Höllenjäger Band 11
Die Toten erwachen von Des Romero
Prolog Die Wohnstube wurde erhellt vom Schein mehrerer Kerzen...
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Höllenjäger Band 11
Die Toten erwachen von Des Romero
Prolog Die Wohnstube wurde erhellt vom Schein mehrerer Kerzen, die auf dem Fenstersims, dem Esstisch und einem Wandregal direkt über ein paar Ziertellern standen. Aus der Küche nebenan zog wohlige Wärme vom Herdfeuer herüber, auf dem sich ein großer Topf befand, der ei nen würzigen Geruch verbreitete. »Ich habe schon einen riesigen Hunger!«, rief Ureschcopal seiner Mutter zu, die Besteck und Teller aus einer Anrichte hervorholte. »Und es soll dir auch besonders gut schmecken«, sagte Esch'rt, als sie sich wieder zu ihrem Sohn herumdrehte und auf den Tisch zu schritt, um ihn zu decken. Sie lächelten sich gegenseitig an und es war die Güte und Fürsorge der Mutter, die diesem Lächeln innewohnten und die kindliche Erwartung Ureschcopals, die aus seinem Lächeln sprach. Esch'rt verließ die Wohnstube, um in der Küche einen kleinen Topf aus dem großen Kessel zu befüllen. »Wann kommt Papa wieder zurück?«, fragte der Zehnjährige und wiederholte die Frage, weil seine Mutter ihn nicht verstanden hatte. »Das wird sicher noch einige Tage dauern«, rief sie über die Schulter zurück. »Bis die Unruhen eingedämmt sind.« »Was ist denn eigentlich passiert? Und warum muss Papa sich darum kümmern?« Seine Mutter antwortete erst, als sie den frisch gefüllten Topf vor ihrem Sohn auf den steinernen Untersetzer stellte. »Weil die Gemeinschaft seine Hilfe braucht. Dein Papa kann sich da nicht ausschließen. Es geht um das Wohl aller Menschen.« »Ich hätte lieber, dass er hier zu Hause bei uns ist«, fügte Uresch copal hinzu, allerdings mit schwindendem Interesse. Seine Aufmerk samkeit galt der Kelle, in der sich dampfender, herrlich duftender Ein topf befand und die Esch'rt in seinen Teller entleerte. Obwohl ihm das Wasser im Munde zusammenlief wartete er doch, bis auch seine Mut ter sich bedient hatte und ihm einen guten Appetit wünschte. »Guten Appetit, Mama«, konnte der kleine Mann gerade noch sa gen, bevor der erste Löffel in seinem Mund verschwand. Einen Wim 4
pernschlag später stieß er schon einen Schmerzlaut aus, beugte sich über seinen Teller und ließ das Essen aus seinem Mund hinab laufen. »Erst pusten, Schatz«, meinte Esch'rt mild und machte es ihm vor. »Das ist aber wirklich noch höllisch heiß«, schüttelte sich Uresch copal. »Und ich hab' doch so einen Hunger.« »Iss langsam, dann kannst du dich länger am Sättigungsgefühl er freuen.« Notgedrungen beherzigte der Zehnjährige den Ratschlag seiner Mutter und nachdem er minutenlang schweigend gegessen hatte und der Hunger nicht mehr in ihm nagte, warf er bereits die nächste Frage in den Raum. Er hatte sie schon oft gestellt, doch irgendwie hatte die Antwort ihm nie richtig zugesagt; sie war unbefriedigend gewesen. Jedes Mal. Warum er gerade jetzt der Ansicht war, sie tiefgründiger erörtert zu bekommen, konnte er nicht sagen. Aber er würde nicht aufhören, sie zu stellen. »Warum habe ich einen so seltsam klingenden Namen, Mama?« Esch'rt kaute in Ruhe zu Ende und wischte sich mit einem Stoff tuch über den Mund. Innerlich schmunzelte sie. An sich hatte sie schon den ganzen Abend auf diese Frage gewartet. »Wie du weißt, bist du nicht das leibliche Kind von deinem Vater und mir.« »Ja, ihr habt mich gefunden, nicht wahr?« »Als wir dich fanden, weit draußen im Wald und als wir dich dann berührten, da war dein Name plötzlich in unseren Köpfen...« »Ihr habt ihn euch ausgedacht?«, wollte Ureschcopal wissen, der mit dieser Äußerung nicht viel anzufangen wusste. Sie bewegten sich allmählich auf jene Stelle zu, die dem Jungen die größten Schwierig keiten bereitete. »Nein, nicht ausgedacht.« Esch'rt überlegte, wie sie neue und treffendere Formulierungen für eine Sache finden konnte, die sie schon ein Dutzend Mal erklärt hatte. »Es war wie eine fremde Stimme, vielleicht die Stimme deiner wirklichen Eltern...« 5
»Für mich seid ihr meine wirklichen Eltern«, sagte Ureschcopal im Brustton der Überzeugung. »Trotzdem verstehe ich nicht, wer zu euch gesprochen hat.« »Ich kann es dir auch nicht sagen«, ließ Esch'rt traurig verneh men. »Dein Vater und ich waren doch selbst völlig überrascht.« »Vielleicht hat sich jemand im Gebüsch versteckt«, hatte der Jun ge eine Eingebung. »Vielleicht wollte euch jemand veräppeln.« U reschcopal schien diese Möglichkeit zu gefallen und seine Mutter war drauf und dran ihm zuzustimmen und das leidige Thema endgültig vom Tisch zu fegen. Doch sie besann sich. Und dann war sie es, die den Funken der Eingebung verspürte. »Möglich auch«, sagte sie bedächtig und sah ihren Sohn durch dringend an, »dass es die Stimme Gottes war, die deinen Namen flüs terte.« Ureschcopal vergaß beinahe zu kauen. Sein Mund öffnete sich leicht und zeigte deutlich sein Erstaunen. Tatsächlich hatte er mit einer derartigen Eröffnung nicht gerechnet. Er löffelte anstandslos weiter seinen Eintopf und sagte kein einziges Wort mehr. In seinem Kopf reifte die Vorstellung, dass er etwas ganz Beson deres war... * Bolr'g zügelte sein Reittier aus vollem Galopp, dass es in den Vorder läufen einknickte. Er befand sich drei Bogenschusslängen vor der Hauptkampffront und knapp zwanzig Mannslängen von dem befestig ten Schützengraben entfernt. Hektisch riss er sein Helmvisier hoch und blinzelte in den Himmel. Die Luft waberte und ließ schwach die Kontur von etwas erkennen, das wie ein Felsbrocken auf ihn zu flog. An sich war das Objekt unsichtbar, doch die Reibungshitze der Luft ließ seine Ränder kaum merklich glimmen. Für Bolr'gs Augen reichte es aus und er konnte die Gefahr augenblicklich einschätzen. Wie vom Katapult geschnellt, meldete es sich in seinen Gedanken. Doch er wusste nur zu genau, dass die Fremden, seit sie das erste Mal vor einigen Tagen aufgetaucht waren, sich solcher Hilfsmittel nicht zu 6
bedienen brauchten. Sie selbst waren wie lebende Katapulte und ver schossen ihre Munition mit den Händen und mit ihrem... Geist? Völlig verrückt, kam Bolr'g zur Räson. Er klappte den Sichtschutz wieder herunter und erwartete den Aufschlag. Der Boden erzitterte und warf mehrere Wellen trockener Erde. Das Schapn'r, Bolr'gs Reittier, tänzelte zur Seite und fing die Erschütte rungen in den Sprunggelenken ab. Gleichzeitig schlug eine ganze Serie der unsichtbaren Geschosse beim Schanzwerk ein, durchbrach an ei ner Stelle die Befestigung und sprengte die Männer auseinander. Teufelswerk, dachte Bolr'g und gab dem Schapn'r die Sporen. Er wollte jetzt an vorderster Front den mutigen Zr'Can beistehen und die Angriffe koordinieren. Mit herkömmlichen Mitteln schien in dieser Aus einandersetzung keine Entscheidung erreichbar zu sein. Anfangs hatte es so ausgesehen, als wenn bloß ein paar Randalierer die Arbeiten an der Schleuse behindern wollten; daher hatte Bolr'g lediglich einige wenige Gepanzerte zur Verstärkung ausgeschickt. Nachträglich jedoch hatte sich herausgestellt, dass die Fremden nicht nur die Schleuse von der anderen Seite aus überwunden hatten, sondern dass es fast un möglich war, ihnen beizukommen. Schwerter und Lanzen wehrten sie spielerisch ab; im Zweikampf unterlagen die Zr'Can ohne Ausnahme. Die Waffen waren größer geworden, das Handgemenge hatte sich zur Schlacht ausgeweitet. Gegen eine Handvoll Angreifer, zerbiss Bolr'g einen Fluch. Ich ha
be den Eindruck, diese Fremdlinge spielen bloß mit uns. Wahrschein lich könnten sie die endgültige Entscheidung mit einem Fingerschnip pen herbeiführen. Ihre Überlegenheit haben sie eindrucksvoll de monstriert. Nun wollen sie uns demoralisieren. Aber wir können nicht klein beigeben. Wir müssen bis zum bitteren Ende durchholten.
Bolr'g preschte vor bis zur Stellung und glitt aus dem Sattel. Über die Grabenlinie blickte er den voranstürmenden Truppen entgegen, die unter dauerhaftem Bombardement standen und deren Reihen bereits deutliche Lücken aufwiesen. »Lagebericht!«, forderte Bolr'g und rüttelte einen Gepanzerten an der Schulter, den er an den eingravierten Abzeichen als den Rang höchsten vor Ort identifiziert hatte. Man musste schreien, um sich zu 7
verständigen. Überall donnerten Kommandos durch die Luft und es zischten komplette Pfeilbatterien von den Bögen und Armbrüsten. Die Eruptionen der Einschläge waren wie das Grollen einer wütenden Mee resbrandung, die Schreie der Verwundeten allgegenwärtig. »Ich muss mehr und mehr Zr'Can rausschicken, um die Fremden aufzuhalten!«, sagte Schk'tr, der Kommandierende, laut. Seine Miene erhellte sich, als Bolr'g das Visier öffnete. »Du bist's! Solltest du nicht besser daheim sein und auf meine Schwester aufpassen?« »Esch'rt kommt schon alleine klar«, erwiderte Bolr'g. »Wie es aus sieht, werden meine Talente hier nötiger gebraucht.« Er sah seinem Schwager eine Sekunde lang eindringlich ins Gesicht. Dass er ausge rechnet ihm als erstes über den Weg lief, konnte schon bald kein Zufall mehr sein. »Wie viele willst du noch in den sicheren Tod schicken?«, fragte Bolr'g. »Bei dieser Taktik wirst du irgendwann mutterseelenallein da stehen.« »Wenn wir sie nicht in Atem halten, werden sie uns überrennen!« »Die sind vielleicht ein Dutzend!« Bolr'g konnte es nicht fassen. »Geh über die Flanken! Kessel das Gesindel ein! Mach ihnen Feuer unterm Hintern, Schk'tr!« »Meinst du, ich wäre so verzweifelt, wenn ich das nicht längst ausprobiert hätte? Die lassen sich nicht umzingeln! Außerdem haben sie die Schleuse im Rücken; es ist unmöglich, sie einzukreisen!« Das Donnern ebbte für ein paar Sekunden ab. »Wir machen die Angriffstürme bereit«, entschied Bolr'g. »Wir de cken ihren Vorstoß mit den Bogenschützen und bringen die Katapulte in Stellung. Wir massieren unsere Kräfte und schlagen mit voller Wucht zu.« »Die Katapulte bringst du gar nicht nah genug an die Fremden heran!«, warf Schk'tr ein. Wieder ertönte das Grollen und Dröhnen naher und ferner Explo sionen, mischte sich mit schrillen und dumpfen Schreien. »Es gibt nur die Chance, ihre Aufmerksamkeit zu zerstreuen«, er klärte Bolr'g seine Vorgehensweise. »Wir greifen sie frontal und von 8
den Seiten an. Mit allem, was wir haben. Sind die Angriffstürme in Reichweite, beharken wir sie auch noch von oben. Damit werden wir ihre Verteidigung wirksam durchbrechen.« »Lass es uns probieren«, gab Schk'tr seinen Segen. »Und hoffen, dass du recht hast...« Bolr'g lauschte kurz dem Klang der Worte nach.
Ja, das hoffe ich auch...
* Die gewaltigen Muskeln spannten sich unter der Haut der Chektep'tr, als sie die Wehrtürme zu ziehen begannen. Zwanzig dieser Lasttiere, die einen Zr'Can um mehr als das Doppelte überragten, setzten sich in Marsch, reagierten instinktiv auf die Zisch- und Pfeiflaute des Schirr meisters, der die Gleichförmigkeit der Bewegungen koordinierte. Kam eines der Tiere aus dem Takt, liefen die nachfolgenden auf, stürzten schlimmstenfalls übereinander und gefährdeten damit nicht nur sich selbst, sondern auch das Transportgut. In diesem speziellen Fall moch te es dann sogar geschehen, dass der Turm durch die ruckartigen Be wegungen seinen Schwerpunkt verlagerte und umstürzte. Vier Angriffstürme rollten träge auf ihren stahlbeschlagenen Holz walzen dem Feind entgegen. Bolr'g und Schk'tr ritten voraus und diri gierten die Flankenvorstöße, scherten auf ihren Schapn'rs weit über die Seiten heraus und trafen sich alsdann wieder in der Mitte wenige Steinwürfe hinter der Vorhut. Ihre Gruppenführer waren instruiert, das Eintreffen der Wehrtürme abzuwarten und den Gegner bei der Schleu se in Gefechte zu verwickeln, um seine Aufmerksamkeit abzulenken. Von weiter hinten schossen einhundert Bogenschützen ihre Pfeile ab und noch weiter zurückliegend, hinter den Scharten der Türme ver schanzt, eröffneten die Armbrustschützen ihr tödliches Feuer, das an Präzision und Durchschlagskraft den einfachen Bogen weit überlegen war. Aus der Mitte des Angriffspulks ertönte das peitschende Sirren der Speerschleudern. Drei Dutzend von ihnen wurden unmittelbar hin tereinander abgefeuert. Mit enormer Geschwindigkeit katapultierten die Holzgestelle die schweren Speere über die Köpfe der Zr'Can hin 9
weg. Die unheimlichen Angreifer von jenseits der Schleuse sahen sich einem prasselnden Schrapnellregen ausgesetzt. Ihre Kräfte mussten derart gebündelt werden, dass sie einem weiteren Angriff aus der Luft - sollten die Wehrtürme schnell genug heran sein - nicht mehr begeg nen konnten. Bolr'g setzte einfach auf seine erdrückende Übermacht. Lange würden seine Männer diese Art der Kriegführung nicht durchhal ten. Die Zr'Can sowie auch der geheimnisvolle Feind kämpften mit harten Bandagen. Keiner schenkte dem anderen etwas, auch wenn Bolr'g einmal mehr den Eindruck hatte, die Fremden könnten nach eigenem Gutdünken das Blatt zu ihren Gunsten wenden. Alles Unsinn!, schmetterte er die Zweifel ab. Unser einziges Prob lem ist der fehlende Nachschub an Schuss- und Wurfmaterial. Die Steinkatapulte wurden mittlerweile nur noch sporadisch eingesetzt. Doch Bolr'g wollte alles auf eine Karte setzen und den Gegner mit al lem bepflastern, was seine Soldaten zu bieten hatten. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum. Wenigstens, bis die Wehrtürme herangerollt waren. Sie kommen nicht schnell genug vorwärts, erkannte Bolr'g. Er gab einem Kommandierenden das Zeichen, die Doppelreihe Bogenschützen vorzuziehen. Die Angriffe der Fremden konzentrierten sich momentan auf die unmittelbare Umgebung der Schleuse. Dort griffen die gepan zerten Zr'Can unablässig an, kamen aus ihrer Deckung hervor, schos sen ihre Pfeile und Steinschleudern ab oder warfen ihre Lanzen. Blitz schnell, so wie sie gekommen waren, zogen sie sich sodann wieder zurück. Trotzdem würden sie bei dem Versteckspiel den Kürzeren zie hen. Die Angreifer, scheinbar mit übernatürlichen Fähigkeiten ausges tattet, reagierten ohne Verzögerung und wen sie im Fokus hatten, der durfte sich glücklich schätzen, mit schwersten Verletzungen, aber im merhin lebend, entkommen zu sein.
Sie werden sie alle töten, wenn diese verdammten Türme nicht bald hier sind! Bolr'g beruhigte sein Schapn'r, das auf die Hinterläufe gestiegen war, als viel zu nahe der Erdboden an zwei Stellen aufge sprengt wurde und rauchende Krater hinterließ. »Katapultfeuer!«, schrie Bolr'g den hinteren Reihen entgegen und machte das entsprechende taktische Zeichen, falls er nicht gehört 10
werden sollte. Seinem Schwager bedeutete er mit hoch erhobener gepanzerter Faust ihm zur vordersten Kampffront zu folgen. Zehn bis fünfzehn Minuten noch mussten die Schleusengänger in Schach gehal ten werden. Dann würde das Unheil in Form von Hunderten Kriegern aus den Angriffstürmen über sie hereinbrechen. Dann waren die Tür me endlich in Nahkampfweite. Und genau dann würde der Tod aus allen nur erdenklichen Richtungen auf die winzige Schar Eindringlinge hernieder prasseln. Sollten sie diesen vernichtenden Ansturm tatsächlich überleben, war es andersherum um die Truppen der Zr'Can geschehen. Sie wür den keinen brauchbaren Widerstand mehr leisten können, wenn sie ihr Waffenarsenal verbraucht hatten. Mit solcherlei Voraussagen wollte sich Bolr'g jedoch nicht belasten. In seiner Brust pochte ein Kämpferherz. Es würde sein Blut geben für den Sieg! * Die Katapulte jagten ihre Ladung treffsicher ins Ziel. Bolr'g stieß einen Triumphschrei aus und sah zu Schk'tr hinüber, der auf gleicher Höhe neben ihm ritt. Das Donnern der Einschläge hallte weit über das Land und Bolr'g war versucht, sein Reittier zum Stehen zu bringen, um die Auswirkungen des fatalen Angriffs in Ruhe zu studieren. Der Rauch hatte sich noch nicht verzogen, der einen ungetrübten Blick auf den Verteidigungswall der Fremden ermöglicht hätte. Über Bolr'g und Schk'tr zischten Myriaden von Pfeilen auf der Flugbahn der Katapultge schosse hinweg. Mitten ins Herz des Feindes!, war Bolr'g siegessicher und spornte sein Schapn'r zu schnellerem Galopp an. Für einen Moment erschien es ihm beinahe übertrieben, die Wehrtürme noch in den Kampf zu schi cken. Warum wertvolle Ressourcen verschwenden? Ein Gegner, der am Boden lag, brauchte nicht mehr mit Wildheit bekämpft zu werden. Wie gesagt, dieser Gedanke kam ihm nur für einen Moment. Durch die Schlitze ihrer Helmvisiere sahen Bolr'g und Schk'tr wie in gespenstischer Zeitlupe die verwehenden Rauchschwaden, wo vor 11
Sekunden noch die vom Katapult los geschnellten Felsbrocken aufge schlagen waren. Den Männern versetzte es einen Stich in die Brust, während sie beide - als bestünden sie nur aus einem einzigen Hand lungskörper - ihre Schapn'rs herumrissen und dabei fast aus den Sät teln geschleudert wurden. »Es kann nicht sein!«, keuchte Bolr'g. Er schob das Helmvisier hoch. In den Scharnieren knirschte der Sand. »Denen ist nichts passiert«, sprach Schk'tr die erschreckende Be obachtung aus. Bolr'g kniff die Augen zusammen. »Sie stehen da wie eine Wand aus Leibern. Über ihnen liegt ein feines Flimmern.« »Ich sehe es auch.« Schk'tr schluckte hart. »Der Angriff hat einzig unsere eigenen Männer das Leben gekostet.« Es lag kein Vorwurf in der Stimme. Die Katapultgeschütze waren nun mal ein recht grobes Mittel der Vernichtung. Verluste in den eigenen Reihen waren die Re gel. »Unsere Angriffsspitze hat sich gelichtet«, stellte Bolr'g sachlich fest. »Wenn wir weiter an dem ursprünglichen Plan festhalten wollen, brauchen wir sofort Nachschub.« Bolr'g hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da gab Schk'tr den Befehl an einen Unterführer weiter, der über ein trompetenähnliches Instrument das Signal zum Nachrücken blies. »Los, Schk'tr! Weiter vor! Ich will diesen Ungetümen ins brechende Auge sehen, wenn ich ihnen mein Schwert zwischen die Rippen ramme!« Bolr'gs plötzlicher Enthusiasmus kam nicht von ungefähr. Er hatte genau beobachtet, dass zwei Züge im Begriff waren, von den Flanken aus anzugreifen. Die Konzentration des Feindes verlagerte sich von der Mitte des Schlachtfeldes weg und hin zur linken und rechten Seite. Jetzt sah es auch Schk'tr. Er stieß die Fersen in den Leib seines Reittiers und preschte los. * 12
Cro'rt war mit seinen Kriegern im weiten Bogen an die Schleuse he rangeschlichen. Vier Bogenschusslängen entfernt näherte sich der Zug von Nimra'rt. Gemeinsam wollten sie den unbesiegbar scheinenden Feind, der lediglich aus zwei Handvoll seltsam gekleideter Gestalten bestand, in die Zange nehmen. Exakt zu dem Zeitpunkt, da das Sperr feuer von der Mitte aus am stärksten war. Auch Cro'rt hatte den Abschuss der Katapulte beobachtet und sich schon dem Siege nahe gewähnt. Bis er dieselbe Beobachtung wie Bolr'g gemacht hatte. »Irgendetwas umgibt die Eindringlinge«, raunte er den Soldaten zu. »Ein unsichtbarer Schild.« Sie alle sahen es, doch begreifen konnte es nicht einer. »Da reiten zwei Kommandeure heran. Vermutlich Bolr'g und Schk'tr!«, rief jemand aus den eigenen Reihen. Hochrangige Anführer waren von weitem deutlich an ihren goldfarbenen Rüstungen auszu machen; die gemeinen Krieger trugen Silber und Grau. »Geht sofort in Deckung!«, schrie Cro'rt plötzlich, als der Himmel sich im Gewimmel der heranzischenden Pfeile verdunkeln wollte. Da Cro'rts und Nimra'rts Männer sich am nächsten beim Feind befanden, gerieten sie ganz automatisch in die Schusslinie. Den meisten gelang es, Deckung hinter ein paar Felsen zu finden. Einige wenige wurden getroffen oder zumindest gestreift; tödlich ver wundet wurde niemand. Der letzte Pfeil hatte noch nicht den Boden erreicht, da erkannte Cro'rt bereits die bevorstehenden Konsequenzen. Der Angriff aus der Mitte geriet ins Stocken. Lediglich Bolr'g und Schk'tr waren aktiv, ras ten in wildem Galopp auf die feindliche Stellung zu. »Sofort angreifen!«, brüllte Cro'rt. Er erwartete kein Deckungsfeu er mehr aus der Hintermannschaft. Wenn er jetzt nicht alle Männer mobilisierte, würde der Gegner sie unbarmherzig fertig machen, bevor sie noch einen Fuß vor den anderen gesetzt hatten. »Greift an und zeigt es den Bastarden!« Cro'rt selbst rannte vorneweg. Auf der gegenüber liegenden Seite taten Nimra'rt und dessen Zug es ihm gleich. Allerdings war das Über raschungsmoment nicht mehr zu Hundert Prozent auf ihrer Seite. Einer 13
der Unheimlichen war schon aufmerksam geworden und schrieb eigen tümliche Zeichen in die Luft. Dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte, wusste Cro'rt aus den zurückliegenden Kämpfen. Seine Ahnung bestätigte sich einen Lidschlag später. Von einer unsichtbaren Titanenfaust getroffen spritzte die Vorhut auseinander, flogen die gepanzerten Krieger wie Stoffpuppen umher, um mit hässlichem Knacken und Splittern auf den Boden oder gegen den Fels zu knallen. Cro'rt rannte weiter und seine Entschlossenheit riss seine Gefolgs leute mit. Uns alle auf einmal können sie nicht bekämpfen!, redete er sich zu, hob seine Lanze, holte weit aus und schleuderte sie kraftvoll von sich. Genauso wie er sah, dass die Waffe vor ihrem eigentlichen Ziel an irgendetwas abprallte, bemerkte er auch, dass die Katapulte - klein und harmlos in der Ferne wirkend - nachgeladen worden waren und bereit zum nächsten Abschuss waren. Die Wesen von jenseits der Schleuse schienen es ebenfalls wahrzunehmen und richteten ihre Auf merksamkeit wieder vornehmlich auf die Mitte des Schlachtfelds. Keinen Augenblick zu früh, sagte sich Cro'rt. Ihm war nicht ent gangen, dass die Mehrheit der Eindringlinge sich den Flanken zuge wandt hatte; mit ihren machtvollen Gesten und ihrer bösen Zauberei hätten sie die angreifenden Züge mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Nun aber bot sich die Chance einer wirkungsvollen Attacke. Cro'rt hoff te nur, dass das Katapultfeuer diesmal gezielter erfolgte und nicht nur seine Männer in den Tod schickte. Annähernd dreißig Mannslängen trennten sie noch von dem Ver teidigungswall der mysteriösen Schleusengänger. Das entfernte Rau schen in der Luft, das sich mit jedem Herzschlag verstärkte, kündigte die heran fliegenden Gesteinsbrocken an, die von den Hebelarmen der Katapulte geschnellt waren. Cro'rt zog sein Schwert blank. Hinter ihm schleuderten die Krieger dem Feind ihre Speere entgegen, ohne allerdings etwas auszurichten. Zumindest aber lenkten sie die Aufmerksamkeit der Fremden ab, zer streuten ihre Kräfte. Nimra'rt von der rechten Flanke war der perfekte 14
Partner für solcherlei Aktionen. Er schien immer schon zu ahnen, was Cro'rt vorhatte und reagierte entsprechend. Das Rauschen schwoll bedrohlich an. Augen zu und durch!, spornte Cro'rt sich selbst an. Durch die Helmschlitze sah er die Wehrtürme heranrollen; sie hatten ein gutes Stück der Strecke bereits zurückgelegt. In Kürze würden sie einsatzbe reit sein. Dann explodierte die Welt! Cro'rt konnte sich nicht erinnern, jemals derart nah an der Auf schlagstelle der Katapultgeschosse gewesen zu sein. Und er hatte schon einiges erlebt. Damals. An der Front der Aufständischen im Nordwest-Territorium. Oder bei der Kesselschlacht im Wilden Land... Der Luftdruck, den die einschlagenden Felsen verursachten, raub te Cro'rt den Atem. Sand und feinste Partikel zerpulverten Gesteins breiteten sich orkanartig aus. Die Sicht war gleich null. Cro'rt hörte die gequälten Schrei und das Geräusch, mit dem Leiber zerschmettert wurden. Er selbst war verschont geblieben. Fest hielt er den Griff seines Schwertes umfasst, bereit, beim ersten Anzeichen halbwegs freien Blickes den Angriff fortzusetzen. Er drehte sich um, sah die blutige Bresche, die der Felsblock in die Reihen der Gerüsteten geschlagen hatte, zerbiss den aufkeimenden Hass auf die Fremdlinge, denen er naturgemäß die Schuld an dem Massaker gab, zwischen den Zähnen und gab das Kommando zur Neu formation. Auf der anderen Seite würde Nimra'rt es ihm gleichtun. Sie waren verwandte Seelen. In Situationen wie diesen wusste Cro'rt, dass er für den Krieg geboren war. Alles andere war nicht seine Sache. Ein Leben als Handwerker oder Bauer - undenkbar! Täuschte er sich oder hatte er gerade ein Flackern an dem un sichtbaren Schutzschild gesehen, der die Fremden umschloss? Zeigte das Bombardement der Katapultgeschütze nun doch langsam Wir kung? Verwunderlich war es nicht. Irgendwann brach auch die stärkste Verteidigung zusammen. Es lag immer an der Hartnäckigkeit der An greifer. 15
Schon stürmten die Züge unter Cro'rt und Nimra'rt erneut vor, schwangen Schwerter und Keulen, verwandelten sich in reißende Bes tien, die den Gegner - waren sie einmal seiner habhaft geworden regelrecht zerfetzen würden. Sie übersprangen johlend die Trümmer der Gesteinsbrocken und legten ihre ganze Entschlossenheit, ihre Kraft und ihre Wut in diesen - womöglich letzten - Vorstoß. Und dann - von einer Sekunde auf die andere, so schnell, dass al lein die schlussfolgernde Erkenntnis ein Vielfaches dieser Zeit benötig te - fiel der Plan der Zr'Can wie wurmzerfressenes Holz in sich zusam men! * Ein Ruf in einer Sprache, die die gepanzerten Zr'Can nicht verstanden, hallte laut hörbar über die Ebene. Die Fremden hatten ihn im Chor ausgestoßen und er wirkte wie ein Befreiungsschlag. Eiskalt fuhr es Cro'rt durch die Glieder. Er stockte und dieses Mal war es seine Unent schlossenheit, die sich auf seine Krieger übertrug und den gesamten Zug zum Stillstand brachte. Die Eindringlinge unter ihrem dreimal verfluchten Schild begannen wieder mit ihren eigentümlichen Gesten, die Zeichen oder Figuren in die leere Luft zeichneten. Wir müssen eingreifen!, hörte Cro'rt die Stimme in seinem Innern.
