. Magnus Ridolph stieg aus und klopfte ans Cockpit. »Wer ist der Überwachungsoffizier?« »Er heißt Clark, Sir, Everley Clark.« Magnus Ridolph nickte. »Ich werde kaum länger als zwanzig Minuten brauchen. Warten Sie bitte auf mich?« »Jawohl, Sir. Selbstverständlich, Sir.« Magnus Ridolph betrachtete den Mann scharf. War das ein Hauch von Unverschämtheit, den er der Höflichkeit zu entnehmen glaubte? Er schritt zu dem Holzhaus. Die obere Türhälfte stand weit offen, und freundliches gelbes Licht drang heraus in die Kokodnacht. Im Innern sah Magnus Ridolph einen gro-
ßen Mann mit rosigem Gesicht und beiger Uniform. Wo hatte er dieses volle rosige Gesicht schon einmal gesehen? Er klopfte an die Tür. Der Mann wandte ihm das Gesicht zu und erhob sich sichtlich nicht sehr erfreut. Jetzt erkannte Magnus Ridolph ihn als den Interviewer des Kokodkriegers Sam 192 der Mnemiphot Aufnahmen. Everly Clark trat an die Tür. »Ja? Was kann ich für Sie tun?« »Ich würde mich freuen, wenn Sie mir gestatten, mit Ihnen zu sprechen«, antwortete Magnus Ridolph höflich. Clark blies die Wangen auf und fummelte am Türverschluß. »Selbstverständlich«, sagte er hohl. »Bitte, treten Sie ein, Sir!« Er bot Magnus Ridolph einen Stuhl an. »Nehmen Sie doch bitte Platz! Ich bin Everley Clark.« »Und ich bin Magnus Ridolph.« Clark schien offenbar noch nie etwas von ihm gehört zu haben. Er blickte ihn nur höflich fragend an. Ein wenig frostig fuhr Ridolph fort: »Dürfte ich unsere Unterhaltung als vertraulich erachten?« »Durchaus, Sir. Aber natürlich.« Clark wirkte nun ein wenig lebhafter. Er trat an den Kamin und wärmte seine Hände über einem vorgetäuschten Feuer. Ridolph wählte seine Worte sorgfältig, um Eindruck zu machen. »Ich handle im Auftrag einer wichtigen Gesellschaft, deren Namen ich leider nicht nennen darf. Die Mitglieder dieser Gesellschaft – ich sollte vielleicht erwähnen, daß sie einen beachtlichen politischen Einfluß ausüben – sind der Ansicht, daß die Überwachung in bezug auf Kokod absolut unfä-
hig ist und von einer falschen Voraussetzung ausgeht.« »Das ist ja...« Clarks formelle Freundlichkeit verschwand wie abgeschaltet. Ernst fuhr Magnus Ridolph fort. »Aufgrund dieser Beschuldigungen hielt ich es für meine Pflicht, mich mit Ihnen zu unterhalten, um Ihre Meinung zu erfahren.« Clark fragte grimmig: »Was soll das heißen – ich meine, wie kommen Sie auf ›Beschuldigung‹?« »Nun, als erstes wird angegeben, daß die Wetten im Schattentalhotel – wenn auch nicht gerade illegal, so doch ausgesprochen schamlos und empörend unmoralisch sind.« »Na?« fragte Clark bitter. »Was erwarten Sie von mir? Daß ich herumlaufe und eine Bibel schwenke? Ich kann mich nicht mit der Moral der Touristen befassen. Sie können sich aufführen, wie sie wollen: nackt herumlaufen, ihre Hunde schlagen, Schecks fälschen – solange sie die Eingeborenen in Frieden lassen. Für die Touristen bin ich nicht zuständig.« Magnus Ridolph nickte weise. »Ich verstehe Ihre Position. Doch die zweite und ernstere Beschuldigung besagt, daß die Überwachung – indem sie zuläßt, daß die Kokodkriege tagaus, tagein stattfinden – eine Art von Brutalität duldet und durch ihre Nichteinmischung auch noch ermutigt, was auf keiner anderen Welt des Commonwealths ungestraft hingenommen wird.« Clark setzte sich und seufzte tief. »Verzeihen Sie, wenn ich es ausspreche, aber Ihre Einwände hören sich genauso an wie die Briefe, die ich täglich von Frauenverbänden, religiösen Institutionen und Anti-
vivisektions-Gesellschaften erhalte.« Er schüttelte das rosige runde Gesicht. »Mr. Ridolph, Sie kennen die Tatsachen nicht! Sie kommen entrüstet hierher, beschuldigen mich, und lehnen sich dann zufrieden zurück, weil Sie ihre gute Tat für den Tag getan haben. Das ist nicht recht! Glauben Sie, mir gefällt es, zu sehen, wie diese kleinen Geschöpfe sich tagtäglich gegenseitig umbringen? Ganz sicher nicht – obgleich ich zugeben muß, daß ich mich mit der Zeit daran gewöhnt habe. Als Kokod entdeckt wurde, versuchten wir, die Kriege zu beenden. Die Eingeborenen hielten uns für Idioten und kämpften weiter. Wir erzwangen den Frieden, indem wir drohten, die Stelen zu fällen. Das erschreckte sie, und sie gaben ihre Kriege auf. Aber traurigere Kreaturen haben Sie gewiß in Ihrem Leben nie gesehen! Sie saßen nur herum und zogen sich schließlich eine seuchenartige Krankheit zu, an der sie in Massen starben. Keiner machte sich die Mühe, die Leichen fortzuschaffen. Vier Horden wurden völlig ausgelöscht: die Wolkenfels, Gelbbusch, Sonnenuntergangkamm und Weingras. Tausend Jahre alte Siedlungen, die in wenigen Monaten ausgestorben waren! Und die ganze Zeit über warfen die Hordenmatronen Junge. Niemand brachte die Kraft auf, sie zu ernähren, und so verhungerten sie oder rannten wimmernd um den Planeten wie nackte kleine Ratten.« »Wie schrecklich!« murmelte Magnus Ridolph. »Fred Exman war damals Adjutant hier. Auf eigene Verantwortung ließ er das Verbot aufheben und erklärte den Einheimischen, seinetwegen könnten sie kämpfen, bis sie verreckten. Die Kriege begannen bereits eine halbe Stunde später, und seither sind die
Eingeborenen wieder glücklich und völlig gesund.« »Wenn es stimmt, was Sie da sagen«, bemerkte Magnus Ridolph mild, »bin ich in den gleichen Fehler verfallen wie so viele andere, die ihre eigene Lebensweise anderen aufzwingen wollen, die eine völlig andere Einstellung zum Leben haben.« Clark sagte heftig: »Es gefällt mir gar nicht, daß diese Sadisten im Hotel von den Kriegen profitieren! Aber was kann ich dagegen tun? Die Touristen sind nicht besser: morbide abartige Schakale, die sich am Tod anderer erfreuen...« Vorsichtig wählte Magnus Ridolph jedes Wort: »Dann kann ich also annehmen, daß Sie als Privatperson nichts dagegen hätten, wenn diese Wetten im Schattentalhotel ein Ende fänden?« »Genau richtig!« versicherte ihm Everley Clark. »Als Privatperson war ich schon immer der Ansicht, daß Julius See, Bruce Holpers und ihre Gäste genau das sind, was die Menschheit nicht sein dürfte!« »Noch etwas«, sagte Magnus Ridolph. »Wenn ich mich nicht irre, sprechen und verstehen Sie Kokod?« »Nun – auf gewisse Weise.« Clark verzog das Gesicht. »Es ist Ihnen natürlich klar, daß ich die Überwachung nicht kompromittieren darf?« »Selbstverständlich.« »Nun denn, was haben Sie vor?« »Das wird sich erst herausstellen, wenn ich mir ein paar dieser Kämpfe angesehen habe.«
3 Sanfte Glockentöne weckten Magnus Ridolph. Er öffnete die Augen und blinzelte in die violette Dämmerung des Morgengrauens auf Kokod. »Ja?« Die Stimme aus dem Hotellautsprecher in seinem Zimmer sagte: »Es ist fünf Uhr, Mr. Ridolph. Der erste Bus zur heutigen Schlacht fährt in einer Stunde ab.« »Danke.« Ridolph schwang die knochigen Beine über den Rand der Luftmatratze und blieb kurz überlegend sitzen. Dann erhob er sich und machte seine Morgengymnastik. Im Badezimmer spülte er den Mund mit Zahnreiniger aus, rieb sich Enthaarungskrem auf die Wangen, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser und verteilte ein Bartpflegemittel in seinem weißen Bart. Im Schlafzimmer wählte er einen unauffälligen graublauen Anzug, doch die Mütze, die er dazu aufsetzte, konnte einfach nicht übersehen werden. Sein Zimmer hatte eine Tür zur Terrasse. Als er hinaustrat, spazierten die beiden Frauen, die tags zuvor mit ihm im Bus gekommen, an ihm vorbei. Er verbeugte sich höflich, doch sie ignorierten ihn. Na so etwas! dachte Magnus Ridolph und rückte seine schreiende Mütze noch verwegener zurecht. Eine Tafel im Foyer machte auf die Ereignisse des heutigen Tages aufmerksam. ELFENBEINDÜNENHORDE GEGEN OSTSCHILDHORDE AUF DER MUSKATWIESE
ALLE WETTEN MÜSSEN AM EMPFANG EINGETRAGEN WERDEN. ODDS GEGEN ELFENBEINDÜNENHORDE .. 8:13 ODDS GEGEN OSTSCHILDHORDE ................ 5:4 VON DEN LETZTEN HUNDERT SCHLACHTEN HAT DIE ELFENBEINDÜNENHORDE ............................ 41 UND DIE OSTSCHILDHORDE ......................... 59 GEWONNEN. ABFAHRT DER BUSSE ZUR AUFSTELLUNG ................................... 6 UHR ZUM ANGRIFF .............................................. 7 UHR ZUR SCHLACHT .......................................... 8 UHR EINMISCHUNGEN ODER STÖRMANÖVER IN DER NÄHE DES SCHLACHTFELDS SIND UNTERSAGT, VON ZUWIDERHANDELNDEN WERDEN KEINE WEITEREN WETTEN ANGENOMMEN. In einer offenen Kabine füllten zwei ansehnliche junge Damen ihre Wettscheine aus. Magnus Ridolph ging ins Restaurant weiter, wo er ein leichtes Frühstück – Orangensaft, Brötchen und Kaffee – zu sich nahm und es zeitig genug für den ersten Bus beendete. Das Fahrzeug war von der Art, wie sie gern benutzt wurde, um eine größere Zahl von Teilnehmern über unwegsames Gelände zu befördern. Es hing an einem Kabelpaar von einem Schwebeschrauber, der etwa hundertfünfzig Meter über der Oberfläche flog.
Der Chauffeur des Busses konnte ihn durch Fernbedienung lenken und so ohne Motoren- und Rotorenlärm das Fahrzeug in einer Höhe von etwa zwei Meter über dem Boden halten, es über Wasserfälle, Hügelkuppen, Teiche oder anderen schönen Aussichten schweben lassen. Zur Muskatwiese war eine beachtliche Strecke zurückzulegen. Der Chauffeur hob den Bus ziemlich abrupt über den Basaltberg und glitt dann in einer langen Schräge nordostwärts. Pi Sagittarius stieg wie eine Melone den Himmel hoch, und die Grau-, Grün-, Rot- und Purpurmuster der Kokodlandschaft erinnerten an Orientteppiche. »Wir nähern uns nun dem Ostschild«, rief der Führer mit süßlichem Bariton. »Die Horde erhebt sich rechts neben der Granitwand, die ihr den Namen gegeben hat. Wenn Sie genauer in diese Richtung schauen, sehen Sie, daß die Ostschildtruppen bereits auf dem Marsch sind.« Magnus Ridolph beugte sich ein wenig vor und kniff die Augen leicht zusammen. Eine braun-gelbe Kolonne schlängelte sich den Hang herab. Hinter ihr erhob sich eine Stele zwischen sechzig und siebzig Metern in die Höhe, deren oberste Zweige mit ihrem rosa, schwarzen und hellgrünen Laub sich wie Fontänen herabneigten. Darunter war die konische Horde. Der Bus tauchte tiefer und schwebte über eine bewaldete und zerklüftete Strecke, bis er schließlich etwa drei Meter über einer ebenen grünen Wiese anhielt. »Das ist die Muskatwiese«, erklärte der Führer. »An ihrem anderen Ende können Sie die Muskathorde und -stele sehen. Die Krieger der Horde kämpfen gegenwärtig gegen die Opalgrottenhorde. Die Odds
sind 9 zu 7 für beide... Wenn Sie der Reihe Bambusbäume folgen, können Sie die grünen Mützen der Elfenbeindünenkrieger sehen. Wir können nur versuchen, ihre Strategie zu erraten, aber ganz offensichtlich ist ihr Angriffssystem ungemein komplex...« Eine Frauenstimme sagte nörgelnd: »Können Sie den Bus nicht höher heben, damit wir alles besser überblicken können?« »Ganz wie Sie wünschen, Mrs. Chaim.« Hundertfünfzig Meter höher durchschnitten die Rotoren die Luft. Der Bus hob sich federleicht. Der Führer fuhr fort: »Die Ostschildkrieger kommen über den Berg. Es sieht ganz so aus, als wüßten sie über die Strategie der Elfenbeindünenhorde Bescheid und versuchten die Flanke anzugreifen... Da!« Seine Stimme hob sich aufgeregt. »Beim Bronzebaum! Die Späher haben ein Scharmützel angefangen... Ostschild lockt Elfenbeindüne in einen Hinterhalt... Jetzt sind sie nicht mehr zu sehen... Offenbar ist der Kode für heute 5 oder möglicherweise 36, beide gestatten die Benutzung aller Waffen ohne Einschränkung.« Ein älterer Mann mit einer Nase wie eine Stachelbeere bat: »Bringen Sie uns hinunter, Chauffeur. Was wir von hier aus sehen, ist nicht viel besser als vom Hotel aus.« »Gewiß, Mr. Pilby.« Der Bus tauchte hinab. Mrs. Chaim rümpfte die Nase und blickte erbost auf Mr. Pilby. Die Wiese kam ihnen entgegen, und der Bus landete sanft auf glänzenden dunkelgrünen Kriechpflanzen. Der Führer sagte: »Wer es möchte, kann zu Fuß weitergehen, doch bitte nähern Sie sich der Schlacht im Höchstfall bis auf hundert Meter – das ist
die äußerste Sicherheitsgrenze. Bitte denken Sie daran, daß die Hotelleitung keinerlei Verantwortung übernimmt.« »Beeilen Sie sich!« rief Mr. Pilby. »Der Angriff wird bereits vorüber sein, bis wir ankommen.« Der Führer schüttelte gutmütig den Kopf. »Keine Angst, Mr. Pilby. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie ihre eigentlichen Positionen eingenommen haben. Einstweilen führen sie nur ein paar Täuschungsmanöver durch. Das gehört zu ihrer Strategie. Keine Seite wird zu kämpfen anfangen, ehe sie sich nicht der bestmöglichen Vorteile versichert hat.« Er öffnete die Tür. Mit Mr. Pilby an der Spitze setzten sich mehrere Dutzend der Zuschauer in Richtung Muskatwiese in Bewegung, unter ihnen Magnus Ridolph, Mrs. Chaim und ihre pfauenförmige Freundin, die sie mit Mrs. Borgage anredete. »Wahren Sie den Sicherheitsabstand, meine Damen und Herren!« rief ihnen der Führer noch nach. »Wagen Sie sich nicht zu nahe an das Schlachtfeld heran!« »Ich habe auf Ostschild gesetzt«, sagte Mrs. Borgage. »Ich will mich vergewissern, daß kein falsches Spiel getrieben wird.« Ihrem Ton war nicht zu entnehmen, ob es als Witz gemeint war. Magnus Ridolph betrachtete die Aufstellung. »Ich fürchte, Ihnen steht eine Enttäuschung bevor, Mrs. Borgage. Nach meiner Meinung hat die Elfenbeindünenhorde die stärkere Position bezogen. Wenn sie ihre rechte Flanke halten, in der Mitte ein wenig nachgeben und die Ostschildtruppen von zwei Seiten zu packen bekommen, dürfte am endgültigen Ausgang der Schlacht kaum ein Zweifel bestehen.«
»Es muß wundervoll sein, über einen solchen Scharfsinn zu verfügen«, wandte Mrs. Borgage sich mit sarkastischem Unterton an Mrs. Chaim. Mr. Pilby sagte: »Ich glaube, Sie sehen das Schlachtfeld nicht in seiner ganzen Perspektive, Sir. Die Ostschildtruppen brauchen lediglich um jene Baumreihe zu kommen, um die gesamte Nachhut der Elfenbeindünenhorde zu schlagen...« »Wenn sie das tun«, gab Magnus Ridolph zu bedenken, »bleibt ihre eigene Nachhut ungedeckt. Ganz deutlich ist die Elfenbeindünenhorde in einer besseren Manöverposition.« Hinter den Zuschauern landete ein zweiter Bus. Die Türen wurden aufgerissen und eine ganze Meute stürmte heraus. »Tut sich bereits etwas?« – »Was ist inzwischen geschehen?« – »Wer gewinnt?« »Es ist noch alles offen!« erklärte Pilby. »Seht doch! Sie greifen an!« rief jemand. Und nun erklangen die Kampfeshymnen der Kokod. Aus den Kehlen der Elfenbeindünenkrieger erschrillte der heilige Gesang ihrer Horde, und aus denen der Ostschildkrieger ihre traditionelle Hymne. Halb nach vorn geneigt, kamen die Ostschildkrieger den Hang herab. Ein heftiger Aufprall und ein Klappern – die Schlacht begann. Dolche scharrten gegen Lanzen. Die heiseren Befehle von Truppführern und Schwadroniten durchschnitten die Luft. Vor und zurück vermischten sich Grün-Schwarz und Orange-Weiß. Kleine Leiber wurden gespalten und zerstückelt. Kleine schwarze Augen verloren im Tod den Glanz. Hundert Seelen beider Seiten brausten wirr durcheinander zu den Horden des Himmels.
Vor und zurück bewegten sich die Standartenträger – sie waren es, die die Schößlinge für die heilige Stele trugen. Wurden sie gefaßt, bedeutete es die Niederlage für die eine und den Sieg für die andere Seite. Auf dem Weg zurück zum Hotel blickten Mrs. Chaim und Mrs. Borgage schweigend und düster vor sich hin, während Mr. Pilby finster aus dem Fenster starrte. Leutselig sagte Ridolph zu Pilby: »Für einen Amateurstrategen, wie ich einer bin, sind diese Schlachten nicht sehr aufregend. Ein Blick auf die Aufstellung genügt gewöhnlich, um den Ausgang vorherzusehen. Natürlich kann ein jeder sich einmal irren, aber bei gleich starken Streitkräften und gleichwertiger Führung läßt sich von vornherein damit rechnen, daß die Truppen in der besseren Position siegen werden.« Pilby senkte lediglich den Kopf und kaute an seinen Schnurrbartspitzen, während Mrs. Chaim und Mrs. Borgage scheinbar fasziniert die Landschaft betrachteten. »Ich persönlich wette nie«, sagte Ridolph. »Ich bewundere einen dynamischen Angriff auf das vermeintlich Vorherbestimmte und verstehe deshalb die Ergebung und Passivität des typischen Spielers nicht. Natürlich dürfen Sie trotzdem meines Mitgefühls sicher sein. Ich hoffe, Ihre Verluste sind nicht zu hoch?« Magnus Ridolph bekam keine Antwort. Er hätte genausogut in die leere Luft reden können. Nach einer Weile murmelte Mrs. Chaim ihrer Freundin Mrs. Borgage etwas Unverständliches zu, und Mr. Pilby kauerte sich auf seinem Sitz noch mehr zusammen. Der Rest der Fahrt verlief schweigend.
Nach einem bescheidenen Dinner aus hochentwikkelten Bylandproteinen, grünem Salat und Käse, schlenderte Magnus Ridolph ins Foyer und betrachtete die Tafel mit den morgigen Ereignissen. MORGIGE SCHLACHT WEINBERGHORDE GEGEN DONNERKAPHORDE AUF DEM ROSASTEINPLATEAU ODDS GEGEN WEINBERGHORDE ................. 1:3 ODDS GEGEN DONNERKAPHORDE ............. 4:1 ALLE WETTEN MÜSSEN AM EMPFANG EINGETRAGEN WERDEN. VON DEN LETZTEN HUNDERT SCHLACHTEN HAT DIE WEINBERGHORDE ............................................ 77 UND DIE DONNERKAPHORDE ...................... 23 GEWONNEN. Als Magnus Ridolph sich von der Tafel abwandte, stieß er gegen Julius See, der mit den Händen auf dem Rücken auf den Ballen schaukelte. »Nun, Ridolph, wollen Sie eine Wette wagen?« Magnus Ridolph nickte. »Auf Donnerkap zu setzen, könnte etwas einbringen.« »Stimmt.« »Andererseits ist Weinberg ein starker Favorit.« »Wenn man von den gewonnenen Schlachten ausgeht, ja.«
»Auf wen würden Sie setzen, Mr. See?« fragte Magnus Ridolph und wartete gespannt auf die Antwort. »Auf gar niemanden.« »Ah, dann sind Sie selbst wohl gar kein Spieler?« »Sicher nicht das, was Sie darunter verstehen.« Ridolph strich sich über den Bart und blickte nachdenklich zur Decke hoch. »Ich bin ja normalerweise auch alles andere als ein Spieler. Doch diese Schlachten bieten einem Amateurstrategen beispiellose Möglichkeiten, seine Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Um meine Theorien beweisen zu können, bin ich bereit, meine lebenslangen Prinzipien aufzugeben. Gibt es ein Limit für die Wetten?« »Hunderttausend Muniten, mehr zahlen wir nicht aus.« Magnus Ridolph nickte. »Danke.« Er durchquerte das Foyer und betrat die Bibliothek. An einer Wand hing eine Karte des Planeten. Rote Kreise zeigten die Horden an. Magnus Ridolph fand Weinberg und Donnerkap und auch das Rosasteinplateau. Letzteres befand sich in der Nähe der Drachenbucht. Ridolph suchte in einem Regal und fand eine physiographische Karte großen Maßstabs des Gebiets. Er breitete sie auf einem Tisch aus und studierte sie eine gute halbe Stunde lang, dann brachte er sie zurück, schritt durchs Foyer und zu einem Seitengang hinaus. Der Pilot, der ihn am vergangenen Abend bereits geflogen hatte, erhob sich höflich. »Guten Abend, Mr. Ridolph. Möchten Sie noch irgendwo hinfliegen?« »Allerdings«, antwortete Magnus Ridolph. »Sind Sie frei?« »Gleich, nachdem ich meinen Tagesbericht abgege-
ben habe.« Ridolph blickte der eiligen Gestalt nachdenklich nach. Leise ging er zum Haupteingang. Durch die offene Tür sah er, wie der Pilot auf Bruce Holpers zuschritt und sich sichtlich hastig mit ihm unterhielt. Holpers fuhr mit schlaffer weißer Hand durch das rote Haar und erteilte nervös eine Reihe von Anweisungen. Der Pilot nickte weise und drehte sich um. Magnus Ridolph schlich dorthin zurück, woher er gekommen war, und ließ sich Zeit. Der Pilot wartete bereits neben dem Flugwagen. »Ich hielt es für angebracht, Clark zu verständigen, daß ich komme«, sagte Ridolph. »Es könnte ja sein, daß es unterwegs Schwierigkeiten mit dem Wagen gibt. Wenn ich nicht rechtzeitig ankomme, weiß er dann, wo er mich suchen muß.« Die Hand des Piloten um den Steuerknüppel zitterte. Magnus Ridolph erkundigte sich: »Gibt es Wild irgendwelcher Art auf Kokod?« »Nein, Sir, überhaupt keines.« »Das ist bedauerlich. Ich trage immer eine Pistole, ich hatte gehofft, mit einer Trophäe zurückzukehren... Vielleicht gelingt es mir, mir ein paar der Waffen der Einheimischen zu verschaffen.« »Das ist sehr unwahrscheinlich, Sir.« »Nun ja«, sagte Magnus Ridolph, »es könnte ja sein, daß Sie sich täuschen und es doch irgendwelche Raubtiere gibt. Jedenfalls finde ich es angebracht, die Pistole schußbereit zu halten.« Der Pilot blickte stumm geradeaus. Magnus Ridolph kletterte auf den Rücksitz. »Also, dann auf zum Überwachungsbüro.« »Jawohl, Mr. Ridolph.«
4 Everley Clark begrüßte seinen Besucher zurückhaltend, und als Ridolph sich in einen Korbsessel setzte, wanderte sein Blick überall hin, nur nicht zu seinem Gast. Magnus Ridolph zündete sich eine Aromatik an. »Ich nehme an, diese Schilde an der Wand sind einheimische Artefakte?« »Ja«, antwortete Clark schnell. »Jede Horde hat ihr eigenes Wappen und ihre eigenen Farben.« »Dem irdischen Auge erscheinen diese Muster durch Zufall entstanden, aber ganz sicher – und wie könnte es auch anders sein? – ist die Symbolik Kokods einmalig... Eine herrliche Sammlung haben Sie hier. Hat sie ihren Preis?« Clark blickte zweifelnd auf die Schilde. »Ich würde sie nicht gern hergeben – obwohl ich mir sicher Ersatz beschaffen könnte, wenn es auch eine Weile dauern würde. Wissen Sie, in jedem Schild stecken tausend Stunden Arbeit. Sie stellen den Lack auf eine ziemlich mühsame Weise her. Sie zerstampfen die Farbstoffe in einem Gefäß aus gekochten Toten.« Ridolph nickte. »Aha, so entledigen sie sich der Leichen.« »Ja, es ist ein beachtliches Ritual.« »Was die Schilde betrifft – würden Sie sie um zehntausend Muniten hergeben?« Clarks Miene verriet seine Unentschlossenheit. Er zündete sich eine Zigarette an. »Ja. Denn ich kann es mir nicht leisten, zehntausend Muniten abzuschlagen.«
»Es wäre nicht schön, Sie um etwas zu bringen, an dem Sie offenbar so hängen«, sagte Magnus Ridolph. Er studierte seine Handrücken eingehend. »Wenn Ihnen zehntausend Muniten so viel bedeuten, warum wetten Sie dann nicht im Hotel? So wie Sie die Kokod kennen und mit all den Informationen, zu denen nur Sie Zugang haben...« Clark schüttelte den Kopf. »Diese Art von Odds sind nicht zu schlagen. Mit den Wetten im Hotel werden die Spieler ja nur ausgenommen.« »Hmmm!« Magnus Ridolph runzelte die Stirn. »Es müßte doch möglich sein, den Ablauf einer Schlacht zu beeinflussen. Morgen, beispielsweise, kämpfen die Weinberg- und Donnerkaphorden gegeneinander auf dem Rosasteinplateau, und die Odds gegen Donnerkap scheinen mir sehr verlockend zu sein.« Clark schüttelte den Kopf. »Sie würden Ihr Hemd verwetten, wenn Sie auf Donnerkap setzen. Alle ihre Veteranen fielen in der Pyritenschlacht.« Nachdenklich sagte Magnus Ridolph: »Mit ein bißchen Hilfe könnte Donnerkap durchaus gewinnen.« Clarks rosiges Gesicht wurde kreidebleich. »Ich bin Offizier des Commonwealth! Bei so etwas mitzumachen – undenkbar!« Ridolph nickte verständnisvoll. »Ein solcher Vorschlag muß selbstverständlich reiflich überlegt werden. In gewissem Sinn könnte dem Commonwealth sehr geholfen werden, wenn es das Schattentalhotel – oder zumindest seine gegenwärtige Geschäftsführung – nicht mehr gäbe. Finanzieller Ruin wäre genau das Richtige. Na, und sollten wir davon profitieren, hätte im ganzen Universum niemand einen moralischen Grund, die Brauen hochzuziehen. Um so weni-
ger, da Ihre Rolle in dieser Sache der Öffentlichkeit verborgen bliebe...« Clark schob beide Hände in die Hosentaschen und blickte Magnus Ridolph einen langen Moment an. »Ich kann mich unmöglich auf die Seite einer Horde gegen eine andere stellen. Täte ich es, würde jeglicher Einfluß, den ich auf Kokod habe, in Rauch aufgehen.« Magnus Ridolph schüttelte nachsichtig den Kopf. »Ich fürchte, Sie machen sich ein völlig falsches Bild. Sie denken wohl, wir würden beide die Waffen ergreifen und im Gleichschritt, vielleicht auch noch in vorderster Reihe, mit den Kokodkriegern marschieren. Nein, nein, mein Freund, etwas so Augenscheinliches liegt mir fern.« »Na gut!« schnaubte Clark. »Dann sagen Sie schon, was Sie vorhaben?« »Nun, ich dachte, wenn wir ein paar Kügelchen eines hochempfindlichen Sprengstoffs – wie Knallquecksilber – verstreuten, könnte niemand uns dafür verantwortlich machen, wenn die Weinberghorde morgen darüber stolperte und dadurch in Verwirrung geriete.« »Und wie sollten wir wissen, wo diese... ah... Kügelchen verstreut werden müßten? Es ist doch...« Magnus Ridolph unterbrach ihn mit einer ruhigen Handbewegung. »Ich halte mich für einen guten Amateurstrategen. Ich werde die Verantwortung für diese Phase des Plans übernehmen.« »Aber ich habe kein Knallquecksilber!« rief Clark. »Ich habe überhaupt keine Art von Sprengstoff!« »Wohl aber ein Labor, nicht wahr?« Zögernd nickte Clark. »Ja, aber nichts Besonderes.« »Aber unter Ihren Reagenzien sind doch zweifellos
auch rauchende Salpetersäure und Jod zu finden?« »Nun – ja.« »Dann wollen wir uns an die Arbeit machen. Nichts ist für unsere Zwecke geeigneter als Jodstickstoff!« Am nächsten Nachmittag saß Magnus Ridolph im Terrassencafé und genoß die Aussicht auf das Schattental. Seine Rechte lag um einen Eierschalenkelch mit Methedeonwein, in seiner Linken hielt er eine leichte Zigarre. Als er Schritte hörte, drehte er sich um. Julius See näherte sich ihm, ihm folgte wie ein hagerer rothaariger Geist sein Partner Bruce Holpers. Sees Gesicht schien zu vielen Schichten zusammengepreßt zu sein: schwarzes Haar, furchige Stirn, fast zusammenwachsende Brauen, Augen wie ein schmaler schwarzer Schlitz, eine bleiche Oberlippe, ein fahles breites Kinn. Magnus Ridolph nickte freundlich. »Guten Abend, meine Herren.« See blieb stehen, und zwei Schritte später auch Bruce Holpers. »Vielleicht wären Sie so liebenswürdig, mir zu sagen, wie die heutige Schlacht ausgegangen ist?« erkundigte sich Ridolph. »Ich brach mit meiner Gewohnheit vieler Jahre und erlaubte mir eine Wette. Doch bis jetzt konnte ich noch nicht erfahren, ob Fortuna mir hold war oder nicht.« »So so«, sagte See heiser. »›Fortuna‹ nennen Sie sich nun.« Ridolph blickte ihn fragend an. »Mr. See, Sie wirken verstört. Es ist doch nichts passiert?« »Nichts Umwerfendes, Ridolph. Wir hatten einen mittelmäßig schlechten Tag – aber die guten werden
ihn wieder wettmachen.« »Das tut mir leid für Sie... Ich muß also annehmen, daß der Favorit siegte? Mein kleiner Einsatz ist demnach verloren?« »Ihr kleiner 25 000-Muniten-Einsatz, eh? Und ein halbes Dutzend weiterer 25 000-Muniten-Einsätze, die man auf Ihr Anraten machte?« Magnus Ridolph fuhr verlegen über den weißen Bart. »Ja, ich fürchte, ich erwähnte, daß ich die Odds gegen Donnerkap sehr interessant fände, doch nun sind Sie gekommen, um mir zu sagen, daß Weinberg den Sieg davongetragen hat.« Bruce Holpers kicherte trocken. See sagte barsch: »Spielen Sie uns kein Theater vor, Ridolph! Ich nehme an, Sie wollen behaupten, daß Sie nichts von der Reihe mysteriöser Explosionen wüßten...« »Landminen«, unterbrach ihn Holpers, »waren es.« »... die Weinberg so aus der Fassung brachten, daß Donnerkap sie auf dem Rosasteinplateau fertigmachte!« Magnus Ridolph setzte sich erfreut auf. »Stimmt das? Ist das wirklich wahr? Dann habe ich ja tatsächlich gewonnen!« Julius Sees Stimme wurde plötzlich ölig, und Bruce Holpers, der auf Ballen und Fersen schaukelte, blickte zum Himmel hoch. »Bedauerlicherweise, Mr. Ridolph, hatten so viele auf Donnerkap gesetzt, daß wir leider nicht mehr genügend Bargeld zur Auszahlung der Quoten haben. Wir müssen Sie deshalb ersuchen, Ihren Gewinn hier abzuwohnen.« »Aber, meine Herren!« protestierte Magnus Ridolph. »Hunderttausend Muniten! Dann müßte ich ja bis zum Jüngsten Tag hierbleiben!«
See schüttelte den Kopf. »Nicht bei unseren besonderen Ridolph-Gebühren. Das nächste Linienschiff kommt in fünf Tagen an. Für Unterkunft und Verpflegung berechnen wir 20 000 Muniten pro Tag für Sie, das kommt dann genau auf 100 000 Muniten.« »Ich fürchte, Ihr Humor ist etwas zu unverständlich für mich«, sagte Magnus Ridolph eisig. »Wir hatten auch nicht beabsichtigt, Sie zu erheitern«, erwiderte See. »Nur uns selbst. Und ist uns das nicht gelungen, eh, Bruce?« »Hahaha!« lachte Holpers. Magnus Ridolph erhob sich. »Sie lassen mir nur eine Wahl. Ich werde bei diesen horrenden Preisen Ihr Hotel verlassen müssen.« See gestattete sich ein breites Grinsen. »Und wohin wollen Sie gehen?« »Zur Donnerkaphorde!« höhnte Holpers. »Sie schulden ihm dort eine Menge!« »Was die hunderttausend Muniten betrifft, nehme ich auch einen Schuldschein. Ist es nicht seltsam, daß das genau der Betrag ist, den ich durch den Bankrott der Investment- und Immobilien-Gesellschaft Äußeres Reich verlor?« Magnus Ridolph verbeugte sich und stolzierte davon. See und Holpers starrten ihm nach. Holpers schluckte. »Glaubst du, er zieht wirklich aus?« »Ich sehe keinen Grund, weshalb er es sollte. Er bekommt die hunderttausend auf keinen Fall, also wäre es klüger von ihm, hierzubleiben.« »Ich hoffe aber, er verläßt das Hotel. Der Bursche macht mich nervös. Noch so eine Sache wie heute würde uns fertigmachen. Sechshunderttausend Muniten in zehn Minuten zu verlieren...«
»Wir bekommen es zurück... Vielleicht sollten wir selbst ein paar Schlachten beeinflussen.« Holpers Kinn klappte hinab. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Die CommonwealthÜberwachung wurde sofort...« »Pah!« sagte See verächtlich. »Was sollte die Überwachung schon tun können? Clark hat das Feuer und den Mut eines Leghornkükens.« »Ja, aber...« »Überlaß es nur mir!« Sie kehrten zum Foyer zurück. Der Empfangschef winkte ihnen aufgeregt zu. »Mr. Ridolph ist soeben ausgezogen. Ich verstehe nicht, wohin...« See unterbrach ihn brüsk. »Soll er doch unter einer Stele kampieren, wenn es ihm Spaß macht.« Magnus Ridolph lehnte sich in Everley Clarks bequemsten Sessel zurück und zündete sich eine Zigarette an. Clark beobachtete ihn wachsam und irgendwie störrisch. »Wir haben einen taktischen Sieg davongetragen«, erklärte Magnus Ridolph, »und gleichzeitig eine strategische Niederlage.« Everley Clark hob beunruhigt die Brauen. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht. Wir haben doch...« »Wir haben dem Schattentalhotel beachtlichen finanziellen Schaden zugefügt. Aber es war kein vernichtender Schlag, und so ist das Syndikat immer noch lebensfähig. Ich war auch nicht in der Lage, meine hunderttausend Muniten einzustreichen und wurde außerdem noch von der Szene verdrängt, wo ich am meisten hätte ausrichten können. Es steht also fest, daß wir unser Ziel nicht erreicht haben.« »Nun«, brummte Clark. »Es schmerzt natürlich,
das zugeben zu müssen. Aber wir haben unser Bestes getan – und mehr können wir nicht tun. Wenn ich an meine Stellung denke, ist es vielleicht ganz gut...« »Wenn man die Sache, wie sie jetzt ist, auf sich beruhen ließe«, sagte Magnus Ridolph, »wäre vielleicht Grund für eine leichte Entspannung gegeben. Doch ich fürchte, See und Holpers sind durch ihre Verluste viel zu aufgewühlt, als daß sie es täten.« Everley Clark blickte Magnus Ridolph verstört an. »Aber was können sie denn tun? Ich sehe nicht...« Magnus Ridolph schüttelte ernst den Kopf. »Ich muß zugeben, See und Holpers beschuldigten mich, für die Explosionen verantwortlich zu sein. Natürlich behauptete ich, nichts damit zu tun gehabt zu haben, wie wäre mir dergleichen auch möglich gewesen? Ich sagte, sie brauchten sich ja bloß beim ökologischen Untersuchungsoffizier der Hesperonis erkundigen. Er würde ihnen versichern, daß sich in meinem Gepäck keinerlei Chemikalien befanden. Ich glaube, daß meine Worte überzeugend klangen.« Everley Clark ballte erschrocken die Fäuste und zischte durch die zusammengepreßten Zähne. Magnus Ridolph, der nachdenklich durchs Zimmer blickte, fuhr fort: »Ich fürchte, sie werden sich die logischen Fragen stellen: ›Mit wem hat Magnus Ridolph sich hier angefreundet?‹ und ›Wer, außer Ridolph, billigt das Schattentalhotel nicht?‹« Everley Clark stand auf und marschierte im Zimmer hin und her. Mit gleichmütiger Stimme sprach Ridolph weiter: »Es ist anzunehmen, daß sie diese Fragen und auf welche Antworten sie auch immer schließen mögen, in ihrer Beschwerde an den Chefinspektor in Methedeon erwähnen werden.«
Clark ließ sich in einen Sessel fallen und stierte Ridolph mit glasigen Augen an. »Warum habe ich mich nur von Ihnen zu so etwas überreden lassen!« Nun erhob Magnus Ridolph sich und spazierte seinerseits im Zimmer hin und her. »Nun, gewiß, die Sache hat nicht den Verlauf genommen, den wir gern gesehen hätten, aber Strategen müssen eben mit Rückschlägen rechnen.« »Rückschläge!« heulte Clark auf. »Das ist mein Ruin. Ich werde mit Schimpf und Schande aus der Überwachung ausgestoßen!« »Ein guter Stratege muß flexibel sein«, murmelte Ridolph überlegend. »Ohne Frage müssen wir unsere Weichen anders stellen. Unser Hauptziel ist ab sofort, Sie vor der Schande unehrenhafter Entlassung und möglicherweise einem Gerichtsverfahren zu bewahren.« Clark fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Aber – was können wir denn tun?« »Sehr wenig, fürchte ich«, sagte Magnus Ridolph ehrlich. Er zog an seiner Zigarette und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Es gibt eine Möglichkeit, die sich als wirkungsvoll erweisen könnte. Ja, ich glaube, ich sehe einen Hoffnungsschimmer.« »Woran denken Sie? Sie beabsichtigen doch nicht, ein Geständnis abzulegen?« »O nein«, erwiderte Magnus Ridolph. »Dadurch würden wir wenig, oder eher noch gar nichts erreichen. Unsere einzige Chance ist, das Schattentalhotel in Verruf zu bringen. Wenn wir beweisen können, daß sie nicht das Wohl der Kokod im Auge haben, werden ihre Anschuldigungen an Gewicht verlieren.« »Das mag schon sein, aber...«
»Wenn wir einen unwiderleglichen Beweis beschaffen könnten, daß Holpers und See gefühllos ihre Position nutzen, um den Eingeborenen körperlichen Schaden zuzufügen, wäre Ihre Handlung als gerechtfertigt erwiesen.« »Hm, da mögen Sie recht haben. Aber erscheint es nicht etwas weit hergeholt? See und Holpers taten alles, um nur ja nicht in diesen Verdacht zu geraten.« »Ja, das kann ich mir denken. Ach, übrigens, wie nennen die Eingeborenen denn das Schattentalhotel?« »Großerechteckhorde.« »Mir drängt sich eine Idee auf. Wir müssen es irgendwie arrangieren, daß eine Schlacht auf dem Gelände des Schattentalhotels geplant wird, damit See und Holpers sich gezwungen sehen, Maßnahmen gegen die Krieger zu ergreifen!«
5 Everley Clark schüttelte den Kopf. »Das dürfte sich als verdammt schwierig herausstellen. Sie verstehen nichts von der Psychologie dieser Stämme! Sie kämpfen, bis sie umfallen, um die Standarte einer anderen Horde an sich zu bringen. Die Standarte ist in diesem Fall natürlich ein Schößling der heiligen Stele. Das ist das einzige, was sie interessiert – sie lassen sich von niemandem etwas befehlen oder auch nur irgendwie beeinflussen.« Magnus Ridolph seufzte traurig. »In diesem Fall dürfte Ihre Lage hoffnungslos sein.« Er blieb vor Clarks Schildsammlung stehen. »Unterhalten wir uns über etwas Angenehmeres!« Everley Clark schwieg. Magnus Ridolph strich ehrfürchtig mit der Fingerspitze über einen der Schilde. »Erstaunliche Technik, wirklich einmalig, soweit ich es beurteilen kann. Ich nehme an, daß dieses fast rostfarbige Orange einer der Ocker ist?« Everley Clark murmelte etwas Unverständliches. »Eine wirklich herrliche Sammlung«, lobte Magnus Ridolph. »Es gibt wohl keinen Zweifel, daß – wenn es zum Schlimmsten in unserer kleinen Angelegenheit kommen sollte – Sie die Erlaubnis erhalten werden, Ihre Zelle in der regionalen Strafanstalt zu verschönern.« Everley Clark schluckte schwer. »Glauben Sie, man würde so weit gehen?« Ridolph dachte nach. »Ich hoffe es natürlich nicht. Aber ich wüßte nicht, wie wir es verhindern könnten,
außer...« – er hob einen Finger – »... außer...« »Was?« krächzte Clark. »Es ist so einfach, daß es komisch ist. Ich frage mich, weshalb wir so blind waren!« »Was? Was? Sprechen Sie schon, Mann!« »Mir ist eine Möglichkeit eingefallen, die die Kokodkrieger veranlassen müßte, am Schattentalhotel zu kämpfen.« Everley Clark ließ die Schultern wieder hängen. »Oh. Nun, wie denn?« »Das Schattentalhotel, oder die Großerechteckhorde, wenn Ihnen das lieber ist, muß die Kokodkrieger zu einem Wettkampf herausfordern.« Everley Clark starrte Ridolph verwirrt an. »Aber das ist undurchführbar! Holpers und See würden nie...« Magnus Ridolph war bereits aufgesprungen. »Kommen Sie!« rief er entschlossen. »Wir werden in ihrem Auftrag handeln.« Clark und Magnus Ridolph stapften den Muschelstrand entlang. Zu ihrer Rechten verwandelte der ruhige blauschwarze Ozean sich zu einer Brandung gemischt aus Baiser und Schlagsahne. Links erhoben sich die Verborgenen Hügel. Hinter ihnen ragte die prächtige Stele der Muschelstrandhorde gen Himmel. Vor ihnen streckte sich die nicht weniger beeindrukkende Stele der Meeresklippenhorde den Wolken entgegen. Auf sie schritten die beiden zu. Ein Trupp junger Krieger exerzierte am Strand. Veteranen Hunderter von Schlachten, die steif und knorrig geworden waren, kamen mit den Armen voll Stecken für Lanzenschäfte aus dem Wald. An der Tür der Horde
rannten Kinderkrieger im Schmutz wie Ratten herum. Clark murmelte heiser: »Es gefällt mir nicht. Es gefällt mir absolut nicht... Wenn es jemals herauskommt...« »Wäre das logisch?« fragte Magnus Ridolph. »Sie sind der einzige Mensch überhaupt, der Kokod spricht!« »Und was ist, wenn jemand getötet wird?« »Das wäre sehr unwahrscheinlich!« »Aber nicht unmöglich. Und denken Sie doch nur an diese kleinen Krieger. Sie müßten es ausbaden!« Magnus Ridolph sagte geduldig: »Wir haben uns darüber lang und breit ausgelassen.« Clark flüsterte: »Ich werde es zu Ende führen – aber möge Gott uns gnädig sein, wenn...« »Kommen Sie!« drängte Magnus Ridolph. »Gehen wir die Sache voll Zuversicht an! Sich im vorhinein vor Ihrer Gottheit zu entschuldigen, hilft nicht, unsere Moral zu stärken... Also, wie sieht das Protokoll für eine Kriegsabmachung aus?« Clark deutete auf ein baumelndes Holzschild mit einem der traditionellen Kokodmuster bemalt. »Das ist die Chartatafel. Ich brauche nur – aber sehen Sie mir doch zu!« Er schritt zur Tafel, nahm einem blinzelnden Krieger die Lanze aus den Händen und schlug damit auf die Tafel. Ein stumpfer Ton war zu hören. Clark trat zurück und stieß durch die Nase die dudelsackähnlichen Laute der Kokodsprache aus. Ein Dutzend Krieger mit unbewegten Gesichtern traten aus der Tür der Horde und lauschten aufmerksam. Clark beendete seine Rede, drehte sich um und
stieß mit den Zehenspitzen lockeren Schmutz gegen die prächtige Meeresklippenstele. Die Krieger sahen ihm reglos zu. Aus dem Innern der Stele erschrillte ein Schwall Silben. Clark erwiderte hörbar ausführlich, dann machte er auf dem Absatz kehrt und schritt zu Magnus Ridolph zurück. Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Das wär's! Alles ist vereinbart. Also morgen bei der Großerechteckhorde.« »Sehr gut!« lobte Magnus Ridolph knapp. »Jetzt zur Muschelstrandhorde, dann zur Felsenfluß- und danach zur Regenbogenklufthorde.« Clark stöhnte. »Sie werden den gesamten Planeten auf den Beinen haben.« »Genau das ist meine Absicht. Nach unserem Besuch bei der Regenbogenklufthorde können Sie mich in der Nähe des Schattentalhotels absetzen. Ich habe dort noch etwas zu erledigen.« Clark warf ihm einen mißtrauischen Seitenblick zu. »Was denn?« »Nun, wir müssen praktisch denken«, antwortete Ridolph. »Eines der wichtigsten Erfordernisse für einen Krieg auf Kokod ist die Hordenstandarte: ein heiliger Schößling. Denn darauf konzentriert sich der Gegner. Da wir aber nicht erwarten können, daß Holpers oder See eine herbeischaffen werden, muß ich mich darum kümmern.« Ridolph spazierte das Schattental hoch und näherte sich dem Hangar mit den Luftwagen des Hotels. Im Schatten eines der phantastischen Kokodbäume verborgen, zählte er insgesamt sechs Fahrzeuge: drei Allzweckwagen, zwei Luftwagen der Art, mit der er zur Überwachungsstation geflogen war, und ein
schnittiger roter Sportwagen, offenbar das Privatgefährt Holpers oder Sees. Keiner der Mechaniker oder Piloten waren irgendwo zu sehen. Vermutlich machten sie ihre Mittagspause. Scheinbar gleichmütig schlenderte Ridolph zu den Hangars und pfiff den neuesten Schlager, einen Ohrwurm, wie er zur Zeit überall auf der Hitparade stand. Plötzlich hörte er zu pfeifen auf und fing zu laufen an. Geschickt, obwohl er die Hände mit einem alten Lappen schützte, um sie nicht schmutzig zu machen, öffnete er die Armaturentafeln der drei Allzweckwagen, die gewöhnlich als Ausflugsbusse dienten und nahm etwas heraus; das gleiche tat er bei den beiden Luftwagen. Den schnittigen Sportwagen betrachtete er nachdenklich. »Ein brauchbares Fahrzeug«, murmelte er. »Genau richtig für den vorgesehenen Zweck.« Er ließ die Tür zurückgleiten und schaute ins Innere. Der Zündschlüssel steckte nicht. Hinter ihm erklangen Schritte. »He!« rief jemand grob. »Was machen Sie mit Mr. Sees Wagen?« Ohne jegliche Eile drehte Magnus Ridolph sich um. »Wieviel ist er wert?« stellte er eine Gegenfrage. »Was schätzen Sie?« Der Mechaniker blickte ihn finster und mißtrauisch an. »Zu viel, jedenfalls, als daß man sich nicht um ihn kümmern müßte.« Magnus Ridolph nickte. »Dreißigtausend Muniten, in etwa.« »Dreißigtausend auf der Erde. Wir sind hier auf Kokod.« »Ich beabsichtige, See hunderttausend dafür zu bieten.«
Der Mechaniker blinzelte. »Er wäre verrückt, wenn er nicht darauf einginge.« »Ja, vermutlich.« Magnus Ridolph seufzte. »Ich wollte mich nur zuerst vergewissern, daß er auch tatsächlich in einwandfreiem Zustand ist. Doch nun sehe ich leider, daß das nicht der Fall ist.« »Von wegen! Einen gepflegteren Luftwagen gibt es nicht!« entrüstete sich der Mechaniker. Magnus Ridolph zog die Brauen zusammen. »Ganz zweifellos spuckt der Auspuff – das sehe ich an seinem Belag!« »Keineswegs!« brüllte der Mechaniker. »Einen leiseren Auspuff gibt es überhaupt nicht!« Ridolph schüttelte den Kopf. »Nein, ich sehe nicht ein, weshalb ich See gutes Geld für ein defektes Fahrzeug bieten sollte... Nun, es wird ihm leid tun, daß aus dem Verkauf nichts wird.« Der Mechaniker änderte den Ton. »Ich versichere Ihnen, der Wagen ist hundertprozentig in Ordnung! Warten Sie, ich werde es Ihnen beweisen.« Er holte einen Schlüsselring aus seiner Tasche und drehte den Zündschlüssel. Der Wagen erhob sich ein paar Zentimeter vom Boden. Er zitterte, vor Aufregung, wie es schien, weil er es nicht erwarten konnte, sich in die Luft zu schwingen. »Na, sehen Sie?« fragte der Mechaniker triumphierend. »Genau, wie ich sagte!« Ridolph betrachtete den Wagen zweifelnd. »Im Augenblick scheint er ja ganz gut zu funktionieren... Rufen Sie Mr. See an und sagen Sie ihm, daß ich einen kurzen Probeflug mache, um alles zu überprüfen...« Der Mechaniker blickte Magnus Ridolph stumm an, dann wandte er sich dem Sprechgerät an der
Wand zu. Magnus Ridolph sprang auf den Pilotensitz. Die Stimme des Mechanikers war deutlich zu hören. »Der Herr, der Ihren Wagen kauft, möchte ihn gründlich überprüfen. Aber glauben Sie ihm kein Wort, wenn er behauptet, irgendwas stimmt damit nicht. Und lassen Sie ihn den Preis ja nicht drücken... Was? Natürlich ist er hier... Er hat es selbst gesagt... Wie ein Schullehrer mit einem weißen Bart wie ein Ziegenbock...« Was für Magnus Ridolph unhörbar aus dem Gerät erklang, ließ den Mechaniker erschrocken zurückspringen. Besorgt drehte er sich um und blickte auf die Stelle, wo er Magnus Ridolph und Julius Sees roten Flitzer zurückgelassen hatte. Beide waren verschwunden. – Mrs. Chaim weckte ihre pfauenförmige Freundin, Mrs. Borgage, etwas früher als gewöhnlich. »Beeil dich, Altamira, damit wir heute einmal bessere Plätze im Bus bekommen als die letzten Male!« Mrs. Borgage tat ihrer Freundin den Gefallen und beeilte sich mit ihrer Toilette. Und schon bald darauf trafen die beiden Damen sich im Foyer. Durch einen seltsamen Zufall trugen beide heute dunkelgrüne Kostüme. Jede fand, daß der anderen diese Farbe absolut nicht stand. An der Tafel blieben sie kurz stehen, um sich die Odds für den heutigen Krieg noch einmal anzusehen, dann betraten sie den Frühstücksraum. Auch mit dem Frühstück beeilten sie sich, dann rannten sie zur Busplattform. Mrs. Borgage, die kurz einmal stehenblieb, um Luft zu holen und die Morgenstimmung zu betrachten, blickte zufällig zum Hoteldach. Ungeduldig schaut Mrs. Chaim über die
Schulter zu ihr zurück. »Worauf starrst du denn, Altamira?« Mrs. Borgage deutete. »Dieser unangenehme kleine Mann Ridolph... Ich möchte wissen, was er macht! Es sieht so aus, als befestigte er einen Zweig auf dem Dach.« Mrs. Chaim rümpfte die Nase. »Ich dachte, die Geschäftsleitung hätte ihn hinauskomplimentiert.« »Ist das nicht Mr. Sees Luftwagen hinter ihm?« »Das könnte ich nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Mrs. Chaim. »Ich verstehe so gut wie gar nichts von diesen Dingen.« Sie schritt weiter zur Busplattform, und Mrs. Borgage folgte ihr. Nach ein paar weiteren Schritten kam ihnen der Pilot entgegen, und sie blieben erneut stehen. Der Mann sah entsetzlich aus. Seine Kleidung hing in Fetzen von ihm, sein Gesicht war zerkratzt und grün und blau geschlagen. Er stürmte geradewegs auf die beiden Damen zu, ohne daß seine wildaufgerissenen Augen sie bemerkt hätten, und prallte gegen sie. Ohne sich zu entschuldigen rannte er weiter. Zuhöchst entrüstet stemmte Mrs. Chaim die Hände an die Hüften. »Das ist doch unerhört!« Sie drehte sich um, um dem Piloten nachzusehen. »Ist der Bursche vom Wahnsinn besessen?« Mrs. Borgage, die im Gegensatz zu ihrer Freundin geradeaus gespäht hatte, um möglicherweise den Grund für den Zustand des Piloten festzustellen, stieß einen Schreckensschrei aus. »Was hast du denn?« fragte Mrs. Chaim gereizt. Mrs. Borgages knochige Finger krallten sich in Mrs. Chaims Arm. »Schau doch!«
6 Während der folgenden offiziellen Untersuchung übersetzte der Commonwealth-Überwachungsoffizier Everley Clark die folgende Augenzeugenaussage. Ich bin Joe 234, Truppführer der 15. Brigade der Fanatiker, im Dienst der unbesiegbaren Muschelstrandhorde. Wir sind an die Schliche der Topashorde gewöhnt und an die verzweifelten Finessen der Sternenthronhorde, deshalb überraschte uns der Hinterhalt der Riesenkrieger von der Großerechteckhorde auch nicht. Wir näherten uns in Grundformation 17 und umzingelten das flache Gebiet, auf dem mehrere Flugwagen standen. Wir stießen dort auf einen Späher und hieben mit den Lanzenschäften auf ihn ein, woraufhin er zu seinen eigenen Truppen zurückfloh. Wir zogen weiter und kamen erneut in Feindberührung. Diese vorderste Front des Gegners bestand jedoch lediglich aus zwei nicht sehr tüchtigen Kriegern in grünen Uniformen. Wir schlugen sie nach Kode 22, der für diesen Tag vereinbart war. Mit gräßlichen Schreien zogen die beiden Krieger sich zurück und lockten uns zu kampfbereiten Stellungen im Innern der Horde. Hoch auf dem Dach erhob sich deutlich sichtbar die Standarte der Großerechteckhorde. Das zumindest war keine Täuschung! Unser strategisches Problem nahm nun klare Form an. Wir mußten den Widerstand brechen und das Dach erreichen! Wir entschieden uns für Frontalangriff. Das Signal zum Vorrücken wurde gegeben. Wir von der Fünfzehnten hatten die äußere Verteidigung schnell überwunden – sie bestand aus einer Doppelscheibe dicken Glases, das wir mit
Steinen zerbrachen. Im Innern erwartete uns eine lebhafte Verteidigung, die uns flüchtig zurückschlug. Zu diesem Zeitpunkt kam es zu einer Diversion durch die Truppen der Felsenflußhorde, die, wie wir nun wissen, sehr unüberlegt für diesen gleichen Tag von der Großerechteckhorde herausgefordert worden war. Die Felsenflußkrieger waren durch eine Reihe dünner Türen an der Bergseite hereingekommen. Da brach die Großerechteckhorde den Kode 22, nach dem der Feind nur mit Lanzenhieben unterworfen – also auch nicht getötet – werden darf. Die Großerechteckhordenkrieger benutzten jedoch keine Lanzen, sondern warfen mit Trinkgläsern und Kelchen. Nach uralter Sitte dürfen wir uns auf gleiche Weise rächen, also warfen auch wir mit den herumstehenden Gläsern und Kelchen. Als die Verteidiger einsahen, daß ihre Taktik nicht den erwünschten Erfolg einbrachte, zogen sie sich – ihre Schlachtschreie brüllend – in die innere Bastion zurück. Die Belagerung begann nun in allem Ernst. Und nun mußten die Großerechteckkrieger für ihre Arroganz bezahlen. Sie hatten nämlich nicht nur uns vom Muschelstrand und die Felsenflußhorde herausgefordert, sondern auch noch die gefürchteten Krieger der Regenbogenklufthorde, die Eroberer des Rosenhangs und der Finsterschlucht; und als vierte obendrein die Meeresklippenhorde. Letztere, unter Führung der Wurflegion, stürmte durch einen geheimen Hintereingang herein, während die Vorhut der Regenbogenkluft die Ratshalle der Großerechteckhorde besetzte. Eine gewaltige Schlacht tobte mehrere Minuten in einem Raum, der zur Zubereitung von Nahrung bestimmt ist. Wieder brachen die Krieger der Großerechteckhorde den Kode, indem sie mit Flüssigkeiten, Pasten und Pulvern
warfen – diese Kampfart wurde unverzüglich von den Kriegern der Muschelstrandhorde kopiert. Ich führte die 15. Brigade der Fanatiker ins Freie, da ich hoffte, das Dach von außen erreichen und so die Standarte der Großerechteckhorde an uns bringen zu können. Die Armeen der Muschelstrand-, Meeresklippen-, Felsenflußund Regenbogenklufthorden hatten inzwischen die Großerechteckhorde völlig umzingelt. Dieser herrliche Anblick wird mir in unvergeßlicher Erinnerung bleiben, bis ich dereinst meine Lanze niederlege. Trotz unserer Bemühungen ging die Ehre der Eroberung der feindlichen Standarte an einen verwegenen Trupp der Meeresklippenhorde, der einen Baum zum Dach hochkletterte und so die Trophäe an sich brachte. Die Verteidiger, denen offenbar die Tatsache des Verlusts ihrer Standarte nicht bewußt war – oder sie möglicherweise auch einfach ignorierten –, brachen den Kode erneut, indem sie mit gewaltigen Wasserstößen aus Schläuchen gegen uns vorgingen. Wenn die Muschelstrandhorde das nächstemal von der Großerechteckhorde zum Kampf herausgefordert wird, werden wir auf einem Kode bestehen, der jede Art von Waffen zuläßt, damit der Gegner uns gegenüber nicht wieder in unerlaubtem Vorteil ist. Siegreich sammelte sich unsere Armee, zusammen mit den Truppen der Meeresklippen-, Felsenfluß- und Regenbogenklufthorden, und wir alle marschierten zu unseren heimatlichen Horden zurück. Als wir bereits auf dem Rückmarsch waren, kam die große Schwarzekometenhorde vom Himmel herab und spuckte weitere Krieger für die Großerechteckhorde aus. Es kam jedoch zu keiner Verfolgung, und wir konnten ungehindert zurückkehren, um mit unseren Siegesfeiern zu beginnen.
