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Abenteuer aus dem Zeitalter des Blutes und der Magie Der Weg, der aus den nördlichen Steppen in den tiefen Süden führt, ist voller Tücken und Gefahren. Brak, der flachshaarige Barbar, der diesen Weg beschreitet, weiß das längst aus eigenem schmerzvollen Erleben. Doch der junge Krieger läßt sich nicht beirren. Braks Sehnsucht, die legendäre Pracht und die Wunder des Goldenen Khurdisan zu schauen, ist stärker als alles, was auf der Straße nach Süden auf den einsamen Wanderer lauert. Doch die härteste Prüfung für Brak steht noch aus. Sie erfolgt in dem Augenblick, als der Barbar die Stadt an der Doppelbucht erreicht. Ein unerbittlicher Kampf zwischen zwei Völkern entbrennt - ein Kampf, den Kräfte aus dem Jenseits zu entscheiden versuchen. Nach SCHIFF DER SEELEN, TOCHTER DER HÖLLE und DAS MAL DER DÄMONEN (TERRA FANTASY Bande 1, 4 und 7) wird hier der vierte Roman mit Brak, dem Barbaren, vorgelegt. Weitere Abenteuer mit dem gleichen Helden sind in Vorbereitung.
John Jakes
Die Götzen erwachen Originaltitel: WHEN THE IDOLS WALKED Aus dem Amerikanischen von Lore Strassl
Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © by John Jakes Redaktion: Hugh Walker Gesamtherstellung Erich Pabel Verlag KG Rastatt Printed in Germany Juni 1978
TERRA-FANTASY-Taschenbuch
Einleitung Es bedarf nicht unbedingt eines barbarischen Helden für eine gute Schwert-und-Magie-Geschichte. Der Graue Mausling, Jirel oder Kull beweisen es. Solomon Kane sicherlich auch. Wohl aber muß der Held, wenn wir das Abenteuer aus seiner Sicht erleben, jenes noch magisch-mystische Weltverständnis besitzen, das für eine Fantasy-Story wichtig ist. In den beiden Jahren (Mai 1963 bis Januar 1965), da der Hauptteil der Brak-Saga in dem Magazin Fantastic erschien, fand sie viel Anklang bei der Leserschaft. Die Figur des Brak erhitzte die Gemüter auf den Leserkontaktseiten. Da waren die einen, die Brak für eine blasse Imitation von Howards übermenschlicher Heldengestalt Conan hielten, und die anderen, die Brak im Gegensatz zu Conan nicht für einen Barbaren hielten - edler, menschlicher und mit mehr Bereitschaft, seine Probleme nicht allein mit dem Schwert zu lösen. Sie nannten Brak einen zivilisierten Abenteurer in den Kleidern eines Barbaren. Die Herausgeber meinten, Brak wäre vielleicht ein kleiner Junge - der ewig kleine Junge in uns allen, der davon träumt, Bösewichtern das Handwerk zu legen, Ungeheuer zu bekämpfen, Schätze zu finden, schöne Frauen aus großen Gefahren zu befreien und dann edelmütig allem zu entsagen, um auf neue Abenteuer auszuziehen. Khurdisan mag der Gral sein, den Brak gar nicht finden möchte - denn dort könnte er plötzlich erwachsen werden und hätte genug damit zu tun, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch John Jakes selbst nahm Stellung. Er schrieb damals: ›Ein Autor sollte sich zwar nicht auf eine - noch dazu briefliche - Argumentation über seine Werke einlassen, aber ich kann hier der Versuchung nicht widerstehen. Es ist in der Tat etwas Gralhaftes an Khurdisan. Aber ich
weiß ja auch, was mit Brak geschehen wird, wenn die Zeit für sein letztes Abenteuer kommt. Ich weiß bereits, ob er Khurdisan erreichen wird oder nicht. Das wird alles in der letzten Story erzählt, die über Brak veröffentlicht wird, eine Story mit dem Titel ›Die Schlacht um die Welt‹ (The Battle for the World). Was ist nun Brak? Ich selbst nenne ihn einen ›Barbaren‹, der er sicherlich von Geburt und Erziehung ist. Je vertrauter er mir wird, desto mehr erkenne ich, daß er eine ganze Menge gelernt hat. Und ich möchte darauf hinweisen, daß Brak es ist - mit seinem Mut und seinen einfachen Vorstellungen von Ehre -, der von den Schurken immer Barbar oder Fremdling genannt wird. Es besteht kein Zweifel, daß Brak in diesen Dingen hoffnungslos altmodisch ist und sich unbehaglich fühlt in einer Welt wohlhabender, intrigierender Höflinge und Adeliger, die es meisterhaft verstehen, Feindschaften zu schüren und nichts dabei finden, sich nicht nur menschlicher Hilfe zu versichern, wenn es gilt, ihren Nebenbuhlern eins auszuwischen. Ich mag ihn jedenfalls. Und ich finde es erfreulich, daß sich die Leserschaft so argumentativ seiner annimmt.‹ Zweifellos ist es eine Frage, die viele Brak-Fans bewegt: Wird Brak Khurdisan erreichen? Ja und nein, erklärt John Jakes geheimnisvoll. Mit mehr rückt er nicht heraus, außer daß die allerletzte Brak-Story festgelegt ist, verschlossen in einem Kuvert und für den Nachlaß gedacht, sollte, so Jakes, ein tollwütiger Drache oder ein böser Zauber seinem Dasein ein vorzeitiges Ende bereiten. Ein interessantes Detail vielleicht noch am Rande. Der für Brak so charakteristische Zopf und der Schwanz an seinem Löwenfell waren nicht John Jakes’ Einfall, sondern entstammen dem Pinsel eines Zeichners, Vernon Kramer, der das Titelbild zur ersten Brak-Story (Devils in the Walls, Fantastic, Mai 1963) anfertigte.
John Jakes behielt diese originellen Beschreibungsmerkmale bei. Dies ist vorerst der letzte existierende Brak-Roman und zudem seine erste Taschenbuchveröffentlichung. Ich habe einen weiteren Band eingeplant, der das restliche Story- oder besser Kurzromanmaterial enthalten wird. Die allerneueste Brak-Story, Ghoul’s Garden, die für Lin Carters Anthologie Flashing Swords No 2 geschrieben wurde, steht ebenfalls bereits auf dem Programm unserer Reihe. Beachten Sie also diese Anthologien von Lin Carter, deren erste wir in zwei oder drei Monaten bringen werden. Sie enthalten allerneuestes Material vieler bekannter Serien, wie Fritz Leibers Fafhrd und der Graue Mausling, Andre Nortons Hexenwelt, Michael Moorcocks Elric von Melnibone, L. Sprague de Camps Pusad-Serie, Lin Carters Amalric und andere. Bisher sind in unserer Serie um Brak erschienen: BRAK THE BARBARIAN (Schiff der Seelen, TERRA FANTASY 1) BRAK THE BARBARIAN VS THE SORCERESS (Tochter der Hölle, TERRA FANTASY 4) BRAK THE BARBARIAN VS THE MARK OF THE DEMONS (Das Mal der Dämonen, TERRA FANTASY 7) WHEN THE IDOLS WALKED (Die Götzen erwachen, TERRA FANTASY 13) DEVILS IN THE WALLS and Other Stories (in Vorbereitung) Hugh Walker, Unterammergau, April 1975
1. Gewitterwolken zogen von Norden heran. Der Wind tobte. Er rüttelte an den mächtigen Segeln der Kriegsgaleeren, die durch die Schwarze See schnitten, und knickte die Mäste. Der gehörnte Ziegengott der Gorden, der auf das blutrote Hauptsegel des Flaggschiffs gemalt war, schien sein Gesicht vor Wut zu verzerren, als der Sturm sein Spiel mit ihm trieb. Die Männer auf den Ruderbänken drehten ihre Köpfe und blickten ängstlich zu den unheilschwangeren Wolken, die die Armada zu verfolgen schienen. Viele der Ruderer waren mit verkrusteten Wunden übersät. Sie trugen nur Fetzen am Leib, und ihre Mienen drückten die Apathie der hoffnungslos Unterlegenen aus. Selbst durch das Heulen des Windes und das Branden der Wellen gegen die Seiten des Flaggschiffs waren die aufkommenden Schreckensschreie zu vernehmen. Die Ketten an den Hand- und Fußgelenken klirrten. Immer weitere der Ruderer starrten furchterfüllt auf die stetig tiefer sinkende Finsternis, die die gordische Flotte bald eingehüllt haben würde. Einer der an den Ruderbänken festgeketteten Männer lächelte grimmig. Mit seiner gewaltigen Statur, dem Löwenfellbeinkleid und dem langen gelben Zopf, der im Wind auf seinem bloßen Rücken tanzte, unterschied er sich merklich von den anderen. Immer schneller donnerte der Hammer des Rudermeisters auf dem Achterdeck herab. »Zieht! Zieht! Legt euch in die Riemen!« Der Gelbhaarige starrte auf die wirbelnden Wolken, die die hinterste der siebzig gordischen Kriegsgaleeren fast erreicht hatten. »Diese schurkischen Soldaten, die ihre Nachbarn ohne Warnung angreifen, haben es verdient, von den Wellen verschlungen zu werden«, brummte er vor sich hin. »Ich würde es begrüßen, wenn sie alle auf den Grund der See sänken,
obgleich ich nicht sehr darauf erpicht bin, ihr Schicksal zu teilen. Aber es gibt wohl keine Chance, den Wolken zu entkommen. Sie sind zu schnell.« Der Ruderer neben ihm schien nichts von seinen Worten zu halten. »Dreh dich um, Barbar«, flüsterte er drängend. »Sonst werden wir alle ... Ahh, die Götter mögen uns beschützen. Warum muß gerade ich das Pech haben, neben einen Wilden gekettet zu sein!« »Heh, du, Barbar!« zischte eine wütende Stimme auf der erhöhten Laufplanke zwischen den Ruderbankreihen »... Leg dich in die Riemen!« Ungerührt blickte der Breitschultrige, dessen Name Brak war, auf. Mit der Peitsche in der Hand starrte der gordische Aufseher auf ihn herab. Braks Augen funkelten düster. Auf das Ruder gestützt, spuckte der Barbar vor ihm aus. Der Aufseher schwang die Peitsche. Der lange Riemen schnellte sich um die Brust des Gelbhaarigen. Als er sich wieder löste, hinterließ er blutige Striemen. Langsam erhob Brak sich auf dem schwankenden Boden. Er fletschte die Zähne und zog an seinen Ketten. Der Gefangene neben ihm stammelte ein unverständliches Gebet und flehte Brak an, sich zu beruhigen. Aber der von der Peitsche verursachte Schmerz ließ Brak rotsehen. Wären die Ketten nicht zu kurz gewesen, er hätte sich auf den Aufseher gestürzt. Doch in diesem Augenblick schwemmte eine gewaltige Woge über den Bug des Flaggschiffs, und das kalte Wasser brachte Brak wieder zur Besinnung. Eine weitere Welle überspülte das Mittschiff. Die Galeere schlingerte. Brak wurde über die Ruderbank geworfen, und die Fußketten verhedderten sich. Der Aufseher lachte. Er wischte das Blut von der Peitschenschnur und kämpfte sich durch den tosenden Wind weiter. Aber was bedeutete der Machtbeweis des Aufsehers gegen den Sturm, der die Kriegsflotte nun einzuholen begann. Das
Flaggschiff schlingerte immer heftiger. Die kleineren Schiffe kamen kaum noch voran. »In die Riemen!« brüllte der Rudermeister vom Achterdeck. »Schneller! Schneller!« Brak ruderte im Rhythmus mit den sechs Mitgefangenen auf seiner Bank. Eine düstere Verzweiflung bemächtigte sich seiner, die nicht aus der Angst vor dem unnatürlichen Sturm geboren war, sondern aus der Hilflosigkeit gegenüber der Gefahr, die durch die Angst der Gorden drohte. Wenn der Wirbelwind aus der schwarzen Wolke zuschlug, würden sie zwar ihre Grausamkeit vergessen und die Gefangenen nicht mehr quälen, die wie Brak gezwungen waren, die Sieger heimwärts zu rudern. Aber in ihrer Panik würden sie den klaren Kopf verlieren und dadurch den Untergang ihrer Schiffe erst recht herbeiführen. Brak machte sich keine Illusionen, daß die Gorden auch nur daran dächten, ihre Rudersklaven zu befreien. Der riesige Barbar fühlte sich nackt ohne sein Breitschwert, das noch vor zwei Tagen von seiner Seite gehangen hatte, als sein Pferd ihn von einer Hochebene zu der kleinen Hafenstadt der Mirkaner an der Schwarzen See trug. Brak war lange schon unterwegs nach dem goldenen Khurdisan, unendlich weit im Süden, wo er sein Glück zu finden hoffte. Nur durch Zufall war er in die Stadt der Mirkaner gekommen. Nach seiner Ankunft spät am Abend hatte er sich in einer armseligen Karawanserei ein Lager geben lassen und vorgehabt, früh am nächsten Morgen weiterzuziehen. Mitten in der Nacht weckte ihn lautes Trommeln. Männer mit Fackeln rannten durch die Straßen und alarmierten die Bürger. Während die gordischen Fußsoldaten - gedrungene Männer in pelzverzierter Lederrüstung - mit den unvorbereiteten Bürgern leichtes Spiel hatten, führten die wenigen Kriegsschiffe der Mirkaner am Hafen einen hoffnungslosen Kampf gegen die Flotte der Gorden. Der Straßenkampf war ein Massaker. Braks ganzer Körper
war mit kleineren Wunden bedeckt. Er entsann sich, im Hof der Karawanserei mehrere Köpfe von ihren Rümpfen getrennt zu haben, während die Flammen der gebrandschatzten Stadt den Himmel röteten. Die Gorden hatten den zweifachen Vorteil: den der Überraschung und der zahlenmäßigen Überlegenheit. Wie die meisten der jüngeren Mirkaner war auch Brak lebend überwältigt worden. Ihn und unzählige andere hatte man zu den gordischen Galeeren getrieben und an die Ruderbänke gekettet. Lediglich die plötzliche Verfolgung der Gorden durch die Sturmwolken minderte jetzt den Erfolg des Überfalls. »Zieht!« brüllte der Rudermeister. »Zieht!« Brak tat sein Bestes. Die Muskelstränge hoben sich von den Armen ab. Lautlos verfluchte er den armen Narren, der sie zu noch größerer Anstrengung antreiben wollte. Es war doch offensichtlich, daß die Schiffe selbst mit Segel und Ruder dem Sturm nicht entkommen konnten. Die schwarzen Wolken waren inzwischen greifbar nahe. Sie bedeckten den gesamten nördlichen Horizont. Noch fester umklammerten die Soldaten auf dem Flaggschiff ihre Speere und Schilde und warfen ängstliche Blicke zum Himmel, während ihr Admiral, ein feister, gedrungener Mann, den Rudermeister zu noch schnellerem Tempo antrieb. Voraus und backbords bemerkte Brak nun eine Landzunge. Als sie näher kamen, sah er, daß sie sich aus einer riesigen Bucht ins Meer schob und so zu ihren beiden Seiten breite Kanäle bildete. Durch die wirbelnden Nebelschleier hindurch bemerkte er an der Küste hinter der Doppelbucht die Schatten von Häusern, offenbar einer größeren Stadt. Aus den Fenstern eines Wachturms auf der Landzunge flackerte der Schein von Fackeln. Der Mirkaner neben Brak starrte mit brennenden Augen auf die Küste. »Wenigstens ein Königreich, das diese Höllensöhne nicht
einnehmen werden.« Er lachte schwach. »Aber um Rodars Volk zu retten, müssen wir mit der gesamten Armada untergehen, Freund wie Feind.« »Wer ist Rodar?« fragte Brak. »Der Herrscher jenes Landes an der Küste?« »Ja. Es ist ein Stadtreich, das von Rodar, dem König der Doppelbucht, regiert wird. Die Gorden wollen die Herrschaft entlang aller Küsten der Schwarzen See an sich reißen. Sie begannen mit uns am nördlichen Ende. Zweifellos wäre dann Rodars Königreich an der Reihe gewesen. Es ist zwar klein, aber das mächtigste an der See. Rodar weiß, was er von den Gorden zu halten hat, und hat sich bestimmt auf den unausbleiblichen Krieg mit ihnen vorbereitet, obgleich er für den Frieden ist. Er ist ein gerechter und von seinem Volk geliebter Herrscher. Die Gorden dagegen ...« Ein Jubelschrei der Soldaten unterbrach den Mirkaner. Auf dem Achterdeck half der Admiral einer Frau aus der Kabine im Kastell. Brak zog verwundert die Brauen zusammen. »Was hat ein junges Mädchen auf einem Kriegsschiff zu suchen?« fragte er erstaunt. Der Mirkaner neben ihm schauderte. »Das ist kein gewöhnliches Mädchen, Fremdling. Ihr Name ...« Die gordischen Soldaten riefen ihn bereits begeistert: »Ilona! Ilona!« Brak erinnerte sich, wie ängstlich man diesen Namen in der brennenden Hafenstadt geflüstert hatte. Das junge Mädchen bewegte sich sicher und mit unnachahmlicher Grazie über das schwankende Deck zur Reling. Ihr vielfarbiger Umhang bauschte sich im Wind, und ihr enges, perlenschimmerndes Gewand hob ihre vollendeten Formen hervor. Ihr Haar war gelb wie Braks, ihr Gesicht oval mit tiefroten Lippen und schmalen Brauen. Ihre großen Augen glänzten wie Saphire.
Ilona hob ihre bleichen Hände in segnender Gebärde. Es schien die Soldaten zu beruhigen und dem Admiral neues Vertrauen zu verleihen. Aber die mirkanischen Gefangenen senkten furchterfüllt die Augen. »In eurer Stadt hörte ich, daß eine Frau namens Ilona die Gorden begleitete, als sie angriffen«, flüsterte Brak. »Wer ist sie?« »Ihre Hexe. Ihre Zauberin. Blickt sie nicht an!« Trotz der Warnung musterte der Barbar das junge Mädchen. Sie war ein sehr hübsches und anziehendes Ding - solange man nicht ihre Augen sah, die grausam wirkten. Ein eisiger Schauder kribbelte über Braks Rücken. Die Hexe hatte nun die Arme hoch erhoben und deutete auf den Himmel, wo die finsteren Wolken bereits ihre Finger nach den Segeln der Schiffe ausstreckten. Ilonas Lippen bewegten sich. Murmelte sie einen Bannspruch gegen die Elemente? Brak vermochte seinen Blick nicht von ihr zu wenden. Ilona schwankte. Dann wurde sie zur reglosen Statue. Der Admiral starrte auf die Wolke. Die schwarzen wirbelnden Streifen, die begonnen hatten, sich auf die siebzig Schiffe der Kriegsflotte herabzusenken, zuckten zurück, lösten sich auf, und der Sturm schien gebannt. Die gordischen Soldaten schlugen triumphierend mit den Speeren gegen ihre Schilde und ließen Ilona hochleben. Plötzlich schrillte von einer der nächsten Galeeren ein Trompetenstoß. Weitere folgten. Es klang wie das Wehklagen verlorener Seelen. Ilona ließ die Arme sinken und tat einen Schritt zurück. Der Admiral klammerte sich mit weit aufgerissenen Augen an die Reling. Einer der Mirkaner, zwei Bänke vor Brak, stieß einen Jubelschrei aus. Der Admiral riß einem Soldaten den Speer aus der Hand und schleuderte ihn. Die Waffe drang in den Leib des Mirkaners. Blut schoß aus der Wunde, während die Beine des
Getroffenen im Todeskampf zuckten. »Bei den dunklen Mächten!« rief Brak. »Welcher Wahnsinn ist nun über sie gekommen?« »Wahnsinn?« flüsterte der Mann neben ihm. »Kein Wahnsinn, Barbar, sondern die Furcht vor der Rache!« Brak drehte den Kopf und sah nun, worauf Ilona und ihre Soldaten starrten. Ein niedriges, schnelles Kriegsschiff, dessen Bug in Form eines Greifenkopfs geschnitzt war, kam aus der Dunkelheit geschossen, die hinter ihnen Himmel und Meer bedeckte. Eine in gespenstischem Blau leuchtende Laterne baumelte vom Schnabel des Greifen. Über ihr, auf der schwankenden Vogelstirn, stand aufrecht ein Mann mit weißem Bart und grauem Gewand. »Kalkanoth!« keuchte der Mirkaner neben Brak. »Das ist seine heilige Laterne. Wenn wir schon sterben müssen, so wird er dafür sorgen, daß es den Gorden nicht besser ergeht.« »Ist er ein mirkanischer General?« erkundigte sich Brak verwundert. »Nein. Er ist unser Zauberer. Er ist alt und weise und versteht genug der magischen Künste, um es Ilona und ihrer Meute von Bluthunden heimzuzahlen. Wäre er in der Stadt gewesen, als die Gorden uns überfielen, so hätten wir sie gewiß zurückgeschlagen. Aber vor vielen Monden zog er zu einer Pilgerfahrt aus.« Der Mirkaner schien fast hysterisch vor Freude. »Sicher lebte einer unserer Leute noch lange genug, um ihn zu finden und zurückzubringen. Er kam durch den Sturm, um Rache zu nehmen ...« Brak war nicht sonderlich beeindruckt. Was vermochte ein greiser Zauberer schon gegen siebzig Kriegsschiffe, eine junge Hexe und einen drohenden Sturm auszurichten? Er schüttelte den Kopf, als das Flaggschiff erneut heftig zu schlingern begann.
Kaum einer der Ruderer rührte eine Hand, genausowenig wie die gordischen Aufseher. Aller Augen hingen gebannt an dem merkwürdigen Schiff. Mächtig oder nicht, der nach Rache dürstende Zauberer der Mirkaner würde nicht viel mehr erreichen, als mit den Gorden unterzugehen. Brak empfand diese Aussicht für sich persönlich durchaus nicht beruhigend. Das Greifenschiff hatte sich einen Weg durch die feindlichen Galeeren gebahnt. Keine der unzähligen Speere und Pfeile der Gorden hatten ihr Ziel erreicht. Immer noch stand Kalkanoth aufrecht auf der Greifenstirn. Seine Hände malten mystische Zeichen in die Luft, während sein graues Gewand um ihn flatterte, und der Wind an seinem Bart zerrte. Ilona hielt sich mit der Linken an der Reling fest und formte ihre Rechte zur Klaue, die sie emporstieß, als versuche sie, etwas aus den Wolken zu reißen. Gleichzeitig mit einem ohrenbetäubenden Donner zerriß ein scharlachroter Blitz die Wolken. Er schlug ins Meer, und das Wasser begann zu brodeln. Die gordischen Soldaten schrien auf. Zwei Bänke vor Brak war ein Mirkaner aufgesprungen. Schaum drang aus seinem Mund, und er hämmerte mit den Fäusten gegen das Ruder. »Kolkanoth wird uns rächen! Kalkanoth bringt die Dunklen Mächte.« heulte er. Der Admiral sprach hastig mit Ilona. Dann hob er einen bronzenen Trichter an die Lippen und brüllte: »Fürchtet euch nicht. Ilona kennt die Geheimnisse unseres Feindes. Er vermag nur Trugbilder zu erschaffen. Durch den Sturm ist der ganze Himmel in Bewegung, und das erleichtert es ihm noch, seine Phantasiedämonen herbeizurufen. Ilona wird seine Phantome bannen ...« Furchterfülltes Gebrüll von einer nahen Galeere übertönte seine Worte.
Scharlachrotes Licht stieg aus der See zwischen der Galeere des Admirals und dem Greifenschiff. Zwei furchterregende, tellergroße Augen in einem riesigen Schuppenkopf tauchten auf. Ein schleimtriefender Körper, so hoch wie die Galeerenreling und doppelt so lang, zog sich nach. Das Ungeheuer schlug mit seinen zehn scharfen Schwanzspitzen und den gewaltigen Vorder- und Hinterklauen um sich. Es erhob sich nun hoch über dem Flaggschiff. Ein weiterer scharlachroter Blitz zerriß den Himmel. Wieder einer. Und noch einer. Mit jedem Donnerschlag stieß ein neues Ungeheuer aus den wogenden Fluten. Hier eine geflügelte Bestie mit einem glühenden Auge in einem Kugelkopf. Dort eine sich windende Masse, höher als der höchste Mast, mit unzähligen Saugnäpfen. Überall zwischen den Schiffen tauchten die höllischen Kreaturen auf. Mit immer wilderen Gebärden fuhren Ilonas Hände durch die Luft. Winzige weiße Blitze zischten aus ihren Fingerspitzen. Aber ihr Gesicht war eine Maske der Wut und Verzweiflung. Die mirkanischen Gefangenen zerrten heftig an ihren Ketten. Die Soldaten flüchteten vor Angst heulend zur Reling und achteten nicht auf den Admiral, der durch den Bronzetrichter brüllte: »Bewahrt Ruhe. Die Ungeheuer sind nur Blendwerk! Ilona wird sie vertreiben!« Die Hexe riß ihm den Trichter aus der Hand und hielt ihn an die Lippen. »Ich kann nicht allein gegen sie ankämpfen. Ihr müßt mir dabei helfen. Ihr braucht nur fest daran zu glauben, daß die Bestien, die ihr seht, nur Phantomgebilde sind. Das sind sie tatsächlich. Eure Gedanken müssen es hinausbrüllen, daß Kalkanoths Dämonen nicht wirklich sind, daß sie sich vor euren Augen auflösen, wenn ihr ...« Ilonas Aufruf brach ab, als Soldaten vom Achterdeck an ihr vorbeistürmten und sie gegen die Reling drängten. Einer nach dem anderen sprangen die Krieger über Bord. Sie zogen den
Tod in den Wellen jenem durch das Schuppenungeheuer vor, das sich nun über das Flaggschiff beugte. Brak schüttelte verwirrt den Kopf. Manchmal schien ihm, als wären die Bestien durchscheinend wie feiner Morgennebel, doch gleich darauf war er wieder sicher, daß sie aus festem Stoff bestanden. Die Wogen schlugen immer höher. Die Luft um Brak wurde zum scharlachroten Schleier. Schiff um Schiff versank in der tobenden See. Weit voraus tanzte Kalkanoths blaue Laterne über dem Wasser. Nun brach unter den Mirkanern ein Geheul aus, als der Kopf des Schuppenwesens durch die Masten herabtauchte. Die Ruderer versuchten, dem nur allzu echt wirkenden Phantom auszuweichen, mit dem Kalkanoth Rache suchte. Wild zog der Barbar an seinen Ketten, da bemerkte er, daß seine Handgelenkfesseln sich von dem zerbrochenen Ruder gelöst hatten. Unter seinen Füßen barsten die Deckplanken durch die Wucht der brandenden See. Er stolperte über das Durcheinander der heulenden Gefangenen auf die Reling zu. Eine Hand legte sich auf seine nackte Schulter. Brak wirbelte herum. Einer der gordischen Aufseher holte halb wahnsinnig vor Angst mit dem Kurzschwert aus, um den Schädel des Barbaren zu spalten. Brak riß seine Rechte hoch. Das gebrochene Kettenende traf den Aufseher zwischen die Augen. Leblos sank er zu Boden. Als er sich über die Reling schwingen wollte, schob sich eine verschwommene rote Klaue von sechsfacher Mannesbreite vom Wasser an Bord. Das unheimliche Ding war echt und wiederum auch nicht. Brak rannte weiter. Er zog es vor, nicht durch das Ungeheuer zu tauchen, dessen monströser Schädel über den berstenden Masten pendelte. Der Barbar bahnte sich einen Weg durch die furchterfüllt vor sich hinbrabbelnden Gorden und Mirkaner, die in ihrer Angst
nichts als die schrecklichen Phantomgebilde sahen. Schließlich erreichte er das Achterdeck, wo ein Stück der Reling noch frei von Ungeheuern war. Doch unmittelbar davor stolperte ein wimmernder Mann auf ihn zu. Der Admiral. Brak sprang zur Seite. Irgendwie schien die Bewegung den Offizier ein wenig zur Besinnung zu bringen, und er erkannte einen Gegner, der greifbar war. Er zog seinen Speer, um Brak zu durchbohren. Der Barbar wich aus, aber nicht schnell genug. Die Speerspitze drang in seine Hüfte und hinterließ eine tiefe Fleischwunde. Mit einem wilden Schrei rammte er dem Admiral das erbeutete Kurzschwert in den Leib. Er schob den Toten beiseite und erstarrte. Die Hexe Ilona klammerte sich am schwankenden Ruder fest und starrte ihn mit haßerfüllten Augen an, als wolle sie sich sein Gesicht für immer einprägen. Trotz ihrer Jugend wirkte sie alt und gebeugt. Ihre Lippen öffneten sich. Sie hob eine Hand. Gedachte sie, den Admiral mit einem ihrer Zaubersprüche zu rächen? Doch ehe sie das erste Wort ausstoßen konnte, spülte eine gewaltige Welle über das Achterdeck. Sie schleuderte Brak durch die Luft und schwemmte die Hexe mit sich. Mit ungeheurer Wucht schlug der Barbar auf dem Meer auf. Halbbetäubt sank er in die Tiefe, drehte sich ein paarmal, ehe er wieder an die Oberfläche kam. Er bemühte sich, den Kopf über Wasser zu halten, aber es gelang ihm nur mit größter Anstrengung. Der Schmerz in der Hüfte pochte. Seine Brust brannte, und er fühlte sich entsetzlich schwach. Überall um ihn herum trieben Leichen und Schiffstrümmer, und die letzten der Galeeren versanken in den tobenden Fluten. Die Ungeheuer wurden immer durchsichtiger und waren bald ganz verschwunden. Von Kalkanoths Schiff war nichts mehr zu sehen. Der Zauberer hatte erreicht, was er wollte. Die gordische Flotte war zerstört, als letztes das Flaggschiff, das hinter Brak
langsam in der Tiefe versank. Der Himmel war nun heller. In weiter Ferne strahlte die Sonne über die Küste. Aber die See war noch stürmisch, die Wellen schlugen hoch. Braks Arme schmerzten, als er sich durch das Wasser kämpfte. Er wußte, daß er es unmöglich bis zur Küste schaffen konnte. Und dann wußte er gar nichts mehr.