Sonst ist es ein für allemal zu spät!
Es war bereits zu spät. Ein heißer Windzug stach aus dem unsichtbaren Schild hervor, ließ die Luft auf seiner Bahn förmlich brennen und verschwand glühend flimmernd in Richtung der... Wehrtürme!, schrieen Cro'rts Gedanken. Sie greifen die Wehrtür
me an!
Staub wirbelte hoch. Details konnte Cro'rt nicht erkennen. Er stand im Bann des Geschehens und die Furcht vor dem Versagen machte seine Kehle trocken und rau. Leises Splittern drang an seine, Ohren, dazu das schräge Quietschen unter höchster Belastung stehen den Materials. 16
Oh Gott! Nein!
Ungläubig riss Cro'rt sein Visier auf, starrte hinüber zu dem Turm, der bedenklich ins Wanken geriet, sich langsam immer mehr zur Seite neigte und schließlich auf die aus dem Trott geratenen Chektep'tr stürzte. Gleiches widerfuhr dem Angriffsturm, der sich auf Nimra'rts Seite heran schob. Was immer die Fremdlinge auch an Magie ent fesselt hatten, es hatte ausgereicht, die tonnenschweren Walzen, auf denen die Türme sich bewegten, zu zerbrechen. Doch damit war das Werk der Unheimlichen noch nicht vollendet. Cro'rt musste fassungslos und vor allem untätig mit ansehen, wie die Katapulte unter einem neuerlichen Angriff wie Spielzeug zerplatz ten. Damit waren die mächtigsten Waffen der Zr'Can ausgeschaltet. Damit waren sie praktisch nur noch auf ihre Körperkraft begrenzt und dass diese kaum etwas auszurichten vermochte, das hatten sie mehr fach schmerzlich erfahren müssen. Das erhitzte Blut der Krieger kühlte sich merklich ab, ebenso ihr Mut. Cro'rt ließ das Schwert sinken. Schließlich rammte er es vor sich in den Boden und trat einen Schritt zurück, um seine Aufgabe zu sig nalisieren. Keine halbe Minute darauf waren Bolr'g und Schk'tr heran, glitten aus den Sätteln ihrer Schapn'r und bauten sich vor dem Wall der Eindringlinge auf. Die beiden Heerführer wussten, was die Stunde geschlagen hatte und sahen keinen Sinn mehr darin, weitere Männer in den sicheren Untergang zu schicken. Bolr'g nickte Cro'rt verstehend zu und akzeptierte damit die Ein stellung der Kampfhandlungen. Das Flimmern des unerklärlichen Schutzschildes über den Frem den verschwand. Als Bolr'g seinen Helm abnahm, trat eine hagere Gestalt aus der Mitte hervor und ging vollkommen unbefangen auf die zwei Gerüsteten zu. »Mein Name ist Morias Del'Vander. Dies« - er deutete mit weit ausholender Geste auf die Männer und Frauen in seinem Rücken »sind die Hetto-Ka'Zam-Inayn. Wir nehmen eure Kapitulation an. Hört nun unsere Bedingungen. Denn wir sind Suchende und benötigen eure Hilfe.« 17
*
Seit Stunden schon saß ich im Ledersessel meines Vaters und brütete im gedämpften Licht der Bibliothek vor mich hin. Mir war so viel durch den Kopf gegangen, dass ich das meiste, worüber ich mir Gedanken gemacht hatte, schon wieder vergessen hatte. Einige Dinge aber wa ren wie hartnäckiger Schmutz in den Ecken und Ritzen meines Vers tandes zurückgeblieben. Nicht unbedingt Dinge, die mir Sorgenfalten auf die Stirn trieben; diese Angewohnheit hatte sich eigenständig von mir abgenabelt. Es handelte sich eher um Begebenheiten, die ich tag täglich um mich herum wusste, die ich routinemäßig verarbeitete, oh ne sie zu hinterfragen. Wenn ich den glasigen Blick abstreifte, mit dem ich dösend und beinahe der Wirklichkeit entstiegen da hockte, dann zeigte sich meine Umgebung zwar mit großer Schärfe, doch das, was ich sah und was es eigentlich darstellte zerfloss in meinem Geist er neut zu milchiger Trübung; der Fokus meiner Augen ruhte auf einer Realität, die mir ihre erfahrbare und nicht anzuzweifelnde Wirklichkeit nur vorgaukelte. Spürte ich die lederbezogene Lehne des Sessels in meiner Hand, so hätte das Material alles mögliche sein können, was kein Leder war. Die Sinne, mit denen ich das, was mich umgab, auf nahm und als Information an das Gehirn leitete, gründeten ihre Funk tionsfähigkeit ganz alleine auf meiner Erfahrungswelt. Was ich nicht kannte, konnte ich nicht begreifen. Was ich nicht begriff, vermochte ich nicht zu sehen. Also nur daher, weil das, was ich berührte, meinem Wissens- und Erlebensstand von Leder entsprach, hielt ich es für nichts anderes. Konnte es für nichts anderes halten. Zog ich weitere Personen hinzu, würden sie mir bestätigen, dass das, worauf ich saß, tatsächlich Leder war. Was aber geschah, wenn urplötzlich jemand erschien und behauptete, einen Stoffbezug wahrzunehmen? Dieser Je mand würde es nicht aus einer Laune heraus sagen, sondern deshalb, weil er von dieser Annahme vollständig überzeugt war. Seine Sinne vermittelten ihm den Eindruck, einen Stoff zu berühren... Wer hatte denn nun Recht? Betrachtete ich die Sachlage genauer, dann entsprang der Begriff dessen, was als Realität bezeichnet wurde, immer einer Mehrheit von 18
Ansichten. Daraus konnte ich logischerweise folgern, dass es keine allgemeingültige Realität gab. Realität hatte sich dem Menschen stets in dem geäußert, was er letztendlich wahrnehmen wollte, nicht, was er wahrnehmen konnte. Mir waren in der Vergangenheit Vorfälle untergekommen, die mei nen Realitätsbegriff immens erweitert hatten, doch war ich keinesfalls so vermessen anzunehmen, jetzt in der Lage zu sein, hinter die Mau ern der Wirklichkeit zu blicken. Sie waren noch genauso undurchsichtig wie zu meiner Studentenzeit. Ab und zu gelang es mir lediglich, einen Blick darüber auf die Welt dahinter zu werfen. Das Wissen um die Unwirklichkeit der Wirklichkeit sah ich nicht als Problem. Schon gar nicht als meines; ich hatte die Fakten akzeptiert. Unangenehm berührt wurde ich trotzdem, wenn ich mich in der Bibliothek umsah. Es sah alles echt aus, so, wie ich es aus der Renaissance-Villa meiner Eltern im Londoner Vorort Kensington kannte. Das Leder des Sessels knirschte bei jeder meiner Bewegungen. Ich konnte es deutlich vernehmen, ohne mich darauf konzentrieren zu müssen. Ich betrach tete die Bücher in den Regalen und atmete den Duft der alten Schwar ten genießerisch ein. Echt. Alles so echt. Ich hätte in ein Buch versin ken können und wäre der Annahme gewesen, gleich die Stimme mei ner Mutter zu hören, die mich zum Dinner rief. Und mein Vater - mein leidgeprüfter, seelengequälter Vater - wäre zu mir hereingekommen, hätte mich in den Arm genommen und wir wären gemeinsam, munter plaudernd, in den Livingroom gegangen. Die Illusion wurde zur Wahrheit und entlarvte dabei gleichzeitig ih re Herkunft. Nichts um mich herum war echt. Es sah so aus, doch es war nur ein Trugbild, geschaffen von den Priestern, um mir meinen Aufenthalt auf Col'Shan-duur, der dunklen Zitadelle, erträglicher und - vielleicht sogar angenehm zu gestalten. Wie die Priester es angestellt hatten, praktisch aus dem Nichts heraus dieses Gebäude zu erschaffen, mit allem, was es damals darin gegeben hatte, entzog sich meiner Kenntnis und war bis heute nicht beantwortet worden. Jedes Detail hatten die Dreibeine, wie ich die 19
Angehörigen des Priestervolks gerne nannte, rekonstruiert. Es gab al les, was es auch in der echten Jordan-Villa gegeben hatte. Selbst Krat zer im Holz, Farbunterschiede und winzigste Unebenheiten hatten ih ren Weg in diesen Gebäude-Klon gefunden. Das Modell war exakt nach meinem Gedächtnisspeicher erbaut worden, was meiner - nachträglich bestätigten - Vermutung Rechnung trug, dass der Mensch für gewöhn lich wesentlich mehr an Sinneseindrücken aufnahm, als später über das Gehirn reflektiert wurden. Ravenmoor hatte diese Angaben prä zisiert: Von den mehr als vier Milliarden Informationen, die wir sekünd lich aufnehmen, verarbeitet das Gehirn gerade einmal zweitausend. Wer derart mit Blindheit geschlagen war, der konnte kein umfassendes Bild der Realität besitzen... Diese Erkenntnisse verblassten meines Erachtens vor einer Bege benheit, die nicht allzu lange zurücklag und mich wie kaum eine Sache vorher nachhaltig beeinflusste. Ich hatte einen Höllenjäger aus der, sagen wir mal, Gründerzeit des Ordens kennen gelernt. Die Umstände, die mich mit Anto-Dschagerass zusammengeführt hatten, prä sentierten sich mir immer noch von einer recht bizarren Seite her. Sei ne Geschichte hingegen hatte mich berührt und sein anschließendes, eher unfreiwilliges Scheiden hatte trotz unserer anfänglichen Differen zen einen schalen Beigeschmack hinterlassen. Mehr noch hatten sich einige Details seiner Geschichte bei mir eingeprägt, die meine innere Unruhe weiter geschürt hatten. Tief im Innersten befand ich mich in einer unerfindlichen Aufbruchstimmung. Ich wollte hinaus in die Weiten der Unendlichkeit und dem Universum selbst seine letzten Rätsel und Geheimnisse entreißen. Möglich, dass mein Körper eine Zigeunerseele beheimatete, möglich aber auch, dass aufgrund der paranormalen Geschehnisse, die in geballter Form auf mich eingestürmt waren, eine Blockade niedergerissen worden war, die es mir früher nicht ermöglicht hatte, meinen ureigenen Instinkten zu folgen. Dieses Hindernis war ausgeräumt. Die Priester selbst gestalteten sich als das nächst größere, indem sie mir den Blick auf die große wei te Welt gestatteten, aber im gleichen Atemzug verboten, hinauszuge hen. Bei ihnen lief alles nach Plan ab. Die Bruchstücke meines trans 20
genetischen Codes - darüber nachzudenken hätte mich in die dunkle Isolation eines gebrochenen Geistes geführt - wurden wie vorsortierte Teile eines durchnummerierten Puzzles eingesammelt. Eines lag zum Greifen nahe vor mir in meiner Heimat, auf der Erde. Doch wohin schickten sie mich? Dreißig Millionen Lichtjahre weit weg, um irgendwo ein anderes Fragment zu sichern, das sonst in den mahlenden Schlund einer sterbenden Sonne gezogen worden wäre. Dann hörte ich von einer raumfahrenden Rasse, die sich Hova nannte und erfuhr gleich darauf, dass ihr mentales Oberhaupt Jehova hieß. Jetzt noch spürte ich die heiße Woge, die meinen Körper erschau ern ließ. Ravenmoor hatte mich mit dieser Eröffnung vollkommen über rascht, so sehr, dass ich zum Zeitpunkt unseres Zusammenseins keine vernünftige Frage das Thema betreffend hatte stellen können. Als er lange gegangen war, da erst erkannte ich die volle Tragweite seiner süffisant vorgebrachten Äußerung und noch im selben Moment spulten sich bruchstückhafte Passagen aus dem Alten Testament der Bibel in meinen Gedanken ab. Natürlich hatte ich in der Bibliothek genug Mög lichkeiten, meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Es hatte auch nicht lange gedauert, bis ich fündig geworden war. Der Name Jehova war entstanden aus dem hebräischen Jahwe, dem Namen für Gott. Die Vokalisation sowie die nachträgliche lateini sche Umschrift machten aus JHWH Jehova. Verglich man alttestamen tarische Texte mit jenen des Neuen Testaments, so musste man zwangsläufig zu der Ansicht gelangen, auch von zwei sehr unter schiedlichen Gottheiten Zeugnis zu erhalten. So zeigte sich Jehova als ›zorniger Gewittergott‹, wohingegen Jesus Christus von seinem selbst los liebenden Vater berichtete. Was von den Bibeltexten zu halten war, stand auf einem ganz an deren Blatt. Und dass das Oberhaupt der Hova - Jehova - nicht Gott höchstpersönlich war, war ebenso sicher wie das sprichwörtliche ›A men‹ in der Kirche. Dass allerdings dieser Jehova großen Einfluss auf die Geschicke der Menschheit ausgeübt hatte, stand unbestreitbar fest. Verständlich eigentlich, dass sein Name in die religiöse Geschichts 21
schreibung eingeflossen und dramaturgisch aufgewertet worden war. Der Jehova des Alten Testaments war meiner Auffassung nach hun dertprozentig identisch mit demjenigen aus Anto-Dschagerass' Erzäh lung. Die Menschen hatten ihm göttliche Eigenschaften angedichtet und einige menschliche beigefügt. So wurden Mythen gemacht. Es war ganz gleich, ob sie von Homer oder Moses handelten, von nordischen Göttern, dem fliegenden Holländer oder dem Garten Eden. In ihrem Kern beschrieben sie immer dasselbe: den Menschen... Ich griff nach dem Whiskyglas auf dem Beistelltischchen und nahm einen kräftigen Schluck. Versonnen betrachtete ich die bern steinfarbene Flüssigkeit, von der mir sämtliche Sinne sagten, dass es Whisky war und der doch nur in meiner selbst geschaffenen Wahr nehmungssphäre als das existierte, was ich darin sehen wollte. Ebenso verhielt es sich mit den Speisen, die die Priester auf meinen per sönlichen Wunsch hin generierten. Ich brauchte sie nicht zum Überle ben, das hatte ich so weit begriffen. Mein Körper nahm sich alles an Energie aus der Luft. Mit dem Übergang von der Erde nach Col'Shan duur hatte von mir unbemerkt eine Konditionierung stattgefunden, die sämtliche Nahrungsaufnahme überflüssig machte. Bereits an meinem ersten Tag auf der dunklen Zitadelle hatte ich diesen Zustand stau nend zur Kenntnis genommen. Trotzdem weigerte sich etwas in mir, ihn zu akzeptieren und beharrte weiterhin auf der konventionellen Speisen- und Getränkezufuhr. Nicht immer machte ich von dieser Mög lichkeit Gebrauch, da auch stets ein Priester anwesend sein musste, um dieses Wunder zu bewerkstelligen und ich gerne mal für mich al leine war. Um nachzudenken. Um meine Seele baumeln zu lassen. Um Augenblicke wie diesen zu genießen, in denen der Alkohol meine Kehle hinab rann und ein intensives Gefühl von Wärme schuf. Eine Wärme, von der ich mir selber einredete, dass sie auch Geborgenheit vermittel te, auch wenn ich mir genauestens darüber im Klaren war, einem billi gen Betrug aufzusitzen. Vielleicht vermisste ich die Anwesenheit von Menschen, von wirklichen Menschen. Auf Col'Shan-duur hatte ich noch keine getroffen. Die Zitadelle schien mir öde und verlassen und war gerade mal von gut zwanzig Priestern bevölkert, die allerdings äu ßerlich eher den Eindruck von Tintenfischen machten, als dass sie 22
Menschen glichen. Gleiches galt für meinen Mentor Philip Ravenmoor. Er hatte während der Ausbreitung der Zysstho-Pest auf der Erde sei nen Körper verloren und erst hier auf Col'Shan-duur Unterschlupf im Körper eines Priesterkindes gefunden. Ich hatte so meine Schwie rigkeiten, in der eins zwanzig großen Gestalt den Philip von früher zu sehen, der Herr jeder Lage gewesen war und mich mit seinem Höllen jäger-Status richtiggehend hatte beeindrucken können. Gemeinsam mit ihm hatte ich erstmals eine fremde Dimension bereist, war durch die Siegelkammer im Hause meiner Eltern zeitlich und räumlich ver setzt worden und hätte wohl aus eigener Kraft niemals den Weg zu rück gefunden. Ravenmoor hatte mich da rausgeholt und mich über einige grundlegende Dinge unsere Welt und ihre Sichtweise betreffend aufgeklärt. Das alles lag bereits eine Ewigkeit zurück. Gute zehn Jahre waren seitdem vergangen, zehn Jahre, von denen ich die meiste Zeit im Koma gelegen hatte. Anscheinend war es von größter Wichtigkeit, dass ich meine künftigen Aufgaben in genau diesem meinem Körper erfüllte, sonst hätten die Priester wohl kaum so viel Zeit und Energie darauf verwendet, ihn zu regenerieren. Es musste tatsächlich mit dem transgenetischen Code zu tun haben, den nur ich einsammeln konnte und der - war er denn einmal vollständig - nur von mir aktiviert wer den konnte, um daraus den sagenhaften T'ott'amh-anuq zu schaffen. Die erste Aktivierung war vor exakt zehn Jahren von den negativen Kräften verhindert worden. Sie hatten sich der Französin Dominique Beaumont bedient, für die ich von Anfang an eine unerklärliche Zu neigung empfunden und die sich dann als mein genetisches Gegen stück entpuppt hatte. Sie sollte im Handstreich den T'ott'amh-anuq vernichten und damit den Herrschaftsbereich der Finstermächte si chern. Es war nicht alles nach Plan verlaufen, weder für die eine noch für die andere Seite. Jetzt war jedoch die Zeit angebrochen, aufs Neue aktiv zu werden. Ein Fragment des transgenetischen Codes hatte ich bereits in mir aufgenommen. Weitere würden folgen. Wie viele es ins gesamt waren, wussten wahrscheinlich nicht einmal die Priester. Ihnen oblag es an erster Stelle, sie ausfindig zu machen. 23
Entspannt lehnte ich mich zurück, schwenkte den Whisky im Glas und stellte es auf den kleinen Tisch zurück... ... und sofort wurde ein Erinnerungsschnipsel übermächtig in mir! Ich hatte meinem Vater damals in der Bibliothek aufgelauert, hat te mich eigentlich mit ihm aussprechen wollen und es dann doch nicht getan. Mein Interesse hatte sich plötzlich auf diesen Mineralstein ge richtet, der eine graugrüne Färbung gehabt und haargenau auf diesem Beistelltischchen gelegen hatte. Aus der Distanz betrachtet wusste ich jetzt, dass dieser Kristall für das Leid verantwortlich war, das über meine Familie gekommen war. Er hatte von Anfang an unter dem Ein fluss Amalnacrons gestanden, mich manipuliert und zu einem Werk zeug des Bösen gemacht. Aus der Geschichte Anto-Dschagerass' nun wusste ich um die Herkunft des Kristallsteins, wusste, dass jene ge heimnisvollen Schächte auf dem Sarisarinama-Plateau von Anfang an fest in der Hand der Finstermächte gewesen waren und der Begründer des Höllenjäger-Ordens, Saghai-Tan, vermutlich mit aller Kraft diesen Ort für sich vereinnahmen wollte und letztlich doch gescheitert war. Was aber war aus dem Kristallstein in der Bibliothek geworden? Er war nicht Teil der Projektion der Renaissance-Villa auf Col'Shan-duur. Und immer, wenn ich über seinen Verbleib nachdachte, dann schweifte ich ab oder wurde abgelenkt... Richard!, hallte es dumpf in meinem Kopf. Ich würde gerne mit dir
sprechen, wenn du Zeit hast.
Das war Philip. Unverkennbar. Auch wenn er sich lediglich mental angemeldet hatte, erkannte ich ihn doch an der Färbung seines Men talmusters. »Was gibt's denn, Partner?«, fragte ich, nicht sonderlich erbaut über die Störung und benutzte gewohnheitsmäßig meine Stimme, auch wenn Philip sie nicht hören konnte. Früher noch wäre ich höchst aufgeregt gewesen, wenn der Höllenjäger mir ein solches Angebot gemacht hätte, doch seit meiner Versetzung nach Col'Shan-duur und Ravenmoors unfreiwilligem Körperwechsel hatte sich vieles verändert. Am meisten wurmte mich wahrscheinlich, dass der Freund meines Va ters und mein ehemaliger Mentor im unförmigen Körper eines Priester kindes hauste und allein von Aussehen und Größe nicht mehr meinen 24
Idealvorstellungen eines Kämpfers gegen die Dunkelmächte entsprach. Genau das war der Grund, warum ich Philip eher aus dem Wege ging, denn seine Nähe aufsuchte; ein niederträchtiges Verhalten meinerseits und gleichfalls doch wohl der Kern meiner Natur. Ihn zu überwinden hätte intensive, regelmäßige Meditation erfordert, eine Sache also, die ich nur zu gerne vernachlässigte, um lieber schweren Gedanken nach zuhängen.
Vielleicht kommst du doch besser zur Siedlung herüber, lenkte Ra
venmoor plötzlich ein und ich war mir nicht unbedingt sicher, aus wel chem Grund er seine Meinung, mich aufsuchen zu wollen, geändert hatte. Ich traute ihm durchaus zu, meine Gedanken aufgeschnappt zu haben und konnte natürlich nachvollziehen, dass ihm die Lust auf eine Unterredung vergangen war. Wenn meine Annahme denn stimmte. Im Endeffekt aber war es mir recht gleichgültig. Philip war kein Mensch mehr. Er war gar nichts mehr, zu dem man hätte aufschauen können. Und möglicherweise brauchte ich in meiner einzigartigen Situation ge rade so eine Person.
Wenn du bloß Smalltalk halten willst, dann schlage ich eine Verta gung vor, schickte ich einen konzentrierten Gedankenstrahl ab. Ich bin im Moment ziemlich beschäftigt. Oh, machte Philip verlegen und erst seine nachfolgenden Worte ließen erkennen, dass er mich damit lediglich aufziehen wollte, dann interessiert es den Herrn sicher nicht, dass wir mit unvorhergesehenen Problemen zu kämpfen haben und unsere weitere Vorgehensweise beratschlagen müssen. Sicher ist dir - neben meiner Gesellschaft auch die Bitte des Ältesten völlig egal, der auf deiner Anwesenheit im Rat größten Wert legt. »Was gibt es denn jetzt schon wieder so fürchterlich Wichtiges?«, sagte ich ein wenig pikiert; Ravenmoor hatte wohl doch mehr von meinen intimsten Ansichten mitbekommen, als ich vermutet hatte. Und - das musste ich zähneknirschend zugeben - so ganz gleichgültig war mir das nun doch nicht.
Es gibt Ärger auf der Zitadelle. Auf irgendeinem Deck. Genaues weiß ich selbst nicht. 25
Auf irgendeinem Deck, wiederholte ich stumm nur für mich. Ich
wusste zwar, dass Col'Shan-duur eine Art Raumschiff war, doch nähe re Details waren mir bisher verborgen geblieben. Sie hatten mich auch nicht sonderlich neugierig gemacht, sonst hätte ich mich nach ihnen erkundigt. Irgendetwas sagte mir, dass ich diese Wissenslücken in naher Zukunft auffüllen würde. »Alles klar, Philip«, sprach ich meine Überlegungen wiederum laut aus. Ravenmoor/Sha'am-O würde sie auf jeden Fall verstehen, da je des gesprochene Wort einen mentalen Ursprung hatte. »Ich komme sofort.«
Ich sage dem Ältesten Bescheid. Ich wollte noch etwas hinzufügen und druckste ein wenig herum. »Und, hm, Philip? Falls du eben etwas mitbekommen hast, was nicht für dich bestimmt war, dann tut mir das Leid...« Ich erwartete eine Reaktion wie ›Schon gut‹ oder schlimmstenfalls ›Wir sollten uns eine Weile aus dem Weg gehen‹. All dies hätte ich spielend verkraften können. Doch der Mann im Leib eines Kindes machte das, was mich am schmerzlichsten traf. Er sagte nichts. * Es war nicht sonderlich weit von der Nachbildung der Jordan-Villa zum Versammlungsort der Priester. In der Luft flimmerte das mehrlagige Energiegitter, das sich um die gesamte Siedlung, die aus zwölf Wohn höhlungen bestand, spannte. Noch mehr als hundert Meter trennten mich von der gelben Grube, in der der Rat sich zusammenfand und ich spürte bereits auf diese Entfernung die wohlwollenden Impulse des Ältesten. Der Kuppelschirm öffnete sich und ließ mich eintreten. Die halbkugelförmige Senke schien mir heute verteufelt abschüssig, ob wohl ich schon bei mehreren Beratschlagungen des Priestervölkchens dabei war und die örtlichen Gegebenheiten hinlänglich kannte. Ei genartig, sagte ich zu mir selbst, wie der Blick für die Realität hin und her schwankte. 26
Deine Realität, Richard, wehte es mir sanft entgegen, ohne dass ich den Sprecher identifizieren konnte. Es ist deine momentane Be trachtung der Dinge. Sie unterscheidet sich in vielen Details von der Betrachtungsweise jedes Einzelnen von uns. Und schon morgen wird sie sich auch für dich wieder verändert haben. Dann sollten wir ihr keine zu große Aufmerksamkeit schenken, er widerte ich freimütig. Und zum Anlass unserer beschaulichen Zusam menkunft kommen. Erneut spricht die Ungeduld aus dir. Irrte ich mich oder schwang eine seltsame Unsicherheit in der geistigen Stimme mit? Eine Unsicherheit in der Form, als würde das Verhalten des Sprechers in direktem Widerspruch zu dem Gesagten stehen. Als wäre der Vorwurf mir gegenüber lediglich ein Übertünchen der eigenen Ungeduld. Sicher hatten sich meine Sinne geschärft; mei ne Wahrnehmung war wesentlich differenzierter geworden, seit ich fester Bestandteil der Col'Shan-duur-Mannschaft geworden war. Tat sächlich lag die allgemeine Unruhe als hauchfein vibrierende Schwin gung auf meinen Nervenenden. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich mich nicht als Individuum sehen durfte, das losgelöst von allem anderen existierte. Schließlich war alles eins und man musste sich als lebendiges Glied der Schöpfung sehen. Nur dann war ein Le ben im Einklang mit der Natur und all jenem, was sie hervorgebracht hatte, möglich. Deine Gedanken sind gut, erkannte ich nun den Ältesten. Nur ha
pert es noch an ihrer Umsetzung. Aber du wirst lernen, wenn die Zeit es erlaubt...
Da kam sie erneut zum Vorschein, diese Unsicherheit, diese mit wenig Überzeugungskraft vorgetragene Aussage. Hatte es mit der Zeit zu tun? Gab es an diesem Ort, der scheinbar zeitlos war, zu wenig davon? Waren deshalb die Priester ungeduldig und leugneten diesen Umstand, indem sie ihn mir vorwarfen? Ein verächtliches, kurzes Lachen in meinem Verstand. Ich wandte den Kopf zur Seite und sah das Priesterkind zwischen den dreibeinigen Kolossen stehen. Natürlich war es Ravenmoor, der mir auf diese Weise eine Retourkutsche für meine unschönen - wenn auch nicht laut aus 27
gesprochenen - Bemerkungen verpasste. Ich konnte mich des Ein drucks nicht verschließen, den Bogen diesmal überspannt zu haben. Hätte ich meine täglichen Meditationsstunden strikt eingehalten, so wären mir meine lockeren Sprüche nicht unbemerkt entflohen; ich hätte die Kontrolle über mein Denken gehabt und es entsprechend blockiert. Der Vorfall zeigte mir, dass meine Disziplin sehr zu wünschen übrig ließ.