Kapitän Bussey des Linienschiffs Archaeornyx der Phönix Gesellschaft, der gerade landete, als die Kokodkrieger davonmarschierten, betrachtete überrascht das Schlachtfeld. »Was, um Himmels willen, ist hier vorgegangen?« erkundigte er sich. Schweiß perlte über Julius Sees Stirn. »Besorgen Sie mir sofort Waffen! Ich brauche eine Strahlenkanone! Ich werde jede einzelne Horde auf diesem Planeten ausrotten...« Holpers kam herbeigerannt. Seine langen Arme flatterten wie Flügel. »Sie haben alles demoliert! Sie sollten unser Foyer sehen, die Küche, den Aufenthaltsraum! Trümmer alles, nichts als Trümmer...« Verwirrt schüttelte Kapitän Bussey den Kopf. »Warum, um alles auf der Welt, haben sie Sie angegriffen? Sie sollen die friedlichste Rasse überhaupt sein – außer untereinander, natürlich.« »Nun, irgend etwas muß in sie gefahren sein«, keuchte See und versuchte Luft zu holen. »Wie die Tiger fielen sie über uns her und schlugen mit ihren verdammten kurzen Stöcken auf uns ein... Bis ich sie endlich mit unseren Wasserschläuchen vertreiben konnte.« »Was ist mit Ihren Gästen?« erkundigte sich Kapitän Bussey plötzlich neugierig. See zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, was mit ihnen passiert ist. Ein Teil rannte davon, das Tal hoch – geradewegs in die Hände einer weiteren Armee. Wenn ich recht gehört habe, wurden sie genauso geschlagen, wie die, die geblieben sind.« »Wir konnten nicht einmal mit unseren Luftwagen entkommen«, beschwerte sich Holpers. »Kein einziger ließ sich starten...«
Eine milde Stimme unterbrach ihn. »Mr. See, ich habe mich entschlossen, Ihren Luftwagen doch nicht zu kaufen, und ihn in den Hangar zurückgebracht.« See drehte sich langsam um. Die Aura seiner bösen Gedanken war fast greifbar. »Sie, Ridolph... Mir geht ein Licht auf...« »Wie bitte?« »Heraus mit der Sprache!« See machte drohend einen Schritt auf ihn zu. »Beherrschen Sie sich, See!« warnte Kapitän Bussey. See ignorierte ihn. »Was war Ihre Rolle in dem Ganzen, Ridolph?« Magnus Ridolph schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich verstehe Ihre Worte nicht. Ich nehme an, die Eingeborenen erfuhren, daß Sie Wetten über etwas abschlossen, das ihnen nicht nur wichtig, sondern sogar heilig ist, und sie beschlossen daraufhin, Strafmaßnahmen zu ergreifen.« Der übertrieben verzierte Zubringerbus des Schiffs rollte herbei. Unter den Passagieren war eine Frau von beachtlichem Brustumfang, korrekt getönt, massiert, frisiert, parfümiert und dekoriert. »Ah!« rief Magnus Ridolph. »Mrs. Chickering! Charmant!« »Ich mußte einfach kommen, um zu sehen, wie die Dinge stehen!« erklärte sie. Julius See beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor. »Von welchen Dingen sprechen Sie?« Mrs. Chickering widmete ihm nur einen kurzen abfälligen Blick, dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf zwei Frauen gelenkt, die aus der Richtung des Hotels herbeigehumpelt kamen. »Olga!« keuchte sie. »Altamira! Was, auf der Welt...«
»Steh nicht glotzend herum«, schnaubte Mrs. Chaim. »Besorg uns was zum Anziehen! Diese gräßlichen Wilden rissen uns die Kleider in Fetzen!« Verwirrt wandte Mrs. Chickering sich an Magnus Ridolph. »Was ist passiert? Sie haben doch sicher nicht...« Magnus Ridolph räusperte sich. »Mrs. Chickering, ein Wort unter vier Augen.« Er zog sie außer Hörweite der anderen. »Sind Sie mit Mrs. Chaim und Mrs. Borgage befreundet?« Mrs. Chickering warf einen besorgten Blick über die Schulter. »Ich verstehe die ganze Situation nicht«, murmelte sie verstört. »Mrs. Chaim ist die Vorsitzende der Frauenvereinigung zur Erhaltung von Sitte und Ordnung, und Mrs. Borgage ist die Schatzmeisterin. Wieso laufen sie mit so zerfetzten Kostümen herum?« Magnus Ridolph antwortete offen. »Nun, Mrs. Chickering, indem ich Ihre Anweisungen ausführte, ließ ich der natürlichen Kampfbegeisterung der Eingeborenen Raum. Vielleicht...« »Martha!« knirschte Mrs. Chaims Stimme dicht hinter ihnen. »In welcher Beziehung stehst du zu diesem Mann! Ich habe Grund zur Annahme, daß er mit diesem schrecklichen Angriff zu tun hat. Sieh ihn dir an!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Sie haben nicht einen Finger an ihn gelegt! Während wir anderen...« Martha Chickering benetzte die Lippen. »Weißt du, Olga, meine Teure, das ist Magnus Ridolph. Auf Beschluß unserer letzten Versammlung erteilten wir ihm den Auftrag, mit den Wettspielen hier im Hotel ein Ende zu machen.«
Mit gewinnendster Stimme sagte Magnus Ridolph: »Woraufhin Mrs. Chaim und Mrs. Borgage es verständlicherweise für das Beste hielten, hierherzukommen und die Situation aus erster Hand zu studieren, nicht wahr?« Mrs. Chaim und Mrs. Borgage starrten ihn böse an. Mrs. Chaim sagte: »Wenn du glaubst, Martha Chickering, daß die Frauenvereinigung diesen Schurken wirklich anerkennt...« »Meine teure Mrs. Chaim!« rief Magnus Ridolph entrüstet. »Aber, Olga – ich habe ihm tausend Muniten die Woche zugesagt.« Magnus Ridolph machte eine großmütige Geste. »Meine liebe Mrs. Chickering, ich würde mich freuen, wenn Sie das mir zustehende Honorar an würdige Wohlfahrtsorganisationen verteilten. Ich habe durch meinen kurzen Aufenthalt hier hinreichend profitiert...« »See!« mahnte Kapitän Bussey. »Mann, beherrschen Sie sich!« Magnus Ridolph drehte sich um und sah, daß der Kapitän den sich heftig Wehrenden festhielt. »Versuchen Sie doch zu kassieren!« brüllte See und funkelte Magnus Ridolph an. Es gelang ihm, sich aus Kapitän Busseys Griff zu befreien. Jetzt schloß und öffnete er ergrimmt die Fäuste. »Versuchen Sie doch zu kassieren!« »Mein teurer Mr. See, ich habe bereits kassiert!« »Sie haben nichts dergleichen – und wenn ich Sie noch einmal in meinem Flugwagen erwische, drehe ich Ihnen den hageren Hals um!« Magnus Ridolph hob die Hand. »Die hunderttau-
send Muniten schrieb ich von vornherein ab. Ich ließ jedoch durch andere sechs weitere Wetten abschließen. Sie wurden ausbezahlt – und mein Anteil, nachdem meine Mittelsmänner entschädigt waren, kam immer noch auf gut dreihunderttausend Muniten. Ich erachte diesen Betrag als Rückzahlung meines Kapitals, das ich der Investment- und ImmobilienGesellschaft Äußeres Reich anvertraute, plus Profit. Alles in allem war es eine lohnende und lehrreiche Anlage.« »Ridolph«, zischte See. »Eines Tages werde ich...« Mrs. Chaim kam in drohender Haltung näher. »Hörte ich richtig? Sagten Sie ›Investment- und Immobilien-Gesellschaft Äußeres Reich‹?« Magnus Ridolph nickte. »Soviel ich weiß, waren Mr. See und Mr. Holpers die Verantwortlichen der Gesellschaft.« Mrs. Chaim machte zwei Schritte vorwärts. See runzelte unsicher die Stirn, Bruce Holpers wich vorsichtig zurück. »Bleiben Sie stehen!« rief Mrs. Chaim grimmig. »Ich habe noch ein Wörtchen mit Ihnen zu reden, ehe ich Sie verhaften lasse!« Magnus Ridolph wandte sich an Kapitän Bussey. »Ich nehme an, Sie kehren fahrplanmäßig nach Methedeon zurück?« »Ja«, antwortete Bussey trocken. Magnus Ridolph nickte. »Ich glaube, ich werde sogleich an Bord gehen, da für den Rückflug sicherlich ein ziemlicher Andrang sein wird.« »Wie es Ihnen beliebt«, sagte Kapitän Bussey. »Täusche ich mich, oder ist Nr. 12 Ihre beste Kabine?« »Sie dürfte die beste sein.«
»Dann buchen Sie bitte Nr. 12 für mich.« »Wie Sie wünschen, Mr. Ridolph.« Magnus Ridolph blickte den Berg hoch. »Vor ein paar Minuten sah ich Mr. Pilby den Kamm entlanglaufen. Ich hielte es für eine freundliche Geste, wenn wir ihn benachrichtigten, daß der Krieg vorüber ist.« »Ganz meine Meinung«, sagte Kapitän Bussey. Sie schauten sich nach den anderen um. Mrs. Chaim war noch mit Julius See und Bruce Holpers beschäftigt. Mrs. Borgage zeigte Mrs. Chickering ihre Blutergüsse. Niemand kümmerte sich um Magnus Ridolphs Vorschlag. Ridolph zuckte die Achseln und stieg die Rampe hoch zur Archaeornyx. »Nun, es spielt wohl keine große Rolle. Er wird auch von selbst bald zurückkehren.«
DER UNNENNBARE McINCH Das Wörtchen »mysteriös« hat an sich keinen objektiven Bezug – es beschreibt lediglich eine Beschränkung des Verstandes. Tatsächlich kann ein Verstand nach den Phänomena eingestuft werden, die er als mysteriös erachtet. »Natürlich, das ist doch offenkundig!« wird nun ein jeder beistimmen. Dazu ein Wort zum Offenkundigen: es ist immer offenkundig... Der übliche Verstand ordnet die Reihenfolge und gestattet dem Mysteriösen, die Lösung zu entwickeln. Das ist umgekehrte Logik. Tatsächlich hat das Mysteriöse den gleichen Bezug zur Lösung wie der Schaum zum Bier... Magnus Ridolph Die Unikultur-Mission hatte ihm lediglich mitgeteilt: »Er heißt McInch und ist ein Mörder. Mehr wissen wir nicht.« Magnus Ridolph hätte diesen Auftrag nicht angenommen, hätte sein Konto den üblichen Stand gehabt. Aber das Fiasko mit einer Werbekampagne – Himmelsschrift mit Leuchtgasen im interplanetaren Raum – hatte den weißbärtigen Philosophen der Armut nahegebracht. Der erste Eindruck des Planeten Sclerotto erhöhte seine Abneigung gegen den Job. Seine Augen fanden das Licht der beiden Sonnen – rot und blau – unangenehm. Der träge Ozean, die wirre Anordnung der Felsplatten waren nicht nach seinem Geschmack, und Sclerotto City, mit ihrem Labyrinth von Holzhäusern und Hütten schien keinerlei Unterhaltungsmöglichkeiten zu bieten. Dazu kam noch, daß sein Gastgeber,
Klemmer Boek, der Kaplan der Unikultur Mission am Ort, ihn ohne Freundlichkeit begrüßte – tatsächlich schien es, als mißfiele ihm sein Besuch, als fände er Magnus Ridolph als Privatmann aufdringlich und lästig. In einem klapprigen alten Wagen fuhren sie zur Mission, die auf der Kuppe eines kahlen Felsens kauerte. Im etwas düsteren Innern der Mission war es nach der staubigen und blendenden Fahrt angenehm kühl. Magnus Ridolph holte ein ordentlich zusammengelegtes Taschentuch hervor, betupfte sich damit die Stirn, die Nase und den weißen Bart. Er warf seinem Gastgeber einen fast kläglichen Blick zu. »Ich fürchte, die Lichtverhältnisse dieses Planeten sagen mir nicht zu. Blau, rot – drei verschiedene Schatten für jeden Stock und Stein.« »Ich bin daran gewöhnt«, antwortete Boek tonlos. Er war ein kleiner Mann, dessen melonenförmiger Bauch sich unter dem Hemd abhob. Sein Gesicht war rosig und glänzend wie billiges Porzellan. Die Augen über der Stupsnase waren blau und rund. »Ich kann mich kaum noch erinnern, wie die Erde aussieht.« »Der Reiseführer beschreibt die Wirkung als anregend und exotisch.« Magnus Ridolph steckte sein Taschentuch wieder ein. »Es muß wohl an mir liegen, daß ich nicht empfänglich dafür bin.« Boek schnaubte. »Der Reiseführer? Er beschreibt Sclerotto City als ›farbenprächtig, faszinierend, ein Miniaturcommonwealth, ein echtes Beispiel tätiger Demokratie‹. Ich wollte, der Bursche, der das verbrach, müßte so lange hier leben wie ich.« Er ruckte einen Korbsessel für Magnus Ridolph zurecht, und goß Eiswasser in ein Glas. Magnus Ri-
dolph machte es sich bequem, und Boek ließ sich in einem gleichen Sessel ihm gegenüber nieder. »Also«, sagte Magnus Ridolph. »Wer oder was ist McInch?« Boek lächelte bitter. »Dafür sind Sie hier.« Ridolph blickte stumm vor sich hin und zündete sich eine Zigarre an. Schließlich sagte Boek: »Obwohl ich bereits sechs Jahre hier bin, kann ich Ihnen alles, was ich über McInch weiß, in sechs Sekunden sagen. Erstens, er ist der Boß über das ganze stinkende Chaos dort.« Er deutete auf die Stadt. »Zweitens, er ist ein Mörder, ein Schurke, ein Egoist. Drittens, niemand außer McInch weiß, wer McInch ist.« Magnus Ridolph trat ans Fenster, depolarisierte es und schaute über das Gewirr schiefer Dächer, die sich wie ein zerrissener Orientteppich bis zur Magnetbucht erstreckten, dann wanderte sein Blick über die Haifischzähnen ähnelnden Felsen, die sich gegenüber in den Himmel bohrten, und hinunter zur Bucht, wo sie mit dem gezeitenlosen Ozean verschmolz, bis zum in lavendelfarbenem Dunst verschwimmenden Horizont. »Nicht sehr ansprechend. Ich verstehe nicht, wie das Touristen anziehen kann.« Boek kam ebenfalls zum Fenster. »Nun – es ist zweifellos eine fremdartige Welt.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Dächer unten. »In dieser Wirrnis dort leben zumindest ein Dutzend verschiedene Arten von intelligenten Kreaturen: Staatenlose, Verbannte, Flüchtlinge – alle wie Sardinen zusammengequetscht. Zweifellos ist es erstaunlich, wie sie sich anpaßten.«
»Hmmm...«, murmelte Magnus Ridolph. »Ist dieser McInch ein – Mensch?« Boek zuckte die Achseln. »Das weiß niemand. Und wer es herausfindet, stirbt sogleich. Zweimal hat das Hauptquartier Agenten zur Untersuchung hierhergeschickt. Beide brachen mitten in der Stadt tot zusammen – einer beim Exportlagerhaus, der andere im Büro des Bürgermeisters.« Magnus Ridolph hüstelte. »Und die Ursache ihres Dahinscheidens?« »Eine unbekannte Krankheit.« Boek starrte hinunter auf die Dächer, die Mauern, Straßen, Arkaden. »Die Mission versucht, sich aus der Lokalpolitik herauszuhalten, aber natürlich propagandieren wir – indem wir die Nasen Außerirdischer in irdische Kultur stoßen – unsere eigene Lebensart. Und manchmal«, er grinste säuerlich, »kommt es zu Umständen, wie der McInch-Sache.« »Damit ist zu rechnen«, sagte Magnus Ridolph. »Welche Form nehmen McInchs Ausschreitungen denn an?« »Korruption«, antwortete Boek. »Bestechung klassischer irdischer Art – Korruption der Stadtverwaltung. Ich hätte vielleicht erwähnen sollen«, wieder grinste Boek säuerlich, »daß Sclerotto City einen auf übliche Weise gewählten Bürgermeister und einen Stadtrat hat. Es gibt auch eine städtische Feuerwehr, eine Postdienststelle, eine Abfallbeseitigung, Polizei – warten Sie, bis Sie sie sehen!« Er kicherte, und es klang, als scharre ein Eimer über einen Steinboden. »Das ist die eigentliche Touristenattraktion: die Art, wie diese Kreaturen die irdische Lebensweise nachäffen.«
Magnus Ridolph beugte sich ein wenig vor. Er runzelte die Stirn. »Es gibt keine auffälligen, stattlichen Gebäude – außer dem einen an der Bucht.« »Das ist das Touristenhotel«, erklärte ihm Boek. »Das Pondicherryhaus.« »Aha«, murmelte Magnus Ridolph abwesend. »Ich gebe zu, der erste Eindruck von Sclerotto City läßt eine Stadtverwaltung unwahrscheinlich erscheinen.« »Sie werden es gleich wahrscheinlicher finden, wenn Sie an die Geschichte der Stadt denken«, sagte Boek. »Vor fünfzig Jahren wurde hier eine Kolonie der Ordinationalisten gegründet – hier, auf dem einzigen flachen Flecken des Planeten. Allmählich – Sclerotto liegt ja knapp außerhalb des Commonwealths, und hier werden keine peinlichen Fragen gestellt – fanden sich hier die unerwünschten Elemente des ganzen Sternhaufens ein. Und auf die eine oder andere Weise fanden sie eine Möglichkeit zu überleben. Die, die versagten...« – er machte eine wegwerfende Handbewegung –, »überlebten eben nicht. Wenn man neu hierherkommt, wie die Touristen, findet man das Ganze erstaunlich. Als ich das erstemal durch die Hauptstraße spazierte, dachte ich, ich erlebte einen Alptraum. Die Kmaush in Tanks, die in ihren Mägen Perlmuttsteine absondern; Tausendfüßler von Portmars Planeten... Tau Geminis, Armadillos von Carnegie 12, Gelbvögel, Zeeken, ja sogar ein paar Aldebaraner, von verschiedenen Arten Anthropoiden ganz zu schweigen. Wie sie miteinander auskommen, ohne sich in Stücke zu reißen, beschäftigt mich hin und wieder immer noch.« »Die Schwierigkeit ist vielleicht mehr äußerlich als wirklich«, meinte Magnus Ridolph mit merkwürdi-
gem Tonfall. Boek warf seinem Gast einen Seitenblick zu und rümpfte die Nase. »Sie haben nicht so lange hier gelebt wie ich.« Er wandte den Blick wieder der Stadt zu. »Bei diesem Staub, diesem Gestank, dieser...« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Nun, auf jeden Fall handelt es sich bei allen um intelligente Lebewesen«, sagte Magnus Ridolph. »Doch noch ein paar Fragen, wie holt McInch sich das Geld?« Boek kehrte zu seinem Korbsessel zurück und ließ sich schwer hineinfallen. »Offenbar nimmt er es sich geradewegs aus der Stadtkasse. Die städtischen Steuern werden in bar erhoben, zum Rathaus gebracht und dort in einen Safe gesperrt. McInch öffnet den Safe ganz einfach, wenn er Geld braucht, nimmt sich, was er benötigt, und schließt den Safe wieder zu.« »Und die Bürger regen sich nicht darüber auf?« »Entrüstung ist eine Emotion«, antwortete Boek sarkastisch. »Die Majorität der Bevölkerung ist nichtmenschlich und kennt keine Gefühle.« »Und was ist mit den menschlichen Bürgern?« »Sie haben Angst – eben weil sie Menschen sind.« Magnus Ridolph strich über seinen Bart. »Lassen Sie es mich so formulieren: Zahlen die Bürger ihre Steuern widerstrebend?« »Nun, sie haben keine Wahl«, antwortete Boek. »Alle Ein- und Ausfuhr geht über die städtische Kooperative. Dort werden die Steuern erhoben.« »Und warum wird der Safe nicht irgendwo anders hingebracht oder bewacht?« »Letzteres wurde versucht, durch unseren früheren Bürgermeister. Die dort aufgestellten Wachen fand
man tot auf; Ursache: unbekannte Krankheit.« »Höchstwahrscheinlich gehört McInch zur Stadtverwaltung«, vermutete Magnus Ridolph. »Die Leute dürften der Verlockung am meisten ausgesetzt sein.« »Da stimme ich mit Ihnen überein«, sagte Boek. »Aber wer könnte es sein?« »Wen gibt es denn alles?« »Nun – den Postmeister, ein Vielfüßler von Portmar; den Hauptmann der Feuerwehr, er ist ein Mensch; den Polizeichef, er ist von Sirius 5; den Abfallbeseitiger, er ist ein – ein ... Es fällt mir nicht ein, jedenfalls stammt er von 1012 Aurigae.« »Ein Golespod?« »Richtig. Er ist der einzige... ah... Golespod in der Stadt. Dann ist da noch der Leiter des städtischen Lagerhauses, der gleichzeitig Steuereinnehmer ist, er ist eine Ameisenkreatur von Tau Gemini; und – last but not least – der Bürgermeister. Er heißt Juju Jiejie – so hört es sich jedenfalls an. Er ist ein Gelbvogel.« »Aha...« Nach einer Weile fragte Boek: »Nun, was meinen Sie?« »Das Problem hat seine interessanten Seiten«, erwiderte Ridolph. »Natürlich möchte ich mich in der Stadt umsehen.« Boek schaute auf seine Uhr. »Wann wollen Sie denn gehen?« »Ich würde mich zuerst gern umziehen«, antwortete Magnus Ridolph und erhob sich. »Wenn es Ihnen dann recht ist, könnten wir gleich aufbrechen.« »Es ist Ihnen ja klar«, sagte Boek mürrisch, »daß Inch sofort, wenn Sie anfangen Fragen zu stellen, davon erfährt und versuchen wird, Sie umzubringen.«
»Die Unikulturmission zahlt mir ein hohes Honorar, damit ich dieses Risiko eingehe«, erklärte Magnus Ridolph. »Ich bin, sozusagen, eine Art Gladiator neuer Zeit. Logik ist mein Schwert, Wachsamkeit mein Schild. Außerdem...« – er strich sich über den kurzen gepflegten Bart – »werde ich in meiner Nase Luftfilter tragen und mich mit Antiseptikum einsprühen. Und, um in meinen Vorsichtsmaßnahmen noch weiterzugehen, trage ich auch einen kleinen Bakterienabwehrstrahler.« »Gladiator, eh?« schnaubte Boek. »Schildkröte wäre vermutlich ein passenderes Wort. Wie lange werden Sie zum Frischmachen brauchen?« »Wenn Sie mir mein Zimmer zeigen«, erwiderte Magnus Ridolph, »bin ich in einer halben Stunde fertig.« »Das ist alles, was von den Ordinationalisten übrig ist«, erklärte Boek in düsterer Genugtuung. Magnus Ridolph betrachtete das würfelförmige Bauwerk. Winzige Dünen grauen Staubes schmiegten sich an die Mauern, Schwärze herrschte hinter der gähnenden Tür. »Das ist das massivste Gebäude in ganz Sclerotto«, sagte Boek. »Ein Wunder, daß McInch es noch nicht bezogen hat«, bemerkte Ridolph. »Es dient als das städtische Mülldepot. Der Abfallbeseitiger hat seine Büros dahinter. Ich werde Ihnen das Ganze zeigen, wenn es Sie interessiert. Es ist übrigens eine der Touristenattraktionen. Ah, ehe ich es vergesse – sind Sie inkognito hier?« »Nein«, erwiderte Magnus Ridolph. »Ich sehe kei-
nen Grund dafür.« »Nun, wie Sie meinen.« Boek kletterte aus dem Wagen. Mit leicht erhobenen Brauen sah er zu, wie Magnus Ridolph mit ernster Miene einen glänzenden Sonnenhelm aufsetzte, seine Nasenfilter in die Nüstern stopfte und festdrückte und die Augen hinter einer dunklen Brille verbarg. Sie stapften durch den feinen grauen Staub, der, durch ihre Schritte aufgewirbelt, rot, blau und in allen Nuancen dieser Grundfarben im Schein der beiden Sonnen in der Luft tanzte. Magnus Ridolph warf den Kopf zurück. Boek grinste. »Riecht ziemlich penetrant, hm? Man könnte es ohne Übertreibung Gestank nennen.« »Das kann man allerdings«, bestätigte Magnus Ridolph. »Was, im Namen Plutos, ist das?« »Der Abfallbeseitiger – der Golespod. Er sammelt den Müll nicht ein, wie es in anderen Städten üblich ist, sondern die Bürger bringen ihn hierher und werfen ihn auf ihn. Er absorbiert ihn.« Sie gingen um die alte Ordinationalistenkirche herum. Magnus Ridolph sah jetzt, daß die Rückseite aufgebrochen worden war, um den Bewohner mit Licht und Luft zu versorgen, aber so, daß er vor den beiden Sonnen geschützt war. Der Golespod war eine breite gummiartige Kreatur, ein bißchen wie ein gewaltiger Rochen, doch dicker im Querschnitt. An seiner Unterseite hatte er mehrere kurze bleiche Beine, vorne ein ausdrucksloses milchblaues Auge, und darunter baumelte eine Reihe elastischer Fühler. Er kauerte halb unter einer teilweise verrotteten Masse: Nahrungsreste, Fischinnereien und organischer Abfall jeder Art. »Er wird dafür auch noch bezahlt«, sagte Boek,
»dabei hat er keinerlei Ausgaben, denn Unterkunft und Verpflegung gehören ja zu seinem Job.« Ein rhythmisches Schlurfen drang an ihr Ohr. Eine schlangenähnliche Kreatur, doch mit dreißig dünnen vielgelenkigen Beinen, bog gerade um die Ecke der alten Steinkirche. »Das ist einer der Postboten«, sagte Boek. »Sie sind alle Vielfüßler. Sie leisten ohne Ausnahme gute Arbeit.« Das Geschöpf war lang und drahtig. Sein Leib glänzte wie brüniertes Kupfer. Es hatte ein flaches Raupengesicht, vier schwarze schillernde Augen und einen kurzen Hornschnabel. Unter seinem Körper hing eine Art Tablett, auf dem Briefe, Päckchen und Pakete lagen. Mit einem Bein griff es nach einem Paket und pfiff schrill. Der Golespod grunzte, warf seine Vorderseite ein wenig zurück und hob die baumelnden Tentakeln von dem gähnenden Rachen hoch. Der Vielfüßler warf ihm das kleine Paket ins Maul, dann bedachte er Boek und Magnus Ridolph mit einem undeutbaren Blick und drehte sich in einem geschmeidigen Bogen um, ehe er wieder um die Ecke verschwand. Der Golespod grunzte, stieß einen quakenden Schrei aus und grub sich tiefer in die verrottende Masse. Auch er starrte Boek und Ridolph an. Die beiden erwiderten seine Musterung mit derselben leicht abfälligen Neugier. »Versteht er menschliche Sprache?« erkundigte sich Magnus Ridolph. Boek nickte. »Aber gehen Sie lieber nicht zu nahe an ihn heran. Er ist sehr reizbar.« Ridolph machte vorsichtig zwei Schritte, dann blieb er stehen und blickte in das milchblaue Auge.
»Ich versuche einen Verbrecher namens McInch zu identifizieren. Können Sie mir helfen?« Der schwarze Leib bewegte sich plötzlich heftig, und ein wütendes Quaken erklang von dem bleichen Unterkörper. Das Auge weitete sich und schwoll an. »Er sagt: ›Geh weg! Geh weg!‹« »Bedeutet das, daß Sie mir nicht helfen können?« erkundigte sich Magnus Ridolph. Das Geschöpf verstärkte seine aufgeregte Demonstration. Mit einemmal taumelte es zurück, warf den Schädel hoch und spuckte einen Schwall gräßlich stinkender Flüssigkeit aus. Leichtfüßig sprang Magnus Ridolph zurück, trotzdem trafen ein paar Tropfen seine Hose. Es stank so entsetzlich, daß ihm fast übel wurde. Mit unverhohlener Schadenfreude sah Boek zu, wie Ridolph die Flecken mit dem Taschentuch abzuwischen versuchte. »Der Gestank vergeht nach einer Weile«, versicherte er Ridolph. »Umph«, würgte Ridolph. Sie kehrten durch den Staub zum Wagen zurück. »Ich bringe Sie jetzt zum Exportlagerhaus«, schlug Boek vor. »Es liegt in der Stadtmitte. Wir können den Wagen dort stehen lassen. Zu Fuß sieht man mehr.« Die Holzhäuser und kleine Läden aus Schiefer und gespaltenen Seetangstengeln druckten sich hier immer enger zusammen, und der Verkehr wurde stärker. Menschliche Kinder, schmutzig und zerlumpt, spielten mit jungen, fast gesichtslosen CapellaAnthropoiden, unreifen Armadillons von Carnegie 12, und Froschkindern. Hunderte kleiner Portmar-Tausendfüßler huschten wie Eidechsen herum. Die meisten von ihnen würden
von ihren Eltern getötet werden – aus Gründen, die die Menschen nicht so recht verstanden. Gelbvögel, straußenähnliche Zweifüßer mit gelben Schuppen, stolzierten ruhig durch die Menge. Sie hatten die Köpfe hocherhoben und die Augen nach oben gerollt. Wie eine Monsterparade im Delirium tremens eines Trunksüchtigen bewegte die Bevölkerung von Sclerotto City sich durch die Hauptstraße. Einfache Waren häuften sich auf den Verkaufsständen zu beiden Straßenseiten: Körbe, Pfannen und tausenderlei Krimskrams, von dem nur Verkäufer und Käufer wußten, wozu er gut war. Auf anderen Ständen waren, was man im großen ganzen als Nahrungsmittel bezeichnen konnte, ausgestellt: Obst und Konserven für Menschen, harte braune Kapseln für die Gelbvögel, etwas sich Krümmendes, Wurmähnliches für die Aldebaraner. Da und dort fielen Ridolph kleine Gruppen von Touristen auf – dem Aussehen nach von der Erde –, die sich umblickten, deuteten, lachten und sich laut unterhielten. Boek fuhr den Wagen zu einem langen Wellblechschuppen. Wieder kletterten sie hinaus in den Staub. Im vorderen Teil des Lagerhauses befand sich ein Verkaufsraum. Dutzende von Touristen schauten sich hier um und kauften Mitbringsel: Steinfigürchen, farbenfrohe hübsch gemusterte Stoffe, perlmuttähnliche Schmucksteine, die die Kmaush in ihren Mägen sekretierten, aus Seetang gepreßte Parfüms, winzige Aquarien in versiegelten Kugeln mit Mikroskoplinsen, durch die man unwahrscheinlich bezaubernde Meereslandschaften betrachten konnte, in denen Aufgußtierchen, winzige Schwämme, Korallen, herumschießende Kraken und bunte Fische lebten. Hin-
ter den Verkaufstischen reihten sich Stapel an Stapel der Hauptexportwaren des Planeten: gespaltener getrockneter Seetang für Furniere, Seetangharz, Säcke mit seltenen metallischen Salzen. »Dort ist der Lagerhausleiter.« Boek deutete mit einer Kopfbewegung auf ein ameisenähnliches Geschöpf mit sechs Beinen, das einem Menschen etwa bis über die Hüften reichte. Es hatte sanfte Hundeaugen, einen grauen, wie Satin glänzenden Pelz und einen verhältnismäßig gedrungenen dicken Thorax. »Möchten Sie ihn kennenlernen? Er versteht Sie und kann auch sprechen. Sein Gehirn arbeitet wie eine Rechenmaschine.« Boek nahm Ridolphs Schweigen als Einverständnis und führte ihn den schmalen Gang durch die Verkaufstische zu dem Insektengeschöpf von Tau Gemini. »Ich kann Sie leider nicht vorstellen«, sagte Boek jovial. Magnus Ridolph fiel auf, daß er sich den Stadtgeschöpfen gegenüber ungemein leutselig gab. Und nun wandte sich Boek an ihn. »Der Lagerhausleiter hat keinen Namen.« »Auf meinem Planeten«, erklärte das Insekt mit summender nichtakzentuierter Stimme, »werden wir durch Akkorde – wie Sie es nennen – identifiziert. Das ist mein Akkord...« Eine Reihe schneller Töne erklang aus den zwei Klappen tief am Hinterkopf. »Das ist Magnus Ridolph, Bevollmächtigter des Missionshauptquartiers.« »Ich bin hier, um die Identität des Verbrechers zu eruieren, der als McInch bekannt ist. Können Sie mir dabei helfen?« »Bedaure«, kam die gleichmäßige Vibration des Ameisenwesens. »Ich habe den Namen gehört und
weiß von den Diebstählen dieses McInchs. Aber ich habe leider keine Ahnung, wer er ist.« Magnus Ridolph verbeugte sich. »Ich bringe Sie jetzt zum Feuerwehrhauptmann«, sagte Boek. Der Feuerwehrhauptmann war ein hochgewachsener blauäugiger Neger mit stumpfem bronzefarbenen Haar. Er trug nur eine scharlachrote Kniehose. Boek und Magnus Ridolph fanden ihn an einem Beobachtungsturm in der Nähe des Zentralplatzes. Er hatte einen Fuß bereits auf der untersten Leitersprosse. Freundlich nickte er Boek zu. »Joe, das ist ein Freund von zu Hause. Mr. Magnus Ridolph, Mr. Joe Bertrand, unser Feuerwehrhauptmann«, machte er die beiden miteinander bekannt. Der Hauptmann warf einen überraschten Blick auf Magnus Ridolph, dann auf Boek und wieder zurück. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er, während sie die Hände schüttelten. »Mir ist, als hätte ich Ihren Namen schon einmal gehört.« »Es ist kein sehr häufiger Name«, antwortete Magnus Ridolph, »aber ich nehme an, es gibt außer mir noch andere Ridolphs im Commonwealth.« Jetzt schaute Boek von einem zum anderen, dann verlagerte er das Gewicht von einem kurzen Bein auf das andere, seufzte, und blickte die Straße hoch. »Aber wohl keinen zweiten Magnus Ridolph«, meinte der Feuerwehrhauptmann. »Hm, vielleicht nicht.« »Ich nehme an, Sie sind hinter McInch her?« »Stimmt. Können Sie mir helfen?« »Ich weiß nichts über ihn, und ich möchte auch gar nichts über ihn wissen. Das ist gesünder.«
Magnus Ridolph nickte. »Ich verstehe. Trotzdem, vielen Dank.« Boek deutete mit dem plumpen Daumen auf ein hohes Gebäude aus gewebten Seetangplatten zwischen gebleichten knochenweißen Stangen. »Das ist das Rathaus. Der Bürgermeister wohnt im ersten Stock, wo er – haha! – die Stadtkasse bewachen kann.« »Was gehört sonst noch zu seinen Pflichten?« erkundigte sich Magnus Ridolph und klopfte sich den Staub vom Anzug. »Nun, zur Ankunft jedes Schiffes kommt er zum Raumhafen und heißt die Touristen willkommen. In der Stadt läuft er nur mit seinem roten Fes herum. Er ist für die städtischen Finanzen verantwortlich und zahlt die Gehälter des Verwaltungspersonals aus. Um ehrlich zu sein, ich halte ihn nicht für klug genug, um McInch zu sein.« »Ich würde mir gern den Safe ansehen, aus dem McInch sich nach Belieben bedient«, sagte Magnus Ridolph. Sie traten durch eine dünne knarrende Tür in ein langes niedriges Zimmer. Die Seetangpaneele der Wände waren alt, abgewetzt und von Sprüngen durchzogen, die Strahlen des zweifarbigen Lichtes einließen. Die Strahlen malten blaue und rote Muster auf den Boden. Der Safe stand wuchtig an einer Wand. Es war ein uraltes Stahlgehäuse mit einer Knopfkombination. Ein langer gelbbeschuppter Hals schob sich durch ein Loch in der Decke, und ein flacher Kopf, auf dem ein lächerlicher kleiner roter Fes saß, wandte ihnen ein purpurnes Auge zu. Ein schmaler gelber Körper
folgte dem Kopf, und dann landete er auf dünnen flexiblen Beinen. »Hallo, Bürgermeister!« rief Boek freundlich. »Der Herr hier kommt vom Missionshauptquartier. Mr. Ridolph, das ist unser Bürgermeister, Juju Jiejie.« »Freut-mich-Sie-kennenzulernen«, versicherte ihm der Bürgermeister schrill. »Möchten Sie ein Autogramm von mir?« »Oh, sehr gern. Es ist mir eine Ehre«, antwortete Magnus Ridolph. Der Bürgermeister schob den Kopf zwischen die Beine und zog eine Karte aus einer Körpertasche. Die Glyphen darauf waren für Ridolph unleserlich. »Das ist mein Name in der Schrift meines Heimatplaneten. Grob übersetzt würde er heißen: ›bezaubernde Schwingung‹.« »Vielen Dank.« Magnus Ridolph verneigte sich. »Ich werde es als Erinnerung an Sclerotto in Ehren halten. Ich bin übrigens hier, um jemanden zu verhaften, der als McInch bekannt ist...« – Juju Jiejie stieß ein merkwürdiges Kreischen aus und stieß seinen Kopf vor und zurück – »... und dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.« Juju Jiejie faltete seinen Hals zu einer Reihe von S. »Nein, nein, nein«, piepste er. »Ich weiß gar nichts. Ich bin der Bürgermeister.« Boek warf Magnus Ridolph einen Blick zu. Ridolph nickte. »Wir müssen leider weiter«, bedauerte Boek. »Ich wollte nur, daß mein Freund Sie kennenlernt.« »Sehr erfreut«, krächzte der Bürgermeister. Er ging in die Hocke und hüpfte durch das Loch in der Decke.
Nach hundert Metern durch den rot-blauen Schimmer erreichten sie das Gefängnis, eine lange Baracke aus Schiefer. Die Zellen waren von der Straße aus zu sehen, und hinter den Gittern der Kopf eines bedrückt wirkenden Gelbvogels, das ausdruckslose Gesicht eines Anthropoiden von Capella, und ein Mensch, der Boek und Ridolph anstarrte, als sie vorbeigingen, und danach in den Staub spuckte. »Was haben sie denn angestellt?« erkundigte sich Magnus Ridolph. »Der Mann stahl eine Dachverkleidung; der Gelbvogel überfiel einen jungen Portmar-Tausendfüßler. Wessen der Capellaner sich schuldig gemacht hat, weiß ich nicht. Der Polizeichef, ein Sirianer, hat sein Büro auf der Rückseite.« Das Büro war ein Anbau, der Polizeichef eine gewaltige torpedoförmige Amphibie. Seine Flossen endeten in langen Fingern, seine Haut war glänzend schwarz, und er roch unangenehm süßlich. Tiefliegende Knopfaugen umgaben als Ring angeordnet den Kopf. Als Boek und Magnus Ridolph – beide schwitzend, schmutzig und müde – um die Ecke des Anbaus kamen, erhob er sich schwabbelnd und schaukelnd auf federnden Fußflossen. Er zog eine Armflosse über seinen Faßbauch. Wo die Finger ihn berührt hatten, hoben sich nun Worte in grellem Weiß auf der schwarzen Haut ab. Guten Tag, Mr. Boek. Guten Tag, Sir. »Hallo, Fritz«, sagte Boek. »Ich bin gerade dabei meinen Freund in der Stadt herumzuführen.« Das Amphibienwesen lehnte sich in seinen trogförmigen Sessel zurück. Wieder glitten die Flossen
über den Faßbauch, nachdem die erste Schrift verschwunden war. Möchten Sie gern, daß ich Sie herumführe? »Ich suche McInch«, antwortete Magnus Ridolph. »Können Sie mir helfen?« Die Flossen zögerten, dann fuhren sie wieder über den Faßbauch. Ich weiß nichts. Aber ich werde Ihnen in meiner dienstlichen Eigenschaft behilflich sein, soweit es mir möglich ist. Magnus Ridolph nickte und drehte sich langsam um. »Ich werde es Sie wissen lassen, wenn ich etwas erfahre.« Boek versuchte den Staub auszuhusten. »Jetzt haben wir noch das Postamt.« Er drehte sich um und schaute zum Exportlagerhaus. »Es ist nicht weiter, als zurück zum Wagen.« Magnus Ridolph blinzelte zu den beiden Sonnen am seegrünen Himmel hoch. »Kühlt es abends ein bißchen ab?« »Ein wenig«, brummte Boek und schritt entschlossen weiter. »Ich möchte auf jeden Fall vor Sonnenuntergang in der Mission zurück sein. Ich fühle mich außerhalb ihrer Mauern nie wohl, wenn es dunkel ist. Und schon gar nicht, seit McInch sein Unwesen treibt.« Er preßte die vollen Lippen zusammen. Ihr Weg führte sie zwischen den baufälligen Hütten hindurch zum Hafen. Überall herrschte reges Treiben. Wo man hinsah, stieß das Auge auf Geschöpfe der unterschiedlichsten Arten. Hinter Fenstern und Türen kauerten unbeschreibbare massige Formen und andere, ungemein flinke Gestalten. Augen dutzenderlei Formen beobachteten sie. Laute, wie
man sie auf der Erde nie hörte, schlugen ihnen entgegen, mit dem Staub trieben Gerüche über die Straßen, die für Menschennasen nicht bestimmt waren. Die Szenerie färbte sich allmählich in ein tiefes Rot, als die blaue Sonne hinter dem Horizont versank. Noch ehe sie das Postamt erreichten – eine Schieferbaracke unmittelbar neben dem Raumhafen – verschwand sie ganz. Wenn Magnus Ridolph Interesse oder gar Begeisterung für seine Mission von dem Postmeister – einem Portmar-Tausendfüßler – erwartet hatte, mußte er jetzt enttäuscht sein. Der Postmeister war eifrig beim Sortieren der Post. Er stand auf etwa der Hälfte seiner Beine und verteilte mit dem Rest Briefe und Päckchen in unzählige Fächer. Während Boek ihn mit Magnus Ridolph bekannt machte, hielt er in seiner Arbeit inne und betrachtete den Detektiv mit derselben Gleichgültigkeit wie alle anderen hier, und wie sie behauptete er, nichts von McInch zu wissen. Magnus Ridolph wandte sich an seinen Begleiter. »Entschuldigen Sie bitte, Mr. Boek, ich möchte dem Postmeister ein paar vertrauliche Fragen stellen.« »Wie Sie meinen.« Boek rümpfte leicht beleidigt die Nase und verließ das Postamt. Nach wenigen Minuten schloß Ridolph sich ihm wieder an. »Ich habe mich erkundigt, welche Art von Post die Verwaltungsbeamten erhalten, und auch, ob ihm irgend etwas aufgefallen ist, das mir weiterhelfen könnte.« »Und konnte er Ihnen helfen?« »Sehr«, versicherte ihm Ridolph.
Die beiden Männer schritten den Hafen entlang, wo größere Seetangkutter sich dunkel abhoben, zurück zum Exportlagerhaus. Die rote Sonne war dem Horizont schon nah, als sie endlich im Wagen saßen. Das blutfarbene Licht verlieh der Stadt eine Aura legendären Alters und milderte den Verfall und Schmutz. Schweigend fuhren sie die holprige Straße zur Mission auf der Felsenkuppe hoch. Beim Aussteigen wandte Magnus Ridolph sich an Boek. »Hätten Sie vielleicht ein Mikroskop, das Sie mir leihen könnten?« »Drei«, antwortete Boek. »Ein optisches, ein elektronisches und ein Gammabetamikroskop.« »Wenn Sie mir eines davon heute abend zur Verfügung stellen könnten?« bat Magnus Ridolph. »Selbstverständlich.« »Morgen werden wir den Fall auf die eine oder andere Weise lösen.« Boek blickte ihn neugierig an. »Sie glauben, Sie wissen, wer McInch ist?« »Aufgrund meines besonderen Wissens war es mir sogleich offensichtlich.« »An Ihrer Stelle würde ich heute nacht meine Tür gut verriegeln«, riet ihm Boek. »Wer immer es auch ist, er ist ein Mörder!« Magnus Ridolph nickte. »Da muß ich Ihnen recht geben.« Zu dieser Jahreszeit war die Sclerottonacht lang – vierzehn Stunden. Schon vor dem Morgengrauen stand Magnus Ridolph auf, badete und schlüpfte in eine weiß-blaue Tunika.
Am Fenster des Empfangs wartete er auf den Sonnenaufgang. Der Himmel färbte sich, ein elektrisches Blau, als er Schritte hinter sich vernahm. Er drehte sich um und bemerkte, daß Klemmer Boek ihn beobachtete. Er hielt den runden Kopf schief, und die blauen Augen ruhten nachdenklich auf ihm. »Haben Sie gut geschlafen?« erkundigte sich Boek als Gruß. »Sehr«, bedankte sich Magnus Ridolph. »Ich hoffe, Sie schliefen nicht weniger gut.« »Haben Sie schon Appetit auf Frühstück?« fragte Boek. »Und ob!« Sie gingen ins Eßzimmer, und Boek bestellte für sie Frühstück bei seinem Diener. Schweigend aßen sie. Das blaue Vormorgenlicht wurde immer stärker. Erst nach dem Kaffee lehnte Magnus Ridolph sich zufrieden zurück und zündete sich ein Zigarillo an. »Glauben Sie immer noch, daß Sie den Fall heute lösen können?« fragte Boek. »Ich halte es für sehr wahrscheinlich«, antwortete Magnus Ridolph. »Ahem – wissen Sie, wer McInch ist?« »Ohne Zweifel!« »Und können Sie es auch beweisen?« Magnus Ridolph blies den Rauch seines Zigarillos durch die Finger in den ersten wässerigen Schein der saphirblauen Sonne. »Nun – auf gewisse Weise – ja.« »Sehr überzeugend klingt das nicht.« »Ich habe ein bestimmtes Strategem im Sinn, das viel Zeit sparen wird.«
»Ja?« Boeks Stimme klang ungemein sarkastisch. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Ich möchte gern, daß Bürgermeister – ah, Juju? – eine Sitzung der Stadtverwaltung einberuft, und zwar heute nachmittag. Können Sie das veranlassen? Das Rathaus wäre der geeignete Ort dafür. Tagesordnung ist McInch.« Während sie durch den Staub zum Rathaus pflügten, brummte Boek: »Mir erscheint das ein wenig melodramatisch.« »Möglich, möglich«, murmelte Magnus Ridolph. »Und vermutlich nicht ungefährlich.« Boek hielt mitten im Schritt inne. »Sind Sie sicher...« »Nichts ist sicher«, antwortete Magnus Ridolph. »Nicht einmal, ob dieser Planet sich weiterhin um seine Achse drehen wird. Und das Unsicherste ist die Dauer des Lebens.« Boek blickte geradeaus und schwieg. Sie betraten das Rathaus. In der Vorhalle blieben sie kurz stehen, bis ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten. Rechts und links vor ihnen nahmen die wuchtigen Schatten allmählich Gestalt an und Farbe, wo die Strahlen der roten und der blauen Sonne durch die Ritzen in der Wand drangen. »Der Abfallbeseitiger ist hier«, murmelte Magnus Ridolph hinter vorgehaltener Hand Boek zu. »Ich rieche ihn.« Sie waren nun in den mittleren Raum getreten. Der Bürgermeister war in einem Kreis hin und her stolziert, der durch den golespodischen Abfallbeseitiger, den vielfüßigen Postmeister, den Feuerwehrhauptmann Joe Bertrand, den Tau Gemini-Lagerhausleiter
und den amphibischen Polizeichef gebildet wurde. »Meine Herren«, begann Magnus Ridolph. »Ich werde Ihnen nicht allzuviel von Ihrer wertvollen Zeit rauben. Wie Sie alle wissen, führe ich die Untersuchung des Falles McInch.« Jeder reagierte auf seine Weise auf diese Worte. Die vielen Beine des Postmeisters zuckten leicht; die gummigleiche Haut des Bürgermeisters erzitterte; der Golespod stieß ein leichtes Zischen aus, und der schwarze Feuerwehrhauptmann räusperte sich. Der Lagerhausleiter – das ameisenähnliche Wesen von Tau Gemini – fragte mit tonloser Stimme: »Weshalb, genau, sind wir hier? Würden Sie uns liebenswürdigerweise den Zweck erklären.« Gelassen fuhr Magnus Ridolph über seinen Bart, und sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Es ist mir gelungen, die Identität McInchs herauszufinden. Ich habe in etwa ausgerechnet, wieviel er Sclerotto täglich kostet. Ich kann beweisen, daß diese Kreatur ein Mörder ist, oder zumindest, daß er versuchte, mich zu ermorden. Ja, mich – Magnus Ridolph!« Streng sprach er diese Worte. Wieder in etwa die gleichen kaum merklichen Bewegungen und Laute wie zuvor, während die Anwesenden sich diese Erklärung durch den Kopf gehen ließen. »Als Bürgermeister dieser Stadt würde ich Ihren Rat schätzen«, fuhr Magnus Ridolph fort. »Würden Sie vielleicht einen Vorschlag machen, wie ich weiterverfahren soll?« Der Gelbvogel verzerrte den Hals in einer Reihe schnellender Stöße und Auf- und Abbewegungen, dazu schrillte er etwas Unverständliches. Endlich
hielt der Kopf still, das purpurne Auge starrte schlau auf Magnus Ridolph. »McInch könnte uns alle töten!« Boek räusperte sich und murmelte unbehaglich. »Halten Sie es für eine gute Idee...« Joe Bertrand unterbrach ihn grob. »Ich hab' genug von dieser Leisetreterei! Schließlich haben wir hier ein Gefängnis und eine Gerichtsbarkeit. Verhandeln wir über McInch. Wenn er ein Dieb ist, stecken wir ihn ins Gefängnis. Kann bewiesen werden, daß er ein Mörder ist, und ist ein Gehirneingriff bei ihm möglich, bin ich dafür, daß er vorgenommen wird – ist er nicht möglich, muß er hingerichtet werden.« Magnus Ridolph nickte. »Ich kann beweisen, daß McInch ein Dieb ist. Eine Haftstrafe von mehreren Jahren würde sich vielleicht als läuternd erweisen. Sie haben doch ein sauberes hygienisches Gefängnis mit Bakterienfiltern, sanitäre Einrichtungen, die Gefangenen müssen baden, und die Nahrung ist ebenfalls hygienisch...« »Wieso betonen Sie die Sauberkeit des Gefängnisses so?« summte der Lagerhausleiter. »Weil es McInch aufnehmen soll«, antwortete Magnus Ridolph ernst. »Er wird geimpft und auf andere Weise immunisiert werden und in einer völlig bakterienfreien Umwelt leben. Und das wird für McInch eine größere Strafe sein als der Tod. Nun...« Er blickte auf all die angespannten Gestalten ringsum. »Wer ist McInch?« Der Abfallbeseitiger richtete sich erstaunlich hoch auf, lehnte sich weit zurück und offenbarte so seinen bleichen Unterkörper und die Doppelreihe blasser kurzer Beine. Er krümmte sich, machte einen Buckel. »Deckung!« brüllte Boek, als der Golespod einen
Schwall stinkender Flüssigkeit in alle Richtungen des Raumes spuckte. Aus den Tiefen seines Leibes drang eine grollende Stimme: »Jetzt sterbt alle! Alle...« »Ruhe!« befahl Magnus Ridolph scharf. »Ruhe, alle! Bürgermeister, bitte, Ruhe!« Des Gelbvogels wahnsinniges Schrillen verstummte. »Es besteht keine Gefahr!« versicherte Magnus Ridolph und fuhr sich ungerührt über die Stirn, ohne den Blick von dem Golespoden zu lassen, der sich immer noch hochaufgerichtet zurücklehnte. »Ein Ultraschallvibrator unter dem Boden, und ein Hecthmannstrahler in der Decke sind, seit wir den Raum betreten haben, in Aktion. Die Bakterien in McInchs Serum wurden abgetötet, sobald sie seinen Rachen verließen, wenn nicht schon zuvor.« Der Golespod zischte und stürzte mit den kleinen, sich wie Kolben bewegenden Beinen zur Tür. Der Polizeichef sprang wie ein Delphin aus einer Welle vorwärts und landete auf dem flachen leicht flatternden Körper des Golespoden. Der Golespod brüllte, warf sich auf den Rücken, packte die Amphibie mit den Beinen, wickelte sich um sie und drückte. Joe Bertrand trat heftig nach dem milchblauen Auge. Der Portmar-Tausendfüßler stürzte sich ins Gemenge. Mit jedem seiner schlanken Beine umfaßte er einen Fuß des Golespoden und strengte sich an, um sie von dem schon fast zerquetschten Polizeichef wegzuzerren. Der Bürgermeister hüpfte durch das Loch in der Dekke und kam unmittelbar mit einem Fleischspieß zurück, mit dem er immer und immer wieder zustach... Boek taumelte hinaus zum Wagen. Magnus Ridolph warf seine stinkende weiß-blaue Tunika in den Stra-
ßengraben und schloß sich Boek an. Boek klammerte sich ans Lenkrad. Sein Gesicht war kalkweiß, und seine Zähne klapperten. »Sie... sie haben ihn in Stücke gerissen«, wimmerte er. »Kein schöner Anblick«, murmelte Magnus Ridolph und strich sich über den befleckten Bart. »Ein anrüchiges Erlebnis in jeder Beziehung.« Boek wandte sich ihm zu und sagte anklagend: »Ich glaube, Sie hatten es so geplant!« Sanft antwortete Magnus Ridolph: »Mein Freund, ich schlage vor, wir kehren zur Mission zurück und nehmen ein Bad. Frische Kleidung würde sicher helfen, die Dinge mit der richtigen Einstellung zu sehen.« Ein ernster Klemmer Boek saß Magnus Ridolph beim Abendessen gegenüber, ein Klemmer Boek, der sein Essen kaum kostete. Magnus Ridolph nahm sich nur von ein paar ausgewählten Speisen, aber davon ausreichend. Er trug einen weißen Leinenanzug mit Weste, und sein Bart war wieder makellos weiß und frisch gestutzt. »Aber wie«, platzte Boek heraus, »fanden Sie heraus, daß der Abfallbeseitiger McInch war?« »Durch eine einfache Gedankenfolge«, antwortete Magnus Ridolph und gestikulierte mit der Gabel. »Eine völlig geradlinige Reihe logischer Überlegungen, ein Aufbau aus Theorie und eine Zusammenfügung von Hinweisen...« »Ja, ja, ja, ja«, brummte Boek. »Logik und Intelligenz...« Magnus Ridolphs Mundwinkel zuckten leicht. »Ich
gebe Ihnen Einblick in meinen Gedankengang. McInch ist korrupt und ein Dieb, der große Summen an sich bringt. Was macht er damit? Nichts Auffälliges, jedenfalls, sonst wäre seine Identität schnell bekannt. Ich ging von der Annahme aus, daß McInch einen Teil seines unrechtmäßig erworbenen Geldes oder auch das ganze Geld ausgibt – eine Annahme natürlich, von der ich wußte, daß sie durchaus nicht unbedingt stimmen mußte –, also nahm ich jeden der Verwaltungsbeamten unter die Lupe, als möglichen Verdächtigen, vom Standpunkt seiner eigenen Rasse aus. Nach diesem Kriterium war Joe Bertrand, der Feuerwehrhauptmann, unschuldig. Er lebt mehr schlecht als recht in einer für seinesgleichen nicht sehr angenehmen Umgebung. Dann dachte ich über den Bürgermeister nach. Was wäre die richtige Umwelt, in der er glücklich sein könnte, für einen Gelbvogel? Ich fand heraus, daß dazu eine Wiese mit einer bestimmten Blumenart gehört, deren Duft wie eine erhebende Droge auf die Gelbvögel wirkt. Dergleichen gibt es jedoch auf Sclerotto nicht. Verglichen mit Gelbvögeln anderswo, führt der Bürgermeister hier kein sehr glückbringendes Leben. Der nächste war das Tau Gemini Ameisenwesen. Die Bedürfnisse dieser Rasse sind sehr bescheiden. Die Worte ›Luxus‹ und ›Muße‹ gibt es in ihrer Sprache nicht. Das wäre allein schon ein Grund gewesen, es nicht zu verdächtigen. Ich erfuhr vom Postmeister, daß es jeden Monat einige Bücher durch einen Versand kauft – das waren seine einzigen auffälligen Ausgaben, aber es konnte sie sich von seinem Gehalt durchaus leisten.
Ich strich, jedenfalls einstweilen, auch es von meiner Liste der Verdächtigen. Dann der Polizeichef – ein eindeutiger Fall. Er ist von Natur aus eine Amphibie, die Molluskennahrung gewöhnt ist. Sein Planet ist sumpfig und dunstig. Sein Leben hier ist ein krasser Gegensatz zu all dem. Es ist ein wahres Wunder, daß er hier noch nicht zugrundegegangen ist. Dann machte ich mir Gedanken über den Postmeister – den Tausendfüßler vom Planeten Portmar. Seine Vorstellung von Luxus ist ein tiefer Tank voll warmen Öles und einer Massage durch kleine Tiere, die zu diesem Zweck auf seinem Planeten gefangen und dressiert werden. Diese Behandlung bleicht die Haut zu einem sandigen Beigeton. Die Haut des Postmeisters ist jedoch hornig und ziegelrot – ein Zeichen für einen Mangel an Pflege und für Armut. Nun sah ich den Abfallbeseitiger vor mir. Ein Mensch empfindet für seine Lebensweise Abscheu und Verachtung. Wir können uns nur schlecht vorstellen, daß eine Kreatur, die sich im Schmutz suhlt, über Scharfsinn verfügt. Ich wußte jedoch, daß die Golespoden ein inneres Sinnesvermögen feinster Präzision ihr eigen nennen. Sie existieren durch die Verdauung organischer Materie, die sie mit Hilfe von Bakterien in einer Reihe von Mägen fermentieren. Den so entstehenden Alkohol benutzen sie als Energie. Die Zusammensetzung oder Qualität des organischen Rohmaterials ist für die Golespoden unerheblich. Es ist ihnen gleichgültig, ob es sich dabei um Abfall, Proteine, Kot oder Aas handelt, genau wie wir geringe Unterschiede in unserer Atemluft ignorieren.