2. Strahlende Helligkeit ließ Brak blinzelnd die Lider heben. Schmerz pulsierte in seinem Bein und machte den Rest seines Körpers fast gefühllos. Nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, seine Augen offenzuhalten. Er lag auf einer dunkelroten Wolldecke. Der Schwanz seines Löwenfellbeinkleids baumelte auf den Boden. Ein langgezogener Schatten strich über die bespannte Wand, schien sich über ihn zu beugen. Ein Hüter der Unterwelt, dachte Brak. »Die Küste«, krächzte er. »Sie ist zu fern. Ich erinnere mich an ...« Er erinnerte sich wirklich. Die peitschenden Wellen, seine Überzeugung, es nie zu schaffen. Plötzlich wurde sein Blick klarer. Er befand sich in keiner nebelschweren Vorkammer zur Hölle. Der Nebel war lediglich seinem getrübten Blick zuzuschreiben gewesen, und der riesenhafte Schatten gehörte einer schlanken jungen Frau mit sanften Zügen, die sich über ihn beugte. Sie trug ein weißes Gewand, über das ihr kupferfarbiges Haar bis zum Gürtel fiel. »Könnt ihr mich jetzt verstehen, Fremdling?« fragte sie atemlos. Er nickte und wünschte sofort, er hätte es unterlassen. »Einen ganzen Monat lang saß ich an Eurer Seite und wartete
auf Euer Erwachen.« »Einen Monat?« Brak blinzelte verwirrt. »Wer seid Ihr? Und wo bin ich hier?« Das Mädchen lächelte, ein wenig verlegen, wie ihm schien. Aber das mochte an seinem Aussehen liegen, dachte er. Er war halbnackt und füllte die ganze Liegestatt aus, so lang und breit war er. Frisches Leinen war um seine Hüften gebunden, wo der Speer des Admirals ihn getroffen hatte. »Ich bin Saria«, murmelte das Mädchen. »Aber es ist vielleicht besser, wenn mein Vater und Calix Euch alles erklären.« Die junge Frau näherte sich mit geschmeidigen Bewegungen den Türvorhängen. Brak setzte sich auf und verzog das Gesicht. Schmerz tobte erneut durch sein Bein. »Ist Euer Vater einer der Gorden, Mädchen?« rief er ihr nach. Sein Ton und sein verzerrtes Gesicht schreckten sie und raubten ihr die Stimme. So schüttelte sie nur den Kopf und verschwand eilig durch die raschelnde Seide. Brak blickte sich mit gerunzelter Stirn in dem großen luftigen Gemach um. Straßengeräusche drangen durch das offene Fenster. Sie wirkten irgendwie beruhigend auf ihn. War der Kampf auf der Schwarzen See nur ein Alptraum gewesen? Aber er wußte nur zu gut, daß dem nicht so war. Seine Hüftwunde sprach für die Wirklichkeit jener gespenstischen Seeschlacht. Und er erinnerte sich der Augen der Hexe, die voll Haß auf ihm geruht hatten. Er hörte Stimmen von außerhalb der Seidenvorhänge. Ein kostbar gekleideter, älterer Mann mittlerer Größe trat in das Gemach. Sein Gesicht mit dem kurzen, graumelierten Bart strahlte Güte aus. Ein jüngerer Mann mit gelocktem, rotem Haar und tiefblauen Augen folgte ihm. Im Gegensatz zu der bronzefarbigen Haut des Älteren war seine von einem sehr hellen Ton. Ein Zirkassier, vermutete Brak. Er trug die einfache graue
Tunika eines Freigegebenen. Der Bärtige blieb in sicherem Abstand vor Brak stehen. »Ich bin Phonicios. Ihr befindet Euch in meinem Haus.« »Mein Name ist Brak. Ich bin überzeugt, ich schulde Euch Dank, nur weiß ich noch nicht, in welchem Ausmaß.« Phonicios musterte ihn. »Wir haben uns Gedanken über Euch gemacht, Fremder. Ihr seid kein Mirkaner. Auch kein Gorde. Und doch fanden wir Euch, das heißt, mein Haushofmeister Calix« - er deutete auf den Freigegebenen - »fand Euch bewußtlos am Strand, und zwar in jener Nacht nach der großen Seeschlacht. Das liegt nun schon einen guten Monat zurück. Seither habt Ihr im Fieberwahn getobt. Oftmals befürchteten wir, Ihr würdet sterben. Wir mußten Euch das Essen mit Gewalt eingeben, und das war nicht ganz ohne Gefahr für uns.« Er lächelte. »Wie kam es, daß Ihr mich fandet?« wandte Brak sich an den Haushofmeister. Der Zirkassier musterte ihn kühl. »Ein Auftrag meines Herrn führte mich am Strand vorbei. Mein erster Gedanke war, mich nicht um Euch zu kümmern. Aber die Ketten an Euren Gelenken überzeugten mich, daß Ihr keine freiwillige Reise an Bord eines der gordischen Schiffe unternommen hattet. So lud ich Euch in den Wagen und brachte Euch zu Lord Phonicios. Ein Glück für Euch, daß der Gildenmeister eine mitleidige Tochter hat.« Calix warf Saria einen zärtlichen Blick zu, den sie nicht weniger liebevoll erwiderte, ehe sie sich errötend abwandte. Dann fuhr der Haushofmeister fort: »Ich hätte gewiß nicht die ganze Zeit sorgend bei Euch gesessen, Fremdling. So wie Ihr ausseht, würde ich sagen, bringt Ihr nur Unfrieden ...« Phonicios runzelte die Stirn. »Urteile nicht voreilig, Calix«, warnte er. »Du solltest deine Zunge besser hüten.« Brak gelang ein schwaches Lächeln. »Ich bin es gewohnt, daß man mich nicht nur Barbar nennt, sondern auch für einen
Halbwilden hält. Ich komme aus den hohen Steppen, wo die Menschen sich nicht so vornehm kleiden und ihre Manieren rauher sind als hier bei Euch. Ich war Gefangener auf dem gordischen Flaggschiff und - doch ehe ich Euch die ganze Geschichte erzähle, bitte ich Euch, beantwortet mir eine Frage: Wo bin ich hier eigentlich? Ich meine, in welcher Stadt?« Phonicios rückte ein Tischchen an Braks Liege und schenkte Wein aus einer Amphore in einen Becher. »Trinkt erst einen Schluck«, forderte er ihn auf. »Wir sind hier im Stadtreich Rodars, des Königs der Doppelbucht.« Phonicios zog die Brauen zusammen. »Wäre der König nur hier, uns zu beschützen, statt dieses unfähigen Wesirs, der uns noch wie Lämmer auf die Schlachtbank der Gorden führen wird.« »Rodar«, murmelte Brak. »Ich entsinne mich. Wir sahen die Stadt vom Schiff aus.« »Und unsere Wächter«, warf Saria ein, »beobachteten den Kampf auf dem Wasser von unserem Küstenwachturm aus. Gespenstisches rotes Feuer, Alptraumkreaturen, die sich aus den Wellen hoben. Die Geschichten, die erzählt wurden, verbreiteten Angst und Schrecken in der Stadt.« Das Mädchen schauderte. »Kein Wunder«, brummte Brak. »Ich habe schon so manches Ungeheuer gesehen, doch keines so furchterregend wie jene, die der Zauberer im Greifenschiff herbeibeschwor. Doch schulde ich Euch meine Geschichte in der rechten Reihenfolge. Laßt mich erst noch einen Schluck Wein zu mir nehmen und einen Bissen jenes Brotes dort, das Ihr sicher für mich gedacht habt.« Er griff nach dem riesigen Laib auf dem Tisch und brach ihn in die Hälfte. Er kaute mit einem Heißhunger und spülte das Brot mit Wein nach. Phonicios und Calix warfen einander halb belustigte, halb wachsame Blicke zu. Saria zog sich auf den Diwan in einer
entfernten Ecke zurück. Noch mit vollem Mund begann Brak in groben Zügen die Geschichte seines Marsches nach dem Süden zu erzählen und seiner Gefangenschaft durch die Gorden. »Ich muß, ohne mir dessen noch bewußt gewesen zu sein, bis zur Küste geschwommen sein.« Phonicios begann aufzuhorchen, als Brak von den Gorden und Ilona berichtete. Sein Blick wurde immer besorgter. »Barbar, Ihr sagtet, Ihr schuldet mir Dank. Würdet Ihr mir eine Bitte erfüllen? Tut Ihr es, ersetze ich Euch Euer verlorenes Breitschwert.« Braks Gesicht wurde ernst. »Sprecht, Lord Phonicios. Ich schulde Euch viel, mein Leben sogar, scheint mir.« »Ich möchte, daß Ihr mich zum Palast begleitet, sobald Ihr Euch besser erholt habt. So unfähig Mustaf ben Medi auch sein mag, es ist meine Pflicht als Bürger der Stadt an der Doppelbucht, ihm zu berichten, was ich über den Feind erfahren habe. Es war uns bisher nicht bekannt, daß die Gorden über zauberkräftige Mittel verfügen. Und wenn diese Ilona den Sturm überlebt hat ...« »Ich glaube es nicht, obwohl es natürlich sein könnte. Doch warum seid Ihr deshalb so besorgt?« »Weil König Rodar sich an der Landesgrenze mit einem Teil unserer Armee auf eine Invasion der Gorden auf dem Landweg vorbereitet. Die Schiffe, die versanken, sind nur ein Bruchteil der gordischen Streitkräfte. Wenn diese Ilona nun doch überlebte und sich irgendwie den Kampftruppen zu Lande anschloß, dann würde ich sagen, ist der Untergang der Flotte im Verhältnis dazu unbedeutend. Wir müssen Rodar warnen.« »Ihr müßt wissen, Barbar«, brummte Calix, »daß die Bürger dieses Stadtreichs ihr Leben für Rodar geben würden. Aber gegen Zauberkräfte kämpfen zu müssen, ist eine andere Sache.« »Wem sagt Ihr das!« Brak nickte. »Lord Phonicios, seid
meiner Hilfe versichert.« Er lächelte. »Ich danke Euch allen.« »Ruht jetzt, Barbar. Vielleicht seid Ihr schon morgen stark genug, mich zu begleiten.« Phonicios, seine Tochter und der Haushofmeister verließen das Gemach. Schmunzelnd bemerkte Brak, daß Calix hinter Phonicios’ Rücken zärtlich die Hand Sarias an sich drückte. Gegen Mittag des nächsten Tages erwachte Brak. Er fühlte sich bedeutend wohler. Seine Hüfte schmerzte nicht mehr so stark, und er vermochte sogar auf den Beinen zu bleiben. Neben seiner Liege fand er zu seiner größten Freude ein neues, von Meisterhand geschmiedetes Breitschwert, das bis zur Hälfte der Klinge aus seiner gehämmerten Bronzehülle herausragte. Ein wahrhaft fürstliches Geschenk des Gildenmeisters. Nach einem reichlichen Mahl machte Brak sich mit dem bärtigen Kaufmann auf den Weg durch die Straßen der Stadt. Überall verbeugten die Menschen sich respektvoll vor Phonicios. Der Meister der Kaufmannsgilde in dieser wohlhabenden Stadt stand offenbar in hohem Ansehen. Der breitschultrige Barbar mit dem gelben Zopf, dem Löwenschwanz, der von seinem Beinkleid baumelte, und dem Breitschwert, das von seiner Seite hing, musterten die Vorübergehenden mit verwunderten Blicken. Die beiden Männer kamen zu einem ungewöhnlich großen Platz, an dessen entgegengesetztem Ende ein gewaltiger Säulentempel stand. Links und rechts von ihm ragten zwei gigantische Statuen hoch über ihn hinaus. Sie waren höher noch als die höchsten Gebäude der Stadt. Brak bewunderte die meisterhafte Arbeit dieser Bronzekolosse, die bis ins kleinste Detail ausgeführt war. Phonicios deutete auf den Tempel. »In ihm ist unser größtes Heiligtum aufbewahrt, Brak - das
Heilige Vlies, das Symbol unserer Freiheit, solange unsere Geschichte zurückreicht. Es heißt, es sei ein Göttergeschenk an unseren ersten König. Sollte dieses Vlies je vernichtet werden oder in die Hand des Feindes fallen, würde es den Untergang unseres Stadtreichs bedeuten, glaubt man.« »Ich kann mir vorstellen, daß die Gorden sehr daran interessiert sind«, brummte Brak. »So ist es, mein Freund. So ist es.« »Erzählt mir von Euren Göttern, Lord Phonicios. Sie sind mir fremd«, bat der Barbar. Phonicios blieb in der Mitte des von Menschen wimmelnden Platzes stehen und deutete auf die linke Statue. Wie auch die rechte war sie gut zwanzigmal so groß wie Brak. Sie stellte eine füllige Frau dar, die nur einen Keuschheitsschurz um ihre bronzenen Hüften trug. »Wir verehren zwei Gottheiten, Brak. Dies hier ist Ashtir, unsere Göttin der Fruchtbarkeit. Seht Ihr die riesigen Räder unter ihrem Podest? Ihre Statue kann durch eine großartig durchdachte Anordnung von Flaschenzügen und Gewichten von einer Kammer in ihrem Kopf aus bewegt werden. Zur Pflanzzeit bringt man sie zu den Feldern, damit sie ihren Segen für ein reiches Wachstum gibt. Sie ist eine gütige Göttin. Aber sie steht an zweiter Stelle hinter Jaal.« Phonicios hatte die Stimme gesenkt und machte ein kabbalistisches Zeichen, als er auf die andere Statue blickte. Sie hatte die Gestalt eines Mannes mit gewaltigen Muskeln. Aber ihre Bronzehaut war nicht glatt, sondern schuppig wie die eines Fisches. Sie hatte nur ein Auge - in Stirnmitte -, das den riesigen Platz zu überwachen schien. »Jaal, der Gnadenlose«, fuhr der Gildenmeister fort. »Er ist mehr Dämon als Gottheit. Die Menschen lieben Ashtir, aber sie bringen ihre Opfergaben zu Jaal, um ihn milde zu stimmen. Er ist der Gott des Unglücks, der uns alle vernichten kann.« Brak vermochte einen Schauder nicht zu unterdrücken und
wandte seinen Blick von der gigantischen Statue ab. Als sie direkt an ihrem Podest vorbeikamen, sah er, daß es wahrhaftig mit Opfergaben überhäuft war, und Dutzende von Menschen vor ihr knieten, und sobald diese sich erhoben, nahmen andere ihren Platz ein. Nun schritten Brak und Phonicios eine breite Prunkstraße entlang, die direkt zum Palast führte. Sie stiegen mehrere hundert Marmorstufen empor und hatten keine Schwierigkeiten, ins Innere zu gelangen. Doch vor dem Audienzsaal hielt ein mit kostbaren Gewändern und Edelsteinen überladener Seneschall mit einem hohen Elfenbeinstab sie auf. Durch die offene Tür sah Brak einen Thron, auf dem bequem zurückgelehnt ein rundlicher und weißhäutiger Mann saß. Mit schriller Stimme redete er auf ein paar Offiziere in Kriegsrüstung ein. »Es ist von größter Wichtigkeit, daß wir mit dem Wesir ben Medi persönlich sprechen«, versuchte Phonicios den Seneschall zu überzeugen. »Dieser Mann hier, Brak, hat etwas zu berichten, das für König Rodar an der Front sicherlich von großem Wert ist.« Der Seneschall warf Brak einen abfälligen Blick zu. »Dieser Tölpel? Er sieht mir nicht aus, als brächte er auch nur ein verständliches Wort über die Lippen. Phonicios, des Wesirs Zeit ist kostbar. Er kann sich nicht damit auf halten ...« Der Seneschall hielt erschrocken inne und schluckte, als Brak einen Schritt auf ihn zutat. »Ich trage vielleicht keine eleganten Roben, Höfling«, sagte er drohend, »aber ich kann mich klar genug ausdrücken, Euch zu versichern, daß eine weitere Beleidigung Euch einen gebrochenen Hals einbringen wird.« Hastig hob der Seneschall die Hände. »Frieden, Fremdling. Laßt mich hören, was Ihr zu berichten habt« Phonicios erzählte die Geschichte in groben Zügen, und hin und wieder flocht auch Brak eine Bemerkung ein. Der Seneschall kaute an seiner Lippe und zuckte die Schultern.
»Wartet hier.« Er trippelte eilig in den Thronsaal und flüsterte Mustaf ben Medi etwas zu, ohne die Offiziere zu beachten. Der Wesir, dessen ungesund rotgefleckten Wangen sein ausschweifendes Leben verrieten, begann zu kreischen und wütend zu gestikulieren. Die Offiziere beobachteten die unwürdige Szene mit finsteren Gesichtern. Mit roten Ohren lief der Seneschall zur Tür zurück und schloß sie hinter sich. Ein wenig verlegen zuckte er erneut die Schultern. »Vielleicht habt Ihr bis hierher gehört, was der Wesir sagte. Daß die Gorden einen Einfall auf dem Landweg planen, ist ihm nicht neu. Und daß sie vielleicht eine Zauberin hinzuziehen, ist nicht gerade eine Kunde von militärischer Bedeutung. Mustaf ben Medi ersucht Euch, ihm in Zukunft Kunde von echten, nicht eingebildeten Gefahren zu bringen, die die Stadt bedrohen. Der König sorgt für die Sicherheit der Grenze. Der Wesir hat die Verantwortung für die Bürger hier und ist zu beschäftigt, sich auch noch um anderes zu kümmern.« Phonicios. hob verächtlich die Schulter. »Kommt, Brak. Wir wollen nicht noch mehr Zeit vergeuden.« »Aber die Hexe könnte Eure Leute mit ihren Zauberkünsten so in Panik versetzen, daß sie sich ergeben, wenn ihnen nicht gar etwas Schlimmeres geschieht!« brauste Brak auf. »Wenn sie noch lebt und sich diese Stadt hier vornimmt ...« »Habt Ihr einen Beweis, daß sie noch lebt?« unterbrach ihn der Seneschall. »Bringt ihn, wenn Ihr ihn habt und auch genauere Angaben, wie man gegen sie und ihr Zauberwerk vorgehen kann. Dann wird Mustaf ben Medi Euch empfangen. Vorher will er nicht von Euch gestört werden.« Phonicios brummte etwas nicht sehr Schmeichelhaftes in seinen Bart und schritt voran. Brak warf einen grimmigen Blick auf den weibischen Seneschall und folgte dem Kaufmann.