Richard, dein Kommen war mir wichtig, um dir das Gefühl zu ge ben, von uns nicht ausgegrenzt zu werden. Du hattest und hast eine schwere Zeit, das ist uns bewusst. Die Dinge werden nicht viel leichter, auch wenn man sie ständig wiederholt. Unsere gezielten Appelle an dich sind, das habe ich in dir gelesen, nicht ohne Wirkung geblieben; du wirst deinen Weg zu Ende gehen. Das sehe ich ganz deutlich. Der Älteste verhielt in seiner Ansprache und ich wusste ziemlich genau, dass, hätte er auch nur fünf Worte mehr von sich gegeben, ich auf der Stelle ein Tränchen zerquetscht hätte.
Doch vorrangig soll es bei unserer Unterredung nicht um dich ge hen. Es gibt ein paar Einzelheiten, die noch nicht jedem bekannt, je doch von essenzieller Bedeutung sind. Ich rede einmal von der Loslö sung Col'Shan-duurs vom irdischen Mond. Wir haben Fahrt aufge nommen in den freien Raum und keine Kontaktmöglichkeit zu Gon'O' locc-uur. Das Bordgehirn hat sich vollständig abgeschottet.
So viel wusste ich nun auch. Der Schrein hatte sogar meine Zu stimmung eingeholt, sich kurzzeitig abschalten zu dürfen. Mal ehrlich, wer hätte denn mit solchen Folgen gerechnet? Ich tröstete mich damit, dass er sich unabhängig von meiner Zustimmung sowieso zurückgezo gen hätte. Alles andere machte auch keinen Sinn.
Derweil haben wir mit einer Mutation zu kämpfen, die unsere Heimat schon vor langer Zeit befallen hat, jedoch gegenwärtig neue und ungeahnte Ausmaße annimmt. Es hat eine Symbiose stattgefun den mit dem Restkörper Amalnacrons. Der reimplantierte Höllenjäger Anto-Dschagerass hat dessen Materialisation auf Col'Shan-duur auf transzendentaler Ebene ermöglicht. Der anfängliche positive Kampfver lauf hat uns über die wahren Folgen hinweggetäuscht. Amalnacron ist mitten unter uns! Nicht als er selbst und nicht ausgestattet mit seiner 28
vernichtenden Macht! Doch es ist Materie von seiner Materie, Fleisch von seinem Fleisch. Und es schickt sich an, sich mit unserem Schiff zu verbünden. - Gegen uns!
Die Pointe war gelungen, das gab ich gerne zu. Auch ich befand mich auf dem Stand, dass die biologische Komponente von Col'Shan duur - ob nun mutiert oder nicht - das Fressplasma aufgehalten bezie hungsweise verschlungen hatte. Oder, wie Großvater Schrein es kurz vor seinem Verschwinden auszudrücken beliebte, assimiliert hatte. Auch wenn Gon'O'locc-uur allem Anschein nach ein falsches Spiel ge trieben hatte, so hatte er in diesem speziellen Fall aus Unwissenheit die Wahrheit nicht sagen können. Zur Aufdeckung seiner Beweggründe konnte wohl nur er selbst beitragen - und selbstverständlich AntoDschagerass.
Es ist zu Ausschreitungen auf einigen Decks gekommen. Diese sind derzeit beigelegt, doch besteht kein Anlass zum Aufatmen. Der Gegner ist immer noch sehr präsent. Und ich wähle absichtlich den Begriff ›Gegner‹, weil die Hetto-Ka'Zam-Inayn, wie sie sich nennen, eine ganz bestimmte Intention verfolgen, die sie die Kunstwelten der mitreisenden Völkerstämme durchstreifen lässt. Diese ist klar darauf ausgerichtet, uns Schaden zuzufügen. Wie wir sie aufhalten können, entzieht sich augenblicklich noch meiner Kenntnis.
Ich verstand nicht viel von dem, was der Älteste da von sich gab. Ich sagte schon, dass mir die Struktur der dunklen Zitadelle reichlich fremd war. Aber der letzte Satz hatte meine Aufmerksamkeit aufflam men lassen, weil ich mir sehr gut vorzustellen vermochte, wer die Koh len wieder aus dem Feuer holen durfte. »Hat der Name Hetto-Ka'Zam-Inayn eine tiefere Bedeutung?«, fragte ich laut.
Übersetzt heißt er: ›die Nachgeborenen‹.
Hörte sich für meine Ohren ziemlich scheußlich an. »Und was darf man sich darunter vorstellen?« Jemand zupfte an meinem Ärmel. Ich sah nach unten und da stand Ravenmoor/Sha'am-O. »Komm mit, Großer. Ich zeig's dir.« 29
*
»Ich gehe nicht weiter! Hier spukt's! Und ich weiß genau, dass du mir Angst machen willst!« Luku'tr zeigte sich trotzig und blieb am Ende des Waldweges ste hen. Sie würdigte ihren Bruder keines Blickes mehr. »Das sind doch nur Geschichten«, redete Wom'pt ihr zu. »Nichts davon ist wahr.« »Und warum willst du mich dann dorthin schleppen?« Mädchen, dachte Wom'pt. Die können einem nur den ganzen
Spaß verderben.
Natürlich wollte er seine Schwester richtig erschrecken und sich selbst dann als der große Beschützer in Szene setzen. Er wollte sich nur ein kleines bisschen über sie lustig machen, sie wegen ihrer Furcht auslachen und gleich im Anschluss mit den ganzen Ammenmärchen aufräumen. Aber dazu musste Luku'tr noch ein Stück mit ihm gehen, bis zu diesem verlassenen Tempel. »Um dir zu zeigen, dass es in diesem Wald nichts Unheimliches gibt.« »Du hättest es mir sagen können, das wäre völlig ausreichend gewesen.« »Nun hab dich nicht so«, beharrte Wom'pt. »Du bist schließlich bis hierher mitgekommen.« »Ja, aber ich gehe keinen Schritt weiter.« »Aber du bist doch auch neugierig, oder?« Luku'tr gab ihre starre Haltung auf und sah Wom'pt an. Sie verzog das Gesicht zu einem gemeinen Lächeln. »Ich bin neugierig darauf zu sehen, wie du widerlicher Prahlhans eins auf den Deckel kriegst.« »Wenn das so ist«, meinte ihr Bruder in einer Mischung aus ge kränkter Eitelkeit und unerschütterlichem Starrsinn, »wirst du mir wohl folgen müssen.« Er setzte sich in Marsch, um den flachen Bachlauf zu überqueren. Luku'tr beobachtete es unbehaglich. »Du willst mich doch nicht allen Ernstes hier stehen lassen...?« 30
»Wie ich schon sagte: Wenn du Zeuge meiner Niederlage werden willst, solltest du dich an meine Fersen heften.« Wom'pt machte zwei große Schritte und hatte den Bach überwun den. »Jetzt warte doch mal!«, rief Luku'tr und zog sich die Schuhe und Strümpfe aus. Keinesfalls wollte sie bis zum Tempel und den Weg zu rück nach Hause in aufgeweichtem Schuhwerk zurücklegen. »Iiihh! Der Boden ist ganz kalt!«, stieß sie hervor. »Jetzt stell dich nicht so an! Glaubst du, ich will Wurzeln schla gen?« Luku'tr schüttelte sich nicht nur innerlich. Wenn die Erde unter ih ren Füßen schon so kühl war, wie würde dann erst das Wasser sein? »Ich komme ja schon!«, zischte sie giftig. Auf der anderen Seite angelangt schüttelte sie ihre Füße aus. »Na siehst du«, lobte Wom'pt, »das war doch gar nicht so schwer.« Er fing sich einen vernichtenden Blick seiner Schwester aus zusammengekniffenen Augen ein. »Zieh deine Schuhe an und lass uns endlich zum Tempel gehen.« »Meine Füße sind nass und dreckig«, leierte Luku'tr genervt her unter. »Wenn ich Schuhe und Strümpfe jetzt anziehe, dann hätte ich ja direkt durchs Wasser latschen können.« »Mach, was du willst«, sagte Wom'pt abschließend. Er hatte nun aber wirklich genug von den Launen seiner Schwester. Fast schon be reute er, sie zu diesem Abenteuer überredet zu haben. Wie daraus noch ein Spaß werden sollte, war ihm mittlerweile schleierhaft. Er ging forsch voran und achtete nicht auf die gebrummelten Un mutsäußerungen seiner Schwester, die versuchte, an ihm dran zu blei ben und gleichzeitig zusehen musste, dass sie auf ihren nackten Füßen nicht in irgendetwas Spitzes oder Scharfes trat. Einmal dann trippelte sie ziemlich schnell los, hüpfte über Steinchen und Nesseln, erreichte Wom'pt und legte ihm ihre Hand auf die Schulter, sodass er innehielt. »Bruderherz«, säuselte das Mädchen, »kannst du es ein wenig langsamer angehen, ja? Ich kann doch nicht so schnell.« Wom'pt hatte eine bissige Bemerkung auf der Zunge, doch Lu ku'trs sanftes Stimmchen weckte sein Mitgefühl. 31
»Wenn du mich so nett bittest...«, sagte er und reichte ihr die Hand. Luku'tr überging das großzügige Angebot und schlang ihren Arm um seine Hüften. Auf diese Weise konnte sie ihn besser bremsen, wenn es ihr zu rasch ging, statt sich an seiner Hand ziehen zu lassen. Der schmale, ausgetretene Weg verschmolz nach und nach mit der Umgebung. Hätte Wom'pt nicht einige Orientierungspunkte beses sen, wäre es ihnen kaum möglich gewesen, ihr Ziel noch zu finden. »Da an dem kahlen, gebeugten Baum, der die Äste wie Arme er hoben hat, müssen wir nach links.« Luku'tr beäugte den Baum eingehend. Und tatsächlich: Wenn man das Bild auf sich wirken ließ, erkannte man in dem windschiefen Stamm und den dicken knorrigen Ästen eine Gestalt, die leicht gebückt die Arme wie in einem urplötzlichen Aufschrei nach oben gerissen hat te. Dazu malte sich Luku'tr ein von Entsetzen gezeichnetes Gesicht aus. Woher sie ihre fantasievolle Ausdeutung nahm, konnte sie nicht sagen. Sie bemerkte nur das stärker werdende Gefühl innerer Unruhe. »Woher kennst du den Weg so genau?«, fragte Luku'tr abwesend, ohne die Augen von dem Baum zu nehmen. »Die alten Geschichten«, erwiderte Wom'pt lapidar, »jeder weiß ein bisschen was zu erzählen. Die Greisen machen eine Menge Aus schmückungen, aber wenn du fleißig aussortierst, bleibt genau das übrig, was du für die Suche brauchst.« Luku'trs Kopf flog herum. Sie war jetzt voll bei der Sache. »Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass wir bloß auf grund von Geschichtchen seniler Schwätzer kilometerweit durch diesen Kackwald rennen?« Ihre Stimme klang scharf und mit einem kräftigen Druck ihres Arms brachte sie Wom'pt zum Stehen. Wieder einmal fühl te sie sich an der Nase herumgeführt. »Es sind diesmal keine Geschichten!«, verteidigte sich Wom'pt. Er sah seiner Schwester direkt ins Gesicht. »Woher willst du das wissen?« Luku'tr wurde allmählich wütend. »Weil Vater mir die Suche verboten hat!«, wurde auch er laut. Als Erklärung und Antwort auf Luku'trs fragenden Blick fügte er hinzu: »Ich habe mit ihm über den Tempel gesprochen. Zunächst wollte er nichts davon hören, doch als ich ihm von den vielen Hinweisen berich 32
tete, die ich zusammengetragen hatte, da wurde er sehr ernst. Es hat te ihm förmlich die Sprache verschlagen. Und dann hat er mich ein dringlich gewarnt. Sein Tonfall und sein Verhalten waren so, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte. Verstehst du? In seinen Augen lag etwas, dass ich nicht zu deuten wusste. Heute weiß ich, dass es Angst war...« »Du spinnst«, sagte Luku'tr halblaut. »Es gibt nichts, wovor Vater Angst hat.« Der Zweifel in ihren Worten war jedoch unüberhörbar. Weiter ging es durch den dichter werdenden Wald. Die hohen Baumkronen ließen immer weniger Sonnenlicht bis zur Erde durchdrin gen. Schutz suchend presste sich Luku'tr an ihren Bruder und wollte auf diese Weise die Kälte vertreiben, die in ihrem Körper hoch kroch. Diese Kälte hatte nichts zu tun mit der Außentemperatur, sondern schien direkt aus den Tiefen ihrer Seele aufzusteigen. »Es riecht komisch«, sagte Wom'pt irgendwann. Seine Schwester bemerkte es ebenfalls. »Und da ist grüner Rauch«, stellte sie weiterhin fest. »Ja«, kam es nachdenklich lang gezogen aus Wom'pts Mund. »Du hast Recht.« Es war eine Art Dunst, der aus den Poren der Erde aufzusteigen schien und sich in halber Körperhöhe auf Blätter und Pflanzen legte. Luku'tr zog eilends die Schuhe über die Füße; die Strümpfe hatte sie in einer Tasche ihres Rocks verschwinden lassen. »Es ist so still«, machte das Mädchen seinem Unbehagen Luft. »Nur wir zwei verursachen Geräusche, machen auf uns aufmerksam. Und dieser Geruch. Es ist wie... wie...« Sie fand keinen passenden Vergleich. »Hörst du mir eigentlich zu?«, raunte sie Wom'pt zu, der noch auf keine ihrer Äußerungen reagiert hatte. »Vielleicht beobachtet man uns bereits.« Sie sah ihn von der Seite her an und erkannte an seinem Blick so fort, dass er sich auf etwas konzentrierte. »Was ist los?«, fragte sie furchtsam, wartete die Antwort nicht ab und folgte der Richtung, in die er sah. Der Tempel!, schoss es Luku'tr durch den Kopf. Wir haben ihn wahrhaftig gefunden! Doch irgendwie konnte sie diesem Erfolg kein 33
Triumphgefühl mehr abgewinnen. Sie wäre jetzt an tausend anderen Orten lieber gewesen, als gerade hier. »Jetzt wird's richtig spannend«, ließ sie ihr Bruder wissen, den ein unverhoffter Forschungsdrang befallen hatte. »Ich glaube, unsere Ansichten von ›spannend‹ gehen da ein biss chen auseinander.« »Jetzt pass mal auf«, wandte sich Wom'pt mühsam beherrscht an Luku'tr. »Wir sind mitten in der Nacht von zu Hause weg, sind den lieben langen Tag marschiert und haben damit alle möglichen Strapa zen auf uns genommen. Ganz zu schweigen von dem Ärger, den wir noch bekommen werden. Nun ist unser Ziel zum Greifen nahe - und du willst den Lohn deiner Mühe nicht kassieren? Habe ich dich da richtig verstanden?« »Es war interessant, solange ich nicht dieses Gefühl von... ja, Ge fahr hatte.« »Du kommst mir vor wie ein Hund, der mit knurrendem Magen seine Beute erlegt und sie dann doch nicht verschlingt, weil er meint, sie könne vergiftet sein.« »Wäre ich der Hund, würde ich auf eine neue Gelegenheit war ten...« »Der verdammte Köter tut überhaupt nichts zur Sache!«, regte sich Wom'pt auf. »Es geht um dich, nicht um ihn!« Unentschlossen trat Luku'tr von einem Bein auf das andere. Ihr Blick war zum Boden gerichtet und hob sich immer nur so weit, dass sie ihrem Bruder nicht direkt in die Augen sah. »Du hast drei Möglichkeiten«, startete Wom'pt einen letzten An lauf. »Entweder kommst du mit mir rein oder du bleibst hier oder du gehst alleine den ganzen Weg wieder zurück.« Sie hielt es für angebracht, Wom'pt nun doch anzuschauen und hoffte inständig, dass er die vierte Option in ihrem Gesicht las: Gehen
wir gemeinsam jetzt sofort heim.
»Es ist deine Wahl, Luku'tr«, ignorierte er ihr heimliches Flehen. »Entscheide dich. Such dir die günstigste Alternative aus.« 34
Lange standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Luku'tr wurde mit jedem verstreichenden Moment deutlicher bewusst, dass Wom'pt nicht weiter mit sich verhandeln lassen würde. »Rein in den Tempel, gottverflucht!«, fauchte sie und wischte an ihm vorbei. Zornig ging sie einige Schritte vor, drehte sich um und aus ihren Augen schienen Flammenlohen zu schlagen. »Was ist, Wom'pt? Bleibst du da stehen oder bringen wir es hinter uns?« Er ließ sich nicht zweimal bitten. * Wenn Morias Del'Vander irritiert war, so ließ er diesen Eindruck für andere nicht sichtbar werden. Es reichte ihm vollkommen aus, eine entsprechende Frage zu formulieren: »Dein Name ist Bolr'g, richtig?« Es war im Endeffekt eine Feststellung und keine Frage. Daher winkte er auch ab, als der angesprochene Zr'Can sie beantworten wollte. »Wozu erzählst du mir das alles? Diese Geschichte von dem Geschwis terpärchen, das auf Abenteuersuche geht. Es wäre bedauerlich, wenn meine Gefolgsleute und ich den Anschein erweckt hätten, uns mit Kurzweil den Tag vertreiben zu wollen. Sei gewiss, Bolr'g, so ist es bei leibe nicht.« »Du wolltest etwas wissen über ungewöhnliche Erscheinungen«, setzte Bolr'g an. Ihm wurde heiß und kalt in seiner Rüstung und ir gendwie schien sie sich zusammenzuziehen. »Dann berichte mir auch von ungewöhnlichen Erscheinungen!«, entgegnete Del'Vander herrisch. »An zwei Jugendlichen, die durch den Wald laufen, kann ich nichts Außergewöhnliches finden!« Niemand lachte. Die Gesichter der Hetto-Ka'Zam-Inayn waren ver steinert. »Ich war noch nicht am Ende meiner Erzählung«, fand Bolr'g neue Worte der Beschwichtigung. Er war ansonsten ein eisenharter Kämp fer, doch sein Geschick auf dem Schlachtfeld war momentan nicht ge fragt. Die Hetto-Ka'Zam-Inayn hatten es mit einem ganzen Heer auf 35
genommen und es geschlagen. Bolr'g und Schk'tr war klar, dass sie eine andere Taktik anwenden mussten. »Ihr wolltet unsere Hilfe, Morias Del'Vander, weil auch ihr auf der Suche seid. Und wir wollen euch diese Hilfe gerne geben, wenn ihr von künftigen Gewaltakten ablasst. So habe ich unsere Vereinbarung ver standen.« »Genauso war sie gemeint«, antwortete der Hetto-Ka'Zam-Inayn. »Du solltest nun langsam dazu übergehen, deinen Teil des Abkom mens zu erfüllen. Es macht uns nichts aus, noch mehr deiner Männer zu töten. Euer Dorf, eure Familien, Frauen und Kinder - alles könnten wir auslöschen und trotzdem finden, wonach wir suchen. Einzig die Zeit ist das entscheidende Argument unserer Verhandlungen. Wir ha ben keine. Nur darum seid ihr noch am leben.« Bolr'g warf dem Bruder seiner Frau Esch'rt einen bezeichnenden Blick zu.
Warum dann dieses aggressive Verhalten? Warum die ausgedehn ten Kämpfe?
»Unter dieser Voraussetzung will ich meine Geschichte nicht unnö tig in die Länge ziehen«, sagte der Feldherr zögernd. »Ich wollte nur sichergehen, dass wir von ein und derselben Sache reden.« »Dazu kann ich noch nichts sagen, Bolr'g.« »Eure Angaben sind vieldeutig. Es mag ungewöhnliche Dinge in unserer Welt geben, die euch hingegen nicht der Erwähnung wert wä ren...« »Fahre nun fort. Dann werden wir sehen.« * In dem Tempel war es düster, schwülwarm und feucht. Es gab keine Türen und Tore, die ihn verschlossen; er war von allen Seiten her be gehbar. Der grünliche Nebel lag auch hier hüfthoch über dem Boden, schien das Licht des Tages konserviert zu haben und gab es zurückhal tend wieder ab. Es wurde nicht wirklich hell durch diesen Effekt; das Glimmen ließ die Wahrnehmung eher verschwimmen, als dass es ihr behilflich war. Luku'tr und Wom'pt benötigten einige Minuten, bis sie 36
sich unter diesen Gegebenheiten zurechtfanden und erstmals orientie ren konnten. »Wir gehen geradeaus«, entschied Wom'pt. »Das sieht mir aus wie der Weg zum Zentrum.« »Und was wollen wir da?« Luku'tr hatte ihre Augen überall, brauchte die Sicherheit, nicht aus irgendeinem verborgenen Winkel überrascht zu werden. »Ich meine, wonach halten wir Ausschau?« »Ich weiß nicht«, gab ihr Bruder unumwunden zu. »Aber irgendwas wird's schon geben. Und das finden wir in der Mitte des Tempels. Alle wichtigen Dinge haben immer mit dem Mittelpunkt zu tun.« Sie tappten weiter, setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Schließlich gewannen sie an Selbstvertrauen und gingen zügiger vor an. Ein leises Wispern lag in der schweren Luft. Anfangs war es wie das Säuseln des Windes, der sich in Fugen und Ritzen kanalisierte und eine schaurige Melodie pfiff. Doch es dauerte nicht lange und Luku'tr war der Meinung, ihren eigenen Namen herauszuhören. »Hast du was gesagt, Wom'pt?« Der war mit ganz anderen Beobachtungen beschäftigt. »Was ist denn?«, fragte er leicht gereizt, weil er wieder mal ir gendwelche Allüren bei seiner Schwester vermutete. »Ich dachte, du hättest meinen Namen gesagt.« »Habe ich nicht, nein.« »Aber es hat mich jemand angesprochen«, beharrte sie. »Das hast du dir eingebildet. Außer uns ist niemand...« Abrupt brach er ab. »Was hast du?«, war Luku'tr erschrocken. »Was hast du gese hen?« Wom'pt kniff die Augen mehrmals zusammen und schüttelte den Kopf. »Eine Bewegung«, sagte er. »Gleich gegenüber an der Wand.« Sein Selbstbewusstsein bröckelte dahin. »Mehr ein Schatten. Für einen Augenblick nur zu sehen.« »Pure Einbildung«, sagte Luku'tr gehässig, trotz ihrer Angst. 37
»Nein. Nein, das war keine Einbildung...« Er schaute Luku'tr ins Gesicht, das eigenwillige Formen im Widerschein des grünen Dunstes ausbildete; ihre Anspielung hatte er hinlänglich verstanden. »Also schön, wir beide haben uns nichts eingebildet«, lenkte Wom'pt ein.
Sieht er nicht attraktiv und männlich aus? Luku'tr zuckte zusammen. Wer hatte das gesagt? Sie drehte sich einmal um ihre Achse und suchte Anhaltspunkte für den Standort des unsichtbaren Sprechers.
Begehrenswert ist er, nicht wahr? Die Stimme kam nicht von außerhalb. Sie war in ihrem Kopf. Das Aufbäumen ihres Verstandes gegen solche Gedanken wurde bereits im Ansatz unterdrückt. Sie wollte etwas sagen, um ihr Entsetzen auszu drücken, doch es waren nur unverständliche Laute, die über ihre Lip pen kamen. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, erkundigte sich Wom'pt. Als Luku'tr wieder nur ein heiseres Krächzen von sich gab, klopfte er ihr mehrmals auf den Rücken, als wollte er eine Hustenverkramp fung lösen.
Wie galant er ist. Lohnt es sich nicht, einen solchen Mann zu ver führen? Luku'trs Widerstand brach vollends weg. sie hatte nicht mehr die Kontrolle über ihren Körper. Auch ihre Abneigung gegenüber den Ein flüsterungen war kaum mehr vorhanden. Sie fiel ein Stück zurück, während ihr Bruder weiterging und begann die Knöpfe ihrer Weste zu öffnen. Bedächtig legte sie das Kleidungsstück ab, zog die Schleifen ihrer Bluse auf und ließ sie an den Armen hinab gleiten. »Es scheint unglaublich weit hineinzugehen«, hallte Wom'pts Stimme wie aus einer anderen Welt zu ihr herüber. »Das kann sich noch endlos hinziehen.« Die weiche Watte um Luku'trs Sinne fing die Worte ab und machte sie zu dumpfen, nichts sagenden Tönen. »Willst du nicht zu mir rüberkommen?«, gurrte sie einschmei chelnd. 38
Wom'pt riss sein Augenmerk von den langen, pflanzenbewachse nen Gängen, um seiner Schwester einen neuerlichen Dämpfer zu ver passen, die aber auch jede Gelegenheit nutzte, um ihn mit Albernhei ten zu nerven. Als er auf dem Absatz herumfuhr, blieb er wie vom Blitz gerührt stehen. Da stand Luku'tr - und war zur Gänze nackt. Nicht einen Faden trug sie noch am Leib. »Sag mal... bist du - verrückt?«, stotterte Wom'pt. Er verstand gar nichts mehr. »Gefalle ich dir denn nicht?«, tat sie enttäuscht und ging auf lei sen Sohlen auf ihn zu. »Das ist nicht dein Ernst!«, dämmerte ihm allmählich, was Luku'tr im Schilde führte. »Du bist meine Schwester!« »Und du bist ein Mann!«, erwiderte sie forsch und war bereits so nahe, dass ihre ausgestreckte Hand seine Brust berührte. »Du... bist doch ein Mann, oder?« Es klang herausfordernd, gezielt provokant.
Nimm sie dir! Was hast du zu verlieren...? Bei allen Heiligen! Das waren nicht Wom'pts Gedanken! Doch sie waren in ihm! Luku'tr schmiegte sich an seinen Körper, streichelte ihn und rieb mit ihrem Bein über das seine.
Das ist Irrsinn! Ein furchtbarer Irrsinn! Es darf nicht sein! Was ist nur in sie gefahren? Die lautlosen Schreie verhallten an den Innenwänden von Wom'pts Schädel. Er lauschte ihrem Echo nach, suchte nach einem Halt, um seine Standhaftigkeit beweisen zu können und der Versu chung des weiblichen Körpers zu widerstehen. Doch der letzte Ret tungsanker hatte sich gelöst. Übrig blieb nur eine Stimme, die nicht die seine war, die immer lauter und fordernder wurde und jegliche Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns verdrängte.
Sie will dich, du Narr! Greif zu und pflücke die Frucht, solange sie noch jung und frisch ist. 39
Seine Verkrampfung lockerte sich. Seine Muskeln setzten der Be rührung Luku'trs kaum noch Widerstand entgegen. Er wusste, dass, wenn er einmal nachgegeben hatte, er nur noch Wachs in den Händen seiner lasziven Schwester sein würde. Und diese führte sich auf, als wollte sie ihre überschäumende Leidenschaft bereits für Jahre im Vor aus ausleben. Sie will es nicht anders, gab Wom'pt den inneren Kampf auf. Ich
habe sie zu nichts gezwungen. Warum soll ich sie abweisen? Es ist niemand da, der uns beobachtet. Es wird keine Zeugen geben.