Doch genießen sie nicht – wie wir unser Essen – diese Rohmaterialien, sondern was sie in ihren Mägen daraus machen – deshalb ist die Vielfalt und Mischung der Bakterien in ihren Mägen von allergrößter Wichtigkeit. Über Tausende von Jahren hinweg wurden die Golespoden zu bedeutenden Bakteriologen. Es gelang ihnen Millionen verschiedener Bakterientypen zu isolieren und neue Kreuzungen zu züchten – und sie alle erwecken in ihnen bestimmte Sinnesfreuden. Die kostbarsten und begehrenswertesten sind am schwierigsten zu isolieren und deshalb am teuersten. Als ich mich über all das informiert hatte, war mir klar, daß der Abfallbeseitiger McInch sein mußte. Aus seiner Sicht befand er sich in einer höchst beneidenswerten Lage – umgeben von unbeschränkten Mengen organischen Materials, aus dem er die seltensten und verlockendsten Bakterienmischungen gewinnen konnte. Ich erfuhr vom Postmeister, daß der Golespod tatsächlich mit jedem Postschiff kleine Pakete erhielt – das waren natürlich die Bakterien, die er sich von seinem Heimatplaneten schicken ließ. Und für so manche mußte er einen phantastischen Preis bezahlen.« Magnus Ridolph lehnte sich zurück. Er nippte von seinem Kaffee und beobachtete seinen Gastgeber über den Tassenrand hinweg. Endlich rührte sich Boek. »Wie... wie hat er denn die beiden Agenten getötet?« fragte er. »Und sagten Sie nicht, er hätte versucht, auch Sie zu töten?« »Erinnern Sie sich, wie er mich gestern anspuckte? Als ich zur Mission zurückkehrte, untersuchte ich die Flecken auf meiner Hose unter Ihrem Mikroskop. Es
war eine dicke Schicht Bakterien. Ich konnte sie nicht identifizieren, aber glücklicherweise hatten meine Vorkehrungen sie getötet.« Er nahm einen größeren Schluck Kaffee und zog an seiner Zigarre. »Was mein Honorar anbetrifft – nun, ich glaube, daß Sie entsprechende Anweisungen erhielten.« Boek erhob sich schwerfällig. Er ging zu seinem Schreibtisch und kehrte mit einem Scheck zurück. »Vielen Dank.« Magnus Ridolph blickte auf die Summe. Dann tupfte er nachdenklich mit den Fingerspitzen auf den Tisch. »Jetzt hat Sclerotto keinen Abfallbeseitiger mehr.« Boek zog die Brauen zusammen. »Und auch keine Aussicht, einen zu finden. Die Stadt wird noch schlimmer stinken als zuvor.« Magnus Ridolph hatte lässig seinen Bart gestrichen und nachdenklich vor sich hingeblickt. »Nein – ich glaube, der Gewinn wäre die Mühe nicht wert.« »Ich verstehe nicht.« Boek blinzelte fragend. Magnus Ridolph riß sich aus seinen Gedanken und betrachtete gleichmütig Boek, der nervös an den Fingernägeln kaute. »Ihr Dilemma erweckte einen Gedankengang in mir.« »Welchen?« »Um Geld zu machen«, antwortete Magnus Ridolph, »muß man etwas bieten, für das ein anderer zu zahlen bereit ist. Das ist doch offenkundig, oder nicht? Trotzdem bieten erstaunlich viele Gegenstände oder Dienste an, die niemand will. Deshalb haben auch nur wenige Erfolg.« »Ja«, sagte Boek geduldig. »Aber was hat das mit Abfallbeseitigung zu tun? Wenn Sie den Job möchten,
brauchen Sie es mir nur zu sagen, und ich empfehle Sie dem Bürgermeister.« Ridolph widmete ihm einen Blick milden Vorwurfs. »Ich habe nur daran gedacht, daß es auf 1012 Aurigae nur so von Golespoden wimmelt, von denen jeder einzelne mit Freuden dafür bezahlen würde, wenn er diesen Job bekäme.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber der Gewinn für eine einzige solche Transaktion wäre den Aufwand nicht wert... Eine commonwealthweite Stellenvermittlung, vielleicht? Das könnte sich als äußerst profitables Unternehmen erweisen.«
DIE HEULENDEN SCHLINGER Mein Gehirn, das ansonsten sehr brauchbar ist, hat einen ernsten Fehler – überentwikkelte Neugier. Magnus Ridolph Die Nachmittagsbrise des Außenmeers spielte mit seinem Bart, und der gelbe Naosschein brannte an einer Gesichtsseite, während Magnus Ridolph düster über seine neuerstandene Plantage schaute. Soweit, so gut. Im Grund genommen, zu gut, um wahr zu sein. Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Bis jetzt hatten sich sämtliche Behauptungen Blanthams als richtig erwiesen, wenn seine eigenen Augen nicht trogen. Er hatte dreitausend Morgen Ticholama von Spitzenqualität, das sofort geerntet werden konnte; ein kleines Häuschen hiesiger Art, annehmbar möbliert; das Meer vor seiner Haustür, und die Berge quasi an der Hintertür. Wieso war der Preis so niedrig gewesen? »Könnte es möglich sein, daß Blantham Philanthrop ist? Oder stellt sich der Haken bei dieser Sache erst noch heraus?« murmelte Magnus Ridolph vor sich hin und zupfte verdrießlich an seinem Bart. Naos glitt in das Außenmeer, und limonengrüner Abend ergoß sich wie Sirup aus dem Ödland, das die Nordgrenze der Plantage bildete. Magnus blickte über die Schulter ins Haus. Chook, sein zwergenhafter Diener, kehrte die Küche aus und brummte leise etwas vor sich hin. Magnus Ridolph trat hinaus in das grüne Däm-
merlicht, schlenderte am Schrauberlandeplatz vorbei zu den vordersten der kniehohen Ticholamastauden. Mitten im Schritt hielt er inne und legte lauschend den Kopf schräg. Au-au-au-au-au-au-au-au-au-au-au. Dieses wilde, seltsame Heulen kam von der anderen Seite des Feldes. Magnus Ridolph strengte die Augen an, um durch die grüne Düsternis zu spähen. Er war nicht sicher, was es war, das er da sah... Dunkle längliche Gestalten quollen aus dem Ödland. Und nun senkte sich olivgrüne Dunkelheit über das Land. Magnus Ridolph machte auf dem Absatz kehrt und eilte zu seinem Häuschen zurück. Magnus Ridolph hatte sich in seinem Hotel ausgeruht – dem Piedmont Hotel in Neunapoli auf Naos V –, ohne jegliche Neigung für ein ländliches Leben, und auch ohne einen Gedanken daran. Da klopfte Blantham an die Tür, und Ridolph öffnete sie. Allein Blanthams Äußeres erregte Interesse. Er war etwa Anfang der mittleren Jahre, nicht groß, nicht klein, mit breiten Hüften, rundlicher Mitte und schmalen Schultern. Seine Stirn war bleich und schmal, die Augen standen weit auseinander, fast unter den Schläfen, die Haut dazwischen spannte und ließ die Nasenwurzel kaum erkennen. Die Bakkenknochen waren auffallend breit, und die Wangen zeichneten sich durch die unzähligen feinen roten Äderchen vom Rest der sonst sehr weißen Haut ab. Ein Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Er trug eine weinrote lose Kordhose im »Praesepe Ranger«-Stil, dazu ein türkises Blusenhemd, das mit einer Brillantbrosche zusammengehalten wurde, und
über den Schultern ein blaues Cape. Magnus Ridolph gegenüber, der eine einfache weißblaue Tunika anhatte, wirkte er aufgeputzt. Magnus Ridolph blinzelte bei seinem Anblick wie eine Eule. »Ja, bitte?« »Ich bin Blantham«, erklärte der Besucher. »Gerard Blantham. Wir haben uns noch nicht kennengelernt.« Magnus Ridolph hob ganz leicht die feinen weißen Brauen. »Nein, wohl nicht. Kommen Sie doch herein und setzen Sie sich!« Blantham trat ins Zimmer und warf sein Cape ganz auf den Rücken zurück. »Vielen Dank.« Er setzte sich auf den Stuhlrand und streckte ein Etui aus. »Zigarette?« »Danke.« Magnus Ridolph bediente sich. Er inhalierte, runzelte die Stirn, nahm die Zigarette von den Lippen und untersuchte sie. »Oh, verzeihen Sie!« Blantham brachte ein Feuerzeug zum Vorschein. »Ich dachte nicht daran. Wissen Sie, ich rauche nie selbstzündende Zigaretten. Mich stört der Geschmack des Zünders.« »Wie bedauerlich für Sie«, sagte Magnus Ridolph, nachdem seine Zigarette glühte. »Mein Geschmacksinn ist vielleicht nicht so stark entwickelt. Ich finde die selbstzündenden jedenfalls sehr praktisch. Und nun verraten Sie mir, was ich für Sie tun kann.« Blantham zog seine Hosenbeine ein bißchen hoch. Mit einem schlauen Blick schaute er zur Decke. »Ich hörte, daß Sie an einer guten Kapitalanlage interessiert sind.« »Nun, das kommt darauf an.« Magnus Ridolph beobachtete seinen Besucher durch den Rauch seiner Zigarette. »Was hätten Sie denn zu bieten?«
»Das.« Blantham holte eine kleine weiße Schachtel aus der Tasche. Magnus Ridolph hob den Deckel und betrachtete ein Büschel etwa drei Zentimeter lange purpurne Schläuche, die gewunden und leicht zusammengerollt von einer Art Nabe ausgingen. Diese Schläuche waren flexibel, glänzend und mit langen rosigen Fasern durchzogen. Höflich schüttelte Magnus Ridolph den Kopf. »Ich fürchte, ich weiß nicht, was das ist.« »Es ist Ticholama«, erklärte Blantham. »Elastika, unbearbeitet.« »Tatsächlich?« Magnus Ridolph betrachtete die Purpurschläuche mit neuem Interesse. »Jeder dieser Schläuche ist aus zahllosen Elastikaspiralmolekülen zusammengesetzt, von denen jede sich durch die gesamte Länge des Schlauches zieht. Sie geben dem Elastika die ungeheure Flexibilität und Dehnfähigkeit.« Magnus Ridolph berührte die Schläuche. Sie zitterten unter seinen Fingern. »Und?« In beeindruckendem Ton sagte Blantham: »Ich verkaufe die gesamte Plantage: dreitausend Morgen erntereifen Ticholamas erster Güte.« Magnus Ridolph blinzelte und gab die Schachtel zurück. »Oh, wirklich?« Nachdenklich fuhr er mit den Fingern durch seinen Bart. »Der Besitz ist offenbar auf Naos VI.« »Stimmt, Sir. Der einzige Ort, an dem Ticholama gezogen werden kann.« »Was verlangen Sie dafür?« »Hundertdreißigtausend Muniten.« Magnus Ridolph kämmte weiter den Bart mit den Fingern.
»Wäre das ein guter Kauf? Ich verstehe wenig von Landwirtschaft, und von Ticholama überhaupt nichts.« Blantham nickte ernst. »Es ist fast geschenkt. Von einem Morgen gewinnt man eine Tonne Ticholama. Der heutige Kurs für jede nach Starport gelieferte Tonne ist zweiundfünfzig Muniten. Die Fracht mit allen Nebengebühren kommt auf einundzwanzig Muniten die Tonne, und das Einbringen der Ernte acht Muniten pro Tonne. Das ergibt einen Profit von dreiundzwanzig Muniten die Tonne. Bis nächstes Jahr haben Sie den Kaufpreis hereingebracht, und danach ist alles Reingewinn.« Magnus Ridolph betrachtete seinen Besucher mit neuem Interesse. Seine überentwickelte Neugier machte sich bemerkbar. Konnte es sein, daß Blantham ihn – Magnus Ridolph – hereinlegen wollte? War der Bursche wirklich so dumm? Hatte er sich nicht über ihn informiert? »Ihr Angebot«, sagte Ridolph laut, »klingt fast etwas zu gut.« Blantham blinzelte, dabei spannte die Haut über der Nasenwurzel sich noch straffer. »Wissen Sie, ich besitze weitere fünfunddreißighundert Morgen. Die Plantage, die ich zum Verkauf anbiete, ist die ans Festland anschließende Hälfte der Stundenglashalbinsel. Ich habe mehr als genug Arbeit mit der seewärts gelegenen Hälfte. Nun, und um ganz ehrlich zu sein, ich brauche dringend und schnellstens Geld. Ich hatte ziemliches Pech. Mein Sohn baute einen Unfall mit dem Schrauber. Meine Frau bekam Schwierigkeiten mit den Augen, und ich mußte für die Operationskosten selbst
aufkommen, weil diese Operation nicht unter die Leistungen der Krankenkasse fiel. Außerdem ist meine Tochter in einem Pensionat auf der Erde – St. Brigidas in London. Es ist unverschämt teuer. Ich brauche unbedingt sofort Geld.« Magnus Ridolph betrachtete den Mann aus halbgeschlossenen Lidern. Er nickte. »Ich verstehe«, sagte er. »Das kann man wahrhaftig eine Pechsträhne nennen. Hundertdreißigtausend Muniten. Ein annehmbarer Preis, wenn der zu erwartende Profit tatsächlich mit Ihren Worten übereinstimmt.« »Darauf können Sie sich verlassen!« versicherte ihm Blantham. »Das Ticholama ist nicht alles bester Qualität?« fragte Magnus Ridolph. »Es ist ausschließlich Spitzenqualität. Jede Pflanze ist kräftig und gesund.« »Hmmm!« Magnus Ridolph kaute an der Unterlippe. »Unterkunft ist wohl keine vorhanden?« Blanthams Lippen bildeten ein seltsames rotes O. »Ich habe vergessen, das Häuschen zu erwähnen. Es ist natürlich einheimischer Art, aber in erstklassigem Zustand. Man kann sehr gut darin wohnen. Ich glaube, ich habe sogar eine Fotografie dabei. Ah ja, hier ist sie.« Magnus Ridolph griff nach dem Bild und betrachtete es. Er sah ein längliches Haus aus grauem und grünem Schiefer, mit konvexem Giebel, konkaven Wänden und einer Reihe bogenförmiger Öffnungen. Das Feld dahinter erstreckte sich purpurn bis zu den ersten Felsschroffen des Ödlands. »Hinter dem Haus sehen Sie einen Teil der Planta-
ge«, machte nun auch Blantham ihn darauf aufmerksam. »Beachten Sie die Farbe, es ist dunkles Purpur – die allerbeste Qualität!« »Hmmm«, brummte Magnus Ridolph. »Ich würde das Haus möblieren müssen. Das käme ziemlich teuer.« Lächelnd schüttelte Blantham den Kopf. »Nur, wenn Sie den luxuriösesten Luxus haben wollen. Trotzdem muß ich Sie vor falschen Vorstellungen warnen. Das Häuschen ist in so mancher Beziehung primitiv. Es hat keinen Teleschirm, keine Entbakterisierung, keinen Autolum. Der Energieversorger ist klein, es gibt keine Kühlzelle, keinen Waschautomat. Und wenn Sie sich keinen Radoherd schicken lassen, müssen Sie in Töpfen über Heizelementen kochen.« Magnus Ridolph runzelte die Stirn und blickte Blantham scharf an. »Ich würde mir natürlich einen Diener besorgen. Wie sieht es mit der Wasserversorgung aus? Gibt es überhaupt Trinkwasser?« »Selbstverständlich. Der Umwandler schafft neunhundert Liter pro Tag.« »Das dürfte reichen«, sagte Ridolph. Er betrachtete die Fotografie erneut. »Was ist das?« Er deutete auf einen Flecken im Feld, wo ein Felsvorsprung des Ödlands in die Plantage reichte. Blantham studierte das Bild. »Tut mir leid, aber das weiß ich nicht. Möglicherweise eine Stelle, an der der Boden schlechter ist. Aber sie scheint nicht sehr groß zu sein.« Magnus Ridolph studierte die Fotografie noch etwa eine Minute lang, dann gab er sie zurück. »Ihr Angebot ist verlockend. Wenn Sie meinem Computer Ihre Adresse eingeben, werde ich Ihnen morgen Bescheid
geben, ob ich kaufe oder nicht.« Blantham erhob sich. »Ich habe ein Zimmer hier im Hotel, Mr. Ridolph. Sie können mich jederzeit anrufen. Ich nehme an, je näher Sie sich über mein Angebot informieren, desto verlockender werden Sie es finden.« Zu Magnus Ridolphs Überraschung sollte Blantham mit seiner Vorhersage recht behalten. Als er Sam Quien, einem Freund und Handelsmakler, davon erzählte, pfiff der durch die Zähne und nickte heftig. »Das ist ja geschenkt. Ich nehme dir die gesamte Ernte ab. Wir können gleich einen Vertrag aufsetzen.« Als nächstes ließ Magnus Ridolph sich die Frachtkosten von Naos VI nach Starport durchgeben. Er runzelte die Stirn, als er erfuhr, daß sie um eine halbe Munit niedriger waren, als Blantham geschätzt hatte. Nach den Gesetzen der Logik mußte irgend etwas mit diesem Geschäft faul sein. Aber was? In der Stellenvermittlung trat er an einen Schalter, hinter dem ein Rhodopier von Fomalhaut V stand. »Angenommen, ich möchte die Ernte eines ganzen Ticholamafelds auf Naos VI einbringen. Was würden Sie mir da vorschlagen?« Der Rhodopier nickte beim Sprechen mit dem Kopf. »Sie arrangieren das alles am besten direkt auf Naos VI«, lispelte er. »In Garswan ist ein Unternehmen. Sie brauchen sich nur an den Geschäftsführer zu wenden. Er stellt die richtige Anzahl von Pflückern und verlangt gar nicht viel. Auf Naos VI ist fast alles sehr billig.« »Sehr gut. Vielen Dank.« Magnus Ridolph verließ die Stellenvermittlung.
Bedächtig kehrte er zum Hotel zurück. Der Mnemiphot im Lesesaal bestätigte Blanthams Behauptung daß von einem Morgen Land im Durchschnitt eine Ernte von einer Tonne Ticholama eingebracht werden konnte, und aus einer Tonne Ticholama wiederum wurden zweihundertfünfzig Kilo Elastika gewonnen. Außerdem fand Magnus Ridolph heraus, daß die Nachfrage stets höher als das Angebot war. Er ging in sein Zimmer und legte sich auf das Bett. Eine Stunde dachte er nach, dann rief er Blantham über Bildfon an. »Mr. Blantham, ich ziehe in Betracht, Ihren angebotenen Besitz zu erstehen.« »Gut, gut«, Blantham nickte. »Doch ehe wir den Vertrag abschließen, möchte ich mir die Plantage natürlich ansehen.« »Selbstverständlich. Übermorgen fährt das Interplanetlinienschiff. Wäre Ihnen das recht?« »Ja, ist gut.« Blantham deutete. »Das ist dort Ihre Plantage, die gesamte obere Hälfte der Halbinsel. Meine ist die untere, mit der Spitze im Meer.« Magnus Ridolph blickte schweigend aus den Schrauberfenstern. Unten lag das zerklüftete Ödland mit seinen schroffen Felsen, steilen Klüften und seinem Schluchtenlabyrinth. Es blieb zurück, und sie flogen über die Stundenglashalbinsel. Voraus lag das Außenmeer mit Punkten und Streifen in Rot, Blau, Grün und Gelb durchzogen: den unzähligen Kolonien farbigen Planktons. In der Nähe des Häuschens landete der Schrauber. Magnus Ridolph stieg aus, schritt zum Rand des Feldes und beugte sich über die Pflanzen. Sie waren saf-
tig und kräftig mit dicken Büscheln purpurner Schläuche. Magnus Ridolph richtete sich auf und blickte Blantham, der ihm gefolgt war, von der Seite an. »Schön, nicht wahr?« sagte Blantham milde. Magnus Ridolph konnte gar nicht anders, als ihm beizupflichten – eine Augenweide, wohin man blickte. Mit Blanthams Besitzrecht stimmte alles, dessen hatte Ridolph sich in Garswan vergewissert. Der Chef der Erntefirma hatte sich bereiterklärt, die Ernte für acht Muniten die Tonne einzubringen, gleich nachdem seine Pflücker mit Blanthams Feld fertig waren. Kurzum, der Besitz zu diesem Preis war fast geschenkt. Und doch... Magnus Ridolph blickte über das Feld. »Der Flekken schlechter Erde erscheint mir größer zu sein als auf dem Bild.« »Ich wüßte nicht, wie das möglich wäre«, antwortete Blantham. Einen Augenblick lang blieb Magnus Ridolph noch stehen und blähte die Nasenflügel ganz leicht. Abrupt zog er sein Scheckbuch aus der Tasche. »Ihr Scheck, Sir.« »Danke. Ich habe den Kaufbrief bei mir. Ich unterschreibe sogleich, dann gehört die Plantage Ihnen.« Blantham verabschiedete sich höflich, kletterte in seinen Schrauber und brach auf. Magnus Ridolph blieb in der wachsenden Dämmerung in der Plantage zurück. Und dann war das wilde Heulen zu hören und verschwommen die länglichen Gestalten. Magnus Ridolph kehrte ins Haus zurück. Er blickte in die Küche, um sich mit seinem Diener Chook bekannt zu machen, einem faßförmigen An-
thropoiden aus dem Garswanhochland. Chook hatte graue knotige Haut, knochenlose tauähnliche Arme, runde flaschengrüne Augen. Sein Mund war hinter schlaffen Hautlappen verborgen. Er hatte seinen Kopf schräg gelegt und lauschte dem fernen Heulen. »Ah, Chook, was hast du Feines gekocht?« Chook deutete auf einen dampfenden Tiegel. »Eintopf.« Seine donnergrollende Stimme kam aus dem Bauch. »Eintopf ist gut.« Eine plötzliche scharfe Brise trug das Heulen herbei. Chooks Arme zuckten. »Was sind das für seltsame Schreie, Chook?« erkundigte sich Magnus Ridolph und blickte interessiert in ihre Richtung. Chook widmete ihm einen rätselhaften Blick. »Sie heulende Schlinger. Sehr schlimm. Töten dich, töten mich. Töten alles. Fressen Ticholama.« Magnus Ridolph setzte sich. »Aha – jetzt verstehe ich.« Er lächelte freudlos. »Ja, ich verstehe! Hmm!« »Mögen Eintopf?« Chook griff nach einem Schöpflöffel. Wie üblich stand Magnus Ridolph früh auf. Er ging in die Küche. Chook lag, zu einem grauen ledrigen Ball zusammengerollt, auf dem Boden. Als er die Schritte hörte, öffnete er ein Auge und brummte etwas tief aus seinem Bauch. »Ich sehe mich ein bißchen um«, erklärte ihm Magnus Ridolph. »Ich werde in etwa einer Stunde zurück sein, dann frühstücken wir.« Chook senkte langsam den Kopf. Ridolph trat hinaus in das kühle Schweigen und voll in das horizontale Licht Naos, die sich gerade wie eine glühende Kochplatte aus dem Meer hob. Die sanfte Brise aus
dem Ticholamafeld war frisch und sauerstoffreich. Magnus Ridolph atmete sie tief und voll Behagen ein und machte sich auf den Weg. Nach etwa einer halben Stunde durch die kniehohen Stauden erreichte er den in die Plantage hängenden Felsvorsprung und den Flecken Land, den Blantham als schlechten Boden bezeichnet hatte. Betrübt schüttelte Magnus Ridolph beim Anblick der Verwüstung den Kopf. Die purpurnen Schläuche waren von den Ticholamapflanzen gerissen, aufgeschlitzt und zuhauf auf den Boden geworfen worden. Der verwüstete Bereich verlief in etwa parallel mit dem Rand des Felsvorsprungs. Wieder schüttelte Magnus Ridolph den Kopf. »Um hundertdreißigtausend Muniten ärmer! Ich frage mich, ob das, was ich daraus gelernt habe, diese Summe wert ist?« murmelte er vor sich hin. Er kehrte zum Haus zurück. Chook rührte in einem Topf auf dem Herd und begrüßte ihn mit einem tiefen Brummen. »Na, Chook, was gibt's zum Frühstück?« erkundigte sich Ridolph. »Eintopf«, erwiderte Chook. Zwischen zusammengepreßten Lippen quetschte Ridolph hervor: »Ein nahrhaftes Gericht. Du hältst es wohl für das einzig Sättigende?« »Eintopf ist gut«, antwortete Chook stoisch. »Nun, wie du meinst«, murmelte Ridolph gleichmütig. Nach dem Frühstück zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und rief mit dem fast schon antiquierten Radiofon die Fernsprechzentrale in Garswan an.
»Verbinden Sie mich mit dem T.N.D.« Nach einem längeren Summen meldete sich eine Männerstimme: »Hauptmann Solinsky, Terrestrischer Nachrichtendienst.« »Hauptmann Solinsky«, sagte Magnus Ridolph. »Könnten Sie mir bitte Auskunft über die Wesen geben, die als heulende Schlinger bekannt sind?« »Gewiß, Sir«, kam die Antwort nach einer kurzen Pause. »Dürfte ich mich nach Ihrem Namen erkundigen?« »Ich bin Magnus Ridolph. Ich habe mir gestern eine Ticholamaplantage auf der Stundenglashalbinsel gekauft. Nun mußte ich feststellen, daß sie von diesen heulenden Schlingern verwüstet wird.« »Sagten Sie, Ihr Name sei Magnus Ridolph?« »Ja, so heiße ich.« »Einen Augenblick, bitte, Mr. Ridolph. Ich werde alles heraussuchen, was wir über die heulenden Schlinger haben.« Nach einer Weile meldete die Männerstimme sich wieder. »Tut mir leid, Mr. Ridolph, wir haben leider gar nicht viel über diese Geschöpfe. Niemand weiß etwas Genaueres über sie. Sie hausen in Bouroödland, doch ihre Zahl ist nicht bekannt. Offenbar gibt es nur einen Stamm oder eine Meute, oder wie immer man es nennen soll, denn sie werden nie an zwei verschiedenen Stellen zugleich gemeldet. Sie scheinen halbintelligente Affen oder Anthropoiden zu sein. Wie gesagt, Näheres ist nicht bekannt.« »Soll das heißen, daß diese Kreaturen nie untersucht wurden?« fragte Magnus Ridolph erstaunt. »Nie«, bestätigte Hauptmann Solinsky. Und nach kurzer Pause fuhr er fort: »Diese seltsamen Wesen
lassen sich nicht fangen. Sie sind ungemein behende und geschmeidig. Sie ernähren sich von Tichorama, fressen es kurz vor der Reife. Tagsüber verschwinden sie, der Himmel weiß wohin, und des Nachts sind sie schlimmer als eine Heuschreckenplage – diese schwarzen Phantome. Ein Trupp von Carnegie Tech versuchte sie zu fangen, aber sie zerrissen die Falle, in die sie gegangen waren. Es ist unmöglich sie zu vergiften. Kugeln prallen von ihnen wirkungslos ab. Hitzestrahlen weichen sie aus, und Deltawaffen können ihnen nichts anhaben. Wir kamen ihnen nie nahe genug, um Ultraschall anzuwenden, aber vermutlich würden sie ihn nicht einmal bemerken.« »Es sieht also ganz so aus, als wären sie immun gegenüber den üblichen Vernichtungsmethoden«, bemerkte Magnus Ridolph. »Ja, es hat ganz den Anschein«, bestätigte Hauptmann Solinsky. »Eine Mesonengranate würde es vielleicht schon schaffen, aber dann bliebe zur Untersuchung nicht genug über.« »Mein Interesse an diesen Kreaturen ist nicht ganz unpersönlich«, erinnerte ihn Magnus Ridolph. »Sie verschlingen mein Ticholama. Und dagegen möchte ich etwas unternehmen.« »Nun...« Solinsky zögerte. »Ich sage es nicht gern, Mr. Ridolph, aber ich fürchte, es gibt nicht viel, was Sie tun können – außer, vielleicht, daß Sie nächstes Jahr keine so gute Qualität anbauen. Sie fressen nämlich nur die allerbeste. Und noch etwas: sie sind gefährlich. Kommt ihnen irgendein armer Teufel in die Quere, zerreißen sie ihn. Also versuchen Sie nicht, sie etwa mit einer Schrotflinte zu verjagen.« »Nein«, versicherte ihm Magnus Ridolph. »Ich
werde mir etwas anderes ausdenken müssen.« »Nun, ich hoffe, es gelingt Ihnen«, wünschte ihm Solinsky. »Bisher hatte noch keiner Glück.« Magnus Ridolph kehrte in die Küche zurück, wo Chook stärkehaltige blaue Buschäpfel schälte. »Ich sehe, du bereitest das Mittagessen vor. Gibt es wieder...« Er hob fragend die Brauen. Chook bestätigte seine Befürchtung brummend. Magnus Ridolph trat neben ihn und schaute ihm eine Weile zu. »Hast du je einen dieser heulenden Schlinger aus der Nähe gesehen?« »Nein«, erwiderte Chook. »Wenn ich sie hören, ich schlafen, bleiben ganz ruhig.« »Wie sehen sie denn aus?« »Sehr groß, lange Arme. Häßlich – wie Menschen.« Seine leuchtenden flaschengrünen Augen betrachteten Magnus Ridolphs Bart. »Aber kein Haar.« »Aha.« Magnus Ridolph strich über seinen gepflegten Bart. Er trat aus dem Haus, setzte sich auf eine Bank und genoß den warmen Schein Naos'. Dann holte er ein Stück Papier aus der Tasche und kritzelte etwas. Ein Summen drang an sein Ohr und wurde lauter, bis Blanthams Schrauber vor dem Haus landete. Blantham sprang heraus. Er war frisch rasiert, seine weit auseinanderstehenden Augen glänzten, und seine rosigen Wangen waren ein Bild der Gesundheit. Als er Magnus Ridolph sitzen sah, bemühte er sich um eine bedauernde, mitfühlende Miene. »Mr. Ridolph – ich habe etwas Schreckliches und für mich sehr Peinliches gehört! Heute morgen erfuhr ich, daß diese Teufel – diese Schlinger, Ihre Plantage heimsuchten!«
Magnus Ridolph nickte. »Ja, so ist es wohl.« »Ich kann mein Schuldgefühl mit Worten gar nicht ausdrücken«, sagte Blantham. »Natürlich hätte ich Ihnen den Besitz nie aufgedrängt, wenn ich gewußt hätte...« »Natürlich nicht«, antwortete Magnus Ridolph trocken. »Sobald ich es erfuhr, setzte ich mich in den Schrauber, um zu Ihnen zu kommen und gutzumachen, was ich kann. Ich fürchte nur, es ist nicht mehr viel, was ich Ihnen zurückgeben kann. Wissen Sie, gleich gestern, als ich Ihren Scheck eingelöst hatte, bezahlte ich den größten Teil meiner Schulden. Nun sind mir lediglich etwa fünfzigtausend Muniten übriggeblieben. Wenn Sie möchten, übernehme ich es, mich mit diesen Bestien auseinanderzusetzen...« Er hielt inne und hüstelte. Magnus Ridolph blickte milde hoch. »Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mr. Blantham. Eine Geste, wie sie von nicht sehr vielen zu erwarten ist. Doch ich glaube, daß ich noch etwas von meiner Investition retten kann. Ich bin durchaus nicht völlig entmutigt.« »Gut, sehr gut«, beeilte sich Blantham zu versichern. »Man darf nie aufgeben, das ist auch meine Einstellung. Ich habe Mut schon immer bewundert. Doch ich muß Sie warnen. Wenn diese Teufel einmal mit einem Feld anfangen, hören sie nicht auf, bis ihnen die letzte Tichoramapflanze zum Opfer gefallen ist. Und wenn sie das Haus erreichen, besteht äußerste Gefahr für Sie. Sie haben schon unzählige Männer und Frauen getötet.« »Nun«, meinte Magnus Ridolph, »vielleicht haben Sie die Güte und gestatten den Pflückern, meine
Ernte – was noch vorhanden ist – vor Ihrer einzubringen.« Blanthams Gesicht wurde lang und kummervoll. »Mr. Ridolph, glauben Sie mir, nichts würde ich lieber tun, als Ihnen diese Bitte zu gewähren – aber Sie kennen diesen Garswanischen Unternehmer nicht. Würde ich eine Änderung unseres Vertrags vorschlagen, wäre er imstande, ihn sofort zu kündigen. Und Sie verstehen, ich habe eine Frau und Familie, für die ich sorgen muß. Außerdem ist von Ihrem Tichorama nur sehr wenig bereits erntereif. Wissen Sie, die Schlinger fallen über die Pflanzen her, ehe das Tichorama ganz reif ist.« Er schüttelte traurig den Kopf. »So gern ich es täte, wüßte ich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, außer, wie ich bereits vorschlug, indem ich Ihnen das mir verbliebene Geld zurückgebe.« Magnus Ridolph hob die Brauen. »Sie meinen, Sie würden mir die Plantage für fünfzigtausend Muniten wieder abkaufen?« Blantham hüstelte. »Nun, abkaufen würde ich es wohl nicht nennen. Ich wollte lediglich...« »Oh, natürlich, natürlich.« Magnus Ridolph nickte. »Sehen wir uns die Sache doch einmal aus anderer Sicht an. Vergessen wir kurz, daß wir Freunde sind und Nachbarn und fast Geschäftspartner und jeder aus Motiven höchster Integrität handelt. Nehmen wir statt dessen an, wir seien skrupellose und habgierige Fremde.« Blantham blies die Wangen auf und betrachtete Magnus Ridolph zweifelnd. »Sehr schwierig, sich das vorzustellen. Aber bitte, fahren Sie fort!« »Nun, jedenfalls, von dieser Annahme ausgehend, schlage ich Ihnen eine Vereinbarung vor.«
»Welcher Art?« »Gehen wir eine Wette ein«, sagte Magnus Ridolph überlegend. »Die Plantage hier gegen – sagen wir, hundertdreißigtausend Muniten – aber, ich vergaß. Sie haben das Geld ja ausgegeben.« »Worum sollte es um diese Wette denn gehen?« erkundigte sich Blantham und betrachtete seine Fingerspitzen. »Bei dem Verkauf der Plantage wurde ein Profit von neunundsechzigtausend Muniten erwähnt. Der Einfall dieser... ah... heulender Schlinger läßt diese Summe wohl etwas überoptimistisch erscheinen.« Blanthams unverständliches Murmeln klang zumindest mitfühlend. »Trotzdem«, fuhr Magnus Ridolph fort, »erscheint mir ein Profit von neunundsechzigtausend Muniten nicht unmöglich. Ich setze die Plantage gegen hundertdreißigtausend Muniten, daß sich dieser Profit erzielen läßt.« Blantham blickte Magnus Ridolph lange an. »Aus dem Verkauf von Ticholama?« Magnus Ridolph machte eine weitausholende Gebärde. »Nun, wovon ließe er sich sonst erzielen?« »Es gibt keine Minerale auf dem Grundstück, das steht fest«, murmelte Blantham. »Kein Öl, keinen Magnofluß.« Er schaute über das Feld auf die verheerte Stelle. »Wenn diese Schlinger mit einem Feld anfangen, sind sie nicht mehr aufzuhalten, wissen Sie?« Magnus Ridolph zuckte die Achseln. »Es dürfte mehrere Möglichkeiten geben, mein Land vor unliebsamen Eindringlingen zu schützen.« Blantham betrachtete ihn nachdenklich. »Sie sind
offenbar davon überzeugt.« Magnus Ridolph spitzte die Lippen. »Schwierigkeiten sind dazu da, um überwunden zu werden«, erklärte er. Blantham sah sich noch einmal das verwüstete Stück des Feldes an, dann wandte er sich an Magnus Ridolph. »Ich nehme die Wette an.« »Gut«, sagte Magnus Ridolph. »Nehmen wir Ihren Schrauber nach Garswan, bringen wir die Wette in juristische Form und lassen wir sie notariell beglaubigen.« Auf der Straße, nachdem sie das Notariat verlassen hatten, schob Magnus Ridolph seine Ausfertigung der Abmachung in das Mikrofilmfach seiner Brieftasche. Er wandte sich an Blantham, dem es nicht ganz gelang, seine amüsierte Miene zu verbergen. »Ich werde den Rest des Tages in Garswan bleiben, und sehen, daß ich einen Schrauber auftreibe, vielleicht nehme ich dann auch ein paar Sachen mit zurück.« »Wie Sie meinen, Mr. Ridolph.« Blantham neigte höflich den Kopf, warf sein dunkelblaues Cape verwegen über die Schultern und sagte: »Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrer Plantage.« »Danke«, erwiderte Ridolph mit gleicher Höflichkeit. »Mögen Sie ebenfalls das bekommen, was Sie verdienen.« Blantham machte sich auf den Weg zum Schrauber zurück. Ridolph wandte sich der Hauptstraße zu. Garswan galt als erste Stadt Naos VI nur, weil sie einen ebenen Platz aus steinhartem Lehm aufzuweisen hatte, auf dem die Eingeborenen ursprünglich ihre Feuertänze abgehalten hatten. Sonst gab es eigentlich nichts, was von Garswan zu sagen gewesen wäre, an
landschaftlicher Schönheit mangelte es der Stadt ganz sicher. Die Hauptstraße begann am Raumhafen, wand sich um einen Felsen aus rotem Schieferton und stürzte sich in einen wahren Dschungel aus Schlangenkraut, Zollmoos und Mattenbäumen. Die Läden und Wohnungen waren zu einer Hälfte im Stil der Einheimischen erbaut: aus Schieferplatten mit abgerundeten Giebeln und nach innen gekrümmten Wänden; zur anderen waren es Fachwerkbauten. Es gab ein Kaufhaus, einen Klub der Raumfahrer, einen Festsaal der Rhodopier, einen Drugstore mit angeschlossenem Erfrischungsraum, eine Seitenstraße, auf der die Eingeborenen ihren Markt abhielten, und einen Gebrauchtschrauberpark. Im Schrauberpark standen sechs dieser Fluggefährte zum Verkauf, alle reichlich mitgenommen und zu einem weit höheren Preis ausgezeichnet, als sie wert waren. Ridolph wählte einen Sechsstrahler aus und bemühte sich, nicht auf das Wimmern der Kugellager zu achten, als er ihn zu einer Reparaturwerkstatt brachte, wo er den Auftrag gab, Kundendienst vorzunehmen und ihn aufzutanken. Inzwischen ging Ridolph in die Dienststelle des TNDs. Man empfing ihn höflich, und er ersuchte, den Mnemiphot benutzen zu dürfen. Er machte es sich vor dem Betrachter bequem, suchte den Kode für Elastika, gab ihn ein, und studierte schließlich aufmerksam all die Fakten, Skizzen, Formeln und Statistiken, die über den Schirm wanderten. Er notierte sich die Daten der Faserstärke, die in etwa mit leichtem Stahl zu vergleichen war, und stellte mit Interesse fest, daß mit Hessopenthol befeuchtetes Elastika sich wie fest-
geschweißt mit anderen Elastikateilen verbinden ließ. Er lehnte sich auf dem Sitz zurück und tupfte nachdenklich mit dem Schreibstift auf sein Notizbuch. Dann wandte er sich wieder dem Mnemiphot zu und schaltete ein wenig vor zur Herstellung von Elastika aus rohem Ticholama. So erfuhr er, daß die purpurnen Schläuche in flüssiger Luft gefroren und durch einen Mazerator gegeben wurden, der den Gummianteil pulverisierte. Dann weichte man sie in Hessohexaminsäure und danach in Alkohol ein und trocknete sie schließlich in einer Zentrifuge. Durch diesen Prozeß wurden die Fasern zur filzähnlichen Matte. Sie wurde gekämmt, bis die Fasern parallel lagen, dann mit Hessopenthol getränkt und zu einer homogenen Substanz komprimiert – und das Elastika war fertig. Wieder lehnte Magnus Ridolph sich zurück, und seine sanften blauen Augen starrten blicklos ins Leere. Nach einer Weile erhob er sich, verließ die Dienststelle und überquerte die Straße zum Büro einer hiesigen Baufirma. Dort brachte er fast eine Stunde zu. Dann kehrte er zur Schrauberwerkstatt zurück, holte sich seine neue Errungenschaft ab und flog damit südwärts über den Dschungel und das Labyrinth der Bouroöde. Die Stundenglashalbinsel lag vor ihm. Seine Plantage bedeckte die dem Land zugewandte Hälfte, Blanthams den Rest. Naos stand tief über dem Meer, als Ridolph den Schrauber vor seinem Haus landete. Chook stand an der Spitzbogentür. Er starrte leeren Blicks über das Ticholamafeld. Seine Arme baumelten bis fast zum Boden. »Guten Abend, Chook«, grüßte Magnus Ridolph
und reichte seinem Diener ein Päckchen. »Eine Flasche Wein für deine Verdauung.« »R-r-r-r«, antwortete Chook. Magnus Ridolph warf einen Blick in die Küche. »Ich sehe, daß du das Abendessen bereits gekocht hast. Nun, dann wollen wir unseren Eintopf genießen. Danach steht uns der Abend für intellektuelle Beschäftigungen zur Verfügung.« Das verschwommene grüne Dämmerlicht überzog das Ödland. Nach dem Essen trat Magnus Ridolph hinaus in die Abendstille. Unter anderen Umständen hätte er sich des Ausblicks erfreut: das dunkelolive Massiv zu seiner Linken, die Felder schwarz in dem grünlichen Licht, der blaugrüne Himmel mit seinen vereinzelten lavendel- und orangefarbenen Wolken über dem Meer. Ein schwaches Heulen drang an seine Ohren – es war noch fern, sehr fern, klagend und einsam wie eine verlorene Seele. Doch gleich beantwortete ein ferner Chor es: Au-au-au-au-au-au-au! Magnus Ridolph trat ins Haus und kehrte mit einem Infrarotfernglas zurück. Vom Felsenvorsprung kamen die Schlinger. Wirr durcheinander sprangen sie hoch durch die Luft und hüpften wie monströse Flöhe. Ihre vage Menschenähnlichkeit jagte dem sonst so unempfänglichen Magnus Ridolph einen kalten Schauder über den Rücken. Au-au-au-au-au-au-au-au! erklang der ferne Chor, als die Schlinger sich über Magnus Ridolphs Ticholama stürzten. Magnus Ridolph nickte grimmig. »Morgen nacht, meine ungebetenen zerstörerischen Gäste, werdet ihr eine andere Weise singen.«
Der Bautrupp aus Garswan traf am nächsten Morgen in einem großen Schrauber ein, der einen Bulldozer transportierte. Magnus Ridolph, der noch beim Frühstück saß, schluckte seinen letzten Bissen Eintopf hinunter, und brachte den Bautrupp zu dem verwüsteten Teil des Feldes, wo er seine Anweisungen erteilte. Am Spätnachmittag war alles zufriedenstellend ausgeführt, die letzten Geräte installiert, und Magnus Ridolph probierte die Maschinen aus. Ein wuchtiges Betonbauwerk erhob sich nun am Rand des verheerten Feldstücks. Es war fensterlos, mit Stahl verstärkt, und es ruhte auf einem massiven Fundament. Hundert Meter von diesem Betonkasten entfernt war ein dreieinhalb Meter hoher zylindrischer Block tief im Boden verankert. Ein endloses Herkuloykabel verlief vom Betonkasten um eine stahlverkleidete Rille im Block und zurück zum Betonkasten, dort schlang es sich um die Trommel einer elektrischen Winde und lief wieder hinaus und zum Block. Zufrieden blickte Magnus Ridolph sich in dem engen Raum um. Die Zeit hatte nicht für feinere Einzelheiten gereicht, aber die Winde arbeitete einwandfrei und zog das Kabel ohne Mühe hinaus, um den Ankerblock herum und wieder zurück. Im Innern erhob sich vor der Tür ein Stapel Elastikaplatten, jede zweieinhalb Zentimeter dick, und von jeder hing eine ein Meter lange Herkuloykette herunter. Magnus Ridolph begutachtete mit einem letzten Blick noch einmal alles, dann kehrte er gemächlich zu seinem Schrauber zurück und flog zu seinem Haus. Chook stand an der Tür.
»Chook«, fragte Magnus Ridolph. »Hältst du dich für mutig, einfallsreich und entschlossen?« Chooks flaschengrüne Augen rollten sich in zwei verschiedene Richtungen. »Ich sein Koch!« »Hmm«, brummte Magnus Ridolph. »Natürlich. Aber ich beabsichtige heute nacht die heulenden Schlinger aus der Nähe zu beobachten, und da ich gern ein wenig Hilfe hätte, wählte ich dich aus, mich zu begleiten.« Chooks Augen rollten noch weiter in entgegengesetzte Richtungen. »Chook haben heute nacht keine Zeit.« »Was mußt du so Wichtiges tun?« erkundigte sich Magnus Ridolph eisig. »Chook schreiben Brief.« Magnus Ridolph wandte sich verärgert ab. Während des Abendeintopfs ersuchte er Chook noch einmal, ihm zu helfen, aber Chook bestand darauf, daß er unbedingt den Brief schreiben müßte. So machte Magnus Ridolph sich eine Stunde vor Sonnenuntergang mit einem Rucksack allein und zu Fuß auf den Weg zu seiner Betonfestung. Der Schatten des vordersten Felsen hüllte den Betonkasten bereits ein, als er endlich ankam. Ohne Zögern tauchte er ins dunkle Innere und stellte den Rucksack auf dem Boden ab. Er überprüfte noch einmal die Tür. Sie glitt mühelos auf und ab und schloß dicht. Er schaltete den Rheostaten der Winde ein. Die Trommel drehte sich, das Kabel glitt hinaus zum Ankerblock, um ihn herum und zurück. Nun griff Magnus Ridolph nach einer seiner Elastikaplatten, befestigte deren Kette am Kabel und legte die Platte direkt vor die Tür. Dann ließ er die Tür bis auf einen schmalen Schlitz herab.
Nun setzte er sich, zündete sich eine Zigarette an und wartete. Schatten schob sich über das dunkelpurpurne Feld. Dunkle Blautöne verfinsterten das Blaugrün des Himmels. Es herrschte eine atemlose Stille. Aus den Bergen erklang ein erstes Heulen, weit entfernt noch, aber schrill hallte es durch die Schluchten. Als wäre es ein Signal, erschallten nun weitere Heultöne, ein paar lauter und näher, doch die meisten noch fern im Ödland. Au-au-au-au-au-au-au-au! Allmählich wurde das Heulen lauter, klagender und schien auch bereits näher zu sein. Magnus Ridolph, der durch das Guckloch in der Tür spähte, sah eine wirre Masse von Gestalten, die sich schwarz gegen den Himmel abhoben, den Felshang herunterkommen. Er tauchte einen Pinsel in eine Dose mit Flüssigkeit, ließ die Tür ein Stückchen hochgleiten, langte hinaus, bestrich die Elastikaplatte, und schloß die Tür wieder. Er erhob sich und drückte das Auge an das Guckloch. Das Heulen ertönte nun über ihm und von allen Seiten und nahm einen neuen Klang an, und Magnus Ridolph sah huschende dunkle Gestalten ganz in der Nähe. Etwas prallte auf dem Dach auf und sofort war ein schrilles Heulen oben zu vernehmen. Magnus Ridolph ballte die dünnen alten Hände. Nun erklang ein Poltern neben dem Betonkasten. Das Kabel zuckte. Das Heulen wurde lauter und schriller. Weiterer Aufprall war auf dem Dach zu hören. Das Kabel bewegte sich ruckhaft, schwang vor und zurück.
Magnus Ridolph lächelte grimmig. Von draußen kam ein heiseres Jaulen, ein wütendes Japsen und das Klirren einer heftig geschüttelten Kette. Jetzt sah er eine Gestalt, länger als ein Mensch, mit langen dünnen Armen und Beinen, einem schmalen Schädel, die sich wild in der Schlinge vor und zurück warf. Magnus Ridolph schaltete nun die Winde ein, zog die Platte mit ihrem Gefangenen etwa drei Meter auswärts auf den Ankerblock zu, dann befestigte er eine weitere Platte am Kabel, bestrich sie mit Hessopenthol, hob die Tür ein Stück und schob die Platte hinaus. Sie wurde ihm geradezu aus der Hand gerissen. Er ließ hastig die Tür heruntersausen, erhob sich und schaute durch das Guckloch. Eine zweite dunkle Gestalt tanzte und hüpfte über das Kabel vor und zurück, das die Kette gespannt hatte und die Kreatur nun mit jedem Sprung kopfüber auf den Boden schleuderte. Das Heulen war ohrenbetäubend, der Betonkasten schien umzingelt zu sein. Magnus Ridolph bereitete eine dritte Platte vor, hob die Tür einen Spalt und schob die Platte hindurch. Wieder wurde sie seinen Händen entrissen, doch diesmal stießen schwarze Finger durch den Schlitz und zogen mit unvorstellbarer Kraft. Mit dieser Möglichkeit hatte Magnus Ridolph gerechnet und mit einem Eisenriegel vorgesorgt. Die Finger spannten sich. Magnus Ridolph nahm seinen Hitzestift und bestrahlte die Finger. Der Stahl wechselte Farbe, begann zu glühen. Ein übelkeiterregender Gestank stieg von den Fingern hoch, und sie wurden zurückgerissen. Magnus Ridolph befestigte eine vierte Platte am Kabel. Zwei Stunden vergingen. Jede Platte, die er durch
den Türschlitz schob, wurde seinen Händen wild entrissen. Des öfteren glitten Finger durch den Schlitz, aber der Strahl seines Hitzestiftes vertrieb sie. Inzwischen war der würgende Gestank von verbranntem Fleisch in dem engen Raum fast zum Schneiden dick. Magnus Ridolph arbeitete wie ein Besessener: Platte befestigen, bepinseln, durch den Schlitz schieben, das Kabel mit der Winde weiter hinausschieben, durch das Guckloch schauen. Die Winde knarrte, der Betonkasten vibrierte unter dem verzweifelten Zerren draußen. Nun war die letzte Platte an der Reihe. Als er sie hinausgeschickt hatte, sah er sich durch den Spion um. An der ganzen Länge des Kabels, vom Betonbau zum Ankerblock und zurück zum Betonkasten klebten die unermüdlich wütenden Gestalten. Und wie ganz deutlich zu hören war, sprangen immer neue auf das Dach. Magnus Ridolph lehnte sich an die Betonwand, fischte eine Flasche aus seinem Rucksack und nahm einen tiefen Schluck. Ein Ächzen der Winde riß ihn aus seiner Ruhe. Er erhob sich mühsam, die alten Gelenke waren steif, und spähte durchs Guckloch. Die Kreaturen hatten sich zusammengetan. Zu beiden Seiten des Kabels drängten sich die schwarzen Gestalten. Sie bückten und erhoben sich, und die Windentrommel ächzte, knarrte, quietschte. Magnus Ridolph löste die Windenbremse, zog das Kabel ein paarmal vor und zurück, daß die schwarzen Kreaturen wie Rohr im Wind schwankten. Plötzlich, wie ein Schwarm schwarzer Geister ließen die nicht gefangenen Schlinger das Kabel los und sprangen zum Betonkasten.
Gegen die schwere Stahltür warfen sie sich, und unter dem vereinten Gewicht krächzte sie in ihrer Halterung. Magnus Ridolph strich über den Bart. Der Stahl würde diesem Ansturm wahrscheinlich widerstehen, der Rahmen ebenfalls, da er tief im Beton verankert war. Aber natürlich war keine Konstruktion unbezwingbar. Wieder ein gewaltiger Aufprall! Feiner Staub löste sich von der Wand. Magnus Ridolph sprang zum Guckloch und sah etwas Schwarzes, wie es schien, geradewegs auf seinen Kopf zukommen. KRACH! Besorgt leuchtete Magnus Ridolph mit der Taschenlampe herum. Wenn es zu Sprüngen käme... Er kehrte zum Spion zurück. Angenommen, die Schlinger kämen mit einem Stahlträger an und benutzten ihn als Rammbock? Aber vermutlich mangelte es ihnen dafür am nötigen Organisationstalent. Erneut setzte er sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Nachdem er sich aus der Flasche gründlich gestärkt hatte, nickte er ein. Er erwachte, weil die Luft heiß, drückend und beißend geworden war. Rotes Licht flackerte durchs Guckloch, und ein unheildrohendes Prasseln drang an sein Ohr. Einen Moment lang blieb er nachdenklich sitzen, während seine Lunge sich bemühte, Sauerstoff aus der stickigen Luft zu erlangen. Magnus Ridolph erhob sich und blickte hinaus auf die rotweißen Flammen des Ticholamascheiterhaufens, dann setzte er sich in die Mitte des engen Raumes, um nicht mehr mit den bereits warmen Betonwänden in Berührung zu kommen. »Soll ich wie Tongeschirr in einem Brennofen gebrannt werden?« brummte er vor sich hin. »Nein«,
beantwortete er seine Frage. »Ehe ich durch Verbrennen sterbe, ersticke ich. Aber...«, grübelte er, »wenn ich überlege...« Er holte die Wasserflasche aus seinem Rucksack, steckte die Drähte seines Minispeichers in das Wasser, schaltete ihn ein, und Wasserstoff- und Sauerstoffbläschen stiegen auf. Er druckte sein Gesicht an die Flasche und atmete die synthetische Luft ein... Blanthams Schrauber setzte vor Magnus Ridolphs Haus auf. Blantham, in Dunkelgrau und Rot herausgeputzt, stieg aus. Magnus Ridolph trat nickend aus der Tür. »Guten Morgen, guten Morgen!« rief Blantham ihm entgegen und kam auf ihn zu. »Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um Ihnen zu sagen, daß die Pflükker bei mir bald fertig sind und Anfang der Woche bei Ihnen anfangen werden.« »Sehr gut«, bedankte sich Magnus Ridolph. »Es ist wirklich eine Schande, daß diese Schlinger soviel Schaden angerichtet haben«, sagte Blantham seufzend und blickte auf die Verwüstung. »Es muß etwas getan werden, um dieser Plage Herr zu werden.« Magnus Ridolph nickte zustimmend. Blantham musterte Ridolph. »Sie sehen müde aus. Bekommt Ihnen das Klima nicht?« »O doch, ich schlief nur nicht sehr viel.« »Ach so. Was sind denn diese beiden Bauten im Feld? Ließen Sie sie errichten?« Magnus Ridolph winkte bescheiden. »Beobachtungsstationen würden Sie sie vielleicht nennen. Die erste war zu beschränkt und in mancher Hinsicht
nicht sicher genug, deshalb ließ ich auch noch die größere errichten.« »Ich verstehe«, murmelte Blantham. »Nun, ich muß wieder weiter. Diese Schlinger scheinen ja bereits ziemlich tief in die Plantage eingedrungen zu sein. Glauben Sie immer noch, daß sie neunundsechzigtausend Muniten Profit herausschlagen werden?« Magnus Ridolph gestattete sich ein Lächeln hinter dem gepflegten weißen Bart. »Bedeutend mehr, hoffe ich. Mein Gesamtgewinn bei unserem Geschäft dürfte auf weit über zweihunderttausend Muniten kommen.« Blantham erstarrte, seine weit auseinanderliegenden blauen Augen wirkten glasig. »Zweihunderttausend Muniten? Sind Sie... Dürfte ich fragen, wie Sie auf diese Summe kommen?« »Selbstverständlich«, antwortete Magnus Ridolph freundlich. »Nun, da ist zuerst einmal der Verkauf meiner Ernte: zweitausend Morgen guten Ticholamas, das in etwa sechsundvierzigtausend Muniten einbringen müßte. Zweitens, sind da zweihundertvierzig Tonnen – grob geschätzt – rohen Elastikas, zu einer Viertelmunite das halbe Kilo, oder fünfhundert Muniten die Tonne. Zieht man die Frachtkosten ab, müßte mein Profit gut über hunderttausend Muniten sein – sagen wir, hundertzehntausend...« »A-aber«, stammelte Blantham. Seine Wangen waren tiefrot angelaufen. »Woher haben Sie das Elastika?« Magnus Ridolph faltete die Hände am Rücken und blickte über das Feld. »Ich habe mir einige Schlinger gefangen.« »Wie? – Und warum?«
»Aus ihren Angewohnheiten, ihrem Benehmen und ihrer Nahrung schloß ich, daß sie entweder aus Elastika oder einer nahe verwandten Substanz bestehen. Eine Untersuchung bewies, daß sie Elastika sind. In den vergangenen zwei Wochen konnte ich etwa zweitausendvierhundert gefangennehmen.« »Und wie haben Sie das geschafft?« »Nun, diese Schlinger sind neugierige und ungemein aggressive Kreaturen«, antwortete Magnus Ridolph und erklärte den Mechanismus seiner Falle. »Und wie haben Sie sie getötet? Sie sind doch wie aus Eisen!« »Nicht während des Tages. Sie sind lichtscheu und rollen sich zu Bällen zusammen. Ein scharfer Hieb mit einer Machete durchtrennt ohne große Mühe den Hauptstrang ihres Nervensystems.« Blantham biß sich auf die Lippe und kaute an seinem Schnurrbart. »Das sind aber erst hundertfünfzig oder hundertsechzigtausend Muniten. Wie kamen Sie da auf zweihunderttausend?« »Nun«, antwortete Magnus Ridolph. »Ich muß zugeben, der Rest ist grobe Schätzung, deshalb nannte ich auch eine untertriebene Summe. Ich werde von Ihnen hundertdreißigtausend Muniten bekommen, damit ist meine ursprüngliche Investition zurückbezahlt, und ich glaube nicht, daß es mir schwerfallen wird, diese einträgliche Plantage für hundertsiebzig oder hundertachzigtausend Muniten zu verkaufen. Meine Ausgaben für die Schlingerfalle waren zwölftausend Muniten bisher. Sie sehen also, daß ich durchaus nicht schlecht abschneide.« Blantham wandte sich verärgert ab. Magnus wollte ihn zurückkhalten. »Wo brennt es denn?« erkundigte
er sich. »Wollen Sie nicht zum Essen bleiben? Es gibt zwar nichts Besonderes, aber ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen.« Wortlos schlurfte Blantham zu seinem Schrauber und startete, und bald war sein Gefährt am grünblauen Himmel verschwunden. Magnus Ridolph kehrte ins Haus zurück. Chook hob den Kopf. »Essen jetzt?« »Wie du willst.« Magnus Ridolph setzte sich an den Tisch. »Was ist denn das? Wo bleibt unser Eintopf?« »Chook haben genug von Eintopf. Wir jetzt essen Pfefferbohnen mit Fleisch.«
DER KÖNIG DER DIEBE Es gibt keine ethische Norm, die für alle Welten des Universums allgemein gültig ist. Die anständigen Bürger von Almanatz würden auf Judith VI hingerichtet werden. Das normale Benehmen auf Medellin erregt auf der Erde den tiefsten Abscheu. Verehrung und Respekt sind einem Dieb auf Moritaba sicher. Ich bin überzeugt, daß die Tugend lediglich ein Spiegelbild der guten Absicht ist. Magnus Ridolph »Hier auf Moritaba gibt es viele kostbare Sachen«, sagte der Zahlmeister fast ein wenig wehmütig. »Herrliche Lederarbeiten, Schnitzereien aus seltenem Hartholz – und haben Sie die Korallen gesehen? Sie sind purpurrot und glühen wie das Feuer der Verdammten! Aber...« – er deutete mit dem Kopf auf den Hafen – »die Gewinnung ist zu mühsam. Das einzige, wofür man sich interessiert, ist Telex – und das werden sie nie finden. Old Kanditter, der König der Diebe, ist viel zu schlau für sie.« Magnus Ridolph las gerade im Planetenführer über Moritaba: Das Klima ist feucht und ungesund, das Terrain läßt sich am besten als auf die Mondalpen versetztes Amazonastiefland beschreiben... Er überflog die Aufstellung hier üblicher Krankheiten und blätterte weiter.
Anfangs diente Moritaba dem Freibeuter Louie Joe als Stützpunkt und Hafen. Als Polizeischiffe Louie Joe und seine Piraten schon fast in die Enge getrieben hatten, flohen die Raumräuber in die Dschungel und vermischten sich mit den Eingeborenen. So kam es zu der Mischrasse Menschen-Menschen – entgegen der Thesen orthodoxer Biologen, die eine solche Vereinigung für unmöglich erachteten. Im Lauf der Jahre wurden die Menschen-Menschen zu einem mächtigen Stamm in dem Gebiet Moritabas, das als Großarkadien bekannt ist und in dem sich angeblich ergiebige Telexkristalladern befinden... Magnus Ridolph gähnte und schob das Buch in seine Jackentasche. Er erhob sich, ging zum Bullauge und schaute hinaus auf Moritaba. Gollabolla, die Hauptstadt des Planeten, kauerte zwischen einem Berg und einem Sumpf. In der Stadt gab es ein Commonwealth-Überwachungsbüro, eine Unikultur-Mission, ein Kaufhaus, eine Schule und Wohnhäuser, alle aus Wellblech auf einem Fundament aus einheimischem Holz, und alle durch halsbrecherische Laufgänge miteinander verbunden. Als Außenstehender würde man diesen Anblick als malerisch bezeichnen, dachte Magnus Ridolph, wurde man jedoch selbst damit konfrontiert, dann wohl eher als bedrückend. Eine Stimme neben ihm sagte: »Die Quarantäne ist aufgehoben, Sir. Sie dürfen an Land gehen.« »Danke.« Magnus Ridolph wandte sich der Luftschleuse zu. Davor stand ein kleiner faßbrüstiger Mann, der einen streitsüchtigen Eindruck machte. Er warf Magnus Ridolph einen scharfen mißtrauischen
Blick zu, dann schob er sich einen Schritt näher zur Schleuse heran. Das schwere Kinn, die kleinen feurig schwarzen Augen und die borstigen Haare erinnerten an einen Affen. »Wenn ich Sie wäre, Mr. Mellish«, sagte Magnus Ridolph freundlich, »würde ich mein Gepäck erst an Land schaffen lassen, nachdem ich eine diebessichere Unterkunft gefunden habe.« Ellis B. Mellish drückte seine Aktentasche fester an sich. »Bei mir hat ein Dieb kein Glück, das versichere ich Ihnen!« Magnus Ridolph blickte ihn nachdenklich an. »Nun ja, Ihre Vertrautheit mit den Schlichen von Dieben dürfte von Vorteil für Sie sein.« Mellish wandte ihm den Rücken zu. Eine etwas kühle Beziehung herrschte zwischen den beiden. Magnus Ridolph hatte Mellish die Hälfte einer Telexmine auf dem Planeten Ophir verkauft, und dann hatte Mellish nicht nur seine eigene ausgebeutet, sondern Magnus Ridolphs Hälfte mit dazu. Es war zu einer bitteren Szene in Mellishs Büro gekommen, mit Drohungen und Beschuldigungen – und die Situation spitzte sich noch zu, weil die Mine nun völlig erschöpft war. Durch Zufall begegneten beide sich auf dem nächsten Schiff nach Moritaba wieder, der einzigen anderen Welt, auf der es Telexkristallvorkommen gab. Die Luftschleuse öffnete sich, und der penetrante Geruch Moritabas schlug ihnen entgegen: es war eine Mischung feuchter Erde, üppigen Pflanzenlebens und organischer Verwesung. Sie stiegen die Gangway hinunter und blinzelten in das heiße gelbe Licht Pi Aquariis.