Als sie sich dem Korridor näherten, der zum Hauptportal des Palasts führte, deutete Phonicios auf einen schmalen Seitengang. »Ich weiß einen schnelleren Weg ins Freie. Es stinkt mir hier zu sehr nach Dummheit und Feigheit.« Sie erreichten durch einen Seitenausgang eine Kolonnade, die strahlender Sonnenschein erhellte. Eine zerlumpte Gestalt kam ihnen entgegen. Brak beachtete sie nicht, bis Phonicios mit bleichem Gesicht im Schatten einer Säule stehenblieb. »Ich habe doch den falschen Weg gewählt«, murmelte er. »Es scheint heute mein schwarzer Tag.« Der Näherkommende hatte die beiden entdeckt und hielt direkt vor ihnen an. Einen Augenblick, als die Sonne darauf fiel, konnte Brak sein Gesicht sehen, das ihn abstieß. Es war von fahlem Gelb, mit eingefallenen Wangen und boshaften Augen und einem strähnigen Spitzbart. Der Mann sah in seinem schäbigen Kapuzenumhang heruntergekommen und schmuddlig aus. Ein abstoßendes Grinsen zog über sein Gesicht. »Oh, hat der hochverehrte Meister der Kaufmannsgilde sich einen Leibwächter angeschafft?« Er warf Brak einen abschätzenden Blick zu. »Gebt den Weg frei, Huz«, brummte Phonicios. »Ich bin mit Euch fertig.« »Doch ich nicht mit Euch«, höhnte der Fremde. Er wandte sich an Brak: »Ich nehme an, der ehrenwerte Lord Phonicios hat Euch angestellt, weil er um sein Leben fürchtet. Ihr sollt ihn wohl vor mir beschützen? Nun, ich versichere Euch, ich werde nicht mit dem Schwert kämpfen.« »Ihr werdet mich in Ruhe lassen, Huz al Hussayn«, warnte Phonicios. »Euer Ausschluß aus der Gilde ...« »... war eine Farce!« brauste der andere auf. »Eine von Euch betriebene Verschwörung.« »Wollt Ihr leugnen, daß Ihr betrügerischen Geschäften nachgegangen seid, die die ganze Gilde in Verruf zu bringen
drohten?« brüllte Phonicios. »Ich bestreite es, denn Ihr könnt es mir nicht beweisen. Doch Ihr verstandet es, die vollgefressenen Gildemitglieder auch so zu überzeugen.« Huz fuchtelte mit einem schmutzigen gelben Finger vor Phonicios’ Gesicht herum. »Vielleicht war ich hin und wieder etwas zu sehr auf meinen Vorteil bedacht. Aber ich habe meinen Teil an Dinschas an die Gilde bezahlt, wie alle anderen auch. Ihr hattet kein Recht, mich auszustoßen. Das ist etwas, was ich nicht so ohne weiteres hinnehme. Ihr wart zu feige, es mir ins Gesicht zu sagen! Ihr brauchtet die Gilde als Rückendeckung. Aber ich verspreche Euch, Ihr werdet es noch bereuen!« Phonicios’ Schläfenader schwoll an. »Geht mir aus dem Weg, Schurke!« befahl er. Huz al Hussayn schüttelte höhnisch den Kopf. »Nicht, ehe Ihr gehört habt, was ich mir als Strafe für Euch ausdachte.« Ergrimmt packte der Kaufmann den Arm des anderen, um ihn zur Seite zu ziehen. »Ich warne Euch«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme. »Bleibt mir aus dem Weg ...« »Ihr werdet noch anders mit mir reden!« drohte Huz und riß sich los. Blitzschnell hieb er Phonicios die geballte Faust gegen die Schläfe, daß dieser mit dem Hinterkopf gegen eine Säule schlug. Brak hatte die Hand am Breitschwert, zögerte jedoch, es zu gebrauchen. Da bog Huz sein Knie, um es dem Gildenmeister in den Bauch zu rammen. Huz schien bedeutend jünger und gewandter zu sein, als er aussah. Der ältere Phonicios war kein ebenbürtiger Gegner für ihn. Als Brak das erkannte, zog er das Schwert aus der Hülle. »Nein!« keuchte Phonicios, der sich vor Schmerz krümmte. »Nein, Brak! Ich bin kein Feigling - der andere - für sich kämpfen läßt - mit Ungeziefer -wie ...« Huz kreischte und krallte dem Älteren die Nägel tief in den
Hals. »Ihr habt mich schon genug erniedrigt. Ihr Pharisäer. Ich werde keine weiteren Eurer Beleidigungen dulden!« Ich darf nicht länger zusehen, dachte Brak. Auch wenn Phonicios zu stolz ist, Hilfe zu erbitten. Der Kaufmann zerrte an den Händen, die sich grausam in seinen Hals gruben. Da hob Brak das Breitschwert. Huz al Hussayn sah die Bewegung aus dem Augenwinkel. Brak war noch vier oder fünf Schritte von den beiden Männern entfernt. Ehe er sie erreichte, gab Huz den Gildenmeister frei. Phonicios sackte zusammen. Huz wirbelte herum, daß der Umhang flatterte, und schritt laut lachend rückwärts. Brak blieb verwirrt stehen. Vielleicht war der andere nicht mehr bei klarem Verstand, denn Huz leierte jetzt etwas Unverständliches vor sich hin. Wütend stürmte der Barbar auf ihn ein. Doch ehe er das Breitschwert zu senken vermochte, kicherte Huz krächzend und klatschte in die Hände. Plötzlich schob sich trotz der strahlenden Sonne außerhalb des Säulengangs eine öligschimmernde Finsternis zwischen ihn und den Schurken. Brak starrte mit weiten Augen auf die sich windende, wirbelnde Rauchsubstanz, die sich an manchen Stellen purpurn verfärbte. Sein Magen verkrampfte sich vor Grauen. Langsam nahm die brodelnde Finsternis menschliche Gestalt an. Ein schwarzes Phantomgesicht stierte ihn an. Nebelhände schossen auf ihn zu. Unwirkliche Hände, zwischen denen eine ebenso unwirkliche schwarze Knotenschnur hing, an der Blutstropfen glitzerten. Es war Brak, als höre er die Nebelgestalt kichern, oder war es Huz? Mit einem Mal spürte er einen entsetzlichen Schmerz. Die Schnur umschlang seinen Hals, würgte ihn. Das Phantom wogte vor seinem Gesicht. Es schien echt und doch nicht echt. Ein Schwefelgestank haftete ihm an. Immer tiefer drangen die Knoten der gespenstischen Würgeschnur in
Braks Kehle. Immer enger schnürte sie sich zusammen. Die Welt begann vor Braks Augen zu verschwimmen. Verzweifelt bemühte er sich, den Schwertarm herunterzustoßen. Endlich gelang es ihm. Die Klinge pfiff durch die Rauchsubstanz, die sich in dünne Schleier auflöste und davonwirbelte. Das klirrende Scharren des Schwertes gegen eine Säule brachte Brak wieder ganz zu sich. Er wirbelte herum. Von der Nebelsubstanz war nichts mehr zu sehen, doch der Teufelsgestank hing noch in der Luft. Der fliehende Huz al Hussayn hatte bereits das Ende der Kolonnade erreicht. Er rief über seine Schulter zurück: »Das war nur ein kleiner Vorgeschmack, meine teuren Freunde!« Dann verschwand er um die Ecke. Nach Luft schnappend rieb Brak sich den Hals. »Ich - ich spürte die Knoten - die Schnur«, keuchte er. »Ich sah ein Gesicht. Aber da war - nichts.« Phonicios stolperte aschfahl auf ihn zu. »Ich sah es ebenfalls, Brak. Das Gesicht war echt. Ich erkannte es!« Kalter Schweiß träufelte Braks Rücken hinab. »Echt?« echote er. »Es war das Gesicht eines Verbrechers, der hierzuort berüchtigt war. Ein Würger namens Yem. Ein Nachtwächter erwischte ihn bei einer seiner Untaten und stieß ihm den Speer in den Rücken. Er starb schon vor Monaten.« Brak schüttelte sich. »Irgendwie, Lord Phonicios, hat dieser Huz den Würger aus dem Grab geholt. Euer Todfeind, Herr, ist kein gewöhnlicher Mensch. Er hat Gewalt über Geister und scheint der Zauberkunst mächtig.«
3. Allmählich verdrängten die Sonnenstrahlen das erlebte Grauen. Brak schob sein Schwert in die Bronzehülle zurück. Phonicios hatte sich wieder einigermaßen gefaßt. Er brachte sogar ein Lächeln zustande, als er sagte: »Nein, mein Freund und Beschützer, wir dürfen den Göttern danken, daß wir noch leben.« Brak rieb sich den Hals. »Er fühlt sich immer noch an, als hätte eine echte Schnur ihn gewürgt und nicht die unwirkliche eines Geistes. Sagt mir, Lord Phonicios, es sind doch gewiß keine Male zu sehen?« Die Antwort des Gildenmeisters versicherte ihn des Gegenteils. »Sie sind zu sehen - tiefe rote Schürfwunden. Und es ist erwiesen, daß die nebelhafte Würgeschnur des toten Yem durchaus zu töten vermag.« Brak schüttelte sich. »Laßt uns diesen schrecklichen Ort verlassen, Lord Phonicios«, bat er. Schweigend eilten sie zum Ende des Säulengangs und die breiten Stufen hinunter in die Geschäftigkeit des Marktes. Wolken zogen im Westen auf. und die Sonne hinter ihnen wirkte wie eine weiße Scheibe. Die Luft wurde drückend, und die fröhlichen Zurufe zwischen Händlern und Kunden, die sich durch die schmalen Gassen an den farbenfrohen Verkaufsständen vorbeidrängten, klangen schriller. »Huz ist rachsüchtig«, murmelte der Kaufmann, als sie eine breite Straße erreichten. »Wir müssen aufpassen. Er wird es nicht bei diesem einen Versuch belassen.« Phonicios schnitt ein Gesicht. »Verzeiht, ich vergaß, daß Ihr nicht zu meinem Haushalt gehört und Euch diese ganze Sache ja gar nicht betrifft. Ich danke Euch für Eure unschätzbare Hilfe. Aber diese Auseinandersetzung ist nicht Eure Angelegenheit, mein Freund.«
»Nun ist sie es, Lord Phonicios. Denn Huz hat auch mich bedroht. Nicht davon zu reden, daß Ihr mir mein Leben zurückgabt, Ihr, Eure Tochter und Euer Haushofmeister Calix. Einen vollen Monat lang wachte Lady Saria über meine Gesundung. Ich habe Euch noch nicht einen Tag davon zurückbezahlt. Ich werde diese Stadt nicht verlassen, ehe ich Euch nicht einen Monat gedient und die Schuld für mein Leben zurückerstattet habe. Und nun«, knurrte er, und seine Finger umspannten den Schwertgriff, »laßt uns diesen Huz finden und mit ihm abrechnen.« Phonicios schüttelte traurig den Kopf. »Es wäre einfacher, eine Nadel im Heuhaufen zu finden.« »Dann erzählt mir wenigstens mehr von ihm. Von ihm und diesem Würger.« »Das tue ich gern. Kommt, wir nehmen diese Straße. Jenseits des Tores an ihrem Ende liegt ein Ort, der uns etwas über Yem erklären mag und über einige andere Dinge, die sich plötzlich wie ein Mosaik in meinem Kopf zusammengefügt haben.« »Und was liegt hinter diesem Tor?« erkundigte sich Brak. »Die Ruhestätten der Toten.« Ein Schatten schien sich auf Brak herabzusenken, aber er folgte Phonicios ohne Zögern und lauschte den Worten des Älteren. »Was Huz sagte, stimmt zum größten Teil, obgleich es verfärbt ist. Es bestand guter Grund, ihn aus der Gilde auszuschließen. Es wurde offen darüber abgestimmt. Und er hat recht, der Antrag kam von mir. Aber er war selbst anwesend, als wir die Elfenbeinwürfel bei der Abstimmung in die Schale warfen. Huz hatte das Recht, sich zu verteidigen, aber er leugnete keine unserer Anschuldigungen ab. Er lachte nur und nannte uns weltfremde alte Narren, an die es sich nicht lohne, auch nur ein Wort zu verschwenden. Aber, und das wiederhole ich, er bestritt nichts.« »Was wurde ihm zur Last gelegt?«
Huz war Teppichhändler - er verkaufte angeblich Importware aus Jaffnia. Aber seine sogenannten feinsten Jaffniateppiche wurden für einen Hungerlohn in den Armenvierteln dieser Stadt geknüpft. Die Echtheitspergamente fälschte er meisterhaft. Irgendwie war er in den Besitz eines Siegelrings der jaffnianischen Teppichknüpfer gekommen, den er großzügig für seine gefälschten Dokumente benutzte. Aber er handelte auch mit gepantschtem Wein und steckte hinter einer Anzahl weiterer Betrügereien. Gewiß, jede einzelne Verfehlung war für sich kein großes Verbrechen, doch die Beschwerden häuften sich. Schließlich entdeckte ein junger Bräutigam, der einen von Huz angeblichen Jaffniateppichen zu einem horrenden Preis erstanden hatte, die Fälschung. Der Vetter dieses jungen Mannes war Angehöriger der jaffnianischen Teppichknüpfergilde. Ihm hatte der Bräutigam sein kostbares Stück gezeigt und war von ihm aufgeklärt worden. Daraufhin legte er Beschwerde bei der Kaufmannsgilde ein. Er versprach, öffentlich gegen Huz auszusagen. Er wurde zuletzt in einem Weinhaus gesehen, das auch Huz des öfteren besuchte. Danach hörte und sah man nie wieder etwas von ihm. Das Geschrei um Huz wurde darauf immer lauter und dringender, so daß die Gilde sich zum Eingreifen entschloß.« Sie hatten inzwischen das Tor in der Stadtmauer hinter sich gelassen und schritten nun auf einem kurvenreichen Weg, der um mehrere kleinere Hügel herum zu einer ausgedehnten Ebene führte. Die Wolken hingen tief, und Dunst stieg aus dem Boden auf. Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft. Wie hinter Schleiern verborgen, ragten die steinernen Grabmonumente in den düsteren Himmel. »Hier, folgt mir, wenn es Euch nichts ausmacht, zwischen den Toten zu spazieren«, forderte Phonicios Brak auf. Sie stapften über einen schmalen Weg, der an beiden Seiten von
Grabsteinen umsäumt war. »Seht, wir sind heute nicht die ersten«, er deutete auf den weichen Boden. Viele Füße mußten ihn vor ihnen beschritten haben. Ganz deutlich waren noch die Abdrücke von nackten Sohlen und andere von Sandalen zu erkennen. Phonicios blieb neben einem Grabhügel stehen, in dem ein armseliger Stein mit der Inschrift Yem steckte. »Die Leiche des Würgers verschwand aus dieser öffentlichen Grabstätte vor drei Wochen. Man munkelte, daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen war.« »Ich verstehe es nicht«, brummte Brak. »Weshalb sollte ein leeres Grab so viele Neugierige anlocken?« »Nicht eins, sondern zwei«, berichtigte Phonicios. »Ein zweiter Leichnam wurde zwei Tage nach dem ersten geraubt. Kommt, gehen wir weiter.« Sie kamen zu einem ähnlichen Grabhügel, doch ohne Stein. »Bestimmt haben Andenkensammler ihn gestohlen«, vermutete der Kaufmann. »Der Name, der darauf eingeprägt war, hatte so manchem Angst und Schrecken eingejagt - obwohl es gar kein richtiger Name war. .Hier war jener begraben, den man den Zuträger nannte.« »Ein Informant? Ich habe von Leuten seiner Art gehört.« »Ja. Ein Informant. Ein grausamer, hartherziger Mann. Er wurde schließlich von seinen Freunden aus den Verbrecherkreisen ermordet, von deren Auskünften er nicht schlecht gelebt hatte. Er war in vieler Hinsicht schlimmer als Yem. Sicher, Yem tötete, aber auf offener Weise, wenn man bei Mord überhaupt davon sprechen kann. Der Spitzel dagegen war falsch und hinterlistig, und obendrein ein Lüstling. Diese beiden Leidenschaften beherrschten sein Leben - sein Drang, Böses zu tun, und seine unstillbare Lust nach Weibern. Meistens überwog letztere sogar. Sie machte ihn berüchtigt. Wenn er ein hübsches junges Ding sah, gab er keine Ruhe, ehe er es nicht gehabt hatte. Aber seine andere Leidenschaft war es,
die ihn ins Grab brachte.« Einen Augenblick herrschte Stille. Schließlich erkundigte Brak sich mit gerunzelter Stirn. »Und Ihr sagt, Grabräuber wären dafür verantwortlich?« Er deutete auf den Erdhügel. »Die gleiche Frage stelle auch ich mir«, gestand der Gildenmeister ... So wird es jedenfalls behauptet, und das glaubte ich auch, bis wir jenes - Ding im Säulengang sahen, das einst Yem gewesen war. Plötzlich kam mir der Gedanke, ob Huz nicht vielleicht einen Bund mit den Finsteren Mächten eingegangen sein könnte. Wenn Yem, der Würger, zu einem bestimmten Zweck aus dem Grab geholt worden war, ist es da nicht wahrscheinlich, daß man den Zuträger aus demselben Grund holte?« »Um Rache zu nehmen.« Brak nickte. Der Geruch in der Luft war immer penetranter geworden. Phonicios schauderte. »Vielleicht geht nur die Phantasie eines alten Mannes mit mir durch«, murmelte er. »Und doch dürfen wir die Tatsache nicht außer acht lassen, daß Yem und der Spitzel erst aus den Gräbern verschwanden, als Huz aus der Gilde ausgestoßen wurde - übrigens kurz nachdem Calix Euch fand und zu mir brachte. Dann war auch noch Onar.« »Onar?« »Einer meiner besten Freunde und ebenfalls ein Angehöriger der Gilde. Man hat ihn vor vierzehn Tagen im Bett ermordet mit einer Würgeschnur. Alle nahmen an, daß ein Dieb es getan hatte. Knotenschnüre sind hier keine ungewöhnliche Mordwaffe. Aber, Brak, nach dem, was wir heute erlebten, frage ich mich, ob nicht der Geist Yems ihn tötete.« Brak starrte entschlossen vor sich hin. »Ich bin kein Gelehrter, Lord Phonicios, noch habe ich große Erfahrung im Kampf gegen Schattenwesen. Ich verstehe und verlasse mich nur auf dies hier«, er schlug auf das Schwert in der Hülle. »Und seid versichert, wenn Euer Leben bedroht ist, sei es durch menschliche Feinde oder Höllenkreaturen, so ist
mein Arm Euer, bis die Gefahr gebannt ist.« »Ich danke Euch, Freund Brak«, erwiderte Phonicios gerührt. »Ich wüßte nicht, was ich ohne Euch täte. Laßt uns nach Hause zurückkehren, ich weiß eine Abkürzung von hier.« Sie überquerten den Hauptweg und stiegen hügelan. Auf einer flachen Kuppe blieb Phonicios stehen. Hier war der Gestank noch ärger. Und nun sah Brak auch, woher er kam. Auf der anderen Seite, am Fuße des Hügels, standen Dutzende von Grabsteinen, doch viel größere und beeindruckendere als jene, von denen sie soeben gekommen waren. Es waren Skulpturen verschiedenster Formen: mit Flügeln, spitzen Krallen, manche mit vielen Schnäbeln, andere gar mit mehreren Köpfen. Alle schienen sie einem Alptraum entsprungen. Zwischen diesen eng beieinanderstehenden Monumenten sprudelte und zischte und stank es aus Schwefellachen, die in feurigem Licht glühten und ihren gespenstischen Schein über die Grabskulpturen warfen. »Die Schwefelfelder«, erklärte Phonicios. »Haltet Euch die Nase zu, ich kenne einen sicheren Weg hindurch. Zwar ist er nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber die Priester lassen sich tagsüber selten blicken.« »Priester?« wunderte sich Brak, als er Phonicios um eines der Feuerlöcher herum folgte. Die davon aufsteigende Hitze versengte die Härchen an seinen muskulösen Waden. Eine Blase platzte mit lautem Knall, und Gasdünste wallten empor. »Wo halten die sich verborgen, Lord? In den Grüften?« »Unter der Erde. Die Armen der Doppelbucht werden lediglich begraben, die Reichen jedoch zu heiliger Asche verbrannt. Unter den Schwefelfeldern liegt das Krematorium der Stadt. Übrigens gehörte Calix einst den Jungpriestern an, die das Bestattungsfeuer dort unten hüten.« Brak sprang über eine weitere Feuerlache. Phonicios stolperte und wäre fast in die rotglühende Flüssigkeit gerutscht. Brak vermochte ihn gerade noch rechtzeitig zu stützen.
»Wie ist es möglich, daß ein Mann wie Calix einem Orden der Toten beitrat? Euer Haushofmeister scheint mir nicht der lebensabgewandte geistliche Typ.« »Calix war tatsächlich eine längere Weile aus tiefster Überzeugung religiös. Aber er vermochte die Korruption des Kultes nicht mit seinem Gewissen zu vereinbaren. Die Priester leben schon seit Generationen unter der Oberfläche und haben ihre eigene Hierarchie. Sie müssen dafür bezahlen, wenn sie in ihrem Orden aufsteigen wollen. Es ist kaum noch ein Geheimnis, daß so manche der ehrenwerten Bürger ihre senilen Verwandten oder ihren unerwünschten Nachwuchs am Eingang zum Krematorium - eine natürliche Höhlenöffnung ganz in der Nähe hier - absetzen. Ihr müßt verstehen«, fuhr Phonicios fort, »wenn die Priester einen mit nach unten nehmen, ob er nun tot ist oder nicht, wird er nie wieder gesehen. Früher einmal verlangte das heilige Ritual es. Heutzutage - nun, so mancher Priester verkauft seine Ehre für klingende Münze.« Was Brak auf dem Weg durch die Schwefelfelder erfuhr, trug nicht dazu bei, seine düstere Stimmung zu heben. Er war geradezu erleichtert, als das schwere, eichene Stadttor knarrend hinter ihnen ins Schloß fiel. Aber immer noch hing der Schwefelgestank in seiner Nase, und seine Gedanken beschäftigten sich mit den zwei leeren Gräbern. * Die beiden Männer hatten vereinbart, nichts über ihren Zusammenstoß mit Huz und den Rauchschemen des Würgers verlauten zu lassen. Aber Saria spürte die unausgesprochene Besorgnis, und sie versuchte, mit ihrem Flötenspiel ein wenig Ablenkung zu bieten. Doch ihr Vater starrte weiter blicklos vor sich hin, während Brak seinen Becher leerte und sich für die Nacht verabschiedete.
Er legte sein neues Schwert neben seine Liegestatt und streckte sich aus. In der Ferne rief ein Nachtwächter die Stunde aus, und der Wind säuselte durch die Bäume. Der Schlaf wollte nicht kommen. Brak ließ sich einen Plan nach dem anderen durch den Kopf gehen, wie er seinem Wohltäter helfen könnte. Aber keiner schien ihm wirklich durchführbar. Fremde Bilder schoben sich vor seine Augen, während er weder wachte noch schlief. Das schwarze Phantomgesicht des Würgers tanzte vor ihm und verschwamm mit dem bronzenen Jaals, dessen Zyklopenauge ihn boshaft musterte. Irgendwie gehörten die beiden Gesichter zusammen, waren Teil eines drohenden Geschicks. Ein glühender Speer schien mitten in sein Gehirn zu stoßen und Brak erwachte. Ein gellender Schrei hatte ihn aus seinem Halbschlaf gerissen. Brak sprang von seinem Lager und stürmte durch die Tür und die paar Treppen hinunter auf die breite Veranda. Hinter sich im Haus hörte er hastende Schritte, und dann wiederholte sich der gellende Schrei. Er riß den Kopf hoch und sah das schreiende Sklavenmädchen an einem höhergelegenen Fenster. Vielleicht hatte sie den Mond angebetet, als sie das sah, was sie so erschreckte. Aber was war es? Ein knirschendes Geräusch in der Dunkelheit des geräumigen Innenhofs, zu dem eine Treppe von der Veranda hinabführte, ließ ihn herumwirbeln und in die Tiefe starren. Nun mußte er selbst einen Schrei unterdrücken. Sein Magen verkrampfte sich in plötzlicher Furcht. Das mit einem Eisenriegel verschlossene eichene Hoftor lag zersplittert am Boden. Im nun durch die Toröffnung dringenden Schein der Straßenlaternen sah er eine ungeheure Gestalt, die sich langsam vorwärtsbewegte, die gewaltigen Hände zu Fäusten geballt. Und ihr Kopf drehte sich, drehte sich ... Es war kein Mensch, der unbeholfen einen Riesenfuß vor den anderen setzte. Der Mond beleuchtete steinerne Schuppen.
Brak biß sich auf die Lippe. Nein, es war kein Mensch. Es war eine steinerne Jaalstatue, die den Kopf drehte, als suche sie jemanden. Und ihr riesiges lidloses Zyklopenauge war nicht länger aus grauem Stein, sondern glühte weiß. Es lebte und war voll Haß.
4. Ungläubig öffnete Brak den Mund, als er erkannte, daß die Skulptur kein Phantasiegebilde seiner Alpträume war, sondern wirklich immer näher auf das Haus zupolterte. Nach und nach begannen hinter fast allen Fenstern Lichter aufzuleuchten. Mehrere der Haussklaven stolperten noch schlaftrunken hinter Brak auf die Veranda. Zwei oder drei waren mit kurzen Stöcken bewaffnet. Sie redeten aufgeregt aufeinander ein, während sie mit weitaufgerissenen Augen den Steinkoloß anstarrten. Andere Sklaven rannten zur Brüstung des Dachgartens. Eine der Sklavinnen hob sich schwarz gegen die Scheibe des Mondes ab. Sie zerfetzte ihr Gewand und kreischte: »Es ist Jaal! Er bringt den Untergang über dieses Haus. Wehe uns allen, die wir zu Phonicios’ Haushalt gehören. Er ergrimmte den Gott, der uns nun alle töten wird ...« »Törichtes Weib!« brüllte eine Stimme unmittelbar hinter Brak. Calix bahnte sich einen Weg durch die Sklaven und fuchtelte mit seinem Kurzschwert hinauf zum Dach. »Könnt ihr dieses hysterische Frauenzimmer denn nicht zum Schweigen bringen!« schrie er zu den Sklaven hinauf. »Und auch ihr anderen, seid endlich still !« Nach einem letzten Kreischen der Sklavin, die man nun ins Innere des Hauses zerrte, setzte von Dach bis Veranda Stille ein. Calix lehnte sich neben Brak an das steinerne Geländer der in den Hof führenden Treppe. Die Jaalstatue näherte sich
unvorstellbar langsam dem Springbrunnen in der Hofmitte. Die kreisrunde Einfassung des Brunnens war drei Fuß hoch und bestand aus festzusammengefügten Granitblöcken. Sie umgab ein Podest, auf dem ein steinernes Einhorn aus seinem gewundenen Horn Wasser in die Luft spie. Nun war kein Laut mehr zu vernehmen, außer dem Plätschern des Wassers und den polternden Schritten der Statue. »Es ist sicher nur ein Mummenschanz«, flüsterte Calix. »Die jungen Burschen verkleiden sich gern als Jaal, um den Mädchen einen Schrecken einzujagen.« Braks gelber Zopf hüpfte auf seinem Rücken, als er den Kopf schüttelte. »Nein. Seht doch, wie der Mond sich auf seiner Schulter spiegelt wie auf Marmor. Das ist kein bemalter Stoff. Und das zerschmetterte Tor dort. Auch die stärksten Männer vermögen das nicht.« »Weshalb warten wir dann noch? Laßt uns etwas gegen dieses - dieses Ding unternehmen und es aufhalten.« Der Haushofmeister sprang die erste Stufe hinunter. Brak zog ihn am Oberarm zurück. Calix wirbelte wütend herum. Ehe er jedoch seiner Empörung Luft machen konnte, zischte Brak ihm leise zu: »Unbedachter Mut kann uns nur alle ins Verderben reißen! Diese zum Leben erwachte Skulptur dort unten ist echt. Aber vielleicht wurde sie nur geschickt, um uns zu erschrecken. Haltet Euch zurück, bis wir sehen, was geschieht.« Calix sah die Vernunft dieses Vorschlags ein und nickte ein wenig beschämt. Es war ihm genauso bewußt wie Brak, daß keine normalen Waffen etwas gegen dieses Ding auszurichten vermochten. Der Steinkoloß war nun fast am Brunnen angekommen, machte jedoch keinerlei Anstalten, ihm auszuweichen. Alle hielten den Atem an und starrten mit weiten Augen in den Hof. Das weißglühende Auge richtete sich auf das Einhorn. Brak bemerkte, daß Phonicios auf einem der oberen Balkone
erschienen war. Plötzlich zerriß ein aus Tollkühnheit und Wahnsinn geborener Ruf die Stille: »Warum stehen wir hier tatenlos herum wie die Lämmer vor der Schlachtbank? Wir wollen dieses Ding zerschmettern, ehe es uns vernichtet!« »Amator! Nein!« brüllte Phonicios vom Balkon. »Bleib, wo du bist!« Aber der Sklave, dem die Angst den klaren Verstand geraubt hatte, rannte bereits auf den Brunnen zu und sprang auf dessen breiten Rand. Er lief darauf zur anderen Seite und holte mit seinem Holzprügel aus. Die Statue hielt an. Ihr Auge starrte überrascht auf den Verwegenen. Eine gewaltige Steinhand packte Amator am rechten Arm, die zweite ihn am linken Bein. Brak biß sich auf die Unterlippe, bis er Blut spürte. Der belebte Steinkoloß hob den in Todesangst brüllenden Amator hoch über seinen Kopf. Dann zerriß er den Sklaven. Achtlos ließ er die Teile in den Brunnen fallen, dessen Wasser sich blutig färbte. Nun schmetterte Jaal die beiden Steinfäuste auf die Brunneneinfassung, daß die Granitblöcke zersplitterten. Das Wasser quoll über die steinernen Füße. Nach einem weiteren Fausthieb zerbarst das Einhorn. Erneut hob sich das Zyklopenauge und musterte die Sklaven, die mit Brak und Calix auf der Veranda standen. Dann setzte die Statue sich darauf zu in Bewegung. Brak zog das Breitschwert aus der Hülle. »Nun haben wir keine Wahl mehr«, knurrte er. »Wir müssen dieses Ding zu töten versuchen.« »Umringt es!« brüllte Calix und folgte dem Barbaren die Steintreppe hinunter. »Ihr anderen«, rief er zurück, »umringt es. Wir müssen versuchen, es zu stürzen.« Doch Jaal hatte die Veranda bereits erreicht. Mit beiden Fäusten hämmerte er darauf ein. Die Treppe brach zusammen und Brak stürzte mit vielen anderen in den Hof.