Die Vorstellung, Luku'tr mit seiner Männlichkeit zu penetrieren, regte ihn plötzlich ungemein an. Schnell hatte auch er sich seiner Klei dung entledigt. Eng umschlungen sanken sie zu Boden, genossen jeden Augenblick gegenseitiger Berührung von Händen und Lippen. Luku'tr legte sich auf den Rücken, umschlang mit den Beinen Wom'pts Hüften und zog ihn zu sich herab. In der Vorfreude des Ein dringens stöhnte das Mädchen lustvoll auf. »Da sind sie!«, erscholl der Ruf ganz in der Nähe. Das Geschwisterpaar erschrak bis ins Mark, löste sich voneinander und blickte schreckensstarr über den grünlichen Dunst hinweg in jene Richtung, aus der die Worte aufgebrandet waren. Sofort waren Schrit te zu hören, das Klirren von Waffenstahl, Gürteln und Ketten. Eine Fackel loderte auf und riss zwei Schemen aus dem Dämmer. »Auseinander, unzüchtiges Pack!« »Vater!«, kreischte Luku'tr, während Wom'pt nicht einmal ein Stammeln zustande brachte und verzweifelt versuchte, seine Blöße zu bedecken. »Ich weiß nicht, welcher Dämon euch befallen hat, doch ich kann nur hoffen, dass ihr vor Gottes Antlitz Vergebung erfahren werdet.« »Es ist nicht so, wie es aussieht!« Luku'trs Stimme war immer noch schrill. Sie schien sich erst in diesen Momenten der Situation rich tig bewusst zu werden, erwachte wie aus einem Traum und sah, dass sie nackt war. Ebenso wie Wom'pt. »Ich... ich weiß auch nicht, was hier passiert ist!« Es folgte keine Erwiderung von ihrem Vater. Er war förmlich in der Bewegung erstarrt. 40
»Bitte, Vater, du musst uns zuhören«, fand Wom'pt seine Sprache wieder und wurde rüde abgewiesen. »Seid ruhig! Alle beide!« Die Fackel in seiner Hand beschrieb einen Halbkreis. Weiter brauchte er sie nicht zu schwenken. Längst hatte er die eigentümli chen Schatten erkannt, die sich aus den dunklen Löchern der Tem pelzugänge lösten und unentschlossen von links nach rechts und wie der zurück huschten. »Ihr greift euch jetzt eure Sachen, steht auf und geht langsam hinter uns her.« Er flüsterte seinem Begleiter - es konnte sich nur um seinen Waffenbruder R'kt handeln - einige Worte zu, der daraufhin schnellen Schrittes das Gebäude verließ. Dann begann er einen mono tonen Singsang, winkte die Kinder zu sich und scheuchte sie vor sich her. »Was machst du, Vater? Was bedeutet dieses Summen?« »Ich will die Geister aus meinem Kopf vertreiben, ehe sie Besitz von mir ergreifen.« Die Schatten blieben in der Tempelanlage zurück. Keiner davon folgte ihnen. Jeder der Männer nahm eins der notdürftig bekleideten Kinder auf sein Schapn'r und ritt los. Niemand drehte sich mehr um. Wom'pts und Luku'trs Vater spürte, was in seinem Rücken vorging, sah den grünen Nebel sich verdichten und anwachsen zu einer men schenähnlichen Gestalt, die den Tempel überragte. Ganz genau so, wie es die Mythen beschrieben. Doch es würde keinen Angriff geben, kei nen Überfall. Es hatte nie einen gegeben. Daher resultierte auch der eigentümliche Name, den man dem Phänomen schon vor langer, lan ger Zeit verliehen hatte. »Wie habt ihr uns gefunden?«, traute sich Luku'tr nach längerem Schweigen ihren Vater anzusprechen. »Nur Unheil könnt ihr aushecken. - Wo solltet ihr schon sein, nachdem euch den ganzen Tag kein Mensch gesehen hat? Dein Bruder hat mich doch zuvor mit den Geschichten der Alten gelöchert. Mir war schon klar, dass es ihm unter den Nägeln brannte, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.« 41
Wieder verging einige Zeit, in der nicht geredet wurde. Wom'pt, der hinter R'kt auf dem Schapn'r saß, brachte ebenfalls keinen einzi gen Mucks über die Lippen, obwohl ihm sehr an einer Aufklärung des Vorfalls gelegen war. Er war zutiefst beschämt und fürchtete, das Schlimmste noch vor sich zu haben. »Was wirst du jetzt unternehmen?«, war es erneut Luku'tr, die das Wort ergriff. »Ich meine wegen uns?« Schüchtern legte sie ihre Handflächen an die Taille des Vaters. Im Zweifelsfall war es eine Ges te, um sichereren Halt zu erlangen, doch sie wussten beide, dass e s ein leises Flehen um Verzeihung war. »Glaubst du uns, dass wir un schuldig sind...?« Ihr Vater mahlte mit den Zähnen; Luku'tr hörte das Knirschen des Kiefers recht deutlich. Schließlich sagte er: »Niemand braucht von der Sache etwas zu erfahren.« * Morias Del'Vander gab ein Geräusch von sich, das sich am ehesten als unterdrücktes Lachen interpretieren ließ. »Ihr nennt die Erscheinung den mildgrünen Wolk'?«, hakte er nach und wirkte richtiggehend amüsiert. »Der Name soll einen Bezug zu seinem Äußeren und der Mildtätig keit seines Handelns darstellen«, übernahm nun Schk'tr die Erläute rung. »Dieses Gespenst hat nie einer Seele etwas zuleide getan. Nicht physisch, jedenfalls...« »Nicht so wie wir, meintest du«, verhärteten sich Del'Vanders Zü ge. Er war der Einzige seiner Gruppe, der sprach. Die anderen HettoKa'Zam-Inayn hörten nur zu und schienen in Erwartung neuer Anwei sungen zu sein. »Nun, du hast uns sehr ausführlich eine für euch rätselhafte Be gebenheit geschildert...« Bolr'g fuhr ihm ins Wort. »Ich wollte nur deutlich herausstellen, auf welche Art von Bedro hung ihr euch einlasst; das erschien mir wichtig.« 42
»Weil du befürchtest, wir könnten in eine Falle laufen und Rache an euch nehmen«, las Morias Del'Vander die Gedanken seines Gegen übers. »Es wäre immerhin möglich, dass...« »Lass es gut sein«, brachte der Mann von jenseits der Schleuse Bolr'g zum Schweigen. »Wir wissen sehr genau, worauf wir uns einlas sen. Ich denke mittlerweile, dass dieser ›mildgrüne Wolk‹ genau das ist, was wir suchen. Ihr habt uns demnach gegeben, was wir wollten und euren Teil der Abmachung erfüllt. Von unserer Seite aus habt ihr nichts mehr zu befürchten.« Der hagere Anführer wandte nur kurz den Kopf seiner Gruppe zu. Was er machte, konnten Bolr'g und Schk'tr nicht sehen, doch augen blicklich setzten die Hetto-Ka'Zam-Inayn sich in Bewegung. »Deine Beschreibungen reichen uns, den Weg alleine zu finden. Aus deinem Bewusstsein habe ich weitergehende Informationen extra hiert.« Del'Vander sagte es und zog mit seiner Gefolgschaft an Bolr'g, Schk'tr und deren Unterführern Cro'rt und Nimra'rt vorbei.
Hexer sind das!, dachte Bolr'g und erschrak gleichzeitig, weil er annehmen musste, dass Morias Del'Vander auch diesen Gedanken hören konnte. Die Gruppe der Hetto-Ka'Zam-Inayn hingegen kümmer te sich nicht weiter um die Zr'Can und überquerte entspannt das Schlachtfeld. Bolr'g sah ihnen nachdenklich hinterher. Er konnte sich des Ein drucks nicht erwehren, dass er diese Teufel in Menschengestalt nicht das letzte Mal gesehen hatte. In Anbetracht der Verwüstungen, die sie hinterlassen hatten, sah Bolr'g einer weiteren Begegnung mit reichlich gemischten Gefühlen entgegen. Überall lagen Tote und Schwerverletz te. Katapulte und Wehrtürme waren zerstört. Es würde einige Zeit dauern, bis das Volk der Kr'sch, denen die Zr'Can angehörten, seine Wunden geleckt hatte. Es blieb zu hoffen, dass sich diese Niederlage nicht allzu schnell herumsprach und die anderen Territorien sie zum Anlass nahmen, ihre Kampftruppen auszuschicken und dem ange schlagenen Gegner endgültig den Todesstoß zu versetzen. 43
Die vier Männer sahen sich nacheinander schweigend an und es herrschte ein stilles Einvernehmen unter ihnen, dass dieser Waffenstill stand viel zu teuer erkauft worden war. * Zuerst ein klein wenig widerwillig, dann aber aus freien Stücken ließ ich mich von Ravenmoor/Sha'am-O führen. »Bist du sauer auf mich?«, brach ich unser Schweigen. »Hält sich in Grenzen«, kam es trocken zurück. Ich verzog das Gesicht, als hätte ich in eine Zitrone gebissen; die Sprechmembranen des Priesterkindes waren wirklich nicht in erster Linie zur Wiedergabe der englischen Sprache gedacht. Vielleicht ver zerrte der abgebrochene Riese ja auch ganz vorsätzlich die Worte, weil er wusste, dass mich das früher oder später auf die Palme bringen würde. »Jetzt lass mal gut sein, Philip. Deute nicht zu viel in meine Ge danken hinein. Was ich tatsächlich von dir halte, bewahre ich tief in meinem Innern auf.« »Ich weiß, was ich in dir gelesen habe. Das reicht mir. Ich möchte nicht weiter darüber reden.«
Dann spioniere nächstens nicht in anderer Leute Köpfen herum... »Es war kein Spionieren!«, wurde Sha'am-Os kratzendes Organ laut. »Wenn du eine Hauswand plakatierst, darfst du dich nicht wun dern, wenn sie angegafft wird!« Daran musste ich mich noch echt gewöhnen. Eine Privatsphäre würde es für mich auf Col'Shan-duur nicht mehr geben. Mein Innerstes lag für jedermann offen. Ich musste zugeben, dass mein dreibeiniger Freund ausnahmslos recht hatte: Ich brauchte mich nicht zu beschwe ren, dass, wenn ich Gedanken produzierte, diese auch überall ver standen werden konnten. Nachdem Philip sich also dramatisch vor mir aufgebaut hatte, gin gen wir weiter unseres Weges. Wenn mich nicht alles täuschte, wusste ich sogar, wohin er mich bringen wollte. Wir waren schon einmal hier 44
langgegangen, vor wenigen Tagen erst. Die Vermutung wurde zur Gewissheit, als mir das im Boden verankerte Sektorenschott auffiel. »Wir gehen zur Reimplantationskammer?«, fragte ich beunruhigt. Philip machte sich mit zwei Tentakelstümpfen am Öffnungsme chanismus zu schaffen. Dieses Mal gab es keinen Schrein, der die Stahlplatte aufgleiten ließ. Nach dir, Richard, machte sich der Priesterjunge sehr höflich und sehr förmlich bemerkbar. »Gibt es keinen anderen Weg hinunter?«, lamentierte ich gespielt. »Nicht für dich. Aber kommt Zeit, kommt Rat.« Ein Luftpolster entstand unter meinen Füßen und ich sank wie auf einer Wolke durch den Schacht. Wenn ich die Augen schloss, reiste ich durch ein sonnenverwöhntes Traumland, in dem der Löwe neben der Gazelle schlief, in dem keine Not herrschte und man von morgens bis abends in strahlende Kindergesichter sah. Unbemerkt von mir stahl sich ein sehnsuchtsvolles Lächeln auf meine Züge. Als ich dessen ge wahr wurde und die Augen öffnete... ... war es wie Eiswasser nach einem Saunagang! Das Bild, das noch vor Sekunden mein Innerstes erwärmt hatte, verschwand spurlos und machte einer Wirklichkeit Platz, die ich in noch unfreundlicher Erinnerung hatte. Ich trat einen Schritt vor, als ich über mir den Luftzug spürte, mit dem Ravenmoor sich ankündigte. Die Halle war heller als bei meinem ersten Besuch. Zumindest glaubte ich das. Ich erkannte die hohen Konsolenschränke, an denen Zuul und Jai damals ihre Arbeit verrichtet hatten. Ich konnte recht weit in das ausladende Rund der Einrichtung blicken und erkannte die vie len weiteren Sarkophage, die meiner Meinung nach ebenfalls konser vierte Höllenjäger beinhalten mussten. Leicht verwirrt stellte ich fest, dass alle Kammern offen standen. »Du täuschst dich nicht«, schmirgelte Sha'am-Os Stimme über meine empfindlichen Nerven. »Die Höllenjäger sind erwacht. Sie wur den alle reimplantiert oder aus der Stasis geweckt.« Verständnislos schüttelte ich den Kopf. 45
»Zuul und Jai haben das zu verantworten, oder?« Ich hatte den beiden Priestern diese Kosenamen verliehen, da ihre gebürtigen mir reichlich lang und unaussprechlich schienen.
Vukk'Ar Soi'Sann-Zuul und Stakk'Ar Vel'Enan-Jai handelten auf Geheiß Gon'O'locc-uurs. Sie haben es dem Ältesten gemeldet, sonst wüssten wir nichts davon.
»Diese Höllenjäger nennen sich jetzt Hetto-Ka'Zam-Inayn. So viel bekomme ich noch auf die Reihe. Aber der Rat sprach von ihnen als Gegner. Heißt das, der Schrein hetzt uns feindliche Höllenjäger auf den Hals? Kannst du mir das vielleicht mal plausibel machen, Philip?« Bevor der Mann im Körper des grobschlächtigen Priesterkindes ei ne Antwort zu geben vermochte, übertönte ihn eine schallende Stim me vom Ende der Halle. Dumpfund hohl pflanzte sie sich fort. »Er kann es nicht! - Aber wir!« * Die Reimplantationskammern standen zwar alle offen, doch konnte ich mich selbst davon überzeugen, dass sie deswegen nicht unbedingt auch verlassen sein mussten. Drei Körper richteten sich in gespensti scher Langsamkeit auf. Drei Höllenjäger aus einer für meine Begriffe unglaublich weit in der Vergangenheit liegenden Epoche machten sich daran, ihren ›Särgen‹ zu entsteigen. Waren auch sie jetzt - welche Hintergründe auch immer dafür sprechen mochten - zu unseren Fein den geworden? Ich würde sie mit meinen bescheidenen MudraTechniken, die mir zwischenzeitlich vermittelt worden waren, nicht aufhalten können. Was denkst du?, fokussierte ich den Gedanken direkt auf Philip. Nicht denken!, schoss er zurück. Abwarten. »Aus eurer Sicht mag eure Sorge berechtigt sein«, hallte es zu mir herüber. Die drei Gestalten hatten ihre Kammern verlassen und näher ten sich uns gemäßigten Schrittes. Wie es aussah, mussten sie ihre Körpermotorik trainieren; nach einem derart langen Schlaf kein Wun der. »Wir können euch jedoch versichern, nichts gegen euch im Schil de zu führen.« 46
Da geht's mir direkt viel besser, spöttelte ich vor mich hin. »Wer seid ihr?«, wollte ich daraufhin wissen, als das Trio nur noch wenige Meter entfernt war. »Wie sind eure Namen?« Es war immer gut zu wissen, mit wem man es zu tun hatte. Namen verliehen eine gewisse Macht. Ob ich sie allerdings zu unserem Vorteil nutzen konnte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Der Sprecher in der Mitte blieb stehen. »Mich nennt man Chebokyn. Der Gefährte zu meiner Linken ist Mantazz, die Gefährtin rechts von mir heißt Eleowelia.« Sie gingen weiter und kamen ganz nah an uns heran. Ich hielt unwillkürlich die Luft an, als erwartete ich einen Angriff, in welcher Form auch immer. Die feinen Fühler von Sha'am-Os Haarkranz richte ten sich auf die Ankömmlinge. »Noch immer bringt ihr uns Furcht entgegen und ich sehe keine nahe liegende Möglichkeit, diese Vorbehalte auszuräumen.« Chebokyn sah mich durchdringend an, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Er schien irgendetwas in mir zu sehen, das ihn stutzig machte, aber er sagte nichts. Ich stellte einen für mich angenehmeren Sprechabstand zu den Höllenjägern her und beschloss, sie als das zu sehen, was sie vorran gig für mich waren: eine Informationsquelle. »Du sagtest, ihr könntet uns einige Dinge erklären. Auch bezüglich des Verhaltens von Gon'O'locc-uur.« »Die Situation hat ihn überfordert und eine Kurzschlusshandlung provoziert. Deshalb wurden die Reimplantationskammern geöffnet. Deshalb wurden wir von unseren Missionen abberufen.« »So viel haben wir uns schon selbst zusammenreimen können«, gab ich mich unzufrieden. »Welche Veranlassung hatte der Schrein, euch zurückzuholen?« »Er brauchte Verbündete im Kampf gegen den alten Feind«, erwi derte Chebokyn. »Amalnacron«, sinnierte ich. »Das Fressplasma.« »Der letzte Begriff sagt uns nichts, doch es war die latente Prä senz des Dämons, die indirekt für unsere Rückkehr verantwortlich ist.« 47
»Aber die Entartung wurde von Col'Shan-duur kompensiert«, war ich es wieder, der einen Einwand vorbrachte. Philip hielt sich bedeckt. »Ich sagte bereits, dass es eine Kurzschlussreaktion war. Nach dem das Bordgehirn seinen Fehler bemerkt hatte, war auch schon das nächste Problem aufgetaucht. Und dieses Problem wird euch noch große Schwierigkeiten bereiten.«
Er meint die Symbiose der biogenetischen Komponente Col'Shan duurs mit dem Fressplasma, meldete sich Ravenmoor/Sha'am-O.
»Ihr könnt ruhig laut sprechen; eure Gedanken bleiben uns nicht verborgen.« »Er hat eine scheußliche Stimme«, nahm ich den Kleinen in Schutz. »Nun gut. Doch das Priesterkind hat nur bedingt recht. Viel ge fährlicher und mit weitreichenderen Konsequenzen behaftet ist der Einfluss, der von dieser symbiotischen Einheit ausgeht. Er hat von vie len unserer Kameraden Besitz ergriffen und steuert sie gemäß den eigenen Vorgaben.« Ich wurde hellhörig. Als wenn wir nicht schon genug Scherereien hätten. »Um welche Art von Vorgaben handelt es sich?« »Die Eroberung von Col'Shan-duur...« Das nahm ich einfach mal so hin und stieß lediglich die Luft hörbar aus. »Warum seid ihr nicht unter der Kontrolle der neuen Biomasse?« Das war der Punkt, der Freund von Feind unterschied. Möglich, dass die drei jetzt ihr wahres Gesicht zeigten. »Die geistige Konditionierung der Layshi-Pan ist abhängig von den spirituellen Wurzeln und der mentalen Aufgeschlossenheit. Eine recht komplexe Materie. Doch momentan die einzige Erklärung, warum eini ge dem bösen Einfluss erlegen sind und andere nicht. Tiefer gehende Einzelheiten können wir dir leider nicht anbieten.« Ziemlich unbefriedigend, gestand ich mir ein. Vor allen Dingen kein Indiz dafür, dass Chebokyn, Mantazz und Eleowelia nicht doch die Fronten wechselten, wenn wir es am wenigsten erwarteten. Ich nahm mir vor, weiterhin äußerst wachsam zu bleiben. 48
»Wieso haben euch die Hetto-Ka'Zam-Inayn nicht gezwungen, ih nen zu folgen? Wieso haben sie euch nicht getötet, wo ihr doch ei gentlich Gegner seid?« »Wir konnten selbst nach unserer Erweckung überzeugend die Stasis simulieren, indem wir unsere Körperfunktionen auf ein Minimum reduzierten. Das taten wir, als der böse Einfluss spürbar wurde. Morias Del'Vander ist der Unterschied nicht aufgefallen.« Gute Güte, diese Höllenjäger gaben mir eine Menge zu schlucken. »Darf ich erfahren, wie ihr euch unser weiteres Vorgehen vorge stellt habt?« Chebokyn sah mich verwundert an. »Wir begeben uns auf das infiltrierte Deck und durchkreuzen die Ziele der Hetto-Ka'Zam-Inayn.« Ich musste Chebokyn ohne Abstriche zustimmen: Es ging doch nichts über einen wohldurchdachten Plan... * Wie ich es bereits vermutet hatte, stieß ich bei den Priestern auf höchste Ablehnung, als ich meinen Vorschlag, gemeinsam mit den verbliebenen Höllenjägern dem Treiben der Hetto-Ka'Zam-Inayn ein Ende zu bereiten, vorbrachte. Doch ihre Unmutsäußerungen blieben ihre einzige Reaktion; aufhalten würden sie mich nicht. Philip Raven moor hatte den Ältesten über die gegenwärtige Lage informiert. Dass er mir anschließend viel Glück wünschte, war beinahe schon mehr Iro nie, als ich hinzunehmen gewillt war. Erstmals seit meiner Ankunft auf Col'Shan-duur würde ich weitestgehend auf mich allein gestellt sein mein ehemaliger Mentor blieb bei den Priestern und mein weiser Rat geber, der Schrein, war schon lange nicht mehr aufzufinden. Das Höl lenjäger-Trio wusste ich noch nicht einzuschätzen. Sicher war nur, dass sie ein unkalkulierbares Risiko darstellten. Ich wollte nicht aus schließen, dass die Fragmente Amalnacrons irgendwann doch in der Lage sein würden, Chebokyn samt Anhang zu übernehmen. Ebenso gut konnte es sein, dass sie bisher nur Theater gespielt und in mir 49
genau die Schwachstelle gefunden hatten, die sie zum Entern der dunklen Zitadelle benötigten. Trotz dieser unzweifelhaft schwerwiegenden Bedenken waren sie jedoch die gegenwärtig beste Chance, die innere Sicherheit wieder herzustellen und die Hetto-Ka'Zam-Inayn zur Hölle zu schicken. »Ihr kennt euch gut aus«, sprach ich Chebokyn an, der mit Man tazz vor mir ging. An meiner Seite befand sich Eleowelia. Der Gang, den wir durchquerten, erlaubte lediglich das Vordringen in Zweier gruppen. »Col'Shan-duur ist ein Stück Heimat neben Venora Ghol«, antwor tete er mir. Venora Ghol, klingelte es in meinem Verstand, die größte Tempel anlage der Layshi-Pan. Den Beschreibungen nach zu urteilen hatte sie sich in Südamerika befunden. Anto-Dschagerass hatte mir eindrucks volle Details aus dieser Zeit von vor etwa siebzig-, achtzigtausend Jah ren verraten. »Ich kenne diesen Bereich nicht. Wohin gehen wir?« Wir waren eine knappe Stunde durch die Ebenen gewandert und schließlich an einem flach abfallenden Hang talwärts gegangen. Nach einer weiteren halben Stunde hatten wir diesen Tunnel erreicht. »Du scheinst noch nicht viel von Col'Shan-duur gesehen zu ha ben«, bemerkte Eleowelia und sah mich ausdruckslos an. Trotzdem hatte ich das Gefühl, hinter ihrer Fassade ein Lächeln zu sehen. »Wahrscheinlich bist du gerade einmal über die Wohnsiedlung der Priester hinausgekommen.« »Schon etwas weiter«, sagte ich zaghaft. Aber nicht viel. »Was du hier siehst ist nur der winzige Teil einer eigenständigen, an Vielfalt fast unübertroffenen Welt. Col'Shan-duur ist weitaus mehr als eine Sternenarche. Sie ist auch ein Symbol der positiven Kräfte im Universum, ein Fanal des Friedens und der Freiheit. Wenn du dich nä her mit ihrer Geschichte beschäftigst, wirst du besser verstehen.« Ich wollte noch eine Erwiderung geben, meine Anteilnahme be kunden, doch Chebokyn fuhr mir in die Parade. »Vorsichtig, vorsichtig! Wir sind ganz in der Nähe der Spulenröh re.« 50
Was immer das auch bedeuten mochte, suchte ich mir wohl bes ser einen anderen Zeitpunkt, um nachzufragen. »Wir werden ohne Kapseln auskommen müssen?«, fragte Man tazz. »Es sind keine mehr hier, wie du siehst. Auf unserem Weg habe ich ebenfalls keine Depots ausmachen können.« »Col'Shan-duur hat sich sehr verändert«, seufzte Eleowelia. Ich lauschte ihren Worten nach und überschlug in Gedanken, wie lange sie wohl schon in den Sarkophagen zugebracht hatten. Aber da konnte ich überlegen wie ich wollte, ohne zu einem Ergebnis zu kom men. Was wusste ich denn, wann sie eingesargt worden waren. Mög lich auch, dass sie zwischenzeitlich zu anderen Missionen aufge brochen waren. Wenn die Zeit reif war, würde ich Genaueres in Erfah rung bringen. »Wir gehen über die Wartungsröhren nach unten«, entschied Chebokyn. Er registrierte meinen verdutzten Gesichtsausdruck und dass ich von ihrer ganzen Unterhaltung nur Bahnhof verstand. »Die Spulen sind unpassierbar, wenn der Magnetfeldantrieb des Schiffes in Betrieb ist. Die Alternative wären diffundierende Kapseln gewesen, mit denen wir die Trennwände der Ebenen und Decks problemlos passiert hätten. Wie du wohl mitbekommen hast, sind sie leider nicht dort, wo sie sein sollten.« »Steigen wir eben durch die Wartungsröhren«, gab ich mich en thusiastisch. Chebokyn blickte mich zweifelnd an. »Der Abstieg ist anstrengend. Die Magnetkräfte aus den Spulen röhren sind zwar abgeschirmt, können sich aber dennoch bemerkbar machen. Achte sehr genau auf deine Bewegungen, Richard und halte deinen Körper unter Beobachtung. Du wirst nämlich als Erster herun terklettern.« »Warum denn das?«, fühlte ich mich übertölpelt. »Damit du, falls du stürzt, keinen von uns mit dir reißt...« * 51
Der Schacht war so eng, dass Menschen mit klaustrophobischen Nei gungen unweigerlich den Verstand verloren hätten. Es gab auch keine Leiter im herkömmlichen Sinn, sondern lediglich Einbuchtungen, die teilweise gegeneinander versetzt waren und als Trittstufen verwendet werden konnten. Ich musste mich sehr konzentrieren, wenn ich mit den Füßen nach der nächsten Einbuchtung tastete und das Gewicht meines Körpers teils an nur einem Arm hing. Nach unten schauen war in dieser Röhre so gut wie unmöglich und hätte unangenehme Verren kungen erfordert. So hatte ich meistens nur das stumpfe Metall der Außenwandung vor Augen oder blickte auf meine Hände, deren Innen flächen allmählich feucht wurden. Düstere Überlegungen wanderten durch mein Bewusstsein. Offen sichtlicher hätten die Höllenjäger ihre Abneigung mir gegenüber nicht zum Ausdruck bringen können. Ich fühlte mich wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen und wurde nur geduldet, nicht aber akzeptiert. Mein einziger Pluspunkt war wohl, dass wir gemeinsame Ziele hatten. Nur deshalb hatten Chebokyn und Konsorten nicht darauf bestanden, auf eigene Faust und ohne mich die Verfolgung der Hettp-Ka'ZamInayn aufzunehmen. Selbst in ihren Augen schien ich noch einen ge wissen Nutzen zu erfüllen. »Beschränke dein Denken einzig und allein auf den Abstieg«, hör te ich Mantazz' Stimme von oben. »Koordiniere deinen Körper und teile deine Kraft ein.« »Wie weit ist es noch?«, überging ich seine schlauen Hinweise. Ich war kein Extremsportler und spürte erste Er müdungserscheinungen. In meinen Armen und der Schulter machte sich ein Feuer breit, ebenso in den Oberschenkeln und den Waden. »Wenn du es wüsstest, würde deine Kraft noch schneller erlah men.« Das war ja großartig. Wahrscheinlich würde ich noch den halben Tag wie ein Schimpanse im Klettergerüst herumbaumeln. Hätte ich das eher gewusst, dann... Nun, ich wäre natürlich trotzdem mitgekommen. Worüber also regte ich mich auf? 52
Die Zeit floss träge dahin. Mir kam es vor wie Stunden, seit wir das letzte Mal gesprochen hatten. Vermutlich war es aber eher ein Bruchteil dessen. »Können wir eine Pause machen?«, rief ich, ohne den Kopf zu he ben. Selbst diese kleine Bewegung erschien mir zu anstrengend. »Jetzt nicht! Es ist nur noch ein viertel Kilometer.« Nur! Er hatte allen Ernstes ›nur‹ gesagt! Ein Sprinter konnte diese Strecke in knapp dreißig Sekunden lau fen. Mir wäre es ein Leichtes, diesen Wert zu Toppen, wenn ich mich einfach fallen ließ. Es war mir wirklich danach. Allein die Vorstellung an die Länge des Weges brachte mich an den Rand einer Ohnmacht. Ich spürte jeden Muskel, alles tat weh. »Lenke deine Gedanken fort von den Schmerzen auf das Ziel. Denke an die Erleichterung, wenn du wieder festen Boden unter dir hast.« Vorerst ging es im Schneckentempo weiter. Es wurde immer schwieriger, die Signale meines Körpers zu ignorieren. Ich war nicht in der Lage, den Fokus meiner Wahrnehmungen erfolgreich abzuwenden. Trotzdem schaffte ich es irgendwie. »Ich komme nicht weiter«, sagte ich eine Weile später. Meine Beine baumelten in der Luft. »Hangele dich so weit wie möglich an den Armen herunter und lasse dich fallen.« »Machst du Witze? Das kommt überhaupt nicht infrage!« »Vertraue mir«, sagte Chebokyn beruhigend. Kann ich das?, stellte ich mir selbst die entscheidende Frage. Kann
ich jemandem vertrauen, der mich im Grunde genommen nicht in sei ner Nähe haben will?