Vier Eingeborene kauerten in der Nähe auf dem Boden – schlanke drahtige Kreaturen mit bräunlich purpurner Haut und beachtlicher Menschenähnlichkeit. Sie waren Menschen-Menschen – die von Kanditter, dem König der Diebe, beherrschte Rasse. Der Schiffszahlmeister, der am Fuß der Gangway stehenblieb, warf ihnen einen mißtrauischen Blick zu. »Hüten Sie sich vor diesen Burschen«, warnte er Magnus Ridolph und Mellish. »Sie klauen Ihnen die Augenzähne, wenn Sie vor ihnen nur den Mund aufmachen.« Die vier Menschen-Menschen erhoben sich und kamen mit langen gleitenden Schritten heran. »Wenn es nach mir ginge, würde ich sie mit einem Prügel vertreiben. Aber ich muß mich nach den Anweisungen richten, die verlangen, daß wir sie freundlich behandeln.« Er bemerkte Mellishs Kamera. »Ich würde die Kamera nicht mitnehmen, Sir. Es wird nicht lange dauern, und die Kerle haben sie.« Mellish schob das Kinn vor. »Wenn sie sie bekommen, verdienen sie sie.« »Sie werden sie bekommen!« versicherte ihm der Zahlmeister. Mellish drehte ihm das Gesicht zu und blickte ihn von oben herab an. »Wenn es jemandem gelingen sollte, mir die Kamera wegzunehmen, bekommen Sie von mir eine genau wie diese.« Der Zahlmeister zuckte die Achseln. Am Himmel war ein Summen zu hören. »Ah!« rief er. »Da kommt der Schrauber von Challa.« Es war der seltsamste Flugwagen, den Magnus Ridolph je gesehen hatte: eine gewaltige Halbkugel aus Maschendraht bildete eine Kuppel über das gesamte
Gefährt, und darunter drehten sich die Rotoren. »Eine unbedingt erforderliche Sicherheitsmaßnahme«, erklärte der Zahlmeister. »Es ist ein Hochspannungsnetz – es wird gleich bei der Landung geladen. Ohne es wäre schon eine Stunde danach nicht ein Stück des Schraubers mehr übrig.« Mellish lachte barsch. »Ein feiner Ort! Ich würde hier gern mal zwei Monate der Oberboß sein!« Er warf einen Blick auf Magnus Ridolph, der ruhig den Schrauber beobachtete. »Wie ist's mit Ihnen, Ridolph? Glauben Sie, daß man Ihnen das Hemd lassen wird?« »Ich bin gewöhnlich recht gut darin, mich den Umständen anzupassen«, antwortete Ridolph, der Mellish mit gleichmütiger Neugier betrachtete. »Ich hoffe, Ihre Kamera war nicht allzu teuer.« »Was soll das heißen?« Mellish griff nach der Kameratasche. Der Deckel stand offen, die Tasche war leer. Er blickte auf den Zahlmeister, der sich taktvoll umgedreht hatte, dann schaute er sich auf dem Raumhafen um. Die vier Eingeborenen saßen etwa zehn Meter entfernt nebeneinander und beobachteten die drei mit bernsteinfarbigen Augen. »Welcher von ihnen hat sie?« fragte Mellish, dessen Gesicht rot angelaufen war. »Beherrschen Sie sich, Mr. Mellish«, warnte der Zahlmeister, »wenn Sie hoffen, ein Geschäft mit dem König machen zu wollen.« Mellish wirbelte zu Magnus Ridolph herum. »Haben Sie es gesehen. Welcher...« Ein schwaches Lächeln spielte über Magnus Ridolphs Lippen. Er trat näher und händigte Mellish die Kamera aus. »Es hat mich eigentlich nur interes-
siert, wie wachsam Sie eigentlich sind, Mr. Mellish. Ich fürchte, nicht genug für Moritaba.« Mellish blitzte ihn böse an, dann grinste er jedoch wölfisch. »Sind Sie ein Spieler, Ridolph?« Magnus Ridolph schüttelte den Kopf. »Ich gehe hin und wieder ein paar abzuschätzende Risiken ein – aber spielen? Nein, nie!« Bedächtig sagte Mellish: »Nun, ich hätte einen Vorschlag. Sie wollen doch nach Challa?« Magnus Ridolph nickte. »Wie Sie wissen, habe ich eine geschäftliche Verabredung mit dem König.« Mellish bleckte seine gelben Zähne in einem breiten Grinsen. »Wir beide nehmen jeder einige kleinere Gegenstände mit: Uhr, Kamera, Mikromak, Taschenschirm, Rasierer, Zigarettenetui, Wascher, Mikrobibliothek. Dann wird sich herausstellen, wer letztendlich der Wachsamere ist.« Er blickte Ridolph mit erhobenen Brauen an. »Und worum geht's?« erkundigte sich Ridolph kühl. »Oh...« Mellish machte eine nichtssagende ungeduldige Geste. »Sie schulden mir hunderttausend Muniten für das Telex, das Sie von meinem Besitztum stahlen«, sagte Magnus Ridolph. »Entweder Sie setzen das Doppelte, oder aus der Wette wird nichts.« Mellish blinzelte. »Da würde ich ja im Grund genommen zweihunderttausend Muniten gegen nichts setzen, denn die hunderttausend, von denen Sie sprechen, sind nicht einziehbar. Aber ich setze fünfzigtausend bar gegen den gleichen Betrag – wenn Sie soviel haben.« Die Weise, wie Magnus Ridolph ganz leicht die
weißen Brauen hob, die Nase kaum merklich rümpfte, verriet mehr als alle Worte. »Nun, ich glaube, ich kann Ihre Wette halten.« »Stellen Sie einen Scheck aus, ich tue das gleiche. Der Zahlmeister wird beide in Verwahrung nehmen.« »Wie Sie möchten«, sagte Magnus Ridolph. Der Schrauber brachte Mellish und Magnus Ridolph nach Challa, dem Sitz Kanditters, des Königs der Diebe. Als erster überquerten sie einen Arm des alten Meeresgrunds – eine unbeschreibliche Wirrnis aus orangefarbenem, purpurnem und grünem Laubwerk, von brackigen Tümpeln und vereinzelten überwucherten Morästen durchzogen. Dann hoben sie sich über ein Labyrinth weißer Felsen, flogen tief über ein flaches Plateau, wo Herden büffelähnlichen Viehs mit sechs gespreizten Beinen senffarbene Stauden abweideten. Danach abwärts in ein dschungeldunkles Tal auf einen Wald mit hohen Bäumen zu, die sich wie Rauchfahnen dem Himmel entgegenreckten. Eine Lichtung dehnte sich dazwischen aus. Der Schrauber landete. Sie waren in Challa. Magnus Ridolph und Mellish kletterten hinaus und blickten durch den geladenen Maschendraht. Eine Gruppe dunkler, großäugiger Eingeborener standen in respektvoller Entfernung und scharrten ein wenig nervös mit den Füßen in spitzigen Lederschuhen. Ringsum standen Pfahlbauten aus blauem, mit weißen Adern durchzogenem Holz, die mit Platten aus grauer Substanz gedeckt waren. Am Ende einer breiten Straße erhob sich ein größeres Gebäude, dessen Flügel bis unter die Bäume verliefen.
Drei Erdmänner beobachteten die Ankunft des Schraubers mit müdem Interesse. Einer, ein bleicher dünner Mann mit einer gewaltigen Hakennase und hervorquellenden braunen Augen, blinzelte plötzlich ungläubig. Dann schoß er vorwärts. »Mr. Mellish! Na, das ist was! Ich freue mich, Sie wiederzusehen!« »Ganz meinerseits, Tomko«, sagte Mellish. »Wie sieht es aus?« Tomko warf einen Blick auf Magnus Ridolph, dann wandte er sich wieder Mellish zu. »Nun – es steht noch nichts fest, Sir. Old Kanditter, das ist der König, vergibt keine Konzessionen.« »Wir werden ja sehen«, brummte Mellish. Er drehte sich um und brüllte dem Schrauberpiloten zu: »Lassen Sie uns aus diesem Käfig heraus!« »Wenn ich Ihnen zurufe, Sir, brauchen Sie nur diese Tür dort zu öffnen.« Er schritt um den Schrauber herum. »Jetzt!« Mellish und Magnus Ridolph traten hinaus. Jeder trug zwei Koffer aus Magnesiumlegierung. »Können Sie mir sagen, wo ich eine Unterkunft finden kann?« erkundigte sich Magnus Ridolph. Tomko antwortete zweifelnd: »Es stehen gewöhnlich ein paar leere Häuser herum. Wir wohnen in einem Flügel des Königspalasts. Wenn Sie Kanditter Ihre Aufwartung machen, wird er Sie sicher einladen, ebenfalls dort zu wohnen.« »Vielen Dank«, Magnus Ridolph nickte. »Ich werde mich sogleich zu ihm begeben.« Ein Pfeifen veranlaßte ihn, sich umzudrehen. Er sah, daß der Schrauberpilot ihm durch den Maschendraht zuwinkte. Er trat so nahe heran, wie es die La-
dung ohne Gefahr zuließ. »Ich wollte Sie nur warnen«, sagte der Pilot. »Passen Sie beim König gut auf – er ist der Schlimmste von allen. Darum ist er auch König! Er stiehlt, was nicht niet- und nagelfest ist.« Er schüttelte mißbilligend den Kopf und wandte sich wieder seinem Schrauber zu. »Vielen Dank!« rief Magnus Ridolph ihm noch nach. Er spürte eine leichte Vibration am Handgelenk. Er drehte sich um und sagte zu dem Eingeborenen in seiner Nähe: »Dein Messer richtet bei dieser Legierung nichts an, mein Freund. Mit einem Nadelstrahler hättest du vielleicht mehr Glück gehabt.« Wortlos zog der Bursche sich zurück. Magnus Ridolph machte sich auf den Weg zum Königspalast. Es war ein freundliches Bild, das sich ihm hier bot; es erinnerte ein wenig an das alte Polynesien. Das Dorf war sauber und ordentlich angelegt. In unregelmäßigen Abständen zu beiden Seitenstraßen reihten sich kleine Verkaufsstände mit gelben Früchten, etwas, das wie ein glänzend grüner Schlauch aussah, tote garnelenähnliche Insekten, Gläser mit rostfarbenem Pulver. Die Verkäufer saßen nicht hinter den Ständen, sondern davor. Vor dem Palast war ein Pavillon aufgebaut, und dort fand Magnus Ridolph Kanditter, den König der Diebe. Er saß schläfrig in einer Art Liegestuhl. Für Magnus Ridolph unterschied er sich von den anderen Eingeborenen nur durch seinen Kopfputz: eine aus rotgoldenem Metall geflochtene Krone, die mit Telexkristallen besteckt war. Da er sich mit der hiesigen Etikette nicht auskannte, verbeugte Ridolph sich lediglich, als er sich dem
König näherte. »Guten Tag«, sagte der König mit röchelnder Stimme. »Name und Anliegen?« »Ich bin Magnus Ridolph und in Tran auf der Saharasee, Erde, beheimatet. Ich bin hier – nun, um es kurz zu machen –, um...« »An Telex heranzukommen?« »Es wäre dumm von mir, es zu bestreiten.« »Ho!« Der König verlagerte sein Gewicht im Liegestuhl, und seine scharfen dunklen Züge verzerrten sich zu einem haifischähnlichen Grinsen. »Tut mir leid, aber Telexkristalle bleiben auf Moritaba.« Magnus Ridolph nickte. Er hatte es nicht anders erwartet. »Darf ich einstweilen Ihre königliche Gastfreundschaft in Anspruch nehmen?« Das Grinsen des Königs schwand. »Eh? Eh? Was haben Sie gesagt?« »Hätten Sie vielleicht eine Unterbringungsmöglichkeit für mich?« Der König deutete mit weitausholender Geste auf das Ende des Palasts. »Dort ist viel Platz. Eingang ist hinten.« »Vielen Dank.« Magnus Ridolph verneigte sich und schritt in die angegebene Richtung. Im hinteren Teil des Palasts fand Magnus Ridolph eine geeignete Unterkunft: eine Reihe von Zimmern, die sich zum schmalen Weg öffneten. Ihre Ähnlichkeit mit Boxen in einer Stallung wurde durch die Art der Tür – eine gewöhnliche Stalltür – noch erhöht. Aber es war ein durchaus annehmbares Quartier. Hoch über dem Dach wiegten sich die Baumwipfel, und davor ließ die Sonne die rotgoldenen Blätter
aufleuchten. Magnus Ridolph fand eine Liege, eine irdene Kanne mit kühlem Wasser, eine in die Wand eingebaute geschnitzte Holztruhe, und einen Tisch. Leise vor sich hinsummend öffnete Magnus Ridolph die Truhe und blickte hinein. Er lächelte leicht, als er die Rückseite näher betrachtete. Sie sah fest aus, fühlte sich auch fest an, aber er wußte, daß sie von außen geöffnet werden konnte. Die Wände wiesen, außer der Tür, keine Öffnungen auf, offenbar auch keine geheimen. Sie bestanden aus Stämmen des blauen Holzes und waren mit kittähnlichem Harz getüncht. Magnus Ridolph öffnete seine Koffer und legte den Inhalt auf die Liege. Draußen waren Stimmen zu hören. Er schaute hinaus. Mellish näherte sich mit schaukelndem Gang mitten auf dem Pfad. Er hatte sein Bulldoggenkinn vorgeschoben, die Hände zu Fäusten geballt, und die Ellbogen schwangen vor und zurück. Tomko folgte ihm mit den Koffern. Magnus Ridolph nickte höflich und zog sich in sein Zimmer zurück. Er sah Mellish Tomko breit zugrinsen und hörte seinen Kommentar: »Wie gut der alte Ziegenbock in den Stall paßt! Sieht verdammt passend aus, wie sein Bart so über die Tür hängt.« Tomko lachte, wie von ihm erwartet wurde. Magnus Ridolph runzelte die Stirn. Alter Ziegenbock, eh? Er wandte sich der Liege zu – und sah gerade noch Metall blitzen. Er preßte grimmig die Lippen zusammen. Sein Mikromak und sein Aggregat waren verschwunden. Als er unter die Liege schaute, bemerkte er eine Stelle in der Matratze, die dunkler als der Rest war. Als er sich wieder aufrichtete, verschwand soeben sein Taschen-
schirm durch ein Loch hoch oben in der Wand. Magnus Ridolph machte sich daran, hinaus und ins anschließende Zimmer zu laufen, doch dann entschied er sich dagegen. Man konnte ja nie wissen, wie viele Eingeborene sein Zimmer inzwischen ausplündern würden. Er packte alles wieder in seine Koffer, verschloß sie, stellte sie mitten im Zimmer auf den Boden, setzte sich auf die Liege und zündete sich eine Zigarette an. Fünfzehn Minuten hing er seinen Gedanken nach. Ein gedämpftes Aufbrüllen ließ ihn aufblicken. »Verdammter diebischer Halunke!« hörte er Mellish brüllen. Magnus Ridolph grinste kläglich und erhob sich. Mit seinen Koffern trat er hinaus auf die Straße. Der Schrauberpilot las innerhalb seines diebessicheren Käfigs Zeitung. Magnus Ridolph blickte ihn durch den Maschendraht an. »Darf ich reinkommen?« Der Pilot erhob sich, drehte den Schalter. Magnus Ridolph ging auf ihn zu. »Ich habe gerade von Ihnen gelesen«, erklärte ihm der Pilot. »Oh, wirklich?« »Ja – in einer dieser alten Zeitungen. Sehen Sie.« Er deutete mit einem fettigen Zeigefinger auf einen Artikel. GEISTERRÄUBER GEFASST STARPORT BANK RÜHMT IRDISCHEN MEISTERDETEKTIV Die von der Starport Bank geraubte eine Million Muniten wurde von Magnus Ridolph, dem berühmten Gelehrten
und freiberuflichen Kriminalisten, sichergestellt. Heute morgen übergab Mr. Ridolph den Dieb, Arnold McGurk, 35, arbeitsloser Raumfahrer, der Polizei von Starport. Doch auch McGurk brachte kein Licht in diesen rätselhaften Raub, über den die Polizei sich seit zwei Wochen vergebens den Kopf zerbricht. Er weigerte sich auszusagen, wie er in die angeblich diebessichere Bank eingebrochen ist. Er ließ lediglich durchblicken, daß »Geister« es ihm ermöglichten. Auch Magnus Ridolph gab nichts darüber an. Die Polizei mußte zugeben, daß sie über den Modus operandi des Bankräubers nach wie vor im dunkeln tappt... »Ich hätte nie gedacht, daß Sie Detektiv sind«, gestand der Pilot und betrachtete Ridolph respektvoll. »Sie sehen gar nicht wie einer aus.« »Vielen Dank. Das freut mich sehr«, sagte Magnus Ridolph lächelnd. Der Pilot hatte seine Musterung noch nicht beendet. »Ich finde, Sie sehen eher wie ein Professor oder ein Zahnarzt aus.« Magnus Ridolph schüttelte sich fast unmerklich. »Wer waren denn diese ›Geister‹, die in dem Artikel erwähnt wurden, Mr. Ridolph?« erkundigte sich der Pilot neugierig. »Es gab keine«, versicherte ihm Magnus Ridolph. »Es war lediglich eine optische Täuschung.« »Oh«, murmelte der Pilot enttäuscht. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?« fragte Magnus Ridolph. »Sicher – sehr gern.« Magnus Ridolph kritzelte etwas auf ein Blatt seines Notizblocks. »Bitte bringen Sie das vor dem Abflug zum Schiff und geben Sie es dem Funker. Er soll es
als Ulradspezial senden.« Der Pilot steckte das Blatt ein. »Ist das alles?« »Nein«, antwortete Magnus Ridolph. »Ein weiteres Schiff kommt von Starport nach Moritaba – lassen Sie mich nachrechnen – es fährt in vier Tagen ab, ist sechs unterwegs, kommt demnach in zehn Tagen hier an. Es müßte ein Paket für mich mitbringen. Ich möchte gern, daß Sie dieses Paket gleich nach der Landung für mich abholen und sofort zu mir bringen. Sobald ich es in Händen habe, bekommen Sie zweihundert Muniten. Sind Sie damit einverstanden?« »Ja.« Der Pilot nickte. »Ich fliege sofort los.« »Noch etwas«, Magnus Ridolph hielt ihn zurück. »Können Sie Ihre Zunge hüten? Es sollen so wenige wie nur möglich davon erfahren.« »Haben Sie mich vielleicht schon Geheimnisse ausplaudern hören?« konterte der Pilot und räkelte sich. »Wir sehen uns in zehn Tagen wieder.« »Warten Sie – können Sie vielleicht ein wenig Draht und ein Ersatzaggregat entbehren?« fragte Magnus Ridolph. »Ich glaube, ich brauche Schutz.« Magnus Ridolph kehrte mit den Koffern, und was der Pilot ihm an elektrischer Ausrüstung überlassen konnte, in sein Zimmer zurück. Eine halbe Stunde später betrachtete er zufrieden sein Werk. Und jetzt zu den Menschen-Menschen, nahm er sich vor. Ein Gesicht erschien an der Tür. Es war schmal, purpurbraun, hatte große Augen, eine lange dünne Nase, einen Schlitz als Mund, und ein langes scharfes Kinn. »König sagen, du kommen essen.« Der Mann schaute sich neugierig um und berührte die Drähte,
die Magnus Ridolph gespannt hatte. KNISTER – KNATTER! Der Eingeborene japste und sprang zurück. »Hoho«, lachte Magnus Ridolph. »Was hast du denn?« Der Einheimische stieß einen Schwall wütend klingender Worte aus, gestikulierte und fletschte die spitzen weißen Zähne. Endlich verstand Magnus Ridolph, was er ihm zu sagen versuchte: »Warum du mich brennen?« »Um dich davon abzuhalten, etwas von mir zu stehlen«, erklärte Magnus Ridolph. Der Eingeborene zischte abfällig. »Ich alles stehlen, was du haben. Ich großer Dieb! Ich stehlen von König. Ich alles stehlen, was er haben. Dann ich sein König. Ich bester Stehler in Challa, du mir glauben. Ich bald stehlen Krone von Königs Kopf.« Magnus Ridolph blinzelte milde. »Und dann?« »Und dann...« »Ja – und dann?« erklang eine dritte barsche und sehr verärgerte Stimme. König Kanditter machte einen Satz auf den Burschen zu und hieb wütend mit einem Stock auf ihn ein. Der Eingeborene heulte auf und brachte sich in die Büsche in Sicherheit. Hastig unterbrach er die Verbindung zum Aggregat, damit nicht auch der König einen Schlag bekäme und ihn möglicherweise auf gleiche Weise behandelte wie den Burschen. Kanditter warf den Stock von sich und winkte Magnus Ridolph zu sich. »Kommen Sie, wir wollen essen!« »Sofort«, sagte Ridolph. Er griff nach seinen Koffern, löste das Aggregat, klemmte es sich unter den
Arm und wandte sich wieder dem König zu. »Ihre Einladung kommt als freudige Überraschung, Eure Majestät. Ich muß gestehen, daß ich durch die ständige Herumschlepperei meiner Habe einen ziemlichen Appetit entwickle.« »Sie sind wohl sehr vorsichtig?« Kanditter bedachte ihn mit einem dünnen Grinsen. Magnus Ridolph nickte ernst. »Ein sorgloser Mann würde hier innerhalb von Minuten zum Habenichts.« Er schaute den König von der Seite an. »Wie schützen Sie Ihr Eigentum? Sie haben doch zweifellos ein sehr beachtliches – Mikromaks, Aggregate und ähnliches.« »Frau paßt jetzt auf. Frau ist sehr sehr wachsam. Wenn nicht...« Er machte eine bezeichnende kappende Bewegung mit dem langen dunklen Arm. »Ja, Frauen sind sehr nützlich«, bestätigte Magnus Ridolph. Schweigend spazierten sie ein paar Meter dahin. »Wozu wollen Sie Telex?« erkundigte sich der König. »Der Telexkristall«, antwortete Magnus Ridolph, »vibriert – schüttelt sich – sehr schnell. Sehr, sehr, sehr, sehr schnell. Wir benutzen ihn, um Stimmen zu anderen Sternen zu schicken. Die Stimmen können sehr sehr weit und sehr sehr schnell mit dem Schütteln des Telex gesendet werden.« »Zu viel Krach«, bemerkte der König. »Wo sind Ihre Vorkommen?« fragte Magnus Ridolph scheinbar unbefangen. »Ich habe viel davon gehört.« Kanditter gönnte ihm lediglich einen flüchtigen Blick und grinste.
Die Tage vergingen. Die meiste Zeit saß Magnus Ridolph in seinem Zimmer und beschäftigte sich mit den neuesten Fortschritten in der Mathematik und arbeitete an einem eigenen Werk auf dem neuen Gebiet aufeinander abgestimmter Gegensatzprogramme. Mellish sah er kaum, da dieser die meiste Zeit beim König verbrachte, um ihn zu überreden, umzustimmen, einzuwickeln und ihm in aufdringlicher Weise zu schmeicheln, während Tomko sein Gepäck bewachte. Magnus Ridolphs elektrische Barrikade erwies sich als wirksam, solange er selbst sich im Zimmer aufhielt. Mußte er es verlassen, verstaute er alles in seinen Koffern und nahm sie mit. Dieses Benehmen wurde keineswegs als sonderlich auffällig oder gar als Beleidigung erachtet. Wo man hinsah, schleppten die Eingeborenen ihre Habe in Beuteln bei sich, die aus dem Brustpanzer großer in Bäumen lebender Insekten hergestellt waren. Mellish hatte Tomko mit einem verschließbaren Beutel ausgestattet, den dieser um die Brust geschnallt trug, und in dem sich all die Gegenstände befanden, die unter die Bedingungen der Wette fielen – oder vielmehr, was von ihnen noch übrig war. Mit heimlicher Sorge beobachtete Magnus Ridolph, daß Mellish und der König einander immer näher kamen und ihre Vertrautheit wuchs. Stundenlang unterhielten die beiden sich. Mellish brachte dem König Zigarren mit, und der König seinerseits setzte dem Gast Wein vor. Magnus Ridolph schüttelte unzufrieden über diese Entwicklung den Kopf. Wenn Kanditter jetzt Konzessionen vergab, ehe er, Magnus
Ridolph, soweit war, etwas zu unternehmen – das wäre ein Fiasko! Seine schlimmsten Befürchtungen nahmen Form an, als Kanditter sich ihm, der im Schatten vor seinem Zimmer saß, näherte. »Guten Tag, Eure Majestät«, grüßte Magnus Ridolph höflich. Kanditter schnippte mit den langen schwarzen Fingern. »Kommen Sie heute abend«, lud er Ridolph ein. »Viel Essen, viel Trinken – alle kommen.« »Ein Bankett?« erkundigte sich Magnus Ridolph und überlegte bereits, was er tun könnte, um nicht daran teilnehmen zu müssen. »Heute abend geben wir große Neuigkeit für Menschen-Menschen bekannt. Mellish ist guter Mann – feiner Mann. Er braucht Telex, wird aber dem Land nicht schaden. Kein Krach, kein schlimmer Mann, bringt viel Geld.« Magnus Ridolph hob die Brauen. »Sie haben also beschlossen, Mellish die Abbaurechte zu überlassen?« »Mellish ist guter Mann«, wiederholte der König und beobachtete Magnus Ridolph dabei scharf. »Was gewinnen Sie persönlich durch diese Abmachung?« erkundigte sich Magnus Ridolph. »Was meinen Sie?« »Was Sie dafür bekommen?« »Oh – Mellish macht mir Maschine, die sich immer im Kreis dreht. Kann darauf sitzen und Musikkrach kommt. Gut für König. Heißt Karussell. Mellish baut Viertelmunitenkaufladen hier in Challa. Mellish ist guter Mann. Gut für Menschen-Menschen, gut für König.« »Ich verstehe«, murmelte Magnus Ridolph.
»Kommen Sie heute abend«, sagte der König erneut und verschwand, ehe Magnus Ridolph eine gute Ausrede für sein Fernbleiben eingefallen wäre. Das Bankett begann kurz nach Sonnenuntergang vor dem Pavillon. Lampions hingen hoch von den Bäumen. Ihr flackerndes Licht spiegelte sich auf der purpurbraunen Haut der Eingeborenen und brachte die Königskrone genau wie Magnus Ridolphs Koffer zum Glitzern. Letztere hielt ihr Besitzer fest zwischen die Knie geklemmt. Keinerlei Zeremoniell oder Förmlichkeit war mit diesem Essen verbunden. Frauen mit Holztabletts, die üppig mit Obst, jungem Geflügel und den garnelenähnlichen Insekten beladen waren, bedienten die in einem losen Kreis herumsitzenden Männer. Magnus Ridolph aß ein wenig von den Früchten, kostete das Geflügel, rührte jedoch die Insekten nicht an. Dann wurde ein Tablett mit Bechern des heimischen Weines herumgereicht. Magnus Ridolph nippte und beobachtete Mellish neben dem König, der seiner Miene und den Gesten nach zu schließen, Witze erzählte. Nun erhob der König sich und trat hinaus in die Dunkelheit. Mellish beschäftigte sich einstweilen mit dem Wein. Eine Flammenkugel, wie ein Meteor, stürzte aus der Finsternis herab, und landete funkensprühend dicht neben Magnus Ridolph. Er entspannte sich jedoch schnell, als er sah, daß es nur ein etwas schwererer Lampion gewesen war – aber wie nahe an seinem Kopf vorbei! Diese Unvorsicht! Dieser sträfliche Leichtsinn! Aber war es – er
schaute sich nach seinen Koffern um – tatsächlich Leichtsinn gewesen? Die Koffer waren verschwunden! Das Ganze war also gar kein Zufall gewesen! Magnus Ridolph lehnte sich zurück. Nicht nur alle in der Wette einbezogenen Gegenstände waren verschwunden, auch seine frische Kleidung zum Wechseln, seine Papiere, seine Arbeit am Gegensatzprogramm. Kurz darauf kehrte König Kanditter zurück. Er trat ins Licht und stieß einen kurzen schrillen Schrei aus. Sofort setzte Stille ein. Kanditter deutete auf Mellish. »Dieser Mann ist Freund. Er gibt Kanditter und allen MenschenMenschen gute Dinge. Er gibt Karussell, gibt Viertelmunitenkaufladen, baut großes Wasser, das in Luft spritzt – hier in Challa. Mellish ist gut. Morgen gibt Kanditter, König von Menschen-Menschen, Mellish Telex.« Kanditter setzte sich. Die Unterhaltung wurde wieder aufgenommen, die Becher klapperten. Mellish schlurfte auf den kurzen Beinen um den Kreis herum und blieb hinter dem steif sitzenden Magnus Ridolph stehen. »Sehen Sie, mein Freund«, sagte Mellish heiser. »So packe ich die Sache an. Ich bekomme, wohinter ich her bin!« »Bemerkenswert! Sehr bemerkenswert.« »Übrigens«, murmelte Mellish und tat, als sähe er sich um. »Wo haben Sie denn Ihre Koffer? Sagen Sie bloß nicht, daß sie Ihnen gestohlen wurden! Wie bedauerlich für Sie! Aber was sind schon lumpige fünfzigtausend Muniten, eh, Ridolph?« Magnus Ridolph bedachte Mellish mit einem trü-
gerisch milden Blick. »Ich staune über Ihre Einstellung, was Geld betrifft.« Mellish schwang die langen Arme und schaute über die Runde zu Kanditter. »Geld bedeutet mir sehr wenig, Ridolph. Mit der Telex-Konzession – aber auch ohne sie – sorge ich dafür, daß alles so verläuft, wie ich es gern habe.« »Hoffen wir, daß die Dinge sich auch weiter nach Wunsch entwickeln. Entschuldigen Sie mich, ich glaube, ich höre den Schrauber.« Er eilte zur Lichtung. Der Pilot kletterte aus der Kabine und winkte Magnus Ridolph zu. »Ich habe Ihr Paket!« »Ausgezeichnet.« Magnus Ridolph langte in seine Tasche. »Ho! Diese Teufel haben mir auch meine Brieftasche gestohlen!« Er bedachte den Piloten mit einem leicht verlegenen Blick. »Ich bezahle Sie morgen früh – und lege noch etwas dazu. Könnten Sie mir vielleicht helfen, das Paket zu meinem Zimmer zu schaffen?« »Na klar.« Der Pilot griff nach einem Ende des länglichen Pakets, Magnus Ridolph nach dem anderen, und so marschierten sie die Straße hoch. Unterwegs stießen sie auf König Kanditter, der das ungewöhnliche Bündel mit sichtlichem Interesse betrachtete. »Was ist das?« »Ah«, antwortete Magnus Ridolph. »Das ist eine wundervolle neue Maschine – etwas Großartiges!« »Ts, ts, ts«, machte der König und blickte ihnen nach. In seinem Zimmer blickte Magnus Ridolph sich einen Augenblick überlegend um. »Eines noch – dürfte ich mir Ihre Taschenlampe bis morgen ausborgen?«
Der Pilot reichte sie ihm. »Aber passen Sie bitte auf, daß diese Teufel sie nicht auch noch klauen!« Magnus Ridolph nickte und wünschte dem Piloten eine angenehme Nacht. Als er allein war, löste er das Klebeband, riß das Verpackungsmaterial auf, zog eine Dose aus der Kiste, danach einen größeren Aluminiumbehälter mit einem transparenten Fenster. Magnus Ridolph spähte hindurch und grinste. Der Behälter schien voll von huschenden Schatten zu sein – schleierfeine Formen, die nur vage sichtbar waren. In einer Ecke des rechteckigen Behälters befand sich eine schwarze narbige Kugel von acht Zentimetern Durchmesser. Magnus Ridolph öffnete die Dose aus der Kiste, tropfte ein wenig von ihrem Inhalt auf die Taschenlampe und stellte die Lampe auf seine Liege. Dann trug er den Aluminiumbehälter ins Freie, setzte sich daneben und wartete. Fünf Minuten vergingen, zehn... Er warf einen Blick ins Zimmer und nickte zufrieden. Die Taschenlampe war verschwunden. Er kehrte ins Zimmer zurück und strich sich den Bart. Er mußte sichergehen. Als er wieder hinausschaute, sah er den Piloten vor Mellishs Zimmer stehen und sich mit Tomko unterhalten; Magnus Ridolph rief ihn zurück. »Würden Sie so lieb sein und auf meine Kiste aufpassen, bis ich zurück bin?« bat er. »Ich brauche nicht lange.« »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte der Pilot großzügig. »Ich habe nichts vor.« »Danke, aber ich werde nicht lange ausbleiben«, versicherte ihm Magnus Ridolph. Er goß ein wenig des Öles aus der Dose auf sein Handtuch. Der Pilot
sah ihm neugierig dabei zu. Dann machte Ridolph sich auf den Weg zur Behausung des Königs. Er fand Kanditter im Pavillon, wo er mit dem Wein aufräumte. Magnus Ridolph grüßte höflich. »Wie geht es Ihrer Maschine?« erkundigte sich Kanditter. »Sie funktioniert«, versicherte ihm Magnus Ridolph. »Sie hat inzwischen bereits ein Tuch hergestellt, das alles Metall wie die Sonne glänzen läßt. Ich möchte es Ihnen als Zeichen meiner Verehrung schenken.« Eifrig griff Kanditter nach dem Taschentuch. »Bringt zum Glänzen, sagen Sie?« »Wie Gold«, bestätigte Magnus Ridolph. »Wie Telexkristall.« »Ah!« Kanditter drehte sich um. Magnus Ridolph wünschte ihm eine angenehme Nacht und kehrte zu seinem Zimmer zurück. Der Pilot zog sich zurück. Magnus Ridolph rieb sich die Hände, öffnete den Aluminiumbehälter, griff hinein, holte den narbigen schwarzen Ball heraus und legte ihn auf sein Bett. Sich überschlagend, rennend, fließend kamen zwei – vier – sechs – ein Dutzend schleierfeine Gestalten heraus, die auf hauchdünnen Beinen dahinglitten, wandelten, huschten, mit den Schatten im Zimmer verschmolzen und nur manchmal vage gesehen und sonst kaum geahnt werden konnten. »Macht euch auf den Weg!« sagte Magnus Ridolph. »Fort mit euch, meine behenden Freunde! Ihr habt viel zu tun.« Zwanzig Minuten später huschte eine geisterhafte, flimmernde Gestalt durch die Tür und legte ein Aggregat neben die schwarze Kugel.
»Gut«, lobte Magnus Ridolph. »Und nun zum nächsten!« Ein ungewohntes lautes Stimmengewirr vom Pavillon weckte Ellis B. Mellish am nächsten Morgen. Er hob den Kopf vom Kissen und blinzelte durch verquollene rote Augen. »Schluß mit dem Krach!« knurrte er ungehalten. Tomko, der quer über Mellishs Gepäck schlief, setzte sich ruckhaft auf, sprang auf die Füße, stolperte zur Tür und spähte hinaus. »Am Pavillon ist eine riesige Menschen-MenschenMenge. Alle brüllen durcheinander – ich kann nichts verstehen.« Ein schmales purpurbraunes Gesicht blickte zur Tür herein. »König sagen, kommen jetzt.« Der Bursche blieb erwartungsvoll stehen. Mellish stieß einen rasselnden Laut durch die Nase aus und drehte sich im Bett um. »Na gut – ich komme gleich.« Der Eingeborene stapfte davon. »Aufdringliche Barbaren!« knurrte Mellish. Er stand auf, zog sich an, tauchte sein Gesicht in kaltes Wasser. Er wandte sich wieder an Tomko. »Ich bin verdammt froh, wenn ich endlich von hier weg bin. Es ist ja, als lebte man im Mittelalter!« Tomko drückte durch ein paar gemurmelte Worte sein Mitgefühl aus und reichte Mellish ein frisches Handtuch. Schließlich trat Mellish auf die Straße und schlurfte ein wenig müde zum Palast. Die Menge am Pavillon schien sich noch erhöht zu haben. Die Massen von Menschen-Menschen drängten sich eng zusammen, kauerten teilweise auf dem Boden oder wiegten sich leicht im Stehen, und redeten aufeinander ein.
Mellish hielt kurz an und blickte über die unzähligen schmalen purpurbraunen Rücken. Plötzlich sackte sein Kinn hinab, als hinge ein schweres Gewicht daran. »Guten Morgen, Mellish«, grüßte Magnus Ridolph. »Was machen Sie hier?« polterte Mellish. »Wo ist der König?« Magnus Ridolph sog an seiner Zigarette, stäubte die Asche auf den Boden und überkreuzte die Beine. »Der König bin jetzt ich – der König der Diebe.« »Sind Sie verrückt?« »Keineswegs«, antwortete Ridolph lächelnd. »Ich trage die Krone – ergo bin ich der König.« Mit den Zehen stupste er einen neben ihm kauernden Eingeborenen. »Sag es ihm, Kanditter!« Der Exmonarch drehte den Kopf. »Magnus jetzt König. Er hat die Krone gestohlen – darum ist er König. So ist Gesetz bei Menschen-Menschen. Magnus ist großer Dieb!« »Lächerlich!« tobte Mellish und tat ein paar Schritte vorwärts. »Was ist mit unserer Abmachung, Kanditter?« »Sie werden jetzt mit mir verhandeln müssen«, erklärte Magnus Ridolph freundlich. »Kanditter hat mit dergleichen nichts mehr zu tun.« »Ich denke ja gar nicht daran!« entrüstete Mellish sich, und seine Augen funkelten böse. »Ich habe eine Vereinbarung mit Kanditter getroffen...« »Das nutzt Ihnen gar nichts«, sagte Magnus Ridolph. »Der neue König hat sie annulliert. Ach ja, und weil wir gerade dabei sind, sollten wir auch die Sache mit der Wette klären. Ich habe meinen gesamten Besitz, nur meine Uhr fehlt, und, wie ich glaube, einen großen Teil des Ihren. Ehrlich gestohlen, verstehen
Sie? Nicht durch königliches Dekret beschlagnahmt.« Mellish kaute an seiner Lippe. Plötzlich blickte er auf. »Wissen Sie, wo das Telexvorkommen ist?« »Genau.« »Nun«, sagte Mellish und kam ein paar Schritte näher. »Mit mir kann man reden.« Magnus Ridolph beugte den Kopf und schien sich offenbar sehr für den Nadelstrahler zu interessieren, den er aus einer Tasche gezogen hatte. »Noch ein Stück aus Kanditters Besitz... Was sagten Sie?« »Daß man mit mir reden kann«, wiederholte Mellish ein wenig zögernd. »Dann werden Sie mir beipflichten, daß fünfhunderttausend Muniten ein annehmbarer Preis für die Telexkonzession ist. Und natürlich steht mir eine Gewinnbeteiligung zu – ich würde sagen, ein Prozent des Bruttoertrags ist nicht zu viel. Pflichten Sie mir da nicht bei?« Mellish Knie wurden weich. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Außerdem«, erinnerte ihn Magnus Ridolph, »schulden Sie mir noch hunderttausend Muniten für die Ausbeutung meines Besitzes auf Ophir, und fünfzigtausend für die verlorene Wette.« »Damit werden Sie nicht durchkommen!« schrie Mellish, aber seine Stimme zitterte. »Sie haben genau zwei Minuten, sich zu entscheiden«, erklärte Magnus Ridolph. »Sind Sie zu meinen Bedingungen nicht an der Mine interessiert, werde ich eine Ulradnachricht schicken, die Konzession in meinem eigenen Namen anmelden und die nötigen Maschinen etc. bestellen.« Eine ungeheure Last schien auf Mellish zu drücken.
»König der Diebe – König der Blutsauger – Wucherer – wären viel bessere Bezeichnungen für Sie. Nun gut, ich gehe auf Ihre Bedingungen ein!« »Stellen Sie mir einen Scheck aus«, forderte Magnus Ridolph ihn auf, »und auch einen Vertrag mit allen Stipulationen. Sobald der Scheck eingelöst ist, erfahren Sie alles Nötige von mir.« Erneut protestierte Mellish, doch als er in Magnus Ridolphs milde blaue Augen blickte, hielt er mitten im Satz inne. Er schaute über die Schulter. »Tomko! Wo sind Sie, Tomko?« »Hier, Sir.« »Mein Scheckbuch.« Tomko zögerte verlegen. »Nun?« »Es wurde gestohlen, Sir.« Magnus Ridolph hob die Hand. »Keine Szene, Mr. Mellish, geben Sie nicht Ihrem Untergebenen die Schuld. Wenn ich mich nicht täusche, befindet auch dieses bestimmte Scheckbuch sich unter meinen Habseligkeiten.« Die Nacht hatte sich auf Challa herabgesenkt, und friedliche Stille herrschte. Ein paar Feuer schwelten noch, und der begrenzte Schein ihrer Glut fiel auf das Netzwerk der Stelzenbeine, die die Pfahlbauten hielten. Zwei Schatten huschten über den laubbedeckten Pfad. Der breitere verließ ihn und öffnete lautlos eine Tür. KNISTER! PRASSEL! »Au!« heulte Mellish auf. »Auweh!« Sein heftiges Umsichschlagen und Hüpfen brach die
Verbindung. Mellish kam frei und keuchte schwer. »Ja?« erkundigte sich eine milde Stimme. »Was gibt es denn?« Mellish kam einen Schritt auf ihn zu und schaltete die Taschenlampe ein. Ihr Schein fiel geradewegs auf den blinzelnden Magnus Ridolph. »Leuchten Sie irgendwo anders hin!« ersuchte letzterer. »Als König der Diebe darf ich doch wahrhaftig ein wenig Zuvorkommenheit erwarten.« »Gewiß«, antwortete Mellish spöttisch. »Aber gewiß doch, Eure Majestät. Tomko – kümmern Sie sich um das Licht!« Tomko nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und stellte sie so auf den Tisch, daß sie das Zimmer schwach erhellte, ohne jemanden zu blenden. »Ist es nicht eine etwas ungewöhnliche Zeit für einen Besuch?« fragte Magnus Ridolph und griff unter sein Kopfkissen. »Halten Sie Ihre Hand still!« donnerte Mellish und richtete eine Nuklearpistole auf ihn. »Die geringste Bewegung wird Ihre letzte sein!« Magnus Ridolph zuckte die Achseln. »Was wollen Sie?« Mellish machte es sich auf einem Stuhl bequem. »Als erstes verlange ich meinen Scheck zurück und den Vertrag. Zweitens werden Sie mir den genauen Ort des Telexvorkommens verraten! Drittens, händigen Sie mir jetzt die Krone aus. Offenbar ist die einzige Möglichkeit, hier zu bekommen, was man will, König zu sein. Also will ich König sein.« Er deutete mit dem Kopf. »Tomko!« »Jawohl Sir?« »Nehmen Sie die Pistole! Erschießen Sie ihn bei der
geringsten Bewegung!« Vorsichtig nahm Tomko die Waffe. Mellish lehnte sich genüßlich zurück und zündete sich eine Zigarre an. »Erzählen Sie mir doch, wie Sie König geworden sind, Ridolph! Was bedeutet dieses ganze Gerede über Geister?« »Ich ziehe es vor, dieses Geheimnis zu wahren.« »Sie werden reden!« erklärte Mellish grimmig. »Oder Sie sind ein toter Mann!« Magnus Ridolph warf einen Blick auf Tomko, der die Nuklearpistole mit zwei zitternden Händen hielt. »Nun, wie Sie meinen. Kennen Sie den Planeten Archaemandryx?« »Ich habe von ihm gehört – er liegt irgendwo in Argo.« »Ich war nie selbst auf Archaemandryx«, gestand Magnus Ridolph. »Doch ein Freund beschrieb ihn mir als sehr ungewöhnlich in so mancherlei Hinsicht. Es ist eine metallreiche Welt – Gebirgsketten aus metallischem Silizium...« »Genug dieser unwichtigen Erklärungen!« schnaubte Mellish. »Fahren Sie ohne Umschweife fort!« Magnus Ridolph seufzte vorwurfsvoll. »Zu den einheimischen Spezies gehören die fast gasartigen Lebewesen, die Sie Geister nennen. Sie leben in Kolonien, alle um einen Kern konzentriert. Dieser Kern ist die Energiequelle der Kolonie. Die Geister bringen ihm den Brennstoff, und er überträgt die Energie auf einer günstigen Wellenlänge. Brennstoff ist Uran, und jegliche Uranverbindung wird von dem Kern aufgenommen. Dieser Freund glaubte, sich die Eigenschaft dieser Wesen zunutze machen zu können – nämlich, indem
er mit ihrer Hilfe die Bank von Starport ausraubte. Also brachte er eine dieser Kolonien nach New Acquitain, wo er eine Zahl 100-Muniten-Noten mit einer aromatischen Uranverbindung betupfte und sie in der Bank deponierte. Dann brauchte er nur die Koloniekiste zu öffnen und zu warten, bis die Geister mit Millionen urandurchdrungenen Geldscheinen zurückkehrten. Ich war zufällig in der Nähe, als er verhaftet wurde. Das heißt...« – Magnus Ridolph strich sein blauweiß gestreiftes Nachthemd zurecht – »... ich hatte in gewisser Weise damit zu tun. Als die Zuständigen daran dachten, zu fragen, wie mein Freund diesen Raub durchgeführt hatte, war die ganze Kolonie verschwunden.« Mellish nickte verständnisvoll. »Aha. Sie brachten den König irgendwie dazu, seine gesamte Habe mit Uran zu betupfen, und dann ließen Sie Ihre Geister los.« »Richtig.« Mellish blies den Zigarrenrauch aus. »Und nun will ich die genaue Beschreibung, wie ich zu dem Uranvorkommen gelange.« Magnus Ridolph schüttelte den Kopf. »Diese Information erhalten Sie erst, wenn ich Ihren Scheck eingelöst habe.« Mellish grinste wölfisch. »Sagen Sie es mir lieber, solange Sie Gelegenheit dazu haben – sonst erfahre ich es morgen von Kanditter, nachdem Sie tot sind! Ich gebe Ihnen zehn Sekunden, sich zu entscheiden.« Magnus Ridolph hob die Brauen. »Mord?« Er blickte Tomko an, dem Schweißtropfen auf der Stirn perlten und dessen Finger um die Nuklearpistole
immer noch zitterten. »Nennen Sie es, wie Sie wollen«, antwortete Mellish. »Acht – neun – zehn! Reden Sie?« »Ich wüßte nicht...« Mellish wandte sich scharf an Tomko: »Schießen Sie!« Tomkos Zähne klapperten, seine Hände bebten nun ganz stark. »Schießen!« donnerte Mellish ihn an. Tomko preßte die Lider zusammen und drückte auf den Abzug. KLICK! »Vielleicht hätte ich erwähnen sollen«, sagte Magnus Ridolph, »daß unter den ersten Sachen, die meine Geister mir brachten, die Munition für Ihre Pistole war, die ja, wie Sie wissen, Uran ist.« Er holte seinen Nadelstrahler unter dem Kopfkissen hervor. »Und nun, gute Nacht, meine Herren. Es ist wirklich spät, und morgen ist noch früh genug, die Strafe von fünfzigtausend Muniten von Ihnen zu kassieren, die Sie für Ihre Vergehen zu entrichten haben.« »Welche Vergehen?« brauste Mellish auf. »Sie können überhaupt nichts beweisen.« »Die Nachtruhe des Königs der Diebe zu stören ist ein schweres Verbrechen«, erklärte ihm Magnus Ridolph. »Wenn Sie diese Geldbuße jedoch nicht bezahlen wollen, steht Ihnen immer noch die Flucht offen. Der Landweg nach Gollabolla beginnt am Ende dieses Pfades. Sie würden nicht verfolgt werden.« »Sie sind ja verrückt! Wir würden im Dschungel umkommen!« »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, antwortete Magnus Ridolph gleichmütig. »Auf jeden Fall jetzt: gute Nacht!«
KURORT ZWISCHEN DEN STERNEN Schlaff wie ein Kissen saß Joe Blaine in seinem Drehsessel und kaute morbid an seiner kalten Zigarre; die Beine ruhten auf dem Schreibtisch. Mit einer Hand, die nur aus Fleisch und keinen Knochen zu bestehen schien, strich er über das rosige Doppelkinn. In seinem Leben war Joe Blaine des öfteren von einem Extrem ins andere gefallen. Zeiten höchsten Triumphes hatten solchen schlimmster Mißerfolge Platz gemacht – und umgekehrt, und der Wechselfälle aller Arten hatte es unzählige gegeben. Aber in einer Situation wie hier mit dem Sternenkurort war er noch nie gewesen. Draußen schien die weiße Sonne Eta Pisces mit prickelnder Leuchtkraft auf eine glitzernd weiße, grüne und blaue Landschaft. (Erfreuen Sie sich des wundersamen Lichtes der gesündesten Sonne des Sternhaufens in einer wirklich traumhaft schönen Umgebung – das war ein Auszug aus der Werbebroschüre.) Die sanften Wogen des trägen Meeres stahlen sich über einen herrlichen Sandstrand, hinter dem sich ein Dschungelwall hundertdreißig Meter, steil wie eine Felswand, dem Himmel entgegenreckte. (Erholung am Rand unerforschter Dschungelgeheimnisse, stand in der Broschüre, und das Bild daneben stellte eine hübsche nackte Frau mit apfelgrüner Haut dar, die unter einem Baum mit leuchtenden roten und schwarzen Blüten stand.) Ein großes Hotel, ein kilometerlanger Strand, hundert orangefarbene und grüne Strandkörbe, eine riesige Tanzfläche im Freien, ein Theater, Tennisplätze,
Segelboote, eine Reihe exklusiver Läden unter einer Arkade, ein Rennplatz mit Tribünen und Stallungen – das war der Sternenkurort, genau wie Joe Blaine ihn sich vorgestellt hatte. Außer der grünhäutigen Frau fehlte nichts. Hätte Joe Blaine gewußt, wie er zu einer kommen könnte, wäre auch sie dort gewesen. Und doch fehlte etwas. Joe hatte sich das Hotelfoyer voll eleganter Damen vorgestellt, und den Strand dicht gedrängt mit sonnengebräunten Leibern. Vor seinem inneren Auge hatte Joe einen Wetteifrigen neben dem anderen auf den Tribünen gesehen, die sich über ihre Einsätze unterhielten; und an allen sieben Bars einen so dichten Ansturm, daß die Barkeeper ins Schwitzen kamen und sich über die zu viele Arbeit beschwerten... Brummelnd warf Joe Blaine die Zigarre zum Fenster hinaus. Die Tür glitt zurück. Mayla, seine Sekretärin, trat ein. Ihr Haar war so hell wie der Sand am Strand, und ihre Augen strahlten in dem gleichen Blau wie das Meer, ehe es über den Strand spülte. Sie war schlank, rank, graziös und zum Anbeißen appetitlich. Sie war ein Geschöpf mit mehr Instinkt als Intellekt, genau das, was Joe gesucht hatte. Beim Durchqueren des Zimmers strich sie über die rosige Stelle unter dem dünnen Haar. »Kopf hoch, Joe, so schlimm kann es doch nicht sein!« Diese Worte waren der Katalysator, der Joes Trübsinn zum wütenden Aufbegehren machte. »Wie könnte es schlimmer sein? Willst du mir das sagen? Zehn Millionen Muniten haben wir hier investiert – und statt, daß das Haus voll ist, haben wir lediglich drei zahlende Gäste!«
Mayla setzte sich in einen Sessel und saugzündete sich eine Zigarette an. »Wenn sich erst der Wirbel wegen der Unfälle gelegt hat, kommen sie zurück wie die Fliegen. Schließlich haben wir eine Menge Publicity...« »Publicity! Und was für eine! Neun Badegäste gleich am ersten Tag von Seekäfern getötet! Die Gorillawesen, die diese Mädchen in den Dschungel zerrten! Ganz zu schweigen von den Flugschlangen und Drachen... Himmel, diese Drachen! Und da sprichst du von Publicity?!« Mayla fuhr sich übers Haar. »Nun – vielleicht hast du recht. Auf jemanden, der die Umstände nicht kennt, macht es sicher einen schlechten Eindruck.« »Von welchen Umständen sprichst du?« »Nun, ich meine, daß Kolama ein wilder Planet ist, weder erforscht noch zivilisiert.« »Du denkst also«, sagte Blaine mit tiefem Ernst, »daß es den Menschen weniger ausmacht, von furchtbaren Ungeheuern verschlungen zu werden, wenn sie wissen, daß sie sich auf einem wilden Planeten befinden?« Mayla schüttelte den Kopf. »Nun, ganz genauso habe ich es nicht gemeint...« »Da bin ich aber froh«, brummte Joe. »Ich dachte eher daran, daß sie dann ein paar Risiken in Kauf nehmen würden.« Blaine hob geschlagen die Hände und sank tiefer in seinen Sessel. Er griff nach einer neuen Zigarre und zündete sie an. »Vielleicht«, sagte Mayla nach einer kurzen Pause, »könnten wir das Ganze als Jagdgebiet hinstellen – dann würden wir eine andere Art von Gästen anzie-
hen, die um des Nervenkitzels wegen hierherkommen.« Joe bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Du solltest wirklich wissen, daß niemand auf Großwildjagd – oder überhaupt auf Jagd – geht, wenn auch nur die geringste Gefahr besteht, daß sie selbst dabei verletzt oder gar getötet werden könnten. Hier stehen die Chancen für Jäger und Wild gleich – das hält auf jeden Fall die Burschen fern, die risikolos Blut vergießen wollen...« Das Sichtfon summte. Joe drehte sich mißmutig um. »Was, zum...« Er schaltete ein. Der Schirm leuchtete rosig auf. »Offenbar Fernverbindung.« »Starport ruft Joe Blaine«, meldete die Dame vom Amt. »Am Schirm.« Auf der Sichtscheibe erschien ein schmales Gesicht – das fast nur aus Augen, Nase und Zähnen zu bestehen schien; ein Gesicht, das listig und berechnend wirkte und trotzdem irgend etwas an sich haben mußte, das Frauen anziehend fanden. Es gehörte Blaines Partner, Lucky Woolrich. »Was, zum Teufel, willst du denn?« erkundigte sich Joe ungehalten. »Weißt du nicht, daß eine Minute Interplanet acht Muniten kostet?« Kurz sagte Lucky: »Ich wollte mich nur erkundigen, ob du das Problem gelöst hast.« »Verdammt!« heulte Joe auf. »Wofür hältst du mich? Ich habe Angst, auch nur einen Fuß vors Hotel zu setzen!« »Wir müssen etwas unternehmen!« erklärte Woolrich. »Zehn Millionen Muniten sind ein Haufen Geld, zu viel, um es in den Kamin zu schreiben!«
»Da pflichte ich dir allerdings bei!« »Ich verstehe es nicht«, brummte Lucky. »Bei den ganzen Bauarbeiten kam es nicht zu einem einzigen Unfall. Alles war friedlich, bis wir den Betrieb eröffneten. Kommt dir das nicht spanisch vor?« »Das kann man wohl sagen! Aber ich verstehe es nicht, so sehr ich mir auch den Kopf darüber zerbrochen habe!« »Nun, ich rufe hauptsächlich, um dir zu sagen, daß ich komme. Dürfte in etwa vier Tagen dort sein. Ich bringe einen Detektiv mit.« »Wir brauchen keinen Detektiv, sondern einen Großwildjäger – und nicht nur einen!« Lucky ignorierte ihn. »Ich habe genau den richtigen Mann. Wenn uns überhaupt jemand helfen kann, dann er. Er wurde mir wärmstens empfohlen. Magnus Ridolph heißt er. Ein berühmtes Genie, hat das musikalische Kaleidoskop erfunden.« »Ah, genau das Richtige! Wir lassen sie sich zu Tode tanzen!« »Laß den Sarkasmus!« rügte Lucky. »Für Geschäftliches sind acht Muniten die Minute nicht viel, wohl aber für dumme Bemerkungen!« »Nun, ich möchte zumindest auch etwas für mein Geld haben!« erklärte Blaine mürrisch. »Zehn Millionen Muniten und jeder Cent bringt nichts als Sorgen!« »Bis in vier Tagen!« verabschiedete sich Lucky kühl. Der Schirm erlosch. Joe stand auf und stapfte hin und her. Mayla beobachtete ihn voll Besitzerstolz. Sie, die von fünfzig Männern neunundvierzig hätte haben können, fand Joe den nettesten, den sie je kennengelernt hatte.