Schmerzensschreie erfüllten die Luft. Calix fluchte. Brak sah, daß nun auch die Veranda wankte. Ein gewaltiger Quader kam geradewegs auf ihn herab. Behende rollte er zur Seite und sprang im gleichen Augenblick auf die Füße, als der Riesenstein auf die Erde schmetterte, wo er sich noch einen Herzschlag zuvor befunden hatte. Drei Sklaven waren bereits völlig unter den Trümmern begraben. Calix versuchte vergeblich, einen vierten unter der Steinlast hervorzuziehen. Brak wischte sich den Staub vom Gesicht und blinzelte, als weißes Licht die Klinge seines Breitschwerts aufblitzen ließ. Er wirbelte herum, da spürte er das Gewicht auf seiner Schulter. Eine kalte, graue Hand legte sich auf ihn. Eine Titanenhand aus belebtem Stein. Ein Kopf beugte sich zu ihm herab. Der Schmerz in der linken Schulter war kaum noch erträglich. Brak biß die Zähne zusammen und stieß mit dem Schwert nach dem Auge des steinernen Ungeheuers. Ein greller Blitz zuckte auf, als die Spitze es berührte. Brak erwartete einen heftigen Aufprall von Stahl auf Stein, statt dessen drang die Klinge wie in weiches Fleisch ein. Der Koloß zuckte zurück, und der Griff um die Schulter lockerte sich ein wenig. Brak stemmte sich gegen das Handgelenk des Giganten, und es gelang ihm freizukommen. Doch schon tastete die Hand des Kolosses wieder nach ihm. Calix kam mit zwei Sklaven angerannt. Die letzteren waren nur mit Stöcken bewaffnet. Jaals Linke sauste herab und zermalmte den Schädel des einen. Wild schlug der Haushofmeister mit dem Kurzschwert auf die ausgestreckte Rechte der Statue ein. Doch schon beim ersten Aufprall klirrte die Klinge und zersprang. Vage bemerkte Brak, daß eine größere Menschenmenge, durch den Lärm angelockt, in den Hof drängte. Kreischen, Schreie und Flüche erfüllten die Luft. Der Staub von den
Mauertrümmern biß in seine Augen, und es bereitete ihm Schwierigkeiten, klar zu sehen. In hilflosem Grimm holte er mit dem Breitschwert aus, um es noch einmal ins weißglühende Zyklopenauge zu stoßen. Der Koloß war damit beschäftigt. dem zweiten Sklaven Arme und Beine auszureißen. Brak legte seine ganze Kraft in den Stoß. Er schrie auf, als die Klinge zwar mühelos eintauchte, aber grelle Strahlen aus dem Auge schossen und ihn versengten. Dennoch gelang es ihm, das Schwert zurückzuziehen. Immer noch schossen die feurigen Blitze aus dem Zyklopenauge. Brak sprang zurück, dabei stolperte er über die Verandatrümmer. Mit dem nackten Rücken schlug er auf einem Granitblock auf. Während er noch wehrlos dalag, hob Jaal den Fuß. Braks Schwertarm hing schlaff von seiner Seite. Seine halbbetäubten Sinne sagten ihm, daß er aufstehen, seinen Arm heben und noch einmal zustechen müsse. Der Fuß der lebendigen Stuatue kam herab und zerquetschte die Überreste des einen Sklaven. Nun begann der Koloß, sich langsam zu Brak hinabzubeugen. Der Barbar kämpfte gegen ein übermächtiges Schwindelgefühl an. Schmerz pochte in seiner Schulter. Sein Schwertarm war schwer wie Blei. Wie durch einen dichten Schleier hindurch sah er den Mond am Himmel, das sich nähernde weiße Auge und die verängstigten Sklaven, die kopflos auf dem mit Steintrümmern übersäten Hof herumliefen. Mit weitaufgerissenen Augen beobachtete er, wie Jaals Hand sich erneut zur Faust ballte, wie sie herabschwang. Im letzten Augenblick löste sich die Lähmung, und er konnte zur Seite rollen, während die Steinfaust den Granitblock zermalmte, auf dem er eben noch gelegen hatte. Brak holte mit dem Schwert aus und schmetterte es gegen Jaals steinerne Beine. Mit klirrendem Singen schlug die Klinge dagegen, doch lediglich ein blauer Funkenregen sprühte auf. Ehe Brak ein zweites Mal darauf einhieb, loderte rotes Feuer
auf. Er spürte sengende Hitze an seinen Wangen. Erst jetzt wurde er sich der durcheinanderrufenden Stimmen im Hof bewußt. Er strich sich die wirren Haare aus der Stirn und richtete sich auf. Menschenmassen drängten sich auf der Straße vor den offenen Toreingang und beobachteten mehrere Gruppen von Bewaffneten, die sich zusammengeschart hatten. Einer dieser Trupps war Brak ganz nahe. Die Männer trugen Rüstungen und hatten mehrere Fackeln unter sich verteilt. Die sengende Hitze kam von einem brennenden Umhang, den die Bewaffneten in Öl getaucht, angezündet und gegen Jaal geschleudert hatten. Der Koloß wischte ihn zur Seite. Ein zweiter brennender Fetzen flatterte funkensprühend durch die Luft und landete auf dem Arm der Skulptur. Jaal drückte seine andere Hand darauf, bis der Stoff verkohlt war. Nun begann die Statue, den Kopf zu drehen. Die Menschen in der Menge versuchten, sich einen Weg zurück durch das Tor zu bahnen und bereuten die Neugier, die sie aus ihren Häusern gelockt hatte. Der Koloß schwenkte herum und bewegte sich mit plumpen Schritten ebenfalls auf das Tor zu. Die Menschen wichen ihm aus und bildeten eine breite Gasse, um ihn hindurchzulassen. Irgend jemand stieß einen wilden Triumphschrei aus. »Er hat Angst vor uns! Wir sind zu viele für ihn!« brüllte er, und andere fielen in den Jubel mit ein. Hinter der Statue ballten die Menschen sich wieder zusammen. Die Schutzwachen in ihren Rüstungen versuchten, die Ordnung wiederherzustellen. Wimmernde Sklaven hielten angstvoll nach ihren Freunden Ausschau und hofften, sie nicht unter den Erschlagenen zu finden. Neugierige Nachbarn, die herbeigeeilt waren, zogen sich langsam wieder in ihre Häuser zurück und gaben laut ihre Meinung kund, daß ein böser Fluch die Stadt befallen habe. Phonicios kletterte vorsichtig die eingestürzte Treppe herunter und beugte sich mit Calix über die Leiche eines
Sklaven. Brak versuchte, sich durch die drängelnde Menschenmenge zu Calix durchzukämpfen, um ihn aufzufordern, mit ihm die Statue zu verfolgen, aber die Massen waren zu dicht. Der Barbar hatte jedoch nicht die Absicht, den steinernen Mörder einfach entkommen zu lassen. Ein brennender Haß auf ihn erfüllte ihn. Mit oder ohne Calix, er hatte vor, das Ungeheuer zu vernichten, wenn er es fertigbrachte. Wenn nicht, würde er sich zumindest versichern, wohin es verschwand. Kostbare Augenblicke waren bereits vergeudet. Brak kletterte über größere Trümmer und schob die Neugierigen beiseite, die immer noch durch den Eingang hereindrängten. Jenen, die ergrimmt aufbrausen wollten, genügte ein Blick in Braks finster entschlossene Miene, ihm freiwillig auszuweichen. Auf der Straße stieß er auf drei der gerüsteten Wachen. Einer hielt eine Laterne hoch. Leise diskutierten sie darüber, ob es ratsam sei, den belebten Steinkoloß zu verfolgen. »... geht ruhig, wenn ihr eures Lebens müde seid«, knurrte einer. »Aber ohne mich. Schwerter richten nichts gegen ihn aus, genausowenig wie Feuer. Was nutzt es, diese Kreatur eines Zauberers zu verfolgen ...« Brak riß den Mann an der Schulter herum. »Sagt mir, wohin das Teufelsgeschöpf sich gewandt hat.« »Jene krumme Gasse dort entlang, Fremdling«, erwiderte einer der anderen Wachmänner für ihn. »Aber ich würde Euch nicht zur Verfolgung raten. Ein Geist beherrscht diesen Koloß oder gar etwas Schlimmeres!« Doch Brak rannte bereits in die angegeben Richtung. Ein Verdacht regte sich in ihm. Die Wache hatte recht. Es mußte ein Geist sein, der die steinerne Statue belebte - ein Geist, dem es jemand befohlen hatte. Der Kampf gegen den Koloß hatte Brak ermüdet, aber unbeirrt rannte er auf nackten Sohlen über das Kopfsteinpflaster zwischen den hohen dunklen Häusern,
die die kurvenreiche Gasse einsäumten. Keine Menschenseele war zu sehen. Jene, die nicht aus Neugier zu Phonicios’ Haus gelaufen waren, hatten sich in ihre Heime verkrochen und die Fensterläden geschlossen. Nur sein Schatten begleitete Brak an den Mauern entlang. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und spähte um die nächste Krümmung. Wo eine breitere, erleuchtete Straße sich mit dieser kreuzte, sah er gerade noch einen Schatten verschwinden. In seiner Größe war er unverkennbar gewesen. Brak lief so schnell er konnte. Am Eckhaus der Kreuzung hing eine Laterne. Er drückte sich in den Schatten und spähte die breite Straße entlang. Verblüfft öffnete er die Lippen. Aufpeitschende Musik drang durch die ganze Straße. An allen Häusereingängen hingen rotflackernde Laternen. Brak nickte verstehend. Freudenhäuser. Weiter straßenabwärts, vor einem etwas zurückgesetzten Haus, bewegte sich ein gewaltiger Schatten. Ein tiefgebückter Schädel spähte durch ein erleuchtetes Fenster unter einem hohen steinernen Balkon. So gut es ging, hielt Brak sich im Schatten und näherte sich dem Koloß, dessen Zyklopenauge keinen Blick von dem hellerleuchteten Fenster ließ, aus dem Tamburinklänge erschallten. Brak unterdrückte ein Lachen über den Irrsinn des Ganzen. Eine Steinstatue, die gebannt halbnackte Tänzerinnen beobachtete - zumindest nahm er das an, nach der Musik und den anfeuernden Stimmen zu schließen. Sein bisher vager Verdacht nahm nun schon fast Gewißheit an. Noch fester umklammerte er sein Schwert und sah sich um. Der gebeugte Kopf des Kolosses befand sich, mit dem Auge dicht an das Fenster gepreßt, unter dem hohen Steinbalkon, der nur von zwei dicken, aber bereits morschen Holzstützen getragen wurde. Wenn er ... Brak starrte auf die unbewegte Jaalstatue und hoffte, daß deren Interesse noch ein wenig länger anhielt. Auf
leisen Sohlen näherte er sich der ersten Stütze. Mit aller Gewalt hackte er auf das Holz ein. Ein Tamburinwirbel übertönte die Schwertschläge. Braks Arm schmerzte, aber er gab nicht auf. Hinter der gebannt beobachtenden Skulptur vorbei, huschte er zur zweiten Stütze, hieb dagegen. Ruckartig drehte sich der Titanenschädel. Das weiße Auge richtete sich glühend auf ihn. Der ihm nähere linke Arm zuckte. Aber die Bewegungen des Steinkolosses waren unsagbar langsam. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Brak schlug verzweifelt weiter auf die Holzstütze ein. Knirschend begann der Steinbalkon sich rechts bereits ein wenig zu neigen. Nun knickte auch die linke Stütze. Hastig sprang Brak unter dem tastenden Arm der Statue zurück. Der Balkon barst. Im gleichen Augenblick, als der Jaalkoloß die Gefahr erkannte und sich aufrichten wollte, stürzte der Balkon ein. Die gewaltigen Steinbrocken regneten herab. Einer schlug ein Stück von Jaals Schulter ab, ehe die Statue auf dem Boden aufprallte. Der Schädel löste sich und rollte auf den erstarrten Brak zu, während der Rest des Kolosses unter den Trümmern verschwand. Das weißglühende Auge starrte auf Brak, doch plötzlich wurde es matt und glanzlos. Männer und leichtbekleidete Mädchen strömten aus den Freudenhäusern, um nach der Ursache des Getöses zu schauen. Brak bemerkte sie kaum. Sein Blick hing wie gebannt an dem nun dunklen Zyklopenauge, aus dem sich mit einem Mal ein weißlicher Nebelstreifen löste und wirbelnd über den Hausdächern verschwand. Und nun war das Auge kalter, grauer Stein wie der Rest des Kopfes. Brak schauderte. Er legte beide Hände um den Griff seines Breitschwerts, als die Besucher der Freudenhäuser sich ihm näherten. Doch nach einem Blick auf die entschlossene Gestalt, deren gelber Zopf über eine Schulter schwang, während der Löwenschwanz zwischen den gespreizten Beinen baumelte, gaben sie jegliche Absicht, ihn zu halten, auf.
Brak tauchte in eine dunkle Seitengasse und rannte zurück zu Phonicios’ Haus. Er empfand keinen Triumph über den errungenen Sieg, denn die Bestätigung seiner Ahnung bedrückte ihn zutiefst. Er wußte nun, was den Steinkoloß belebt hatte, hatte es von da an mit Sicherheit gewußt, als er ihn durch das Fenster des Freudenhauses starren sah. Er hatte sich erinnert, was Phonicios über den Zuträger erzählt hatte: daß seine Lüsternheit alles andere in ihm überwog. Nur seine Wesensessenz konnte es gewesen sein, die den Koloß bewegt hatte. Und wer anderes konnte den bösen Geist des Zuträgers herbeibeschworen haben, um Vernichtung über Phonicios zu bringen, als jener, der schon den rauchigen Schemen des toten Yem zu seiner Hilfe gerufen hatte! Brak hatte gehofft, mit der Jaalstatue auch den sie beherrschenden Geist zerstören zu können. Jenen Geist, der selbst nach dem Tode noch seinen alten Gewohnheiten folgte und einen steinernen Mörder dazu trieb, tanzende Mädchen zu beobachten. Doch dieser Geist, nicht mehr als ein weißlicher Nebelstreif, war aus seinem Steingefängnis entkommen und vermutlich dorthin zurückgekehrt, von woher er gekommen war - zu seinem Herrn und Meister. Nein, es war alles andere als beruhigend, darüber nachzudenken. Zweierlei war jetzt jedenfalls klar. Huz al Hussayn nannte Zauberkräfte sein eigen. Und der Beweis seiner Macht heute abend würde nicht der einzige bleiben. Ohne Zweifel würde der böse Geist, der die steinerne Statue belebt hatte, zurückkehren.
5. Die ganze Nacht hindurch arbeiteten die Sklaven und freien Bediensteten von Phonicios’ Haushalt, um die Verwundeten zu
versorgen, die Toten zu bergen und die Trümmer, so gut es ging, zu beseitigen. Die Familien der dem Steinkoloß zum Opfer gefallenen Sklaven brachten ihre Toten in den Dienstbotenflügel. Dort balsamierten zwei eilig herbeigerufene Priester des Beerdigungskults die Leichen ein und hüllten sie in schneeweiße Linnen. Schluchzen und Wehklagen vermischten sich mit dem Knarren der Wagen, mit denen der Schutt und die Trümmer weggeschafft wurden. Phonicios, mit tiefen blauen Schatten unter den Augen, schien überall zu sein. Er beaufsichtigte die Reparaturarbeiten. Er spendete den Trauernden Trost. Er gab den Priestern die notwendigen Anweisungen. Genau wie alle anderen, war auch er darauf bedacht, die Toten schnell zu bestatten und Ordnung zu schaffen, als ließe sich damit auch die Erinnerung an das Geschehene fortwischen. In den nächsten Stunden hatte Brak keine Gelegenheit, dem Gildenmeister zu berichten, was sich in der Straße der Freudenhäuser zugetragen hatte. Er war völlig erschöpft, und eine nagende Unruhe erfüllte ihn, als er Phonicios’ Sänfte nachsah, die durch das noch nicht wiedererrichtete Tor getragen wurde. Kerzen flackerten in der Finsternis. Die Sklaven, die sie trugen, hatten ihre schwarzen Kapuzen tief über die Stirn gezogen. Die beiden feisten Priester leierten Gebete und schwenkten Räucherschalen. Brak blickte ihnen, in düsteren Gedanken versunken, noch lange nach. Gegen Mittmorgen schien wieder einigermaßen Ordnung im allgemeinen Tagesablauf. Brak fand den Gildenmeister im Frühstücksraum. Phonicios sah müder denn je aus. Brak ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder, während Saria ein unberührtes Tablett mit Brot, Wein und kaltem Braten wegräumte. »Mein Vater«, murmelte sie. »Es ist nicht gut, daß Ihr keinen
Bissen zu Euch nehmt. Ihr wart die ganze Nacht auf den Beinen.« »Das waren wir alle, und keiner nahm sich Zeit zum Essen«, brummte Phonicios. »Wir haben viele Tote zu beklagen. Sie alle starben meinetwegen. Geh mir mit dem Essenszeug aus den Augen. Vielleicht möchten die Witwen es. Mir jedenfalls ist nicht danach zumute.« Betrübt zog das Mädchen sich zurück. Brak schenkte sich einen Becher voll Wein aus der zurückgebliebenen Amphore. Er goß ihn mit einem Zug hinunter und erklärte: »Lord Phonicios, Ihr dürft Euch nicht die Schuld für das Geschehene geben. Jener Mann Huz, den wir beim Palast trafen, ist dafür verantwortlich. Wenn Ihr hört, was sich vergangene Nacht zutrug, als ich die Jaalstatue verfolgte, werdet Ihr verstehen.« Brak berichtete in allen Einzelheiten und schloß: »Nach dem, was Ihr selbst mir erzähltet, folgerte ich, daß der Geist des Zuträgers den Stein belebt hatte. Und ich wette mit Euch, daß Euer Feind ihn in die Statue befahl.« Grimmig schlug Phonicios die Faust auf den Tisch. »Dann muß ich sofort die nötigen Schritte ergreifen.« Er erhob sich und schritt eilig in den Hof, gefolgt von Brak. Als er Calix gefunden hatte, zog er ihn zur Seite. »Calix, schick alle Sklaven, die uns noch verblieben sind, mit wohlgefüllten Beuteln aus. Sie sollen sich umhorchen nach Huz al Hussayn. Wenn sie seinen Aufenthalt erfahren haben, dürfen sie jedoch nichts weiter tun, als sofort hierher zurückzueilen. Wenn wir erst einmal wissen, wo er ist, werden wir uns dieses Fluches entledigen, der auf uns liegt.« Phonicios klopfte dem Haushofmeister auf die Schulter. »Beeile dich, Calix.« Der rothaarige Zirkassier verzog sein Gesicht zu einem humorlosen Lächeln. »Wie können wir uns seiner denn entledigen, Lord?«
»Du und ich, Calix, wir werden Huz aufsuchen und ihn töten«, erwiderte Phonicios tonlos. »Wir werden zu dritt sein«, warf Brak ein. »Ich schließe mich Euch an.« * Phonicios und Brak saßen allein am Tisch und stocherten lustlos in den vor ihnen stehenden Speisen, als Calix zurückkehrte. Der Haushofmeister schlug die Kapuze seines Umhangs zurück. Brak sah sein Gesicht und wußte, daß Calix kein Glück gehabt hatte. Auch der Gildenmeister schien es zu ahnen, aber er wartete wortlos, bis der Zirkassier mehrere pralle Beutel auf die Elfenbeinplatte des Tisches legte. »Der letzte unserer Leute kam soeben zurück, Lord. Genau wie die anderen hatte er kaum Grund gefunden, auch nur einen Teil der Dinschas auszugeben. Fast alle berichteten dasselbe. Niemand hat Huz al Hussayn gesehen. Er muß sich irgendwo in ein Versteck zurückgezogen haben. Jedenfalls scheint er spurlos verschwunden. Vielleicht«, meinte Calix mit düsterem Humor, »leistet er den Dämonen, die er heraufbeschworen hat, in der Hölle Gesellschaft.« Phonicios stapfte wütend zum Fenster und starrte hinunter auf den mondscheinüberfluteten Hof. Wie eine häßliche Narbe wirkte von hier die Stelle, wo der Springbrunnen sich befunden hatte. Nach kurzem Überlegen drehte er Brak und Calix wieder das Gesicht zu. »Dann müssen wir eben etwas anderes versuchen«, brummte er. »Es ist meine Pflicht, nicht nur meinen eigenen Haushalt, sondern auch die anderen Gildenangehörigen zu beschützen. Bring mir ein Pergament, Calix, und Gänsefedern. Befiehl einem Boten, sich bereitzuhalten. Wir werden Mustaf ben Medi aus seinem Straßendaunenbett scheuchen und ihn dazu bringen, etwas zu unternehmen.« Wenige Augenblicke später kehrte
Calix mit dem Gewünschten zurück. Mit schnellen Federstrichen schrieb Phonicios eine dringende Nachricht an den Wesir. Er berichtete, was in der vergangenen Nacht passiert war, warnte vor der die Stadt bedrohenden Gefahr, falls Huz al Hussayn die Macht des Zuträgers freigeben sollte, oder möglicherweise gar jene einer größeren Anzahl von bösen Geistern. Außerdem forderte Phonicios militärischen Schutz für seinen Haushalt und ebenfalls für alle anderen Gildenangehörigen. Schließlich verlangte er, daß Mustaf ein größeres Aufgebot zur Suche von Huz abbeorderte. Der Bote nahm die Beine in die Hand und eilte durch die Dunkelheit. Brak war unsagbar müde, aber er wollte Phonicios nicht allein auf die Antwort warten lassen. Schließlich kehrte auch Calix von einem kurzen Rundgang zurück, und bald darauf hörten sie heftiges Klopfen an der verschlossenen Haustür. Die drei Männer sprangen auf und blickten dem Boten entgegen, der ihnen die leeren Hände entgegenstreckte. »Wo ist die Antwort des Wesirs?« fragte Phonicios. »Lord«, schnaufte der Sklave. »Er nahm sich nicht die Zeit, sie auf Pergament zu diktieren.« »Unfähiger!« brüllte der Gildenmeister »Du drangst gar nicht bis zu ihm vor!« Er hob ergrimmt die Hand zum Schlag. »Gnade, Lord!« heulte der Sklave. »Ich sah ihn selbst. Ich gab ihm Eure Schriftrolle. Er las sie. Aber er diktierte die Antwort nicht, er sagte sie mir persönlich. Schlagt mich nicht, Lord. Ich flehe Euch an.« Beschämt öffnete Phonicios die Faust und legte die Hand auf den Arm des Sklaven. »Vergib mir, Dirax. Mir scheint, die Ereignisse der letzten Zeit waren ein wenig zu viel für mich. Was sagt der Wesir?« »Im Palast herrschte schreckliche Aufregung, Lord. Streitwagen standen dicht gedrängt im Hof. Der Wesir war völlig aufgebracht. Er schrie, er könne keinen einzigen Mann
zum Schutz abstellen, auch nicht zur Suche nach Huz. Gegen Sonnenuntergang kamen Kuriere von der Grenze. König Rodar ...« Der Sklave strich mit der Zunge über die Lippen. Seine Augen waren vor Angst weit geöffnet. »... seine Streitmacht mußte den Rückzug antreten.« »Wa-as?« rief Calix erschrocken. »So ist es leider, Herr Calix. Es gab eine große Schlacht. Unser König wurde geschlagen. Die Eroberer sind bloß noch Tage oder gar nur Stunden von der Stadt entfernt.« Calix fluchte leise. »Darum war der ganze Palast beleuchtet. Die Männer, die früher zurückkamen, berichteten, daß kein einziges Fenster dunkel war. Sie nahmen an, Mustaf halte eines seiner unzähligen Feste ab.« »Ashtir schütze uns!« murmelte Phonicios. »Nimmt das Unglück denn kein Ende?« »Dieser Zauberkundige, ich meine Huz, muß doch irgendwo zu finden sein!« brummte der Barbar. »Ich werde selbst nach ihm suchen, wenn Ihr mir nur sagt, wo ich beginnen könnte.« Müde griff Phonicios nach der flackernden Lampe und brachte sie zu Erlöschen. Gespenstische Schatten huschten über die Wand. Der Gildenmeister schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür. »Morgen, vielleicht. Nicht mehr heute nacht. Ich bin der Angst und Dunkelheit müde. Wir brauchen alle Schlaf. Für heute haben wir genug getan. Am Morgen werden wir weitersehen. Calix, hier, nimm den Schlüssel zur Waffenkammer. Bewaffne die Männer und postiere sie rund um das Haus.« Ohne sich noch einmal umzublicken, verschwand er auf dem nur schwach beleuchteten Gang. Calix und Brak warfen sich besorgte Blicke zu. Dann eilte der Haushofmeister, um die Anordnung seines Herrn auszuführen, und Brak zog sich in sein Gemach zurück. Er nahm nur das Schwert ab, warf sich auf sein Lager und fiel gleich in einen
unruhigen, von Alpträumen geplagten Schlaf. Strahlender Sonnenschein weckte ihn. Er hatte länger geschlafen als vorgehabt. Er gürtete sich das Schwert um und eilte zum Frühstücksraum, doch der war leer. Ein Sklave bedeutete ihm mit seltsam drängenden Gebärden, daß Phonicios sich im Empfangssaal befinde. Brak entdeckte Saria außerhalb der himmelblauen Türvorhänge. Sie schien zweifellos zu lauschen. Laute Stimmen drangen auf den Korridor. Ehe er das Mädchen noch fragen konnte, flüsterte sie ihm zu: »Es ist eine Abordnung der Kaufmannsgilde. Sie sind nicht in sehr freundlicher Stimmung. Ich wollte, ich dürfte hinein, aber Frauen sind bei ihren Besprechungen nicht zugelassen.« »Nach all den erregten Stimmen zu schließen, könnte Eurem Vater ein Verbündeter nicht schaden.« Brak legte die Rechte um den Griff des Breitschwerts und schlug den Vorhang zurück. Phonicios stand einer Gruppe prunkvoll gekleideter Männer gegenüber. Er begrüßte Brak mit einem dankbaren Lächeln. Der Barbar nahm sich einen Stuhl gegenüber dem Thronsessel des Gildenmeisters. Einige der mit Ringen und schweren Goldketten überladenen Gildenangehörigen drehten sich um und musterten den Neuankömmling unfreundlich, zum Teil sogar abfällig. Brak erwiderte ihre Blicke mit finsterer, drohender Miene, die sie ihre Augen senken ließ. »Diese ehrenwerten Herren hier«, wandte Phonicios sich an ihn, »sind Mitglieder der Kaufmannsgilde. Ihr Sprecher ist Xanril, der Goldschmied.« Er deutete auf einen beleibten Mann, dessen Robe von beinahe dem gleichen olivgrünen Ton war, wie seine ungesunde Gesichtsfarbe. Eine Perle von fast derselben Größe wie die dunklen boshaften Augen schimmerte an Xanrils linkem Ohrläppchen. »Meine Freunde«, spöttisch betonte Phonicios das letzte Wort, »sind mit dem Ansinnen an mich herangetreten, daß ich
als Gildenmeister abdanke.« Aufgefordert vom Gemurmel der anderen, trat Xanril einen Schritt näher. »Wir haben das Wohlergehen aller im Auge, Phonicios. Wir müssen an unsere Familien, unser Gewerbe denken. Wir haben alle von den grauenhaften Geschehnissen der vergangenen Nacht erfahren.« Schnell machte Xanril das Zeichen gegen den bösen Blick. »Sicherlich beschwören wir das Unglück auf uns alle herab, wenn wir weiterhin mit Euch im Bunde sind. Ihr müßt unsere Lage verstehen.« »Nur zu gut verstehe ich, daß ihr nichts weiter als eine Meute von Memmen seid!« Phonicios blickte sie der Reihe nach durchdringend an. »Oder ist es mehr als das? Huz al Hussayn scheut vor nichts zurück. Wie leicht ließe sich annehmen, er habe seine Hand hier im Spiel, das heißt, wenn ich euch, meine Freunde, so etwas zutrauen würde. Doch eure Ehrenhaftigkeit läßt mich diesen Gedanken weit von mir weisen.« Phonicios’ Stimme triefte vor Sarkasmus. »Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, daß Huz mich gestürzt sehen möchte, damit er euch alle so einschüchtern kann, daß ihr ihn zum Gildenmeister erwählt, ihr Toren!« Phonicios schritt auf den verlegen blinzelnden Xanril zu und blieb vor ihm stehen. »Entsinnt ihr euch denn nicht mehr an Huz’ hysterisches Gestammel, als wir ihn ausstießen? Er schwor, daß wir alle ihm eines Tages dienen würden. Daß er den Thronsessel der Gilde übernehmen würde! Weshalb sollte seine Rache an mir an diesen Vorsätzen etwas ändern? Schon jetzt seid ihr so eingeschüchtert, daß Huz, stünde ich ihm nicht mehr im Weg, sofort das angestrebte Amt übernehmen könnte. Er würde euch melken wie Kühe. Ihr müßtet alles tun, was er euch befiehlt. Ihr Einfaltspinsel seid zur kurzsichtig, die Folgen meiner Abdankung zu erkennen!« Phonicios straffte die Schultern. »Und deswegen werde ich ihm diesen Gefallen nicht tun!« erklärte er hart.