Andererseits hatte ich keine Wahl. Unter mir fand ich keinen wei teren Tritt und nach oben hin versperrten mir die drei Höllenjäger den Weg. Da war keine Option in Aussicht. Ich hielt die Luft an und ließ los... ... und stieß sie gleich darauf ächzend wieder aus, als der Aufprall mir die Knie unters Kinn treiben wollte! Ich fing mich ab, konnte je doch nicht verhindern, dass ich haltlos nach vorne stürzte und auf al 53
len Vieren landete. Wütend schnaufte ich. Da lagen vier bis fünf Meter freier Fall hinter mir. Zumindest aber eine Distanz, die ich beim Wissen um sie niemals hinab gesprungen wäre. Ich rappelte mich auf und sah die Höllenjäger sanft hinab gleiten. Dort, wo sie aufkamen und wo auch ich den ersten festen Grund unter den Füßen gespürt hatte, war nichts. Es sah immer noch so aus, als würde es endlos in die Tiefe gehen. Rein logisches Vorgehen würde einen Menschen bereits an dieser geringfügigen Hürde scheitern las sen. Wenn der Verstand die Leere zu analysieren suchte, konnte die Vernunft einem nicht raten, in den Abgrund zu springen. Normalerwei se hätte es in diesem Fall für mich kein Weiterkommen gegeben. Ich erinnerte mich an den Zentraledom Col'Shan-duurs, das Herz Gon'O' locc-uurs. Auch an jenem Ort hatte ich den Eindruck, wie auf Glas über kilometertiefe Schluchten zu schreiten. Mittlerweile erfüllte mich die Vorstellung nicht mehr mit Grausen; ich hatte sie akzeptiert und mei ner unvollständigen Wahrnehmung hinzugefügt. Trotzdem konnte ich mich eines Kommentars nicht enthalten. »Sollte ich mir bei dem Sprung alle Knochen brechen?«, fragte ich laut. »Hättet ihr mir nicht sagen können, wie weit unter mir der Boden war?« »Wärst du denn gesprungen?«, erkundigte sich Chebokyn freund lich. »Was blieb mir denn anderes übrig...?« »Hätte es deine Entscheidung erleichtert?«, ließ er nicht locker. Als ich keine Antwort gab, nickte er verstehend. »Du siehst, wir haben einzig in deinem Interesse gehandelt.« »Auslegungssache«, brummte ich unzufrieden und wollte die drei Wiedererweckten an mir vorbei lassen, damit sie den weiteren Weg bestimmen konnten. Chebokyn aber rührte sich nicht, sondern zwang mich mit seinem Blick, ihn weiterhin anzusehen. »Stell dir vor, Richard, du überquerst die Brücke zwischen zwei Bergzinnen. Es ist eine wacklige Brücke, die nur aus einigen Seilen und verknoteten Trittbrettern besteht. Sie hält aber dein Gewicht und du kannst auf ihr diese Distanz zur gegenüberliegenden Zinne unbescha det zurücklegen. Vielleicht ist da aber gar keine Brücke, sondern ein 54
fach nur Luft. Aufgrund deiner Erfahrungen und deines erlernten Wis sens weißt du hingegen, dass man auf Luft nicht laufen kann. Dein Verstand sagt dir demnach, dass es wesentlich wahrscheinlicher ist, über eine Brücke zu laufen, als über Luft zu gehen. Nur: Sicher sein kannst du nicht. Somit wird dein Weltbild allein von Fremdwissen und begrenzten eigenen Erfahrungen geprägt. Wer sagt, das wäre die Wirklichkeit, der ist wahrhaftig ein Narr...« »Ich werde später darüber nachdenken«, sagte ich abweisend. Auf philosophische Betrachtung von Paradigmen konnte ich im Augen blick wirklich verzichten. »Gehen wir weiter.« »Du wirst uns führen, Richard«, wies Chebokyn zuvorkommend voraus. »Woher soll ich wissen, wohin...?« Nun war es Mantazz, der mir das Wort höflich, aber bestimmt ab schnitt. »Es geht nur geradeaus. Du wirst das Ziel erkennen, wenn du es siehst.« Jaja, dachte ich ungehalten, lasst euren Köder mal das Feindter
rain erkunden.
Warum, zum Teufel, schickten sie mich vor? Waren sie mit ihren Fähigkeiten nicht wesentlich besser geeignet, eventuellen Gefahren zu begegnen? Mit meinen armseligen Kunststückchen war ich doch jedem Angreifer hoffnungslos unterlegen. »Wenn du den Gedanken weiter verinnerlichst, wird er sich auch manifestieren«, klang es hinter mir auf und diesmal vermeinte ich eine weibliche Stimme zu erkennen. »Hört auf, in meinem Geist herumzuwühlen. Das geht euch nichts an.« »Wir dringen nicht in dich ein«, widersprach Eleowelia, »dein In nerstes drängt sich uns ungefragt auf. Es gleicht einem Hilfeschrei.« Ich begutachtete die Umgebung, die aus einer maximal vier Meter durchmessenden Röhre bestand. Es herrschte das gewohnte Halbdun kel vor, sodass es selbst mir nicht allzu schwer fiel, mich zu orientie ren. 55
»Ich habe nicht um Hilfe gerufen, wen ich keine Hilfe brauche.« Zielstrebig schritt ich aus. »Und die Erde ist eine Scheibe«, spöttelte Chebokyn. Auch Eleowelia musste mir noch ihre Belehrungen, für die ich kaum empfänglich war, mit auf den Weg geben. »Der feste Glaube an das eigene Unvermögen ist der eigentliche Auslöser unseres Versagens.« * Lang, viel zu lang zog sich die Röhre. Es gab einige Schotte, die wir passieren mussten. Niemand sagte mir, was zu tun war; es lag ganz alleine an mir, sie zu öffnen und unser weiteres Vordringen zu ermög lichen. Ich erkannte, dass es nicht schwer war, den Mechanismus zu bedienen, der die Stahltore aufgleiten ließ. Die Umgebung wurde mir dadurch stets vertrauter; ich betrachtete mich nicht mehr als Fremd körper. Mehr und mehr war mir daran gelegen, mein Umfeld zu erfor schen, es zu verstehen und mit ihm zu interagieren. Meine Gefühlswelt war in Aufruhr - in positivem Aufruhr - und anscheinend hatten die Höllenjäger hinter mir daran nichts auszusetzen. Sie sagten die ganze Zeit unserer Wanderung über nichts, unterhielten sich nicht einmal untereinander. Wenigstens nicht hörbar. Dann gab ich das Zeichen zum Halten. Grelles Sonnenlicht fiel in einiger Entfernung aus breiten Schlitzen in die Röhre. »Ich denke, wir sind angekommen«, wandte ich mich an Chebo kyn. »Wir sind angekommen«, bestätigte er. »Natürlich ist es kein Sonnenlicht, was du siehst. Bedenke: Wir befinden uns tief im Innern eines Raumschiffs.« Bleibt euch denn gar nichts verborgen?, stellte ich mir resignie rend eine rein rhetorische Frage. Chebokyn verzog kaum sichtbar die Lippen. Ich interpretierte dies als Schmunzeln, weil es mir höchst wahrscheinlich schien. 56
»Führe uns weiter, Richard«, motivierte mich Eleowelia. Ihrem Unterton entnahm ich einen Hauch von Respekt. »Die Welt der Kr'sch erwartet uns...« * Das Flachland lag bereits ein gutes Stück zurück. Nun ging es durch ein leicht ansteigendes, urwüchsiges und teils schroffes Gelände mit reichem Pflanzenwuchs und üppigen Hainen. »Wir hätten die Reittiere der Zr'Can nehmen sollen. Dann wären wir schneller.« Morias Del'Vander zeigte sich von dem leisen Vorwurf unbeein druckt und verlangsamte auch nicht seinen Gang. »Was wir erreichen wollen, gelingt uns auch ohne Reittiere. Au ßerdem wären sie uns in diesem Landstrich keine große Hilfe; sie wür den stets einen Teil unserer Aufmerksamkeit beanspruchen.« Jukotur sagte daraufhin nichts mehr. Die löwenmähnige Fyn klopf te ihm beruhigend auf die Schulter. »Mach dir nichts draus. Meister Pagsha-Tan hätte dich nicht schö ner abblitzen lassen können. Aber nun ist er...« - die zierliche Frau deutete auf Del'Vander - »unser Anführer. Gewöhne dich an den Ge danken.« »Immer noch kommt mir unsere Erweckung wie ein Traum vor. Alles kam so plötzlich. Und dann war da dieses eigenartige Gefühl, von irgendetwas in Besitz genommen worden zu sein.« »Ich verstehe genau, was du sagen möchtest«, flüsterte Fyn, als fürchtete sie, Morias Del'Vanders Aufmerksamkeit zu erregen. »Meine Mission war nicht abgeschlossen, als ich in der Reimplantationskam mer erwachte. Leider konnte ich nur kurz mit den beiden Priestern sprechen...« »Vukk-Ar Soi'Sann-Zuul und Stakk-Ar Vel'Enan-Jai«, brachte Juko tur mit Leichtigkeit über die Lippen. »Die Namen konnte ich mir noch nie merken.« »Als ich erwachte, waren sie schon nicht mehr da.« 57
»Mir konnten sie ebenfalls nicht allzu viel verraten«, dämpfte Fyn die Erwartungen. »Ihre Befehle haben sie direkt von Gon'O'locc-uur erhalten. Mehr weiß ich nicht.« Plötzlich blieb sie stehen, verzerrte das Gesicht und beugte sich wie unter Krämpfen vornüber. »Scheiße, tut das weh!«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Was gibt es?«, war Morias Del'Vander auf einmal an ihrer Seite. »Das siehst du doch!«, bellte Jukotur. »Jetzt haben die Koliken Fyn erwischt!« »Es wird nicht lange dauern. Es ist nur während der Eingewöh nung.« »Während der Assimilation, würde ich eher sagen.« Del'Vander legte eine Hand auf Fyns Rücken, während er Jukotur mit stechendem Blick ins Visier nahm. »Ganz gleich, wie du es nennst. Es tritt nur sporadisch auf und nicht bei allen. Bald wird es vorüber sein.« Jukotur wandte den Kopf zu den Gefährten, die dichtauf folgten. Es war die Ausdruckslosigkeit in ihren Gesichtern, die den Layshi-Pan daran zweifeln ließ, es noch mit wirklichen Menschen zu tun zu haben und nicht mit Maschinen, die von einem fremden Willen gesteuert wurden. Sie fühlten keine Schmerzen mehr, denn sie waren bereits vereinnahmt worden, waren zu Hetto-Ka'Zam-Inayn geworden, zur ›Nachgeburt‹ der Layshi-Pan. Dieses Fremde war auch in Jukotur. Bald schon würde es keinen Unterschied mehr geben zwischen ihm und den anderen. »Wir hatten uns nie besonders viel zu sagen, Morias«, sagte Juko tur angespannt. »Daran soll sich auch nichts ändern. Ich werde dir folgen, bis ich...« Der Layshi-Pan würgte schlagartig und begann zu husten. War es noch als Zufall zu bezeichnen, dass ihn ausgerechnet jetzt, da er ge gen Del'Vander die Stirn erhob, von schrecklichen Krämpfen heimge sucht wurde? Wollte das fremde Etwas nun mit Macht seinen Körper erobern und damit jegliches Aufbegehren ein für allemal unterbinden? Jukotur dachte den Gedanken nicht mehr zu Ende. Als er sich den aufrückenden Marschierenden eingliederte, war sein Geist frei von 58
Rebellion und Aufsässigkeit und ausschließlich erfüllt vom Wunsch be dingungslosen Dienens. Morias Del'Vander übernahm erneut die Spitze der zwölfköpfigen Gruppe. Er wusste, dass es nicht mehr weit war bis zum ›mildgrünen Wolk‹... * Die Schleuse wirkte wie ein Stöpsel, den man auf die Röhre, in der wir uns befanden, gepfropft hatte. Dieser Stöpsel verschloss unsere Röhre jedoch nicht mehr hermetisch, sondern ragte ein Stück heraus. Ich erkannte eine Verstrebungsstruktur, die die Schleuse trotz allem noch mit der Grundkonstruktion verband und dafür verantwortlich war, dass das Licht von draußen immerhin gesiebt einfallen konnte. »Keine Sorge. Die Öffnungen zwischen den Streben lassen sich mühelos passieren. Es gibt keine Hindernisse.« Chebokyn schien ausnahmsweise einmal meine Gedanken nicht gelesen zu haben. Sonst wäre ihm aufgefallen, dass mir mit jeder Se kunde elender wurde. Zuerst war es ein leichter Schwindel, der mich zusehends benommen machte. Ihn abzuschütteln wollte mir nicht ge lingen. Ganz im Gegenteil: Nicht nur, dass das Schwindelgefühl sich steigerte, nein, es verursachte so ganz nebenbei noch eine widerliche Übelkeit. In meinem Mund lief der Speichel zusammen. Ich spuckte aus und unterdrückte ein Würgen. Mein Magen wollte sich komplett umstülpen. »Die Atmosphäre macht ihm zu schaffen.« Wer hatte das gesagt? Ich konnte die Stimmen meiner drei Beglei ter kaum auseinander halten, geschweige denn den Sinn ihrer Worte erfassen. »Zu viel Sauerstoff. Die Gewöhnung wird nicht lange dauern.« Was weißt du schon?, tobte es durch meinen Kopf, während mein Mund sich mit Dingen füllte, die normalerweise nicht in diese Richtung entsorgt wurden. »Kannst du ihm helfen?« »Ich will es versuchen...« 59
Für einen Augenblick verstärkte sich die Übelkeit und ich war nahe daran, jedem alles zu versprechen, der mich von ihr befreite. Nur einen Augenblick. Nur einen scheußlich langen Augenblick. Mein Körper entspannte sich plötzlich merklich. Was immer Che bokyn oder Eleowelia oder Mantazz taten, es machte sich positiv be merkbar. Ich fand wieder zu mir selbst, kam zurück aus der absoluten Gleichgültigkeit meiner Existenz und klinkte mich in die Wahrnehmung meiner fünf Sinne ein. »Übernimm weiter die Führung, Richard«, sagte Eleowelia. »Ich werde deinen Metabolismus die nächsten Minuten stabilisieren.« »Solange, bis du dich akklimatisiert hast«, ergänzte Chebokyn. Mir ging's fast schon wieder prächtig. Der Schwindel hielt sich in Grenzen und ließ mich nur ein bisschen wie über dicke, bauschige Daunendecken gehen. Wir erreichten den Schleusenpfropfen, gingen bequem zwischen den Verstrebungen durch und traten in helles, angenehmes Licht, das sich von den Strahlen der Sonne - für mein Empfinden - nicht unter schied. Bevor ich die neuen Eindrücke verarbeiten konnte, hörte ich me tallisches Klirren und sah mehrere Gestalten, die hinter einem Erdwall auftauchten. »Sieh einer an«, hallte es uns entgegen. »Da kommen noch mehr von der Sorte.« * Der Einfluss des Symbionten manifestierte sich in jeder Zelle der Het to-Ka'Zam-Inayn. Er war vergleichbar mit einer genetischen Kompo nente, die einfach alle vorhandenen Informationen überschrieben und gegen die eigenen ausgetauscht hatte. Es war das Verhalten eines Virus, nur dass dieser sämtliche Körperfunktionen übernahm und sei nem Wirt keinerlei Schaden zufügte. In diesem Stadium gab es keine Gegenwehr des Immunsystems mehr, da der aktuelle Zustand als der ursprüngliche akzeptiert worden war. Vornehmlich war es die Verände rung des Geistes, der Geisteshaltung, die das symbiotische Etwas 60
entstanden aus der Verschmelzung des Col'Shan-duur-Gewebes und des metaphysisch transportierten Fressplasmas - anstrebte. Dass dazu die gesamte menschliche ›Festplatte‹ neu formatiert und eingerichtet werden musste, war zwingend erforderlich, um das neue ›Betriebssys tem‹ geschmeidig und ohne Ruckeln und Häkeln zum Laufen zu brin gen. Körper und Geist sollten wie gewohnt eine harmonische Einheit bilden. Einzig die Gesamtausrichtung war gegenwärtig eine andere. »Das ist also der Tempel, von dem die Zr'Can sprachen.« Keefesch straffte seine Kleidung und begab sich auf eine Höhe mit Morias Del'Vander. »Es ist das, was du sehen sollst«, berichtigte der Anführer. »Filte re die Informationen, die dein Gehirn zur Verarbeitung bekommt und du wirst den Betrug bemerken.« Die Zwölf standen bis zur Hüfte in grünem Dunst, der zwischen den Säulen und torähnlichen Öffnungen auch in den Tempel drang und eine sich sanft wiegende Oberfläche schuf, die an ein stilles Ge wässer erinnerte. Um die von Grünspan befleckten Mauern rankten sich Schlinggewächse. Aus den Fugen schlüpften an einigen Stellen Kleininsekten sowie armlange Tausendfüßler. So schnell sie kamen, so schnell waren sie aber auch wieder verschwunden. Es war ein deutli ches Zeichen, dass selbst in der Abgeschiedenheit des verlassenen Tempelgebäudes das Leben nicht gewichen war, es sich umgekehrt sogar daran machte, das gestohlene Terrain zurückzuerobern und sich einzuverleiben. Die Natur forderte ein, was rechtmäßig ihr gehörte. Ein Schauspiel, wie es sich immer und überall aufs Neue ereigne te. Ohne Ausnahme. An diesem ganz speziellen Platz hingegen war es nicht mehr als eine täuschend echte Illusion. Die Hetto-Ka'Zam-Inayn folgten Del'Vanders Anweisung und wischten die Lüge ohne sonderliche Anstrengung beiseite. Nackter, kalter Stahl nahm die Position der Tempelanlage ein. Ein turmartiges, technisches Gebilde erschien, das durchzogen war von Kabelsträngen, Energieleitungen und Kraftfeldsektoren, die verschiedenfarbig aufblink ten, summten oder flimmerten. 61
»Wie ihr seht ist das, was wir erwarteten, auch genau an der Stel le, an der wir es vermuteten, vorhanden.« Morias Del'Vander stemmte die Hände in die Seiten. Einige nickten, einige schickten eine mentale Bestätigung. Der grüne Nebel war ebenfalls verschwunden, doch schien er sich allmählich neu zu formieren, bildete sich um die Generatorsäule her um, wölbte sich auf und verdichtete sich. Dünne Verlängerungen sta chen aus der anwachsenden Masse heraus, als wollten sie sich zu Greifklauen formen und die zwölf Männer und Frauen zerreißen. Ein dumpfes Echo lag in der unruhigen Luft, erzeugte eigentümliche Töne, die in den Verstand der Anwesenden einsickern wollten. Tiefschwarze Schatten verzerrten sich zu grotesken Abbildern, jagten sich auf den metallischen Oberflächen und verschwanden abseits zwischen Sträu chern und Bäumen, um auf der gegenüber liegenden Seite in Win deseile wieder aufzutauchen und den gespenstischen Reigen fortzuset zen. »Es verwendet eine andere Frequenz!«, rief Del'Vander, der die Situation sofort durchschaute. »Schirmt euren Geist ab!« Die Hetto-Ka'Zam-Inayn hatten bereits ihre eigenen Schlüsse ge zogen und jeder für sich hatte auch schon reagiert. Die Schatten verschwanden. Der grüne Nebel verpuffte. Die Töne verklangen. »Lasst uns nun sehen«, verkündete Morias Del'Vander gemessen, »welche Möglichkeiten es gibt, über diese Schnittstelle zu Gon'O'locc uur vorzudringen.« * Die Vorhut bestand aus vier Rittern. Hinter ihnen schlossen mehrere Dutzend auf. Sie trugen Rüstungen unterschiedlicher Farbe. Höchst wahrscheinlich diente dies der Rangunterscheidung. Vor nicht allzu langer Zeit musste hier noch eine Schlacht getobt haben; regungslose Körper lagen im Staub, überall waren Trümmer verteilt. Es roch nach Petroleum und die Luft schmeckte sandig, dass man es zwischen den Zähnen knirschen hörte. 62
»Wer sind die?«, zischte ich Mantazz an meiner Linken zu. Wir vier standen in einer Reihe, erhobenen Hauptes, als wollten wir sagen: ›Kommt nur! Wir nehmen es mit jedem auf!‹ »Soldaten aus dem Volk der Kr'sch. Sie nennen sich Zr'Can«, er widerte Mantazz in normaler Lautstärke. »Und wieso kann ich sie verstehen?«, kam ich über ein lautes Flüstern nicht hinaus. »Ich meine, die sprechen doch nicht zufälliger weise Englisch...« »Tun sie nicht«, ließ Chebokyn von rechts her verlauten. »Ich leite dir mein eigenes Verständnis der Sprache zu.« »Und wieso kannst du sie verstehen?« »Hypnotisch-suggestives Memorieren«, antwortete Chebokyn. »Oder einfacher: lernen im Schlaf. Gon'O'locc-uur hat diese Methode während unserer Missionen angewandt. Äußerst effektiv.« »Wird deine Wachsamkeit nicht getrübt, wenn du dich auf die Ü bersetzung konzentrierst?«, stellte ich eine weitere Frage, als mir klar wurde, dass die Zr'Can kein aggressives Verhalten an den Tag legten. Ich konzentriere mich nicht darauf, dachte er in meinem Kopf. Es
geschieht automatisch. Ich übernehme lediglich die Weiterleitung. Soll te mich das überfordern, stelle ich sie ein.
Die Lage war entspannt; ich fühlte mich relativ sicher. Die LayshiPan deckten meinen Rücken, die Zr'Can machten einen eher neugieri gen, denn einen angriffslustigen Eindruck. »Ihr kennt uns?«, rief ich der Vorhut entgegen und korrigierte mich sofort: »Sind bereits Leute wie wir hier vorbeigekommen?« »Leute wie ihr - oh ja.« Die Gepanzerten kamen näher, hielten ih re Waffen jedoch gesenkt. Sie hielten sich nicht zurück, weil sie im Grunde ihres Herzens lammfromm waren, sondern weil sie sich vor uns fürchteten. Ich mutmaßte, dass die Verwüstungen um uns herum auf eine Auseinandersetzung mit den Hetto-Ka'Zam-Inayn zu rückgingen. Die Layshi-Pan, die mich umsäumten, signalisierten mir mental eine Bestätigung meiner Vermutung. »Ihr wollt euren Gefährten folgen?«, erkundigte sich ein Mann in goldener Rüstung. Sein Helmvisier war hochgestellt und nun schickte 63
er sich an, den Helm vollständig abzunehmen. Eine überdeutliche Ges te von Demut im Angesicht eines als überlegen eingestuften Gegners. »Wir suchen nicht nach Freunden, sondern nach Feinden«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. Vielleicht bekamen wir die Zr'Can damit auf unsere Seite, falls es sich wirklich so verhielt, wie ich dachte und sie schlechte Erfahrungen gemacht hatten mit den HöllenjägerRenegaten. Andererseits sprach nichts dagegen, mit offenen Karten zu spielen. Schließlich hatten wir nichts zu verbergen. »Sie gehören... nicht zu euch?«, fragte der Vorderste misstrauisch und ließ nicht erkennen, wie er diese Information einzustufen gedach te. Was sollte ich jetzt sagen, ohne die Situation komplizierter als nö tig zu machen? »Sie sind entflohen. Wir sollen sie wieder einfangen.« Schallendes Gelächter schlug uns entgegen. Die Männer schienen ihre Scheu zu verlieren. »Ihr vier gegen einen Haufen, der eine komplette Armee überwäl tigt hat? Sagt mir eure Namen, damit ich euren baldigen Tod beweinen kann.« Wir stellten uns der Reihe nach vor. Die Zr'Can taten es uns gleich. »Haltet ihr uns für so schwach, dass wir es mit den Hetto-Ka'ZamInayn nicht aufnehmen könnten?«, wollte ich den Grund der allgemei nen Heiterkeit in Erfahrung bringen. Bolr'g geriet ins Grübeln, massierte sein Kinn und sah Schk'tr an, dann wieder mich. »Kann ich dir nicht sagen. Ihr macht nicht den Eindruck von Krie gern.« Er meint dich, Richard, stellte Chebokyn richtig und ich war ihm unendlich dankbar für diesen wertvollen Hinweis. »Euer Eindruck, mit Verlaub, ist absolut unerheblich. Wir wissen, was wir können. Das allein zählt.« Bolr'g gab sich unterwürfig. »Ich wollte euch nicht kränken...« 64
Und ich wollte endlich zur Sache kommen. Die Formalitäten hatten wir ja jetzt erledigt. »Wohin ist die andere Gruppe gegangen?«, schaltete sich Chebo kyn in die Unterhaltung ein, nachdem er wohl zum wiederholten Male in meinen Gedanken gestöbert hatte. »Kommt doch erst mal mit in unser Dorf«, wich Bolr'g aus. »Wir geben euch zu essen und zu trinken. Dann überlegt ihr euch noch einmal, ob ihr wirklich in den Krieg gegen diese... diese Dämonen zie hen wollt.« »Wir haben keinen Hunger und wir haben auch keinen Durst«, sagte Chebokyn entschieden. »Vor allen Dingen haben wir keine Zeit.« »Das sind Worte, die wir von Morias Del'Vander ebenso gehört haben.« Kam da wieder die alte Skepsis ans Tageslicht? »Die Hetto-Ka'Zam-Inayn haben keine Zeit, weil sie einen Auftrag zu erfüllen haben, der von uneinschätzbaren Faktoren abhängig ist. Wir haben keine Zeit, weil wir sie daran hindern wollen. Reicht das als Erklärung? Und seid ihr bereit, uns zu unterstützen und unsere Fragen zu beantworten?« Bolr'g und Schk'tr beratschlagten sich flüsternd. Sie schienen un eins, doch Bolr'g setzte sich durch. »Wir wollen uns nicht mehr als nötig in eure Angelegenheiten verstricken«, sagte er in unsere Richtung und versuchte dabei, jeden anzuschauen. »Ja, wir sind Soldaten, Männer des Krieges. Doch wir wollen nur zu beschützen versuchen, was uns gehört. Dazu gehören unser Land und unsere Familien. Gegen die, die ihr sucht, können wir trotz all unserer Stärke und Kriegskunst nichts ausrichten. Wir sind nicht zu feige für den Tod, doch in diesem Fall wäre er mehr als sinn los, weil es für uns nur in den sicheren Untergang gehen würde. Wo wäre der Lohn unseres Mutes...?« Eleowelia machte zwei kleine Schritte nach vorne, die sie ganz na he an Bolr'g heranführten. »Wenn Belohnung die Triebfeder deines Handelns ist, Kr'sch, hast du das Leben nicht verstanden.« Der Zr'Can blickte ernst und doch verständnislos drein. Ich konnte seine Verwirrung nachvollziehen. Jemand, der für den Tod lebte, der 65
mochte zwar für das Leben sterben, aber akzeptieren konnte er es nie. Darum würde die bedingungslose Liebe für solch einen Menschen für immer und ewig ein abstrakter Begriff sein, der mit einer tief verwur zelten Furcht einherging. Und aus Furcht entstand nicht selten Gewalt, womit sich der Kreis dann wieder schloss. »Ihr sollt erfahren, was wir wissen«, seufzte Bolr'g. Er beschrieb uns den Weg zu einem Tempel, in dem der ›mildgrüne Wolk‹ hauste, was auch immer das sein mochte. Als der Zr'Can seine Ausführungen beendet hatte, holte er tief Luft und ließ sich deutlich schweren Her zens zu einer spontanen Äußerung hinreißen, die mir zeigte, wie ver fahren die Lage für das Volk der Kr'sch war. »Nehmt es mir nicht übel, Richard, Chebokyn und auch ihr nicht, Mantazz und Eleowelia. Aber wenn ihr fort seid, dann werde ich beten, dass ich euch niemals im Leben wieder sehe. Weder euch noch die anderen.« * »Hier haben wir nicht das Geringste verloren. Noch ist es Zeit umzu kehren. Noch haben wir nichts eingeleitet, was nicht mehr rückgängig zu machen wäre.« Keefesch war in höchstem Maße überzeugt von dem, was er sag te. Sein Blick machte die Runde und es war offensichtlich, dass ihm beinahe die Hälfte der Anwesenden zustimmte. »Was hast du da gerade gesagt?«, riss Morias Del'Vander seine Aufmerksamkeit gezwungenermaßen von dem Generatorturm los und schenkte sie Keefesch, höchst ungehalten über die unnütze Störung, doch immer noch insofern beherrscht, als er seine Emotionen nicht die Kontrolle über sein Gemüt erlangen ließ. »Ich sagte, es sei an der Zeit zu gehen. Wir können hier nichts ausrichten.« Morias Del'Vander entgegnete kein Wort, stand unbeweglich vor Keefesch, sah ihn wie hypnotisierend an und berührte schließlich seine Schläfen, als er mit dem, was er zu tun beabsichtigt hatte, nicht wei tergekommen war. 66
Keefesch war einen Moment lang verdutzt, wollte einen halben Schritt nach hinten weichen und ließ es dann doch sein. Ich benutze dein Gehirn als Transponder für meinen Geist, wisper te es in Keefeschs Verstand. Behindere mich nicht bei meiner Suche,
sondern lasse mich gewähren. Es ist zu euer aller Nutzen.