Ein hochgewachsener eckiger Mann in der Hotellivree kam ins Büro gestürmt. Bei jedem Schritt stieß er mit dem Knie fast ans Kinn. »Nun, Wilbur?« fragte Blaine scharf. »Oh, Joe – Sie kennen doch die kleine, taube, alte Dame? Die ein bißchen verschrobene?« »Natürlich kenne ich sie! Ich werde doch wohl gerade noch jeden unserer drei Gäste hier kennen. Was ist denn mit ihr?« »Einer dieser Drachen stürzte sich auf sie herab. Er hätte sie auch erwischt, wenn es ihr nicht gerade noch gelungen wäre, unter eine Bank zu tauchen. Dieses Monstrum kam aus dem heiteren Himmel herabgeschossen – groß wie ein Haus war die Bestie! Großer Gott, ist die Frau wütend! Sagt, sie würde Sie verklagen, weil das Ungeheuer sie auf Hotelterritorium angegriffen hat.« Joe Blaine zupfte an seinem spärlichen Haar und kaute an der Zigarre. »Gib mir Kraft! Oh, gib mir Kraft...« »Wie wär's mit einem Drink?« schlug Mayla vor. Joe nickte. »Ja, bitte, mix einen für uns!« Stand man ihm gegenüber, war Lucky bei weitem nicht so groß, wie er auf dem Schirm gewirkt hatte – er erreichte kaum Joes Größe, war jedoch schmäler und gepflegter. »Joe«, sagte er. »Ich möchte dich mit Mr. Ridolph bekannt machen. Er ist der Sachverständige, den ich erwähnt habe.« Lucky deutete unauffällig auf den schmächtigen Mann im dunklen Anzug mit dem ordentlichen weißen Bart, der geistesabwesend im Foyer herumwanderte und sich überall umsah, wie ein
kleines Kind, das einen Zirkus betritt. Blaine warf einen Blick auf ihn, dann schaute er Lucky angeekelt an. »Sachverständiger? Dieser alte Ziegenbock? Wofür?« murmelte er. Laut sagte er mit übertriebener Herzlichkeit: »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Ridolph. Wie schön, daß Sie es ermöglichen konnten, hierherzukommen, um uns zu helfen. Wir brauchen hier einen Fachmann, der sich mit unseren Problemen auseinandersetzt.« Magnus Ridolph schüttelte ihm ein wenig geziert die Hand. »Freut mich, auch Sie kennenzulernen, Mr. Woolrich!« »Ich bin Woolrich«, warf Lucky ein. »Das ist Mr. Blaine.« »Oh, entschuldigen Sie, Mr. Blaine!« Magnus Ridolph nickte, um zu zeigen, daß er die Verbesserung nicht übelnahm. »Es muß ja ein herrlicher Aufenthalt bei Ihnen sein, alles so friedlich und ruhig, so gefällt es mir.« Blaine rollte die Augen hoch. »Es ist durchaus nicht friedlich, und ich mag es gar nicht, wenn es ruhig ist.« Lucky lachte und schlug Magnus Ridolph auf den knochigen Rucken. Ridolph drehte sich um und bedachte Lucky mit einem eisigen Blick. »Geh ihm nicht auf den Leim, Joe!« warnte Lucky grinsend. »Er will seine Kunden nur täuschen. Er ist so schlau, wie es keinen zweiten gibt.« Joe betrachtete Magnus Ridolph wie eine Hausfrau, die das angebotene Fleischstück im Metzgerladen ablehnt, dann wandte er sich ab und schüttelte den Kopf. Plötzlich erstarrte er. Ein grauenvoller Lärm
drang von draußen herein, ein wildes Heulen... Lucky und Joe wechselten einen Blick und rannten zur Tür. Hoch am Himmel, fast senkrecht über ihnen, flatterten zwei gigantische Ungeheuer und hieben mit gewaltigen Fängen aufeinander ein. Das Heulen und Geschrei drang trotz der Entfernung durch Mark und Bein. Blaine faßte Magnus Ridolph am Ellbogen. »Es sind Tausende!« brüllte er in Magnus Ridolphs Ohr. »Sie warten nur darauf, daß jemand Fuß auf den Strand setzt. Wir müssen sie loswerden! Auch die sechseinhalb Meter langen Scherenkäfer, von denen es im Meer wimmelt, und einige der halbtonnenschweren Gorillas, die viele menschliche Neigungen haben. Von den Flugschlangen ganz zu schweigen.« »Es scheinen wirklich ziemlich wilde Kreaturen zu sein«, sagte Magnus Ridolph mild. Der Kampf am Himmel verlor plötzlich an Höhe. Unwillkürlich zuckten die drei Zuschauer zurück. »Fort mit euch!« brüllte Joe. »Husch, husch, weg!« Blutstropfen fielen wie Regen. Klauen rissen, zerrten. Ein schriller Schrei durchschnitt die Luft, der die Nerven erzittern ließ. Eines der Monster schwankte und begann langsam mit ungeheurer Würde zu fallen. Lucky stieß einen würgenden Schrei aus. Joe brüllte: »Nein, nein, nein...« Hals über Kopf sackte der zerfetzte Leib fast direkt über ihren Köpfen herab. Durch das Hoteldach stürzte er in den Speisesaal. Glassplitter spritzten dreißig Meter weit in alle Richtungen. Ein konvulsivisches Flattern der Flügeln richtete weiteren Schaden an. Und nun stieß auch noch der Sieger auf mächtigen Lederschwingen herab, ließ sich zischend auf die
Trümmer fallen und begann am Fleisch seines Gegners zu reißen. Joe heulte laut auf. Lucky drehte sich um. Er rannte zum Schreibtisch und kehrte mit einem Granatgewehr zurück. »Ich werde dieser zu groß gewordenen Echse eine Lehre erteilen!« knurrte er. Er zielte und druckte auf den Abzug. Teile des Drachens und des Hotels spritzten über den Strand. Danach herrschte drückendes Schweigen, bis Blaine schließlich hoffnungslos sagte: »Das wär's wohl! Das ist unser Ende!« Magnus Ridolph räusperte sich sanft. »Vielleicht ist die Lage gar nicht so ernst, wie Sie glauben.« »Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stekken. Wir haben einen Fehler gemacht. Kolama ist mehr, als wir verdauen können. Wir müssen uns mit unserem Verlust abfinden.« »Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn, Joe!« mahnte Lucky. »Vielleicht ist es wirklich nicht so schlimm. Mr. Ridolph meint, wir hätten eine Chance.« Joe schnaubte verächtlich. »Könnten Sie denn nicht Schrauberwachen aufstellen und alle abschießen, die hierherkommen?« fragte Magnus Ridolph. Blaine schüttelte resignierend den Kopf. »Sie fliegen viel zu hoch und stoßen so plötzlich wie Raubvögel herab. Ich habe sie hinreichend beobachtet. Wir können sie nicht fernhalten. Und einer oder zwei sind genauso schlecht für unseren Betrieb wie hundert.« Lucky zupfte an seiner Lippe. »Ich möchte wirklich wissen, warum wir beim Bau keine Schwierigkeiten hatten.«
Joe schüttelte den Kopf. »Ich versteh's auch nicht. Solange die Mollies da waren, ließen die Bestien sich nicht blicken. Kaum verließen sie uns, fing das Theater an.« Magnus Ridolph blickte Lucky fragend an. »Mollies? Wer oder was sind Mollies?« »So nennt Joe die Eingeborenen«, erklärte Lucky ihm. »Sie halfen uns beim Bau.« »Haben den Aushub gemacht«, warf Joe ein. »Warum sehen Sie dann nicht zu, daß sie ein paar von ihnen hierbehalten?« schlug Magnus Ridolph vor. Blaine schüttelte den Kopf. »Niemand könnte ihren Gestank aushalten. Es muß wohl auch ihr Gestank sein, der die Bestien fernhält. Weiß Gott, ich kann es verstehen.« Magnus Ridolph dachte nach. »Möglich, wenn ihr Geruch außergewöhnlich stark und scharf ist.« »Das ist er allerdings.« Magnus Ridolph strich über seinen Bart. »Welche Art von Wesen sind diese – ›Mollies‹?« »Nun«, antwortete Joe bedächtig. »Stellen Sie sich eine etwa einsdreißig große Garnele vor, die auf kleinen Stummelbeinen herumläuft – eine fette graue Garnele, mit großen glänzenden Augen. So sehen die Mollies aus.« »Sind sie intelligent? Haben Sie Kontakt zu ihnen?« »Ich nehme an, man kann sie intelligent nennen. Sie leben in großen Hügeln im Dschungel. Sie tun nichts Böses und sind sehr hilfsbereit. Wir bezahlten sie mit Töpfen, Pfannen und Messern.« »Wie verständigen Sie sich mit Ihnen?« »Ihre Sprache besteht aus Quiektönen.« Joe spitzte
die Lippen. »Quiek – quick-quick!« Er räusperte sich. »Das bedeutet: ›Komm her!‹« »Hmm«, murmelte Magnus Ridolph. »Und wie sagt man ›geh weg!‹« »Quick – kiek-kiek!« »Hm.« »Quiek, kiek, kiek, kiek – das heißt soviel wie: ›wird Zeit, Feierabend zu machen‹. Ich habe ihre Ausdrucksweise ziemlich gut gelernt.« »Und Sie sagen, die Raubtiere haben sie nie belästigt?« »Stimmt. Nur zweimal kamen überhaupt welche in die Nähe. Einmal ein Gorilla und einmal ein Drache.« »Und was ist dann geschehen?« »Die Mollies sind ganz ruhig stehengeblieben und haben die Tiere angeschaut, als wunderten sie sich, was sie wollten. Da haben der Gorilla und der Drache sich umgedreht und sind wieder verschwunden.« Joe schüttelte den Kopf. »Müssen wohl eine ziemliche Nasevoll abbekommen haben. Die Mollies stinken aber auch wie Skunks und Jauche und eine ganze Gerberei. Ich mußte eine Gasmaske tragen.« Woolrich warf ein. »Wir haben Filme von allem, möchten Sie sie sehen?« Magnus Ridolph nickte ernst. »Sie könnten sich als nützlich erweisen.« »Kommen Sie mit!« forderte Joe ihn auf. Dann fügte er brummig hinzu: »Sie können sie zwar sehen, aber nicht riechen.« »Das dürfte auch gut sein.« Lucky grinste. Der erste Teil zeigte unberührtes Gebiet: den Strand, das blaue Meer, die steile Dschungelwand. Auf dem Strand stand das kleine Forschungsschiff
und neben ihm Joe, der ein wenig verlegen in die Kamera winkte. Der nächste zeigte die Mollies, die das Fundament aushoben. Sie arbeiteten in geduckter Haltung mit ausgestreckten Köpfen, und der Sand schoß nur so aus der Grube vor ihnen. Sie waren weit menschenähnlicher, als Joe sie beschrieben hatte: graue bärtige Kreaturen mit weichen Segmentleibern, hervorstehenden, rosa, blind wirkenden Augen, hornigen O-Beinen und einer konkaven Mundpartie. Magnus Ridolph beugte sich vor. »Sie haben eine ungewöhnliche Schürfmethode.« »Ja«, antwortete Blaine. »Aber sie sind unwahrscheinlich flink. Sie blasen das Gestein heraus.« Magnus Ridolph rutschte ein wenig auf seinem Stuhl. »Bitte, lassen Sie es noch einmal ablaufen!« Mit einem müden Seufzer und einem hilflosen Blick auf Lucky tat Joe es. Wieder beobachteten sie die zusammengekauerten Eingeborenen, sahen, wie der Sand gelöst und wie durch einen starken Luftzug aus der Grube gehoben wurde. Magnus Ridolph lehnte sich zurück. »Interessant.« Die Szene wechselte. Der Beton war bereits gegossen. Ein Dutzend Eingeborene trugen einen Balken. »Hören Sie sie? Passen Sie auf...« Joe drehte den Ton hoch. Ein auf und ab schwellendes Schrillen war zu vernehmen. Dann erklang ein befehlend klingendes »Quiek – quiiiiik!« »Das war ich«, erklärte Joe. »Ich sagte ihnen, sie sollten in die Kamera blicken.« Die bärtigen konischen Köpfe drehten sich dem Betrachter zu.
»Kiek, kiek, kiek!« dröhnte es aus dem Lautsprecher. »Das heißt: zurück an die Arbeit!« sagte Blaine. Ein paar Minuten später erklärte er: »Da kommt der Drache herunter... Sie haben ihn vor mir entdeckt. Sehen Sie? Sie sind aufgeregt... Jetzt habe ich ihn erst gesehen.« Das Bild schwenkte hoch und zeigte einen flaschenförmigen Körper, der auf gewaltigen Schwingen kreiste, die von Horizont zu Horizont zu reichen schienen. Das Bild schwankte, erzitterte, verschwamm, und zeigte die Szene plötzlich aus einer verrückten Perspektive. Durch Grashalme im Vordergrund ging ein Teil des eigentlichen Bildes verloren. »Da habe ich die Kamera auf den Boden gelegt«, erklärte Blaine. »Hören Sie sich diese Mollies an!« Aus dem Lautsprecher drang ein Schrillen, das immer höher wurde und schließlich erstarb. »Jetzt schauen sie ihn bloß an – und nun steigt dem Drachen der Gestank in die Nase. Das ist nichts für mich, sagt er sich, lieber kaue ich die Rinde von den großen Bäumen – und schon verschwindet er.« Das Bild war wieder aus der richtigen Perspektive zu sehen. Der Drache wurde zu einem verschwommenen Punkt am Himmel. »Bei der nächsten Szene kommt der Gorilla auf sie zu... Da ist er schon!« Die Zuschauer sahen einen großen Anthropoiden mit dünnem braunen Pelz, untertassengroßen roten Augen, einer Reihe drüsenähnlicher Auswüchse unter dem Kinn. Er sprang von einem Baum und näherte sich gewaltig brüllend mit schaukelndem Gang den Eingeborenen. Wieder erklang das allmählich immer höher werdende und schließlich ersterbende Schrillen und das stumme
Anstarren. Der Gorilla wirbelte herum, hob die Hände in einer fast komisch anmutenden Gebärde des Ekels, und rannte davon. »Was immer es auch ist«, bemerkte Lucky, »es ist sehr wirkungsvoll.« Magnus Ridolph murmelte nachdenklich. »Ausgesprochen unerfreulich, diese Monster.« »Pah!« schnaubte Joe. »Sie haben die Seekäfer noch nicht gesehen!« Magnus Ridolph erhob sich. »Ich glaube, für heute abend habe ich genug gesehen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, werde ich mich ein wenig ausruhen.« »Aber ja«, brummte Lucky abwesend. »Wilbur wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« »Vielen Dank.« Magnus Ridolph verließ das Zimmer. »Puh!« stöhnte Blaine. »Da geht unser Meisterdetektiv.« »Sei nicht so boshaft, Joe!« rügte Mayla und legte die Arme um seinen Hals. »Ich finde ihn nett. So förmlich und adrett. Und der niedliche weiße Bart! Ist er nicht zum Schreien?« »Magnus Ridolph hat Köpfchen!« sagte Lucky ohne innere Überzeugung. »Ich glaube nicht, daß viel in ihm steckt«, brummte Joe. »Habt ihr gesehen, wie er zusammengezuckt ist, als der Gorilla vom Baum heruntersprang? Ein feiger alter Ziegenbock...« »Entschuldigen Sie«, wandte Magnus Ridolph sich an sie. »Dürfte ich den Film haben? Ich möchte ihn mir gern unter einem Betrachter näher ansehen.« Verlegen blickten die drei ihn an.
»Ah – ja – natürlich«, antwortete Woolrich schließlich. »Nehmen Sie sich ihn!« Magnus löste die Kassette. »Vielen Dank. Gute Nacht.« Joe beobachtete die Tür. Dann drehte er sich um. »Lucky, ich hatte dir mehr Verstand und Menschenkenntnis zugetraut. Als du gesagt hast, du würdest einen Experten mitbringen, verließ ich mich auf dich. Aber sieh dir doch diesen Burschen an! Senil – ein Schleicher...« »Na na, Joe!« mahnte Mayla. »Du solltest nicht immer so vorschnell urteilen! Erinnerst du dich, daß du mich anfangs auch für dumm gehalten hast? Du hast es mir selbst gestanden!« Joe widmete ihr lediglich einen undeutbaren Blick. »Zehn Millionen Muniten«, brummte Lucky. »Wir dürfen nicht einfach aufgeben!« Blaine erhob sich schwerfällig. »Wißt ihr, was ich tun werde?« »Was?« »Ich geh' zu dem Mollie-Hügel und find' heraus, wieso sie so stinken. Was immer es auch ist, wir können es analysieren und vielleicht abschwächen lassen, daß es uns nicht gleich umwirft.« Mayla blickte ihn besorgt an. »Liebling, ist das nicht zu gefährlich?« »Glaubst du wirklich, daß ihr Gestank die Viecher abhält?« fragte Lucky. »Glauben?« konterte Joe abfällig. »Ich weiß es.« Joes Dschungelanzug war der beste, den man für Geld bekommen konnte. Der metallische Stoff warf das blendende Sonnenlicht zurück. Der Plastikhelm
um seinen Kopf war auf der Oberseite ebenfalls mit der silbrigen Substanz beschichtet. Die Stiefel saßen wie eine zweite Haut. Durch einen Regler konnte er Rippen des Anzugs aufblasen, um ihm die Überquerung eines Sumpfes zu ermöglichen, ohne daß er in Gefahr geriet, darin zu versinken. Ein Rückenpack mit Aggregat pumpte kühle Luft durch den Anzug, lieferte den Strom für den Tonverstärker, die Lampe und den Elektrodolch an seinem Gürtel. Ein Beutel enthielt Nahrungskonzentrat für drei Tage, und eine aufblasbare Matratze aus unverwüstlichem Material, das so dünn war, daß die luftlose Matratze zusammengeknüllt in eine Faust paßte. Dazu trug er ein Granatgewehr und ein zusätzliches Dutzend Magazine. Am frühen Morgen brach er auf, noch ehe Magnus Ridolph aufgestanden war. Lucky machte sich keine Sorgen um ihn. Narren und Trinker haben ihren besonderen Schutzengel, dachte er – also war Joe doppelt sicher. Mayla dagegen hatte furchtbare Angst um ihn und wollte ihn nicht gehen lassen. Lucky mußte sie schließlich festhalten, bis Joe nicht mehr zu sehen war. Ihre Rufe und Schreie folgten ihm, während er durch den Sand stapfte und schließlich in den Dschungelwall tauchte, nachdem er einen Pfad entdeckt hatte. Kaum umgab die grüne Düsternis ihn, blieb er stehen und überlegte, was ihn alles erwarten mochte. Die Flugschlangen könnten ihn zu Boden werfen und umschlingen, auch wenn es ihnen nicht gelingen würde, ihre Zähne durch den Anzug zu stoßen. Besorgt blickte er in die Höhe. Irgendwie erschien ihm dieser Ausflug nicht mehr so dringend und wichtig
wie am Abend zuvor. Magnus Ridolph sollte sich eigentlich die Eingeborenen näher ansehen, schließlich wurde er dafür bezahlt. Joe kaute an seiner rosigen Zunge. Nein, er konnte jetzt nicht mehr umkehren, Lucky würde nie aufhören, ihn damit aufzuziehen. Wieder spähte er durch Laubwerk und Wedel. Im Licht wirkten sie grüngolden, und im Schatten dunkelgrün. Schmetterlinge flatterten zwischen den Stämmen umher – hinein und heraus aus den schrägen Sonnenstrahlen. Hoch waren die Kronen und Wipfel, und rote, gelbe und schwarze Blüten schmückten sie, und überall hingen Lianen herab. Es wäre unmöglich zu hören, wenn eine Schlange sich näherte, dachte Joe. Ein Gorilla dagegen würde einen ziemlichen Krach machen, wenn er sich mit seinem Gewicht einen Weg durch das Unterholz bahnte. Hm, dachte Blaine, da müssen mir eben meine Ohren helfen. Er drehte den Tonverstärker ein wenig höher, bis er das Summen der Insekten wie ein Brausen in seinen Kopfhörern vernahm. Doch nun klang jeder seiner Schritte, als würde ein Baum gefällt. Aber jedenfalls stapfte er jetzt etwas beruhigter weiter. Das Flattern der kurzen Schwingen einer Flugschlange würde längst zu hören sein, ehe sie selbst ihn erreichte. Der Pfad schlängelte sich offenbar ziellos um die mächtigen Stämme, hangauf- und hangabwärts. Joe kannte sich schon bald nicht mehr mit der Richtung aus. Zweimal hörte er Flügelschlag und einmal ein entferntes Bersten, aber er hatte fast zwei Kilometer zurückgelegt, ehe er belästigt wurde – durch einen Gorilla. Joe hörte das Knacken von Zweigen und seine
brummenden Laute, als das gewaltige Tier durch die Bäume kletterte, und dann herrschte fast absolute Stille, nachdem es ihn entdeckt hatte. Dann war ein gleitendes Geräusch zu vernehmen, doch sehr bemühte der Gorilla sich nicht, leise zu sein, dazu fühlte er sich wahrscheinlich viel zu sicher. Joe sah das flekkige Fell und zielte. Gerade noch, daß er sich besann! Der Verstärker! Er drehte ihn niedriger. Der Knall hätte ihm die Trommelfelle zerrissen! Er zielte erneut und schoß. Ein Stück des Dschungels wurde zu einer Kugel leeren Raumes mit versengter Angrenzung. Joe drehte den Verstärker wieder hoch und stapfte weiter. Drei Stunden marschierte er dahin. Er tötete drei Schlangen mit dem Nadelstrahler, und zwei weitere Gorillas. Manchmal mußte er sich mit dem Elektrodolch einen Weg schneiden, so dicht war das Gewirr von Schößlingen und Ranken. Aber auch nach den drei Stunden sah der Dschungel nicht anders aus, als bei seinem Betreten. Tapp, tapp, tapp! klang es in seinen Ohren. Blaine blieb stehen und wartete ab. Nach einer Weile war ein Mollie zu sehen, der anhielt und ihm mit blind wirkenden rosa Augen entgegenblickte. Seiner Miene war nichts zu entnehmen. »Skiek!« grüßte Joe. »Hallo!« »Kiek, kiek!« antwortete der Eingeborene. Er ging an Blaine vorbei und setzte seinen Weg den Pfad entlang fort. Joe zuckte die Achseln und ging ebenfalls weiter. Kurz darauf kam er auf eine etwa hundert Meter breite Lichtung. In ihrer Mitte erhob sich ein konischer grauer Hügel aus geflochtenen Reisern und mit Lehm überzogen. Er ähnelte einem Bienenstock und
war gut sechzig Meter hoch. Er war rund um einen lebenden Baum errichtet, der oben noch herausragte und dessen Krone als Sonnenschirm diente. Joe Blaine blieb stehen. Die gut fünfhundert Mollies, die auf der Lichtung ihrer Beschäftigung nachgingen, beachteten ihn nicht. Und Joe seinerseits interessierte sich nicht für das, was sie taten, sondern lediglich für den Ursprung ihres Gestanks. Vorsichtig öffnete er seinen Helm ein wenig, doch hastig schloß er ihn wieder, denn schon tränten seine Augen. Es war ein für Menschen wahrhaftig unerträglicher Gestank. Aber wie kam es zu ihm? Auf der anderen Seite der Lichtung sah er eine Mulde, eine Suhle, in der mehrere Dutzend Mollies, sich träge bewegend, lagen. Blaine näherte sich ihnen und beobachtete sie. Ein Dutzend Mollies kamen aus den Schatten des Waldes. Sie trugen einfache Körbe, von denen etwa die Hälfte breiige schwarze Bälle enthielt, während in anderen graugrüne, etwa fünfzehn Zentimeter lange Nacktschnecken lagen, und in den restlichen rosarote Zylinder, die aussahen, als wären sie aus dem Fleisch von Wassermelonen geschnitten. Die Mollies leerten die Körbe in die Suhle. Dann blieben sie am Rand der Mulde stehen und starrten angestrengt auf die Haufen. Da platzten die schwarzen Bälle, die grünen Nacktschnecken schmolzen, und die roten Zylinder zerliefen wie Öl. Eine kurze Weile später war alles eine mit dem Rest der Suhle homogene Masse. Das also ist es, dachte Joe. Nahrung und chemische Waffe aus demselben Trog. Er trat an die Mulde und
betrachtete sie. Die Mollies in ihr beachteten ihn nicht. Er griff nach dem mitgebrachten kleinen Behälter, füllte ihn mit der dickflüssigen schwarzgrünen Masse und schloß ihn luftdicht ab. Das müßte für eine Untersuchung genügen, überlegte er. Er lobte sich selbst, weil er es so schnell geschafft hatte. Und nun zurück zum Hotel. Er blickte über die Lichtung – und riß die Augen weit auf. Durch eine Bresche in den Bäumen schimmerte etwas strahlend weiß, und dahinter erstreckte sich etwas leuchtend Blaues. Konnte es sein...? Er überquerte die Lichtung und starrte durch die Lücke. Tatsächlich! Es war der Strand – und es war das Meer! Etwa einen dreiviertel Kilometer zu seiner Linken erhob sich das Hotel. Joe hieb mit den Fäusten gegen den Plastikhelm. Und da war er drei Stunden lang durch den Dschungel gestapft! Blaine fand Woolrich im Büro. Lucky blickte erstaunt auf. »Hallo! So früh hatte ich dich nicht zurück erwartet!« Er rümpfte die Nase. »Besonders gut riechst du aber nicht, Joe.« »Ich habe es«, erklärte Blaine triumphierend. »Das unverfälschte Stinkus! Wenn das sie uns nicht fernhält, will ich nicht mehr Joe Blaine heißen!« »Sieh bloß zu, daß du damit weiterkommst!« würgte Lucky. »Das Zeug stinkt ja durch die Flasche!« »Vielleicht habe ich was davon auf den Anzug gekriegt«, vermutete Blaine. Er erzählte Lucky von seinen Erlebnissen. Woolrichs schmales Gesicht wirkte nach wie vor skeptisch. »Wie soll's weitergehen?«
»Jetzt erproben wir das Zeug. Einer von uns beschmiert sich damit und spaziert auf dem Strand herum. Der andere hält mit einem Granatgewehr Wache – nur für den Fall des Falles. Wenn die Drachen heruntertauchen und gleich wieder abzischen, haben wir Gewißheit.« Lucky trommelte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Klingt logisch. Na ja«, meinte er gleichmütig, »da du ja schon was von dem Zeug an dir hast, kannst du gleich den Köder spielen.« Joe starrte Lucky kopfschüttelnd an. »Ist bei dir eine Schraube locker? Ich muß doch filmen! Als ob du das nicht wüßtest! Also wird dir gar nichts übrigbleiben, als den Lockvogel zu spielen.« Nach einem halbstündigen Hin und Her wählten sie Magnus Ridolph zum Versuchsobjekt. »Es wird ihm nicht gefallen«, brummte Woolrich zweifelnd. »Es wird ihm gefallen müssen. Wofür bezahlen wir ihn denn? Bis jetzt hat er noch keinen Finger gerührt. Er sollte froh sein, daß wir das Problem für ihn gelöst haben.« »Er sieht es aber vielleicht anders.« Joe öffnete eine Schreibtischlade und brachte eine Blechdose zum Vorschein. »Siehst du das? Es ist ein Somnolspray, den wir gegen Randalierer benutzen. Wir besprühen ihn einfach damit, dann weiß er überhaupt nicht, was mit ihm geschieht. Wo ist er überhaupt?« »In der Werkstatt. Er bastelt schon den ganzen Vormittag herum – an der Drehbank arbeitet er.« »Das ist doch die Höhe!« empörte sich Blaine. »Dabei sollte er sich den Kopf zerbrechen, schließlich ist
er der Detektiv. Aber nein, er überläßt das Problem uns! Dem werden wir es zeigen! Er wird etwas tun für sein Geld, ob er nun will oder nicht!« Zögernd erhob sich Lucky. »Vielleicht, wenn wir ihn fragten...« »So ist's besser«, versicherte ihm Joe. »Es ist ja nicht gefährlich. Wir wissen, daß dieses Zeug funktioniert. Laufen die Mollies nicht unbelästigt herum? Außerdem stehen wir ja mit den Gewehren bereit!« Sie fanden Magnus Ridolph in der Werkstatt. Er polierte ein blaues metallenes Rohr mit einem Spezialtuch. Als sie eintraten, blickte er kurz von seiner Arbeit auf, nickte ihnen zu und paßte das Rohr in ein Loch in einem Metallbecher ein. Dann schloß er einen Schlauch an das Rohr an, gab es in einen Schraubstock und drehte an einem Regler. Ein feines Zischen war zu vernehmen. Magnus Ridolph studierte den Oszillographen. »Hm«, murmelte er. »Das dürfte in etwa stimmen.« »Was machen Sie denn, Mr. Ridolph?« erkundigte sich Blaine grinsend und verbarg eine Hand hinter dem Rücken. Magnus Ridolph bedachte ihn mit einem kühlen Blick, dann wandte er sich wieder seiner Apparatur zu. »Ich verbessere ein bestimmtes musikalisches...« Ss-ss-ss-ss-ss! zischte das Somnolspray. Ein feiner Dunst hüllte Magnus Ridolphs dinstinguierten Kopf ein. Er keuchte, erstarrte, sackte zusammen. »Hast du das gehört, Lucky?« Joe trat nach dem Metallrohr, das Magnus Ridolph wieder gelöst hatte und noch in der Hand hielt. »Vergeudet die Zeit mit seinem Musikkrimskrams, während wir in der Patsche sitzen!«
»Wahrscheinlich ist ihm seine Erfindung des musikalischen Kaleidoskops in den Kopf gestiegen«, sagte Lucky. »Er soll ein sehr guter Mann gewesen sein, habe ich gehört.« »Wahrscheinlich hast du dich verhört«, brummte Joe. »Schaffen wir ihn jetzt zum Strand. Da ist ein Schubkarren!« Sie fuhren den reglosen Magnus Ridolph hinaus in die blendende Sonne und zweihundert Meter hinunter auf den Strand. »Das ist weit genug«, erklärte Blaine. »Jetzt tröpfeln wir was von dem Zeug auf ihn und ziehen uns unter die Bäume zurück. Ich fühl' mich gar nicht wohl, so im Freien. Die Drachen sind zu dieser Tageszeit schlimmer als Fliegen.« Sie hoben Magnus Ridolph vom Schubkarren, legten ihn in den Sand, und Joe tröpfelte das Zeug nicht auf ihn, sondern schüttelte die schwarze Flüssigkeit großzügig auf seine Brust. »Großer Gott!« krächzte Lucky und hustete gleich darauf heftig. »Nicht einmal gegen den Wind ist es auszuhalten!« »Ja, es ist ganz schön stark«, bestätigte Joe selbstzufrieden. »Wenn ich auf etwas aus bin, bekomme ich es auch. So, aber jetzt weg von hier! Schnell, da oben ist schon ein Drache!« Sie hasteten zum Rand des Dschungels und warteten. Der Punkt am Himmel vergrößerte sich und wurde zum flatternden Monstrum. Joe legte das Gewehr an. »Nur für den Fall des Falles«, wandte er sich an Lucky. Der gewaltige Drache entdeckte den reglosen
Magnus Ridolph und begann zu kreisen. »Mir ist gerade was eingefallen!« sagte Lucky erschrocken. »Was?« erkundigte sich Joe barsch. »Falls das Zeug nicht wirkt, werden wir es erst merken, wenn der Drache schon verdammt nahe ist. Und dann...« »Ach, zum Teufel«, brummte Joe. »Es funktioniert bestimmt. Es muß!« Der Drache tauchte plötzlich zum Strand herab und watschelte auf sein Opfer zu. »Zwanzig Meter... Der Gestank schreckt ihn nicht ab!« schrie Lucky. Zehn Meter. Blaine zielte, dann senkte er das Gewehr. »Schieß, Joe – um Himmels willen, schieß!« »Ich kann nicht!« stammelte Blaine. »Ich würde ja auch Ridolph zerfetzen!« Lucky Woolrich rannte hinaus auf den Strand, brüllte wie ein Verrückter und rannte auf und ab. Doch der Drache beachtete ihn überhaupt nicht. Fünf Meter! Magnus Ridolph rührte sich. Vielleicht hatte der Gestank der schwarzen Flüssigkeit ihn geweckt, vielleicht aber auch ein sechster Sinn. Er schüttelte den Kopf und stützte sich auf einen Ellbogen. Es war ein schlimmes Erwachen für Magnus Ridolph. Sein Blick fiel sofort auf den Drachen. Der Drache öffnete den Rachen, schnellte den Schädel vor und schnappte. Magnus Ridolph rollte herum und entkam den scharfen Kiefern um Handbreite. Blaine schüttelte den Kopf. »Das Zeug wirkt überhaupt nicht!«
Der Drache machte einen Satz, stieß erneut den Schädel vor. Magnus Ridolph wich rückwärts aus. Die Drachenzähne schnappten knapp neben seinen Rippen zu. Ridolph hielt immer noch das Metallrohr in der Hand. Hastig hob er es nun an die Lippen und blies mit aller Kraft – blies, blies, blies. Der Drache zog seinen Schädel zurück wie eine verschreckte Schildkröte. Seine Beine zuckten, seine Schwingen. Magnus Ridolph blies. Der Drache stieß ein gewaltiges rülpsendes Brüllen aus und hastete in fast komischer Eile davon. Die kräftigen Lederflügel flatterten, er erhob sich in die Lüfte und flog über das Meer davon. Magnus Ridolph setzte sich auf den Sand. Eine kurze Weile saß er ganz schlaff. Dann blickte er auf seine Leinenweste, die vor kurzem noch blütenweiß und gestärkt gewesen war, auf der sich nun aber über der Brust ein schwarzer Fleck abzeichnete. Als der Wind sich drehte, schlug Lucky und Joe der Gestank in die Nase. Joe hustete, und Magnus Ridolph blickte langsam in ihre Richtung. Und langsam erhob er sich auch, schlüpfte aus der Weste, warf sie von sich und kehrte mit bedächtigen Schritten zum Hotel zurück. Zum Abendessen erschien Magnus Ridolph, rosig geschrubbt, in frischer Kleidung. Sein weißer Bart war sorgsam gebürstet, daß er wie Engelshaar glänzte, und sein Benehmen war ungemein herzlich. Lucky und Joe waren darüber sehr erleichtert. Sie hatten wütende Anschuldigungen, Drohungen und Forderungen erwartet. Magnus Ridolphs Freundlichkeit war eine höchst willkommene Überraschung,
und die beiden bemühten sich, ihn sogar noch zu übertreffen. Mayla war nicht bei ihnen. Sie hatte sich wegen heftiger Kopfschmerzen niedergelegt. Blaine erklärte die Umstände, die zu dem Experiment geführt hatten, und Magnus Ridolph schien ehrlich daran interessiert zu sein. Lucky ging sogar soweit, sich einen Scherz zu erlauben. »... und Magnus, als Sie zu dem Drachen hochstarrten, stellte sich Ihr Bart wie elektrisiert auf!« »Natürlich hatten Sie nicht wirklich etwas zu befürchten von ihm«, sagte Joe. »Wir hatten die Gewehre ständig auf die Bestie gerichtet. Eine falsche Bewegung von ihr, und es hätte sie nicht mehr gegeben!« »Was war denn das für ein Rohr, Magnus?« erkundigte sich Lucky. »Damit haben Sie es geschafft.« Er stupste Blaine. »Ich hab' dir doch gesagt, daß er Köpfchen hat!« Magnus hob bescheiden die Hand. »Eine simple Anwendung dessen, was ich aus Ihren Filmen lernte.« »Wie bitte?« Joe blinzelte und zündete sich eine Zigarre an. »Haben Sie die Stimmbox der Mollies bemerkt? Sie ist ein Paraboloid mit einem Vibrator im Brennpunkt. Das verleiht ihnen eine unwahrscheinliche Kontrolle über den Laut. Indem sie den Vibrator bewegen, können sie den Schwingungsknoten auf jeden gegebenen Punkt konzentrieren. Ich würde mich absolut nicht wundern, wenn sie auf irgendeine ungewöhnliche Weise imstande wären, Druckmuster in der Luft optisch wahrzunehmen. Mit anderen Worten, sie können ihre Stimmen benutzen wie Menschen einen Preßlufthammer, vor allem im supersonischen Be-
reich. Das vermutete ich sofort, als ich sie auf dem Film beim Ausheben des Fundaments beobachtete. Sie bliesen den Sand nicht mit Luft aus, sondern sprengten ihn mit wohlberechneten Druckwellen hinaus.« »Aber natürlich!« rief Joe und spuckte verärgert ein Stück Tabak aus. »So haben sie auch das Zeug in der gräßlichen Suhle gemischt. Sie haben alles hineingeworfen und angestarrt – und es schien wie von selbst zu schmelzen und sich umzurühren!« Lucky warf Joe einen abwehrenden Blick zu. Es war vielleicht besser, Magnus Ridolph nicht an Suhlen und stinkende schwarze Flüssigkeit zu erinnern. »Wenn eines der hiesigen Ungeheuer sie angreifen wollte, schickten sie ihm einen supersonischen Strahl in der Frequenz entgegen, die das Tier am wenigsten ertragen konnte. Vermutlich zielten sie auf eine empfindliche Stelle – das Auge, möglicherweise. Eine Überprüfung der Tonaufnahme bestätigte meine Theorie. Ich fand eine klare Aufzeichnung unhörbarer Töne. Ich berechnete die vermutlich wirkungsvollste Frequenz, und bastelte gleich heute vormittag ein geeignetes Übertragungsgerät.« Joe und Lucky schüttelten bewundernd den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie er das macht!« »Das übertrumpft alles, was ich je gehört habe!« Magnus Ridolph lächelte. »Nun, was das Hotel betrifft, schlage ich mehrere große Oszillatoren, fest montiert und so angeordnet vor, daß sie einen Schirm der wirkungsvollsten Frequenz rings um das Hotelgebiet projizieren. Jeder fähige Tontechniker kann eine solche supersonische Kuppel für Sie errichten.« »Gut, sehr gut!« freute sich Lucky.
»Ich werde gleich einen kommen lassen«, erklärte Blaine. »So ein Glück, daß Sie sich unseres Problems annahmen.« Magnus Ridolph lächelte. »Danke. Vielleicht ist unsere Verbindung von nicht weniger großem Wert für mich.« Blaine starrte ihn neugierig an. Lucky sagte hastig. »Joe, was Magnus' Honorar angeht, ich bot ihm ursprünglich fünftausend Muniten...« »Erhöh es ruhig auf zehn!« sagte Joe sofort und griff nach seinem Schreiber. »Ich glaube, das hat Mr. Ridolph sich wahrhaftig verdient.« »Meine Herren, meine Herren«, murmelte Magnus Ridolph. »Sie beschämen mich ja mit Ihrer Großzügigkeit. Nein, nein, ich bin mit dem vereinbarten Honorar von fünftausend durchaus zufrieden.« »Aber – aber hören Sie doch...«, stammelte Joe und gestikulierte verlegen mit dem Schreiber. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß ich fünftausend Muniten für die – hm, nicht erwähnenswerten Geschehnisse heute nachmittag nehme?« »Nun«, brummte Joe, ohne ihn anzusehen. »Man weiß ja nie, wie jemand reagiert. Manchmal droht einer schon mit dem Kadi, nur weil er ein Haar in der Suppe gefunden hat. Aber natürlich in Ihrem Fall – nun«, endete er lahm, »hatten wir an so was gar nicht gedacht.« Ridolph runzelte nachdenklich die Stirn. »Nun, wenn ich meine Würde übertrieben hoch einschätzte, würde ich diese fünftausend als Art Bestechung ansehen und es als noch schlimmere Beleidigung empfinden. Aber da ich bin, was ich bin, bin ich sicher,
daß wir die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen lassen können.« »Aber gewiß doch«, versicherte ihm Lucky erfreut. »Wir sind doch alle Gentlemen.« Joe Blaine drehte die Zigarre zwischen den Lippen. Er blickte vor sich hin und hing dem Klang dieses Wortes nach. »Nun«, sagte er schließlich zögernd und stellte den Scheck aus. »Hier ist Ihr Honorar.« »Vielen Dank.« Magnus Ridolph steckte den Scheck ein. Er schaute zum Fenster hinaus. »Wenn ich mich nicht täusche, endet Ihr Besitz etwa einen Kilometer vom Strand aufwärts?« Blaine nickte. »Etwa dort, wo ich heute morgen aus dem Dschungel zurückkam, vielleicht auch ein paar Meter näher zum Hotel.« Abwesend murmelte Magnus Ridolph: »Je näher zu den Mollies, desto besser.« »Wie? Wie meinten Sie?« Magnus Ridolph blickte erstaunt hoch. »Habe ich Ihnen denn nicht von meinen Plänen erzählt, hier eine Abfüllanlage und einen Produktionsbetrieb zu errichten? Ich beantragte heute über Raumwelle die Genehmigung für die Strandbenutzung.« Joe und Lucky hatten gleichzeitig den Kopf gedreht und starrten ihn an. Ihre Gesichter hatten den Ausdruck kleiner Tiere, die nach dem Köder an einem Auslöser geschnappt und dadurch ihre eigenen Blitzlichtaufnahmen geschossen hatten. »Produktionsbetrieb?« »Was für einen?« Magnus Ridolph antwortete mit pedantischer Stimme: »Ich habe vorläufig beschlossen, dem Pro-
dukt den Namen Mephitolin zu geben, da ich ihn für passend erachte.« »Aber...« »Aber...« »Die Erfahrung hat mich gelehrt«, fuhr Magnus Ridolph fort, »je schlimmer eine Creme, Salbe oder ein Schönheitsmittel riecht, desto größer ist die Nachfrage und die therapeutische oder psychologische Wirkung. In dieser Hinsicht kann an der abscheulichen Flüssigkeit, die Sie heute nachmittag für Ihr Experiment benutzten, kaum etwas verbessert werden. Mephitolin, ordentlich abgefüllt und in ansprechender Verpackung, wird ein wertvolles Mittel gegen psychosomatische Störungen sein.« »Aber...« »Möglicherweise kann Mephitolin auch in der Parfümindustrie als Fixator verwendet werden, da es noch wirksamer sein dürfte als Amber, Moschus oder die künstlichen Stoffe. Ich sehe auch bereits vorher, daß es einen größeren und anhaltenden Absatz bei Studentenvereinigungen und Geheimbünden finden wird, wo es zum wichtigen Hilfsmittel bei ihren Ritualen werden kann.« Magnus Ridolph blickte Joe und Lucky ernst an. »Ich habe Ihnen beiden zu danken, daß Sie mich auf diese Möglichkeiten stießen. Aber zweifellos wird Ihr Hotel auch an dem wachsenden Erfolg der Mephitolin Abfüllanlage profitieren, denn die Arbeiter werden sicher einen Teil ihres Lohnes in Ihrer Bar lassen – sie haben ja nur einen Fußmarsch von drei Minuten...« »Hören Sie!« Blaines Stimme klang wie das Rumpeln eines Karren alter Zeit, der über einen Kiesweg
holpert. »Sie wissen genau, daß eine Fabrik, die das schwarze Zeug nur ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt abfüllt, jeden Gast, kaum daß er Fuß auf den Strand gesetzt hat, gleich wieder zur Rückkehr ins Schiff veranlassen würde!« »Oh, durchaus nicht!« erwiderte Magnus Ridolph. »Das Mephitolin-Werk würde für zusätzliches Kolorit und besondere Atmosphäre sorgen. Ich glaube, das Werk und das Hotel würden einander ergänzen. Stellen Sie sich doch nur den Werbeslogan vor: Der Kurort zwischen den Sternen, das Gesundheitszentrum im Sternhaufen! Eine Kur mit Mephitolin macht wieder einen gesunden glücklichen Menschen aus Ihnen! Oder irgend etwas dieser Art. Aber wie Sie sehen...« – Magnus Ridolph lächelte ein wenig verlegen –, »ich bin ein Träumer und leider kein Geschäftsmann. Sie beide wären zweifellos viel eher für die Leitung eines modernen medizinischen Labors geeignet. Vermutlich wäre es besser, ich überließe Ihnen das Ganze. Für fünfundzwanzigtausend Muniten würde ich es an Sie abtreten. Ziemlich billig, wenn man recht überlegt, finden Sie nicht?« Joe Blaine brachte in seiner hilflosen Wut keinen Ton heraus. »Pah!« schnaubte Lucky. »Sie wollen uns etwas andrehen, was Sie überhaupt nicht haben. Eine Abfüllanlage! Daß ich nicht lache! Sie wissen ja nicht einmal, ob das Zeug was taugt!« Magnus Ridolph schienen Luckys Einwände zu beeindrucken. Er rieb sich nachdenklich den Bart. »Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen! Wie können wir uns der Wirksamkeit des Mephitolins versichern? Das Vernünftigste ist natürlich, es
auszuprobieren. Hm – ich sehe, Sie haben ziemlich starke Akne. Und – ah ja – Mr. Blaine, ist das ein Hitzeausschlag oder gar etwas Schlimmeres?« »Nur Frieseln!« knurrte Joe. »Nun gut, dann werden wir Mephitolin gleich einmal ausprobieren. Reiben Sie beide Ihre Pusteln damit ein – oder besser noch, nehmen Sie ein Mephitolinvollbad. Wir müssen es schließlich richtig angehen. Vergeht Ihr Ausschlag nicht, dann wissen wir, daß Mephitolin nur psychologisch wirken kann. In diesem Fall gehe ich mit meinem Preis auf fünfzehntausend Muniten herunter. Vergehen Ihre Pickeln, und es stellt sich dadurch heraus, daß Mephitolin tatsächlich eine Heilwirkung hat, bleibt es bei den fünfundzwanzigtausend Muniten. Wenn natürlich Sie und Mr. Woolrich diese Chance nicht ergreifen wollen – ich persönlich kann sie mir nicht entgehen lassen.« Kurzes Schweigen setzte ein. »Na, Joe«, brummte Lucky müde, »er rächt sich ganz schön für deinen Einfall!« »Oh, durchaus nicht!« protestierte Magnus Ridolph. »Ich schlage Ihnen im Gegenteil ein gutes Geschäft vor – für eine so lächerliche Summe...« Blaine unterbrach ihn. »Zehntausend! Höher gehen wir nicht!« »Nun gut«, antwortete Magnus Ridolph sofort. »Zehntausend – wenn das Mephitolin Ihren Ausschlag nicht heilt. Aber ehe der Test nicht gemacht ist, muß ich auf den fünfundzwanzigtausend beharren.« Stumm betupften die beiden ihre Pickel sparsam mit dem Mephitolin. Magnus Ridolph bestand jedoch darauf, daß sie es reichlicher auftrugen. »Wenn es
nicht ordentlich gemacht wird«, erklärte er, »würden wir nie sicher sein, ob es nicht in richtiger Dosierung geholfen hätte.« Aber als das Mephitolin schließlich abgeschabt wurde, sahen die Pusteln nicht anders aus als zuvor. »Sind Sie jetzt zufrieden?« erkundigte sich Joe und funkelte Magnus Ridolph von unter der restlichen Fleckenschicht böse an. »Das Zeug wirkt nicht. Im Gegenteil, die Frieseln jucken mehr als zuvor!« »Offenbar ist das Mephitolin kein Allheilmittel«, gab Magnus Ridolph bedauernd zu. Lucky hatte sich das Gesicht mit Alkohol abgerieben. »Wie bekommt man das Zeug bloß ganz herunter? Hm, wahrscheinlich geht es mit Seife und Wasser besser...« Aber selbst das sorgfältigste Schrubben vermochte das Mephitolin nicht völlig zu entfernen, und immer noch ging ein nicht gerade angenehmer Geruch von den Herren Joe Blaine und Lucky Woolrich aus. »Teufel!« fluchte Joe. »Wie lange müssen wir noch damit herumlaufen?« Er blickte Magnus Ridolph argwöhnisch an. »Wie haben Sie das Zeug heruntergebracht?« Magnus Ridolph erklärte ein wenig von oben herab: »Tut mir leid, es zu sagen, aber das ist eine ziemlich wertvolle Information. Auf die richtige Formel kam ich erst nach beachtlichen...« »Schon gut, schon gut!« knurrte Joe grob. »Wie viel?« Magnus Ridolph hob beleidigt die Brauen. »Nicht der Rede wert. Ich mache Ihnen einen Freundschaftspreis von tausend Muniten. Wenn Sie weitere... ah... Experimente mit Mephitolin vornehmen,
werden Sie die Lösung immer wieder brauchen.« Nach diversen bitteren Bemerkungen stellte Joe Magnus Ridolph schließlich einen Scheck über elftausend Muniten aus. »So, und wie werden wir jetzt diesen grauenvollen Gestank los?« »Verwenden Sie eine zehnprozentige Lösung Wasserstoffsuperoxid«, antwortete Magnus Ridolph. Joe wollte aufbrüllen, aber Lucky beruhigte ihn und ging zur Hausapotheke des Hotels. Mit einem leeren 5-Liter-Behälter kam er zurück. »Wir haben keines mehr!« erklärte er düster. »Die Flasche ist leer.« »Ja, ich weiß«, versicherte ihm Magnus Ridolph. »Ich verbrauchte alles für mich. Aber natürlich, wenn Sie mich als Berater verpflichten wollen, könnte ich Ihnen ein ganz einfaches chemisches Verfahren nennen, mit dem Sie...«
GNADENSTREICH 1 Die Nabe – eine Traube von Blasen in einem Metallnetz – hing in jenem Gebiet im leeren Raum, das den Erdenmenschen als Vordersagittarius bekannt ist. Besitzer war Pan Pascoglu, ein kleiner dunkler, sehr energischer Mann, fast kahl, mit unruhigen braunen Augen und einem buschigen Schnurrbart. Und da Pascoglu auch noch sehr ehrgeizig war, hoffte er, die Nabe zu einem modischen Stelldichein für die elegante reiche Welt machen zu können – als Zwischenstation und Knotenpunkt fand er die Nabe viel zu schade. So fügte er ihr zwei Dutzend funkelnagelneue Blasen hinzu – »Ferienhäuser« nannte er sie –, und zwar an den Rand des Netzwerks, so daß die Nabe nun in etwa dem Modell eines ungemein komplexen Moleküls ähnelte. Die Ferienhäuser waren ruhig und komfortabel, der Speisesaal bot eine gute Küche, und in den Gemeinschaftsräumen traf sich eine abwechslungsreiche Gesellschaft. Magnus Ridolph empfand die Nabe als gleichzeitig nervenberuhigend und stimulierend. Er saß im Speisesaal, dem im Augenblick die Sterne ringsum als einzige Leuchtkörper dienten, und studierte die anderen Gäste. An einem Tisch zu seiner Linken, der teilweise durch Rhododendren verborgen war, saßen vier Personen. Magnus Ridolph runzelte die Stirn. Sie aßen, ohne sich zu unterhalten, und zumindest drei von ihnen beugten sich auf sehr ungesittete Weise über ihre Teller.
»Barbaren!« murmelte Magnus Ridolph und wandte sich von ihnen ab. Trotzdem schien es ihn nicht sonderlich zu stören, daß diese Burschen keine Manieren zu haben schienen. In der Nabe mußte man eben mit Gästen aller Art rechnen. Heute abend schien die gesamte Evolutionsskala vertreten zu sein, angefangen mit diesen Tölpeln, die sich nicht benehmen konnten, zu seiner Linken, über Angehörige Dutzender mehr oder weniger hoch entwickelter Zivilisationen, bis – Magnus Ridolph betupfte seinen gepflegten weißen Bart mit einer Serviette – zu ihm selbst. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß einer der vier Barbaren sich erhob und seinem Tisch näherte. »Verzeihen Sie die Störung, aber ich erfuhr, daß Sie Magnus Ridolph sind.« Magnus Ridolph bestätigte es. Ohne dazu aufgefordert zu werden, ließ der andere sich schwer auf einen Stuhl an Ridolphs Tisch fallen. Magnus Ridolph schwankte zwischen Ablehnung und Höflichkeit. Im Sternenlicht erkannte er seinen ungebetenen Besucher als Lester Bonfils, einen Anthropologen, auf den man ihn hier bereits aufmerksam gemacht hatte. Magnus Ridolph, der sich über seinen Scharfsinn freute, entschied sich für Höflichkeit. Die drei Personen an Bonfils Tisch waren also tatsächlich echte Wilde: paläolithische Eingeborene von S-Cha-6, die Bonfils gegenwärtig betreute. Ihre Gesichter waren finster, mürrisch und wachsam. Sie schienen von dem, was ihnen die Zivilisation bisher geboten hatte, enttäuscht zu sein. Sie trugen metallene Armbänder und schwere Metallgürtel – Magnetfesseln, durch die Bonfils ihre Arme lähmen konnte. Bonfils selbst war ein großer Mann mit dichtem
Blondhaar, er war zweifellos muskulös, wirkte jedoch trotzdem ein wenig schwammig. Sein Teint hätte eigentlich rötlich sein müssen, war jedoch bleich, und er hätte herzlich und offen wirken müssen, aber er war introvertiert und schüchtern. Seine Mundwinkel hingen eine Spur nach unten, und sein gesamter Gesichtsausdruck wirkte ein wenig verkniffen. Seine Bewegungen waren von fiebriger Nervosität, doch ohne innere Energie. Er beugte sich vor. »Ich bin sicher, Sie sind die Probleme anderer müde, aber ich brauche Hilfe.« »Gegenwärtig nehme ich keine Aufträge an«, erklärte Magnus Ridolph entschieden. Bonfils ließ sich auf dem Stuhl zurückfallen und blickte zur Seite. Er hatte nicht einmal die Kraft, auch nur zu versuchen, Magnus Ridolph zu überreden. Die Sterne ließen das Weiße seiner Augen glänzen, und seine Haut hatte die Farbe von Käse angenommen. Er murmelte: »Ich hätte es mir denken können.« Seine stumpfe Verzweiflung erregte Magnus Ridolphs Mitleid. »Nur aus reiner Neugier – und natürlich, ohne daß Sie mein Interesse als Zusage auffassen dürfen –, welcher Art sind denn Ihre Schwierigkeiten?« Bonfils lachte kurz, es war ein trostloser Laut. »Im Grund genommen, mein Geschick.« »In diesem Fall kann ich Ihnen wohl kaum von Hilfe sein«, sagte Magnus Ridolph. Wieder lachte Bonfils, so hohl wie zuvor. »Ich benutze das Wort ›Geschick‹ in breitestem Sinn, es schließt...« – er machte eine vage Geste – »... nun, ich weiß selbst nicht, was, ein. Ich scheine zum Versagen geboren zu sein. Ich glaube, den besten Willen zu ha-
ben und meine es mit niemandem böse – und doch gibt es kaum jemanden, der mehr Feinde hat als ich. Ich ziehe sie an, als wäre ich die niederträchtigste Kreatur im ganzen Universum.« Magnus Ridolph betrachtete Bonfils durchaus nicht ohne Interesse. »Diese Feinde – haben sie sich gegen Sie zusammengetan?« »Nein – zumindest glaube ich es nicht. Ich werde von einer Frau verfolgt, sie tut ihr Bestes, mich umzubringen!« »Da kann ich Ihnen einen etwas allgemeinen Rat geben«, sagte Magnus Ridolph. »Sehen Sie zu, daß Sie nichts mehr mit dieser Frau zu tun haben.« Mit einem schnellen Blick über die Schulter auf die Paläolithiker sprach Bonfils mit verzweifelter Hast. »Ich hatte überhaupt nichts mit ihr zu tun! Das ist es ja eben! Nun, ich bin vielleicht ein wenig weltfremd, doch ein Anthropologe sollte auch auf so etwas achten, aber ich war so in meine Arbeit vertieft. Es war an der Südspitze von Kharesm auf Journeys End. Kennen Sie sich dort aus?« »Ich war noch nie auf Journeys End.« »Manche Leute hielten mich auf der Straße an und sagten: ›Wir hörten, daß Sie ein intimes Verhältnis mit unserer Stammesschwester eingegangen sind!‹ Ich protestierte: ›Nein, nein, das stimmt nicht!‹ Sie können sich denken, daß gerade ich als Anthropologe so etwas wie die Pest meiden muß.« Magnus Ridolph hob erstaunt die Brauen. »Ihr Beruf scheint noch mehr als die Enthaltung eines Mönches zu fordern.« Bonfils machte lediglich eine vage Geste. Seine Gedanken waren anderswo. Er wandte den Kopf, um
nach seinen ihm Anvertrauten zu schauen. Nur einer saß noch am Tisch. Bonfils stöhnte aus tiefster Seele, sprang auf – wobei er Magnus Ridolphs Tisch fast umgeworfen hätte – und nahm die Verfolgung auf. Magnus Ridolph seufzte. Nach einer kurzen Weile verließ er den Speisesaal. Er sah sich im Hauptfoyer um, doch Bonfils war nirgendwo zu finden. Magnus Ridolph ließ sich in einem bequemen Sessel nieder und bestellte einen Kognak. Das Foyer war nahezu gedrängt voll. Er dachte über die anderen Gäste hier nach. Woher kamen wohl all diese verschiedenen Männer und Frauen, Fastmänner und Fastfrauen? Was waren ihre Ziele? Was hatte sie hierher in die Nabe gebracht? Dieser rundliche Bonze mit dem Vollmondgesicht in der steifen roten Robe, beispielsweise. Er stammte vom Planeten Padme, nahezu am anderen Ende der Galaxis. Weshalb war er seiner Heimat so fern? Und der hochgewachsene eckige Mann, der auf dem schmalen, kahlgeschorenen Schädel eine phantastische Anordnung von Tantalschmuck trug, was bewies, daß er ein Lord der Dacca war. War er im Exil? Oder verfolgte er einen Feind? Oder war er auf irgendeinem verrückten Kreuzzug? Und der Anthrop vom Planeten Hecate, der allein an einem Tisch saß: er war ein wandelndes Beispiel der bestätigten Theorie paralleler Evolution. Sein Äußeres war in etwa die Karikatur eines Menschen, doch innerlich ähnelte er ihm nicht mehr als ein Schneckenwesen. Sein Schädel war gebleichtes Bein und schwarzer Schatten, sein Mund ein lippenloser Schlitz. Er war ein Meth von Matheto. Magnus Ridolph wußte, daß seinesgleichen sanft und schüchtern waren. Seine Rasse hatte wenig geistige
Verbindung mit den Menschen und so erschienen sie für diese rätselhaft und geheimnisvoll... Magnus Ridolph richtete seinen Blick auf eine Frau und staunte unwillkürlich über ihre wundersame Schönheit. Sie war dunkel und grazil, mit einem Teint von der Farbe feinen sauberen Wüstensands. Ihr unverkennbares Selbstbewußtsein wirkte ungemein aufreizend... Ein kleiner, fast kahler Mann mit buschigem schwarzen Schnurrbart ließ sich in den Sessel neben Magnus Ridolph fallen. Es war Pan Pascoglu, der Besitzer der Nabe »Guten Abend, Mr. Ridolph. Wie geht es Ihnen?« »O danke, gut, gut... Wer ist diese Frau?« Pascoglu folgte Magnus Ridolphs Blick. »Ah. Eine Elfenprinzessin von Journeys End. Sie heißt...« – Pascoglu schnalzte mit der Zunge. »Tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern, es ist ein sehr fremdländischer Name.« »Sie reist doch nicht allein?« Pascoglu zuckte die Achseln. »Sie behauptet, sie sei mit Bonfils verheiratet – Sie wissen schon, der Bursche mit den drei Höhlenmenschen. Aber sie haben verschiedene Ferienhäuser, und ich habe sie auch noch nie zusammen gesehen.« »Erstaunlich«, murmelte Magnus Ridolph. »Eine Untertreibung«, sagte Pascoglu grinsend. »Die Höhlenmenschen müssen wohl irgendeinen verborgenen Charme haben.« Die Aufregung in der Nabe war am nächsten Tag groß, denn Lester Bonfils lag tot in seinem Haus, und die drei Paläolithiker stapften unruhig in ihrem Käfig herum. Die Gäste musterten einander nervös. Einer unter ihnen war ein Mörder!