Ein verärgertes Stimmengemurmel erhob sich. Einer der Kaufleute schob Xanril zur Seite. »Ihr müßt zurücktreten, Phonicios. Wir verlangen es!« »Ihr verlangt es? Ihr - eine Meute von Feiglingen - verlangt es? Daß ich nicht lache!« »Solltet Ihr nicht vielleicht erst vor Eurer eigenen Tür kehren, Phonicios?« »Wollt ihr damit sagen, daß ihr mich für eine Memme haltet?« fragte der Gildenmeister drohend. »Ich will damit nur andeuten, daß Eure Botschaft, Euer Gesuch um Schutz, an Mustaf allgemein bekannt ist. Es befanden sich genügend im Palast vergangene Nacht, die Euren Sklaven hörten.« »Haltet an! Ihr scheint etwas mißzuverstehen!« rief Phonicios. Tiefe Röte überzog sein Gesicht. »Mein Grund für diese Botschaft war ...« »Der Grund«, unterbrach ihn Xanril, »ist peinlichst unmißverständlich.« »Nein!« brüllte Phonicios. »Ich bat um Schutz für meinen Haushalt - ja selbst für euch alle -, aber nicht für mich persönlich.« Gelächter und Buhrufe beantworteten seine Erklärung. Braks Bauchmuskeln spannten sich vor Grimm. Nun, da Phonicios augenblicklich in die Enge getrieben schien, hielten auch die bisher Schweigsamen mit ihren Beleidigungen nicht zurück. »Würdet Ihr Euch jetzt auch so tapfer geben«, rief einer, »wenn Ihr nicht diesen gelbhaarigen Barbaren zu Eurem Schutz geheuert hättet?« Braks Züge verzerrten sich vor Wut. Er stapfte auf den Sprecher zu. Ängstlich wichen die anderen vor ihm zurück. »Kleine Männer versuchen manchmal, ihre eigene Feigheit zu verbergen«, knurrte er, die Hand am Schwertgriff, »indem sie solche wie Lord Phonicios angreifen, in dessen Schatten zu stehen sie nicht wert sind. Wenn ihr mich beleidigen wollt, so
geht direkt vor und nicht auf dem Umweg über einen mutigen Mann, der genug Rückgrat hat, euch zur Hölle zu schicken. Ich mag vielleicht ein Barbar sein, ohne wohlriechende Pomade im Haar und geschniegeltes Äußeres«, Brak verzog sein Gesicht, »doch glaube ich, genug von eurer Art zu verstehen, um eure Beleidigungen gebührend zu beantworten.« Er nahm die Hand vom Schwert. Nun, wer von euch möchte mir etwas sagen?« »Beruhigt Euch, Fremdling!« rief Xanril. »Wir beabsichtigten nicht, Eure Verbundenheit zu Phonicios zu schmähen. Wir hörten, daß er Euch zum Freunde ...« »Schweigt mit eurem Geschwätz!« donnerte Brak. »Rückt endlich mit der Wahrheit heraus. So wie ihr zittert und erbärmlich die Hände ringt ...« Sich selbst seiner Sache nicht ganz sicher, versuchte er dem ungünstigen Verlauf der Unterredung eine Wendung zu geben. »... frage ich mich, ob ihr alle nicht wirklich, wie Lord Phonicios andeutete, von jemandem bedroht werdet - hierherbefohlen wurdet mit eurem unverschämten Ansuchen.« Ein Kaufmann in der hinteren Reihe blickte hastig zu Boden. Brak hatte demnach mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Er packte Xanril an der Schulter. »Heraus mit der Sprache! Wer sandte Euch hierher, um Lord Phonicios’ Rücktritt zu verlangen? Ein Schurke namens Huz?« Xanril warf die Hände hoch. »Eure Beschuldigung ist entwürdigend! Wir haben Huz nicht gesehen ...« »Wir würden doch nicht auf einen Gauner wie ihn hören!« warf ein anderer ein. Hastig beteuerten alle durcheinander ihre Unschuld. Aber ihre Augen wichen Brak aus, wenn er sie direkt musterte. Bald wurden die Beteuerungen schwächer. Ein knisterndes Schweigen setzte ein. Brak schnaubte. »Mögen eure Worte auch überzeugend klingen, meine
Herren, eure Gesichter verraten mir die Wahrheit.« Brak zog das Breitschwert aus der Hülle. »Und nun verlaßt dieses Haus. Es ist mir nur zu klar, daß Huz mit euch gesprochen hat. Die Antwort des Gildenmeisters habt ihr bereits. So hebt euch jetzt fort!« In absichtlich weitausholendem Bogen schwenkte Brak das Schwert über den Kopf. Xanril sprang erschreckt aufkreischend zur Seite. Die Kaufleute drehten sich um und sahen zu, daß sie durch die Tür kamen. Als die blauseidenen Vorhänge wieder stillhingen, steckte Brak das Schwert zurück in die Hülle. Am liebsten hätte er laut gelacht über die wie aufgescheuchte Hühner davonstiebenden Gildenangehörigen, aber das bedrückte Gesicht Phonicios’ hielt ihn davon ab. »Wußtet Ihr, daß Huz sie zwang, hierherzukommen?« fragte der Kaufmann. Brak schüttelte den Kopf. »Nein, Lord, ich nahm lediglich Eure Bemerkung zum Anlaß, sie aus der Fassung zu bringen, so wie sie es zuvor mit Euch versucht hatten. Ich erfand die Anschuldigung nur ...« Er hielt nachdenklich inne. »Doch nun frage ich mich, ob sie nicht genau ins Schwarze traf.« Phonicios nickte. »Auch ich beobachtete ihre Gesichter. Sie waren alle schuldbewußt.« Er seufzte tief. »Und sie waren alle einst meine Freunde. Gewiß, einige von ihnen sind Hohlköpfe. Aber ich kenne sie von Grund auf. Sie würden sich nicht gegen mich stellen, wenn nicht jemand, vor dem sie sich unvorstellbar fürchten, sie dazu zwänge. Jemand wie Huz.« Der Gildenmeister war noch völlig verstört und wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Brak gab ihm Zeit, zu sich zu finden, und spazierte durch die Straßen. Überall standen die Leute in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich furchtsam über den bevorstehenden Angriff der Gorden. Vor jeder steinernen Jaalstatue häuften sich die Opfergaben. Die Atmosphäre war drückend. Plötzlich verschwand auch
noch die Sonne hinter den regenschwangeren Wolken. Bis Brak zu Phonicios’ Haus zurückkam, goß es schon in Strömen. Obgleich es kaum Mittnachmittag war, brannten hinter den Fenstern bereits Lampen. * Brak suchte den Gildenmeister auf. Er hoffte, mit ihm besprechen zu können, wie Huz zu finden sei. Doch ehe er überhaupt davon angefangen hatte, wurden sie durch die Ankunft Calixs unterbrochen. Der völlig durchnäßte Haushofmeister hatte bei einem Waffenschmied für Phonicios’ Haushalt eine größere Anzahl von Lanzen und Schwertern gekauft, um ausreichend eingedeckt zu sein, wenn der Angriff auf die Stadt begann. Phonicios hörte sich Calix’ Bericht an, nickte und hob ein Stück Pergament in die Höhe. »Man sollte meinen, Haushofmeister, du hättest einen besseren Tag aussuchen können, meiner Tochter einen Liebesbrief zu schreiben. Ich hoffe nur, euer Stelldichein im Regen versprach, was ihr erwartetet.« »Was sagt Ihr da, Lord?« »O wirklich, Calix. Ist die ganze Lage nicht verwirrend genug, als daß du ausgerechnet diese Zeit wählen mußtet, dich heimlich außerhalb des Hauses mit ihr zu treffen? Es blieb mir nicht verborgen, was ihr füreinander empfindet. Und du weißt sicher, daß ich mich euch nicht in den Weg stellen würde. Ich halte viel von dir, darum gab ich dich auch frei. Doch du hättest wahrhaftig auf einen günstigeren Augenblick für ein Rendezvous warten können.« »Ich muß gestehen, Eure Rede verwirrt mich ein wenig, Lord.« Calix blickte ihm fest in die Augen. Phonicios sprang auf. »So war Saria nicht mit dir?« »Wie ich bereits berichtete, Lord, verbrachte ich die letzten
beiden Stunden wie aufgetragen beim Waffenschmied.« Phonicios hielt ihm das Pergament vors Gesicht. »Wer schickte ihr dann diesen Brief, mit der Bitte um ein Stelldichein beim Gewürztor? Sieh doch selbst die Unterschrift. Ganz deutlich steht hier: Calix, der Zirkassier.« Mit weißem Gesicht studierte der Haushofmeister das Pergament. »Ihr habt recht, Lord. Aber ich habe Saria seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Noch schickte ich ihr diesen Brief. Wißt Ihr denn nicht, wo Eure Tochter ist?« Entsetzt starrten die drei sich an. In diesem Augenblick bildete sich scheinbar aus dem Nichts eine rauchschwarze Wolke in dem Raum. Phonicios schrie erschreckt auf. Brak riß sein Breitschwert aus der Scheide. Sein Magen verkrampfte sich. Er starrte auf den Rauchschemen, aus dem nun vereinzelte rote Funken stoben. Während die drei Männer vor Grauen halbgelähmt keinen Blick davon ließen, nahm die Wolke erkennbare Form an. Ein Gesicht bildete sich, geschmeidige Hände, eine rauchige Schnur mit vielen Knoten. Tiefe Dunkelheit und eisige Kälte herrschten mit einem Mal in dem Raum. Ein übelkeitserregender Gestank stieg auf. Aus der Mitte der rauchigen Finsternis kam ein krächzendes Flüstern. »Ich bin Yem, teurer Lord Phonicios. Ich bin hier und doch nicht hier. Ich bringe Euch Wort ...« Fast im gleichen Augenblick sprangen Brak und Calix darauf zu. Phonicios’ Schrei hielt sie zurück. »Wartet! Hört ihn doch an!« »Eisen vermag den Toten nichts anzuhaben«, sing-sangte die gespenstische Stimme aus dem wirbelnden Rauchgesicht. »Doch den warmen empfindlichen Lebenden sehr wohl, Lord
Phonicios. Den warmen Lebenden wie Eure Tochter. Ich soll Euch folgendes sagen, Lord. Eure Tochter Saria lebt. Sie wird in einem bestimmten Sarkophag festgehalten, nämlich jenem der geflügelten Schwerter auf den Schwefelfeldern. Ich soll Euch sagen, daß es ihr gut geht, ihr kein Haar gekrümmt wurde und ihr auch nichts geschehen wird, ehe nicht eine Stunde vergangen ist. Wenn der Sand die Stunde anzeigt, dann schickt einen, wohlgemerkt, nur einen Sklaven zu den Schwefelfeldern mit Eurer Antwort auf nur eine Frage. Werdet Ihr als Gildenmeister abdanken? Ist die Antwort ja, so wird das Mädchen aus den Schwefelfeldern zurückkehren, wohin Ihr nicht selbst gehen, noch Soldaten schicken dürft, wenn Euch ihr Leben lieb ist. Ist Eure Antwort nein - das soll ich Euch sagen -, so wird sie sterben ...« Die Rauchfigur begann zu wirbeln, schneller, immer schneller. Braks blinde Wut übermannte ihn. Er hackte mit dem Schwert auf die Finsternis ein, die sich nun über einem Tischchen wand und ein Stundenglas einhüllte. Plötzlich polterte etwas auf den Boden. Der Rauch verschwand. Aus der Ferne erschallte tiefes höhnisches Gelächter. Brak beugte sich über das Stundenglas, das umgedreht auf dem Boden aufgeprallt war. Der purpurne Sand rieselte unaufhaltsam in die untere Hälfte. »Wir werden zu den Schwefelfeldern gehen«, erklärte Brak. »Calix und ich gemeinsam.« »Das werdet ihr nicht«, widersprach Phonicios heftig. »Ich verbiete mir eure Einmischung, wenn das Leben meiner Tochter auf dem Spiel steht.« »Wir können sie zurückbringen«, versicherte ihm der Barbar. »Gebt uns die Chance, Lord. »Es ist genügend Zeit, um ...« »Schweigt!« brüllte der Kaufmann, außer sich vor Verzweiflung. »Ihr seid ein Fremder hier! Dies ist mein Haus! Hier bestimme ich! Geht nun und laßt mich überlegen.« Mit finsterem Gesicht gehorchte Brak.
Calix versuchte, auf dem Korridor mit ihm zu sprechen, aber Brak schon ihn wortlos zur Seite. Er war tief in Gedanken versunken. Er durfte Saria nicht ein Opfer des Zögerns ihres Vaters werden lassen. Denn Brak war ganz sicher, daß, wofür Phonicios sich auch immer entschied, er seine Tochter nicht lebend Wiedersehen würde. Außer, sie konnte befreit werden! Brak nahm sich einen an der Wand hängenden Umhang und warf ihn sich um die Schultern. Das Breitschwert umklammernd, lief er mit schnellen Schritten durch den Regen auf die Schwefelfelder zu. Während er rannte, bat er den Namenlosen Gott, an den er nicht glaubte, der ihm aber vermutlich schon mehrmals geholfen hatte, dafür zu sorgen, daß seine Entscheidung die richtige war.
6. Als Brak den Rand der Schwefelfelder erreichte, warf er den Umhang beiseite, der ihn vor dem Regen geschützt hatte. Er versuchte, die peitschenden Tropfen nicht zu beachten und sich an den Gestank zu gewöhnen, der aus den brodelnden Lachen aufstieg, während er sich hinter ein Monument kauerte, das einen Kobold mit Amethystaugen darstellte. Aufmerksam blickte er sich um. Vor ihm ragten bizarre Formen in den düsteren Himmel, doch erst als er sich an das dämmerige Grau gewöhnt hatte, entdeckte er nicht allzu weit entfernt einen nur zur Hälfte sichtbaren Sarkophag, der größer als die meisten war. Der Barbar erhob sich, lauschte. Doch außer dem Heulen des Windes und den blubbernden Schwefelblasen konnte er nichts hören. Durch den Regen und den Widerschein der flackernden Feuerlöcher auf den Monumenten war die Sicht sehr trügerisch. Der hohe Sarkophag, den er suchte, trug die Statue
eines riesigen gebeugten Dämons mit ausgebreiteten Granitschwingen. Die Figur hielt ein mannshohes Steinschwert in ihrer Faust. Jenseits dieses Monuments schien ein etwas gleichmäßigeres Feuer als jenes aus den Tümpeln zwischen den Grabsteinen zu lodern. Brak schlich darauf zu. Die Schwefeldämpfe aus dem unterirdischen Krematorium brachten seine Augen zum Tränen und quälten seine Lunge. Er biß die Lippen blutig, während er mühsam die Hustenkrämpfe unterdrückte. Das trügerische Licht ließ gespenstische Schatten über die Grabsteine huschen. So manches steinerne Gesicht schien ihn höhnisch zu beobachten. Nun hatte er den gewaltigen Steinblock erreicht, der das Podest des gesuchten Sarkophags bildete. Er drückte seinen nackten Rücken dagegen. Die Grabeskälte des Marmors ließ ihn erschauern. Vorsichtig spähte er um eine Ecke. Auf der gegenüberliegenden Seite des Fundaments schwelte ein grünes Holzfeuer. Direkt daneben sah Brak als erstes Saria. Ihr sanftes Gesicht war bleich und verängstigt unter einem schäbigen schwarzen Kopftuch. Sie stand aufrecht. Ihre silberfarbigen Sandalen waren fast völlig in der aufgeweichten Erde versunken. Aus ihrer Haltung schloß Brak, daß ihre Hände auf den Rucken gefesselt waren. Neben ihr wartete Huz al Hussayn. Seine zusammengekniffenen Augen hingen stechend an dem Mädchen. »Hier, meine Schöne«, hörte Brak ihn sagen, »seht Ihr, was mir den Erfolg sichert.« Schwach, einer Ohnmacht nahe, schüttelte Saria den Kopf. »Wahnsinniger«, wisperte sie. »Es ist nur ein billiger Weinkrug.« Brak hielt den Atem an und stahl sich um die Ecke des Sarkophags. Im Schatten des Postaments tastete er sich vorwärts, bis er den Lichtkreis fast erreicht hatte. Hier blieb er stehen, so reglos schier wie die grotesken Figuren auf den Beerdigungsstätten rings um ihn. Nur vage war er sich des
gewaltigen ausgestreckten Schwertes der Skulptur über ihm bewußt. »Billig? Hah!« knurrte Huz. Brak konnte nun den Weinkrug sehen. Er reichte beinahe bis zu Huz’ Schulter. Sein runder Lindenholzdeckel war mit einem halben Dutzend Wachssiegel verschlossen. Der Hagere tätschelte die bauchige Seite des Gefäßes. »Der Wert eines solchen Kruges hängt vom Inhalt ab, meine Teure. Und dieser hier hat einen wahrhaft unbezahlbaren. Würdet Ihr glauben, daß eine Seele darin gefangen ist?« Als Saria ungläubig Luft holte, zuckte Huz mit den Schultern. »Das heißt, wenn Ihr das böse Etwas in einem Menschen, das auch nach seinem Tod weiterlebt, Seele nennen wollt. In diesem Krug, meine Schöne, schwimmt eine winzige Wolke, nicht größer als meine Faust. Ah, aber die Kraft, die in ihr steckt! Sie gehörte einst einem Mann, den man den Zuträger nannte. Ich sehe, Ihr kennt diesen Namen. Ja, es ist jener Schurke, der die Hälfte seiner Zeit nichts anderes tat, als hinter allem, was einen Weiberrock trug, her zu sein. Und die andere Hälfte? Nun, wenn irgendein Mensch je von Grund auf böse war - und ich bilde mir ein, ein guter Menschenkenner zu sein -, dann war es dieser Zuträger.« Mit dieser Geschichte schien Huz mehr sich selbst als dem Mädchen bis zur Ankunft des Sklaven mit Phonicios’ Antwort die Zeit vertreiben zu wollen. Eine dicke Blase auf einer Feuerlache platzte mit einem Funkenregen. In ihrem Schein sah Brak eine vermummte Gestalt sich weiter entfernt gegen einen Grabstein drücken. Er blinzelte. Es war nichts mehr zu erkennen. War tatsächlich jemand dort gewesen, oder hatte seine Einbildung ihm einen Streich gespielt? »... wenn ich diesen weißlichen Ball von Geistessenz in diesem Krug erst freigebe, meine Teure«, sagte Huz gerade, »werde ich zu hohem Ruhm und großer Macht in diesem
Stadtreich aufsteigen, das König Rodar gerade dabei ist, an die Gorden zu verlieren. Ich werde natürlich rechtzeitig eingreifen, ehe es soweit kommt.« Huz hielt inne und betrachtete erfreut Sarias ängstliche Miene. »Wollt Ihr wissen wie? Ganz einfach, meine Schöne. Ich habe gelernt, diese winzige Wolke in jedes beliebige feste Objekt zu versetzen, das es dann belebt. Und dieses Objekt kann ich lenken, wie es mir gefällt, kann es jeden Auftrag ausführen lassen, der mir in den Sinn kommt.« Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Geräuschlos entstanden winzige Risse auf der Oberfläche des Tonkrugs, die sich wie ein Spinnennetz ausbreiteten. Langsam, unendlich langsam zersprang das Gefäß. Und mit einem Mal ging die Zeit wieder voran. Mit einem lauten Knall sprangen die Scherben in alle Richtungen. Ein ziemlich großes Stück zischte direkt auf Brak zu. Ohne zu überlegen, duckte sich der Barbar. Die Tonscherbe schlug auf dem Postament des Sarkophags auf. Huz hatte Braks Bewegung in der Dunkelheit bemerkt. Er zerrte einen Dolch aus seinem Gürtel. Über seine Unbesonnenheit fluchend, stolperte Brak in den Lichtschein, der aus den Krugscherben in die Dunkelheit über ihn fiel. »Dreiköpfiger Höllenhund!« fluchte Huz. »Ein Lauscher ...« Über Brak bewegte sich die Dunkelheit. Instinktiv warf er den Kopf zurück. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, der nie über seine Lippen drang. Der Kopf der geflügelten Kreatur über ihm drehte sich knirschend und beugte sich nach unten. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit stieß die Schwerthand der belebten Statue zu. Das Tonnengewicht des Steinschwerts hatte schon fast Braks Kopf erreicht. Er ließ sich in den Schmutz fallen und spürte noch den Luftzug über seiner
Schulter. Krachend prallte das Steinschwert auf den Sarkophag und zersprang. Zwei der kleineren Steinbrocken trafen Brak, als er mühsam auf die Beine kam. Wie durch einen Schleier hindurch sah er Sarias angstverzerrtes Gesicht. Huz schien äußerst verwundert. Aber der Barbar hatte keine Zeit, sich Gedanken über die merkwürdige Reaktion des Schurken zu machen. Noch während er sich erhob und das Breitschwert aus dem Schlamm zog, senkte sich eine schwarze Wolke auf ihn herab. Ein schallendes Gelächter drang aus ihr. Hände bildeten sich und hielten eine Würgeschnur zwischen sich. Brak stolperte zurück. Sein Schienbein stieß gegen einen niedrigen Grabstein. Er torkelte in das Licht, kaum eine Schwertlänge vom Rand eines brodelnden Feuertümpels entfernt. Der Rauchkopf und Oberkörper Yems tauchte tiefer und kam näher. Die unwirkliche und doch allzu wirkliche Schnur legte sich um Braks Hals. Die Phantomknoten drückten tief in seine Kehle. Der Barbar schlug wild mit dem Breitschwert auf das Phantom ein, während er sich mit der anderen Hand verzweifelt aus der Schnur zu befreien suchte. Das Rauchgesicht kam näher. Die Knoten drückten tiefer in die Haut. Trotz der zunehmenden Schmerzen sah Brak Huz’ völlig verwirrtes Gesicht. Hatte er seine Kontrolle über die gerufenen Geister verloren? Doch nun begann alles vor Braks Augen zu verschwimmen. Nur die Gewißheit, daß es sein sicherer Tod wäre, wenn er jetzt aufgäbe, ließ den Barbaren sich weiter gegen die Rauchgestalt wehren. Kaum bewußt bemerkte er, daß je mehr er in eine Richtung zog, desto stärker wurde der Zug der Schnur in die andere. Das Gesicht Yems, des Würgers, war ihm nun ganz nahe. Warum verzerrte es sich, wenn Brak nach links zog?
Er verstand erst, als er einen Feuerschein jenseits der Rauchgestalt durchschimmern sah. Das Phantom fürchtete sich vor dem Feuertümpel ... Brak entspannte sich, so gut es in seiner Lage ging, und tat, als fiele er. Dann straffte er die Beine und warf sich nach links. Im letzten Augenblick stemmte er die Füße gegen den aufgeweichten Boden, um nicht in das brodelnde Feuerloch zu stürzen. Die Phantomschnur schloß sich noch enger um seinen Hals. Brak bekam keine Luft mehr. Der Schmerz wurde unerträglich. Sein Trick hatte versagt ... Doch da fing ein Schleierfetzen der rauchigen Form Feuer. Hastig warf Brak sich zurück. Die Phantomschnur schnellte von seinem wunden Hals. Er stieß gegen das Fundament des riesigen Sarkophags, gerade als das Feuer sich explosionsartig ausbreitete und das ganze rauchige Etwas, das Yems Geist war, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit von den Flammen verzehrt wurde. Nur ein paar Stäubchen Asche regneten auf das blubbernde Loch herab, und ein noch ärgerer Gestank als der des Schwefels erfüllte kurz die Luft. Aus weiter Ferne, einer Ferne jenseits von Raum und Zeit, drang der schreckliche Schrei einer gequälten verlorenen Seele. Nun war Yem tot, wirklich tot. Braks Hals schmerzte. Er keuchte so heftig nach Luft, daß er glaubte, die Lunge müßte ihm zerplatzen. Huz starrte ihn ängstlich zusammengekauert mit herausquellenden Augen an. Die versteckte Gestalt, die Brak kurz zu sehen vermeint hatte, tauchte mit wallendem Umhang aus den Schatten. »Ich habe diesen Mann bereits einmal gesehen. Wir hätten wissen müssen, daß mit ihm zu rechnen ist. Oder vielmehr, du hättest es wissen müssen, Hohlkopf. Ich tat es ohnehin ...« »Dann wart Ihr es - Ihr ließet den Krug zerspringen?« stammelte Huz. »So ist es«, erwiderte Ilona, die Hexe der Gorden.
Sie hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Ihr gelbes Haar wehte im nassen Wind. Ihre leuchtenden Augen ruhten haßerfüllt auf Brak. »Ich spürte, daß er dich beobachtete. Darum gab ich den Zuträger frei. Geh mir jetzt aus dem Weg, du Schwachkopf, damit ich mich mit ihm beschäftigen kann, nun, da er Yem für immer getötet hat. Du bist weder dazu fähig, noch ist dein Haß groß genug, den Barbaren zu erledigen. Du mußt wissen, ich erinnere mich nur zu gut an diesen Wilden. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.« Ilona hob die rechte Hand. Ihre schlanken Finger schrieben ein Zeichen in die Luft. »Bewege dich, Geist.« murmelte sie. Hinter sich vernahm Brak das Rumpeln von Steinen. Nun wußte er, wie Huz zu seinen erstaunlichen Zauberkräften gekommen war. Vielleicht war ihm sogar noch mehr klar, etwas, das selbst Huz nicht ahnte. Speichel träufelte aus den Mundwinkeln des kleinen Gauners, während seine Augen bewundernd an Ilona hingen. »Bewege dich, Geist!« wiederholte sie. »Rechts, links, rechts, links, in den unheiligen Kreisen - bewege dich!« Aus der Dunkelheit hinter Brak flog ein steinerner Basilisk, die vier gewaltigen Flügel schwingend, auf ihn zu. Der Barbar stieß die Spitze des Breitschwerts gegen das Brustbein des Basilisken. Steine regneten herab und schlugen Braks Schulter blutig. Ein weiteres Trümmerstück streifte seinen Kopf, daß Sterne vor seinen Augen aufsprühten. Sein Arm zitterte noch von dem heftigen Hieb. Aber er empfand plötzlich eine wilde Zuversicht. Kampfeslust erfüllte ihn. Er konnte so viele Steinungeheuer zerschmettern, so viele auch von ihren Postamenten herunterflogen, um ... »Bewege dich Geist!« Etwas Schweres schlug gegen Braks Brust. Er schwankte zur Seite und drehte das Schwert.