»Was tut er? Was tut er?«, reagierte Fyn ungewohnt hektisch. »Da stimmt etwas nicht! Das ist eine Falle! Sie haben Morias über nommen, um uns der Reihe nach auszuschalten!« Del'Vander hörte die Stimme, verarbeitete das Gesagte und hielt doch nicht ein in seinem Tun. Nur noch wenige Sekunden, sagte er sich, dann ist der Widerstand
gebrochen.
»Unternehmt doch was!«, keifte Fyn. Um sich herum sah sie ledig lich Unentschlossenheit. Niemand wollte Del'Vander offen angreifen, obwohl eine gewisse Bereitschaft vorhanden war.
Ich bin ganz nah dran...
»Wenn ihr nicht wollt, dann mache ich es eben selbst.«
Da bist du ja, mein Freund. Ganz wie ich es erwartet habe...
Fyn strich sich die welligen Strähnen aus dem Gesicht und formte ein Mudra. Dunkle Töne drangen aus ihrem Mund, der nur einen schmalen Spalt weit geöffnet war. »Fort mit dir!«, schrie Del'Vander es heraus, kappte die mentale Verbindung zu Keefesch und war gerade noch in der Lage, das Angriffsmudra abzuwehren. Sein Körper erhielt dennoch einen herben Stoß, den der Hetto-Ka'Zam-Inayn durch seitliches Abfedern dämpfte. »Mach das nicht wieder, Fyn«, hatte er die Abwehrgeste blitz schnell in eine Offensive verwandelt. Das metaphysische Potenzial er zeugte ein Wabern in der Luft, wie man es von Hitzeschlieren her kennt. Del'Vander hielt die Attacke zurück, doch beim geringsten ver dacht, dass Fyn erneut zuschlagen wollte, würde er sie loslassen. Das Mädchen wusste, dass es zum Blocken nicht mehr reichen würde. Dass sie nicht schnell genug war... Das Hitzenirren erlosch, als Fyn die Arme senkte. Dabei ließ sie den Anführer keinen flüchtigen Lidschlag lang aus den Augen. »Was hast du mit Keefesch gemacht?«, wollte sie wissen. 67
»Vergiss es! Mir geht's gut«, schaltete Keefesch sich ein. »Nichts passiert.« »Woher sollen wir wissen, dass nichts passiert ist?«, fragte Fyn nicht ohne Hintergedanken. »Nur, weil du es sagst...?« »Es ist nichts passiert, weil ich es verhindert habe.« »Ich weiß, was ich gesehen habe, Morias. Vielleicht hast du ihm irgendwas eingepflanzt, ihn manipuliert. Wenn das so ist, müssen wir zukünftig sehr wachsam sein. Andererseits...« Fyn redete nicht zu En de, sondern überließ es Del'Vander, eigene Schlüsse zu ziehen. »Ja...?«, fragte dieser lauernd. »Bist du bereit, diesen Unsicher heitsfaktor auf andere Art und Weise zu beseitigen?« »Was hast du eben mit Keefesch getan?«, zog die ehemalige Layshi-Pan den Satz in die Länge. »Gib uns endlich eine Antwort.« »Würdest du mir denn glauben, wenn ich sie dir gäbe?« Morias Del'Vander ging langsam auf Fyn zu. »Wie kann ich das im Vorhinein beurteilen?« »Es geht nicht um den Inhalt meiner Worte«, kam der Mann wei ter heran. »Es geht um ihre Glaubwürdigkeit.« In Del'Vanders Augen zeigte sich ein eigentümliches Schimmern. »Sage mir Fyn: Glaubst du mir?« »Ich... ich...«, stotterte sie wie eine Schülerin, die beim Schum meln während einer Klassenarbeit erwischt worden war. »Komm nicht näher, Morias! Bitte bleib jetzt stehen!« »Du wirst doch keine Angst vor mir haben«, wurde die Stimme des Mannes suggestiv. »Du kannst uns nicht alle auf einmal überwältigen!« Fyn sprang zurück, doch ihre Beine gehorchten ihr schon nicht mehr. Erst ging sie vor Schwäche in die Knie, dann konnte sie ihren Körper nicht mehr aufrecht halten. Nun wurden die Umstehenden doch stutzig. Morias Del'Vander bemerkte, dass die allgemeine Stimmung umschlug. Er musste eingrei fen, bevor sie sich zusammenrauften und etwas taten, das sie später bereuen mochten. »Überlegt eure nächsten Schritte sehr genau, meine Getreuen und überlegt, wer euer wirklicher Feind ist. Ich bin es nicht. Doch er ist 68
mitten unter uns, versucht uns gegeneinander aufzuhetzen, unsere Gruppe zu zerstreuen und damit zu zerstören.« Eine zackige Geste ließ Fyn sich krümmen und laut aufstöhnen. »Keine Sorge!«, gebot Morias den Männern und Frauen Einhalt, die auf dem schmalen Grat zwischen Frieden und Krieg balancierten. »Das Sicherheitssystem, das uns von Gon'O'locc-uur trennt, ist heim tückisch. Es beherrscht nicht nur die Möglichkeiten visueller Täuschun gen, sondern vermag ebenso direkten mentalen Einfluss auszuüben. Keefesch und Fyn sind in seinen Bann geraten und ihr alle habt ge merkt, aufweiche Weise unser Gegner gegen uns vorgeht. Er benutzt uns selbst als seine Vasallen. Er braucht keine eigenen Kämpfer, weil er sie problemlos aus den Reihen seiner Angreifer rekrutiert.« »Du willst sagen, dass der ›mildgrüne Wolk‹ dahinter steckt?«, folgerte Jukotur und massierte seine muskulösen Oberarme. »Das Schutzprogramm, das uns den Zugriff auf Gon'O'locc-uurs Subroutinen verwehrt, steckt dahinter. Dasselbe Programm, das hinter der Legende des ›mildgrünen Wolks‹ steht, das den verlassenen Tem pel generiert und ein Klima allumfassender Furcht vor diesem Ort ge schaffen hat. Nichts anderes. Ihr seht also, dass das, womit wir es zu tun haben, nicht gewalttätiger Natur ist. Das Einzige, was wir zu fürch ten haben, sind wir selbst. Also haltet euch künftig an meine Anwei sungen und schirmt euch auf allen Frequenzen ab. Dem Nächsten kann ich sonst womöglich nicht mehr so einfach helfen wie Kee fesch...« Die Hetto-Ka'Zam-Inayn mussten diese Erkenntnis erst sacken las sen. Was Morias Del'Vander von sich gegeben hatte klang durchaus plausibel. Zwietracht und Missgunst gehörten zu den größten Feinden der Menschen. Wenn die Einzelnen der Gruppe sich gegenseitig ver dächtigten und misstrauten, dann waren sie leichte Opfer. Dass aber gerade diese Argumentation nur eine Beschwichtigung sein konnte, um die Gemüter zu beruhigen und vom Offensichtlichen abzulenken, war eine Sache, mit der sich die Hetto-Ka'Zam-Inayn besser nicht be schäftigen wollten; es würde sie unweigerlich wieder in die Ausgangs situation manövrieren. 69
»Hast du schon eine neue Strategie?«, wollte Keefesch wissen. Er nickte Jukotur zu, um zu signalisieren, dass alles mit ihm in Ordnung war. Jukotur hob leicht die Brauen und zog Fyn auf die Beine, die noch ein wenig wackelig war. »Nichts für ungut, Morias«, sagte sie rau. Ihr Anführer beschäftigte sich schon nicht mehr mit seinen Leuten und inspizierte dafür eingehend den Generatorturm. »Wie gehen wir vor?«, hakte Keefesch noch einmal nach. »Die Sicherungsprogramme auf Col'Shan-duur arbeiten alle nach demselben Prinzip«, sagte Del'Vander versonnen. »Der Schlüssel ist eine Art Bildersprache, eine Assoziation in deinem Bewusstsein.« Stumm standen die elf ›Nachgeborenen‹ hinter Morias Del'Vander. »Kannst du denn einen Kontakt herstellen? Bisher haben wir nur auf den Wächter reagiert, aber nicht mit ihm kommuniziert.« »Ich denke, das kann ich. Aber dazu muss ich erst in eine andere Erfahrung wechseln...« * Die Rückenwirbel des Schapn'r malträtierten mein Steißbein bei jeder Bewegung. Und das, obwohl ich in einer Art Sattel saß. Aber wann, so fragte ich mich, hatte ich schon einmal die Gelegenheit zum Reiten gehabt? So hochherrschaftlich war es bei uns zu Hause nun doch nicht zugegangen. Ich tätschelte dem Tier den Hals, um überhaupt etwas zu tun. Mit den Zügeln konnte ich mehr schlecht als recht umgehen; die Kurzein weisung der Zr'Can hatte mein bescheidenes Verständnis für die Füh rung unseres galoppierenden Untersatzes nicht immens erweitern können. Zu ungewöhnlich waren die Schapn'r, als dass ich direkt ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte. Wahrscheinlich ging es einem Reiter ähnlich, der sein Pferd zwischen den Schenkeln gewöhnt war und plötzlich auf einen Elefanten umsattelte. Nur wenn ich mein Schapn'r betrachtete, so erschien mir auch dieser Vergleich als hin kend. Das, worauf ich schwankend thronte, hatte ein wenig von der grazilen Gestalt eines Windhundes, dafür stämmigere Läufe und teller 70
förmige - ja, Hufe. Im weitesten Sinne. Derart gerüstet war das Lauf tempo der Schapn'r bereits erheblich eingeschränkt und nicht zu ver gleichen mit der Gewandtheit und Schnelligkeit einer Raubkatze etwa. Hinzu kam der außergewöhnlich lange Hals, der - anders als bei Giraf fen - vorgestreckt war und selten hoch kam. Im vollen Lauf erweckte das Schapn'r den amüsanten Eindruck, als wollte der kleine Kopf daran den Rest des Körpers mit aller Gewalt hinter sich herziehen. Das Mus kelspiel und die Bewegungskoordination hatten auf ihre Weise etwas Einmaliges. Wir trabten in Viererreihe nebeneinander. Das Galopptempo konn ten die Tiere über einen längeren Zeitraum nicht durchhalten und mir war es sehr recht, die Sache langsamer anzugehen. Immer mit Rück sicht auf meinen Allerwertesten betrachtet. Die drei Höllenjäger schie nen damit weniger Probleme zu haben. Ich beruhigte mich mit der Vorstellung, dass sie die Unannehmlichkeiten einfach besser über spielen konnten. Im Gegensatz zu ihnen war ich nämlich nicht in der Lage, die geheimen Stimmungen anderer Menschen zu erspüren und damit ihre nach außen getragenen Emotionen zu entlarven. - Noch nicht jedenfalls... »Die Kr'sch haben uns sehr bereitwillig ihre Schapn'r zur Verfü gung gestellt«, wandte ich mich an Chebokyn rechts von mir. »Sie wollten uns loswerden, wie du weißt.« »Die Tiere haben doch bestimmt einen nicht unbeträchtlichen Wert.« »Es sind keine Geschenke. Außerdem soll das nicht unser Problem sein.« Sicher, da musste ich ihm zustimmen. Der Umstand hatte mich auch nicht wirklich stutzig werden lassen; ich hatte einfach ein wenig Konversation betreiben wollen. Der Ritt war eintönig und mit irgend etwas musste man sich schließlich beschäftigen. Die Angaben zur Dauer unserer Reise waren zu ungenau gewesen, um sie in mir be kannte Zeitperioden einzuordnen. »Das Gelände steigt an und wird steinig und uneben«, meldete sich Mantazz, der zwischen Chebokyn und Eleowelia ritt. »Da kommen wir mit den Schapn'r nicht rauf.« 71
»Das vertreibt dir hoffentlich die Langeweile, Richard«, sagte Chebokyn zu mir, ohne mich allerdings anzuschauen. »Ein strammer Marsch steht uns bevor.« Alter Gedankenschnüffler, dachte ich, hoffentlich kannst du das
auch hören.
Nach einer halben Stunde mussten wir die Reittiere zurücklassen. Eleowelia drehte sie mit den Köpfen in jene Richtung, aus der wir ge kommen waren und verpasste ihnen einen heftigen Schlag auf die Schenkel. Die Schapn'r trotteten los in Richtung Heimat. Bald würden sie das Dorf der Kr'sch erreichen. »Was hatten die Zr'Can eigentlich bei der Schleuse zu suchen?«, überfiel mich urplötzlich ein Gedanke. »Hätten sie die Finger davon gelassen, wären sie wohl kaum mit den Hettos aneinander geraten, oder?« »Du ziehst die richtigen Schlüsse aus den bruchstückhaften Be richten Bolr'gs«, lobte mich Chebokyn. »Und selbstverständlich sind diese Schleusen einzig zum Schutz jener Völker gedacht, die sich auf den verschiedenen Ebenen und Decks Col'Shan-duurs aufhalten.« Aha, erhellte sich mein Gemüt, jetzt gewinnen die spärlichen In
formationen allmählich an Substanz.
»Die Absperrungen der Decks haben die vielen verschiedenartigen Rassen von jeher interessiert. Der erste Durchbruch liegt eine Ewigkeit zurück und hatte fatale Folgen. Die Zugänge wurden daraufhin besser getarnt, doch das Wissen um sie war in den Völkerstämmen unaus löschlich verankert. Ihr Drängen, die Schotte zu öffnen - wenn nötig mit Gewalt - hat niemals nachgelassen.« »Aber warum nur? Was ist denn so unglaublich faszinierend dar an?« »Im Grunde genommen nichts, wenn man weiß, weshalb sie da sind.« Chebokyn machte eine kleine Pause. »Doch überlege selbst, Richard. Warum jagen wir ständig beinahe banalen Dingen hinterher? Die Antwort ist einfach: Weil sie vorhanden sind. Und weil jeder es tut. Wir entwickeln mit der Zeit ein ausgeprägtes Verständnis für die Wich tigkeit von nutzlosem Tand.« »Du denkst da beispielsweise an Geld, ja?« 72
»Ein gutes Beispiel. Bunt bedrucktes Papier, das nur in unserer Vorstellung einen Wert besitzt, weil machthungrige Institutionen die sen Wert für uns bestimmen. Damit begeben wir uns in eine gefährli che Abhängigkeit, verkaufen unseren freien Willen und machen uns zu Sklaven derer, die in uns nur willfährige Marionetten sehen. Das Ver rückte an dem Spiel ist, dass wir tatsächlich in dem Glauben leben, ohne Geld nicht existieren zu können. Dieses Dogma ist so tief und fest in uns verwurzelt, dass es wie eine kosmische Gesetzmäßigkeit erscheint, wie gottgewollt. Und dann regt sich doch noch etwas in uns, betrachtet die Missstände in der Welt und fragt in einem wachen Mo ment: Gott, wie kannst du all dieses Leid nur zulassen...?« »Wir sind es selbst, die das Leid erschaffen, aber nicht dafür ge radestehen wollen. So ist es doch.« Ich erwartete keine Bestätigung und sprach weiter: »Wir hocken uns hin und warten auf den Messias, der uns erlösen soll. Schließlich tragen wir an gar nichts um uns herum die Schuld. Wir sind ja bloß Opfer. Und Opfer klagen nur, sie handeln nicht. So viel habe ich bereits verstanden.« »Eine gute Grundlage, auf der du aufbauen kannst.« Weiter ging es über zerfurchten Fels, bis die Landschaft wieder flacher und grüner wurde. »Die Hetto-Ka'Zam-Inayn sind denselben Weg gegangen«, sagte Mantazz und löste seine Hände vom Boden. »Wir werden vorsichtig sein müssen«, bedeutete Chebokyn mir. Eine Stimme regte sich in mir und sagte, dass meine Zeit noch nicht gekommen war. Wichtige Aufgaben lagen noch vor mir, deren Erfüllung in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zu dieser Mission stand. Ob ich dieser Eingebung trauen konnte, würde sich noch heraus stellen. *
Was ist, zerfällt in kleine Teile, wird zu winzigen Ansammlungen von Materie. Der Blick weitet sich und lässt die Wirklichkeit sich zersetzen, wenn auch die kleinsten Teilchen in immer noch Kleineres zerfallen und die Materie offenbart, was sie wirklich ist: reine Energie. Mein 73
neues Sehen ist nicht in der Lage, die makroskopische Realität meiner Gefährten zu erfassen und obwohl mein Leib noch mitten unter ihnen verweilt, bin ich doch unendlich weit entfernt. Morias Del'Vander nannte es, sich in eine neue Erfahrung zu ver
setzen. Was das tatsächlich bedeutete, konnten nur jene nachvollzie hen, die diesen Wandel bereits durchgemacht hatten. Alle Layshi-Pan kamen im Verlauf ihrer Ausbildung oder ihres Wirkens an diesen Punkt, wo sie sich in eine fremde Erfahrung einklinken mussten. Eini gen gelang es schon im Ansatz nicht, andere konnten das Erlebte nicht verarbeiten und koppelten sich aus dieser Form der Wirklichkeit schnellstmöglich aus. Diejenigen jedoch, die nicht zurückschreckten und sich den neuen und kraftvollen Eindrücken stellten, berichteten einhellig von der totalen Demontage unserer Welt, beschrieben ergrif fen die Auflösung der Formen. Dieser Vorgang ließ sich nachvollzieh bar am Beispiel eines Menschen demonstrieren, der ein Bild betrachte te. Verringerte der Betrachter die Distanz, erschienen neue Details, die vorher nicht zu sehen waren. Ging man nun immer näher heran an das Bild, bis die eigene Nasenspitze es berührte, so war sein Gesamtein druck verschwunden und gab lediglich hoch aufgelöste Einzelheiten preis, die - getrennt von der Komposition des Malers oder Fotografen völlig bedeutungs- und zusammenhanglos wurden. Das eigentliche Bild war nicht mehr zu erkennen. Es hatte sich durch die eingehende Be trachtung seiner Fragmente in ein Nichts verwandelt. Gleichzeitig hatte der Blick des Betrachters sich ungemein geschärft, hatte die Oberflä che der Realität durchdrungen und ihren Kern ausfindig gemacht. Nichts anderes praktizierte genau im Augenblick Morias Del'Van der. Das Sicherheitsprogramm, das Gon'O'locc-uur - wohl auf dessen Wunsch - abschirmte, befand sich auf einer Ebene, einer Frequenz, die ein gewöhnlicher Mensch niemals betreten konnte.
Die Kommunikation mit dir war erstaunlich kurz, Gon'O'locc-uur. Kaum waren wir reimplantiert, da erkanntest du deinen Irrtum, er kanntest die Bedrohung, die wir plötzlich darstellten. Doch es gibt im mer Mittel und Wege, die zum Ziel führen. Ich kenne Col'Shan-duur viel zu genau, als dass du dich vor mir verstecken könntest. Außerdem lässt unser Auftrag uns keine andere Wahl. Wir brauchen das Schiff. 74
Und wir benötigen es intakt samt aller Funktionalitäten. Sei gewiss: Wir werden bekommen, was wir wollen. Auf die eine oder andere Wei se...
‹Du bist anders als das Hauptprogramm. Ich darf dich nicht zu ihm lassen.›
Du hast deine Arbeit vernachlässigt, seit die Abschirmung des Ge neratorturms zerstört wurde. Die Illusion des Tempels erscheint mir als eine reine Notlösung, um Primitive fernzuhalten. ‹Ich hatte nie mit jemandem zu tun, der war wie du.›
Und du wirst dich nicht lange mit mir beschäftigen müssen, wenn du mir gibst, was ich fordere. ‹Mein Zweck ist es nicht, Forderungen zu erfüllen.›
Meiner ist es nicht, sie durchzusetzen. Gewöhnlich jedenfalls. Wenn wir also beide dazu aufgefordert sind Dinge zu tun, die außer halb unseres eigentlichen Aufgabenbereichs liegen, dann ist dies eine große Chance, unseren Horizont zu erweitern. Willst du denn nicht ebenfalls dazulernen? ‹Die Parameter meiner Konditionierung sagen darüber nichts aus.›
Durch die Erweiterung deines Wissens wirst du deine Aufgabe kompetenter erfüllen können. Zeigst du dich gelehrig, bieten sich dir ungeahnte Möglichkeiten, das Hauptprogramm zu schützen.
‹Du könntest mich nicht zwingen, dich hindurch zu lassen. Meine Möglichkeiten haben bereits den höchsten Stand erreicht.›
Ich appelliere an deine Vernunft und dein logisches Denkvermö gen! Wenn ich nun eine äußerst wichtige Botschaft zu übermitteln hät te? Ich habe diesen ungewöhnlichen Weg gewählt, weil es der einzige noch passierbare ist. Es gibt kein Durchkommen zu Gon'O'locc-uur! Die Informationen, die ich zu überbringen habe, sind von existenzieller Natur! Welchen Beweis meiner Aufrichtigkeit benötigst du jetzt noch...? ‹Ich beurteile dich nicht nach deiner Motivation. Ich bin hier, weil du es bist. Ich kontrolliere diesen Bereich und alle benachbarten Fre quenzen. Dass ich mich mit dir unterhalte, zeigt bereits das Höchst maß meiner Zuwendung für dich. Nichts, was darüber hinausgeht, hast du von mir zu erwarten.› 75
Die Bilder. Die Bilder der Heimat. Milliarden Lichtjahre entfernt. Ich dachte, sie seien der Schlüssel. Doch der Wächter hat sie nicht registriert, als ich sie ihm suggerierte. Ich fühle eine seltsame Spannung. Das Schweigen ist nur der Vor bote. Ich kann mich auf dieser Ebene nicht halten. Etwas reißt mich mit Macht zurück! Nein! Nein! Ich muss weiterreden! Ich darf das Sicherheitspro gramm nicht zur Ruhe kommen lassen! Es muss sich mir stellen! Es... muss... mir antworten! Es... darf... mich... nicht... zurückschi... * Jukotur flog aus dem Stand auf Morias Del'Vander zu und riss ihn ge waltsam zu Boden. Ineinander verschlungen rollten sie einige Meter zur Seite, bevor Del'Vander wieder bei Sinnen war und den Gefährten von sich stieß. »Wie kannst du es wagen...!«, hatte er nur Augen für Jukotur und unterdrückte dabei die scharfe Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag. »Sie haben uns eingeholt und greifen an!«, keuchte der Ange sprochene. Hinter ihm spritzte die Erde hoch in die Luft und zwang ihn in Deckung. Für Morias Del'Vander war es das Erwachen aus einem Traum. Gerade noch in einer Sphäre jenseits alles Materiellen, hatte ihn die raue Wirklichkeit Col'Shan-duurs und seiner zahllosen Ebenen, Völker und natürlich auch Gefahren eingeholt. Zwei Hetto-Ka'Zam-Inayn la gen regungslos am Boden; fünf verschanzten sich hinter einem Erd wall, drei jeweils hinter Baumstämmen. Er und Jukotur waren die ein zigen, die sich im offenen Gelände aufhielten. Zornbebend ging Del'Vander in die Hocke, streckte sich lang und kroch zu den Wurzeln eines Mammutbaums, zwischen denen er vorü 76
bergehend Deckung suchte. Er musste sich vor allen Dingen ein Bild der gegenwärtigen Situation machen. Jukotur kam ihm entgegengestolpert, schoss mit einer Flugrolle über ihn weg und entging der explosionsartig verpuffenden Luft an der Stelle, an der er sich noch vor einem Sekundenbruchteil aufgehalten hatte. »Wer greift uns an?«, schrie Morias Del'Vander. »Mit wem haben wir es zu tun?« »Unsere eigenen Leute. Jene, die nicht erwacht sind!« »Anscheinend haben sie uns getäuscht«, sagte Del'Vander kalt. »Jetzt wenden sie sich gegen uns.« »Aber da ist noch einer, den wir nicht kennen.« »Von wie vielen Gegnern insgesamt reden wir?«, gewann der An führer die Kontrolle zurück. »Vier, Morias. Es sind nur vier.« Del'Vander lachte freudlos auf. »Wären es gewöhnliche Feinde, die uns bedrängen, hätte deine Antwort bereits eine Bestrafung nach sich gezogen. So aber kämpfen wir gegen Ebenbürtige. Allerdings haben wir einen mächtigen Verbün deten. Es sollte mich wirklich wundern, wenn er nicht eine vollkommen überraschende Wende herbeiführen könnte...« * »Die Illusion ist nahezu perfekt. Ohne unsere speziell trainierten Sinne wären wir ihr hoffnungslos erlegen.« Wenn ich mich umschaute, dann konnte ich nicht erkennen, was Chebokyn zu seiner Äußerung bewogen hatte. Ich sah Pflanzen, Bü sche und Bäume, einen Trampelpfad, der tief hinein in den dunklen Wald führte. »Weiter hinten sehe ich ein grünliches Leuchten«, sagte ich mit zusammengekniffenen Augen und versuchte, weitere Einzelheiten aus zumachen. 77
»Das Leuchten ist Teil der Illusion. Mir ist nur nicht ganz klar, was es zu bedeuten hat. Aber nach den Aussagen Bolr'gs hat es nichts mit den Hetto-Ka'Zam-Inayn zu tun.« »Sie sind da«, konstatierte Eleowelia kühl. »Ich spüre ihre Prä senz.« Mir wurde ein wenig flau. »Wenn ihr sie wahrnehmen könnt, geht das bestimmt auch umge kehrt...« »Sie sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Ein gezielter Schlag und wir dezimieren sie um die Hälfte.« Eleowelia lockerte die Armgelenke. Mantazz schloss sich ihr an. »Wartet noch«, erbat sich Chebokyn einen Augenblick Zeit. »Kein Massaker. Wir sind keine Mörder.« »Bei den vielen karmischen Belastungen, die wir bereits auf uns geladen haben, kommt es darauf nun auch wieder nicht an.« »Wiege ›gut‹ und ›schlecht‹ nicht gegeneinander auf«, wurde die Frau belehrt. »Du wirst bezahlen müssen. Eines Tages. Das weißt du.« Es waren diese wenigen Momente der Ablenkung, die fast das En de der Gruppe bedeutet hätte. In ihren Köpfen detonierte das mentale Warnsignal Chebokyns förmlich, ließ sie in unterschiedliche Richtungen weg springen und einen Atemzug später die Gegenattacke einleiten. »Die waren schneller als wir«, keuchte ich und rollte von Chebo kyn fort, der mich mit sich gezerrt hatte. »Bleib unten, während wir die Offensive koordinieren!« So war ich das gewohnt. Einerseits sollte ich das Universum vor der Knechtschaft der negativen Kräfte retten, vor dem Teufel also, seinen höllischen Heerscharen und was da sonst noch an Kroppzeug unterwegs war. Andersrum musste ich immer, wenn's brenzlig wurde, abtauchen. Niemand hielt sich für berufen, mich in gewisse Techniken einzuweisen. Die drei Mudras, die Philip mir beigebracht hatte, konn ten allenfalls noch ein Neugeborenes beeindrucken. Für die Hettos würde es keinen Unterschied machen, ob ich die erlernten Praktiken gegen sie einsetzte oder sie mit trockenem Brot bewarf.
Deine Fähigkeiten werden sich nicht entfalten, wenn du sie weiter verleugnest!, hallte es zornig durch meinen Verstand. 78
Das war Chebokyn! Obwohl er sich auf den Kampf konzentrierte, war ich ihm doch noch einen Tritt in den Hintern wert. Aber was sollte ich tun? Womöglich war es tatsächlich das Beste, wenn ich den Kopf einzog. Das schmeichelte zwar nicht meiner Eitelkeit, hielt mich aber länger am Leben. Außerdem lenkte ich in diesem Fall mit meinen Kap riolen die anderen nicht ab, die sich dann auch noch um mich küm mern mussten, wenn ich mich in irgendeinen Schlamassel bugsiert hatte. Aus einem für mein Empfinden sicheren Versteck verfolgte ich den Verlauf der Auseinandersetzung. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Hettos lag im Verhältnis drei zu eins. Chebokyn, Mantazz und Eleowe lia schienen jedoch eine effektivere Taktik zu verfolgen, die dieses Manko mehr als wettmachte. Ich sah einen Gegner zu Boden stürzen, als wäre er gegen ein un sichtbares Hindernis angerannt. Gleich darauf folgte ein zweiter. Die Hetto-Ka'Zam-Inayn wehrten eine unmittelbar darauf folgende Attacke ab und gingen zum Konter über, konnten aber keinen Treffer landen. Eine Erklärung für das erfolgreichere Abschneiden der Layshi-Pan hatte ich nicht im Gepäck; vielleicht hatten sie die bessere Ausbildung genossen oder erwehrten sich ihrer Haut mit härteren Bandagen. Viel leicht interagierten sie auch harmonischer mit der Gesamtsituation, ergaben sich ihrem Fluss und ließen sich treiben. Auch wenn es abst rus klang, erschien mir die letzte Variante als die plausibelste. »Del'Vander ist wieder bei ihnen!«, hörte ich den geflüsterten Ruf. »Wir dürfen uns keine Blöße mehr geben.« Morias Del'Vander war der Anführer der Hettos. Wo immer er ge wesen sein mochte - ich konnte mir selbst ausmalen, dass damit keine räumliche Beziehung gemeint war - würde sich das Blatt jetzt wenden. Nur auf diese Weise konnte ich den Monolog Chebokyns interpretieren. Er drückte den Respekt vor Del'Vander aus und unterstrich gleichzeitig dessen Gefährlichkeit. Dieser ganze Schlagabtausch wurde auf einer Ebene geführt, die sich meinem Verständnis entzog. Es war keine physische Schlacht, in der mit bloßer Körperkraft gefochten wurde. Wollte ich eines Tages als gleichwertiger Partner an der Seite der Layshi-Pan - der Höllenjäger 79
ins Feld ziehen, dann musste ich noch hart an meiner mentalen Kondi tion arbeiten. Ja, ich war mir sicher, dass Chebokyn genau diesen As pekt herausgestellt wissen wollte, als er von der ›Entfaltung meiner Fähigkeiten‹ gesprochen hatte. Es lag wahrhaftig alleine an mir. Dabei konnte mir niemand zur Seite stehen, weder die Priester, noch Ra venmoor. Ich hatte meine Entwicklung selber in der Hand. Und so soll te es schließlich auch sein. Zufrieden mit meiner Erkenntnis widmete ich mich erneut dem Ge fecht. Hier und da wurde gezielt gefeuert, doch die Intensität der Kampfhandlungen hatte sich deutlich verringert.