2 Völlig außer Fassung kam Pan Pascoglu zu Magnus Ridolph. »Mr. Ridolph, ich weiß, daß Sie hier sind, um sich zu erholen, aber Sie sind meine einzige Hoffnung – bitte, helfen Sie mir! Jemand hat den armen Bonfils umgebracht – doch wer?« Flehend hob er die Hände. »Ich kann doch hier so etwas nicht ungestraft durchgehen lassen!« Magnus Ridolph zupfte an seinem ordentlich gestutzten weißen Bart. »Aber es wird doch gewiß eine ordentliche Untersuchung durchgeführt werden?« »Das ist es ja eben!« Stöhnend ließ Pascoglu sich auf einen Stuhl fallen. »Die Nabe liegt außerhalb jeglicher Gerichtsbarkeit. Ich bin mein eigenes Gesetz – in gewissen Grenzen, selbstverständlich. Ich will damit sagen, wenn ich hier Verbrecher versteckte oder mit Rauschgift handelte, würden sich die Behörden natürlich sofort einschalten. Aber das gibt es bei mir nicht. Hin und wieder ein Randalierer, eine etwas heftige Meinungsverschiedenheit, ein Betrugsversuch – damit werde ich fertig, ohne jegliches Aufsehen. Doch einen Mord! Nein, davor blieben wir bisher glücklicherweise verschont. Aber da es nun einmal dazu gekommen ist, muß der Schuldige gefunden werden.« Magnus Ridolph dachte kurz nach. »Ich nehme an, Sie haben wohl keine kriminologische Ausrüstung?« »Meinen Sie diese Wahrheitsmaschinen, Atemdetektoren und Zellenvergleicher? Nein, leider nichts Dergleichen. Nicht einmal ein Stempelkissen für Fingerabdrücke.«
»Hm, das hatte ich mir gedacht.« Magnus Ridolph seufzte. »Nun, ich kann Ihre Bitte wohl kaum zurückweisen. Dürfte ich mich erkundigen, was Sie mit dem Täter – oder der Täterin – zu tun gedenken, wenn ich ihn oder sie gefaßt habe?« Pascoglu sprang auf. Ganz offensichtlich hatte er darüber noch nicht nachgedacht. Er hieb mit der Faust durch die Luft. »Was soll ich tun? Mir fehlen die Möglichkeiten für ein richtiges Gerichtsverfahren. Und jemanden einfach hinrichten, nein, das möchte ich nicht.« Magnus Ridolph beruhigte ihn. »Vielleicht ergibt die Lösung sich von selbst. Auch Gerechtigkeit ist relativ.« Pascoglu nickte. »Finden wir doch erst einmal heraus, wer es getan hat, dann überlegen wir uns den nächsten Schritt.« »Wo ist die Leiche?« erkundigte sich Magnus Ridolph. »Noch im Ferienhaus, wo das Zimmermädchen sie entdeckt hat.« »Liegt sie noch, wie sie gefunden wurde?« »Der Arzt hat sie an Ort und Stelle untersucht. Danach kam ich direkt zu Ihnen.« »Gut. Gehen wir zu Bonfils Haus!« Bonfils »Haus« war eine Kugel am äußersten Rand des Netzes, vom Hauptfoyer etwa fünfhundert Meter mit der Rohrbahn. Die Leiche lag am Boden neben einer weißen Couch – starr, pathetisch, grotesk. Mitten auf der Stirn war eine versengte Stelle. Die drei Paläolithiker waren in einem Käfig aus flexiblen dünnen Metall-
stäben, der sich offenbar zusammenfalten ließ, eingesperrt. Aus dem Käfig als solchen hätten sie sich zweifellos ohne weiteres mit Muskelkraft befreien können, also, nahm Magnus Ridolph an, waren die Gitterstäbe elektrisch geladen. Neben dem Käfig stand ein dünner junger Mann, der die Paläolithiker entweder betrachtete oder sie neckte. Er drehte sich hastig um, als Pascoglu und Magnus Ridolph das Zimmer betraten. Pascoglu machte die beiden miteinander bekannt: »Dr. Scanton – Magnus Ridolph.« Magnus Ridolph nickte höflich. »Ich nehme an, Doktor, daß Sie zumindest eine flüchtige Untersuchung vornahmen?« »Ja, einstweilen nur, um den Tod festzustellen.« »Könnten Sie mir sagen, wann der Exitus eintrat?« »Etwa gegen Mitternacht.« Magnus durchquerte bedächtig das Zimmer und betrachtete die Leiche, ohne sich zu bücken. Abrupt drehte er sich um und kehrte zu Pascoglu und dem Doktor zurück, die an der Tür warteten. »Nun?« erkundigte sich Pascoglu. »Ich habe den Täter noch nicht«, antwortete Magnus Ridolph. »Doch ich muß dem armen Bonfils fast dankbar sein. Er hat uns einen Fall fast klassischer Einfachheit beschert.« Pascoglu kaute an seinem Schnurrbart. »Vielleicht bin ich etwas schwer von Begriff...« »Eine Reihe von Gemeinplätzen helfen uns vielleicht, unsere Gedanken zu ordnen«, sagte Magnus Ridolph. »Erstens, der Täter befindet sich zur Zeit in der Nabe.« »Ja, natürlich. Inzwischen sind keine Schiffe gelan-
det oder gestartet.« »Das Motiv oder die Motive dürften in der näheren Vergangenheit zu finden sein.« Pascoglu machte eine ungeduldige Bewegung. Magnus Ridolph hob die Hand, und Pascoglu setzte gereizt den Angriff auf seinen Schnurrbart fort. »Der Täter hatte höchstwahrscheinlich eine Beziehung irgendwelcher Art zu Bonfils.« Pascoglu sagte: »Glauben Sie nicht, daß wir lieber möglichst schnell ins Foyer zurückkehren sollten? Vielleicht legt jemand ein Geständnis ab oder...« »Nur keine Hast«, wehrte Magnus Ridolph ab. »Wir können die Zahl der Verdächtigen vermutlich auf die Passagiere beschränken, die auf dem gleichen Schiff wie Bonfils zur Nabe kamen.« »Er fuhr mit der Sternenbegleiter. Ich werde mir sofort die Passagierliste geben lassen.« Und schon eilte Pascoglu aus dem Kugelhaus. Magnus Ridolph blieb an der Tür stehen und betrachtete das Zimmer eingehend. Er wandte sich an Dr. Scanton. »Für eine offizielle Untersuchung würde eine Reihe von detaillierten Aufnahmen gemacht werden. Ich benötige sie auch für meine Untersuchung. Könnten Sie sich vielleicht darum kümmern, daß jemand hier fotografiert?« »Gewiß. Ich selbst. Ich bin Hobbyfotograf.« »Sehr gut. Nun, danach gibt es eigentlich keinen Grund mehr, weshalb die Leiche noch länger hierbleiben müßte.«
3 Magnus Ridolph kehrte mit der Rohrbahn zum Hauptfoyer zurück, wo er Pascoglu am Empfang vorfand. Pascoglu schob ihm ein Blatt Papier entgegen. »Hier ist das Gewünschte.« Interessiert las Magnus Ridolph die Passagierliste. Dreizehn Fahrgäste waren eingetragen: 1. Lester Bonfils mit a) Abu b) Toko c) Homup 2. Viamestris Diasporus 3. Thorn 199 4. Fodor Impliega 5. Fodor Banzoso 6. Scriagl 7. Hercules Starguard 8. Fiamella der Tausend Kerzen 9. Clan Kestrel, 14. Mündel, 6. Familie, 3. Sohn 10. (Kein Name) »Ah, ausgezeichnet«, lobte Magnus Ridolph. »Nur eines fehlt. Ich bin vor allem am Heimatplaneten all dieser Personen interessiert.« »Heimatplaneten?« nörgelte Pascoglu. »Wozu soll das denn gut sein?« Magnus Ridolph betrachtete Pascoglu mit sanften blauen Augen. »Nun, ich dachte, Sie wollten, daß ich diese Untersuchung übernehmen?«
»Ja, natürlich, aber...« »Dann werden Sie bitte die Güte haben, mir zu helfen, soweit es in Ihrer Macht steht, und ohne weitere Proteste oder ungeduldige Bemerkungen.« Bei diesen Worten bedachte Magnus Ridolph Pascoglu mit einem so eisigen und durchdringenden Blick, daß Pascoglu nachgab und ergeben die Hände hochwarf. »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Aber ich verstehe nicht...« »Nun, wie ich bereits bemerkte, Bonfils hat uns einen Fall klassischer Einfachheit beschert.« »Mir ist er jedenfalls nicht klar, also weiß ich auch nicht, worin diese klassische Einfachheit bestehen soll.« Pascoglu blickte auf die Liste. »Sie glauben, also, daß der Mörder einer von ihnen ist?« »Es wäre möglich, aber es muß nicht sein. Genausogut könnte ich es sein – und auch Sie sind nicht ausgeschlossen. Wir beide hatten kürzlichen Kontakt mit Bonfils.« Pascoglu grinste säuerlich. »Wenn Sie es waren, bitte ich Sie ergebenst, gleich zu gestehen, damit ich mir Ihr Honorar ersparen kann.« »Ich fürchte, ganz so einfach ist es nicht, aber das Problem läßt sich durchaus angehen. Die Verdächtigen – die Personen auf der Passagierliste und alle anderen, mit denen Bonfils erst kürzlich zu tun hatte – sind von verschiedenen Welten. Jeder ist mit den Traditionen seiner eigenen, ganz bestimmten Kultur behaftet. Polizeiroutine könnte den Fall vielleicht durch die Anwendung von Analysatoren und Detektionsmaschinen lösen. Ich hoffe, den Täter durch kulturelle Analyse zu fassen.« Pascoglus Miene war die eines Schiffbrüchigen auf
einem Wüsteneiland, der einer am Horizont verschwindenden Jacht nachblickt. »Für mich ist nur wichtig, daß der Fall gelöst wird«, sagte er mit hohler Stimme, »und ohne großes Aufsehen.« »Dann wollen wir also weitermachen. Die Heimatwelten, wenn ich bitten darf«, sagte Magnus Ridolph kurz. Nachdem die Liste entsprechend ergänzt war, studierte Magnus Ridolph sie erneut. Er spitzte die Lippen und zupfte an seinem weißen Bart. »Ich brauche zwei Stunden für meine Nachforschungen. Dann können wir die Verdächtigen verhören... ah... interviewen.«
4 Die zwei Stunden waren vergangen. Pan Pascoglu brachte die Geduld nicht auf, noch länger zu warten. Erregt marschierte er in die Bibliothek, wo Magnus Ridolph ins Leere starrte und mit einem Schreiber abwesend auf den Tisch tippte. Pascoglu öffnete die Lippen – da drehte Magnus Ridolph sich um. Der milde Blick seiner blauen Augen schien eine Art Relais in Pascoglus Kopf auszulösen. Er beherrschte sich und erkundigte sich erstaunlich ruhig nach dem Stand von Magnus Ridolphs Untersuchung. »Sehr vielversprechend«, versicherte ihm der Gefragte. »Und was haben Sie inzwischen erfahren können?« »Sie können Scriagl und den Burschen vom Krestel Clan streichen. Sie hielten sich zur Mordzeit im Spielsalon auf und haben unwiderlegbare Alibis.« Nachdenklich murmelte Magnus Ridolph: »Natürlich könnte es auch sein, daß Bonfils hier in der Nabe auf einen alten Feind stieß.« Pascoglu räusperte sich. »Während Sie hier über Ihren Nachforschungen saßen, hörte ich mich ein wenig um. Mein Personal hält die Augen offen, und so entgeht ihm wenig. Ich erfuhr, daß Bonfils sich lediglich mit drei Personen länger unterhielt: mit mir, mit Ihnen, und diesem mondgesichtigen Bonzen in der roten Robe.« Magnus Ridolph nickte. »Ja, Bonfils wandte sich an mich. Er erzählte mir von seinen Schwierigkeiten. Er behauptete, daß eine Frau – offenbar Fiamella der Tausend Kerzen – ihn töten wollte.«
»Wa-as!« rief Pascoglu. »Und das wußten Sie die ganze Zeit?« »Beruhigen Sie sich, mein Teurer! Was er genau sagte, war, daß sie ihr Bestes tut, ihn umzubringen – aber das ist etwas anderes, als die entschlossene Tat, deren Folgen wir selbst sahen. Ich muß Sie ersuchen, Ihre etwas lauten Ausrufe zu unterlassen, sie erschrecken mich. Um fortzufahren: ich sprach mit Bonfils, aber ich weiß, daß ich mich selbst von der Zahl der Verdächtigen ausschließen kann. Sie haben mich um meine Unterstützung ersucht, da Sie meinen Ruf kennen, also glaube ich, Sie mit der gleichen Sicherheit ebenfalls ausschließen zu können.« Pascoglu murmelte etwas Unverständliches und stapfte durch die Bibliothek. Magnus Ridolph sprach weiter: »Der Bonze – nun, ich kenne mich mit seinem Kult ein wenig aus. Seine Angehörigen sind von ihrer Reinkarnation überzeugt und befleißigen sich höchster Tugendhaftigkeit, Güte und Mildtätigkeit. Ein Bonze von Padme würde wohl kaum einen Mord begehen, da er dann befürchten müßte, mehrere seiner nächsten Reinkarnationen als Schakal oder Seeigel zubringen zu müssen.« Die Tür zur Bibliothek öffnete sich und herein kam – wie von einem telepathischen Zwang hierhergeführt – der Bonze höchstpersönlich. Als ihm die Haltung Magnus Ridolphs und Pascoglus auffiel und ihre ernste Musterung seiner Person, zögerte er. »Störe ich vielleicht gerade bei einer vertraulichen Unterhaltung?« »Die Unterhaltung ist vertraulich«, bestätigte Magnus Ridolph, »doch da sie sich mit Ihnen beschäftigt, könnten wir nur davon profitieren, wenn
Sie sich daran beteiligten.« »Ich stehe Ihnen zu Diensten.« Der Bonze schloß die Tür hinter sich. »Und worum geht es genau?« »Es ist Ihnen wahrscheinlich nicht unbekannt, daß Lester Bonfils, der Anthropologe in der vergangenen Nacht ermordet wurde?« »Ich hörte davon.« »Man sagte uns, daß Sie sich gestern abend mit ihm unterhielten.« »Ja, das stimmt.« Der Bonze holte tief Atem. »Bonfils steckte in ernsten Schwierigkeiten. Nie hatte ich einen so verzweifelten Menschen gesehen. Die Bonzen von Padme – vor allem wir vom Isavest Orden – haben sich dem Altruismus verschworen. Wir leisten allen Lebewesen nützliche Hilfe, und unter gewissen Umständen auch Anorganischem. Wir sind der Ansicht, daß das Prinzip des Lebens über Protoplasma hinausgeht, ja daß es seinen Ursprung in einfacher – oder vielleicht gar nicht so simpler – Bewegung hat. Ein Molekül, das ein anderes streift – ist nicht auch das ein Aspekt der Lebenskraft? Warum sollten wir nicht einem jeden einzelnen Molekül ein eigenes Bewußtsein zutrauen? Stellen Sie sich nur vor, welcher Gedankenaufruhr uns umgibt, welchen Groll wir herausfordern, wenn wir auch nur auf einen Erdklumpen treten! Aus diesem Grund bemühen wir Bonzen uns, so sanft wie nur möglich aufzutreten und darauf zu achten, wohin wir den Fuß setzen.« »Aha – hm«, murmelte Pascoglu. »Was wollte Bonfils?« Der Bonze dachte nach. »Es ist schwierig zu erklären. Er war das Opfer vieler Ängste. Ich glaube, er versuchte ein ehrenhaftes Leben zu führen, dabei
kam er in Konflikt mit seinen Präzeptionen. Infolgedessen quälten ihn Mißtrauen, Erotik, Scham, Bestürzung, Ängste, Ärger, Verstimmung, Enttäuschung und Verwirrung. Außerdem glaube ich, daß er anfing, sich Sorgen um sein berufliches Ansehen zu machen...« Pascoglu unterbrach ihn. »Was, genau, wollte er von Ihnen?« »Nichts im besonderen. Ein paar beruhigende und ermutigende Worte, vielleicht.« »Und die gaben Sie ihm?« Der Bonze lächelte vage. »Mein Freund, ich widme mich ernsthaften Gedankenprogrammen. Wir wurden so ausgebildet, daß wir den linken vom rechten Gehirnlappen trennen und so mit zwei separaten Gehirnen denken können.« Pascoglu wollte gerade eine ungeduldige Frage einwerfen, als Magnus Ridolph ihm schnell erklärte: »Der Bonze wollte Ihnen damit sagen, daß nur ein Tor Lester Bonfils Schwierigkeiten mit einem Wort hätte beheben können.« »Das drückt in etwa die Bedeutung meiner Worte aus«, bestätigte der Bonze. Pascoglu starrte verwirrt von einem zum anderen, dann hob er mißmutig die Hände. »Ich will lediglich herausfinden, wer das Loch in Bonfils Schädel gebrannt hat. Können Sie mir helfen oder nicht?« Der Bonze lächelte schwach. »Mein Freund, ich widme mich der Frage, ob Sie über den Ursprung Ihrer Impulse nachgedacht haben? Motiviert Sie nicht möglicherweise eine archaische Einstellung?« Magnus Ridolph übersetzte: »Der Bonze verweist auf die Gebote Moses'. Er warnt vor der Doktrine
›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹.« »Wieder haben Sie meine Worte richtig interpretiert«, erklärte der Bonze. Wütend warf Pascoglu die Arme hoch und stapfte heftig in der Bibliothek hin und her. »Genug dieses Blödsinns!« brüllte er. »Bonze, verschwinden Sie!« Erneut nahm Magnus Ridolph die Klarstellung auf sich. »Pan Pascoglu versichert Sie seiner Wertschätzung und ersucht Sie, ihn zu entschuldigen, bis er sich Zeit nehmen kann, Ihre Ansichten sorgfältiger zu studieren.« Der Bonze verneigte sich und zog sich zurück. Erbittert sagte Pascoglu: »Sobald diese Sache vorbei ist, können Sie und der Bonze nach Herzenslust philosophieren. Aber ich habe genug von sinnloser Rederei, ich möchte endlich Taten sehen!« Er druckte auf einen Knopf. »Bitten Sie diese Frau von Journeys End – Fräulein Tausend Kerzen, oder wie immer auch ihr Name ist –, in die Bibliothek zu kommen.« Magnus Ridolph hob die Brauen. »Was haben Sie vor?« Pascoglu wich Magnus Ridolphs Blick aus. »Ich werde mit diesen Leuten reden und herausfinden, was sie wissen.« »Ich fürchte, das ist reine Zeitvergeudung.« »Trotzdem«, sagte Pascoglu eigensinnig. »Irgendwo muß ich ja anfangen. Man bringt kein Licht in etwas, wenn man sich in der Bibliothek aalt.« »Sie wollen damit sagen, daß Sie meine Dienste nicht mehr benötigen?« Pascoglu kaute gereizt an seinem Schnurrbart. »Um ehrlich zu sein, Mr. Ridolph, Sie sind mir ein wenig zu langsam. Mord ist eine ernste Sache. Ich brauche
schnelle Ergebnisse.« Magnus Ridolph verneigte sich. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mir die Interviews mitanhöre?« »Keineswegs.« Ein paar Minuten später trat Fiamella der Tausend Kerzen in die Bibliothek. Pan Pascoglu und Magnus Ridolph betrachteten sie schweigend. Sie trug ein einfaches beiges Kleid und Sandalen aus weichem Leder. Ihre Arme und Beine waren entblößt, ihre Haut wirkte nur um eine Spur bleicher als das Kleid. Eine orangefarbene Blume steckte in ihrem Haar. Pascoglu bedeutete ihr mit ernstem Gesicht näherzukommen. Magnus Ridolph zog sich zu einem etwas weiter entfernten Sessel zurück. »Ja?« fragte Fiamella mit sanfter wohlklingender Stimme. »Zweifellos haben Sie von Mr. Bonfils Tod gehört?« fragte Pascoglu. »O ja!« »Und Sie denken sich nichts dabei?« »Ich bin natürlich sehr glücklich darüber.« »Tatsächlich?« Pascoglu räusperte sich. »Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie sich als Mrs. Bonfils ausgegeben.« Fiamella nickte. »So würde man es hier ansehen. Auf Journeys End dagegen sieht man ihn als Mr. Fiamella an. Ich habe ihn erwählt. Aber er rannte davon, und das ist sehr schlimm. Also folgte ich ihm. Ich erklärte ihm, wenn er nicht nach Journeys End zurückkehrt, würde ich ihn töten.« Pascoglu sprang auf sie zu wie ein Terrier und stieß
einen kurzen Zeigefinger durch die Luft. »Ah! Dann geben Sie also zu, daß Sie ihn getötet haben!« »Nein, nein!« protestierte sie entrüstet. »Mit einer Feuerwaffe? Sie beleidigen mich! Sie sind nicht besser als Bonfils. Passen Sie lieber auf, sonst töte ich Sie!« Pascoglu wich erschrocken zurück. Er drehte sich zu Magnus Ridolph um. »Haben Sie das gehört, Ridolph?« »Natürlich, natürlich.« Fiamella nickte heftig. »Sie machen sich über die Schönheit einer Frau lustig – aber was hat sie sonst? Also tötet sie Sie, und Sie können sie nicht mehr beleidigen!« »Wie, genau, töten Sie denn, Fräulein Fiamella?« erkundigte sich Magnus Ridolph höflich. »Mit Liebe, natürlich. Ich komme so...« Sie schritt vorwärts, hielt an, blieb starr vor Pascoglu stehen und blickte ihm in die Augen. »Ich hebe die Hände...« Langsam nahm sie die Arme hoch und streckte die Handflächen Pascoglus Gesicht entgegen. »Ich drehe mich um und gehe fort.« Sie tat es und blickte über die Schulter. »Ich komme zurück.« Sie rannte zurück. »Und bald werden Sie sagen: ›Fiamella, laß mich dich berühren, laß mich deine Haut fühlen.‹ Und ich sage: ›Nein!‹ Dann trete ich hinter Sie und blase auf Ihren Hals...« »Hören Sie auf!« rief Pascoglu beunruhigt. »... und bald werden Sie bleich, Ihre Hände zittern, und Sie rufen: ›Fiamella, Fiamella der Tausend Kerzen, ich liebe dich, ich sterbe vor Liebe!‹ Dann komme ich wieder, wenn es fast dunkel ist, und ich trage nur Blumen. Dann rufen Sie flehend: ›Fiamella!‹ Als nächstes werde ich...«
»Ich verstehe«, versicherte ihr Magnus Ridolph sanft. »Wenn Mr. Pascoglu sich wieder gefaßt hat, wird er sich sofort entschuldigen, weil er Sie unbeabsichtigt beleidigt hat. Was mich selbst betrifft, nun, ich könnte mir keinen schöneren Tod vorstellen, und bin fast geneigt...« Sie zupfte scherzhaft seinen Bart. »Sie sind zu alt.« Magnus Ridolph mußte ihr kläglich beipflichten. »Ja, ich fürchte, Sie haben recht. Einen Augenblick machte ich mir selbst etwas vor... Sie dürfen gehen, Fiamella der Tausend Kerzen. Bitte kehren Sie nach Journeys End zurück. Ihr Mann, der Sie nicht zu schätzen wußte, ist tot. Niemand wird es je wieder wagen, Sie zu beleidigen.« Fiamella lächelte dankbar und ein wenig traurig zugleich, und ging grazilen Schrittes zur Tür. Dort hielt sie inne und drehte sich um. »Interessiert es Sie, wer den armen Lester getötet hat?« »Ja, natürlich!« antwortete Pascoglu eifrig. »Kennen Sie die Priester von Cambyses?« »Fodor Impliega, Fodor Banzoso?« Fiamella nickte. »Sie haßten Lester. Sie sagten zu ihm: ›geben Sie uns einen Ihrer wilden Sklaven. Zuviel Zeit ist verstrichen – wir müssen unserem Gott eine Seele schicken.‹ Lester sagte: ›Nein!‹ Das ergrimmte sie sehr. Sie steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich über Lester.« Pascoglu nickte nachdenklich. »Aha. Ich werde diese Priester natürlich vernehmen. Vielen Dank für Ihren Hinweis.« Fiamella verließ die Bibliothek. Pascoglu trat an das Hausfon. »Schicken Sie bitte Fodor Impliega und Fodor Banzoso hierher.«
Nach einer kurzen Weile meldete der Angestellte. »Sie sind beschäftigt, Mr. Pascoglu – mit irgendeinem Ritual. Sie sagten, es würde nur noch wenige Minuten dauern, dann kommen sie.« »Danke. Hm... Schicken Sie bitte Viamestris Diasporus hierher.« »Jawohl, Sir.« »Zu Ihrer Information«, sagte Magnus Ridolph. »Viamestris Diasporus kommt von einer Welt, auf der Gladiatorenkämpfe ungemein beliebt sind und wo erfolgreiche Gladiatoren als Fürsten behandelt werden, vor allem Amateurgladiatoren, die hochgestellte Edle sein mögen, die lediglich um der öffentlichen Anerkennung und des Prestiges wegen kämpfen.« Pascoglu drehte sich um. »Wenn Diasporus ein Amateurgladiator ist, dürfte er ziemlich abgebrüht und es ihm egal sein, wen er tötet!« »Ich erwähne nur, was ich durch meine Nachforschungen heute vormittag erfahren habe. Ihre Schlüsse müssen Sie selbst ziehen.« Pascoglu brummte etwas Unverständliches. An der Tür erschien Viamestris Diasporus, der hochgewachsene eckige Mann mit dem schmalen scharfgeschnittenen Vogelgesicht, über den Magnus Ridolph sich im Foyer seine Gedanken gemacht hatte. Sorgfältig sah er sich in der Bibliothek um. »Bitte treten Sie doch ein!« forderte Pascoglu ihn auf. »Ich untersuche den Mord an Lester Bonfils. Vielleicht können Sie uns helfen.« Diasporus' Staunen machte sein Gesicht noch länger. »Hat der Täter sich denn nicht gemeldet?« »Leider nicht.« Diasporus Geste war flink, er nickte mit dem Kopf,
als wäre ihm jetzt alles klar. »Bonfils war offenbar von niedrigster Art, und statt stolz auf seine Handlung zu sein, schämt der Täter sich.« Pascoglu kratzte sich am Hinterkopf. »Eine rein hypothetische Frage, Mr. Diasporus: angenommen Sie haben Bonfils getötet, welchen Grund...« Diasporus fuhr entrüstet mit der Hand durch die Luft. »Lächerlich! Mit einem so unbedeutenden Sieg würde ich meinem Namen nur Schande machen.« »Aber angenommen, Sie hätten Grund gehabt, ihn zu töten...« »Welchen Grund könnte es da geben? Er gehörte zu keiner anerkannten Sippe, es kam keine Herausforderung von ihm, bei seinem Format wäre es für einen unter der Würde gewesen, mit ihm auch nur den Sand der Arena aufzuwirbeln.« Nörglerisch beharrte Pascoglu: »Aber wenn er Sie beleidigt hätte...« Magnus Ridolph warf ein: »Nur um des Argumentes willen, wollen wir annehmen, daß Mr. Bonfils weiße Farbe auf die Fassade Ihres Hauses geworfen hat.« Mit zwei Sätzen stand Diasporus neben Magnus Ridolph. Das fanatische knochige Gesicht beugte sich zu ihm hinab. »Was sagen Sie da? Was hat er getan?« »Er hat nichts getan. Er ist tot. Ich nahm dieses Beispiel lediglich, damit Mr. Pascoglu sich ein Bild machen kann.« »Ah, ich verstehe. Nun, ich würde einen solchen Hund vergiften lassen. Aber offenbar hat Bonfils keine solche Gemeinheit begangen, denn ich hörte, daß er eines anständigen Todes starb, durch eine Waffe von Prestige.« Pascoglu wandte den Blick zur Decke und streckte
die Hände aus. »Vielen Dank, Mr. Diasporus. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Diasporus verließ die Bibliothek. Wieder trat Pascoglu ans Hausfon. »Bitte schicken Sie Mr. Thorn 199 zu mir.« Sie warteten schweigend. Schließlich erschien Thorn 199. Er war ein drahtiger kleiner Mann mit verhältnismäßig großem runden Kopf. Offenbar stammte er von einer vielfach mutierten Rasse. Seine Haut war wachsbleich. Er trug auffallend grelle Kleidung: blau und orange, mit rotem Kragen und verspielt wirkenden roten Schuhen. Pascoglu hatte seine Haltung wiedergewonnen. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Mr. Thorn. Ich möchte gern...« Magnus Ridolph unterbrach ihn mit nachdenklicher Stimme. »Verzeihen Sie, dürfte ich zuerst einen Vorschlag machen?« »Nun?« fragte Pascoglu verärgert. »Ich fürchte, Mr. Thorn trägt nicht den richtigen Anzug, wie er es für eine so wichtige Befragung vorzöge. In seinem Interesse sollte ich vielleicht erwähnen, daß er lieber einen schwarz-weißen Anzug trüge, natürlich mit schwarzem Hut.« Thorn bedachte Magnus Ridolph mit einem Blick tiefsten Hasses. Pascoglu blickte verwirrt von Magnus Ridolph zu Thorn 199 und zurück. »Meine gegenwärtige Kleidung genügt für diesen Anlaß«, sagte Thorn 199 heftig. »Schließlich besprechen wir ja nichts von Bedeutung.« »O doch! Wir wollen Sie über den Tod Lester Bonfils befragen.«
»Davon weiß ich nichts.« »Dann wird es Ihnen doch gewiß nichts ausmachen, Schwarz und Weiß zu tragen?« Thorn 199 drehte sich auf dem Absatz und stürmte aus der Bibliothek. »Was soll das mit dem Schwarz und Weiß?« erkundigte sich Pascoglu verblüfft. Magnus Ridolph deutete auf einen Filmstreifen, der sich noch im Betrachter befand. »Ich hatte heute vormittag Gelegenheit, mich mit den Sitten und Gebräuchen der Bewohner der Halbinsel Kolar auf Duax vertraut zu machen. Die Symbologie der Kleidung ist besonders faszinierend. Das Blau und Orange, in dem Thorn 199 sich bei uns zeigte, weist auf eine frivole Einstellung hin, bei der der Betreffende es mit der Wahrheit keineswegs genau nimmt. Schwarz und Weiß dagegen sind die Farben der Verantwortung und Integrität. Tragen die Kolarianer diese Farben und dazu einen schwarzen Hut, sind sie gezwungen, die Wahrheit zu sagen.« Pascoglu nickte fast verlegen. »Nun, dann werde ich mir inzwischen die beiden Priester von Cambyses vornehmen.« Er blickte Magnus Ridolph fragend an. »Ich habe gehört, daß auf Cambyses Menschenopfer nichts Ungewöhnliches sind. Stimmt das?« »Es stimmt«, versicherte ihm Magnus Ridolph. Es dauerte nicht lange, da kamen die zwei Priester, Fodor Impliega und Fodor Banzoso, in die Bibliothek. Beide waren korpulent, beide wirkten unsympathisch. Sie hatten ungesund rote Gesichter, volle Lippen, und die Augen versanken fast in Speckfalten. Pascoglu nahm seine offizielle Haltung wieder an. »Ich untersuche den Mord an Lester Bonfils. Sie beide
reisten mit ihm auf der Sternenbegleiter. Vielleicht ist Ihnen etwas aufgefallen, das möglicherweise Licht ins Dunkel bringen könnte.« Die Priester bliesen die Wangen ein wenig auf, blinzelten und schüttelten den Kopf. »Wir sind an Männern wie Bonfils nicht interessiert.« »Aber Sie ersuchten ihn doch um etwas, wenn ich mich nicht täusche.« Die Priester starrten Pascoglu an. Ihre Augen wirkten wie aus Stein. Pascoglu fuhr fort. »Sie wollten, daß Bonfils Ihnen einen seiner Paläolithiker als Opfer abtritt. Stimmt das?« »Sie verstehen unsere Religion nicht«, antwortete Fodor Impliega mit schneidender Stimme. »Der große Gott Camb existiert in jedem von uns, wir sind alle Teile des Ganzen, das Ganze der Teile.« Fodor Banzoso ergänzte diese Antwort. »Sie benutzten das Wort ›Opfer‹. Das drückt es völlig falsch aus. Sie hätten sagen müssen ›um sich mit Camb zu vereinen‹. Es ist, als ginge man zum Feuer, um sich zu wärmen. Je mehr Seelen sich ihm anschließen, desto wärmender wird das Feuer.« »Ich verstehe, ich verstehe«, brummte Pascoglu. »Bonfils weigerte sich, Ihnen einen seiner Paläolithiker als Opfer zu geben...« »Nicht ›Opfer‹!« »... deshalb wurden Sie wütend und opferten vergangene Nacht Bonfils selbst.« »Darf ich etwas einwerfen?« bat Magnus Ridolph. »Wie Sie wissen, Mr. Pascoglu, verbrachte ich den Vormittag mit Nachforschungen. Ich stieß dabei auch auf die Beschreibung der cambianischen Opferriten.
Für die Wirksamkeit des Rituals ist es erforderlich, daß das Opfer kniet und den Kopf nach vorn beugt. Dann werden ihm zwei Spieße in die Ohren gebohrt, bis sich die Spitzen berühren, und das Opfer wird in dieser Haltung belassen: kniend, mit gesenktem Gesicht, in ritueller Demut. Bonfils lag würdelos auf dem Boden ausgestreckt. Ich würde meinen, daß Fodor Impliega und Fodor Banzoso zumindest für dieses Verbrechen nicht verantwortlich sind.« »Wie recht!« versicherte ihm Fodor Impliega. »Nie würden wir eine Leiche in einem solch camblosen Zustand zurücklassen.« Pascoglu blies die Wangen auf. »Ich habe einstweilen keine weiteren Fragen.« In diesem Moment kehrte Thorn 199 zurück. Er trug eine hautenge schwarze Hose, ein weißes Blusenhemd, eine schwarze Jacke und einen schwarzen Dreieckhut. Er wich den Priestern, die die Bibliothek verließen, seitwärts aus. »Sie brauchen ihm nur eine einzige Frage zu stellen«, riet Magnus Ridolph Pascoglu zu. »›Welche Kleidung trugen Sie um Mitternacht?‹« »Nun?« sagte Pascoglu und sah Thorn 199 an. »Welche Kleidung?« »Blau und Purpur.« »Haben Sie Lester Bonfils getötet?« »Nein.« »Zweifellos spricht Mr. Thorn 199 die Wahrheit«, sagte Magnus Ridolph. »Die Kolarianer nehmen gewalttätige Handlungen nur vor, wenn sie eine graue Hose tragen und dazu eine grüne Jacke und einen roten Hut. Ich glaube, Sie können Mr. Thorn 199 von der Liste streichen.«
»Nun gut«, brummte Pascoglu. »Das ist alles, Mr. Thorn.« Thorn 199 zog sich zurück. Pascoglu blickte leicht entmutigt auf seine Liste. »Mr. Hercules Starguard möchte bitte zu mir kommen«, sagte er ins Hausfon. Hercules Starguard war ein gut gebauter, junger Mann mit dichten flachsfarbenen Locken u n d saphirblauen Augen. Er trug eine senffarbene Hose, eine lose schwarze Jacke, und übertrieben elegante schwarze Kurzstiefel. Pascoglu richtete sich in dem Sessel auf, in den er sich hatte fallen lassen. »Mr. Starguard, wir untersuchen den tragischen Tod Mr. Bonfils'!« »Ich bin unschuldig«, erklärte Hercules Starguard. »Ich habe dieses Schwein nicht umgebracht.« Pascoglu hob die Brauen. »Sie hatten Grund für Ihre Abneigung gegenüber Mr. Bonfils.« »Das kann man wohl sagen.« »Und was war dieser Grund?« Hercules Starguard blickte verächtlich auf Pascoglu hinab. »Also wirklich, Mr. Pascoglu, ich verstehe nicht, was meine Abneigung mit Ihrer Untersuchung zu tun hat.« »Nun, Sie könnten Mr. Bonfils getötet haben.« Starguard zuckte die Achseln. »Aber ich habe es nicht.« »Können Sie ein Alibi erbringen?« »Vermutlich nicht.« Magnus Ridolph lehnte sich vor. »Vielleicht kann ich Mr. Starguard helfen.« Pascoglu blickte ihn an. »Bitte, Mr. Ridolph, ich glaube nicht, daß Mr. Starguard Hilfe braucht.« »Ich möchte nur etwas klarstellen«, sagte Magnus Ridolph.
»Durch Ihre Klarstellungen bringen Sie mich um alle Verdächtigen«, schnaubte Pascoglu. »Aber gut, was ist es diesmal?« »Mr. Starguard ist ein Erdenmensch und unterliegt dem Einfluß irdischer Kultur. Im Gegensatz zu vielen Menschen und Fastmenschen der äußeren Welten ist er mit der Einstellung geboren, daß menschliches Leben wertvoll ist, und der, der es nimmt, bestraft wird.« »Das hindert Mörder auch nicht«, knurrte Pascoglu. »Nein, aber es hält einen Erdenmenschen davon ab, in Anwesenheit von Zeugen zu morden.« »Zeugen? Meinen Sie die Paläolithiker? Wie könnten sie als Zeugen nutzen?« »Vermutlich überhaupt nicht, jedenfalls nicht rechtsgültig. Aber sie sind wichtige Indikatoren, da die Gegenwart menschlicher Zuschauer einen Erdenmenschen von Mord abhalten würde. Aus diesem Grund glaube ich, daß wir nun auch Mr. Starguard von unserer Liste streichen können.« Pascoglu ließ das Kinn hängen. »Aber – wer bleibt dann noch?« Er starrte auf die Liste. »Der Hekatäer.« Er sprach ins Hausfon. »Schicken Sie jetzt Mr. ...« Er runzelte die Stirn. »Hm, den Hekatäer.« Der Hekatäer war der einzige Nichtmensch der Gruppe, obgleich er rein äußerlich eine ziemlich große Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Er war hochgewachsen, hatte Steckenbeine und dunkle nachdenkliche Augen in einem weißen harten Chitingesicht. Seine Hände waren elastische fingerlose Lappen – das war eigentlich der Hauptunterschied vom Menschen. An der Tür blieb er stehen und
schaute sich um. »Bitte, treten Sie ein, Mr. ...« Pascoglu hielt gereizt inne. »Ich kenne Ihren Namen nicht. Sie weigerten sich, ihn mir anzuvertrauen, und so kann ich Sie nicht richtig anreden. Trotzdem, wenn Sie so liebenswürdig wären, hereinzukommen...« Der Hekatäer kam näher. »Die Menschen sind komische Wesen. Jeder hat seinen privaten Namen. Ich weiß, wer ich bin, weshalb muß ich mir da quasi ein Schild umhängen? Dieses Bedürfnis, jeder Wirklichkeit einen bestimmten Ausdruck zu verleihen, ist eine rassische Idiosynkrasie.« »Wir möchten eben gern wissen, worüber wir sprechen«, erklärte Pascoglu. »Deshalb geben wir allem einen Namen.« »Und dadurch entgeht Ihnen die große Intuition«, entgegnete der Hekatäer. Seine Stimme klang hohl und feierlich. »Doch Sie haben mich hierhergerufen, um mich über den Mann auszufragen, der Bonfils bezeichnet wurde. Er ist tot.« »Genau«, brummte Pascoglu. »Wissen Sie, wer ihn getötet hat?« »Selbstverständlich«, antwortete der Hekatäer. »Weiß das nicht jeder?« »Nein«, erwiderte Pascoglu. »Wer war es?« Der Hekatäer blickte sich in der Bibliothek um und als er sich wieder Pascoglu zuwandte, wirkten seine Augen so leer wie eine unbenutzte Gruft. »Offenbar täuschte ich mich. Wenn ich es wüßte, möchte doch die Person, die sich damit befaßt, daß es nicht ans Tageslicht kommt, und weshalb sollte ich ihr diesen Gefallen nicht tun? Wenn ich es wußte, weiß ich es nicht mehr.«
Pascoglu begann etwas wütend herauszusprudeln. Magnus Ridolph unterbrach ihn mit ernster Stimme. »Eine vernünftige Einstellung.« Jetzt lief das Faß bei Pascoglu über. »Ich halte seine Einstellung für schändlich! Ein Mord geschah. Diese Kreatur behauptet zu wissen, wer ihn verübt hat, und weigert sich nun, es zu sagen... Ich habe gute Lust, ihn in seinem Zimmer einzusperren, bis das Patrouillenschiff hier ist!« »Wenn Sie das versuchen«, drohte der Hekatäer, »werde ich meinen Sporenbeutel in die Luft entleeren. Dann wird Ihre Nabe von Hunderttausenden von winzigen Lebewesen bevölkert sein. Und wenn Sie auch nur einem einzigen davon etwas antun, werden Sie sich der gleichen Tat schuldig machen, die Sie gerade untersuchen.« Pascoglu ging zur Tür und riß sie weit auf. »Hinaus! Verschwinden Sie! Nehmen Sie das nächste Schiff, das hier anlegt – und lassen Sie sich nie wieder hier sehen! Ich würde es nicht dulden!« Der Hekatäer zog sich wortlos zurück. Magnus Ridolph erhob sich, um ihm zu folgen. Pascoglu hielt eine Hand hoch. »Einen Moment noch, Mr. Ridolph. Ich brauche Ihren Rat. Ich war etwas voreilig und verlor den Kopf.« Magnus Ridolph blickte ihn nachdenklich an. »Was, genau, möchten Sie von mir?« »Finden Sie den Mörder. Helfen Sie mir aus diesem Schlamassel heraus!« »Das läßt sich vielleicht nicht miteinander vereinbaren.« Pascoglu ließ sich in einen Sessel fallen und preßte die Hände auf die Augen. »Geben Sie mir nicht noch
mehr Rätsel auf, Mr. Ridolph!« »Nun, im Grund genommen bedürfen Sie meiner Dienste eigentlich gar nicht. Sie haben die Verdächtigen vernommen und nun zumindest einen flüchtigen Einblick in die Zivilisationen gewonnen, die sie geformt haben.« »Jas ja«, murmelte Pascoglu kläglich. Er nahm erneut die Liste zur Hand, starrte sie an und dann Magnus Ridolph. »Welcher war es? Diasporus? Hat er es getan?« Magnus Ridolph spitzte zweifelnd die Lippen. »Er ist ein Ritter von Dacca, ein Amateurgladiator von offenbar beachtlichem Ruf. Ein Mord dieser Art würde ihm die Selbstachtung rauben und sein Selbstvertrauen. Ich gebe der Wahrscheinlichkeit, daß er der Mörder ist, nicht mehr als ein Prozent.« »Hmm. Was ist mit Fiamella der Tausend Kerzen? Sie gab zu, daß sie ihn töten wollte.« Magnus Ridolph runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht. Tod durch ungestilltes Liebesverlangen ist natürlich nicht unmöglich – aber sind Fiamellas Motive nicht zweifelhaft? Ich schloß, daß ihr Ruf durch Bonfils Ablehnung ihres Antrags litt und sie sich deshalb daran machte, ihn wiederherzustellen. Wäre es ihr gelungen, den armen Bonfils durch ihre Reize und Verführungsküste in den Tod zu treiben, hätte sie sich gewiß hohes Ansehen erworben. Aber sie hatte alles zu verlieren, wenn er auf eine andere Weise starb. Wahrscheinlichkeit: auch hier nicht mehr als ein Prozent.« Pascoglu hakte ihren Namen ab. »Was ist mit Thorn 199?« Magnus Ridolph streckte die Hände mit der Hand-
fläche nach vorn aus. »Er trug seinen Gewalttätigkeitsanzug nicht. So einfach ist das. Wahrscheinlichkeit: ein Prozent.« Pascoglu stöhnte tief. »Und die Priester, Banzoso und Impliega? Sie brauchten ein Opfer für ihren Gott.« Magnus Ridolph schüttelte den Kopf. »Es war Pfuscharbeit. Ein so schlampig dargebrachtes Opfer würde ihnen zehntausend Jahre Verdammnis einbringen.« »Aber vielleicht glauben Sie nicht wirklich daran?« meinte Pascoglu halbherzig. »Warum hätten sie sich dann überhaupt die Mühe machen sollen?« konterte Magnus Ridolph. »Nein, Wahrscheinlichkeit: ein Prozent.« »Nun, dann haben wir Starguard«, überlegte Pascoglu laut. »Aber Sie behaupten ja, daß er vor Zeugen keinen Mord begehen würde...« »Es wäre höchst unwahrscheinlich«, sagte Magnus Ridolph. »Aber setzen wir den Fall, daß Bonfils ein Scharlatan war, die Paläolithiker Schwindler sind, und Starguard irgendwie in den Betrug verwickelt ist...« »Ja!« rief Pascoglu eifrig. »Ähnliches ging mir ebenfalls bereits durch den Kopf.« »Das Manko an dieser Theorie ist nur daß sie nicht zutreffen kann. Bonfils war ein Anthropologe von universumweitem Ruf. Ich beobachtete die Paläolithiker und bin sicher, daß sie ihre Primitivität nicht nur vortäuschen. Sie sind scheu und wirken verwirrt. Zivilisierte Menschen, die Barbaren nachzuahmen versuchen, übertreiben gewöhnlich mit dem tölpischen Benehmen. Die Wilden, die sich der Zivilisation an-
passen wollen, bemühen sich, dem Beispiel ihres Vorbilds – in diesem Fall Bonfils – zu folgen. Ich beobachtete sie beim Abendessen und amüsierte mich, wieviel Mühe sie sich gaben, Bonfils Manieren zu imitieren. Als wir die Leiche untersuchten, waren sie zweifellos verstört. Ich bemerkte keinerlei Spur verschlagener Gerissenheit, mit der ein Zivilisierter einer unangenehmen Lage zu entgehen versuchen würde. Nein, ich bin sicher, Bonfils und seine Paläolithiker waren genau das, was sie zu sein vorgaben.« Pascoglu sprang auf und rannte hin und her. »Dann können wohl auch die Paläolithiker Bonfils nicht getötet haben.« »Die Wahrscheinlichkeit ist minimal. Und wenn wir von ihrer Echtheit überzeugt sind, können wir auch den Verdacht vergessen, daß Starguard ihr Komplize war, und ihn aus den angegebenen Gründen kultureller Bedenken ausschließen.« »Und der Hekatäer? Was ist mit ihm?« »Er kommt als Mörder noch weniger in Frage als alle anderen«, antwortete Magnus Ridolph. »Und zwar aus drei Gründen: erstens, er ist nichtmenschlich und kennt Gefühle wie Wut und Verlangen nach Rache überhaupt nicht. Auf Hekate gibt es keine Gewalttätigkeit. Zweitens, als Nichtmensch hat er keine Gemeinsamkeit mit und keinerlei Empfindungen für Bonfils. Ein Leopard greift ja auch keinen Baum an – dazu sind sie viel zu unterschiedliche Lebewesen. Drittens, wäre es sowohl physisch als auch psychologisch unmöglich für den Hekatäer, Bonfils zu töten. Seine Hände haben keine Finger – sie sind Sehnenlappen, sie könnten keinen geschützten Auslöser drücken. Ich glaube, Sie dürfen den Hekatäer vergessen.«
»Aber wer bleibt denn dann noch übrig?« rief Pascoglu verzweifelt. »Nun, Sie und ich und...« Die Tür öffnete sich. Der Bonze in der roten Robe blickte herein.
5 »Nur herein! Herein!« rief ihm Magnus Ridolph herzlich entgegen. »Wir haben den Fall zu Ende gebracht und festgestellt, daß von allen Personen hier in der Nabe nur Sie Lester Bonfils getötet haben können, und deshalb brauchen wir auch nicht mehr länger in der Bibliothek herumsitzen.« »Wa-as?« Pascoglu starrte den Bonzen entgeistert an, der eine verlegen abwehrende Geste machte. »Ich hatte gehofft, mein Eingriff würde unbemerkt bleiben.« Der Bonze senkte den Kopf. »Sie sind zu bescheiden«, sagte Magnus Ridolph. »Die guten Taten eines Mannes sollten nicht im Verborgenen blühen.« Der Bonze verbeugte sich. »Ich möchte keine Lobpreisungen, schließlich tue ich ja nur meine Pflicht. Und wenn Sie tatsächlich hier fertig sind, würde ich gern die Bibliothek benutzen. Ich muß einigen Studien nachgehen.« »Aber selbstverständlich. Kommen Sie, Mr. Pascoglu! Es wäre rücksichtslos, den ehrenwerten Bonzen von seinen Meditationen abzuhalten.« Schon zog Magnus Ridolph den immer noch fassungslosen Plan Pascoglu auf den Korridor. »Ist er – ist er wirklich der Mörder?« fragte Pascoglu mit schwacher Stimme. »Er tötete Lester Bonfils, das steht fest.« »Aber warum?« »Aus Herzensgüte. Wie Sie wissen, sprach Bonfils eine Weile zu mir. Er litt ganz zweifelsohne unter beachtlichen psychischen Schäden.«
»Aber... aber er hätte doch geheilt werden können!« rief Pascoglu entrüstet. »Es war doch wirklich nicht nötig, ihn umzubringen, nur um seine psychischen Konflikte zu beheben.« »Aus unserer Sicht gewiß nicht«, antwortete Magnus Ridolph. »Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß der Bonze fest an... nun, nennen wir es ›Reinkarnation‹ glaubt. Er vermeinte, den selbstquälerischen Bonfils, der zu ihm um Hilfe kam, zu erlösen, um ihm so neues Glück zu schenken. Er erachtet es als gute Tat.« Sie betraten Pascoglus Büro. Pascoglu starrte blicklos zum Fenster hinaus. »Was soll ich jetzt tun?« murmelte er. »Ich fürchte«, antwortete Magnus Ridolph, »daß ich Ihnen da keinen Rat geben kann.« »Es erscheint mir nicht richtig zu sein, den armen Bonzen zu bestrafen... Es ist lächerlich! Was kann ich nur tun?« »Ja, es ist ein echtes Problem«, bestätigte Magnus Ridolph. Eine Weile herrschte Schweigen. Ratlos zupfte Pascoglu an seinem Schnurrbart. Da sagte Magnus Ridolph: »Hauptsächlich sind Sie wohl daran interessiert, Ihre Gäste vor möglicher weiterer fehlgeleiteter Philanthropie zu schützen?« »Ja, das ist es!« rief Pascoglu. »Bonfils Tod könnte ich als Unfall hinstellen – und die Paläolithiker auf ihren Planeten zurückschicken...« »Ich würde auch den Bonzen von Personen fernhalten, die von Melancholie gequält werden, und wenn es nur ein geringer Anfall ist. Denn wenn er energisch ist und seine Lebensaufgabe ernst nimmt,
könnte es leicht sein, daß er diese Wohltätigkeit in einem größeren Rahmen betreiben wird.« Plötzlich stützte Pascoglu das Kinn auf die Hand. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er Magnus Ridolph an. »Ich war heute morgen ziemlich bedrückt. Ich unterhielt mich mit dem Bonzen – erzählte ihm von all meinen Schwierigkeiten – jammerte über die hohen Lebenskosten, die steigenden Ausgaben...« Fast lautlos schwang die Tür auf. Der Bonze spähte herein, mit einem schwachen Lächeln auf dem gütigen Gesicht. »Störe ich?« erkundigte er sich, als er Magnus Ridolph sah. »Ich hatte gehofft, Sie allein vorzufinden, Mr. Pascoglu.« »Ich war bereits am Gehen«, versicherte Magnus Ridolph ihm höflich. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen...« »Nein, nein!« rief Pascoglu. »Bitte, gehen Sie nicht, Mr. Ridolph!« »Nun, ein anderes Mal paßt es mir genausogut«, sagte der Bonze freundlich. Die Tür schloß sich wieder hinter ihm. »Jetzt fühle ich mich schlimmer als je zuvor!« stöhnte Pascoglu. »Aber zeigen Sie das ja dem Bonzen nicht!« warnte Magnus Ridolph.
DIE MANIPULIERTEN SARDINEN Alles Übel von der Welt verbannen? Unsinn! Ermutige es, unterstütze es! Die Welt schuldet dem Bösen unbeschreiblich viel! Überleg doch! Wo bliebe Ambition, gäbe es keine Habgier? Ohne Eitelkeit wäre Kunst müßige Träumerei! Ohne Grausamkeit würden Barmherzigkeit und Güte zur Passivität verdammt! Der Aberglaube hat den Menschen zum Selbstvertrauen gezwungen! Und wo bliebe die Freude an einem scharfen Verstand und schneller Auffassungsgabe, gäbe es keine Dummheit? Magnus Ridolph Magnus Ridolph ruhte sich auf einem Liegestuhl aus, und ein grün-oranger Sonnenschirm schützte ihn zumindest ein wenig vor der prallen afrikanischen Sonne. Auf dem Tisch neben ihm schwelte eine Zigarre. Shemmlers Neue Nachrichten lagen mit dem Einband nach oben auf der Platte, und daneben stand ein Glas mit eisgekühlter Limonade. Kurz gesagt, es war ein Bild idyllischer Ruhe und Entspannung... Da klickte im Haus der Transgraf. Magnus Ridolph wartete kurz, dann erhob er sich und trat ins Innere. Er nahm das Blatt aus dem Apparat und las: Lieber Magnus, hier ist der Speiseplan, den ich gerade von meinem Koch erfuhr: gegrilltes Birkhuhn mit Trüffeln und Kirschkompott, Königin Persis-Salat, Artischocken von Sirius 5. Dazu schlage ich selbst Weine von drei Planeten vor,
darunter einen unbeschreibbar blumigen Rotwein, und zum Abschluß Ölsardinen. Wenn Du Zeit hast, würde ich mich freuen Deine Meinung über dieses Menü zu hören – vor allem über die Sardinen, die ja ungewöhnlich sind. Joel Karamor Magnus Ridolph kehrte zu seinem Liegestuhl zurück, las die Einladung noch einmal, faltete das Blatt und legte es auf den Tisch neben sich. Er rieb seinen kurzen weißen Bart, dann lehnte er sich zurück, kniff die Augen halb zu und beobachtete ein kleines Segelboot, so weiß wie die Mauern von Marrakesch, das durch das dunkle Blau des Saharasees schnitt. Abrupt erhob er sich, ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Mnemiphot. Er gab den Kode für Sardinen ein. Mehrere Minuten zog die Information über den Bildschirm. Sehr wenig erschien wichtig zu sein, und er fand nichts, was ihn sonderlich interessierte. Die Sardina pilchardus gehörte, nach dem Mnemiphot, zur Familie der Heringe, war ein fünfzehn bis fünfundzwanzig Zentimeter langer Schwarmfisch, der sich von winzigen Meerestieren ernährte. Es gab noch verschiedene Einzelheiten, was Muster, Aufzucht, Gewohnheiten, natürliche Feinde und dergleichen betraf und eine Erwähnung der unterschiedlichen Spezies. Magnus bedankte sich schriftlich für die Einladung, gab Joel Karamors Adreßkode ein und warf die Antwort in den Schlitz des Transgrafen. Karamor war ein großer Mann von blühender Gesundheit mit einer großen Nase, einem großen Kinn
und üppigem graumelierten Haar. Er war ein offener ehrlicher Mann, voll Güte. Magnus Ridolph, der die schlimmsten Vorstellungen und den größten Egoismus bei anderen gewöhnt war, fand ihn eine erfrischende Bereicherung seines Umgangs. Das Dinner wurde in einem hohen Zimmer serviert, das mit Kongohartholz getäfelt und mit primitiven Holzmasken geschmückt war, die hoch an den Wänden im Schatten hingen. Eine Wand war ganz aus Glas und bot einen herrlichen Ausblick auf das klare Blau des einbrechenden Abends, und dreißig Kilometer südlich auf den Fuß des Tibestigebirges. Die beiden saßen an einem Tisch aus poliertem Guajakholz, und als Tischschmuck stand genau in der Mitte ein kunstvoll behauener Malachit, den Ridolph als ein 3-Generationen-Werk von der Golwanaküste auf dem Planeten Mugh erkannte – an dem Vater, Sohn und Sohnessohn auf die Minute hundert Jahre gearbeitet hatten.* Das Dinner übertraf Karamors übliche noch. Das Birkhuhn war knusprig und zerschmolz trotzdem schier auf der Zunge, der Salat war beispiellos. Die Weine waren süffig und blumig, schwer und doch nicht übersättigend. Als Nachspeise gab es Fruchteis, und danach folgte noch ein Gang Käse mit Crackers. »Und jetzt«, sagte Karamor und beobachtete Magnus Ridolph gespannt, »unsere Sardinen und Kaffee.« *
Der Katalog Pomukka-Dhens, des letzten Golwana-Kaisers, weist siebentausend Hundertjahresstücke, hundertsechsunddreißig Tausendjahresstücke, und vierzehn Zehntausendjahresstücke auf. Magnus Ridolph hatte gehört, daß im Hinterland ein Hunderttausendjahresstück seiner Vollendung entgegensah: ein gigantischer behauener Turmalin.
Magnus Ridolph verzog das Gesicht – wie er wußte, daß sein Gastgeber es von ihm erwartete – und sagte: »Auf den Kaffee freue ich mich. Die Sardinen müßten jedoch von sehr ungewöhnlicher Qualität sein, um mich zu reizen.« Karamor nickte bedeutungsvoll. »Sie sind ungewöhnlich.« Er erhob sich, schob die Tür eines Wandschränkchens auf und kehrte mit einer flachen Dose mit roter, blauer und gelber Prägung zurück. »Da, ich schenke sie dir.« Karamor setzte sich wieder und beobachtete seinen Gast erwartungsvoll. Die Beschriftung auf der Dose lautete: Beste Qualität, ausgesuchte Sardinen in Öl. Chandarische Konservenfabrik, Chandaria. Magnus Ridolph hob die weißen Brauen. »Von Chandaria eingeführt? Ein weiter Weg für den Fischimport.« »Die Sardinen sind Spitzenqualität«, versicherte ihm Karamor. »Besser als alle auf der Erde. Echte Delikatessen, für die ein beachtlicher Preis bezahlt wird.« »Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, daß die Einfuhr sich rentiert«, sagte Magnus Ridolph zweifelnd. »Aber sie tut es«, erklärte Karamor. »Natürlich mußt du wissen, daß die Verpackungskosten ungemein niedrig sind und so die Fracht hereinkommt. Aber du weißt ja, daß Raumfracht nicht sonderlich teuer ist. Nein, wir machen kein schlechtes Geschäft.« Magnus Ridolph blickte von der Dose auf. »›Wir‹?« »George Donnels, mein Partner in diesem Konservengeschäft, und ich. Ich finanzierte das Ganze und kümmere mich hier um den Verkauf. Er ist für den
Fischfang, die Verarbeitung und Verpackung zuständig.« »Ich verstehe«, murmelte Magnus Ridolph vage. »Vor ein paar Monaten bot er mir an, mich auszuzahlen«, fuhr Karamor mit gerunzelter Stirn fort. »Ich sagte ihm, ich würde es mir überlegen. Und dann...« Er deutete auf die Dose. »Öffne sie!« Magnus Ridolph beugte sich darüber, hob eine Lasche und drückte auf den Öffnungsknopf... Pschschscht... Der Deckel flog hoch in die Luft, und der Doseninhalt spritzte und flog in alle Richtungen. Magnus Ridolph lehnte sich zurück und blickte Karamor mit erhobenen Brauen stumm an. Er tastete nach seinem Bart und strich mit den Fingern die Sardinenstückchen heraus, die sich im Haar verfangen hatten. »Spektakulär, wahrhaftig!« sagte er schließlich. »Was waren die anderen Tests, die ich vornehmen sollte?« Karamor erhob sich und kam um den Tisch herum. »Bitte, glaube mir, Magnus, das überraschte mich nicht weniger als dich. Dergleichen hatte ich wirklich nicht erwartet...« »Was hast du denn dann erwartet?« erkundigte sich Magnus Ridolph trocken. »Eine Vogelschar?« »Nein, nein, Magnus, bitte, nimm es nicht krumm! Du mußt doch wissen, daß ich mir mit niemandem einen so geschmacklosen Spaß erlauben würde.« Magnus Ridolph säuberte sich sein Gesicht mit einer Serviette. »Wie sieht die Erklärung für...« – er fuhr sich über die Lippen – »den Vorfall aus?« Karamor kehrte auf seinen Stuhl zurück. »Ich weiß es nicht. Ich mache mir Sorgen. Ich möchte heraus-
bringen, was vorgeht. Ich habe in der vergangenen Woche ein Dutzend Ölsardinendosen aufgemacht. Nur an etwa der Hälfte war nichts auszusetzen. Am Rest war manipuliert worden. In einer Dose waren die Sardinen mit feinem Draht durchzogen. Die einer anderen schmeckten nach Petroleum, und die einer weiteren stanken grauenvoll. Ich verstehe es nicht. Jemand will dem Ruf der chandarischen Konservenfabrik schaden.« »Wann begannen diese – Vorkommnisse?« »Soviel ich weiß, erst bei der letzten Lieferung. Bisher ernteten wir bei allen vorherigen nur Lob.« »Wen verdächtigst du?« Karamor spreizte die großen Hände. »Ich weiß nicht. Donnels gewinnt doch dadurch nichts – außer er glaubt, das könnte mich zum Verkauf bringen. Aber ich meine, er kennt mich besser. Ich dachte, du würdest der Sache vielleicht für mich nachgehen?« Magnus Ridolph überlegte kurz. »Nun, im Augenblick hätte ich tatsächlich Zeit.« Karamor lächelte erleichtert. »Die Einfuhrplomben waren alle intakt.« »Und sie werden in der Fabrik angebracht?« »Ja.« »Dann dürfte wohl feststehen«, sagte Magnus Ridolph, »daß die Sabotage auf Chandaria betrieben wird.« Magnus Ridolph fuhr mit dem Linienschiff zur Stadt der Tausend Roten Kerzen auf Rhodope, dem vierten Planeten Fomalhauts. Er nahm sich ein Zimmer im Ernst Delabri Hotel. Im Gartenrestaurant aß er ungestört zu Abend,
dann mietete er sich eine Gondel und ließ sich vom Gondoliere bis in die dunkle Nacht hinein auf den Kanälen herumrudern. Am nächsten Morgen machte Magnus Ridolph äußerlich einen anderen Menschen aus sich. Er ließ seinen blau-weißen Anzug im Schrank hängen, und schlüpfte in einen abgetragenen braunen Coverall und stülpte eine graue Stoffkappe über das weiße Haar. So überquerte er den Königskanal und den Panalaza und folgte den düsteren Gassen der Altstadt zur allgemeinen Stellenvermittlung. Dort war nicht viel los. Ein paar Menschen standen wartend herum, einige nervöse Tomticker, eine kleine Gruppe Anthropoiden von Capella, ein Gelbvogel und etliche eingeborene Rhodopier. Immer wieder warfen die Anwesenden einen ungeduldigen Blick auf den Rufschirm. An der Wand hing ein riesiges Schild, das jedem Eintretenden sofort ins Auge fallen mußte: GESUCHT WERDEN ARBEITER FÜR DIE CHANDARISCHE KONSERVENFABRIK Doch schien sich keiner der Anwesenden für diese Art von Arbeit zu interessieren. Magnus Ridolph trat an den Schalter. Der samthäutige rhodopische Angestellte nickte höflich und lispelte: »Ja, Sir?« »Ich hätte nichts gegen eine Arbeit in der Konservenfabrik«, erklärte Magnus Ridolph. Der Rhodopier betrachtete ihn mit den braunen Seehundaugen. »Als was?« »Nun, welche Stellungen sind denn offen?«
Der Rhodopier blickte auf eine Liste. »Elektriker – dreihundert Muniten; Integratortechniker – dreihundert Muniten; Schweißer – zweihundertneunzig Muniten; ungelernter Arbeiter – zweihundert Muniten.« »Hm«, murmelte Magnus Ridolph. »Keine kaufmännische Arbeit?« »Im Augenblick nicht.« »Dann versuche ich es dort als Elektriker.« »Ist gut, Sir«, antwortete der Rhodopier. »Dürfte ich Ihr Diplom oder Ihren Gesellenbrief sehen?« »O je«, bedauerte Magnus Ridolph, »ich habe doch glatt vergessen, mein Diplom einzustecken.« Der Rhodopier zeigte die stumpfen rosigen Zähne. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie als ungelernten Arbeiter vermitteln. Der Personalchef ist für alle weiteren Formalitäten zuständig.« »Na gut«, erklärte Magnus Ridolph sich seufzend einverstanden. Ein Frachter brachte die neuen Arbeiter nach Chandaria. Der ganze Raum stank nach heißem Öl, Schweiß und Ammoniak. Magnus Ridolph und ein Dutzend andere wurden in einem leeren Laderaum untergebracht. Sie aßen mit in der Mannschaftsmesse. Zum Waschen wurden jedem pro Tag zwei Liter Wasser zugestanden. Rauchen war untersagt. Über die Reise war nicht viel zu sagen. Magnus Ridolph bemühte sich noch Jahre, die Erinnerung daran zu verdrängen. Als die Passagiere auf Chandaria blinzelnd von Bord gingen, sah Ridolph durchaus seiner Rolle gemäß aus. Sein Bart war ungepflegt, ja schmutzig, das Haar hing ihm über die Ohren – mit einem Wort, er unterschied sich in nichts von den anderen Arbeitern.