Eine weitere Grabstatue - ein Dämon mit zehn Krallen an jeder Pranke, und einem Horn, das aus seiner Schnauze ragte wirbelte um ihn durch die Luft. Mit beiden Händen um den Schwertgriff hämmerte Brak gegen die Statue. Der Stein zersplitterte. Eine weißliche Schleiersubstanz löste sich von ihr, schoß in die Höhe. Ilona wiederholte ihre Beschwörung. Sofort stürzte ein aus Stein gehauener Stier von rechts auf ihn zu. Hastig sprang der Barbar auf einen Felsblock. Er hielt das Schwert bereit, und als das Tier unter ihm vorbeidonnerte, ließ er es herabsausen, daß sich der Steinschädel spaltete. Auch hier schwebte ein weißes Wölkchen heraus und verschwand in der Dunkelheit. Doch Brak hatte keine Zeit, sich zu erholen. Während er noch nach Atem rang, sah er bereits einen weiteren steinernen Alptraum durch den Wind auf ihn zubrausen. Diesmal war es ein Streitwagen, den ein vieläugiges altes Weib lenkte. Einen Wutschrei ausstoßend, hob Brak erneut das Schwert und schwenkte es durch die Luft. Es stieß mit voller Wucht gegen ein Steinrad. Der heftige Aufprall warf Brak durch die Luft, und er landete schmerzhaft auf seinem Rücken. Doch sofort taumelte er wieder auf die Füße. »Bewege dich, Geist!« kreischte Ilona. Die weiße Schleiersubstanz des Zuträgers schoß aus dem steinernen Wagen, der daraufhin auf den Boden stürzte und zerschmetterte. Gleich darauf näherte sich von hinten den Monumenten ein hummer-ähnliches Steinwesen, das mit seinen scharfen Scheren auf Brak zuglitt. Am ganzen Körper blutverschmiert und schwindlig, taumelte der Barbar mühsam wieder auf die Füße. Seine Zuversicht war geschwunden, nur noch düstere Verzweiflung beherrschte ihn, nun, da er erkannte, daß Ilona die Essenz des Zuträgers pausenlos von Grabskulptur zu Grabskulptur befehlen konnte. Außer sich vor hilfloser Wut stieß er wilde Flüche aus und schlug mit der Klinge gegen die rechte Schere des
Hummerwesens. Das Breitschwert brach entzwei. Die andere steinerne Schere stocherte Brak in den Bauch. Er spürte seine Knie nachgeben. Müde ließ er sich auf alle viere fallen und schüttelte benommen den Kopf. Steh auf, beschwor er sich. Du darfst sie nicht ... Diesmal traf die Schere Braks Schläfe. Stöhnend stürzte er auf den Rücken. Wie durch Watte hindurch hörte er Ilonas Singsang. Ganz plötzlich erstarrte das Hummerwesen wieder zu reglosem Stein. Verschwommen sah Brak Ilonas näherkommendes Gesicht. Es war haßverzerrt und beugte sich über ihn. »Ich hätte noch zehn Statuen und mehr gegen dich schicken können, Barbar. Ich wollte, dein Widerstand hätte länger angehalten und dein Verstand dich verlassen, weil du einsehen mußtest, wie sinnlos es ist, dich gegen mich aufzulehnen.« »Hexe«, knurrte Brak, daß es sich wie das schlimmste Schimpfwort anhörte. »Zauberin! Schwarze Hündin. Ihr ...« Ungerührt stützte Ilona ihren Fuß auf Braks Gesicht und drückte es zu Boden. »Schweig. Und sieh ein, daß du geschlagen bist.« Irgendwo schluchzte Saria. Huz lief zu Ilona und zupfte sie am Ärmel. Die Hexe befreite sich mit wütender Geste, als sei seine Berührung unrein. Huz blinzelte verstört. »Lady«, stieß er auf. »Die Stunde ist nahezu um. Ich höre einen Mann im Nebel rufen. Sicher ist er der, den Phonicios schickte. Wenn Ihr auf diesen Wilden achtet, gehe ich dem Boten entgegen - was habt Ihr, Lady?« Ilona zuckte die Schultern. »Der Tölpel hier wird sich nicht von der Stelle rühren«, erklärte sie mit kaltem Stolz. »Ich komme mit dir, um die Antwort zu erfahren. Um ihrerwillen kamen wir überhaupt zu diesem wenig erbaulichen Ort.« »Seid nicht ungehalten, Lady«, winselte Huz. »Ihr sagtet zu,
mir zu meiner Rache zu verhelfen.« »Das tat ich.« Ilona nickte. »Aber das Blut des Barbaren ist nahezu kalt. Das Spiel verliert seinen Reiz für mich. Wir wollen es zu Ende bringen. Sie bog um einen Grabstein und bedeutete Huz, ihr zu folgen. Ächzend gelang es Brak, sich auf den Bauch zu rollen und sich wieder auf alle viere zu erheben. Er hörte erneut die Rufe im Nebel und gleich darauf Huz sagen: »Er kam allein, wie ich es verlangte. Und ich erkenne die Kleidung. Er ist ein Sklave auf Phonicios’ Haushalt.« Darauf folgte eine gedämpfte Unterhaltung, die er nicht mehr verstand. Er versuchte aufzustehen, aber sein mit Wunden übersäter Körper wollte nicht gehorchen. Nun vernahm er die etwas lautere Stimme eines Fremden: »... Lord Phonicios hat bereits Pergamente an alle Angehörigen der Kaufmannsgilde gesandt und sie von seinem Rücktritt unterrichtet. Sie müßten schon in diesem Augenblick in ihren Händen sein. Lord Phonicios ersucht Euch, seine Tochter zurückzuschicken, wie Ihr es ihm verspracht, wenn er seinen Teil der Abmachung halte. Er läßt Euch ferner sagen ...« »Genug!« unterbrach Ilona ihn. »Sieh zu, daß du weiterkommst, oder du wirst in einem der Feuerlöcher hier schmoren!« Brak hörte hastige Schritte sich entfernen. Eine Feuerblase platzte ganz in der Nähe und ließ ihn Saria sehen, die neben einer zerschmetterten Statue lag. Huz al Hussayn und Ilona traten gerade auf sie zu. »Ich zertrenne die Bande der Kleinen, dann können wir von hier verschwinden.« Huz hob seinen Dolch. Als er sich über Saria beugte, hielt Ilona ihn zurück. »Nein, Huz! Ist deiner Rache denn Genüge getan durch Phonicios’ Abdankung?« »Ich verstehe nicht.« »Ist der Kaufmann nicht dein Feind?«
»Gewiß ist er das!« »Und hat er seinen Rücktritt nicht bereits schriftlich erklärt?« »So sagte sein Sklave.« Ein teuflisches Lächeln spielte um Ilonas Lippen. Sie deutete auf Brak. »Der gelbhaarige Barbar steht in Phonicios’ Diensten. Warum krönst du deine Rache an dem Mann nicht, der dich so erniedrigte? Laß das Mädchen hier und den Barbaren ebenfalls. Sollen sie beide unter den Toten bleiben selbst tot.« Brak bemühte sich, Kraft für einen letzten Kampf zu sammeln. Immer noch stützte er sich auf Hände und Knie und staunte über die Verwandlung in Huz al Hussayn. Bei ihrem ersten Treffen schien er ihm ein willensstarker Mann. Doch nun wimmerte er fast aus Angst vor der gordischen Hexe. »Ilona, als ich Phonicios mein Ultimatum stellte, war es gleichzeitig eine Abmachung, daß ...« »Du hast auch eine Abmachung mit mir geschlossen, Wurm! Welche ist dir wichtiger?« Huz winselte: »Ihr wollt doch nicht, daß ich mein Messer benutze, um ...« Ilona lachte laut. »Aber nein. Es gibt einen viel einfacheren Weg. Du selbst erzähltest mir davon.« Sie flüsterte etwas in sein Ohr. Dann blickte sie Brak mit höhnischer Genugtuung an. Huzs Gesichtsausdruck wechselte mehrmals hintereinander. Er war etwas verstört, dann unsicher, dann entschlossen und danach erneut unsicher: »Aber ...« stammelte er. »Tu, was ich dir gesagt habe«, befahl die Hexe kalt. Brak wußte, er durfte nun nicht länger warten. Er sprang aus seiner kauernden Stellung auf und stürzte mit zu Klauen gekrümmten Fingern auf die beiden zu. Als er sie fast erreicht hatte, packte er einen Stein, um ihn gegen Ilonas Schädel zu schleudern. Doch kaum hatte sie seine Absicht bemerkt, hob sie die Arme, und ihre schlanken Finger zeichneten ein Muster
in die Luft. Ein Steinspeer zischte aus der Dunkelheit und hinterließ eine blutige Spur an Braks Schläfe. Der Stein entfiel seiner Hand, und er selbst sank halbbetäubt zu Boden. Der Steinspeer polterte gegen ein Postament und zerschellte. Eine weißliche Wolke huschte heraus. Fast bewußtlos spürte Brak doch noch, wie er über den schlammigen Boden geschleift und irgendwo in der Dunkelheit abgesetzt wurde. Der Schwefelgestank war hier besonders penetrant. Nach einer Weile hörte er Huz keuchen und etwas neben ihn auf den Boden legen. Er war zu schwach, seine Augen zu öffnen, aber es konnte nur Saria sein. Ilonas spöttisches Gelächter schrillte in seinen Ohren. »Ihr Tod wird nicht angenehm sein. Nicht, wenn das, was du mir erzähltest, wahr ist. Komm jetzt, wir wollen uns an einen angenehmeren Ort zurückziehen. Der Barbar soll Zeit haben, darüber nachzudenken, daß es sich nicht auszahlt, einen Freund der Hexe Ilona zu töten. Die Schritte in der auf geweichten Erde entfernten sich, und Stille senkte sich herab. Brak verlor die Besinnung. In der Ferne dröhnten Glocken. Singsangstimmen leierten vor sich hin. Grelle Farben pochten gegen seine geschlossenen Lider. Stöhnend öffnete Brak die Augen. Fackeln leuchteten. Der Singsang wurde lauter. Ein aufdringlicher Salbengeruch umgab ihn. Schmierige Hände hielten ihn. Ein dunkler Torbogen schien auf ihn herabzuschweben. Da verstand er. Der Torbogen war nichts weiter als der Eingang zu einer Höhle, und er kam nicht zu ihm herab, sondern er, Brak, wurde hochgehoben von den Priestern des unterirdischen Krematoriums. Mühsam drehte er den Kopf und sah Saria reglos ausgestreckt. Auch sie wurde von zwei Dutzend Händen getragen. Das eindringliche Geleiere wurde noch lauter. Brak war zu schwach, um sich zu wehren, als die Priester ihn den schrägen,
aus Stein gehauenen Korridor in die Tiefe trugen. Fackeln loderten. Ein Gong erschallte - eine Einladung ins Reich der Toten. Erneut verließen Brak die Sinne.
7. Die gespenstischen Stimmen drangen in Braks Bewußtsein. Sie sangen ein rituelles Totenlied, das Brak aus seiner Betäubung riß. Der Schwefelgestank und die sengende Hitze an seinem rechten Bein brachten ihn vollends zu. sich. Ohne die Augen zu öffnen, holte er tief Luft. Und nun erinnerte er sich. Er entsann sich des schaurigen Kampfes auf der Beerdigungsstätte. Er entsann sich der vielen Hände, die ihn in die Tiefe getragen hatten. Vorsichtig bewegte Brak seine Finger, in denen Nadelspitzen zu prickeln schienen. Er stellte fest, daß er auf etwas Hartem, Unnachgiebigen lag. Er betastete die Unterlage. Sie war aus Stein. Ein Altar vielleicht? Oder eine Totenbahre? Ein plötzlicher Schweißausbruch benetzte den Stein unter seinem Rücken. Er befand sich im unterirdischen Krematorium. Daher der Singsang aus Dutzenden von Männerkehlen. Daher auch die Hitze an seiner Seite. Und daher die flammenden Farben, die über seine Lider huschten. Brak drehte den Kopf zur Seite und öffnete die Augen einen winzigen Spalt. Hätte er sich nicht an die Umstände seiner Verschleppung erinnert, wie leicht wäre er dann der Versuchung verfallen, zu glauben, daß er, von welchen Göttern auch immer, in die Unterwelt verbannt worden sei. Er lag auf einem erhöhten Granitblock. Direkt vor ihm, reglos ausgestreckt auf einem ähnlichen Block, ruhte Saria. Vor ihr erstreckte sich, leicht geneigt, ein endlos scheinendes
Gewölbe, dessen Wände ebenfalls aus Granit bestanden. Aus manchen Stellen des natürlichen Bodens rieselte bläulich phosphoreszierende Flüssigkeit. Zwischen den steinernen Katafalken, auf die man Saria und ihn gelegt hatte, und den fernen Gewölbewänden loderten Flammenzungen aus Dutzenden von Feuerteichen, ähnlich jenen an der Oberfläche, nur viel größer. Der größte jedoch befand sich in der ungefähren Mitte des Gewölbes. Eigenartigerweise, wie Brak schien, glühten seine Flammen greller und gefräßiger als die der kleineren Teiche. Rings um diesen größten Feuerteich standen grobe Holzschlitten. Und auf jedem von ihnen lag eine völlig in weißes Linnen gehüllte reglose Gestalt. Verstorbene, wie Brak annahm. Unzählige Männer, die offenbar zwei verschiedenen Klassen angehörten, bewegten sich geschäftig in diesem Krematoriumsgewölbe. Die der einen waren muskulöse, aber stumpfsinnig dreinblickende Burschen, die nur einen linnenen Lendenschurz trugen. Sie verrichteten offenbar die Arbeit hier, die Körperkraft und nichts weiter verlangte. Einige von ihnen zerrten gerade einen besetzten Schlitten zum großen Feuerteich. Die andere Klasse, bedeutend zahlreicher als erstere, war in graue Tuniken gehüllt, die reichverzierte güldene Gürtel zusammenhielten. Alle diese Männer - Priester, nahm Brak an - waren kahlgeschoren und trugen einen blutroten Edelstein im linken Ohrläppchen. Einer von ihnen stand am Rand des mittleren Feuerteiches und las mit leiernder Stimme etwas von einer Pergamentrolle ab. Er wechselte, gelangweilt offenbar, amüsiert-zynische Blicke mit einem anderen, der einen Räucherkessel schwang, aus dem grüner Rauch aufstieg. Durch das Knirschen und Schleifen von Schlitten, die über den Steinboden gezogen wurden, und das laute Blubbern aus den Feuerteichen vermochte Brak die Worte nicht zu hören. Auf das Zeichen eines dritten Priesters stellten zwei der nur
mit Lendentüchern bekleideten Sklaven einen Schlitten aufrecht. Der Leichnam darauf glitt in den mittleren Feuerteich. Flammen loderten hell, und Rauch stieg an der Stelle auf. Der Priester legte das Pergament, von dem er gelesen hatte, zur Seite, zuckte die Schultern und schritt zu einer Pyramide von übereinandergestapelten Messingurnen. Er wählte eine aus und kratzte mit einem Griffel etwas auf ein Tonsiegel am Deckel. Dann reichte er die Urne einem Sklaven, der damit davonstapfte. Der Priester hob die Pergamentrolle wieder auf. Der zweite mit dem Räuchergefäß nahm einen tiefen Schluck aus einem Ziegenlederbeutel, daß der Wein über seine Tunika träufelte. Ein weiterer Schlitten wurde an den Rand des Feuerteichs geschleift. Die Zeremonie begann von vorne. Braks Unbehagen wurde schwächer, während er dieses Ritual beobachtete. Gewiß, die ganzen Umstände waren nicht gerade Zuversicht einflößend - der Gestank nach den Salben, mit denen die Toten einbalsamiert waren, die Leichen auf den Schlitten und Granitbahren, die flackernden Feuerteiche. Aber irgendwie erweckte das Ganze in ihm doch den Eindruck eines Geschäftsunternehmens, wo alles mit unbeteiligter Eile vor sich ging. An der Verbrennung der Toten hier war absolut nichts Mystisches, ganz im Gegenteil zu dem, was man sich in Rodars Stadtreich zuflüsterte. Doch da entsann Brak sich Phonicios’ Worte. Hatte der Gildenmeister nicht behauptet, daß jene, die in das Krematorium gebracht wurden, nie mehr zurückkehrten, selbst, wenn sie noch gelebt hatten? Braks Breitschwert war im Kampf gegen den steinernen Dämon zerbrochen. Ohne die Waffe fühlte er sich nackt. Während er noch überlegte, was er unternehmen könnte, sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Saria drehte den Kopf und stöhnte. Als sie Brak sah, schien die Erinnerung wiederzukommen.
Grauen löste die erste Freude ab. Hastig setzte sie sich auf und starrte verängstigt um sich. Sie ließ sich von ihrem Granitblock gleiten, zögerte ein wenig, ehe sie sich daranmachte, blindlings davonzulaufen. Brak hatte keine Wahl, als ihr nachzuspringen. »Saria!« keuchte er. Er erwischte ihr Handgelenk und zog sie zurück. »Sie werden Euch erschlagen, wenn Ihr weglauft!« Das Mädchen wehrte sich heftig gegen seinen Griff. »Ich weiß, wo wir sind!« heulte sie. »Laßt mich los. Ich springe lieber selbst ins Feuer, als darauf zu warten, daß sie ...« »Höh!« brüllte eine Stimme. »Die Neuen sind wach. Sklaven, kommt mit euren Stöcken. Schnell!« Der Priester, der gerufen hatte, bog um einen Stoß aufgestapelter Schlitten, ganz in der Nähe der Stelle, wo Brak versuchte, die um sich schlagende Saria zu halten. Weitere Priester erschienen mit einer Gruppe prügelbewaffneter Sklaven in Lendentüchern. Der Priester, der die anderen herbeigerufen hatte, ein gebeugter, krankhaft bleicher Mann höheren Alters, deutete auf Brak. »Dies ist ein geheiligter Ort, Fremdling. Unheil wird auf Euch herabkommen, wenn Ihr ihn durch Tätigkeiten entweiht.« »Haltet Euch endlich ruhig, Mädchen!« zischte Brak Saria zu und schüttelte sie wild, bis sie ihre Gegenwehr aufgab. Sie hing nun schlaff in seinen Armen und starrte mit grauenverzerrtem Gesicht auf den Priester. Braks Magen verkrampfte sich, als die Sklaven näherschlurften und einen Ring um sie bildeten. Der Barbar nahm die Hände von Sarias Schulter und funkelte die Männer drohend an. Der alte Priester trat dicht an ihn heran und musterte die muskulöse Riesengestalt eingehend. »Wir sind weit in der Überzahl, Fremdling«, warnte er. »Es wäre weise, wenn Ihr Euch vernünftig verhaltet.« »Das werde ich«, versicherte ihm Brak, »sobald Ihr uns freilaßt. Geht mir aus dem Weg.«
Der Alte schüttelte verständnislos den Kopf. »Welche Art von einfältigem Narren haben wir denn hier?« »Er ist nicht aus Rodars Königreich«, erklärte einer der Sklaven. »Er stammt auch nicht aus einem der Nachbarländer, das ist leicht zu sehen. Laßt uns ihm das Maul stopfen,; Lord.« Er tätschelte unmißverständlich seinen Prügel. Sofort duckte Brak sich sprungbereit. »Versuch es doch!« knurrte er. »Dein Prügel scheint dir ja Mut zu geben.« Des Sklaven Augen in dem groben Gesicht glitzerten erwartungsvoll. Doch der alte Priester hob warnend eine Hand. »Wir dürfen ihm nichts antun, ehe Lord Nestor nicht mit ihm gesprochen hat. Fremdling, beruhigt Euch und ...« Der Alte riß entsetzt Mund und Augen auf und stolperte rückwärts. »Bei den Göttern!« keuchte er. »Er ist ein Wahnsinniger!« Brak stapfte vorwärts. »Geht mir aus dem Weg!« wiederholte er drohend. »Ich warne Euch!« winselte der Priester. »Ihr schadet nur Euch selbst und dem Mädchen, wenn Ihr ...« »Aus dem Weg!« donnerte Brak nun und sprang. Der Sklave, der es nicht hatte erwarten können, Brak den Prügel spüren zu lassen, trat erschrocken zurück. Aber nicht schnell genug. Braks Pranken schlossen sich um sein Handgelenk. Der Sklave heulte auf. Brak drückte zu. Knochen knackten. Der Prügel entfiel der gebrochenen Hand. Brak fing ihn, wirbelte ihn um den Kopf und ließ ihn auf des anderen Schädel herabsausen. Mit einem Schrei brach der Mann zusammen. Brak schob Saria zur Seite und begegnete dem nun geballten Angriff der anderen Sklaven. Er parierte viele der Schläge, und gut die Hälfte der Grobschlächtigen ging zu Boden, ehe er einen so heftigen Hieb auf die Rechte abbekam, daß ihm der Prügel entfiel. Die Restlichen nutzten die Chance und drangen auf ihn ein.
Während die wütenden Sklaven trotz des Protestes des greisen Priesters den sich heftig wehrenden Brak festhielten, holte einer hoch mit dem Prügel aus, um ihm den Schädel zu zerschmettern. In diesem Augenblick erschallte eine grimmige Stimme: »Befahl ich euch nicht, diese beiden nicht anzurühren? Laßt den Barbaren frei und bringt ihn und das Mädchen in die blaue Grotte!« Der neu angekommene Priester war ein behäbiger Mann mit roten Wangen, dessen güldener Gürtel noch kostbarer verziert schien als jene der anderen Priester. Ohne ein weiteres Wort stiefelte er auf eine der dunklen Öffnungen in der entgegengesetzten Wand zu. Einige der Sklaven brummelten unzufrieden vor sich hin, aber sie gehorchten. Der breitschultrige Barbar vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten, so viele Schläge hatte er einstecken müssen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen, als man ihn vorantrieb. Weitere Sklaven bewachten Saria und folgten ihm mit ihr. Sie traten durch den gleichen Höhlenschlund wie der rotbackige Priester und kamen nach einer Weile in eine niedrige Grotte, in deren Nischen blaue Flammen flackerten und jeweils eine kleine Jaalstatue und eine der Fruchtbarkeitsgöttin Ashtir gespenstisch beleuchteten. Der behäbige Priester erwartete sie bereits mit über dem Bauch gefalteten Händen. Braks Sinne klärten sich langsam wieder. Fluchend schob er die Hände seiner Bewacher zur Seite. Als die anderen sich zurückgezogen hatten, begann der Priester zu lächeln. Irgendwie wirkte es unheimlich. Die blauen Flammen spiegelten sich auf den runden Wangen und dem kahlen Schädel, als er sich mit entschuldigender Gebärde an die beiden Gefangenen wandte. Saria schmiegte sich ängstlich an Braks Brust. »Erlaubt mir, für meine Untergebenen um Verzeihung zu
bitten. Sie hatten den ausdrücklichen Befehl, Euch nichts anzutun, damit mir die Gelegenheit bliebe, mich mit Euch zu unterhalten.« Seine Stimme klang ölig. Der Priester verbeugte sich nun. »Ich bin Nestor, der Oberpriester des Bestattungskults«, stellte er sich vor. »Als man Euch hierherbrachte ...« »Ihr wollt wohl sagen, entführtet«, knurrte der Barbar. »Wenn Ihr hier etwas zu sagen habt, dann befehlt Euren Leuten, uns an die Oberfläche zurückzubringen. Dieses Mädchen hier ist die Tochter des Gildenmeisters Phonicios ...« »Glaubt Ihr vielleicht, das wüßte ich nicht?« fragte Nestor sarkastisch. »Ich halte mich sehr wohl über das auf dem laufenden, was oben geschieht. Ich habe sogar von Euch gehört, Fremdling. Von dem Mann mit dem Löwenfellbeinkleid und dem gelben Zopf, der von hoch aus dem Norden kommt und sich Phonicios’ Haushalt anschloß. Ich bitte Euch, macht Euch nicht länger Sorgen. Gewiß, es ist bedauerlich, daß Ihr in diese heiligen Höhlen geraten seid. Es ist offensichtlich, daß Ihr - äh - nun, sagen wir, besondere Dienste benötigt.« »Wir wurden so gut wie bewußtlos am Eingang zum Krematorium abgesetzt«, erklärte Brak, »von Feinden, die uns aus dem Weg sehen wollten.« »Ich verstehe«, tat Nestor mitfühlend. »Es ist ganz klar, daß es einen Grund für diesen bedauerlichen Irrtum geben muß. Wir werden dieses Versehen sofort beheben. Darum ließ ich Euch ja auch zu mir bringen.« Saria seufzte hoffnungsvoll auf. »Dann - dann wollt Ihr uns wirklich freilassen?« »Selbstverständlich«, versicherte Nestor ihr lächelnd. Eine unvorstellbare Erleichterung durchflutete Brak. Er drückte Saria begeistert an sich und atmete tief auf. Nur mit einem halben Ohr hörte er den Priester weitersprechen, der in der Grotte auf und ab schritt und sich die Hände rieb.
»... frei sein, sobald die Abmachung eingehalten ist. Lord Phonicios ist bekanntlich ein sehr reicher Mann.« Nestor hielt an und blickte über die Schulter zurück. Mit verschlagenem Blick fuhr er fort. »Sagen wir eine Spende von fünfzigtausend Dinschas für Euch beide.« Wilde Wut vertrieb Braks Begeisterung. »Das ist es also, worauf Ihr aus seid!« knurrte er. »Auf Lösegeld!« »Wenn Ihr dieses häßliche Wort in den Mund nehmen wollt, ja.« Nestor lächelte. »Lösegeld und zusätzlich noch einige unumgängliche Bedingungen. Sobald Phonicios’ Dinschas in unseren Händen sind, wird man Euch beide zur Grenze bringen. Ihr dürft keinesfalls je wieder in König Rodars Reich zurückkommen, wenn Ihr nicht wollt, daß Euch sofort der Tod ereilt. Ihr müßt meine Situation verstehen. Ich biete Euch Euer Leben. Dafür müßt Ihr auf meine Bedingung eingehen. Ein hier tiefverwurzelter Aberglaube besagt, daß keiner, der je zum Krematorium gebracht wurde, ob nun lebend oder tot, je wieder an die Oberfläche zurückkehrt. Das Wohlergehen und Weiterbestehen unseres Kults ist von diesem Glauben abhängig. Doch Euch soll die Wahrheit nicht vorenthalten werden. Ihr müßt nicht sterben. Wir verlangen nur, daß Ihr in Rodars Stadtreich nie wieder gesehen werdet - als hätte das heilige Feuer Euch tatsächlich verzehrt.« »Mit anderen Worten«, sagte Brak gefährlich leise, »heißt das, daß wir dafür bezahlen müssen, freizukommen, um uns dann den Rest unseres Lebens zu verstecken?« »So ist es«, erklärte Nestor ungehalten. »Ich darf nie wieder meinen Vater sehen?« schluchzte Saria. »Noch meinen - meinen geliebten Calix?« »Ist Euer Leben Euch das denn nicht wert?« rief Nestor nun unbeherrscht. »Dies ist kein heiliger Ort«, knurrte Brak, »sondern eine Räuberhöhle!« Nestor zuckte die Schultern. »Ich leugne nicht, daß unserem
Kult nicht unbedeutende Einnahmen durch die Befreiung - äh, versehentlicher Opfer - zufließen, eben auf die Euch vorgeschlagene Weise. Auch gedenke ich nicht, über die Ethik dieser Methode viele Worte zu verlieren. Vielleicht sind wir Räuber. Aber vornehmer Art. Das müßt Ihr zugeben. Es besteht jedenfalls kein Zweifel, daß die Vorteile alle auf unserer Seite sind. Entweder Ihr erklärt Euch bereit, mir zu helfen, die Einzelheiten auszuarbeiten, wie wir an die genannte Summe kommen können - vielleicht als traditionsgemäße freiwillige Opfergabe für Eure angebliche Bestattung -, oder die heiligen Flammen werden Euch beide verschlingen.« »Nein!« brüllte Brak. »Erst sollen sie Euch kosten, Ihr ...« »Haltet an Euch!« warnte Nestor und trat ängstlich ein paar Schritte zurück. »Wenn Ihr Schwierigkeiten macht, werde ich Euch nicht noch einmal vor den Sklaven schützen ...« Seine letzten Worte verliefen in einem schrillen Angstschrei, als Brak auf ihn zusprang und seine gewaltigen Hände um den Hals des geschäftstüchtigen Priesters legte. Blinde Wut beherrschte den Barbaren nun. Er drückte den Kopf Nestors zurück und achtete nicht auf das erbärmliche Winseln und die schwächlichen Hände, die seine zurück drängen wollten. Er hörte auch Sarias Warnruf nicht. Ein entsetzlicher Schmerz schien plötzlich seinen Schädel zu spalten. Die Hände lösten sich kraftlos von der Kehle des anderen. Brak sank halbbetäubt auf die Knie. Nur vage sah er die Sklaven, die Nestors Angstschrei herbeigerufen hatte. Mühsam gelang es ihm, sich wieder zu erheben und den auf ihn herabsausenden Prügel mit den Händen abzufangen. Es fehlte nicht viel, und der Hieb hätte seine Finger zerschmettert. Trotzdem vermochte er den Prügel festzuhalten und ihn dem Angreifer sogar zu entreißen, während immer weitere Sklaven in die Grotte hereineilten. »Schont ihn diesmal nicht!« heulte Nestor. »Er hat Hand an mich gelegt! Erschlagt ihn!«
Brak hoffte, daß Saria die Gelegenheit wahrgenommen hatte und geflohen war. Er schlug mit dem Prügel wie mit einer Sense um sich, zerschmetterte des einen Schädel, brach dem anderen die Schulter, schlug einem weiteren die Zähne aus, brach einem vierten das Genick. Aber bald unterlag er der zahlenmäßigen Überlegenheit der Angreifer und stürzte zu Boden, während die Prügel immer noch auf ihn herabsausten. Ihn mit den Füßen stoßend, zerrten die Sklaven ihn aus der Grotte. Plötzlich hörte Brak Saria laut aufschreien. Es war ihr also nicht gelungen, zu entkommen! Verzweiflung erfüllte Brak. Er sah den Grund für des Mädchens Schrei. Ein neues Opfer, am ganzen Körper blutverschmiert - ein entweder toter oder schwerverwundeter Mann -, wurde auf einem Krematoriumsschlitten aus einer Höhlenöffnung gezogen. Selbst aus dieser Entfernung vermochte Brak deutlich das rote Haar des Mannes zu erkennen. Das dritte Opfer von Nestors Kult war zweifellos Phonicios’ Haushofmeister Calix. Weiter schleiften die Sklaven Brak über den Krematoriumsboden - dem Feuertod immer näher.
8. Eine kurze Weile setzte Brak Bewußtsein völlig aus. Er hatte keine Erinnerung daran, wie er in den dunklen Höhlenraum gekommen war, in dem er nun erwachte. Er lag zusammengekauert in einer Ecke auf faulendem Stroh. Das kaum nennenswerte Licht, das in den Höhlenraum drang, kam durch eine quadratische Öffnung, die direkt zum Krematorium führte. Dort schien alles wieder seinen normalen Verlauf zu nehmen. Aber drei Sklaven hielten mit dem Rücken zu ihm, und nicht mit Stöcken, sondern mächtigen Breitschwertern bewaffnet, vor dem Eingang Wache. Ein schwaches Stöhnen ließ Brak den Kopf drehen.