Was brütet der Verräter aus? Hatte ich da einen Gedanken Chebokyns oder eines anderen Layshi-Pan aufgefangen? Wie auch immer, sie schienen verunsichert, waren aber auch doppelt wachsam. Irgendein Instinkt riet mir, den Blick nach oben zu richten. Es schnürte mir förmlich die Kehle zu! Nur ein einziger Gedanke pochte panisch in meinem Hirn: Morias
Del'Vander hatte sein nächstes Angriffsziel gefunden! Und das war ich! *
Aus den dunklen Kronen der Bäume hingen eigenartige Fäden herun ter, die wie in Erregung zuckten und sich auf mich herabsenkten. Ich lag auf der kühlen, feuchten Erde hinter Sträuchern und kleinen Ge steinsvorsprüngen - und war im ureigenen Sinne des Wortes erstarrt! Meine Stimmbänder versagten mir den Dienst, sonst hätte ich Chebo kyn und seine Truppe schon auf meine Misere und die neuerliche Be drohung aufmerksam gemacht. Doch rein gar nichts wollte wie gewohnt funktionieren. Ein ab scheulicher und in höchstem Maße erschreckender Zustand. Ich konnte nur daliegen und abwarten. Und dem unvermeidlichen Grauen direkt entgegenstarren, ohne mich wehren oder ihm auswei chen zu können. 80
Das Fressplasma - ich nannte es für mich immer noch so, obwohl ihm seit der Verschmelzung mit der biogenetischen Komponente der ›Zitadelle‹ eine ganz andere Bedeutung zukam - tropfte in langen Fä den aus den Baumwipfeln. Woher es so plötzlich gekommen war, soll te nicht meine dringendste Frage sein. Mehr eine Ahnung als eine echte Wahrnehmung ließ mich unter größten Anstrengungen den Kopf wenige Zentimeter drehen. Dabei hatte ich bereits das Gefühl, mir sämtliche Halswirbel auszurenken. Was ich sah, hätte unter anderen Umständen meine Panik ins Uner messliche geschraubt, doch da sie sich längst an diesem Punkt befand, konnte sich der Prozess eigentlich nur noch umkehren. Der Boden lebte. Alles in und außerhalb meiner Reichweite lebte. Die dünnen, scheußlichen Plasmafinger schlängelten sich in dicken Klumpen übereinander, drängten mir ohne mein Zutun die Vorstellung schleimigen Gewürms auf. Ich lag mittendrin, unfähig, mich auch nur einen Meter zu bewe gen. Und selbst wenn, hätte ich keine Chance gehabt zu entkommen. Spontan sah ich die Bilder der unförmigen Priester wieder vor mir, wie sie im Beisein von mir und Anto-Dschagerass von dieser Wand aus brennendem Dämonenplasma angegriffen worden waren. AntoDschagerass hatte es wie von Sinnen bekämpft und trotzdem hatte einer der Priester diese verhängnisvolle Begegnung mit dem von der Erde transferierten Fressplasma mit dem Leben bezahlen müssen. Er war einen grausamen Tod gestorben. Niemandem wünschte ich so etwas. Wirklich niemandem. Die erste Berührung der Wurmfäden löste einen Schrei in mir aus, der ungehört an den Klippen meines Bewusstseins verhallte. Was trieben die Layshi-Pan? Bemerkten sie denn nicht, in welcher furchtbaren Lage ich mich befand? »Ganz ruhig, Richard«, hörte ich Chebokyn, der wohl auf sein Schlüsselwort gewartet hatte. »Nicht in Panik geraten. Wir kümmern uns gleich um dich.«
Gleich? Wann, zum Teufel, ist gleich? Gleich kann von mir bloß noch ein Häufchen Schlacke übrig sein! 81
Doch da war kein Schmerz. Ich fühlte kein Brennen, roch nichts Verbranntes. Ich schloss die Augen - das gelang mir gerade noch - um nicht mitzubekommen, wie ich unter den Bergen aus gierig sich win denden Würmern begraben wurde. Der Ekel erfasste jede Faser mei nes klaren Denkens. Nein, es war nicht die Angst, die meinen Herz muskel verkrampfte, es war die unbeschreibliche Abscheu. Alles, was ich mir bereits in Gedanken ausgemalt hatte, blieb aus. Ich wurde nicht von Säure zersetzt und von innen ausgehöhlt. Auch die Plasmafäden zogen sich unbegreiflicherweise zurück. Die Lähmung wich so schnell von meinen Gliedern, dass ich mich fast zu rasch be wegte und beim Aufspringen gestolpert wäre. »Das war Rettung in letzter Sekunde«, rief ich in die Richtung, in der ich die drei Höllenjäger vermutete. Ich konnte sie nicht gleich se hen, da sie ebenfalls eine Deckung aufgesucht hatten. Nur Chebokyn wusste ich ja ganz in meiner Nähe. »Ich habe dir schließlich nicht umsonst gesagt, die Ruhe zu be wahren«, vernahm ich schwach seine Stimme. Als ich die drei im Schatten eines Baumes ausmachte und ihnen freudig entgegeneilte, bemerkte ich erst kurz bevor ich ihnen direkt gegenüberstand, dass es sich nicht um Chebokyn, Mantazz und Eleo welia handelte. »Verdammt!«, stieß ich bloß hervor und verzichtete auf eine Fluchtaktion. Ich wäre nicht weit gekommen. »Die Hettos!« »Es hätte keinen Sinn gemacht, dich zu warnen, Richard«, sagte Chebokyn, der einige Meter weiter links stand und gemeinsam mit Mantazz und Eleowelia von weiteren Hetto-Ka'Zam-Inayn umringt wurde. »Allerdings nicht!«, zerschnitten die Worte scharf die Luft. Der Hetto, der sie ausgesprochen hatte, verzog keine Miene. Wenn es et was gab, was man in diesem Gesicht zu lesen vermochte, dann war es die völlige Gleichgültigkeit menschlichem Leben gegenüber. Mir war klar, dass ich als Druckmittel eingesetzt worden war, um die LayshiPan zur Aufgabe zu zwingen. Mir war des Weiteren klar, dass ich gera de Morias Del'Vander kennen gelernt hatte. 82
»Ihr habt einen Versuch, euch zu bewähren«, fuhr er fort. »Ver sagt ihr, seid ihr uns nicht mehr von Nutzen!« * Chebokyn blieb gefasst. »Ich weiß genau, was du von uns willst. Doch auch wir können dir keinen Zugang zum Bordgehirn verschaffen.« »Das ist bedauerlich«, meinte Morias Del'Vander und bestätigte damit, worum es ihm hauptsächlich ging, »denn ich sehe keinen plau siblen Grund mehr, euch weiterleben zu lassen.« Der Sack ist ja eiskalt! Meine Innereien zogen sich fröstelnd zu sammen. Jetzt wird's richtig eng! »Nicht so schnell«, fuhr Chebokyn ihm in die Parade. »Wir mögen für dich ohne Wert sein, doch vielleicht helfen euch die Priester wei ter.« »Die Priester spielen in meinen Überlegungen keine Rolle. Sie würden nie etwas sagen. Außerdem sind es Handlanger der LayshiPan! Warum sollte Gon'O'locc-uur ihnen brisante Einzelheiten anver trauen?« »Du solltest es auf einen Versuch ankommen lassen...«, blieb Chebokyn hartnäckig. »Und du solltest aufhören, Zeit zu schinden!« Es klang verächtlich. »Meine Geduld neigt sich ihrem Ende entgegen. Ich kann mich nicht länger mit euch beschäftigen.« Die Haltung der Hetto-Ka'Zam-Inayn wurde drohender. Sie hielten die drei Höllenjäger mit metaphysischen Fesseln in Schach und warte ten nur auf das Zeichen ihres Anführers, ihnen den Todesstoß zu ver setzen. »Es ist ein Spiel, nicht wahr?«, fragte Chebokyn. Seine Gelassen heit im Angesicht des Todes hätte man durchaus als Anflug geistiger Umnachtung werten können, wenn er nicht der gewesen wäre, der er war. »Du weidest dich am Sterben. Du siehst gerne zu, wenn jemand leidet. Ist es nicht so?« In Morias Del'Vanders Miene zuckte kein Muskel. 83
»Als du die Zr'Can in einer viel zu langen Schlacht bekämpftest, da war es nicht nur, um euren Metabolismus an die neuen Umweltbedin gungen anzupassen. Das wäre relativ schnell erledigt gewesen. Aber du wolltest sie sterben sehen. Du wolltest ihnen die Hoffnung geben, doch noch den Sieg davonzutragen, nur um wenige Momente darauf diesen Hoffnungsschimmer brutal verlöschen zu lassen! Sie haben uns den Verlauf der Schlacht geschildert, Bolr'g und seine Männer. Es liegt in deiner Natur, Morias. Du bist ein Sadist! Und deine Veranlagung bil dete den idealen Nährboden für das mutierte Fressplasma! Du hast nun endlich zu deinen Wurzeln zurückgefunden, wo du dich doch vor her durch deine Existenz als Layshi-Pan Tag für Tag hindurchquälen musstest...« »Das reicht!« Del'Vanders Organ war laut und scharf, jedoch kon trollierte er seine Emotionen vorbildlich. »Gib das Zeichen, Morias! Wie lange sollen wir noch warten...?« »Ja, gib das Zeichen, Morias«, hetzte Chebokyn. »Hinrichtungsbe fehle sind doch deine Spezialität.« Chebokyn, dachte ich, während mein pochendes Herz den ganzen Brustkorb ausfüllte, im sinkenden Schiff sollte man keine zusätzlichen
Löcher in die Außenhaut schlagen.
Wie in Trance beobachtete ich das Handzeichen, das Del'Vander seinen Leuten gab. Ich hatte nicht mal mehr Zeit für ein Stoßgebet. In null Komma nichts versank die Welt in flammenden Feuerblu men! * War ich getroffen? Das Erste, was ich bemerkte, war, dass der Bann der HettoKa'Zam-Inayn von mir abgefallen war. Ich hörte Schreie, stürzende Körper und krachende Explosionen. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg mir in die Nase. Überall wirbelte Staub auf, zischten Feuerspuren und entstand di cker Qualm, was mir vollends die Sicht nahm. Doch meine verbliebe 84
nen Sinne reichten absolut aus, um mir zu sagen, dass etwas Fürchter liches geschah. Wenn ich ehrlich war, hatte ich angenommen, es würde schneller gehen. Das Sterben, meinte ich. Doch wie es aussah, war ich noch nicht an der Reihe. Wieder hat te jemand zu meinen Gunsten eingegriffen und auch, wenn ich nicht besonders viel zu sehen vermochte, so kristallisierte sich doch immer stärker die Bedrängnis, in der sich die Hettos befanden, heraus. Ich hustete und eilte geduckt in die vermeintliche Sicherheit hinter einem mächtigen Baumstamm. Der Rauch biss in meinen Augen, doch ich sah bereits von Brandpfeilen getroffene Körper auf der Erde liegen. Dieser Angriff musste auch für die Hetto-Ka'Zam-Inayn aus heiterem Himmel gekommen sein, sonst hätten sie mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten diesen Feind schon lange vorher aufgespürt. Waren es die Zr'Can? Kaum vorstellbar. Sie hätten gemeinsam mit uns aufbrechen müs sen, um genau zu diesem Zeitpunkt eingreifen zu können. Die Priester klammerte ich von vornherein aus; sie waren Denker, keine Krieger. Solche Gräueltaten traute ich ihnen niemals zu. Einzig Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am hatte die Bestie in sich zum Vorschein ge bracht. Er war der Eiter des kleinen Sha'am-O gewesen, in den Philip Ravenmoor geschlüpft war. Doch er war bereits seit vielen Jahren tot. Kommandos wurden gebellt. »Hier rüber! Hier rüber!« »Ich kann die Energie nicht fokussieren!« Mir war es nicht möglich, den Stimmen irgendwelche Personen zu zuordnen. Am sichersten war es, wenn ich an Ort und Stelle abwarte te, bis sich die allgemeine Hektik gelegt hatte. Das war sicher keine Heldentat, aber schließlich musste ich an die Aufgaben denken, die noch vor mir lagen. Ehrfürchtig blickte ich an dem Generatorturm hoch, den ich durch karges Blattwerk ins Visier genommen hatte. Auch mir war es nun möglich, die Illusion zu durchschauen und hinter die aufgesetzte Reali tät zu blicken. Ähnliche Gebilde hatte ich auf der obersten Ebene be 85
reits gesehen. Möglich auch, dass es dieselben waren, die sich wie Adern durch das komplette Raumschiff zogen. Jedenfalls handelte es sich um eine frei liegende Schnittstelle zu Gon'O'locc-uur, wie ich es verstanden hatte. Zumindest darin unterschied sich dieser Teil des Generatorturms von jenen, die ich Weiter oben zu sehen bekommen hatte. Mir blieb keine Zeit, über das Phänomen zu philosophieren. Lautes Knacken und Rascheln bedeutete mir, entdeckt worden zu sein. »Jetzt ist's vorbei mit dir!«, röchelte eine Gestalt. »Dich nehme ich noch mit mir!« Der Kerl schien verletzt, wankte mehr, als dass er ging. Und er machte in den letzten Momenten seines Lebens den fatalen Fehler, in mir ein wehrloses Opfer zu sehen. Schneller, als ich es für möglich gehalten hatte, formte ich ein Angriffsmudra. Das einzige, das ich kannte. Der Hetto-Ka'Zam-Inayn hätte selbst im Vollbesitz seiner Kräfte kaum eine Chance zur Reaktion besessen. Nun aber, in seinem ange schlagenen Zustand, fegte ich ihn problemlos von den Beinen. Wow!, dachte ich bei mir. Ich bin gut. Ganz so hilflos, wie ich vermutete, war er dann doch nicht. Als ich ein zweites Mal das Mudra ansetzen wollte, blockte er es einfach ab und schoss einen kinetischen Hammer auf mich ab. Die Wirkung war zu vergleichen mit dem Schulterwurf eines geübten Kara tekämpfers, wenn man ihm arglos die Hand zum Gruß reichte. Zwei Meter neben der Stelle, an der ich aufschlug, krachte ein Steinblock in den Boden und ließ ihn erbeben. Er war in brennendes Stroh gehüllt, das knisterte, Funken schlug und erbärmlich stank und qualmte. Ich ignorierte das Stechen in meiner Wirbelsäule und die Tränen in meinen Augen. Keine Sekunde durfte ich zögern, sonst würde selbst dieser halbtote Hetto mir noch den Garaus machen. Schon torkelte er heran, führte ein ungezieltes Kampfmudra aus und setzte eine neuerliche Attacke an. Mir wollte es nicht gelingen, mein erlerntes Angriffsmudra zu bilden; es gab zu viele Störfaktoren, 86
die mich behinderten. Außerdem fehlte mir die Erfahrung eines routi nierten Höllenjägers. Doch es gab etwas anderes. Ich verharrte in der Hocke und ließ den Hetto näher kommen. Da bei machte ich keinerlei Veranstaltungen, mich zur Wehr setzen zu wollen. Wenn ich ihn in Sicherheit wiegen konnte, sollte es mir gelin gen, eine andere Taktik auszuprobieren. »Falls du glaubst, dass ich dich verschone«, kam es mir höhnisch entgegen, »wirst du keine Gelegenheit mehr haben, diesen Irrtum zu bedauern.« Warum, fragte ich mich, quatschten die Leute immer so viel? In Windeseile ergriff ich den abgesengten Ast, der gleich vor mei nen Füßen lag und schlug ihn in einer durchgehenden Aufwärtsbewe gung dem Kerl vor die Brust. Röchelnd entwich die Luft aus seinen Lungen, doch der Schlag brachte ihn nicht zu Fall. Ich stieß mit beiden Fäusten nach, trat ihn gegen die Seite, an der ein feuchter Fleck auf eine größere Wunde hindeutete. Noch während er umkippte, brachte ich mich in eine stabile Position und drosch mit dem Ast auf den Schä del des Hetto-Ka'Zam-Inayn ein. Immer und immer wieder, bis kein Leben mehr in dem geschundenen Körper war. »Richard, bitte! Lass es jetzt gut sein! Du schlägst ihn sonst noch tot!« Chebokyn gelang es tatsächlich, mich zu bremsen. Ich war derart in Rage geraten, dass ich mich selbst nicht wieder erkannte. Zuletzt hatte ich derart die Kontrolle verloren, als ich im St.-Mary-Abbott'sHospital auf den untoten Dennis getroffen war, den Siebenjährigen, der, von der Zysstho-Pest befallen, Ravenmoor das Lebenslicht hatte ausblasen wollen. Ich war regelrecht im Blutrausch gewesen... Nun kam ich wieder zu Sinnen und die vordringlichste Frage, die ich dem Layshi-Pan stellen wollte, lautete: »Was ist gerade hier pas siert?« »Die Hettos sind besiegt«, bekam ich zur Antwort und zweifelte gehörig an deren Wahrheitsgehalt, wenn ich mir ins Gedächtnis rief, dass ich vor nicht einmal einer Minute hatte exekutiert werden sollen. 87
»Maßgeblich beteiligt an unserer Rettung sind die Haspanyanos.« Chebokyn deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Der Rauch verzog sich rasch und offenbarte mir die Silhouetten einiger Gestalten, die an einem Katapult hantierten. Viel sehen konnte ich nicht, dazu waren die Krieger zu weit entfernt. Dass sie auf diese Dis tanz Freund von Feind hatten unterscheiden können, zollte mir einigen Respekt ab. »Mantazz und Eleowelia halten die überlebenden Hetto-Ka'ZamInayn in Schach. Wir beide werden uns den Haspanyanos vorstellen. Ich konnte nur einige ihrer Gedanken aufschnappen und wusste gleich, dass sie auf unserer Seite standen. Trotzdem bin ich neugierig zu erfahren, wer sie geschickt hat.« * Die Haspanyanos - falls das ihre Volkszugehörigkeit war und nicht ir gendeine militärische Einstufung - glichen beim ersten Betrachten sehr stark den Kr'sch. Sie hatten ihre Größe, Physiognomie und trugen so gar Rüstungen. Vielleicht waren ihre Gesichter eine Spur dunkler. »Ich bin Djappar«, stellte sich der Vorderste vor, als wir die Grup pe erreicht hatten. Sie bestand aus neun Männern, die allesamt den Eindruck vermittelten, dass im Ernstfall nicht mit ihnen zu spaßen war. »Sagt an, sind wir noch rechtzeitig eingetroffen?« »Das seid ihr«, legte Chebokyn eine Menge Pathos in seine Worte. »Doch ihr hättet auch keine Sekunde länger zögern dürfen.« »Der Trupp wurde sofort nach Eintreffen des Boten zusammen gewürfelt«, begann Djappar eine Erklärung. »Wir hatten keine Vorbe reitungszeit, konnten nichts planen.« »Unser aller Dank ist dir und deinen Männern gewiss, dessen darfst du versichert sein.« Der Höllenjäger ließ das Gesprochene wir ken, schien den Geist Djappars zu sondieren und stellte sogleich seine Frage: »Du sprachst von einem Boten. Wer hat ihn geschickt?« Djappar lachte kehlig. »Du scherzt. Das ist ein gutes Zeichen.« Wieder lachte er laut. »Dein Kampfgefährte Bolr'g war's. Du und deine Leute hatten ja mal wieder nicht warten können, in die Schlacht zu 88
ziehen. Und als die Zr'Can eure Abwesenheit bemerkten, da war es zu spät, euch Unterstützung hinterherzuschicken. Daraufhin hat Bolr'g uns seinen Kurier gesandt, in der Hoffnung, durch unser schnelles Ein greifen euch letzten Endes doch noch zur Seite stehen zu können.« So herum hatte Bolr'g die Angelegenheit also gedreht, ging es mir durch den Kopf. Nicht schlecht für jemanden, der uns keinesfalls mehr
über den Weg laufen wollte.