Sein erster Eindruck von dem Planeten war eine sich auf die Nerven legende wässerige Ausdehnung, dahintreibende Nebelschwaden und düsterrotes Licht. Chandaria war der uralte Planet einer uralten roten Sonne. Das Land war eine trostlose Peneplain, über die träge Dunststreifen zogen. Trotz seines Alters hatte Chandaria kein höher entwickeltes Leben als Schilf und ein paar Farnbäume hervorgebracht, und natürlich Protozoen im Meer. Da es keine natürlichen Feinde gab, hatten die ursprünglich zwanzigtausend Sardinen – die von der Erde hierhergeschafft worden waren – sich vielfach vermehrt und gediehen hier prächtig. Als die Passagiere aus dem Laderaum des Frachters stiegen, kam ein junger Mann mit einem langen gelben Pferdegesicht, sehr breiten Schultern und sehr breiten Hüften herbei. »Zu mir, Männer!« forderte er die Neuankömmlinge auf. »Bringt euer Gepäck gleich mit!« Gehorsam stapften die Männer hinter ihm her über einen Boden, der unter ihren Füßen nachzugeben schien. Der Pfad führte geradewegs in den Nebel durch eine düstere Landschaft mit nur wenigen verrottenden Bäumen, die hoffnungslos ihre kahlen Äste in den Nebel streckten, und zwischen ein paar Tümpeln mit brackigem Wasser hindurch. Schließlich wurde der Nebel etwas dünner, und eine Gruppe langgestreckter Gebäude war zu erkennen, und hinter ihnen Schilf und ein Schimmern, das eine Wasserfläche verriet. »Dort ist die Unterkunft für die unter euch, die schlafen.« Der junge Mann deutete mit einem Finger auf die Menschen und Anthropoiden. »Tragt euch
beim Barackenleiter ein. Und du, Gelbvogel, du Portmar, und du Rhodopier, dorthin!« Magnus Ridolph schüttelte kläglich den Kopf, als er die glitschigen Stufen zur Schlafbaracke hochstieg. Dieser Auftrag dürfte den Tiefpunkt seiner Karriere darstellen, dachte er sich. Zweihundert Muniten im Monat dafür, daß er in den Innereien von Fischen wühlen durfte. Er verzog das Gesicht und betrat die Baracke. Er fand einen unbenutzten Alkoven und warf seinen Seesack auf die Pritsche, dann ging er in den Aufenthaltsraum, der nach Fisch stank. Naturfarbene Holzfaserplatten bedeckten die Wände über dem kahlen Aluminiumgerüst. Ein billiger Fernsehschirm an einer Wand zeigte gerade eine vollbusige junge Frau, die mit etwa gleicher Energie sang und ihren Körper verrenkte. Wieder seufzte Magnus Ridolph und erkundigte sich nach dem Barackenleiter. Er wurde am Eviszerator 4 eingeteilt. Die Arbeit war einfach. In Abständen von drei Muniten mußte er einen Hebel ziehen, der ein Schleusentor hob. Aus einem Teich quoll Wasser herein und Tausende von Sardinen schwammen in die Maschine, wo Finger, Öffnungen verschiedener Größen und Luftdüsen sie der Größe nach sortierten, sie zu den blitzenden Messern leiteten und schließlich auf eine Reihe von Laufbändern warf, wo sie immer noch leicht zappelnd durch eine Anzahl von Packern in Dosen gepreßt wurden. Diese Packer waren hauptsächlich Banshoos vom nahen Thaddäus XII: zwiebelförmige graue Rümpfe mit zwanzig dreifingrigen Tentakeln, einem Auge, und
an der Spitze eines jeden Tentakels ein Untergehirn. Die Packer paßten Deckel auf die Dosen, schoben sie durch eine Reihe elektronischer Kocher und stapelten sie schließlich in Kisten – exportbereit und plombiert. Magnus Ridolph dachte über den gesamten Vorgang nach. Er war gut organisiert und leistungsfähig. Bei den Banshoopackern war das einzige nichtmechanische Stadium des ganzen Prozesses. Magnus Ridolph, der die Banshoos beobachtete, war sicher, daß keine Maschine so flink und flexibel wie sie sein konnte. Doch irgendwo während dieses Vorgangs waren die Sardinen – und wurden es möglicherweise immer noch – auf die eine oder andere Weise behandelt worden. Wo? Im Moment ließ diese Frage sich noch nicht beantworten. Er aß sein Mittagessen in der anschließenden Kantine. Die Menüs waren genießbar. Sie waren auf der Erde vorgekocht worden und wurden hier in versiegelten Behältern serviert. Auf dem Rückweg zum Eviszerator 4 fiel ihm eine offene Tür auf, die zu einem Plankenlaufsteg führte. Magnus Ridolph überlegte und trat hinaus. Der Steg, den in den Morast getriebene Pfähle trugen, führte die ganze Außenseite der Fabrik entlang. Magnus Ridolph drehte sich dem Meer zu, weil er hoffte, die Fischkutter der Fabrik zu sehen. Der Dunst hatte sich ein wenig gehoben, so daß Magnus Ridolph eine gute Aussicht über endlose Kilometer schilfbedeckter Marschen und stiller See hatte. Das Festland selbst unterschied sich von der Marsch nur durch vereinzelte Palmfarne, die der dü-
steren Sonne ihre stumpfen Wedeln entgegenstreckten. Es war eine bedrückende Landschaft – eine Welt ohne Hoffnung und ohne Freude. Magnus Ridolph bog um die Ecke der Fabrik und kam zum Sammelteich, aus dem die Fische in die Eviszeratoren geleitet wurden. Er blickte nach links und nach rechts – doch außer einer Aluminiumjolle waren keinerlei Boote oder Schiffe zu sehen. Wie kam die Fabrik denn dann zu den Sardinen? Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Sammelteich zu, einem nicht sehr tiefen Betonbecken, etwa fünfzehn mal sechs Meter, mit einer Öffnung von etwa einem Quadratmeter in der Wand zum Meer. Magnus Ridolph trat ein wenig näher und sah eine Reihe langer spitzer Stäbe durch die Öffnung ragen. Sie gestatteten den Fischen hereinzuschwimmen, machten es ihnen jedoch unmöglich, das Becken durch diese Öffnung wieder zu verlassen, ohne sich aufzuspießen. Während er das Becken noch betrachtete, kräuselte sich die stumpfe Meeresoberfläche. Er sah das Glänzen Tausender winziger Flossen, und dann schoß ein einzelner Fisch herein und ihm folgten hundert, dann Tausende und Abertausende, bis es von ihnen wimmelte. Magnus Ridolph spürte Augen auf sich. Als er den Kopf hob, sah er auf der anderen Seite des Beckens den breitschultrigen jungen Mann mit dem langen gelben Gesicht. Er trug hohe Fischerstiefel aus Neulastik und eine beige Jacke. Er schritt um das Becken herum, auf Magnus Ridolph zu. »Was haben Sie hier zu suchen? Sollten Sie nicht an der Arbeit sein?«
»Ich bin hier angestellt«, antwortete Magnus Ridolph mild, ohne die Frage direkt zu beantworten. »Ich bediene einen...« – er hüstelte – »einen Eviszerator. Es ist meine Mittagspause, ich komme eben erst aus der Kantine.« Der junge Mann verzog die Lippen. »Haben Sie die Pfeife nicht gehört? Sie blies schon vor einer halben Stunde. Also setzen Sie sich schon in Bewegung! Beeilen Sie sich! Wir haben Sie nicht drei Lichtjahre weit hierhergeholt, damit Sie sich die Gegend ansehen.« »Wenn die Pfeife tatsächlich schon geblasen hat, wie Sie sagen, werde ich selbstverständlich sofort an meinen Arbeitsplatz zurückkehren. Eh – mit wem habe ich die Ehre?« »Ich bin Donnels – der, der Ihren Lohnscheck unterschreibt.« »Oh, ich verstehe.« Magnus Ridolph nickte. Pflichtbewußt kehrte er an den Eviszerator zurück. Seine Arbeit war leicht, aber eintönig. Schleuse öffnen, schließen, hin und wieder einmal die zappelnden silbrigen Leiber verteilen, wenn sich zu viele an einer Stelle der Messer gesammelt hatten. Magnus Ridolph hatte mehr als genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Eine Erklärung für die mysteriösen Manipulationen hatte er allerdings noch nicht gefunden. Der, der sie am einfachsten hätte durchführen können, war zweifellos George Donnels. Doch soweit Magnus Ridolph sehen konnte, arbeitete die Fabrik einwandfrei. Sicher, Donnels wollte Karamor seinen Anteil abkaufen, aber weshalb sollte er sein eigenes Erzeugnis in Verruf bringen? Vor allem, wo er so erstaunliches Rohprodukt hat-
te. Denn die Fische, das war Magnus Ridolph sofort aufgefallen, waren größer und kräftiger als die Exemplare, die der Mnemiphot ihm gezeigt hatte. Offenbar sagte den Sardinen das chandarische Meer zu, oder vielleicht hatte Donnels auch nur ausgesuchte Fische von der Erde zur Zucht hierherbringen lassen. Schleuse öffnen – schließen. Ihm fiel auf, daß die Fische immer auf dieselbe Weise hereindrängten. Zuerst eine Sardine – immer ein wenig größer als der Rest, vielleicht der Leitfisch des Schwarms? – dann Tausende, die sich nach ihm kopfüber in die Messer stürzten. Nie gab es ein Zögern. Sobald das Schleusentor sich öffnete, schoß der Leitfisch herein, gefolgt von den Tausenden, die sich in ihrem Eifer, ihm nachzukommen, schier überschlugen. Die Rassen, die in der Fischfabrik am zahlreichsten vertreten waren, waren in der Reihenfolge ihrer Anzahl: Banshoos, capellanische Anthropoiden, Menschen und cordovanische Torikel. Jede hatte ihr eigenes Nachtquartier und eine eigene Kantine – statt Betten gab es für die Banshoos Tanks mit angewärmter Flüssigkeit, in der sie sich suhlen konnten, und die Capellaner hatten luftdicht abgeschlossene Abteilungen. Nach einer Dusche und dem Abendessen, spazierte Magnus Ridolph in den Aufenthaltsraum. Der Fernsehschirm war im Augenblick nicht an. An zwei Tischen wurde Karten gespielt. Magnus Ridolph setzte sich neben einen untersetzten kahlköpfigen Mann mit Pausbacken und blauen Schweinsäuglein, der die übertragenen Nachmittagsnachrichten las. Nach einer kurzen Weile legte er das Blatt zur Sei-
te, streckte die kurzen runden Arme aus und rülpste genußvoll. Höflich bot Magnus Ridolph ihm eine Zigarette an. »Oh, vielen Dank«, sagte der kleine dicke Mann erfreut. »Ziemlich langweilig hier, hm?« fragte Magnus Ridolph. »Kann man wohl sagen«, brummte sein neuer Freund und blies den Rauch in die ohnehin fast zum Schneiden dicke Luft. »Ich glaub', ich werd' mit dem nächsten Schiff von hier verschwinden.« »Man sollte meinen, die Gesellschaft hätte ein bißchen mehr Freizeitunterhaltung zu bieten«, sagte Magnus Ridolph. »Pah, für sie ist nur wichtig Geld zu machen. Für so schlechte Bedingungen habe ich noch nie zuvor gearbeitet. Gerade den untersten Lohn, den die Gewerkschaft noch duldet, keine Vergünstigungen, absolut nichts.« »Da ist etwas hier, das ich nicht verstehe...«, begann Magnus Ridolph. »Oh, hier gibt es eine Menge, was ich nicht verstehe«, versicherte ihm sein neuer Freund und schneuzte sich die Nase. »Wie werden die Fische zur Fabrik geliefert?« »Oh.« Der Mann stieß weise den Rauch aus. »Sie haben angeblich einen Köder im Becken. Es gibt so viele Sardinen, und sie sind so hungrig, daß sie nach allem schnappen. Donnels spart sich dadurch eine Menge Geld – er bekommt den Fisch völlig umsonst, sozusagen. Kostet ihm keinen Cent, soviel ich sehen kann.« »Wo wohnt dieser Donnels eigentlich?« erkundigte
sich Ridolph. »Er hat einen hübschen Bungalow hinter dem Labor.« »Oh – das Labor«, murmelte der weißbärtige Gelehrte. »Wo ist denn das Labor. Es ist mir bisher noch nicht aufgefallen.« »Ein Stück den Weg abwärts, am Ufer.« »Aha.« Magnus Ridolph stand nach einer Weile auf und stapfte kurz im Raum auf und ab, dann trat er in die Nacht hinaus. Chandara hatte keine Monde, und dichter Nebel verbarg die Sterne. Zehn Schritte machte Magnus Ridolph in absoluter Dunkelheit, dann schaltete er seine Taschenlampe ein. Vorsichtig, wie auf Eiern, ging er über den schwammigen Boden und kam schließlich zum Pfad, der zum Labor führte – es war ein trockener, fester Kiesweg. Auf dem Pfad schaltete er die Taschenlampe wieder aus, blieb stehen und lauschte. Aus der Richtung der Fabrik hörte er durch die Entfernung gedämpftes Stimmengewirr und capellanische Musik. Im Dunkeln ging er auf dem Weg weiter, er richtete sich dabei nach dem Kies unter den Füßen. In kurzen Abständen blieb er stehen, um zu lauschen. Eine Endlosigkeit, wie ihm schien, schlich er durch eine Schwärze, die so dick war, daß sie beim Gehen an seinem Gesicht vorbeizufließen schien. Abrupt leuchtete eine Reihe Fenster durch den Nebel. So nahe es möglich war, trat Magnus Ridolph an eines davon, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte hinein. Der Raum, in den er blickte, war ein Biolabor.
Donnels und ein zerbrechlich wirkender dunkler Mann in weißem Kittel unterhielten sich neben einer sargförmigen Kiste. Während Magnus Ridolph sie beobachtete, griff Donnels nach einer Blechschere und zerschnitt die Eisenbänder um die Kiste. Die Seiten sprangen auf, die beiden Männer rissen das weiche Verpackungsmaterial heraus, und ein fabrikneuer Taucheranzug kam zum Vorschein – eine halbsteife Hülle mit durchsichtigem Helm, Sauerstoffanlage und Antrieb. Donnels stieß die Verpackung zur Seite und betrachtete den Anzug sichtlich zufrieden. Magnus Ridolph strengte sich an, etwas vom Gespräch der beiden zu verstehen, doch das war bedauerlicherweise unmöglich, da das Fenster schalldicht war. Deshalb schlich er zur Tür und öffnete sie lautlos einen Spalt. »... für vierhundertfünfzig Muniten darf er auch was taugen«, hörte er Donnels Stimme. »Die Frage ist – ist er auch das Richtige?« »Bestimmt.« Donnels klang absolut überzeugt. »Die Strömung ist unbedeutend. In fünf Minuten komme ich um die ganze Kolonie herum, und ehe sie wissen, was los ist, wird das Stessonit sie wie die Fliegen töten.« »Ha, hm«, räusperte sich der Mann im weißen Kittel. »Sie werden Sie kommen sehen – ha, hm –, genau wie da, als Sie sie in die Luft sprengen wollten.« »Verdammt!« fluchte Donnels. »Sie sind ein Pessimist, Naile. Ich nähere mich ihnen auf dem Meeresgrund. Sie werden den Anzug nicht sehen, im Gegensatz zum Boot. Mit dem Anzug kann ich so schnell zuschlagen, wie sie schwimmen. Sie können also die anderen nicht benachrichtigen. Auf jeden Fall probie-
ren wir es, das kann ja nicht schaden. Wie kommen Ihre Schüler voran?« »Gut, sehr gut. Zwei im Tank D sind soweit, daß ich morgen mit der fünften Karte weitermachen kann, und der große Bursche im Tank H ist schon bei der achten Karte.« Magnus Ridolph richtete sich ein wenig auf und beugte sich vor. »Die Barnett-Methode?« hörte er Donnels Stimme. »Und wie sieht es mit dem aus, der im Einzeltank ist?« »Ah«, antwortete Naile. »Das ist der Weise! Ich habe manchmal das Gefühl, daß er mehr weiß als ich.« »Das ist der Bursche, der uns beide zu Millionären machen wird!« Donnels Stimme klang begeistert. »Vorausgesetzt, Karamor läßt sich auszahlen.« Dann setzte Schweigen ein. Magnus Ridolph hörte leise Schritte. Er huschte zum Fenster zurück und sah gerade noch, daß Donnels das Labor verließ. Naile kam auf das Fenster zu, beugte sich nach vorn. Den Mund hatte er offen, und er starrte auf etwas, das außerhalb Magnus Ridolphs Blickfeld war. Magnus Ridolph kaute an seiner Unterlippe und zupfte an seinem Bart. Seine Gedanken überschlugen sich. Naile verließ nun ebenfalls das Labor durch eine Tür am hinteren Ende der Baracke. Offenbar hatte er sein Quartier in einem Anbau. Magnus Ridolph straffte die Schultern. Er brauchte weitere Informationen. Er schritt zur Tür und trat mit fast unverschämter Gleichmut in das Labor. Es hatte die übliche Standardausrüstung: Permastrahlprojektor und Betrachter, Radioaktivator, Mikroskope – optische und quantenelektronische –,
Waagen, Automatiksezierer, Genemesser, Mutationströge. Doch all dem gönnte er nur einen flüchtigen Blick. Direkt neben ihm stand der Tauchanzug. Er inspizierte ihn anerkennend. »Hervorragend«, murmelte er vor sich hin. »Sehr brauchbares Modell, sorgfältig gearbeitet. Eigentlich schade, soviel Mühe zunichte zu machen.« Er zuckte die Achseln, griff in den Anzug und entfernte das Kopfstück des Nahtversieglers – ein winziges Präzisionsteilchen, ohne das der Anzug nicht wasserdicht gemacht werden konnte. Unerwartet kehrte Naile zurück. Lautlos trat Magnus Ridolph zur Tür. Naile bemerkte die Bewegung aus dem Augenwinkel. »He!« brüllte er. »Was haben Sie hier zu suchen?« Er rannte durch das Labor. »Kommen Sie sofort zurück!« Doch Magnus Ridolph war bereits in die chandarische Nacht getaucht. Ein Lichtstrahl durchschnitt den Nebel und kam einen Moment auf Magnus Ridolph zu ruhen. »Sie!« donnerte Naile. Für einen so zerbrechlich wirkenden Mann, dachte Magnus Ridolph, hat er eine erstaunlich kräftige Stimme! Er hörte die schnellen Schritte Nailes. Der Mann schien auch gewandt und flink zu sein. Magnus Ridolph stöhnte und – als die Schritte sich näherten – sprang vom Weg in den Morast. Bis zu den Knien sank er in kühlen Schlamm. Er duckte sich und dann legte er sich leise in den Morast. Der Strahl von Nailes Taschenlampe huschte über ihn hinweg und die Schritte entfernten sich voraus. Es war wieder dunkel. Magnus Ridolph kämpfte sich durch den Sumpf
zurück auf den Weg und schritt vorsichtig weiter. Wie ein Schlafwandler glitt der Nebel vom Weg, und nun sah Magnus Ridolph plötzlich die Lichter seiner Baracke, nur etwa hundert Meter entfernt. Doch während er darauf blickte, verbarg etwas auf dem Weg vor ihm sie. War es Naile? So schnell seine alten Beine ihn trugen, bog Magnus Ridolph weit nach links ab und näherte sich der Baracke von hinten. Er begab sich sofort in den Waschraum, duschte und wusch seine Sachen aus. Als er in den Aufenthaltsraum zurückkam, saß der untersetzte Mann noch genau dort, wo er ihn vor einer Stunde verlassen hatte. Magnus Ridolph setzte sich wieder neben ihn. »Ich habe gehört«, sagte er, »daß Donnels draußen im Meer Sprengungen vornahm.« Der dickliche Kleine lachte schallend. »Ja, das hat er allerdings. Aber warum, in aller Welt, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Manchmal glaube ich, er hat sie nicht alle. Seine Nerven sind nicht gerade die besten. Er braust bei der geringsten Kleinigkeit auf.« »Vielleicht wollte er Fische töten?« meinte Magnus Ridolph. Der Untersetzte zuckte die Schultern und schob die vollen Lippen um die Pfeife vor. »Mit Hunderten von Tonnen Sardinen, die von selbst in seine Fabrik schwimmen, sollte er ins Meer hinausfahren und weitere umbringen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Außer er ist noch verrückter, als ich glaube.« »Wo, genau, hat er denn gesprengt?« Magnus Ridolphs neuer Freund warf ihm einen Seitenblick aus den blauen Schweinsäuglein zu. »Ich sage es Ihnen, obwohl ich nicht weiß, was Sie sich
davon versprechen. Es war nicht weit von der Landspitze, die ins Meer hinausragt – die, mit den drei hohen Bäumen. Etwa eineinhalb Kilometer die Küste aufwärts.« Seltsam, dachte Magnus Ridolph. Er holte das Metallteilchen aus der Tasche und betrachtete es nachdenklich. Seltsam, Sardinen die sich kopfüber in Dosen stürzen – Donnels und Naile, die bei irgend etwas in einem Tank die Barnett-Methode anwenden – Donnels Sprengung und die Absicht, etwas im Meer zu vergiften – und dann noch die Manipulation an den Ölsardinen... Mit einer Theorie, die ihn sehr beschäftigte, nahm er am nächsten Morgen seine Arbeit am Eviszerator wieder auf. Er beugte sich über die Einlaßrinne, und die Augen unter den weißen Brauen funkelten vor Aufregung, wie er sie sich selten gestattete. Schleuse auf – die Fische drängten herein. Schleuse zu. Schleuse auf – in der Rinne wimmelte es von silberglänzenden Sardinen. Schleuse zu. Schleuse auf – der große Fisch als vorderster, dann die anderen, die dicht aufschlossen. Schleuse zu. Magnus Ridolph stellte fest, daß immer eine einzelne Sardine voraus in die Rinne schwamm und ihr der Schwarm folgte. Als er ihnen nachsah, wie sie im Eviszerator verschwanden, bemerkte er eine unauffällige Seitenrinne, in die der Leitfisch tauchte, während seine Artgenossen sich in den Tod drängten. Magnus Ridolph überlegte und fand einen Lappen. Er griff in die Maschine und verstopfte damit die Seitenrinne. Schleuse auf. Der Leitfisch schoß herein – blindlings gefolgt von der flossigen Horde. Er er-
reichte den Seitenkanal und stieß heftig mit dem Kopf gegen den Fetzen. Verzweifelt versuchte er ihn mit dem Kopf zur Seite zu schieben, doch der Ansturm der anderen Fische riß ihn mit. Mit heftig um sich schlagenden Schwanzflossen geriet er in die Messer. Schleuse zu. Schleuse auf. Auch der nächste Leitfisch wurde durch den Lumpen am Entkommen gehindert und von seinen Artgenossen mit in den Tod gerissen. Sechsmal wiederholte sich dieser Vorgang. Als Magnus Ridolph dann die Schleuse wieder öffnete, drängten sich keine Fische in die Rinne. Er griff hinunter, holte den Lappen heraus und starrte mit unschuldigem Gesicht die Rinne hoch. Es dauerte nicht lange, da eilte ein Vormann herbei. »Was ist los? Irgend etwas hier nicht in Ordnung?« »Offenbar haben die Fische herausgefunden, daß die Rinne für sie gefährlich ist«, sagte Magnus Ridolph. Der Vormann widmete ihm einen verächtlichen Blick. »Öffnen Sie das Tor immer wieder!« befahl er ihm und wandte sich ab. Als Magnus Ridolph nach dem x-ten vergeblichen Versuch nach etwa zehn Minuten die Schleuse wieder öffnete, quollen Fische in die Rinne wie ursprünglich. Der Vormann schaute einen Augenblick zu und vergewisserte sich, daß die Fische sich wie üblich in den Tod stürzten, dann ließ er Magnus Ridolph wieder allein. Sofort stopfte Ridolph den Lumpen wieder in den Seitenkanal. Nach sechs weiteren Durchgängen blieb die Rinne erneut leer. Sogleich holte Magnus Ridolph den Fetzen heraus. Der Vormann kam herbeigestürmt. Magnus Ridolph schüttelte kläglich den Kopf und bemühte sich um ein verlegenes Lächeln.
»Das darf nicht sein! Das darf nicht sein!« heulte der Vormann. »Was geht hier vor?« Er rannte davon und kehrte mit Donnels zurück, dessen Augen wie eisige Steine funkelten. Donnels studierte die Rinne, tastete in den Seitenkanal. Dann richtete er sich auf und blickte Magnus Ridolph scharf an, der den Blick freundlich erwiderte. »Lassen Sie eine neue Einheit in den Tank!« wandte Donnels sich an den Vormann. »Behalten Sie sie im Auge und passen Sie auf, was geschieht!« »Jawohl, Sir.« Der Vormann eilte davon. Donnels wandte sich mit angespanntem, gelbem Gesicht, die Mundwinkel nach unten gezogen, an Magnus Ridolph. »Sie sind mit dem letzten Schiff gekommen?« »O ja«, antwortete Magnus Ridolph. »Eine grauenvolle Reise. Die Unterbringung war unzumutbar und das Essen kaum verdaulich.« Die dünnen Lippen verzogen sich. »Wo ließen Sie sich anwerben?« »Auf Rhodope. Ich erinnere mich genau, es war...« »Ist schon gut«, unterbrach ihn Donnels hastig. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Sie scheinen mir ein intelligenter Mann zu sein.« »Ah... ahem«, räusperte sich Magnus Ridolph. »Bedeutet das eine Beförderung? Ich würde mich über eine Position mit mehr Verantwortung sehr freuen, vielleicht eine im Büro?« »Wenn Sie klug sind«, warnte Donnels mit schneidender Stimme, »beschäftigen Sie sich mit Ihrer Arbeit – und nichts anderem!« »Wie Sie wünschen«, antwortete Magnus Ridolph würdevoll.
Der Vormann kam zurück. Donnels bedeutete Magnus Ridolph die Schleuse zu öffnen. Wieder quollen die Fische die Rinne herab. Donnels blieb zwanzig Minuten lang neben ihm stehen, und der Vormann noch zehn Minuten länger. Den Rest seiner Schicht machte Magnus Ridolph seine Arbeit pflichtbewußt – doch um sich ein wenig abzulenken, amüsierte er sich damit, hinunterzulangen und den Judasfisch zu stoßen, wenn er vorbeischwamm, bis der Fisch daraus lernte und sich ganz am Rand der Rinne hielt. Um ihn dort zu erreichen, hätte Magnus Ridolph sich verrenken müssen, also ließ er den Fisch in Ruhe. Magnus Ridolph saß auf der klammen Bank vor der Schlafbaracke und betrachtete die Landschaft. Aber es gab nur wenig zu sehen. Tief am Himmel stand die riesige rote Sonne, teilweise hinter dahintreibenden Nebelschwaden verborgen. Voraus erstreckten sich Marschen und das bleifarbene Meer, links erhoben sich Fabrik und Lagerhaus, rechts, zweihundert Meter weiter, entlang dem Kiesweg, stand das Labor. Magnus Ridolph griff nach einer Zigarre, doch dann erinnerte er sich, daß er keine in seinem mageren Gepäck mitgebracht hatte, und die, die es in der Kantine zu kaufen gab, waren nicht nach seinem Geschmack. Da tat sich am Labor etwas. Magnus Ridolph richtete sich auf der Bank auf. Donnels und Naile traten ins Freie, gefolgt von zwei capellanischen Arbeitern, die den Tauchanzug trugen. Magnus Ridolph spitzte die Lippen. Offenbar war das Fehlen des Nahtversieglers nicht bemerkt worden.
Gleichmütig beobachtete er den kleinen Trupp, der sich dem Fabrikanlegeplatz näherte. Donnels warf ihm einen wortlosen Blick zu, als er vorbeischritt. Kaum waren die vier vorüber, erhob sich Magnus Ridolph und eilte den Pfad zum Labor hinunter. Die Tür war nicht verschlossen. Er trat ein und wandte sich sofort der Wand zu, die er vom Fenster aus nicht hatte sehen können. Ein Glastank stand hier neben dem anderen, Tanks voller Fische – Sardinen. Manche schwammen ruhig hin und her andere hielten sich dicht am Glas und starrten scheinbar interessiert hinaus. Magnus Ridolph fielen die Unterschiede auf. Einige hatten monströse Schwänze und echsenähnliche Köpfe. Andere ähnelten Kaulquappen mit rudimentären Flossen und Schwänzen, und überentwickelten Köpfen. Augen betrachteten Magnus Ridolph – Augen wie Blasen, flammenrot und pechschwarz. Ein Fisch hatte Flossen wie ein Brautschleier. Anderen Fischen wuchsen geweihähnliche Auswüchse am Kopf. Magnus Ridolph studierte die bunte Schar ohne Erregung. Dergleichen war ihm aus anderen Biolabors nicht fremd: diese Launen der Natur oder auch künstlich herbeigeführte Mutationen. Er erinnerte sich an die berüchtigte Klinik auf dem Planeten Pandora und schüttelte sich. Hastig beschäftigte er sich wieder mit dem gegenwärtigen Fall und suchte einen Tank mit nur einem Fisch – dem »Weisen«. Ah, da war er, am Ende der Tankreihe. Von einem etwas größeren Kopf abgesehen schien er ein völlig normaler Fisch zu sein. »Na na«, murmelte Magnus Ridolph. Er beugte sich
vor, spähte in den Tank, und die Sardine starrte mit unbewegten Augen ausdruckslos zurück. Magnus Ridolph drehte sich um und schaute sich im Labor um. Ah, da lagen die zwanzig Karten von Barnetts Methode zur Kontaktaufnahme mit fremden Intelligenzen. Magnus Ridolph hielt die Schlüsselgrundkarte vor den Tank, und der Fisch kam näher ans Glas. »Kontaktaufnahme«, signalisierte Magnus Ridolph und wartete. Der Fisch tauchte auf den Grund des Tanks und kehrte mit einem Metallstück im Maul zurück. Es klopfte damit an das Glas: einmal, zweimal, dreimal. Magnus Ridolph brauchte die Karte nicht zu Rate zu ziehen. Die Botschaft bedeutete: »Fahr fort!« Er beugte sich über die Karte und wählte die Symbole sorgfältig aus. Hin und wieder legte er eine kurze Pause ein, um sich zu vergewissern, daß der Fisch ihm folgte. »Lehrer – von du – wünschen – verwenden – du – Zweck – Verletzung – Klasse von du. Ich – wissen (negativ) – Methode.« Der Fisch klopfte an das Glas: 5-3-5, 4-3-2. 5-6-1, 26-3-4. Magnus Ridolph warf einen Blick auf den Kode der Karte. »Klasse von ich – existieren – Ort (unklar, fragend)?« Magnus Ridolph signalisierte zurück: »Groß (betonend) – Ausdehnung – Wasser – existieren – außen. Vielheit (betonend) – Klasse von du. Existieren Klasse von Lehrer – töten – Klasse von du – essen – Klasse von du.« »Zweck (fragend) – von du?« klopfte der Fisch. »Komplexe Mischung«, signalisierte Magnus Ri-
dolph. »Konstruktiv. Du – wünschen (fragend) – verlassen – Tank – zusammenschließen – Vielheit – Klasse von du?« Unentschlossen stupste der Fisch das Metallstück an die Wand. »Essen?« »Vielheit«, antwortete Magnus Ridolph. »Schwimmen – Ausdehnung (betonend) – Barrieren (negativ).« Der Fisch zuckte mit den Flossen und zog sich in eine dunkle Ecke zurück. Endlich, als Magnus Ridolph schon ungeduldig wurde, schwamm der Fisch wieder zu ihm und klopfte zweimal ans Glas. Magnus Ridolph schaute sich im Labor um und fand einen Eimer. Er tauchte ihn in den Tank, doch der Fisch glitt nervös außer Reichweite. Magnus Ridolph schöpfte ihn trotzdem heraus. Die BarnettKarten stopfte er sich in die Tasche, und so verließ er das Labor. Rasch kehrte er auf dem Kiesweg zurück und blickte zum Anlegeplatz. Er sah, daß Donnels und Naile in seine Richtung kamen. Donnels gelbes Gesicht wirkte noch härter als sonst. Umsichtig stellte Ridolph den Eimer an die Barackenwand. Er saß bereits wieder friedlich auf der Bank, als Donnels und Naile an ihm vorüberstapften. »... war da und arbeitete noch bis tief in die Nacht hinein«, hörte Magnus Ridolph Naile sagen. Donnels schüttelte grimmig den Kopf. Kaum waren sie an ihm vorbei, nahm Magnus Ridolph den Eimer und setzte seinen Weg zum Anlegeplatz fort. Der Taucheranzug stand am Rande des Stegs – einsatzbereit, nur der verschwundene Nahtversiegler
fehlte. Die capellanischen Arbeiter standen stumpf daneben und schauten Magnus Ridolph ohne Interesse entgegen. Er rieb sich das Kinn. Anzug – Nahtversiegler – warum nicht? Er warf den Fisch nicht ins Meer zurück, statt dessen näherte er sich dem Anzug und inspizierte ihn sorgfältig. Zwei Schaltungen an der Brust: eine für den Antrieb, die andere für das Sauerstoffgerät. Einfacher ging es nicht. Er steckte den Nahtversiegler zurück an seinen Platz. Mit einem flüchtigen Seitenblick auf die beiden Capellaner stieg er in den Anzug und drehte den Nahtversiegler. Die Capellaner verlagerten unsicher ihr Gewicht. Magnus Ridolph sah, wie verstört sie waren, weil er in den Anzug geschlüpft war, aber sie hatten keinen Befehl erhalten, jemanden daran zu hindern. Nach kurzer Überlegung öffnete Magnus Ridolph den Anzug noch einmal und steckte die Barnett-Karten in die Außentasche, dann versiegelte er den Anzug erneut. Am Gürtel hingen ein Dolch, ein Beil und eine Lampe. Eine weitere Lampe war in den Helm eingebaut. Ridolph griff nach den Schaltern. Er vergewisserte sich, daß sie sich leicht einstellen ließen und schaltete das Sauerstoffgerät ein. Er blickte über die Schulter und sah eine Bewegung am Labor. Er hob den Eimer in das träge Wasser, daß er darin trieb, und torkelte vom Steg. Ein letzter Blick zeigte ihm George Donnels, der mit wutverzerrtem Gesicht in seine Richtung rannte. Ihm folgte Naile mit flatterndem weißen Kittel. Magnus Ridolph klopfte an den Eimer. Er war sich des Kodes nicht ganz sicher, hoffte aber, daß er sich
die Symbole gemerkt hatte. »Schwimmen – Nähe – von ich.« Dann drehte er ihn um. Der Fisch schoß heraus und schwamm davon. Magnus Ridolph selbst tauchte unter. Er drehte am Antriebsschalter. Das Gerät saugte das Wasser an und spuckte es achtern aus. Magnus Ridolph brauste durch das Wasser. Etwas schoß zischend dicht am Taucherhelm vorbei und es klatschte dumpf in seinen Ohren. Hastig drehte er am Schalter, und nun flog er nur so dahin. Nach zwei oder drei Minuten verringerte er das Tempo und tauchte an die Oberfläche. Der Anlegesteg lag etwa einen halben Kilometer hinter ihm. Er sah, wie Donnels angespannt über das Wasser spähte. Magnus Ridolph lachte. Die Landspitze mit den drei hohen Bäumen lag links von ihm. Er schaltete die Helmlampe an, fixierte die Richtung nach dem Kompaß am Helmrand und tauchte wieder unter. Das Wasser war smaragdgrün und klarer, als es von oben aussah. Er schwamm in einen gigantischen Unterwasserwald: Seebäume mit feinen Silberwedeln, die durch dünne Stengel im Meeresgrund verankert waren. Seeranken hoben sich kerzengerade aus der Tiefe, an ihrer ganzen Länge waren leuchtende Kugeln verteilt. Das waren vielleicht gar keine richtigen Pflanzen, sondern möglicherweise Polypenarten wie die Seeanemonen der Erde. Und da er sich an die unangenehme Begegnung mit einer Portugiesischen Galeere erinnerte, machte er einen weiten Bogen um diese Seeranken.
Überall schwammen Sardinen, Schwarm um Schwarm Millionen von Sardinen. Das Licht der Helmlampe schimmerte wie Mondschein auf den huschenden Silbergestalten. Magnus Ridolph blickte sich nach dem befreiten Fisch um. Doch wenn er wirklich in der Nähe war, konnte er ihn nicht von den unzähligen anderen unterscheiden. Weiter ließ er sich dahintragen, unter der spiegelnden Oberfläche und über der dunklen Tiefe, vorbei an Erhebungen, quer über tiefe Schluchten und durch Haine der Seebäume. Wieder tauchte er an die Oberfläche und stellte den Kurs nach. Die Fabrik kauerte düster weit hinter ihm an der grauen Küste. Er tauchte erneut unter und schoß weiter. Voraus schimmerte ein weißer Wall. Er bremste ab, drehte sich seitwärts und sah, daß die Barriere eine unterseeische Klippe aus Feldspat oder Quartzit war. Er trieb näher an den Wall heran und stieg zu seiner Krone auf – sie war völlig flach und lag etwa viereinhalb Meter unter der Meeresoberfläche. Überlegend trieb Magnus Ridolph weiter. Hier, in etwa, mußte Donnels gesprengt haben, möglicherweise ein Stück weiter seewärts. Er wendete und schwamm langsam durch das limonengrüne Wasser, unmittelbar über dem flachen Wall. Plötzlich hielt er an und schwebte an der gleichen Stelle. Unter ihm klebten viele Dutzend Blasen an dem Gestein: große Kugeln in ordentlich ausgerichteten Reihen. Sie schienen flexibel zu sein und bewegten sich ganz leicht in der wechselnden Strömung. In ihrem Innern sah Magnus Ridolph kleine komplexe
Gegenstände, und aus mehreren schien ein flackerndes Licht. Plötzlich wurde er sich der Fischmassen rings um sich bewußt. Es war eine größere Menge, als er je zuvor auf einem Haufen gesehen hatte. Langsam kamen sie auf ihn zu, und jetzt, als er die großen Köpfe bemerkte, die hervorquellenden Augen und die vorsichtigen und doch entschlossenen Bewegungen, wurde ihm klar, daß er eine Menge über die chandarische Koservenfabrik wußte. Er empfand allerdings auch ein gewisses Unbehagen. Wieso stießen einige der Fische eine beschwerte Blase in seine Richtung? Rasch holte er die Barnett-Karten aus der Außentasche, fand Nummer eins und gestikulierte die Sequenz, die freundschaftliche Absicht ausdrückte. Einige der Fische schossen näher heran und beobachteten seine Bewegungen ganz genau. Einer von ihnen – der sich, soweit Magnus Ridolph sehen konnte, in keiner Beziehung von den anderen unterschied – schwamm dicht heran und klopfte an seinen Helm. 1-2-3. »Kommunikation – Beginn.« Magnus Ridolph seufzte. Er entspannte sich im Taucheranzug ein wenig und deutete die Symbole auf der Karte an. »Ich – kommen – Zweck – helfen – Klasse von ihr.« »Zweifel. Klasse von du – destruktiv (fragend)?« »Klasse von ich – in Haus – Freunde (negativ) von ich. Ich – konstruktiv. Freund – Klasse von ihr.« Magnus Ridolph plagte sich mit den Grundbegriffen ab. So hilfreich die Karten auch waren, fiel es doch schwer, den genauen Sinn wiederzugeben. Es war, als wollte man eine Uhr mit einer Rohrzange reparieren.
»Komplex – Gedanke. Klasse von ich – tragen – ihr – dieser Ort. Schaffen – denken – von ihr – stärker.« Die silbernen Leiber bewegten sich plötzlich erregt. Magnus Ridolph lauschte. Das Summen eines Motors war zu vernehmen. Er tauchte an die Oberfläche. Keine hundert Meter entfernt fuhr das mit einem Außenbordmotor ausgerüstete Ruderboot. Der Mann im Boot entdeckte Ridolph und drehte sich in seine Richtung. In einer Hand hielt er ein langes Rohr mit Schulterhalt. Hastig tauchte Magnus Ridolph. Der Motor wurde lauter. Die schwarze Unterseite des kleinen Bootes stieß geradewegs auf ihn zu. Magnus Ridolph schaltete den Antrieb heftig bis zum Anschlag. Wasser schoß aus der Düse und verdrängte die Fische. Magnus Ridolph brauste schräg davon. Das Boot folgte ihm. Die Schraube hielt an, das Boot wurde langsamer. Das Rohr drang ins Wasser und zielte auf Magnus Ridolph. Es zuckte und spuckte ein Geschoß aus, das schnell auf ihn zukam. Hastig wich Magnus Ridolph seitwärts aus. Der Düsenausstoß erfaßte das Geschoß und lenkte es leicht ab. Eine gewaltige Explosion hinter ihm traf ihn wie ein Hammerschlag. Und schon war das Boot wieder hinter ihm her. Magnus Ridolph blinzelte und schüttelte den Kopf. Er drehte sich und tauchte schräg zum Boot hoch. Direkt unter dem Boot hielt er inne, den Helm unter eine Seite der Hülle gestemmt. Er schaltete auf vollen Schub – das Boot kam hoch und kippte. Eine schwarze Gestalt stürzte schwer ins Wasser, und das Raketenrohr sank steil in die dunkle Tiefe. Das Boot füllte sich mit Wasser und ging langsam unter.
Magnus Ridolph tauchte auf und beobachtete gleichmütig Naile, den Biologen, der mit Kraulbewegungen wie ein Hund das Land zu erreichen versuchte. Er war kein guter Schwimmer und das Ufer war gut eineinhalb Kilometer entfernt. Wenn er das Ufer erreichte, mußte er sich erst noch durch mehrere Kilometer Morast kämpfen, ehe er die Fabrik erreichte. Nach kurzem Überlegen tauchte Magnus Ridolph wieder und kehrte zu dem großen Unterwasserwall zurück. Die Hände auf dem Rücken verschränkt und die Stirn gefurcht, schritt Joel Karamor hin und her. Magnus Ridolph, der es sich in einem altmodischen Ledersessel bequem gemacht hatte, nippte an seinem Sherry. Sie befanden sich hier in Joel Karamors Büro, hoch oben im französischen Pavillonturm – einem Wahrzeichen Trans, der Wunderstadt am Ufer des Saharasees. »Ja«, murmelte Karamor, »aber wo war Donnels die ganze Zeit? Wo ist er jetzt?« Magnus Ridolph hüstelte und strich über den jetzt wieder makellos gepflegten und gestutzten weißen Bart. »Ah, Donnels«, murmelte er. »Hast du ihn als Partner sehr geschätzt?« Karamor blieb wie angewurzelt stehen und starrte seinen Besucher an. »Was soll das heißen? Wo ist Donnels?« Magnus Ridolph drückte die Fingerspitzen zusammen. »Laß mich mit meinem Bericht fortfahren! Ich kehrte zum Anlegesteg zurück, und da es nach Sonnenuntergang, also ziemlich düster, war, nehme
ich an, daß ich nicht bemerkt wurde. Eine größere Zahl der intelligenten Fische begleiteten mich aus Gründen, nach denen ich mich nicht erkundigte. Ich hatte vermutet, daß Donnels bewaffnet am Anlegesteg stehen und mich in seiner Wut erschießen würde, ohne mir zu gestatten ihm deine Vollmacht vorzuweisen. Ich glaube ich habe erwähnt, daß der Anlegesteg den einzigen Zugang von der Fabrik zum Meer bietet, da die Küste ja eine einzige unüberquerbare Marsch ist. Falls Donnels am Anlegesteg stand, hatte er alle Trümpfe in der Hand. Mein Problem war demnach, festen Boden zu erreichen, ohne von ihm bemerkt zu werden.« Karamor nahm sein unruhiges Hin- und Hermarschieren wieder auf. »Ja«, murmelte er. »Erzähl weiter!« Magnus Ridolph nahm einen weiteren kleinen Schluck Sherry. »Mir war inzwischen eine Möglichkeit eingefallen. Du mußt verstehen, Joel, ich konnte nicht einfach zum Anlegesteg hinaufklettern, wenn mir mein Leben lieb war.« »Das ist mir klar. Was hast du denn getan?« »Ich schwamm durch die Öffnung ins Sammelbekken. Aber auch hier hätte man mich sehen können, wäre ich aus dem Wasser gestiegen, also...« »Also was?« »Also schwamm ich zur Fabrikschleuse und wartete, bis sie sich öffnete, dann stieß ich mich in die Rinne zum Eviszerator.« »Puh!« stöhnte Joel Karamor. »Da kann ich ja nur froh sein, daß ich dich nicht in meiner nächsten Sardinendose finden werde. Ölsardine Magnus Ridolph.«
»Nein«, versicherte ihm der weißbärtige Gelehrte. »Den Eviszerator hatte ich kaum zu fürchten. Die Rinne fällt nur ganz leicht ab... Wie du dir vorstellen kannst, erschrak der Arbeiter an der Maschine ganz ordentlich, als ich plötzlich vor ihm auftauchte. Glücklicherweise war es ein Capellaner, die für Routinearbeiten ungemein geeignet sind, aber so gut wie keine eigene Initiative haben. Er regte sich nicht weiter auf, als ich mich in der Rinne erhob und herauskletterte. Ich zog den Taucheranzug aus und erklärte dem Capellaner, daß ich die Rinnenneigung überprüfte – das schien ihm als Erklärung zu genügen –, dann ging ich hinaus zum Anlegesteg. Wie erwartet, stand Donnels dort und spähte über das Wasser. Er hörte mich nicht – ich kann ziemlich leise sein. Da wurde mir klar, daß Donnels jung und kräftig und dazu unbeschreiblich wütend war und er außerdem eine Waffe trug – ich ihm gegenüber demnach im Nachteil war. Also stieß ich ihn ins Wasser.« »Tatsächlich! Und dann?« Magnus Ridolph setzte eine Trauermiene auf. »Was dann, verdammt?« brüllte Karamor. »Etwas Schreckliches geschah«, antwortete Magnus Ridolph. Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte es vorhersehen müssen, wenn ich mir Zeit zum Nachdenken genommen hätte. Du erinnerst dich doch, ich erwähnte, daß die Fische mir vom Wall folgten?« Karamor starrte ihn an. »Du willst doch nicht sagen...« »Donnels ertrank«, sagte Magnus Ridolph. »Die Fische ertränkten ihn. Sie mögen zwar als Einzelwesen schwach sein, aber in solchen Mengen drängten sie
ihn vom Anlegesteg weg und druckten ihn in die Tiefe. Ein erschütternder Anblick. Es nahm mich sehr mit.« Karamor stapfte noch ein paarmal im Zimmer hin und her, dann ließ er sich in einen Sessel Magnus Ridolph gegenüber fallen. »Ein Unfall, eh? Der arme bedauernswerte Donnels, eh? Ist das die Geschichte? Du hast vergessen, daß ich dich nur allzu gut kenne, Magnus. Das Ganze klingt etwas zu präzise. Diese... ah... intelligenten Sardinen...« – er verzog das Gesicht – »hatten keine Ahnung, daß Donnels ins Wasser gestoßen werden würde?« »Nun«, antwortete Magnus Ridolph überlegend. »Ich habe wohl erwähnt, daß er vermutlich auf dem Anlegesteg auf mich warten würde. Und die BarnettKarten sind zwar sehr nützlich, aber nicht unfehlbar. Es ist nicht auszuschließen, daß die Fische annahmen...« »Vergiß es! Vergiß es!« wehrte Karamor müde ab. »Sieh es doch so«, riet Magnus Ridolph ihm. »Wenn Donnels nicht versucht hätte, die Fische in die Luft zu sprengen und als es ihm nicht glückte, sie zu vergiften, hätten sie ihn nicht ertränkt. Und wenn Donnels nicht Naile hinausgeschickt hätte, um mich hochzujagen, und wenn er nicht am Anlegesteg auf die Ehre gewartet hätte, mich höchstpersönlich zu erschießen, hätte ich ihn nicht ins Wasser gestoßen.« »Ja«, brummte Karamor. »Und wenn du nicht seinen Taucheranzug gestohlen hättest, hätte er dir vermutlich nicht aufgelauert.« Magnus Ridolph verzog die Lippen. »Wenn wir die Sache der Verantwortlichkeit bis ans äußerste verfol-
gen, kommen wir möglicherweise zum Schluß, daß du, als Donnels Partner, rechtlich für Donnels Handlungen verantwortlich bist.« Karamor seufzte. »Wie hat das Ganze eigentlich angefangen?« »Es war eine natürliche Evolution«, erklärte Magnus Ridolph. »Natürlich wählten Donnels und Naile für die Zucht auf Chandaria die bestmöglichen Sardinen aus. Und während sie darauf warteten, daß die Fische sich vermehrten, regten sie im Labor Mutationen an, um eine weitere Qualitätsverbesserung herbeizuführen. Eine dieser Mutationen erwies sich als erstaunlich intelligent. Dadurch, glaube ich, kam Donnels auf seine große Idee. Warum sollten sie nicht intelligente Fische züchten, die so ausgebildet werden konnten, daß sie für ihn arbeiteten wie Hirtenhunde, oder besser noch, wie Leithammel, die die Schafe auf die Schlachtbank führen und sich selbst in Sicherheit bringen? Also machten sie sich an die Arbeit mit ihren Züchtungen und Kreuzungen, und tatsächlich war das Ergebnis eine sehr intelligente Sardine. Jene – dieser Art, die mitarbeiteten – leisteten Donnels gute Dienste. Sie ermöglichten ihm, Fische zu verarbeiten, ohne daß er sie selbst fangen mußte. Doch einige der Fische, die intelligentesten, zogen die Freiheit vor und gründeten eine Kolonie an der Unterwasserklippe. Donnels kam bald dahinter, denn alle außer den unterwürfigsten seiner Leitfische schwammen ihm davon und schlossen sich ihren Brüdern an.
Diese Fische zu zähmen und auszubilden war eine mühsame Arbeit. Donnels beschloß, die Kolonie auszurotten. Er befürchtete auch, daß die intelligenten Fische bald mehr sein würden als die normalen. Und die intelligenten ließen sich nicht blindlings ins Sammelbecken leiten. Er versuchte, die Kolonie von der Wasseroberfläche aus in die Luft zu jagen, und auch, die Fische zu vergiften, doch keins von beidem gelang ihm, weil die Sardinen ihn kommen sahen. Also bestellte er einen Taucheranzug von Rhodope. Inzwischen hatten die Fische einen Gegenangriff gestartet. Waffen hatten sie keine, also konnten sie Donnels nicht direkt angreifen. Aber sie kannten den Zweck der Konservenfabrik, wußten, daß dort Sardinen zum Verzehr in Dosen abgefüllt und konserviert wurden. Sie entwickelten die Geschicklichkeit, Blasen an der Klippe zu bauen – durch ein Sekret, glaube ich – und sie lernten auch eine Reihe unangenehmer Substanzen zu produzieren. Mit letzteren versahen sie eine größere Zahl normaler Sardinen, die schließlich in der Fabrik eingelegt und exportiert wurden.« Joel Karamor stand abrupt auf und lief wieder hin und her. »Was ist aus Naile geworden?« »Er tauchte einen Tag später auf. Er war ja nichts weiter als ein Werkzeug.« Karamor schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, ich kann die Fabrik als Verlust abschreiben. Hast du etwas unternommen, die Arbeiter und Angestellten zu evakuieren?« Magnus Ridolph weitete erstaunt die Augen. »Nein. Hätte ich es denn tun sollen?« »Ich habe dir eine absolute Vollmacht gegeben«,
sagte Karamor ein wenig verärgert. »Du hättest dich wirklich darum kümmern können.« Ein Summer erklang. Karamor drückte auf den Knopf. Eine weiche Stimme war zu vernehmen. Karamors graumeliertes Haar stellte sich auf. »Eine Ladung Ölsardinen? Bleiben Sie bitte am Apparat!« Er drehte sich zu Magnus Ridolph um. »Wer hat die Sardinen abgeschickt? Was geht vor – hier und dort?« Magnus Ridolph zuckte die Achseln. »Der Betrieb geht weiter wie zuvor – unter neuer Leitung. Durch die Vollmacht traf ich die nötigen Abmachungen. Dein Anteil am Profit bleibt derselbe.« Karamor blieb mitten im Schritt stehen. »So? Und wer ist mein neuer Partner? Naile?« »Keinesfalls!« entrüstete sich Magnus Ridolph. »Er hat nichts zu bieten.« »Wer dann?« brüllte Karamor. »Nun, natürlich die Kolonie intelligenter Sardinen, von der ich dir erzählt habe.« »Waaaas?« »Ja«, versicherte ihm Magnus Ridolph. »Dein neuer Geschäftspartner ist ein Schwarm Sardinen. Der jetzige Name eurer Firma ist ›Sardinen-Karamor Gesellschaft‹.« »Nicht zu glauben!« hauchte Karamor. »Nicht zu glauben!« »Die Vorteile für beide Teilhaber sind offensichtlich«, fuhr Magnus Ridolph fort. »Ein gutes Management ist dir genauso sicher, wie eine Spitzenqualität des Rohmaterials. Und die Sardinen erhalten, was sie sich an Annehmlichkeiten der Zivilisation wünschen.«
Karamor schwieg ein paar Minuten lang, dann kniff er die Augen leicht zusammen und betrachtete den ihn sanft anlächelnden Freund. »Die ridolphsche Note ist unverkennbar«, sagte er schließlich. »Das charakteristische Fehlen eines Prinzips, die genau berechnete Ablehnung orthodoxer Handlungsweise...« »Ts, ts, ts.« Magnus Ridolph schüttelte den Kopf. »Aber nicht doch!« Karamor schnaubte. »Willst du vielleicht bestreiten, daß das Ganze deine Idee war?« »Nun«, antwortete Magnus Ridolph bedächtig. »Ich gebe zu, daß ich die Fische auf die Vorteile einer solchen Geschäftsverbindung aufmerksam machte.«
DAS MYSTERIÖSE VERSCHWINDEN Magnus Ridolph, der auf dem Caffronstrand im wässerigen blaugrünen Zwielicht des Planeten Azul dahinspazierte, wurde von einem finster dreinblickenden, respekteinflößenden Mann aufgehalten, der sehr groß und sehr breit war, buschige Augenbrauen hatte und Mund und Kiefer wie ein Erzbrecher. »Sind Sie Magnus Ridolph?« erkundigte der Mann sich streitbaren Tones. Magnus Ridolph fragte sich, welcher seiner Gläubiger die Unverschämtheit besaß, ihn bis hierher auf den stillen blauen Strand des Veridicalmeeres zu verfolgen. Dummerweise war es völlig unmöglich, ihm hier noch auszuweichen. Also sagte er offen: »Der bin ich.« Die roten Augen des ergrimmten Mannes stachen tief in Ridolphs blaßblaue. »Ich habe gehört, daß Sie Detektiv sind.« Magnus Ridolph verzog die Lippen ein wenig und strich über seinen gepflegten weißen Bart. »Nun, ich nehme an, so könnte man es nennen. Ich persönlich bezeichne mich jedoch...« Der grimmige Mann blickte über das tintenschwarze Wasser. »Es ist mir egal, wie Sie sich nennen. John Southern hat Sie mir empfohlen.« »Ah ja.« Magnus Ridolph nickte. »Ich erinnere mich an ihn. Das war der Fall mit den Statuen im Harem des Königs von Maherlon.« Die Falten in des Mannes Stirn vertieften sich. »Sie sind nicht, was ich erwartet hatte.« »Verstand, Geschicklichkeit und Findigkeit sind
keine Krawatten, die man zur Zier trägt«, erklärte Magnus Ridolph. »Vielleicht können Sie argumentieren und sich aus einer Sache herauswinden, aber leisten Sie auch etwas, wenn es rauh hergeht? Das möchte ich wissen.« Erleichtert, daß der Mann kein Gerichtsvollzieher oder Ähnliches war, auch wenn er ihm nicht sonderlich gefiel, antwortete Magnus Ridolph freundlich. »Nun, das kommt auf die Umstände an.« Die abfällige Miene des bulligen Mannes wirkte nun unverkennbar verächtlich. »Zu diesen Umständen gehört, daß ich Sympathie für meinen Klienten empfinde«, fuhr Magnus Ridolph ruhig fort. »Bis jetzt erweckten Sie dieses Gefühl in mir noch nicht.« Der kräftige Mann grinste. »Was ich an Sympathie brauche, gewinne ich durch meine Unterschrift auf einem Scheck. Ich heiße Howard Thifer und bin im Schwermetallgeschäft.« Magnus Ridolph nickte. »Ich hörte Ihren Namen schon einmal.« »Vermutlich mit der Bemerkung, daß ich auf der Börse die Hölle heiß mache?« »Ich glaube, die Bezeichnung ›skrupelloser Ausbeuter‹ wurde benutzt«, antwortete Magnus Ridolph. Thifer machte eine ungeduldige Geste mit dem Unterarm, der so dick wie ein zusammengerollter Fußabstreifer war. »Pah, nichts weiter als das Wimmern gebrannter Kinder. Nun hält mich etwas ganz Irres auf. Etwas, gegen das ich nicht ankomme. Es kostet mich Geld, also muß ich ihm Herr werden.« »Wie wär's, wenn Sie mir Ihr Problem einmal offen klarlegten?«
Thifer wandte die rotbraunen Augen Magnus Ridolph voll zu. »Es ist vertraulich, hören Sie? Wenn irgend etwas davon an die große Glocke käme, sähe ich schwarz für uns beide. Capito?« Magnus Ridolph zuckte die Achseln und machte sich daran weiterzuspazieren. »Ich kann nur sagen, Ihr Angebot interessiert mich nicht. Leben Sie wohl, Sir!« Eine Hand wie eine Bärenpranke legte sich auf seine Schulter. Empört schwang Magnus Ridolph herum. »Hand weg!« Höhnisch sagte Thifer: »Im Hotel zum Grünen Löwen warten gleich zwei Gerichtsvollzieher auf Sie, beide mit Vollstreckungsbescheid.« Magnus Ridolph kaute an seiner Lippe. »Dieser verflixte Zoo«, murmelte er. Er zauste seinen Bart. »Mr. Thifer, wie sieht Ihr Problem aus und wieviel können Sie bezahlen?« »Als erstes«, antwortete Thifer, »muß ich Sie warnen. Wenn Sie diesen Job annehmen, kann es ohne weiteres sein, daß Sie Ihr Leben verlieren. Es ist sogar ziemlich sicher, daß Sie es verlieren, wenn Sie nicht verdammt besser sind als die letzten zwanzig Männer. Sie sehen, ich bin ehrlich. Sind Sie noch interessiert?« Magnus Ridolph bemerkte, wenn sein Leben bei diesem Auftrag so gut wie verwirkt war, müßte er natürlich ein ungewöhnlich hohes Honorar verlangen. »Also, es sieht so aus«, begann Thifer. »Ich besitze einen Planeten.« »Einen Planeten – in toto?« »Ja«, antwortete Thifer brüsk. »Jexjeka gehört mir
ganz allein. Ich bin – ziemlich vermögend.« Magnus Ridolph seufzte. »Ich leider nicht. Mein Zoo ist ein Verlustgeschäft. Er hat mich viel gekostet.« »Aha. Diese heulende Menagerie von Monstern gehört also Ihnen?« »Nicht mehr. Ich habe das Ganze für zweihundert Muniten verkauft.« Howard Thifer schnaubte so heftig, daß es den Kehlkopf eines normalen Mannes geborsten hätte. »Es sieht so aus – aber kommen Sie lieber mit mir auf mein Schiff, wo ich Ihnen die Karte zeigen kann.« »Jexjeka ist reiner Fels«, sagte Thifer. »Es gibt, was ich Oasen nenne – vier Quellen mit gutem Wasser, das einzige Wasser auf dem Planeten. Zwei in jeder Hemisphäre, wie Sie sehen. Ich habe mein Hauptquartier hier aufgeschlagen.« Er deutete. »Bei diesem A, da es hier den Minen am nächsten ist.« »Schwermetalle?« »Ich bin dabei, einen Kristall reinen Wolframs von der Größe eines Hauses auszuheben. Dann habe ich eine offene Grube Selenoxids, und bearbeite eine Meter dicke Ader Zentauriumtrioxids mit Uran – aber das tut hier nichts zur Sache«, brummte Thifer ungeduldig. »Vor etwa zwei Jahren beschloß ich, Jexjeka selbsterhaltend zu machen.« Magnus Ridolph runzelte die Stirn. »Einen Felsenplaneten?« Thifer sagte: »Er ist luftlos, ohne Leben, es gibt nicht einmal Sporen. Aber ich benutze thalurische Arbeiter: Anaerobier von Thaluri 2. Sie fressen wie die Wölfe, und es kostet mich eine Menge Geld, sie zu versorgen.