Ein weißer Augapfel glitzerte feucht aus der Dunkelheit der Kammer. Brak schluckte hart, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Der gräßliche Augapfel starrte ihn unbewegt an. Brak erhob sich, darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, und machte ein paar Schritte auf das abstoßende Ding zu. Der Augapfel gehörte zu einer auf einem Schlitten liegenden Leiche. Das Genick des Toten war gebrochen und der Kopf unnatürlich zur Seite gedreht, daß es schien, als beobachte der Leichnam ihn. Weitere Schlitten mit ähnlicher erbarmungswürdiger Last standen an den Höhlenwänden. Als Braks Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er die Quelle des Stöhnens. Es war Saria, die neben dem schlaffen Körper Calixs kniete. Obgleich an Armen und Beinen des Haushofmeisters keine Wunden zu erkennen waren, lag er doch völlig reglos. Saria hatte die Hände vor ihr Gesicht gepreßt Ihr Oberkörper schwankte hin und her. Einmal strich sie sanft über das rote Haar des Mannes, den sie geliebt hatte. Brak stand nun neben ihr, doch das Mädchen schenkte ihm keine Beachtung. Brak empfand tiefes Mitleid mit ihr. Es überraschte ihn nicht, nach all dem Grauen, das sie mitgemacht hatte, daß ihr Geist die Umwelt nicht mehr wahrnehmen wollte. Brak fragte sich, weshalb man sie noch nicht in den großen Feuerteich geworfen hatte. Es gab vielleicht zwei Gründe dafür: Erstens, die Priester und Sklaven waren zu sehr mit den normalen Bestattungen beschäftigt, was sich aus den zahllosen beladenen Schlitten schließen ließ. Zweitens, Nestor wollte sie noch eine Weile schmoren lassen, um ihre Angst zu erhöhen und so das abschließende Schauspiel interessanter zu gestalten. Braks Sinne waren nun wieder völlig klar. Hier in dieser Nebenhöhle war die Luft viel reiner als im großen Gewölbe. Er kniete sich neben Saria und versuchte, ein paar tröstende Worte zu finden. Behutsam legte er seinen Arm um ihre Schulter.
Aber er wußte immer noch nicht, was er sagen sollte. Er erschrak. Saria schien seine Berührung überhaupt nicht zu bemerken. Es war, als umarme er eine leblose Statue. »Saria! Mädchen! Ihr müßt mir zuhören! Wir müssen einen Weg zur Flucht finden!« Saria drehte den Kopf. Tiefes Leid sprach aus ihren sanften Augen. »Weshalb?« murmelte sie. »Calix ist tot!« »Er starb vermutlich, weil er uns retten wollte«, erwiderte Brak. »Soll sein Tod umsonst gewesen sein? Wenn er der Mann war, für den ich ihn hielt, so würde er nun wollen, daß wir ...« Er hielt inne. Hatten seine Augen ihm einen Streich gespielt? Er war sicher, daß Calixs Brust sich gehoben hatte. Langsam nahm er den Arm von Sarias Schulter. Sie hielt es für ein Zeichen eigener Verzweiflung und barg das Gesicht erneut in den Händen. Den Atem anhaltend, beugte Brak sich über Calix und brachte seine Wange ganz nahe an die Lippen des Haushofmeisters. Ein warmer Hauch strich gegen sein Gesicht. Brak zuckte zusammen, als der Zirkassier ihm zuflüsterte: »Preßt Eure Hand gegen Sarias Lippen, Barbar, damit sie nicht aufschreit. Ich lebe, wie Ihr seht. Aber ich muß schnell auf.« Brak preßte eilig die Linke auf Sarias Mund und die Rechte auf ihren Nacken, um sie stillzuhalten, während ihre Augen sich erschrocken weiteten. Sie wand sich in seinem Griff und krallte panikerfüllt ihre Nägel in seine Handgelenke. Calix setzte sich auf. Seine blauen Augen ruhten beschwörend auf ihr, während er warnend einen Finger gegen seine Lippen drückte. Saria ließ die Hände fallen. Ihr Gesicht leuchtete auf. Brak gab sie frei. Calix drückte das Mädchen zärtlich an sich. »Ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, hier lebend herauszukommen, Saria«, sagte er, seine Stimme nicht mehr als ein Hauch. »Jedenfalls
kam ich hierher, weil ich hoffte, Euch retten zu können.« »Ich bin so glücklich, daß du lebst«, flüsterte das Mädchen. »Aber ob wir es schaffen werden? Wir sind nur drei. Du und Brak, ihr seid mutige Männer, aber was könnt ihr gegen so viele ausrichten?« »Die Zeit ist unser Verbündeter«, murmelte Calix. »Wir leben noch, oder nicht? Und vergiß meinen Stand nicht, ehe dein Vater mich in seinen Haushalt aufnahm. Ich war Priesteranwärter hier in diesem Krematorium.« Braks Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Er entsann sich, daß Phonicios das erwähnt hatte. »Dann wißt Ihr vielleicht auch einen Weg nach oben?« »Versuchen zu wollen, uns nach oben durchzuschlagen, brächte uns nur den Tod ein«, erklärte Calix. »Der einzige Gang, der an die Oberfläche führt, ist stets streng bewacht. Aber es gäbe einen anderen Ausweg.« Er blickte Saria und Brak lange forschend an. »Wenn wir den Mut haben, ihn zu wählen. Wir brauchen starke Nerven dazu und einen festen Willen, es auch mit dem Unwirklichen aufzunehmen.« Brak warf den gelben Zopf über die Schulter zurück. »Wir werden alles tun, um von hier wegzugelangen, Haushofmeister. Doch verratet uns zuerst, wie Ihr hierherkamt.« Calix zuckte ein wenig ungeduldig die Schultern. »Bald nachdem Lord Phonicios das Ultimatum erhalten hatte, wurde mir klar, daß Ihr, Brak, seinen Befehl mißachtetet. Was konnte durch Euer Handeln schon gewonnen werden als höchstwahrscheinlich Sarias Tod, dachte ich. Deshalb beschloß ich, selbst ebenfalls einzugreifen. Ich verschwieg Euer Verschwinden und machte mich wie Ihr zu den Schwefelfeldern auf. Was ich dort vorfand, gab mir zu denken. Grabskulpturen lagen zerschmettert herum, als hätten Dämonen selbst dort ihr Unwesen getrieben.« »So war es auch«, warf Brak ein und berichtete schnell, was sich zugetragen hatte.
Calix hörte schweigend zu. Dann nickte er und deutete auf Braks Stirn. »Die Wunde dort, die jetzt verkrustet ist, dürfte stark geblutet haben, während Huz Euch zum Höhleneingang schleppte. Ihr sagt, die gordische Hexe steckt hinter all dem? Das ist ein Grund mehr, alles daranzusetzen, unsere Freiheit wiederzugewinnen. Ich nehme an, Huz hat keine Ahnung, daß diese Ilona zu den Gorden gehört.« »Das vermute ich ebenfalls«, pflichtete Brak ihm bei. »Er hält sie wahrscheinlich für eine herumziehende Zauberin. Ganz gewiß ist es im Interesse der Gorden, ihr Geheimnis zu wahren. Aber darüber können wir später noch nachdenken. Erzählt weiter. Ihr folgtet also den Blutspuren zur Höhle ...« »... und ich stellte fest, daß sie im Innern verschwanden«, fuhr Calix fort. »Ich wartete, bis eine neue Gruppe von Priestern ins Freie kam, um nach weiteren Opfern Ausschau zu halten. Ich versteckte mich in einer tiefen Spalte nahe dem Eingang und überwältigte einen der Priester. Ich würgte ihn, bis er damit herausrückte, daß sich tatsächlich zwei neue Gefangene in der Höhle befanden - ein Mädchen und ein Fremdling mit gelbem Zopf und Löwenfell. Und beide lebten noch. Ich schickte den Priester mit einem Hieb schlafen. Die anderen merkten nichts davon, denn wie üblich trennten sich die einzelnen Angehörigen der Gruppe, um die Suche nach neuen Leichen aufzunehmen. Dann fügte ich mir mit meinem Dolch eine geringfügige, aber stark blutende Wunde zu und beschmierte mich von oben bis unten mit Blut. Ich torkelte wie in Todeskrämpfen auf die Höhle zu.« Calix starrte finster vor sich hin. »Die Priester haben kaum Skrupel, wie Ihr inzwischen am eigenen Leib erfahren habt. Sie nehmen sich nicht die Mühe, ein Opfer nach seinem wirklichen Zustand zu untersuchen. Für sie ist die Hauptsache, sie können sich seiner bemächtigen und dann soviel wie möglich von seinen Angehörigen herausschlagen. Diese Machenschaften sind auch der Grund, weshalb ich den endgültigen Eid nicht
ablegte und in die Stadt floh.« »Dieser Fluchtweg, von dem du sprachst«, meldete sich nun Saria zu Wort, »ist er gut verborgen?« »Ganz im Gegenteil«, erwiderte der Zirkassier. Er deutete vorbei an den bewaffneten Sklaven, die Wache hielten. »Er liegt dort. Die Feuerteiche im Boden des Krematoriums sind die Fluchtwege.« Der Barbar starrte ihn unwillig an. »Hat das heutige Abenteuer Euren Verstand verwirrt, Calix?« Calix schüttelte den Kopf. »Was Ihr dort draußen seht - jene rötlichen, blasenspuckenden Teiche -, sind nichts weiter als Trugbilder. Tief in einer der Nebenhöhlen sitzt eine Schar von uralten Magiern, die mit ihren Zauberkräften dieses Bild vortäuschen. Nur wenige haben sie je gesehen, aber diese falschen Feuerteiche sind das Werk ihres Geistes, um die Aura des Mystischen um den Kult zu erhöhen.« »Und die Lachen und Tümpel an der Oberfläche zwischen den Beerdigungsstätten?« fragte Brak. »Oh, diese sind nur allzu echt, im Gegensatz zu jenen dort. Die Anwärter wissen nichts davon. Sie erfahren es erst, kurz bevor sie den Eid ablegen. Und bis dahin sind sie gewöhnlich schon so der Habgier verfallen, daß es sie nicht mehr stört.« Saria starrte ihn verwirrt an. »Aber wie kann das denn ein Krematorium sein, wenn die Feuer nicht echt sind?« »Die Feuer sehen durchaus nicht falsch aus, und man kann sie riechen und ihr Brodeln hören«, warf nun auch Brak ein. »Das gehört alles zum Zauber dieser Magier«, flüsterte Calix. »Was jedoch das Krematorium betrifft - einer der Teiche ist echt. Aber nur einer, nämlich der große in der Mitte. Wenn ihr genau hinseht, erkennt ihr deutlich, daß das Feuer darin beträchtlich heller lodert und sich auch im Farbton von jenem der anderen unterscheidet. Ah, Brak, Ihr habt es also bereits bemerkt.« »Allerdings. Als ich zum erstenmal aus meiner Betäubung
hier erwachte. Der große Teich ist echt?« »Und die restlichen sind Sinnestäuschungen.« Calix nickte heftig. »Sie alle, eben außer dem großen, sind in Wirklichkeit Gruben, die zu einem unterirdischen Fluß führen. Dieser Fluß schlängelt sich irgendwo unter den Höhlen dahin, niemand weiß, wohin. Man glaubt natürlich, daß er sich irgendwo einen Weg an die Oberfläche bricht. Aber keiner der Priester hat sich dessen je versichert. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß wir keineswegs schlechter dran sein werden, wenn wir einen der Krematoriumsschlitten durch das falsche Feuer schieben und in den Fluß springen. Irgendwohin muß er ja schließlich fließen!« »Da habt Ihr gewiß nicht unrecht«, stimmte Brak ihm zu. »Doch, wie ich schon sagte, es gehört viel Unerschrockenheit dazu, dieses Wagnis einzugehen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob mein Mut groß genug sein wird, in das falsche Feuer einzutauchen. Ihr und Saria müßt selbst entscheiden, ob ihr es euch zutraut.« »In einen Flammensee springen?« Das Mädchen schauderte. »Calix, ich glaube nicht, daß ich es vermag.« »Vielleicht kann Brak dich auf den Rücken nehmen. Barbar, traut Ihr es Euch zu?« »Ich kann nicht behaupten, daß ich sehr darauf erpicht bin«, brummte Brak. »Aber ich glaube, ich werde es schaffen. Nur, wie seid Ihr so sicher, daß es tatsächlich einen Fluß dort unten gibt? Vielleicht ist auch das nur ein Trick der Priester.« »Man kann ihn hören«, versicherte ihm der Zirkassier. »Stellt Euch ganz nahe an den Rand eines der unechten Teiche und lauscht. Sein Rauschen übertönt das falsche Blubbern bei weitem.« Brak starrte überlegend auf die unzähligen Feuerteiche, die sprudelten und wallten. Es gelang ihm nicht, sich selbst zu überzeugen, daß das Feuer nur eine Vorspiegelung war, daß es gar nicht vermochte, ihm etwas anzuhaben. Schlurfende Schritte und Stimmen näherten sich dem bewachten Eingang.
Calix packte Brak heftig am Arm. Sein Gesicht war weiß wie Kalk. »Es ist soweit! Ich muß wieder den Toten spielen. Freund, wenn es an der Zeit ist, dann nehmt Saria auf den Rücken und springt. Denkt daran, es ist nichts weiter als eine Vorspiegelung. Uns bleibt keine andere Chance. Keine andere Chance!« Nestor und einige weitere Priester sprachen zu den Wachen. Calix streckte sich wieder mit geschlossenen Augen auf dem Boden aus. Brak warf Saria einen schnellen Blick zu. Ihre Panik war zurückgekehrt. Ihre Lippen zitterten, und ihre Augen starrten wild um sich. Angstschweiß brach Brak aus, als er sich erhob, um den Eintretenden aufrecht gegenüberzustehen. Er konnte es nicht vermeiden, schnell noch einmal die wallenden Feuerteiche zu betrachten. Sie waren echt! Echt? Vielleicht stand Calix unter einem Zauber der Priester und konnte nicht anders, als diesen Irrsinn zu behaupten. Aber was halfen die nutzlosen Überlegungen? Wenn sie ihre Chance nicht ergriffen, würde auf jeden Fall das Feuer des mittleren Teichs sie verschlingen. Nestor blieb in sicherem Abstand von Brak stehen. Ein höhnisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Wir haben nun die nötigen Vorbereitungen für euch getroffen, meine teuren Gäste. Ich bedaure es zutiefst, daß ihr vor der Vernunft die Ohren schlosset und mein Angebot ablehntet.« Als das Fackellicht einer seiner Begleiter hell über Calix fiel, fuhr er fort. »Unser verstorbener, doch unbetrauerter Bruder ihr müßt wissen, er war einst einer der unsrigen - hatte vermutlich die Absicht, euch zu retten. Doch wie ihr seht, mißlang es ihm. Wir werden ihn wie euch den Flammen übergeben. Sklaven! Bringt sie hinaus!« Zwei der Männer in Lendenschurzen packten Saria und schoben das wie erstarrte Mädchen durch den Eingang. Brak folgte ihr freiwillig mit gesenktem Kopf. Sklaven umringten ihn in respektvollem Abstand.
Zwei weitere Sklaven hoben Calix empor und trugen ihn zwischen sich. Die vordersten Priester begannen zu singen. Am Rand des mittleren Feuerteichs warteten weitere Angehörige des Ordens mit Pergamentrollen, Räucherschalen und drei leeren Schlitten. Die Gefangenen wurden zwischen aufgestapelten Haufen von Toten hindurchgeführt. Daß ihr Ziel zweifellos der mittlere Teich war, schien Calixs Behauptung zu bestätigen. Fast unmittelbar voraus und etwas links flackerte das Feuer eines falschen Teichs. Es ist nicht echt! redete Brak lautlos auf sich ein. Es sieht nur aus wie Feuer, aber es kann keinen Schaden anrichten! Als die Prozession an diesem Teich vorbeischritt, schallte der Singsang der Priester von der Höhlendecke wider. Dutzende von Priestern und Hunderte von Sklaven standen entlang der Höhlenwände und beobachteten reglos die Prozession. Brak tat, als stolperte er und brachte seinen Arm ganz nahe an den Teichrand. Zwei Sklaven zerrten ihn grob zurück. Calix hat recht, dachte der Barbar triumphierend. Das Feuer ist nicht echt! Es brennt nicht wirklich! Und doch spürte er die davon aufsteigende Hitze. Das kann nicht sein! redete er sich selbst zu. Und wahrhaftig, einen Augenblick stieg keinerlei Wärme aus dem Teich auf. Und hörte er nicht tatsächlich das Rauschen eines mächtigen Flusses? Doch ganz war Brak nicht überzeugt. Aber er mußte handeln! Als die Prozession um den falschen Teich herumbog, um sich geradewegs auf den großen zuzubegeben, ließ Brak sich auf die Knie fallen. »Ich will nicht sterben!« heulte er. »Ich will nicht! Ich habe Angst!« Nestor, am Kopf der Prozession, wirbelte herum und schritt auf ihn zu.
»Seht ihn euch an!« höhnte der Oberpriester. »Seht, was die Furcht aus ihm gemacht hat!« Er zerrte Brak an den Haaren. Der Barbar hatte die Augen verzerrt und schien ihn nicht zu sehen. Sein Kiefer hing schlaff nach unten, und er schwankte von Seite zu Seite. »Auf die Beine, Barbar!« brüllte er. »War es nötig, Eurer schönen Begleiterin zu zeigen, welch Feigling Ihr wirklich seid!« Brak hob den Kopf. Sein Blick war völlig klar. Nestor erschrak und streckte abwehrend die Arme aus. Doch zu spät. Der Barbar hatte einem der Bewacher das Breitschwert entrissen. Wie ein Blitz zuckte es durch die Luft, als der Feuerschein auf die glänzende Klinge fiel. Nestors Augen traten aus den Höhlen, und er stieß einen letzten Schrei aus, ehe das Schwert sich durch seine Kehle bohrte. Und nun brach die Hölle aus. Die Sklaven stürmten alle gleichzeitig auf den Barbaren ein und schlugen so wild um sich, daß sie in ihrer kopflosen Hast einander niederstreckten. Brak sah Calix einem Wächter das Schwert entreißen und erst einen, dann einen zweiten Priester niederstoßen. »Zum Teich!« brüllte der Zirkassier. »Kämpft Euch dorthin durch!« Brak benutzte erneut die Klinge als Sense, aber so eingeengt, war es sehr schwierig. Er packte Sarias Handgelenk mit seiner Linken und zerrte sie auf den Rand des falschen Teiches zu, während er sich mit der unermüdlich um sich schlagenden Rechten einen Weg bahnte. Ein Priester stürzte sich mit gezücktem Dolch auf ihn. Brak duckte sich und stieß dem Angreifer die Schulter in den Bauch. Der Mann taumelte rückwärts, und schon gab das Schwert des Barbaren ihm den Todesstoß. Brak sprang über die Leiche, Saria nach sich ziehend.
Links von ihnen plagte Calix sich mit einem der schweren Krematoriumsschlitten ab. Schließlich gab er ihm einen Fußtritt. Der Schlitten glitt ins Feuer und verschwand. Brak spürte die Hitze gegen seine Füße und den nackten Oberkörper branden. Er stellte sich schützend vor Saria und erwartete zwei neue Angreifer. Einer rutschte im Blut des Priesters aus. Brak tötete ihn und stach sofort auf den nächsten ein. »Springt!« keuchte Calix. »Beeilt Euch, Brak. Das Feuer ist nicht echt!« Der Barbar packte Saria und schwang sie sich über die Schulter. Dann wirbelte er herum und trat an den Rand des Teiches. Er starrte auf das Feuer, das ihm entgegenschlug. Es ist nicht echt, sagte er sich. Aber er glaubte es nicht. Panische Angst erfüllte ihn. Hinter sich hörte er neue Schritte. Weitere Sklaven stürmten auf ihn zu. Er stand wie gelähmt. Der Augenblick wurde zur Ewigkeit. Die uralte Angst vor dem Feuer war zu groß. Aus dem Augenwinkel sah er, daß zwei der Sklaven Calix fast erreicht hatten. Ihm einen verzweifelten Blick zuwerfend, sprang der Zirkassier in den Feuerteich. Brak sah den roten Lockenkopf in den zuckenden Flammen verschwinden. Der Halbkreis der Sklaven und Priester war nur noch zwei oder drei Schritte entfernt. Spring! schrie Braks Verstand. Das Feuer ist falsch. Calix wartet irgendwo dort unten auf dich! Doch die uralte Angst in ihm schrie zurück: Calix ist tot. Das Feuer hat ihn verzehrt! Aus weiter Tiefe drang ein Rauschen und ein Aufplatschen an seine Ohren. Eine glitzernde Klinge zischte auf Brak zu. Da sprang der Barbar mit Saria auf dem Rücken.
Einen schier endlosen Moment blendete grelles Licht Braks Augen. Dann folgten Kälte und das Gefühl des Fallens, und schließlich ein heftiger Aufprall, ehe der Barbar in die schäumenden Fluten tauchte. Das tobende Wasser entriß ihm Saria, aber es brachte ihn auch wieder völlig zur Besinnung. Prustend stieß er an die Oberfläche. Die Strömung war ungeheuerlich. Ein Strudel erfaßte ihn und drehte ihn wie einen Kreisel. Er konnte in der stygischen Finsternis nichts sehen. »Brak?« rief Calix von irgendwo ganz aus der Nähe. »Brak? Wo seid Ihr? Ich habe Saria auf dem Schlitten. Brak? So rührt Euch doch! Wenn die Strömung uns an Euch vorbeiträgt, verlieren wir einander.« »Hier!« keuchte Brak. »Eure Stimme ist nahe! Streckt Eure Arme weit aus. Versucht, den Schlitten zu fassen!« Trotz des schier ohrenbetäubenden Rauschens des Flusses nahm Calix Stimme an Kraft zu. Plötzlich klang sie ganz nahe. Etwas schlug gegen die ausgestreckten Finger von Braks rechter Hand. Er packte zu, aber sie rutschten von dem nassen Holz ab. Erschrocken schrie er auf. Er befreite sich aus dem Strudel und schnellte sich durch das Wasser. Der Schlitten drehte sich in der Strömung und schlug gegen seine Schläfe. Brak schnappte nach Luft, aber es gelang ihm nun, sich mit beiden Händen am Schlittenrand festzuhalten. Calix packte ihn an den Armen. Ein paar Augenblicke hing der Barbar halbbetäubt an dem Schlitten, bis er genug Kraft gesammelt hatte, sich hinaufzuziehen. »Ich - habe mein Schwert verloren ...«, keuchte er. Calix gelang ein schwaches Lachen. »Dafür habe ich meines noch - und wir sind frei!« »Frei in einem schwarzen Höllenschlund«, brummte Brak. »Und wohin geht die Reise nun?«
»Ich sagte Euch doch, ich weiß es nicht.« Calix massierte Sarias Handgelenke. »Aber meine Augen beginnen sich bereits ein wenig an die Dunkelheit zu gewöhnen.« Auch Brak konnte schon bald Einzelheiten erkennen. Hohe Felswände sausten an ihnen vorbei. Vereinzelt ragten Felsen aus dem schäumenden Wasser. Gerade als Brak sich freute, daß sie nun vielleicht tatsächlich gerettet waren, vernahmen sie ein eigenartiges Rauschen wie von schweren flatternden Flügeln vor sich, dem ein schrilles Kreischen folgte. »Irgendein Vogel, der sich in die Höhle verirrt ...« Calix schrie auf. »O ihr Götter!« Brak, der auf dem schaukelnden Schlitten kniete, riß weit die Augen auf. Ein riesiges fliegendes Urweltungeheuer kam mit kräftigem Schlag seiner ledrigen Schwingen auf sie zu. Drei Köpfe, je mit einem gewaltigen spitzen Schnabel, saßen an einem langen dreigeteilten Hals. Drei Paar scharlachrote Augen funkelten sie boshaft an, als das Untier auf sie herabschoß.
9. »Das Schwert!« brüllte Brak durch das Tosen des Flusses. »Schnell, Calix - das Schwert!« Der Barbar erhob sich aus seiner knienden Stellung und stemmte die nackten Sohlen gegen den schaukelnden Schlitten. Er packte das Schwert, das Calix ihm reichte, und wartete auf das Ungeheuer. Mit weißem Gesicht drückte Calix Saria an sich. Brak hob das Schwert. Der Riesenvogel war nun schon fast über ihnen. Er öffnete gierig alle drei seiner Schnäbel, daß Brak tief in die Schlünde sehen konnte. Er holte mit dem Schwert aus und trennte mühelos den linken Vogelschädel ab. Die Bestie flatterte über den Schlitten weiter.
»Vielleicht genügte das, ihn zu vertreiben«, brummte Brak. Doch in diesem Augenblick beschrieb das Ungeheuer einen Bogen und kehrte zurück. Der Barbar wollte seinen Augen nicht trauen. Aus dem blutenden linken Halsstück wuchs ein neuer Kopf, dessen Schnabel nicht weniger gefährlich klickte als die der beiden anderen Schädel. Brak schüttelte sich. Wie sollte er einer Kreatur Herr werden, deren abgeschlagene Teile nachwuchsen? Der Riesenvogel senkte sich auf ihn herab. Seine Schwingen rauschten lauter als der Fluß. Die sechs rotglühenden Augen suchten das Menschlein, das es gewagt hatte, ihm Schmerz zuzufügen. Halb wahnsinnig vor Angst und Wut schwang Brak das Breitschwert. Zwei der grauenhaften Köpfe purzelten in das schäumende Wasser. Der dritte jedoch öffnete den Schnabel und riß ein Stück Fleisch aus Braks Unterarm. Das nach Fäulnis riechende Blut des Ungeheuers ergoß sich wie aus einem Springbrunnen über Braks Schultern und Oberkörper. Doch schon schlossen sich die Wunden, und neue Köpfe knospten aus den Halsansätzen, während die Vogelbestie eine neue Runde drehte. »Der Schlitten ist zu schnell!« schrie Brak Calix zu. »Ich habe keinen festen Halt und kann deshalb nicht richtig zuschlagen.« »Es hilft ohnehin nichts!« brüllte der Zirkassier zurück. »Das Ungeheuer ist nicht umzubringen!« »Wird die Strömung stärker?« rief Brak. Calix nickte nur. In diesem Augenblick kehrte die Alptraumkreatur zurück. Ihre gewaltigen Schwingen bedeckten die gesamte Breite des unterirdischen Flusses. Brak duckte sich, als sie sich erneut auf ihn herabsenkte. Einer der Köpfe stieß auf ihn zu. Brak schlug danach. Der Schlitten schlingerte, und der Hieb ging fehl. Der Kopf schoß
nun an dem Barbaren vorbei auf Saria zu, die sich gegen Calix kauerte. Brak sprang und umklammerte den häßlichen Hals mit beiden Armen. Ein Schnabel hackte nach seinem Rücken, aber er ließ nicht los. Der Kopf schwang herum, bis die roten Augen kaum noch eine Handbreit von Braks Gesicht entfernt waren. Jedes dieser Augen war fast halb so groß wie der ganze Barbar. Ein gräßlicher Gestank drang aus dem Schlund, als die Bestie den Schnabel öffnete, um Braks Schulter zu packen. Der Barbar ließ den Hals los und holte mit dem rechten Arm aus, soweit es ging. Dann stieß er zu. Die Klinge glitt tief in die Kehle des Vogels. Brak drehte das Schwert wild herum, bis es aus dem weichen Hals herausdrang. Dann zog er es zurück und spaltete damit den Schädel. Blut ergoß sich über ihn, vermischt mit dem Schaum des immer wilder tobenden Flusses. Die Höhlenwände sausten mit zunehmender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Brak duckte sich, als ein zweiter Schnabel auf ihn zu schnellte. Mit einem flinken Hieb trennte er diesen Kopf vom Hals. Mit einem schrillen Schrei zog der Riesenvogel sich erneut zurück. Brak betastete seine Wunde und starrte auf das Ungeheuer, das bereits wieder gewendet hatte, nun jedoch hoch über ihnen, unmittelbar unter der Höhlendecke mit nachgewachsenen Köpfen auf sie herabstierte. »Beugt Euch über das Mädchen!« schrie Brak Calix zu, als der Schlitten wild dahinschoß. »Die Bestie wird gleich wieder angreifen ...« Da schwebte der Riesenvogel auch schon herab. Langsamer diesmal, mit weit ausgestreckten Flügeln. Die drei Köpfe hielt er nun dicht aneinander. Alle hatten die Schnäbel geöffnet. Brak hob das Breitschwert hoch über den Kopf. Doch gerade, als er damit auf die Köpfe einhauen wollte, neigte der Schlitten sich heftig.