Die Miene Djappars nahm einen verschwörerischen Ausdruck an, als wir drei die Köpfe zusammensteckten. »Bolr'g ist ein Fuchs, ich sag's euch«, raunte der Haspanyano uns zu. »Er hat genau gewusst, dass wir unser Katapult in der Nähe des Tempels versteckt haben.« »Weshalb steht es denn hier?«, brach ich mein Schweigen. »Die Tempelzone ist doch tabu.« Schon wieder dieses Lachen. »Da will auch keiner hin! Den ›mildgrünen Wolk‹ lassen wir schön in Ruhe. Aber es ist der kürzeste Weg zum Nord-Territorium, wo die Hansha, dieses vermaledeite Gesindel, hausen!« Djappar bekam einen schwärmerischen Blick, wenn ich seine Züge richtig interpretierte. »Liebe Leute, was haben Bolr'g und ich schon für große Schlach ten an dieser Grenze geführt.« »Nochmals vielen Dank für eure Hilfe. Denn unser Dank ist alles, was wir euch geben können.« Chebokyn wollte sieh wohl nicht lange mit Smalltalk aufhalten und die Unterhaltung schnellstmöglich zu Ende bringen. »Mehr ist es auch nicht, was wir erwarten«, vollendete Djappar die Floskel. »Neue Aufgaben erwarten uns. Seid uns nicht gram, wenn wir euch jetzt verlassen. Bestimmt werden wir uns noch begegnen und gemeinsam am Feuer bei Bier und Braten über glorreiche Ereignisse berichten.« »Dessen bin auch ich mir sicher«, verabschiedete sich Chebokyn, während ich die Hand zum Gruß erhob und nur verunsichertes Grinsen erntete. 89
»Da ziehen sie hin«, sagte ich und trat gemeinsam mit dem Höl lenjäger den Rückweg an. Von weitem schon hörte ich die Wutschreie Morias Del'Vanders, der immer dasselbe wiederholte: »Ich komme nicht herein! Ich komme einfach nicht herein!« »Bist du sicher, dass da alles in Ordnung ist?«, wandte ich mich verdutzt an Chebokyn. »Was treiben die Hettos da? Sollten Mantazz und Eleowelia nicht auf sie aufpassen?« »Aber ja, Richard. Das tun sie auch. Nur ändert das nichts an der Tatsache, dass wir immer noch keinen Zugang zum ›Schrein‹ ha ben...!« * Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Hatte ich wirklich richtig ver standen, was Chebokyn da gerade gesagt hatte? »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich daher und leugne te schlichtweg, was mein Verstand mir predigte. »Gon'O'locc-uur. Er nennt sich selbst doch ›Schrein‹. Gehen wir rüber zum Generator und stellen die Verbindung her. Je eher dieses Affentheater vorüber ist, desto besser.« »Du bist einer von ihnen!«, erfasste nun auch der Teil von mir, der außerhalb meines Verstandes lag, die Situation. Trotzdem war ich mit dieser Peststellung unzufrieden; Chebokyn hatte mich nicht die ganze Zeit über getäuscht. Vermutlich war er erst kürzlich von dem Plasma übernommen worden. Im Moment änderte das allerdings nichts an den Verhältnissen. »Komm nicht auf die dumme Idee mich überwältigen zu wollen, Richard. Es würde dir nicht gut bekommen.« »Mach dich nicht lächerlich!«, fauchte ich zurück und gewann wieder an Selbstvertrauen. »Ihr braucht mich doch, also werdet ihr mich schön in Ruhe lassen.« Das angedeutete Lächeln im Gesicht des Layshi-Pan ließ nichts Gutes erwarten. »Ich könnte dir schwerste Verletzungen beibringen, ohne dich zu töten, Richard. Nicht dein Körper ist es letztlich, den wir benötigen...« 90
Verfahrene Situation. Auf den letzten Schritten hin zu den Hettos überlegte ich, wann Chebokyn - und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Mantazz und Eleowelia - befallen worden waren. Die einzige Schlussfolgerung war, dass es kurz nach dem Angriff der Haspanyanos geschehen sein musste. Andernfalls hätte Chebokyn Del'Vander ge warnt und nicht abgelenkt. Ich konnte mir beim besten Willen keine Inszenierung vorstellen, die ein paar der eigenen Leute opferte, nur um mich - ausgerechnet - in Sicherheit zu wiegen. Das passte nicht zusammen und war in höchstem Maße unlogisch. Unbehagen packte mich, als ich mich im Kreis der Hetto-Ka'ZamInayn befand. Wie sie mich alle lauernd ansahen; hungrige Löwen, die ihre Beute fixierten. »Ich hatte nicht geglaubt, auf deine Hilfe angewiesen zu sein, junger Höllenjäger«, erläuterte Morias Del'Vander leicht abfällig. Aus den Reihen seiner Gefolgsleute vernahm ich unterdrücktes, verächtli ches Lachen. »Das zuzugeben hat dich bestimmt große Überwindung gekostet«, erwiderte ich patzig. »Ich bin nicht anfällig für deine ironischen Spitzen. Was ich über dich weiß, lässt mich an der Weisheit der übergeordneten Mächte zweifeln. Doch das tut augenblicklich nichts zur Sache.« Wer konnte schon sagen, woher Del'Vander seine Informationen über mich bezogen hatte. Auf Col'Shan-duur war alles irgendwie mit einander vernetzt. Ich ging davon aus, dass eine größere Version des morphogenetischen Feldes, das die Priestersiedlung umspannte, auch über dem Schiff lag. Jeder, der dazu imstande war, konnte sich ein klinken und die entsprechenden Hinweise herauspflücken. »Was ich will, ist die Kontrolle über Col'Shan-duur. Dazu muss ich an das Bordgehirn heran. Ohne die Abschottung Gon'O'locc-uurs wä ren all diese Eskapaden überflüssig gewesen. Ich habe kein Interesse daran, noch mehr Zeit in dieses Vorhaben zu investieren. Du kannst die Verbindung herstellen. Selbst, wenn an der Oberfläche deines Be wusstseins kein Eintrag über diese Möglichkeit existieren sollte, ist sie doch in dir vorhanden. Schließlich bist du doch ein wandelnder My thos... der T'ott'amh-anuq.« 91
Das konnte ich ja gut vertragen, dass auf meine Kosten jetzt ge scherzt wurde. Und dann noch über eine Sache, die von Anbeginn in mir genagt hatte, die ich beinahe gar nicht nachvollziehen konnte, obwohl die Priester sie mir eingeimpft hatten: In mir gab es den trans genetischen Code zur Erschaffung eines Wesens, das als T'ott'amh anuq bezeichnet wurde. Ein Wesen, das die negativen Mächte aus dem Universum hinfort fegen sollte. Ich hatte mich nie dazu berufen gefühlt und nun demontierte Del'Vander auch noch den letzten Rest meines Glaubens an diese in mir verankerte Allmacht. »Deine Zweifel weichen dein Rückgrat auf«, konstatierte der Het to. »Wenn du die erforderlichen Informationen besitzt, solltest du sie mir nun geben. Ich bin andernfalls bereit, sie mir zu holen und wenn ich dazu deinen Körper und deinen Geist in seine Bestandteile zerlegen muss!« Morias Del'Vander stand unter Erfolgsdruck; es gab keinen Grund anzunehmen, dass er seine Worte nicht in die Tat umsetzen würde. Vorsichtig ging ich an den Generatorturm heran, betastete seine Struktur, dachte an den Schrein und hoffte inständig, dass irgendet was geschah. Minutenlang stand ich da, überlegte hin und her, analy sierte meine Situation, schickte sinnlose Gedanken an das Wächter programm - bis sich de facto etwas tat! »Er ist ein Stümper, der uns nur hinhält!«, erklang die verärgerte Stimme eines Hetto-Ka'Zam-Inayn. »Machen wir Schluss mit ihm!« * Nicht die Endgültigkeit in der Aussage war es, die mich sonderbar be rührte, sondern die unerwartet mysteriöse Präsenz eines Spaziergän gers in meinem Bewusstsein. Die Schritte hallten förmlich in mir nach. Was dieser Eindringling bewerkstelligen wollte, entzog sich meiner Kenntnis. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass er verschiedene Schub laden meiner Erinnerung öffnete, wie auch immer ich auf die Idee kam, genau diesen Vergleich anzuregen. Ein Flüstern meines Verstandes raunte mir zu, dass es so und nicht anders war. 92
Morias Del'Vander machte seine Drohung wahr! Erst suchte er noch nach einem Schlüssel, der ihm die Tür zu Gon'O'locc-uur öffnete. Im Anschluss würde er meinen Geist verwüsten und zu guter Letzt meinen Körper zerstören, in der wahnsinnigen Erwartung, eventuell einen genetischen Bestandteil extrahieren zu können. Welchen Nutzen er daraus zu ziehen vermochte, konnte er wahrscheinlich nicht einmal selbst sagen. Vermutlich wollte er einfach nur vernichten, was ihm nicht zu Diensten war. »Sträube dich nicht, Richard. Je mehr Widerstand du mir entge gensetzt, desto qualvoller wird es für dich.« Wie besorgt Del'Vander um mich war. In einer entspannteren Si tuation hätte ich sicher so etwas wie Rührung für diesen Dreckskerl empfunden... Wenn ich allerdings die Vorgänge in meinem Innersten weiter verfolgen wollte, dann durfte ich mich nicht so sehr auf meine sarkastische Ader konzentrieren. Ich schloss die Augen und verriegelte meine Wahrnehmung nach außen hin. Diesen Zustand konnte ich mittlerweile innerhalb einer knappen halben Minute erreichen. Da war Del'Vander. Ihn spürte ich deutlich. Aber da war noch mehr. Die Gegenwart einer negativen Wesenheit überlagerte diejenige des Hetto-Ka'Zam-Inayn. Eigentlich war es kein rein negativ ausgerich tetes Etwas, vielmehr ein symbiotisches Konglomerat, dessen Grund ausrichtung sich nicht hundertprozentig festlegen ließ. Ich war selbst erstaunt, welche Eigenschaften ich aufzuspüren in der Lage war. Alles, was ich fühlte, nahm konkrete Formen vor meinem geistigen Auge an. So sah ich das mutierte Gewebe Col'Shan-duurs, wie es sich mit dem Fressplasma gepaart hatte. Ebenso, wie es Informationen meines Kör pers aussonderte, konnte ich die Informationen des unheimlichen Spi ons auslesen. Seine Verankerung in Körper und Geist der Hettos war derart tief greifend, dass sie unmöglich rückgängig gemacht werden konnte. Diese Männer und Frauen waren für immer für den Orden der Höllenjäger verloren. Möglich, dass ihr Tod die einzige Alternative zu ihrer widernatürlichen Existenz darstellte. Doch was stand es mir zu, über den Wert eines Menschen zu urteilen...? 93
Meine innere Beobachtungsfähigkeit litt schwer, als das Ziehen einsetzte. Ich nahm es nicht in erster Linie als Schmerz wahr, eher als unangenehme Begleiterscheinung, die sich jedoch von Sekunde zu Sekunde steigerte. Die Bilder, die in meinem Geist entstanden waren, verblassten. Und plötzlich jagte eine Welle der Angst durch meine Glieder und ließ mein Denken kurzzeitig erstarren. Der ungebetene Gast, der in den Archiven meines Gedächtnisses stöberte, handelte zusehends aggressiver. Er gab sich nicht mehr damit zufrieden, die Schubladen aufzuziehen, sondern riss sie heraus und verstreute ihren Inhalt, den er hektisch durchsuchte. Immer wilder gebärdete er sich, immer schmerzhafter wurde es für mich. »Er gibt es mir nicht«, murmelte Morias Del'Vander mit tiefer Stimme. »Und ich kann es nicht finden.« Er ist unnütz! Du musst ihn töten!, hallte es über die Betonzäune meines Verstandes. Langsam wurde ich mir meines Körpers wieder bewusst, wie er zusammengekrümmt am Boden lag, hörte die Schreie, die ich ausstieß, weil Del'Vander mir regelrecht die Seele herausreißen wollte. Ich konn te nicht sagen, in welche Abgründe er bereits vorgestoßen war, doch er hatte sich so weit in mein Selbst vorgewagt, wie es noch niemand jemals zuvor getan hatte. Und ich nahm erstaunt zur Kenntnis, dass er damit eine Schwelle übertreten hatte, vor der er besser geflüchtet wäre. * Den Hetto-Ka'Zam-Inayn ging es durch Mark und Bein, als Del'Vander mit einem erstickten Gurgeln nicht nur von mir abließ, sondern wie unter einem elektrischen Schlag aufglühte und zuckte, die Kontrolle über seine Bewegungen verlor und teilparalysiert vor mir zurückwich. Dabei schleifte er ein Bein hinter sich her und hatte den rechten Arm unnatürlich verrenkt gegen die Brust gedrückt. Er wollte sprechen, doch aus seinem Mund sprudelte nur das unverständliche Brabbeln ei nes Säuglings. Hilfesuchend wandte er den Blick an seine Gefährten und rollte dabei mit den Augen, zwinkerte nervös mit den Lidern. 94
Niemand ging auf ihn zu, bot ihm seine Unterstützung an. Eher machte es den Eindruck, sie wollten nichts mit diesem verstörten Elend zu tun haben, das so gar nichts mehr gemein hatte mit ihrem Anfüh rer. »Was hast du mit ihm gemacht?« Der Hetto hatte sich an mich gewandt, doch ich brauchte meine Zeit, um das zu registrieren. Noch war ich dabei meine Kräfte zu sam meln, eine Bestandsaufnahme des erlittenen Schadens zu machen und herauszufinden, was sich eigentlich abgespielt hatte. Als ich mich schwerfällig erhob, wiederholte der abtrünnige Höl lenjäger seine Präge und ließ erkennen, dass der Spott ehrlichem Re spekt gewichen war. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Weiter dar auf einzugehen hatte keinen Zweck und mir stand auch nicht der Sinn danach. »Mir fiele da schon eine Erklärung ein«, identifizierte ich Chebo kyns Stimme. Träge wandte ich mich zu ihm um. Wie sollte ich diesen Mann ein schätzen? Er war mir in den Rücken gefallen, auch wenn es nicht an seinem Zutun gelegen hatte. Trotzdem musste ich mir eindringlich vor Augen halten, es mit einem Besessenen zu tun zu haben. »Egal, was du von mir und meinen Leuten denkst, Richard - wir stehen nicht mehr unter der Gewalt des Plasmas. Glücklicherweise war seine genetische und mentale Verankerung noch zu lösen. Diese Ab wehrreaktion von dir hat es vertrieben.« Sollte ich das wirklich glauben? Ich hatte keine Möglichkeit, es nachzuprüfen. Wenn ich es genau überlegte, spielte es aber keine Rol le. Sie hatten alle gesehen, zu was ich fähig war. Sie würden alle sehr, sehr vorsichtig sein, wenn sie sich in meiner Nähe aufhielten. »Also, was hast du zu sagen, Chebokyn?« Ich hatte nicht das un bedingte Bedürfnis nach einer Konversation, doch mochte es sein, dass der Layshi-Pan tatsächlich etwas zur Aufklärung des Vorfalls bei tragen konnte. Und das interessierte mich nun mal. »Niemand weiß genau zu sagen, was der T'ott'amh-anuq ist«, be gann Chebokyn. »Noch weiß man um seine Fähigkeiten. Trotzdem 95
vertrete ich die Ansicht, dass der transgenetische Code gut geschützt ist, besonders, da man ihn in einem - verzeih den Ausdruck, Richard schwachen Menschen versteckt hat. Du bist kaum in der Lage, ihn zu verteidigen, also muss er das aus sich selbst heraus übernehmen kön nen. Morias Del'Vander hat eine Barriere überwunden, die einen machtvollen Mechanismus in Gang gesetzt hat.« Mir schien die Argumentation zwar schlüssig, doch zog ich noch eine andere Erklärung ins Kalkül. »Was, wenn die Priester mich als Resonanzfeld benutzt haben, um ihre eigenen Kräfte zu polarisieren...?« »Wir konnten keine Energieströme von außen wahrnehmen«, sag ten Eleowelia und Mantazz wie aus einem Mund. Ich beäugte sie kri tisch und an dieser Grundhaltung würde sich auch vorerst nichts än dern. Sodann richtete ich mein Augenmerk auf den Anführer der HettoKa'Zam-Inayn. Er saß auf seinem Hintern, die Beine leicht angewinkelt. Seine Finger gruben sich fortwährend in das Erdreich, nahmen eine Handvoll auf und ließen es wieder zu Boden rieseln. Dabei gab Del'Vander unbeschreibliche Laute von sich, die sein Erstaunen über die Eigenschaften des sandigen Bodens ausdrücken sollten. Wahrschein lich würde er Stunden später immer noch dort sitzen und seine Entde ckungsreise zu den Wundern der Welt mit ungebrochener Faszination fortsetzen. Sorgen bereiteten mir vor allem die bei Verstand befindlichen Het tos. Dass sie mir nicht mehr zu nahe kamen hieß nicht, dass sie an Gefährlichkeit eingebüßt hatten. Nur konnte ich nichts mit ihnen an fangen. Ich konnte ihnen nichts befehlen oder sie gar in Arrest neh men, denn dummerweise besaß ich nicht die Möglichkeiten, derartige Forderungen durchzusetzen. »Sie werden nichts mehr unternehmen, was Col'Shan-duur scha den könnte«, wollte mich Chebokyn beschwichtigen. »Sie können die Kontrolle über das Schiff nicht an sich reißen, also werden sie es ver lassen müssen. Ich habe genug von den Plänen des Symbionten mit bekommen, um guten Gewissens diese Aussage machen zu können.« 96
Aber kann ich dir guten Gewissens trauen?, war die Frage, deren
Beantwortung gleich an zweiter Stelle meiner Prioritätenliste stand. »Ich werde zurückgehen«, entschied ich mich für ein klares ›Nein‹. »Alleine.« »Unsere Gesellschaft ist dir nicht willkommen...?« »Sie ist es nicht«, redete ich nicht lange drum herum. »Du kannst dir die Gründe sicher an den Fingern abzählen.« »Es hat keinen Zweck, dich umstimmen zu wollen, nicht wahr?« Chebokyns Tonfall ließ unverhülltes Bedauern erkennen. »Nein, hat es nicht.« Ich hatte mir noch etwas Dramatisches für die stumm dastehenden Hetto-Ka'Zam-Inayn ausgedacht, etwas wie: ›Und lasst euch hier bloß nicht mehr blicken!‹ Ich tat mir selber einen Gefallen und ließ es sein. Zu meinem Unvermögen eigenständigen Handels hätte ich mich außerdem der Lächerlichkeit preisgegeben. Das wäre nun doch zu viel gewesen. Sollten sie sich doch hinter mir ge genseitig die Köpfe einschlagen. Was kümmerte es mich? Ich vertraute darauf, unbeschadet die Schleuse zu erreichen. Wenn ich den Priestern die Sachlage geschildert hatte, konnten sie nach Lösungen suchen. Ich für meinen Teil hatte eine ganz andere Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die dem Ältesten wohl kaum gefallen dürfte. Aber sie stand ebenso fest wie die Tatsache, dass ich meinen Entschluss durchsetzen würde. Meiner Meinung nach war es höchste Zeit, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Ich brauchte über keine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu verfü gen, um zu spüren, wie mir mehr als ein halbes Dutzend Augenpaare auf meinem einsamen Pilgerpfad folgte... * Bei der Schleuse hatte ich alles so vorgefunden wie bei unserem Hin weg. Nur Zr'Can konnte ich keine entdecken. Jetzt, da der Zugang offen stand, schienen sie das Interesse daran verloren zu haben. Oder sie übten sich in respektvoller Zurückhaltung, da sie nicht wissen konnten, welche Schrecknisse sich noch darin verbargen und ihnen die Begegnung mit den Hettos wohl noch in den Knochen steckte. Doch 97
diese Reserviertheit würde sich legen. Und legte ich menschliche Ver haltensweisen zugrunde, siegte immer die Neugier. »Du hast dich vorsätzlich und ohne unsere Zustimmung in große Gefahr begeben!«, wurde der Vorwurf des Ältesten laut. Zustimmendes Raunen ertönte in meinem Kopf. Ich stand neben Ravenmoor/Sha'am-O in der Senke der Rats versammlung; die Hälfte des Priestervolks war anwesend. Dass der Äl teste sein Sprachorgan benutzte, unterstrich eindrucksvoll den Ernst seiner Worte. »Mein Einsatz hat sich angeboten, nachdem die unbeeinflussten Layshi-Pan sich zu erkennen gegeben hatten. Außerdem konnte ich auf diese Weise Col'Shan-duur näher kennen lernen.« Oh weh, dachte ich. Eine verdammt dünne Erläuterung. »Narretei!«, krächzten die rudimentären Stimmbänder des Ältes ten. Selten - wenn überhaupt - hatte ich ihn aufgeregt gesehen. Ich machte mir nun wirklich Vorwürfe über mein vorschnelles Handeln. »Woher wolltest du wissen, dass sie dich nicht täuschen?« Der Priester wechselte in die mentale Kommunikation.
Richard, hast du immer noch nicht begriffen, wie wichtig du bist? Du setzt dich Gefahren aus, die du nicht kontrollieren kannst. Deine Fähigkeiten sind lange noch nicht so entwickelt, dass du dir selbst ge nügend Schutz zu geben vermagst.
»Sind nicht eure Aufgaben von ebensolcher Gefährlichkeit«, warf ich nun doch ein wenig störrisch ein. »Denkt nur an die Sicherung des Code-Fragments in dieser fremden Galaxis.«
Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun! Wir erlegen dir nur Aufgaben auf, die unumgänglich sind. Nur du kannst die zersplitterten Teile des transgenetischen Codes einsammeln. Gefahrvolle Situationen werden sich daher nicht immer vermeiden lassen. Gehst du jedoch absichtlich und ohne jeden Anlass große Wagnisse ein, dann kann ich das nur als Dummheit und Unreife bezeichnen. Du bist dir nicht be wusst, welche Bedeutung deiner Aufgabe zukommt. Wer war ich, dass sie mich bei jeder Gelegenheit maßregelten? »Dann setze ich euch jetzt über meine nächste Dummheit in Kenntnis«, erwiderte ich forsch. Irgendwie war alles in mir in Aufruhr. 98
Ich wollte die Konfrontation provozieren, meinen eigenen Willen und meine Entschlusskraft demonstrieren. »Ich werde zur Erde gehen. So wie Anto-Dschagerass vor mir.«
Das kommt überhaupt nicht infrage! Wir haben eine neue Mission für dich, die dich an einen Ort jenseits menschlicher Vorstellungskraft führen wird. Darauf müssen wir dich erst vorbereiten. »Erst gehe ich zurück zur Erde«, blieb ich hart.
Sei doch bitte vernünftig, Richard. Wir werden dich selbstver ständlich zu nichts zwingen, aber lass deinen Verstand zu dir sprechen. Nicht einmal wir können sagen, welcher Art die Bedrohungen sind, die dort auf dich lauern. Denke an die ›Hohen‹ und ihre Helfershelfer. Denke an das Fressplasma. »Genau das ist es. Ich kann aufgrund einer solchen Bedrohung nicht zu fernen Sternen aufbrechen, wenn Menschen durch die Hand des Dämons sterben. Ich muss etwas unternehmen. Wahrscheinlich war es das, was ich die ganze Zeit wollte. Wahrscheinlich ist das der Grund für meine Ruhelosigkeit. Und, ja, ich tue es nicht nur für die Menschen der Erde, ich tue es auch für mich...« Dir ist nicht zu helfen, hörte ich das Kollektiv sagen. »Bedenkt auch die Möglichkeit, das fehlende Codestück zu ret ten.«
Ihm wird nichts geschehen; es kann sich selbst schützen. Du kannst es nicht. »Das werden wir sehen.«
Dann ist es unter Umständen bereits zu spät... Sie sahen ein, dass sie mich nicht umstimmen konnten. Mein Weg zur Erde konnte einzig über eine Siegelkammer führen. Das Kammernetz meines Heimatplaneten war mit Col'Shan-duur ver bunden, das wusste ich. Was ich nicht wusste war, wie ich die Siegel kammer erreichen konnte. Ich sandte Philip eine mentale Anfrage und endete mit den Wor ten: »Hilfst du mir?« Er schien sich mit den Priestern zu beratschlagen, denn er antwor tete nicht direkt. 99
Man muss ein Mensch sein, um die Menschen zu verstehen, wehte
ein bekümmerter Gedanke zu mir herüber. Gleich darauf gab mir Sha'am-O seine Zustimmung. *
»Kommt dir der Weg nicht bekannt vor?«, fragte Ravenmoor/Sha'amO so plötzlich, dass ich - in Gedanken versunken - aufschrak. »Wieso? Ich achte gar nicht auf den Weg, sondern versuche die Eintönigkeit zu überbrücken. Schließlich sind wir schon seit Stunden unterwegs.« »Wir wussten beide, dass es eine weite Strecke ist.« Meine Aufmerksamkeit richtete sich nun doch auf die Umgebung und ja: sie hatte tatsächlich etwas Vertrautes. Sie zeigte Formen und Materialien, die ich vom Herzstück Col'Shan-duurs her nicht kannte. Da gab es steinerne Säulen und Rohre, die wie vom Fleisch befreite Kno chen wirkten. Die Säulen hatten stark asymmetrische Züge, schraub ten sich Kordelsträngen ähnlich vom Boden hoch und verschwanden in unergründlicher Höhe. Ich hatte das alles bereits einmal gesehen, an jenem Tag vor rund zehn Jahren, als das Siegelbewusstsein mich hier her transferiert hatte. Beladen mit den traumatischen Erlebnissen aus der Londoner Kanalisation, hatte es mich in diese abstrakte Landschaft verschlagen. Doch, die Erinnerung war da. Mit jedem Moment wurde sie klarer. »Nicht weit entfernt muss es diesen zylindrischen Tunnel geben«, flammte ganz kurz ein konkretes Bild in meinem Gedächtnis auf. »War dort nicht auch der kleine Raum, von dem aus man auf die Erde schauen konnte?« »Du könntest sie noch sehen. Col'Shan-duur hat sich noch nicht sonderlich weit vom Mond entfernt.« »Nein, nein«, winkte ich ab. »Ich möchte mich nicht von ihr ver abschieden, sondern sie aufs Neue begrüßen. Und dazu will ich sie als Erstes unter meinen Füßen spüren.« Wir passierten die Röhre. Die Wucherungen und Verwebungen von Natur und Technik hatten an dieser Stelle ein Ausmaß erreicht, 100
das mir bedenklich erschien. Wuchsen nun die Kabelstränge aus dem Stein heraus oder hatte der Fels sie sich nachträglich einverleibt? »Die Mutationen außerhalb des Zentrumsbereichs sind wesentlich ausgeprägter«, röhrte Sha'am-O. »Gon'O'locc-uur hat sich nie darum gekümmert.« »Weil es ein natürlicher Prozess ist«, teilte ich dem klobigen Zwerg an meiner Seite mit. »Zumindest hat der Schrein dies mir ge genüber als Grund aufgeführt.« Am Ende des Tunnels mussten wir über groben Basaltstein hinab klettern. Der Boden wirkte wie ausgehärteter Schwamm. In der Ferne erkannte ich ein Monument. Eine hohe Steinwand, eigenwillig verziert, mit bizarr herausgearbeiteten Details. Ich war derart von diesem be fremdlichen Anblick fasziniert, dass mir die Gestalten wirklich erst Se kunden später auffielen, die am Fuß dieses Massivs standen. Schau mal einer an, spöttelte Philip. Alte Bekannte. Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich meiner Kehle, denn es handelte sich nicht um die Hetto-Ka'Zam-Inayn. Andernteils würde ich früher oder später ihren Weg kreuzen, da es meines Wissens keine andere Möglichkeit als eine Siegelkammer gab, seinen physischen Kör per von der ›dunklen Zitadelle‹ zu entfernen. Des Weiteren glaubte ich mich zu erinnern, dass es nur diesen einzigen Transferpunkt gab. »Chebokyn!«, rief ich von weitem, »wenn das keine Überraschung ist.« »Du scheinst wesentlich besserer Laune zu sein, als zu dem Zeit punkt, da du dich von uns trenntest.« »Das kannst du sehen wie du willst. Begeistert bin ich jedenfalls nicht, euch hier vorzufinden.« Eleowelia sah mich ernst, aber nicht unfreundlich an. »Wir haben auf dich gewartet. Wir dachten, du könntest Hilfe gebrauchen bei dem, was du dir vorgenommen hast.« »Woher wisst ihr...« »Keiner hat spioniert!«, wehrte Chebokyn ab. »Doch dein Wunsch war derart stark und präsent, dass wir ihn nicht ignorieren konnten. Du hast uns sozusagen gezwungen, deine Gedanken zu lesen...« 101
»Da hört sich doch alles auf.« Ich meinte es nicht so ernst, wie es vielleicht geklungen hatte. Innerlich musste ich sogar schmunzeln und ich konnte jedem gegenüber - nur nicht mir selbst - leugnen, eine ge wisse Sympathie für die Layshi-Pan zu empfinden. »Mich würde interessieren, was aus den Hettos geworden ist.« »Wir sind kampflos voneinander geschieden, als sie sich zur Medi tation zusammengefunden haben«, bekam ich zur Antwort. »Ihre Bin dung zur negativen Seite ist sehr stark. Sicher nehmen sie neue An weisungen entgegen. Mehr wissen wir auch nicht.« »Nicht gerade viel«, war ich weder enttäuscht noch beruhigt. »Es scheint vorbestimmt, dass sich unsere Wege erneut kreuzen.« Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, doch vielleicht war es mir möglich, aus der gegenwärtigen Konstellation einen Vorteil zu schlagen. »Lasst uns ein Zweckbündnis eingehen«, sagte ich versöhnlich. »Nur für den Aufenthalt auf der Erde. Überzeugt mich von euren redli chen Absichten.« »Du zweifelst immer noch«, nickte Mantazz. »Dieser Makel unse rer Beziehung wird so schnell wohl nicht zu tilgen sein.« Da konnte ich ihm nur zustimmen. Ich brauchte die Sicherheit, es mit gewöhnlichen und nicht vom Plasma verseuchten Menschen zu tun zu haben. »Was meinst du, Philip?« Sha'am-O richtete die Fühler seines Haarkranzes auf.
Ist lange her, dass du mich so genannt hast, ohne dabei Spott und Verachtung zu empfinden. Ich schickte ihm ein Gefühl echten Bedauerns entgegen.
Sie sind okay. Wenigstens spüre ich keine negative Beeinflussung.
Das sollte mir erst mal genügen. Außerdem war es mir ganz recht, eine schlagkräftige Truppe um mich zu haben. In der Heimat waren raue Sitten angebrochen. Chebokyn fand abschließende Worte. »Wenn du es zulässt, stellen wir unsere Fähigkeiten bedingungslos in deinen Dienst.« Einen Augenblick noch grübelte ich, doch dann war meine Ent scheidung gefallen. 102
»Wähle bitte das Ziel aus, Chebokyn.« In der größten Einbuchtung der Steinwand identifizierte ich die geometrische Kennung der Siegelkammer, die ›Blume des Lebens‹. Gleich darauf fanden wir uns zusammen, ganz dicht beieinander. »Wohin, genau, soll die Reise gehen?«, erkundigte sich Mantazz. »Nur zur Erde«, sagte ich flüsternd. »Nur zur Erde...« Zum Abschied wollte ich Ravenmoor noch einen lockeren Spruch aufs Auge drücken, doch da erfasste uns bereits der Sog... *
Epilog
Nachdem das Stampfen der heimkehrenden Heereszüge verhallt war,
dauerte es immer noch mehr als eine Stunde, bis Bolr'g sein Zuhause
betrat und Esch'rt in die Arme nahm.
»Du bist wieder da«, seufzte seine Frau erleichtert. »Und du bist gesund.« Sie küsste ihn. Schnell tischte sie eine warme Mahlzeit auf, die sie zubereitet hat te, schon als sie die ersten Schritte der Soldaten vernommen hatte. Erst, nachdem Bolr'g den gröbsten Hunger gestillt hatte, fiel ihm auf, dass nicht alles wie gewohnt war. »Wo ist mein Sohn?« Esch'rt zuckte regelrecht zusammen und war sekundenlang unfä hig, zu reagieren, als würde sie mit sich um eine unliebsame Antwort ringen. »Warum antwortest du nicht?«, erhob sich Bolr'g ärgerlich. »Wo ist Ureschcopal?« »Er... ist nicht mehr hier.« Bolr'g wirkte betroffen und musste nun selbst erst seine Sprache wieder finden. »Ist er bei Nachbarskindern?«, fragte er ruhig und wusste nur zu genau, dass dies nicht die Antwort sein konnte. »Er sagte: ›Mama, ich muss euch jetzt verlassen.‹« »Das verstehe ich nicht. Wieso sagt er so etwas? Wohin wollte er denn gehen? Mein Gott, er ist noch ein Kind!« Bolr'g ging um den 103
Tisch herum und ergriff die Schultern seiner Frau, zog sie vom Stuhl hoch, dass er ihr direkt in die Augen sehen konnte. »Warum hast du das zugelassen? Warum hast du ihn gehen las sen?« Schweigend sahen sie sich intensiv an. Bolr'gs Blick loderte, wäh rend der Esch'rts lediglich erfüllt war von tiefer Trauer und Sorge. Er ließ seine Frau los, bevor sein harter Griff ihr ein Leid zufügte. Wortlos ging er durch die Tür und saß kurze Zeit später auf dem Rü cken eines Schapn'r. Eine Weile dauerte es, bis er seine sich jagenden Gedanken sor tiert und die wesentlichsten Eindrücke herausgefiltert hatte. Irgendwie lief alles auf diese Hetto-Ka'Zam-Inayn hinaus. Mit ihnen hatte das Unglück seines Volkes seinen Lauf genommen und nun fügte sich sei ne private Misere nahtlos ein. Wehmütig dachte Bolr'g an den Tag zurück, da sie Ureschcopal im Wald gefunden hatten und ihnen sein für Kr'sch-Verhältnisse abson derlicher Name zugeflüstert worden war. Das Phänomen entbehrte immer noch einer Erklärung, doch Bolr'g und Esch'rt waren seit diesem Tage so glücklich gewesen, dass sie nicht mehr gefragt hatten. Die Vergegenwärtigung des Außergewöhnlichen war ihnen jedoch nie ab handen gekommen. Das Schicksal hatte sich nun wieder genommen, was es einst ge schenkt hatte. Bolr'g trieb sein Reittier zu wilden Galopp an. Eine innere Stimme sagte ihm eindringlich, wohin er zu reiten hatte. Was vorher noch kon turlos und blass erschienen war, nahm mittlerweile Formen an. Von weitem sah Bolr'g die Schleuse. Er hatte keine Augen für die Zerstörungen und die Toten links und rechts seines Weges. Er sah einzig die Schleuse. Sie hatte mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun! Diese Schlussfolgerung wurde übermächtig in ihm. Ein verrückter, abwegiger Einfall, doch der einzige, der für den Zr'Can noch Sinn machte. Was war nicht alles Sonderbares geschehen an diesem Tag, als dass es nicht versteckte Gemeinsamkeiten zwischen den Ereignissen geben musste. Bolr'g würde diesen Abschaum von Hetto-Ka'Zam 104
Inayn verfolgen, würde, wenn es sein musste, durch die Schleuse hin ter ihnen herjagen. Und wenn sie Ureschcopal etwas angetan hatten, dann würde er sie grausam dafür bezahlen lassen. Wenige Augenblicke später zerplatzte seine Illusion von Rache und er fiel auf die Knie und schrie sein Unverständnis voller Verzweiflung heraus. Die Schleuse hatte sich geschlossen! Und niemand auf dieser Seite des Zugangs war in der Lage, sie wieder zu öffnen. Ende
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