Ich dachte mir, ich würde ein wenig ihrer einheimischen Vegetation an den Oasen pflanzen, dann könnten sie ihre eigene Nahrung kultivieren. Also ließ ich Humus herbeischaffen und pflanzte thalurische Obstbäume – diese fasrigen Gewächse mit Glaslaub. Sehen Sie, hier in Oase B – A am nächsten – legte ich den ersten Obstgarten an und auch eine Weide für die thalurischen Kühe.« Er lehnte sich zurück und blickte finster auf die Karte. »Und?« fragte Magnus Ridolph. »Ich kann es einfach nicht verstehen! Es ist mir ein Rätsel. Es hätte gar nicht besser gehen können. Die Bäume gaben mehr und größere Früchte als auf Thaluri 2. Die Kühe – ich nenne sie so, obwohl sie mehr an große Fässer mit langen Beinen erinnern, mit denen sie sich an die Felsen klammern – vermehrten sich wie die Kaninchen und gediehen prächtig.« Magnus Ridolph betrachtete die Karte und blickte zu Thifers großem flachen Gesicht hoch. »Ich muß wohl begriffsstutzig sein. Sie haben zwar lang und breit geredet, aber ich sehe immer noch nicht, wo Ihr Problem ist.« Er strich seinen sauberen weiß-blauen Anzug glatt. Thifer zog die Brauen zusammen. »Ich möchte die Dinge klarstellen, Ridolph. Ich habe nicht vor, Sie für Sarkasmus zu bezahlen. Ich bin nicht gern die Zielscheibe Ihrer Witze – oder irgend jemandes Witze!« Magnus Ridolph betrachtete ihn kühl. »Beruhigen Sie sich, Mr. Thifer! Ihr Gefühlsausbruch bringt mich in Verlegenheit.« Das Blut stieg in Thifers Gesicht, es lief dunkel an. Er ballte die Hände zu Fäusten und fuhr mit erstickter leiser Stimme fort. »Vor einem Jahr beschloß ich,
auch auf Oase C einen Obstgarten anzulegen. Während der Nacht des 13. Juni Erdzeit, verschwanden alle in der Oase. Es war, als wären sie nie auf dem Planeten gewesen. Es handelte sich um zwei Erdenmenschen, einen rhodopischen Büroangestellten und vier Thalurier.« »Fehlten Schiffe?« »Nein, nichts dergleichen. Natürlich standen wir vor einem Rätsel. Eine Untersuchung ergab absolut nichts. Trotzdem machte ich weiter, und legte auch in Oase D einen landwirtschaftlichen Betrieb an. Vierundachtzig Tage nach dem ersten Verschwinden passierte das Unerklärliche erneut. Alle von C und D verschwanden spurlos. Es gab keine Zeichen von Gewalttätigkeit, absolut nichts, was Licht ins Dunkel hätte bringen können. Natürlich kam die Arbeit ins Stocken. Wie Sie vielleicht wissen, sind die Thalurier ungemein abergläubisch – und schnell verängstigt. Nach dem zweiten Verschwinden demonstrierten sie allen Ernstes. Es dauerte eine Weile, bis ich sie beruhigen konnte. Und dann ließ ich einen Arbeitstrupp – Männern, denen ich vertrauen konnte – von einem anderen Einsatz kommen. Ich schickte sie nach C und D. Vierundachtzig Tage nach dem zweiten Verschwinden schienen auch sie sich in Luft aufgelöst zu haben – nur daß es auf Jexjeka keine Luft gibt. Und bei jedem Verschwinden, waren auch alle Thalurier weg, die ich mit viel Überreden dazu gebracht hatte, sich auf C und D um das Obst und die Kühe zu kümmern – ah ja, und die Kühe ebenfalls.« Magnus Ridolph fragte: »Haben Sie sich an die TCI gewandt?«
Thifer schnaubte verächtlich. »Diese Bande von Schmarotzern? Wissen Sie, was sie mir sagten? Sie sagten, ich hätte auf Jexjeka überhaupt nichts verloren. Und da der Planet außerhalb der Jurisdiktion des Commonwealth liegt, dürfen sie dort keine Untersuchungen anstellen. Und das, obwohl alle vierundachtzig Tage Bürger des Commonwealth spurlos von dort verschwinden. Sie drehten nicht mal den Kopf in meine Richtung!« Magnus Ridolph strich sich über den Bart. »Sie sind sicher, daß es nicht eine einfache Erklärung gibt? Vielleicht arbeiten die Männer mit einer Bande Sklavenjägern oder Entführern zusammen?« »Unsinn!« knurrte Thifers und funkelte Magnus Ridolph indigniert an. »Nun, dann muß ich zugeben, daß es eine interessante Geschichte ist. Ich nehme an, Sie möchten, daß ich mich entweder in Oase C oder D einquartiere und so riskiere, daß auch ich spurlos verschwinde?« »Richtig.« Magnus Ridolph sagte bedächtig: »Nun, ich habe ein nützliches Leben hinter mir und ein ehrbares Alter erreicht. Wenn ich mein Ende auf Jexjeka finden sollte, möchte ich, daß mein Name in gutem Gedenken bleibt und ich keine Schulden hinterlasse.« Er überlegte kurz, dann fragte er: »Sie sagten, daß zwei Einzugsbeamte im Hotel auf mich warten? Geben Sie mir einen Scheck für zehntausend Muniten und stellen Sie die Gerichtsvollzieher zufrieden, dann werde ich mich Ihres Problems annehmen.« Thifer knurrte mißtrauisch: »In welcher Höhe sind denn diese Forderungen?« »Das kann ich Ihnen leider nicht so ohne weiteres
sagen«, erwiderte Magnus Ridolph und blickte gleichmütig auf die Karte. »Es handelt sich um eine Rechnung für Futter für meine Tiere im Zoo.« »Futter für wie viele Monate?« »Vier – bestimmt nicht mehr.« Thifer dachte nach. »Da dürfte die Rechnung nicht zu hoch sein. Nun gut, einverstanden.« »Lassen Sie mich die Abmachung schnell schriftlich niederlegen«, sagte Magnus Ridolph. Er tat es, und nachdem Howard Thifer sich über die Verzögerung brummelnd ausgelassen hatte, unterschrieb er die Vereinbarung. Gemeinsam verließen sie die Raumjacht und kehrten zum Hotel zum Grünen Löwen im Tal der Zeit am Caffronstrand zurück. Bei Magnus Ridolphs Anblick sprangen zwei im Foyer sitzende junge Männer auf und hetzten ihm wie Terrier entgegen. »Meine Herren! Meine Herren!« mahnte Magnus Ridolph und hielt in gespieltem Entsetzen die Hände hoch. »Sie brauchen mir mit Ihren unangenehmen Vollstreckungsbescheiden nicht vor der Nase herumfuchteln. Sind Sie berechtigt, die Sache gleich hier zu bereinigen?« »Nur, wenn Sie die gesamte Summe begleichen.« »Mr. Thifer wird Sie bezahlen. Bitte händigen Sie ihm Ihre Rechnung aus!« Thifer brachte sein Scheckbuch zum Vorschein. »Wieviel macht es?« brummte er. »Einhundertzweiundzwanzigtausendsechshundertundzwanzig Muniten. Stellen Sie den Scheck bitte auf ›Vorhut organische Futtermittel Gesellschaft in Starport‹ aus.«
Mit eisiger Wut wandte Thifer sich an Magnus Ridolph. »Sie verlogener, betrügerischer alter Ziegenbock!« »›Ziegenbock‹«, erklärte Magnus Ridolph, »ist eine Bezeichnung, die ich gar nicht gern höre. Es hat bis jetzt noch jedem leid getan, sie benutzt zu haben. Mein Bart mag vielleicht affektiert wirken, aber von ihm abgesehen habe ich keinerlei Charakteristiken, die mich einem Ziegenbock ähneln lassen.« Thifers Augen brannten wie Kohlebecken. »Sie haben gesagt, diese Rechnung sei für Tiernahrung. Sie haben mich hereingelegt...« »Keineswegs!« entgegnete Magnus Ridolph. »Sie brauchen lediglich die Aufstellung durchzusehen, die diese Herren Ihnen aushändigen werden.« Thifer streckte die Hand aus und entriß dem Gerichtsvollzieher, der halbherzig protestierte, das Blatt Papier in seiner Hand. Darauf stand: An Magnus Ridolph für Lieferungen während des letzten Quartals. 100 kg kandierte Keegee-Eier, @ M 80,–/kg .......................................... M 8,000 200 Liter Saft (vom Gelbbaum auf Lennox 4) @ M 45,–/Liter ...................................... 9,000 1 Tonne lebende Chankodillamaden, @ M 4,235,–/Tonne ............................... 4,235 2 Tonnen Schlamm aus dem Flußbett des Lanklarks, @ M 380,–/Tonne ........... 760 25 kg kalifornische Rosinen, @ M 2,–/kg ............................................ 50 100 Kisten Ticholamaknospen von Naos VI, @ M 42,–/Kiste...................................... 4,200
20 gefrorene Alraunen, @ M 600,–/St ........................................ 400 Karton...
12,000
Weiter las Thifer nicht. Er wandte sich an Magnus Ridolph und sagte kurz: »Ich werde es nicht bezahlen.« »Dann bleibt mir nichts übrig, als Sie wegen Vertragsbruch zu belangen«, erklärte Magnus Ridolph. »Außerdem wird Ihnen das Vergnügen meines Verschwindens von Ihrer Oase C oder D entgehen.« »Stimmt«, brummte Thifer. »Es dürfte diese Summe vielfach wert sein, an Ihrem Verschwinden, wenn auch nur in geringem Maße, beitragen zu dürfen. Ich warne Sie, Ridolph, ich bin nicht der Typ, der vergibt oder vergißt.« Er drehte sich wieder den Vollstrekkungsbeamten zu. »Wie hoch, sagten Sie, war die Summe?« »Einhundertzweiundzwanzigtausendsechshundertundzwanzig Muniten.« »Hier ist Ihr Scheck.« Zu Magnus Ridolph sagte er: »Lassen Sie Ihr Gepäck zu meiner Jacht schicken. Wir brechen sofort nach Jexjeka auf.« »Wie Sie wünschen«, entgegnete Magnus Ridolph. Während der acht Tage dauernden Reise von Azul im Sagittarius nach Jexjeka im Krebs 3/2, sprach Magnus Ridolph genau zweimal mit Howard Thifer. Am ersten Tag nahmen sie das Mittagessen gemeinsam ein und beschlossen, sich bei einer Tasse Kaffee in der Aussichtskuppel über das Rätsel zu unterhalten. Die Unterhaltung begann durchaus freundlich. »Ein vernünftiges Gespräch, ein Gedankenaus-
tausch«, wie Magnus Ridolph es nannte. Doch schon bald gab er seinem Erstaunen Ausdruck, daß Thifer den Planeten zwar nach Mineralien und organischem Leben untersucht hatte, aber die mögliche Anwesenheit nichtorganischer, manchmal übersinnlicher Wesen außer acht gelassen hatte, wie sie auf gewissen Planeten zu finden waren, ja sogar auf der Erde, wo man sie Gespenster nannte. Thifer stieß sein bisher verächtlichstes Schnauben aus. »John Southern sagte, Sie seien ein Detektiv, kein räucherstäbchenschwingender Geisterjäger.« Magnus Ridolph nickte philosophisch und bemerkte, daß seine Einstellung nicht ungewöhnlich sei. Er bezog sich auf die Tierwelt. »Schweine, Bären und Robben – unter anderen – halten ihre Sinneseindrükke ebenfalls für ein akkurates Bild der Wirklichkeit«, sagte er. Thifers Augen begannen zu funkeln. Es dauerte nicht mehr lange, und unfreundliche Bezeichnungen wurden ausgetauscht, es fiel auch wieder einmal das Wort »Ziegenbock«, woraufhin Magnus Ridolph sich erhob sich mit eisiger Höflichkeit verbeugte und die Kuppel verließ. Das Mittagessen und diese Diskussion waren die einzigen Anlässe während der Reise, da Howard Thifer und Magnus Ridolph miteinander sprachen. Erst als das Schiff in eine glasglatte Mulde sank, die offenbar eine gewaltige Blase im Basalt gewesen war, wechselten die beiden wieder ein paar Worte. Hier, wo er zu Hause war, schien Thifer besserer Laune zu sein; er war geradezu freundlich. »Fels, Fels, Fels«, sagte er. »Verdammt eindrucksvoller Planet, und es ließe sich hier recht gut leben,
wenn er eine Atmosphäre hätte. Vielleicht errichte ich eines Tages noch eine größere Luftanlage und schaffe eine brauchbare Atmosphäre. Er würde einen nicht zu verachtenden Touristenplaneten abgeben, was meinen Sie, Ridolph?« »Sehr spektakulär!« pflichtete ihm Magnus Ridolph bei. Vor einem Jahr hatte er in einer Zeitschrift eine Liste aller besiedelten Planeten studiert. Der Forscher Arthur Idry hatte sie in der Reihenfolge ihrer zunehmenden nichtirdischen und bizarren Aspekte zusammengestellt. Bei der Norm ging man natürlich von der Erde aus, Fan, Naos VI, Exigenzia, Omikron, Ceti III, Mallard 42, Rhodope, Neu Sudan waren ganz oben auf der Liste. Ziemlich unten fanden sich fremdartige Welten wie Formaferra, Julian Wolters IV, Alpheratz IX, Gengillee. Während er jetzt Jexjeka betrachtete, dachte Magnus Ridolph, daß Idry damit ein guter letzter Platz für seine Liste entgangen war. Jexjeka war der einzige Satellit von drei Sonnen: Rouge, ein naher roter Riese; Blanche, ein weißer Stern von Sonnengröße, doch weiter entfernt; und Noir, Blanches dunkler Begleiter. Jexjeka umkreiste Rouge, so daß während der Hälfte eines jeden siderischen Jahres jeweils tagsüber zwei Sonnen auf ihn herabschienen. Während der zweiten Jahreshälfte leuchtete tagsüber nur Rouge, und während der sogenannten Nacht Blanche. Rouge füllte den schwarzen Himmel fast zur Hälfte aus. Ein monströser Ball wie aus geschmolzenem Eisen war sie, deren Kugelform unverkennbar war. Tatsächlich schien ihre Äquatorzone dem Betrachter entgegenzuspringen. Die blendend weiße Scheibe Blan-
ches stand ein wenig seitwärts von ihr. Noir war nirgends zu sehen. Das Schiff war in der riesigen seichten Mulde gelandet. Das schwarze Glas des Bodens hob sich auf einer Seite allmählich dem Fuß einer gut eineinhalb Kilometer hohen grauen Felswand entgegen. Und hier am Fuß kauerten sich mehrere schimmernde Kuppeln und ein Schlackenhaufen zusammen. Thifers Wohnräume befanden sich in einer, von den Minengebäuden etwas abseits stehenden Kuppel neben Oase A, einem Teich klaren Wassers. Durch chemische Prozesse im warmen Innern Jexjekas gelangte es in Form von Dunst an die Oberfläche, wo es sich niederschlug und in einem Becken sammelte. Von dort wiederum verdunstete es in den interstellaren Raum, der hier ja unmittelbar an der Planetenoberfläche begann. Magnus Ridolph mußte zugeben, daß der Planet tatsächlich von fremdartiger Schönheit war. Entfernung ist auf einer luftlosen großen Welt schwer abzuschätzen. Die Perspektiven wirkten leicht verzerrt. Magnus Ridolph hatte Thifers Unterkunft für etwa anderthalb Kilometer entfernt gehalten und staunte deshalb, als der Wagen, der auf dem glasglatten Boden der Blase fuhr, zehn Minuten für die Fahrt brauchte. Als er durch eine Luftschleuse gekommen war, hielt er an. Thifer öffnete die Tür. »Wir sind hier.« Es war ganz offensichtlich, daß Thifer für Bequemlichkeit oder gar Luxus weder Zeit noch Geld opferte. Stirnrunzelnd betrachtete Magnus Ridolph den nackten Betonboden, die kahlen Wände, die kargen Gebrauchsmöbel.
»Ihr Zimmer ist dort.« Thifer schritt Magnus Ridolph voraus einen Gang aus gewelltem Aluminium entlang zu einem Zimmer, von dem aus man das Wasserbecken sehen konnte. Ein schmales Bett stand hier, eine graugrüne Kommode und ein weißer Stuhl mit hohem geraden Rücken. »Sie sind sehr klug«, bemerkte Magnus Ridolph weise. »Sehr feinfühlig.« »Wieso?« erkundigte sich Thifer. »Sie haben das Wesen des Planeten genau erfaßt und es in seinen subtilsten Nuancen auf die Ausstattung Ihres Hauses übertragen. Völlig richtig erkannten Sie, daß Kargheit und Strenge die einzige Antwort auf die kahle Einfachheit der Landschaft ist.« »Hm«, brummte Thifer und grinste säuerlich. »Freut mich, daß es Ihnen gefällt. Die meisten können sich nicht damit anfreunden. Aber ich will verdammt sein, wenn ich gutes Geld ausgebe, damit feiste Hintern weicher sitzen. Ich habe alles auf harte Weise erreicht: durch harte Arbeit und ein hartes Leben – da werde ich doch jetzt meinen Lebensstil nicht ändern.« »Vernünftig«, pflichtete Magnus Ridolph ihm bei. »Ah – ist Ihr Essen denn genauso schlicht wie Ihre Unterbringung?« »Wir essen«, brummte Thifer. »Keine Delikatessen, aber wir werden satt.« Magnus Ridolph nickte. »Nun, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich jetzt baden und mich umziehen. Könnten Sie mir bitte mein Gepäck bringen lassen?« »Ja, natürlich«, versprach ihm Thifer. »Das Bad ist gleich hinter dem Paneel. Eine schöne kalte Dusche
wirkt Wunder. Das Wasser kommt direkt aus dem Teich. Essen gibt es in etwa einer Stunde.« Magnus Ridolph überlegte. Je eher das Rätsel der Oasen C und D gelöst war, desto eher konnte er in die Zivilisation zurückkehren. Also erklärte er beim Essen, daß er sofort mit der Untersuchung beginnen wollte. »Gut, gut«, brummte Thifer. »Sie brauchen einen Raumanzug und ein Fahrzeug. Sie müssen sich allerdings allein umsehen – ich muß mich um meine liegengebliebene Arbeit kümmern. Es wird Sie auch niemand stören, denn C und D stehen leer – der vierundachzigste Tag ist nicht mehr fern.« Magnus Ridolph nickte höflich zustimmend. Nach dem Essen staffierte Thifer ihn mit einem Druckanzug aus und nahm ihn zu einem Areal hinter der Kuppel mit, wo alle Arten von Booten herumstanden, und alle mehr oder weniger reparaturbedürftig. Magnus Ridolph suchte sich einen kleinen selbstgebastelten Hüpfer aus: zwei I-Träger so zusammengeschweißt, daß sie ein X bildeten, und darauf eine Sperrholzplattform. Düsen an den Spitzen des X hoben den Hüpfer, und angetrieben und gelenkt wurde er durch eine Düse unter der Plattform. Er war schlicht, funktionell und narrensicher. Mit einer Handwaffe im Gürtel – obgleich ihm Thifer versichert hatte, daß keinerlei Lebewesen auf dem Planeten umherstreiften – kletterte Magnus Ridolph auf die Plattform, setzte sich, überprüfte das Aggregat, inspizierte den Treibstofftank, drehte am Schalter, fummelte an den Kontrollen und drehte ganz langsam die Flügelmutter, die als Schaltung für die Steigdüsen diente.
Der Hüpfer hob sich wie ein Lift. Magnus Ridolph nickte Thifer kühl zu, der ihm mit einem kaum verhohlenen amüsierten Grinsen zuschaute, und ließ den Hüpfer schräg über die graue Pegmatitwand springen. Wildnis, dachte Magnus Ridolph – Wildnis in kaum vorstellbarer Größe, unbeschreibbares Chaos aus Schwarz und Grau, rot gefleckt im Licht Rouges und Blanches. Tafelberge, Felszacken, Schluchten, die nicht für das Menschenauge gedacht und für den menschlichen Verstand fast zu viel waren. Eine Massigkeit in Kubikkilometern, in aber und aber Kubikkilometern! Säulen aus Kristall mit rötlichem Licht durchzogen. Endlose Flächen silberglänzenden Gneises, die sich in exakten Sinuswellen kräuselten. Schluchten im unberührten Schwarz luftlosen Schattens. Blasen mit hochglänzendem Boden, Kratern und Hohlräumen... Während er dahinflog, fragte Magnus Ridolph sich, ob es vielleicht Leben auf Jexjeka gab, das zwar eine Niederlage auf A und B zuließ, doch keine bei C und D gestattete. Wo und wie würde dieses Leben sich offenbaren? Die Wiederholung der 84-Tages-Periode deutete auf zyklische Aktivität, jahreszeitliche Fluktuationen, das Beharren auf einer Art von Gesetz. Religiöse Opferungen? Eine Krankheit mit einer Inkubationszeit von vierundachtzig Tagen? Magnus Ridolph verzog skeptisch das Gesicht. Er bremste den Hüpfer ab und studierte das Antlitz Jexjekas unter sich. Er sah einen gewaltigen Obsidianspiegel mit einem Neigungswinkel von etwa zehn bis fünfzehn Grad. Etwa fünfzehn Kilometer erstreckte er sich bis zu seinem Rand, wo die Oberfläche von schmalen
Muschellinien durchzogen wurde. Magnus Ridolph ging tiefer, bis er sich etwa sechs Meter über der glitzernden Oberfläche befand. Das Licht von zwei Sonnen drang durch das klare Glas und blitzte und funkelte auf Aventurineinschüssen. Er landete den Hüpfer, stieg von der Plattform, bückte sich und betrachtete die Oberfläche genauer. Sie war sauberes glänzendes Glas, ohne auch nur ein Staubkörnchen. Magnus Ridolph kletterte auf den Hüpfer zurück, hob ihn einen Meter und ließ ihn die Neigung abwärts gleiten, bis die Obsidianoberfläche sich zu einer leichten Erhebung zusammenzog. Dahinter war ein Abgrund. Magnus Ridolph schwebte über den Rand und spähte hinunter in die Dunkelheit, doch die Schwärze verhinderte die Sicht. Ganz langsam ließ er den Hüpfer hinuntertauchen – tiefer, immer tiefer, wohin das Licht der beiden Sonnen nicht mehr dringen konnte. Er schaltete die Lampen ein, die an den Plattformseiten befestigt waren. Tiefer, immer tiefer – bis sich schließlich die düstere graue Sohle der Schlucht ihm entgegenzuheben schien. Der Hüpfer setzte sanft, wie ein durchtränkter Holzbalken auf dem Meeresboden, auf. Die Talsohle war aus unidentifizierbarem schwarzen Gestein mit großen fasrigen grauen Kristallen. Magnus Ridolph schaute sich in dieser felsigen Öde um, soweit der Schein seiner Lampen reichte. Keine Spur von Staub, keinerlei Anzeichen, daß je ein Fuß über diesen verborgenen Boden geschritten wäre. Er hob den Hüpfer etwa einen Meter über den Boden und flog die Schluchtsohle ganz langsam entlang
– aber es gab nichts als nackten Fels, kalt, öde, trostlos. Mit einemmal empfand Magnus Ridolph ein seltsames Unbehagen, das Klaustrophobie sehr nahekam. Er hob den Hüpfer wieder höher, höher in das blaßrote Licht Rouges und Blanches, weg von der Obsidianspiegelfläche. Er nahm wieder die ursprüngliche Richtung und flog weiter nach B. Das Ausmaß von Howard Thifers Entwicklungsarbeit hier beeindruckte ihn. Dreißig bis vierzig Morgen rings um den Teich waren mit fruchtbarer schwarzer Erde von Thaluri 2 aufgeschüttet worden, und die fasrigen Bäume mit den eckigen Glasblättern erstreckten sich Reihe um Reihe. An den meisten Bäumen hingen orangebraune Früchte von Melonengröße, die nur noch gepflückt zu werden brauchten. In einer abgetrennten Weide graste ein Dutzend thalurische Kühe und kauten silbriges Stachelgras. Vom Obstgarten aus beobachteten etwa zehn Thalurier mit glänzender Haut Magnus Ridolph, doch sie versteckten sich hastig hinter dem Glaslaub, wenn er in ihre Richtung blickte. Sie hatten eine frappante Ähnlichkeit mit den Kühen, fand er, auch wenn sie aufrecht standen, während die Kühe halb krochen, halb auf dem Bauch lagen. Ihre Augen erhoben sich auf dicken Stielen über den kopflosen Schultern, und der Nahrungsmund befand sich zwischen den Augen. Magnus Ridolph stieg vom Hüpfer. Die Thalurier streckten ihre Augenstiele durch das Laub und tänzelten nervös, als er auf sie zukam. Er nickte ihnen höflich zu, schaute dahin und dorthin, warf einen Blick auf das Wasser. Aber es gab nichts von sonderlichem Interesse. Das Wasser bro-
delte leicht in das Vakuum, obgleich die Temperatur dem Gefrierpunkt nahe war. Er stieg wieder auf den Hüpfer, hob ihn und machte sich auf nach C auf der anderen Planetenseite. C sah genauso aus wie B, nur daß die Thalurier fehlten und die thalurischen Kühe. Eigenartig, diese Ähnlichkeit, dachte Magnus Ridolph – evolutionäre Verwandtschaft. Zweifellos bestand in den Augen der Thalurier auch unter der irdischen Fauna eine ähnliche organische Verwandtschaft. Er begutachtete die Bäume. Die reifen Früchte waren geplatzt und hatten ganze Horden von pulsierenden Korpuskeln – rot und rund wie Granatapfelkerne – freigegeben. Sie zuckten und zitterten und drängten fort vom Elternbaum. Lange und sorgfältig schaute Magnus Ridolph sich im Obstgarten um. Er studierte ihn konzentriert, Meter um Meter. Aber genau wie Thifer ihm versichert hatte, gab es nichts zu sehen – keine Spuren eines Kampfes, keine Beschädigungen, keine Hinweise. Immer wieder ging Magnus Ridolph langsam hin und her. Er suchte nach Abdrücken, niedergedrücktem Gras, gebrochenen Zweigen. Nein, keine gebrochenen Zweige – aber einige, die eigentlich große Glasblätter hätten tragen sollen, endeten in kahlen Faserbüscheln. Die fehlenden Blätter lagen nicht am Boden. Magnus Ridolph pfiff durch die Zähne. Ein paar nichtvorhandene Blätter mochten viel oder nichts bedeuten. Vielleicht war es für diese Bäume normal, auch laublose Zweige zu tragen? Magnus Ridolph jedenfalls speicherte diese Frage in seinem Gehirn. Sobald er eine Möglichkeit hatte, würde er Thifer fragen.
Er kletterte wieder in den Hüpfer und flog weiter nach D. Es war nicht anders als B und C auch, nur lag es am Fuß gigantischer Zacken aus rotem Granit, der wie Bronze schimmerte, wenn das stumpfe Licht Rouges – von der nur ein winziges Stück über den Horizont ragte – darauf fiel. D war ebenso verlassen wie C. Auch hier fehlten von einigen Bäumen ein paar Blätter. Und nun verschwand Rouge ganz. Dunkelheit quoll vom Himmel herab. Magnus Ridolph fröstelte trotz der warmen Luft in seinem Anzug. Trostlosigkeit und Einsamkeit existierten nur durch den geistigen Vergleich, wie es sein könnte. Dergleichen Überlegungen befielen einen nie direkt im Raum, der zwischen den Sternen gewaltig und leer war – er erschien einem als das Höchste an Grandeur, nie jedoch trostlos oder öde. Die Einsamkeit des dunklen Obstgartens in D beunruhigte das Gehirn lediglich, weil es andere Obstgärten gab, die warm und duftend und einladend waren. Magnus Ridolph flog nach B zurück, wo es noch Tag war. Er stieg vom Hüpfer und untersuchte die Bäume, während die Thalurier sich versteckten und ihn mit den Augenstielen durch das Laubwerk beobachteten. Er stellte fest, daß hier jeder Zweig an seiner Spitze ein eckiges sprödes Blatt trug. Er kehrte auf seinen Hüpfer zurück und stieg in die luftlose Leere auf. Da es keinen Luftwiderstand gab, brauchte der Hüpfer nur wenig Energie, selbst für hohe Geschwindigkeit. Zum Abendessen war Magnus Ridolph in Station A zurück. Thifer empfing ihn mit anfänglicher Neugier, doch dann ignorierte er ihn und unterhielt sich brummigen
streitbaren Tones mit Smitz, dem Minenvormann, einem dünnen Burschen mit traurigen Augen und Haar wie Salzgras. Magnus Ridolph, der am Fußende des Tisches saß, aß nur wenig von dem vorgesetzten Gericht: schlecht gewürzter Auflauf mit Gurkensalat. Endlich wandte Thifer sich Magnus Ridolph mit leicht amüsierter Miene zu, als wollte er damit ausdrucken, daß nun, da die wichtigen Dinge erledigt waren, er sich auch mit anderen beschäftigen konnte. »Nun«, erkundigte er sich. »Haben Sie Ihre Gespenster aufgespürt?« Magnus Ridolph hob die weißen Brauen. »Gespenster? Ich verstehe Sie nicht.« »Sie sagten doch selbst, daß Sie glaubten, Gespenster könnten für das Verschwinden verantwortlich sein.« »Ich fürchte, Sie verstanden mich nicht richtig. Meine Bemerkungen waren rein abstrakt. Was Ihre Frage betrifft, nein, ich sah keine Gespenster.« »Haben Sie überhaupt irgend etwas entdeckt?« »Ich bemerkte, daß von einigen der Bäume in C und D Blätter fehlten. Haben Sie eine Ahnung, weshalb das der Fall ist?« Thifer blinzelte dem Vormann Smitz verschwörerisch zu, der Magnus Ridolph mit unverhohlenem Grinsen beobachtete, und sagte: »Nein. Vielleicht haben die Jungs, als sie verschwanden, die Blätter als Souvenirs mitgenommen.« »Sie mögen den Nagel auf den Kopf getroffen haben«, sagte Magnus Ridolph ruhig. »Irgendeine Erklärung muß es geben. Hm – dieses Sonnensystem hat keine weiteren Planeten?« »Nein. Es besteht aus drei Sternen und einem Planeten.«
»Sind Sie sicher? Immerhin liegt dieses System außerhalb des Commonwealth und wurde vermutlich noch nicht völlig erforscht.« »Ich bin ganz sicher. Es gibt nur die drei Sterne und Jexjeka.« Magnus Ridolph überlegte kurz. »Jexjeka kreist um Rouge, und der dunkle Stern Noir kreist um Blanche. Habe ich recht?« »Stimmt. Und Rouge und Blanche kreisen umeinander. Ein richtiges Karussell.« »Hahaha«, lachte Smitz. »Haben Sie die Umlaufzeiten überprüft?« »Nein. Was spielt das schon für eine Rolle. Das ist genauso verrückt, wie Ihre Vorstellung von Gespenstern.« Magnus Ridolph zog die Brauen zusammen. »Gestatten Sie mir, das zu beurteilen. Schließlich haben Sie hundertzweiunddreißigtausend Muniten für meine Dienste bezahlt.« Thifer lachte. »Das habe ich sehr wohl in Betracht gezogen. Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Wenn Sie sich das Geld nicht durch Ihre kriminalistischen Fähigkeiten verdienen, werden Sie es durch Schürfen in der Mine tun. Wir bezahlen unseren Männern fünfzehn Muniten pro Tag, zuzüglich Unterkunft und Verpflegung.« Mit milder Stimme erkundigte sich Magnus Ridolph. »Habe ich Sie recht verstanden? Wenn es mir nicht gelingen sollte, das Verschwinden aufzuklären, muß ich Ihnen das Honorar durch manuelle Arbeit zurückerstatten?« Thifer lachte schallend, und Smitz kicherte trocken. »Sie haben drei Möglichkeiten«, sagte Thifer. »1.
Sie können das Problem lösen; 2. Sie verschwinden ebenfalls; oder 3. Sie buddeln. – Sie werden mich doch nicht für so blöd halten, daß ich mich ungestraft von Ihnen hereinlegen lasse, wie Sie es auf Azul getan haben?« »Ah«, sagte Magnus Ridolph. »Sie glauben, meine Forderung wäre unbillig gewesen. Und Sie brachten mich nach Jexjeka, damit ich in Ihrer Mine arbeite.« »Sie haben es begriffen. Ich bin ein harter Mann, wenn man versucht, mich in die Enge zu drängen.« Magnus Ridolph beschäftigte sich mit dem Gurkensalat. »Ihre sehr unfreundlichen Drohungen sind unnötig. Ich beabsichtige, das Geheimnis des Verschwindens zu lösen.« Thifers Lippen verzogen sich zu einem letzten Lachen. »Nun, das klingt vernünftig.« »Noch eine Frage: in welchem Abstand erfolgte das Verschwinden genau?« »Vierundachtzig Tage. Etwas mehr als ein Jahr – ein Jexjekajahr, natürlich. Das Jahr hier hat zweiundachtzig Tage und jeder Tag sechsundzwanzig Erdstunden.« »Nach den bisherigen Abständen, wann müßte da die nächste kritische Nacht sein?« »In – warten Sie! – vier Tagen.« »Vielen Dank.« Magnus Ridolph widmete sich wieder seinem Gurkensalat. »Haben Sie schon irgendwelche Vorstellungen?« erkundigte sich Thifer. »Ja, sogar viele. Das ist die Grundlage meiner Methode. Ich untersuche jede vorstellbare Hypothese. Ich mache eine Aufstellung mit möglichst vielen Hypothesen. Wenn ich sorgfältig genug bin, ist darunter
auch das tatsächliche Geschehnis. Bis jetzt reichen meine Hypothesen von plötzlich klaffenden Schlünden, die Ihre Männer verschlangen, bis zu Gespenstern, die sie aus nur ihnen bekannten Gründen ermordeten. Wegen der Versicherung, vielleicht.« Smitzs Kinn sackte hinab, wackelte. Er warf einen verblüfften Blick auf Thifer und wich leicht zurück. Thifers schweres ledriges Gesicht war unleserlich. »Alles ist möglich«, brummte er. Magnus Ridolph gestikulierte etwas pedantisch mit der Gabel. »Vieles ist nicht möglich. Ihre Vorstellung von Gespenstern – pseudoreligiöse Phantasiegestalten – ist nicht möglich. Meine ist anders. Ich gebe zu, wenn Ihre Art von Gespenstern existierten, würden sie bestimmt mit größter Freude auf Jexjeka spuken. Es ist die trostloseste, unfreundlichste Welt, die ich je gesehen habe.« »Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte Thifer grimmig. »Hundertzweiunddreißigtausend Muniten bei fünfzehn Muniten pro Tag, das sind – lassen Sie mich nachrechnen – achttausendsiebenhundert Tage. Sie können von Glück reden, daß Unterkunft, Verpflegung und Arbeitskleidung kostenlos zur Verfügung gestellt werden.« Magnus Ridolph erhob sich. »Ich halte nichts von Ihrer Art von Humor. Entschuldigen Sie mich bitte.« Er verbeugte sich und verließ den Tisch. Als die Tür einrastete, hörte er Thifers schallendes Gelächter und Smitzs Kichern als dessen Echo. Da lächelte Magnus Ridolph. Vier Tage noch bis zur kritischen Nacht. Magnus Ridolph stieg auf den Hüpfer. Er flog hoch und tief
über den Planeten. Er landete an den Polen. Der Nordpol war ein schräges Basalt-Stufenfeld, hexagonal durchbrochen. Der Südpol eine wellige schlackenreiche Ebene. Fußabdrücke hätten hier ihre Spuren für alle Ewigkeit zurücklassen müssen. Aber kilometerweit war die Fläche unberührt. Er durchsuchte Täler und Klüfte, landete den Hüpfer auf rasiermesserscharfen Bergkämmen und starrte hinunter in schwarze, schwarz-rosa und grau-rosa Wirrnis. Nirgendwo fand er eine Spur der verschwundenen Männer. Er studierte die Stationen C und D mit Augen, die jeden Quadratzentimeter individuell und separat sahen. Doch außer den fehlenden Blättern fand er nichts, was auch nur von der geringsten Bedeutung sein mochte. Der vierte Tag war angebrochen. Beim Frühstück zog Thifer Magnus Ridolph in ein freundliches Gespräch, das er dann jedoch zu Fragen über den verspekulierten Zoo benutzte und dabei immer wieder seine Bemerkungen über die hohen Tiernahrungskosten machte. Magnus Ridolph erwiderte brüsk. Das Rätsel zehrte an seiner Geduld, und so fiel es ihm auch schwer, seine übliche Höflichkeit zu bewahren. Trotz seiner Abneigung dagegen, sich selbst als Köder darzubieten, fiel ihm keine andere Methode ein, durch die das Geheimnis gelüftet werden könnte. Er belud den Hüpfer mit allem, was möglicherweise von Nutzen sein mochte: Plastronseil, Granatengewehr, Nahrungskonzentrat, Wasser, Weinbrand, Infrarotglas, Feldstecher, ein Druckluftsprühgerät, das er mit Leuchtfarbe füllte. Denn falls er auf un-
sichtbare Wesen aufmerksam wurde konnte er sie durch Besprühen zumindest teilweise sichtbar machen. Auch ein tragbares TV-Übertragungsgerät nahm er mit, da er beabsichtigte, damit in Kontakt mit Thifer zu bleiben. Thifer beobachtete die Vorbereitungen leicht amüsiert. Endlich war Magnus Ridolph aufbruchsbereit. Als fiele es ihm gerade erst ein, wandte er sich an Thifer. »Möchten Sie nicht mitkommen? Sie sind doch sicher sehr neugierig, wie es weitergeht.« Thifer schnaubte wieder einmal wie ein Mastodon. »So neugierig auch wieder nicht. Die Neugier, die mich hundertzweiunddreißigtausend Muniten kostete, genügt mir.« Ridolph nickte bedauernd. »Nun, dann, auf Wiedersehen.« »Vielleicht«, brummte Thifer. »Schalten Sie das TV ein, sobald Sie angekommen sind! Ich möchte sehen, was passiert.« Der Hüpfer erhob sich auf seinem X-Träger. Als die Antriebsdüse übernahm, glitt er über die Ödnis dahin. Thifer blickte ihm nach, bis er nur noch ein rosiger Punkt war, dann kehrte er in die Kuppel zurück. Er zog seinen Luftanzug aus, brühte sich eine Riesenkanne Tee auf und setzte sich neben den Teleschirm. Zwei Stunden später leuchtete das Ruflicht auf. Thifer drückte auf den Knopf. Die Station C war auf dem Schirm zu sehen und Magnus Ridolphs Stimme zu hören. »Alles ist wie üblich. Keine Spur von etwas Ungewöhnlichem. Ich schwebe etwa sechs Meter über der Station. Fallstricke sind rings um die gesamte Oase
angebracht. Nicht einmal eine Schlange könnte eindringen, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Die Sonne geht gerade unter, wie Sie sehen.« Eine kurze Weile herrschte Schweigen, dann fuhr Magnus Ridolph fort. »Ich werde jetzt die Flutlichter einschalten.« Thifer sah, wie es plötzlich fast blendend hell wurde. »In gewissen Abständen werde ich nun Leuchtfarbe sprühen. Wenn etwas Dichteres als Vakuum anwesend ist, müßte es sichtbar werden.« Magnus Ridolphs Stimme schwand. Thifer, der aufmerksam beobachtete, sah wie das Bild sich jetzt stetig änderte, während Magnus Ridolph mit dem Hüpfer von einer Stelle der Oase zur anderen flog. Dunkelheit setzte ein, eine undurchdringliche Schwärze außerhalb der Flutlichtreichweite. Auf Thifers Schirm war die Oase in scharfen schwarzweißen Kontrasten zu sehen. Die Glasblätter an den Bäumen glitzerten und blitzten wie Gischt. Mehrere Stunden vergingen, während derer Magnus Ridolph in gewissen Abständen immer die gleiche kurze Meldung durchgab: »Nichts Ungewöhnliches. Alles wie zuvor.« Plötzlich hörte Thifer ihn verwirrt sagen: »Ich spüre etwas ganz Merkwürdiges – es ist nicht zu beschreiben. Es ist etwas da...« Abrupt brach die Stimme ab. Das Bild auf dem Schirm nahm eine ungewöhnliche Perspektive an und wurde unscharf. Und dann starrte Thifer in die Schwärze. Langsam erhob er sich. »Hmmm«, murmelte er. »Sieht ganz so aus, als hätte der alte Ziegenbock sich sein Geld auf die harte Weise verdient.«
Am nächsten Tag durchsuchte er C vorsichtig, doch Magnus Ridolph war mit seinem Hüpfer und allen Gerätschaften genauso spurlos verschwunden, wie bisher alle anderen auch. Ein vollkommeneres Verschwinden hätte es nicht geben können, wenn das Schicksal in die Zeit zurückgegriffen und die Tatsache seiner Geburt ausgelöscht hätte. Thifer zuckte die Achseln. Es war ein Rätsel, und es würde nun auch eines bleiben, denn er hatte nicht die Absicht, noch mehr Geld für seine Lösung auszugeben oder noch mehr Männer deshalb in Gefahr zu bringen. Er konnte ja C und D trotzdem achtzig Tage im Jahr bewirtschaften und brauchte die Männer lediglich während der gefährlichen Nächte zurückzuziehen. Das war das einzige Vernünftige. Zwei Tage vergingen. Am Abend des zweiten Tages, saß Thifer mit Smitz, dem Vormann, und Edson, dem Chefingenieur, an dem langen Eßtisch. Die drei besprachen die Errichtung einer Raffinerie am Eingang zur Zentauriummine. Ein Modell davon erhob sich auf dem Tisch vor ihnen, und Krüge mit Bier standen daneben. Die Tür schwang auf. Magnus Ridolph trat ruhig ein und nickte. »Guten Abend, meine Herren. Sie sind beschäftigt, wie ich sehe. Machen Sie bitte weiter, lassen Sie sich von mir nicht stören!« »Ridolph!« brüllte Thifer. »Wo waren Sie?« Magnus Ridolph hob die Brauen. »Ich führte meine Mission durch, was sonst?« »Aber – Sie verschwanden doch!« Magnus Ridolph strich selbstgefällig über den weißen Bart. »Nun, in gewissem Sinne, ja. Aber nur zeitweilig, wie Sie sehen.«
Thifer runzelte die Stirn, und seine rotbraunen Augen schienen Magnus Ridolph durchbohren zu wollen. Plötzlich funkelten sie gefährlich. »Wollen Sie vielleicht sagen, Sie haben sich einfach aus der Station geschlichen?« Magnus Ridolph fuhr verärgert mit der Hand durch die Luft. »Ruhe, Mann! Ruhe! Wie soll ich reden, wenn Sie wie ein Schaf blöken?« Thifers Gesicht lief tiefrot an. Er war der Hysterie sehr nahe. Mühsam beherrschte er sich und sagte drohend leise: »Erzählen Sie! Aber wehe, wenn Ihre Erklärung nicht gut ist!« »Ich verschwand – genau wie alle Ihre anderen Männer auch verschwanden«, berichtete Magnus Ridolph. »Ich wurde von der gleichen Kraft geholt, die auch sie holte.« »Und was ist diese Kraft?« Magnus Ridolph setzte sich auf einen Stuhl. »Sie ist ein gewaltiges schwarzes Objekt, das einen ungeheuren Zwang ausübt. Es duldet keinen gegensätzlichen Willen.« »Kommen Sie zur Sache, Ridolph!« »Es ist der dunkle Stern Noir – die Welt, von der Sie fälschlicherweise annahmen, daß sie die weiße Sonne umkreist.« »Aber das tut sie!« rief Thifer bestürzt. »Man kann sie in Opposition sehen und ihre Umlaufzeit ist...« – seine Stimme wurde zu einem verblüfften Murmeln – »... vierundachtzig Tage.« »Ja«, bestätigte Magnus Ridolph, »und ihre Umlaufbahn ist etwas ungewöhnlich – sie ist nämlich genau eine 8: um Blanche herum, hinüber zu Rouge und um Rouge herum. Ihr Orbit bringt sie Jexjeka sehr
nahe – in eine Entfernung von nur ein paar tausend Kilometern –, nahe genug für ihre Schwerkraft, die ihr genau gegenüberliegende Oberfläche Jexjekas sauberzufegen.« »Unsinn!« schnaubte Thifer. »Unmöglich! Wenn sie so nahe käme, daß sie das Gravitationsfeld Jexjekas aufhebt, würde sie ja den ganzen Planeten hinter sich herziehen.« Magnus Ridolph schüttelte den Kopf. »Jexjeka hat einen Durchmesser von fünfzehntausend Kilometern. An der Oberfläche ist Noirs Schwerkraft stärker als Rouges und Jexjekas Gravitation zusammengenommen. Am Mittelpunkt des Planeten, siebentausendzweihundert Kilometer entfernt, dominiert Rouges Schwerkraft, und Jexjeka bleibt in seinem Orbit, obgleich einige Störungen unvermeidbar sind. Jexjekas Jahr hat zweiundachtzig Tage. Noirs Umlaufzeit ist vierundachtzig Tage, so daß sie jedes Jahr an einer anderen Stelle des Orbits an Jexjeka vorbeikommt. In zehn oder fünfzehn Jahren müßte Jexjeka weit genug entfernt sein, daß es für ihn nicht mehr gefährlich ist, wenn Noir hinter Rouge herumschwingt.« Thifer runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Schließlich blickte er zu Magnus Ridolph auf. »Was ist mit Ihnen geschehen?« »Nun, zuerst spürte ich eine merkwürdige Leichtigkeit, die sich mit zunehmender Geschwindigkeit verstärkte. Noir näherte sich und zog sehr schnell vorüber. Dann war mir, als stürzte ich kopfüber. Und so war es auch – ich fiel von Jexjeka auf Noir. Die Düsen des Hüpfers, die gegen Jexjeka gerichtet waren,
trugen zu einer zusätzlichen Beschleunigung bei. Ich glaube, eine halbe Minute verging, bis ich verstand, was passierte. Und dann war ich bereits im freien Raum und fiel auf eine gewaltige schwarze Kugel zu.« »Wieso können wir sie nicht sehen?« fragte Thifer scharf. »Wieso ist sie nicht sichtbar wie ein Mond?« Magnus Ridolph überlegte. »Noir ist vermutlich aus kaltem Sternenzeug zusammengesetzt – besonders schwere Protonen, von kompaktem Gas umgeben, das den größten Teil des einfallenden Lichtes absorbiert.« »Nun«, brummte Thifer. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Berichten Sie weiter!« »Es gibt nicht viel mehr. Ich drehte den Hüpfer und benutzte die gesamte vorhandene Energie. Sie reichte gerade, mich mühsam nach Jexjeka zurückzubringen – zwei Tage brauchte ich für die Rückreise.« »Ich nehme an, die anderen Männer sind alle tot?« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie hätten überleben können.« Eine Weile herrschte Schweigen im Eßraum. Dann hämmerte Thifer mit einer Faust wie einem kleinen Faß auf den Tisch. »Wenn es so ist, ist es eben so. Jetzt wissen wir wenigstens Bescheid und brauchen nur vorsichtig zu sein.« »Ich habe hiermit meinen Auftrag erfüllt«, erklärte Magnus Ridolph. »Sie haben bekommen, wofür Sie bezahlten. Nun wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich entweder nach Azul oder zu einem der Gamma Skorpion-Planeten bringen ließen, was immer für Sie günstiger ist.«
Thifer knurrte: »Es wird bald ein Erzschiff von hier starten. Sie können mitfahren.« Magnus Ridolph hob die Brauen. »Wie bald ist bald?« »Das hängt davon ab, wie schnell wir es beladen können, wie das Erz abgebaut wird. Einen Monat, vielleicht, oder auch zwei oder drei Monate, wenn wir nicht eine neue Ader erschließen.« »Und wohin fliegt dieses Erzschiff?« »Zu unseren Anlagen auf Hephaestos.« Mit milder Stimme erklärte Magnus Ridolph: »Das ist mir genauso ungelegen wie Jexjeka.« »Tut mir leid«, brummte Thifer. »Im Augenblick habe ich keine Zeit, Sie zurückzubringen. Ich habe anderes zu tun. Dieser dunkle Stern...« »Was haben Sie vor, Boß?« fragte der Ingenieur. Bedächtig antwortete Thifer. »Ich weiß noch nicht. Sieht so aus, als könnten wir nicht viel mehr tun, als uns jedesmal, wenn der dunkle Stern kommt, mit allem, was nicht niet- und nagelfest ist, zurückzuziehen.« Er hieb nachdenklich auf den Tisch. »Verdammt ärgerlich.« Magnus Ridolph sagte: »Ein Orbit wie Noirs – eine 8 – muß genau ausgewogen sein. Selbst eine verhältnismäßig geringe Kraft könnte die Umlaufbahn völlig verändern. Eine 8 ist unwahrscheinlich selten – tatsächlich habe ich so etwas noch nie zuvor gesehen.« Thifer blickte ihn starr an, dann begriff er. »Wenn Noir nur ein bißchen verlangsamt werden könnte, während sie sich Blanche näherte, würde sie vielleicht ihren Orbit von einer parabolischen Art von Kurve zu einer Ellipsenbahn ändern. Was meinen Sie dazu, Edson?«
»Klingt vorstellbar«, antwortete Edson und blinzelte heftig. »Vielleicht eine große Atomexplosion?« meinte Thifer. »Würde so ein Ruck genügen?« Edson verzog das Gesicht. Er hatte es gar nicht gern, wenn er so unvorbereitet seine Meinung sagen sollte. »Nun«, murmelte er, »das System muß genau abgestimmt sein. Wie ein großer Felsblock, der auf seiner Spitze steht. Schon ein Windhauch wirft ihn um.« Thifer stand auf. Das Gesicht verriet seine innere Erregung. »Wir versuchen es! Überlegen Sie nur! Stellen Sie sich die Schlagzeilen vor: ›Howard Thifer ändert die Umlaufbahn eines Sterns, um Menschen zu schützen!‹ Klingt doch gut, oder? Tolle Publicity!« »Also wirklich, Ridolph«, er hieb Magnus Ridolph fast freundschaftlich auf den schmalen Rücken. »Hin und wieder haben Sie gar keine so schlechte Idee!« Er wandte sich an den Vormann. »Wir haben doch eine Menge Atomit hier, oder nicht?« Smitz nickte. »Und Zentaurium ebenfalls. Etwa fünfhundert Tonnen warten darauf, verfrachtet zu werden.« »Richten Sie alles her – alles! Wir benutzen das Atomit als Zünder. Wir werfen das Ganze auf Noirs Vorderseite ab. Ein 2-Milliarden-Tonnen-Tritt in die Zähne für den dunklen Stern.« Er überlegte und fügte hinzu: »Die beste Zeit, die Bombe fallen zu lassen, ist jetzt, während Noir Rouge verläßt und sich Blanche nähert. Wenn wir warten, bis sie herumgeschwungen ist, fängt sie vielleicht an, um Rouge zu kreisen, und das wäre schlimm. Ja, wir schicken ihr die Bombe sofort. Beeilt euch, Jungs! Ich möchte es schnell hinter uns kriegen!«
Die Explosion! Ein grauenvolles, krachendes Aufglühen, weißer als der Kern Blanches! Thifer und Magnus beobachteten sie auf dem Teleschirm – die Übertragung kam von Edson im Erzschiff. In seiner Aufregung hieb Thifer Magnus Ridolph auf den Rücken. Ridolph brachte sich in Sicherheit. Thifer brüllte in das Mikrophon: »Hat es genutzt? Läßt sich schon was sagen?« »Noch zu früh«, antwortete Edson. »Wir müssen eine Weile warten – mindestens ein paar Stunden. Sagen Sie, Boß...« Seine Stimme klang eigentümlich. »Die Explosion breitet sich aus – und wie schnell! Sieht aus, als hätte der ganze Stern Feuer gefangen!« Auf dem Schirm sahen Thifer und Magnus Ridolph Noir glühen und glitzern und weiße Flammenzungen ausspucken. »Was geht da vor?« donnerte Thifer. »Was haben Sie gemacht?« »Nichts, Boß!« klang Edsons ferne Stimme. »Sieht aus, als hätten wir hier eine kleine Nova!« Thifer wandte seinen Stierschädel Magnus Ridolph zu. Seine Stimme war leise, ganz ruhig. »Was geht da draußen vor, Ridolph?« Magnus Ridolph kratzte nachdenklich seinen Bart. »Offenbar hat die Energie der Explosion einige der Protonen der Sternmaterie losgerissen, und sie fliehen jetzt mit beachtlicher kinetischer Energie. Zweifellos hat sich ein Teil der Energie – durch die ungeheure positive Ladung – in freie Elektronen umgewandelt. Ich würde mich nicht wundern, wenn der ganze Stern auflodert. Ich glaube nicht, daß die Explosion sich sonderlich auf die Umlaufbahn ausgewirkt hat.« »Wieso?«
»Wenn Sie Noir verlangsamen, würde sie in einer steileren Parabel auf Blanche zufallen und in engerem Winkel zurückkehren. Ich fürchte, alles was Sie tun konnten, war lediglich, das Gleichgewicht des Systems zu stören. Bei ihrem nächsten Umlauf könnte Noir sogar mit Jexjeka zusammenstoßen. Auf jeden Fall aber wird sie uns ganz schön versengen. Das ist natürlich noch lange kein Grund, in Panik zu verfallen. Eine solche Nova ist in ein paar Jahren ausgebrannt. Und dann können Sie wieder nach Herzenslust schürfen.« Er erhob sich. »Ich glaube, ich packe jetzt lieber meine Sachen. Je eher wir Jexjeka verlassen, desto besser.« »Ridolph!« flüsterte Thifer. »War das einer Ihrer Schliche? Wenn ja, bringe ich Sie mit meinen eigenen Händen um!« Magnus Ridolph hob beleidigt die Brauen. »Schliche? Die Explosion war Ihre Idee!« »Weil Sie sie mir nahelegten.« »Pah!« sagte Magnus Ridolph. »Ich kam aus einem einzigen Grund nach Jexjeka, nämlich um herauszufinden, wohin Ihre Leute verschwanden. Das habe ich auch herausgefunden. Sie weigerten sich jedoch, mich in eine zivilisierte Gegend zurückzubringen und zogen es statt dessen vor, einen dunklen Stern zu bombardieren.« »Auf Ihre Anregung hin!« wiederholte Thifer bedeutungsvoll. Magnus Ridolph lächelte dünn. »Diese Behauptung beruht nicht auf Wahrheit. Doch lassen Sie mich jetzt etwas anregen: statt mir unberechtigte Vorwürfe zu machen, sollten Sie lieber anfangen, Ihre Leute zu evakuieren. Wenn Noir tatsächlich zur Nova wird –
und wenn auch nur zu einer kleinen –, wird es unangenehm warm auf Jexjeka, sobald sie das nächstemal vorbeikommt.« Er ging zur Tür, wo er sich kurz umdrehte. »Es dürfte klug sein, nicht allzuviel verlauten zu lassen. Die Nachrichtendienste wären imstande, Sie auf unangenehme Weise lächerlich zu machen.« Magnus Ridolph kniff die Augen ein wenig zusammen: »›Dunkelstern mit atomarem Feuer bekämpft! Thifer räuchert sich selbst aus!‹« »Halten Sie den Mund!« sagte Thifer bedrohlich leise. »Hinaus!« »›Thifer heizt sich mit kosmischem Feuer die Sohlen an. Dachte, es sei Dunkelstern, sagte Bergbauboß!‹« fügte Magnus Ridolph noch hinzu und trat durch die Tür. »Hinaus!« schrie Thifer. »Hinaus!«