Die Klinge durchschnitt die Luft, und Brak verlor den Halt. Mit einem Schrei landete er rücklings auf Calix und Saria. Hilflos umklammerte er das Schwert, als die drei Vogelköpfe auseinanderstrebten und je einer auf Calix, Saria und ihn zustieß. Der scharfe Schnabel verbiß sich in Braks Hüfte. Vor Schmerz aufheulend, rammte Brak die Klinge ins linke Auge des Kopfes. Aber die Bestie gab ihn nicht frei, sondern biß noch tiefer. Calix fluchte und hämmerte mit den Fäusten auf den Kopf ein, der ihn angriff. Saria wimmerte ... Da erschütterte ein gewaltiges Krachen die Luft. Brak taumelte hilflos auf dem bockenden Schlitten, der jeden Augenblick umzukippen drohte. Das schrille Kreischen des Vogels, der wild mit den Schwingen flatterte, gellte in ihren Ohren. Nur mit Mühe gelang es Brak, das Schwert aus dem Auge zu ziehen. Ein gewaltiger Wasserschwall überspülte ihn, raubte ihm den Atem. Plötzlich herrschte ungewöhnliche Stille. Das ohrenbetäubende Rauschen des Flusses war abgeklungen und hatte einem friedlichen Plätschern Platz gemacht. Frische Luft strich über Braks Wangen, die vom fauligen Blut der Kreatur brannten. Winzige Lichtchen strahlten hoch über ihnen. Brak blinzelte zu ihnen empor, während der Schlitten langsamer und ruhiger dahinglitt. Calix stützte sich auf die Hände und blickte zurück. Hinter ihnen lag ein wildschäumender Wasserfall, der sich aus einer kleinen Höhlenöffnung ergoß. Brak lachte heiser und legte das Schwert neben sich auf den Schlitten. »Das Krachen, das wir hörten«, keuchte er, »war wohl von den Flügeln des Ungeheuers, als sie gegen die Höhlenwand prallten, während wir durch die Öffnung getragen wurden. Das ist es, was uns rettete, Calix!« »Den Göttern sei Dank! Doch hättet Ihr das Ungeheuer nicht
so lange abgewehrt, Freund Brak, wäre keiner von uns mehr am Leben.« »Ich weiß nicht, ob ich noch einen weiteren Angriff hätte abwehren können«, brummte der Barbar. »Aber nun haben wir es überstanden. Soll das Ungeheuer zu seinem dunklen Nistplatz zurückkehren. Ihr hattet glücklicherweise mit Eurer Vermutung recht, daß der Fluß sich irgendwo einen Weg an die Oberfläche bricht. Die Frage ist nur, wo befinden wir uns jetzt?« Der Zirkassier beugte sich liebevoll über Saria und rüttelte sie sanft aus dem Schock, in den die Angst sie getrieben hatte. Brak schob eine Haarsträhne über die Stirn zurück und atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein. Nach einer Weile machte der Fluß eine Biegung, aber es war unmöglich, festzustellen, durch welche Gegend er floß, denn die steilen Ufer an beiden Seiten waren von doppelter Mannshöhe. Die ersten Sterne leuchteten am Himmel, und am Horizont kündete ein roter Schimmer den Sonnenuntergang. Die Strömung begann den Schlitten ans Ufer zu treiben, und es gelang Brak, eine herausragende Wurzel zu fassen, an der er ihn ganz heranziehen konnte. Der Barbar wandte sich an Saria. »Habt Ihr die Kraft, selbst zu gehen, Mädchen?« fragte er sie. »Ja, ich glaube schon. Hier in der frischen Luft sieht alles gleich viel besser aus«, murmelte sie. Brak nickte und begann das steile Ufer emporzuklettern. Vorsichtig spähte er durch wild wucherndes Unkraut über den Rand - und hielt erschrocken den Atem an. »Beeilt Euch, Calix«, rief er. »Es sieht aus, als befänden wir uns nicht fern von der Stadt. Aber ...« Er starrte auf die weite Ebene vor sich und versuchte, sich ein klares Bild zu machen, als Saria und Calix neben ihm anhielten. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein steinerner Schutzwall, hinter dem einige höhere Gebäude zu sehen waren, deren
Bauweise auf jene von König Rodars Stadtreich hindeutete. Lange Reihen von Kriegern in Rüstung strömten aus der Ebene auf ein Tor in der Mauer zu. In der Mitte der riesigen Ebene brannten Feuer. Ein Feldzeichen flatterte im Rauch. Schmerzensschreie waren zu vernehmen. Überall lagen tote Soldaten herum. »Seht doch, Brak ...« Calix deutete mit einem Finger. »Was sind das für Maschinen?« Brak drehte den Kopf nach rechts und schnappte erschrocken nach Luft. Hundert oder mehr Streitwagen hoben sich im letzten Schein der untergehenden Sonne am Fuß eines fernen Hügels ab. Aus jeder Seite der langsam dahinrollenden Fahrzeuge ragten drei lange gekrümmte Klingen heraus, die sich mit den Rädern drehten. »König Rodar verfügt über keine Maschinen wie diese«, stöhnte Calix und erhob sich. »Es ist der Feind, und es sieht aus, als hätte eine gewaltige Schlacht stattgefunden, in der unsere Mannen unterlagen. Seht nur die endlosen Reihen von Verwundeten, die auf das Tor zueilten. Sie ziehen sich zurück. Es wird das beste sein, wenn wir zusehen, ebenfalls in die Stadt zu kommen.« Er nahm Sarias Hand und begann mit ihr über die Ebene zu laufen. Die Hoffnung, Schutz und Sicherheit zu finden, verliehen dem Mädchen neue Kraft. Brak folgte ihnen. Bald erreichten sie die ersten Leichen. Calix barg Sarias Gesicht an seiner Schulter. Das Brausen des Abendwinds, der den Geruch von Blut mit sich trug, vermischte sich mit Schreien und Rufen und Trompetenstößen. Calix schluckte. »Brak, diese Männer wurden nicht von Speeren oder Schwertern getötet, auch nicht von Pfeilen.« »Ihr habt recht. Sie sehen aus, als hätten riesige Messer sie zerfleischt.« Brak schob ein blutiges Bein zur Seite. Sein Magen verkrampfte sich.
»Und ich weiß auch, wie es geschah. Aus den Rädern jener Streitwagen dort drüben ragen sensenartige Klingen, die alles niedermähen, womit sie in Berührung kommen. Eine grauenhafte Angriffswaffe! Ähnlichen Streitwagen begegnete ich vor einiger Zeit im Lande Phrixos. Doch dort dienten sie zur Abwehr.« Calix bat Saria, ihre Augen abzuwenden, als sie weiterliefen. Aber es war so gut wie unmöglich, den verstümmelten Leichen auszuweichen, so zahlreich waren sie. An den Rüstungen erkannte Brak, daß auf jeden toten Gorden Dutzende von Mannen Rodars kamen. Glücklicherweise erreichten Brak, Calix und Saria schon bald die Straße zum Tor, auf das die letzten der sich zurückziehenden Soldaten sich zuschleppten. Keiner von ihnen kümmerte sich um die drei. Brak rannte voraus, bis er einen jungen Soldaten einholte. »Diese Schlacht haben offenbar die Gorden gewonnen«, wandte er sich an ihn. Der junge Mann drehte sich ihm zu. Er erschrak sichtlich, als er den breitschultrigen Riesen neben sich sah, der fast gänzlich mit verkrustetem Blut bedeckt war. Doch er zuckte nur müde die Schultern. »Was können Krieger in gewöhnlicher Rüstung schon gegen jene sensenbespickten Streitwagen ausrichten? Die Männer, die von diesen Kriegsmaschinen erfaßt wurden, hatten nicht die geringste Chance. Auf jeden Gorden, der fiel, kamen fünfzig unserer Leute.« »Aber König Rodar wird doch sicherlich seine Armee neu einsetzen können?« »So hörtet Ihr das Neueste noch nicht?« »Was?« »Die Kuriere berichteten, daß König Rodar an der Grenze den Tod fand. Seine ganze Streitmacht wurde vergangene Nacht durch jene gleichen Sensenwagen aufgerieben, die heute hier über die Ebene fegten. Niemand sah Rodar fallen, doch fand
man sein Banner zerbrochen und zertrampelt. Das Ende scheint nahe, und dieses feiste Großmaul Mustaf ben Medi vermag es bestimmt nicht abzuwenden. Ich wette, er ließ sich heute den ganzen Tag nicht blicken. Auf dem Schlachtfeld sah ihn jedenfalls keiner!« Der Soldat starrte über die Schulter auf die Sensenwagen am Hügel. »Zumindest gönnen sie uns jetzt eine Pause. Zweifellos möchten sie, daß wir gut ausgeruht sind, wenn sie morgen die Stadt angreifen und uns alle niedermetzeln.« Hastig machte er das Zeichen gegen den bösen Blick und eilte weiter. Brak schloß sich wieder Calix und Saria an, die ihn inzwischen fast eingeholt hatten. In kurzen Sätzen berichtete er, was er erfahren hatte und schloß: »Sobald wir innerhalb der Stadtmauern sind, bringen wir das Mädchen zu Lord Phonicios, Calix. Dann werden wir uns den Verteidigern anschließen, denn gewiß wird jeder gebraucht, wenn es zur Belagerung kommt.« Nach Luft ringend, stolperte Calix erschöpft neben ihm her. »Warum reitet Ihr nicht weg, Brak. Dies ist doch nicht Euer Krieg.« Brak dachte an die Verbindung zwischen den Gorden, oder vielmehr ihrer Hexe Ilona und Huz al Hussayn. »Er wurde zu meinem Krieg, Zirkassier«, erwiderte er finster. Kurz darauf betraten sie durch das Stadttor einen großen Platz, auf den sich Soldaten und Bürger drängten. Die letzten Nachzügler der geschlagenen Armee, fast alle mit schweren Verwundungen, schleppten sich in die Stadt und vermehrten so die ungeheure Menschenmenge, die aufgeregt herumstand. Hinter ihnen wurde knarrend das riesige Tor geschlossen. Flaschenzüge ließen einen massiven Holzschutz davor herab, der von Eisenklammern gehalten wurde. Ein Seufzen der Erleichterung ging durch die Menge. »Worauf warten die Leute hier wohl?« fragte Brak
kopfschüttelnd. Sarias deutende Hand gab die Antwort. Sechs Diener - in hochherrschaftlicher Livree und mit Messinghörnern in der Hand - betraten den Platz. Sie hoben die Hörner an den Mund und bliesen einen langanhaltenden Ton. Sofort, wie ein gespenstisches Echo, erklangen von den Hügeln außerhalb der Stadt triumphierende Kriegshörner. Eine Gestalt zeigte sich auf dem Balkon. Sie machte eine ruheheischende Gebärde. Nur ein paar der Menschen auf dem Platz jubelten ihr zu. »Dieser Fettwanst«, knurrte Calix. »O ihr Götter!« preßte er gleich darauf zwischen den Zähnen hervor. »Er trägt den Wappenhelm. Das bedeutet, daß König Rodar tot ist!« »Bürger des Doppelbuchtreichs, hört meine Worte!« rief Mustaf ben Medi auf den Platz hinab. Brak verschränkte seine Arme über der Brust. Er stand inmitten der unruhigen Menschenmenge, über der die Furcht fast greifbar hing. »Bürger. Es besteht kein Grund, das wir uns vor den Gorden zu fürchten. Es stimmt, wir unterlagen heute auf dem Schlachtfeld, aber ...« »Wo warst du da, Fettwanst?« brüllte jemand. Doch niemand lachte. »Laßt die Gorden mit ihren Sensenmaschinen sich ruhig heute nacht auf den Hügeln sammeln!« schrie Mustaf. »Laßt sie höhnend ihre Kriegstrompeten blasen. Der Tod wird sie ereilen, wenn sie versuchen, die Stadt zu stürmen. Das verspreche ich euch! Nun, da uns die Nachricht erreichte, daß König Rodar gefallen ist, übernehme ich das Kommando. Ich schwöre bei Ashtir und Jaal, daß wir siegen werden!« »Wie?« rief eine sarkastische Stimme. »Mit großen Worten?« »Haltet eure Zungen in Zaum, dann sollt ihr das Wie erfahren!« Mustaf ben Medi stützte sich auf die steinerne Brüstung. Mehrere prunkvoll gekleidete Würdenträger waren
inzwischen hinter ihm auf den Balkon getreten. »Die Gorden haben ihre Sensenwagen, die neue und schreckliche Waffen sind«, schrie Mustaf. »Aber sie sind bei weitem nicht so schrecklich wie jene Waffe, die ich hier in dieser Stadt bereithalte. Eine Waffe, die die Macht der Götter selbst zu unserer Verteidigung bringt.« Ein Soldat ganz in Braks Nähe brummte: »Mustaf hat wohl einen Pakt mit dem Herrn der Hölle geschlossen. Was wir brauchen, sind Truppen, keine Zaubertricks!« Andere nahmen Mustafs Erklärung jedoch weniger zynisch auf und vermuteten, daß er Ashtir oder eher noch Jaal Opfer dargebracht und daher günstige Omen bekommen habe. »Und was ist Eure Wunderwaffe, Wesir?« riefen mehrere Stimmen. »Wann rückt Ihr damit heraus?« »Ihr werdet sie sehen, sobald die Gorden die Stadt angreifen!« brüllte Mustaf zurück. »Die Augen werden ihnen aus den Höhlen quellen, ihre Eingeweide sich vor Angst verkrampfen, und sie werden die Flucht ergreifen, wenn wir die Waffen einsetzen.« Und schrill fügte er hinzu: »Glaubt mir! Ihr habt nichts zu befürchten! Die Götter sind auf unserer Seite. Die Götter selbst werden es beweisen!« Der Barbar schüttelte verwirrt den Kopf, als er plötzlich eine Gestalt in glitzernden Roben neben Mustaf entdeckte. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Der Mann, der offenbar zu des Wesirs Gefolge gehörte, war tatsächlich Huz al Hussayn. Damit wurde Braks Verdacht, der bei Mustafs Worten erwacht war, zur Gewißheit. Huz war also die erstrebte hohe Stellung zuteil geworden, indem er dem Wesir seine Hilfe zur Vernichtung des Feindes zusagte. Doch er ahnte nicht, daß Ilona - und sie war es, die die Geister beherrschte, durch die er sich den Sieg versprach - in Wirklichkeit zu den Gorden gehörte. Ohne es zu wissen, würde Huz König Rodars Volk geradewegs in den Tod treiben.
»Calix!« rief Brak. »Bringt Saria zu ihrem Vater. Ich muß sofort mit dem Wesir sprechen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, bahnte er sich mit grimmigem Gesicht einen Weg. Noch ehe er den Platz halb überquert hatte, blickte er auf, wie alle anderen auch. Ein riesiger Feuerball zischte über die Mauer und schlug gegen eines der Gebäude. Flammenzungen regneten herab. Plötzlich waren Mustaf und sein Gefolge vom Balkon verschwunden.
10. Ein Offizier zu Roß befahl allen Männern, sich zur Verteidigung an der Stadtmauer zu sammeln. »Die Gorden greifen an!« rief er. »Alle Frauen und Kinder in die Häuser!« Rund um Brak begannen die Menschen zu schieben und drängeln. Die Männer in Richtung auf die Leitern, die zu den Wehrgängen auf der Stadtmauer führten. Ein zweiter Feuertopf sauste in hohem Bogen auf den Platz herab, mitten in die vergeblich ausweichende Menge. Brak schluckte schwer, als die grellen Flammen Dutzende von Menschen erfaßten. Ihre Schmerzens- und Todesschreie gellten in seinen Ohren. Mustafs Offiziere ritten nun durch die bereits weniger dichte Menge und trieben alle Männer, die das Greisenalter noch nicht erreicht hatten, auf die Stadtmauer zu. Brak warf einen letzten Blick hinauf zu dem Balkon, auf dem Mustaf seine Ansprache gehalten hatte, aber er blieb leer. Er sah ein, daß er unter den gegenwärtigen Umständen kaum eine Chance hatte, den Wesir zu finden. Schulterzuckend stapfte nun auch er auf die Stadtmauer zu. Von ihrer Brustwehr aus würde er sich zumindest über den Stand der Belagerung ein Bild machen können. Und vielleicht kehrte Mustaf ben Medi auch zurück,
um sich ebenfalls darüber zu informieren, dann konnte er ihm seinen Verdacht mitteilen. Obwohl er schon jetzt befürchtete, daß der Wesir ihm nicht glauben würde. Brak kletterte die Leiter zur Brustwehr empor. Einer der Offiziere stand auf dem Wehrgang und brüllte Befehle. Weitere Feuertöpfe trudelten durch die Nacht. Die Gorden hatten sich jedoch offenbar noch nicht richtig eingeschossen, denn für jeden Feuerball, der in der Stadt einschlug, ging ein halbes Dutzend außerhalb der Mauern nieder. Der Barbar schloß sich einer langen Kette von Männern an, die schwere Steine die Leiter hinauf und zu einem kleinen Katapult reichten. Er blickte sich um und stellte fest, daß, so weit er sehen konnte, nur noch drei weitere Schleudermaschinen aufgestellt waren, die nicht viel imposanter schienen. Während er die gewichtigen Steine auffing und weiterwarf, blickte er wie gebannt auf die Ebene hinab. Die gordische Streitmacht, er schätzte sie auf mehrere tausend Mann, hatte sich der Stadtmauer auf etwa eine halbe Meile genähert. Hunderte von Fackeln leuchteten den Bedienern der unzähligen Belagerungsmaschinen, die die Feuertöpfe abschossen und nun auch Felsbrocken, die bereits gegen die Mauern zu donnern begannen. Jedesmal, wenn einer oder mehrere der gewaltigen Steine aufschlugen, schwankte der Wehrgang, und eine Erschütterung rann durch die Mauer. Das riesige Banner der Gorden - ein gehörnter Ziegengott ragte auf einer hohen Stange aus den vordersten Reihen heraus. Hinter den Belagerungsmaschinen und den ihnen folgenden Fußsoldaten rollte Reihe um Reihe der Sensenstreitwagen. Die Federbüsche ihrer Lenker fächelten im Wind. Die gekrümmten Klingen leuchteten bläulich. Für eine Belagerung waren diese Schreckensmaschinen nutzlos, aber war erst eine Bresche geschlagen, würden sie alles niedermähen. Dieser Gedanke schien jeden hier zu beschäftigen, auch den Offizier, der die
menschliche Kette entlang lief und sie zu größerer Eile antrieb. »Strengt euch an, Bürger!« rief er. »Wenn es den Gorden gelingt, sich einen Weg in die Stadt zu brechen, lassen sich diese Sensenmaschinen nicht mehr aufhalten. Sie werden auf das Heiligste alles Heiligen zudonnern, das Vlies rauben und uns geschlagen haben, ehe wir noch richtig dazu kamen, uns zu wehren. Wenn das Vlies in ihre Hände fällt, sind wir verloren. Also, plagt euch, Männer! Rascher mit den Steinen!« Aber die Aufforderung des Offiziers half nur wenig. Viele der Bürger, denen körperliche Arbeit ungewohnt war, vermochten ihre Arme kaum noch zu heben. Mehrere waren bereits zusammengebrochen. Selbst Brak fühlte sich unsagbar müde. Er spürte die Hoffnungslosigkeit des ganzen Unterfangens. Wenn Mustafs Wunderwaffe tatsächlich mit Huz zusammenhing, dann konnte nur das Schlimmste daraus erwachsen. Die Onager und anderen Steinschleudern der Gorden hatten sich nun auf ihr Ziel eingeschossen. Sie trafen mit erschreckender Regelmäßigkeit, und die Mauern erbebten unter den schweren Einschlägen. Vom ständigen Weiterreichen der Steine, die mit großen Karren auf den Stadtplatz gebracht wurden, waren Braks Hände bereits dick mit Blasen besät. Langsam wurde der Schein der Sterne bleicher, und am Horizont zeichnete sich schon das erste Grau des Morgens ab. Doch das Bombardement der Gorden ließ nicht nach. Es wurde im Gegenteil immer heftiger. Offiziere verteilten Becher mit saurem Wein an die Verteidiger. Brak hielt einen an ihm vorübereilenden auf: »Es ist von größter Wichtigkeit, daß ich mit dem Wesir spreche«, erklärte er ihm. »Kann mir einer von euch den Weg weisen?« Unwirsch wehrte der Offizier ab. »Es ist wichtiger, du bleibst auf deinem Posten. Außer du legst Wert darauf, von den Gorden niedergemetzelt zu werden.
Und was Mustaf betrifft ...« Er spuckte verächtlich auf den Steinboden der Brustwehr. »Der hat sich vermutlich unter seinen Bettüchern verkrochen und läßt sein Gemach von einer ganzen Schwadron Soldaten bewachen. Mach lieber hier weiter!« Der Barbar fing müde den nächsten Stein auf und warf ihn dem Nachbarn zu. Vielleicht sollte er einfach von hier verschwinden und zu Phonicios’ Haus eilen. Der Kaufmann, der ihn so gastlich aufgenommen hatte, konnte bestimmt zusätzlichen Schutz gebrauchen, wenn die Belagerer erst vordrangen. Während Brak noch darüber nachdachte, erhob sich erschrockenes Gebrüll vom Wehrgang, und die Mauer erzitterte heftiger denn je zuvor. »Sie haben eine Bresche geschlagen!« kreischte eine Stimme. »Jaal beschütze uns! Die Mauer ist zusammengebrochen!« Die Männer umklammerten die Brustwehr. Rechts unter ihnen war ein Loch in der Mauer entstanden, von dem sich Sprünge im Mauerwerk abzuzeichnen begannen und sich nach oben stetig erweiterten. Die Männer unmittelbar über dem Loch flohen, aber zu spät. Der Wehrgang an jener Stelle spaltete sich genau in der Mitte und viele der Verteidiger stürzten schreiend in die Tiefe. Um Brak herum setzte ängstliches Gemurmel ein, von Flüchen unterbrochen. Auf der Ebene kamen dicht neben- und hintereinander die Sensenmaschinen auf die Stadt zugerollt. Eine große Anzahl der gordischen Fußsoldaten hatte bereits die Bresche erreicht. Mehrere waren durchgedrungen und befanden sich in erbittertem Handgemenge mit den Verteidigern. Schließlich gelang es ihnen, den Fluß der Eindringlinge zu dämmen und rasch herbeigebrachte Felsbrocken vor dem Mauerloch aufzuhäufen. Aber schon zeichneten sich neue Sprünge in der Mauer ab - und der pausenlose Beschuß hielt weiter an. Der Wehrgang mußte an vielen Stellen geräumt
werden. Kriegshörner erschallten auf der Ebene, und das Banner des gehörnten Ziegengottes rückte näher und näher. Doch von Mustafs Wunderwaffe war immer noch nichts zu sehen. Brak begann bereits daran zu zweifeln, daß Huz etwas damit zu tun hatte. Und der Wesir hatte vermutlich inzwischen ein Schiff im Hafen bestiegen und ließ sein Volk im Stich. Nun begann der Wehrgang um Brak herum zu schwanken. Ein Graubärtiger neben ihm stürzte über die Brustwehr und schlug auf dem Kopfsteinpflaster des Hauptplatzes auf, gerade als ein Offizier brüllte: »Herunter von der Mauer! Schnell!« Brak hatte kaum den Boden erreicht, als die Mauer an dieser Stelle einen weiteren Treffer abbekam und einstürzte. Die Männer auf den Leitern und auf dem Wehrgang wurden unter den Trümmern begraben. Steinbrocken regneten auf Brak herab, der schnell vorwärtsgesprungen war. Plötzlich erbebte der ganze Platz unter einem ungeheuerlichen Stampfen. Brak wirbelte herum, und mit ihm tausend andere. Ein gewaltiger Schatten fiel über sie. Unter Braks Füßen begann das Kopfsteinpflaster zu schwanken. Das Stampfen war ohrenbetäubend. »Jaal! Jaal!« kreischte die Menge. Brak stand wie erstarrt, obwohl er mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte. Die riesige Jaalstatue von zwanzigfacher Mannshöhe war zum Leben erwacht! Die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der glänzenden Bronze, als der Titan sich auf einer der breiten Prunkstraßen unsagbar langsam auf den Platz zubewegte. Sein Schatten fiel weit voraus, und das leuchtende Zyklopenauge in dem sich kaum bemerkbar drehenden Kopf blickte auf die Ebene hinaus. Die Häuser, zwischen denen die Statue stapfte, schienen im Größenverhältnis zu ihr, als kämen sie aus einem Baukasten.
Mit jedem Schritt, den sie tat, erbebte die Erde. Männer und Frauen starrten zu Fenster und Türen hinaus, um zu sehen, was vor sich ging. Der Bronzegigant war noch etwa fünf Seitenstraßen entfernt, doch schon jetzt fiel sein Schatten auf die Hunderte von Menschen, die mit Brak auf dem Hauptplatz standen. Langsam, aber stetig kam der Koloß näher, schwenkte seine bronzenen, schuppenbedeckten Arme und setzte Fuß vor Fuß. Viele der Menschen, die ihn sahen, glaubten ihren Augen nicht trauen zu können. Wahnsinn überfiel sie, und sie warfen sich aus den Fenstern. »Flieht!« brüllten andere. »Lauft um euer Leben! Jaal hat sich gegen uns gewandt!« Die bisher so tapferen Verteidiger um Brak rannten, was sie konnten, um nur aus dem Weg des stampfenden Giganten zu sein. Neue Rufe erklangen, von jenen aus der Straße, die zum Hauptplatz führte. »Haltet an! Fürchtet euch nicht! Der Wesir kommt! Er führt die Statue!« Hier und dort setzten einige ihre Flucht in die Häusereingänge rings um den Platz fort. Die meisten jedoch blieben stehen. Brak eilte auf die entgegengesetzte Seite des Platzes zu. In der Ferne sah er eine reichgeschmückte Kutsche, die von drei Rappen gezogen wurde. In ihr saß Mustaf ben Medi, und neben ihm, in prunkvollen Roben und mit einem stolzen Lächeln, Huz al Hussayn. Der Kutsche folgte schmetternden Schrittes die gigantische Statue. Mustaf hatte beide Hände erhoben und versuchte, die verängstigten Menschen auf der Straße zu beruhigen, durch die sie kamen. Aber sie hörten kaum auf ihn, sondern starrten nur den bronzenen Jaal an. Der Wesir winkte den beiden livrierten Dienern zu, die neben der Kutsche herliefen. Sie erfaßten die Zügel der Rappen und
brachten sie zum Halt. Mustaf besprach sich mit Huz al Hussayn, der nickte und der titanischen Statue mit theatralischen Gebärden zuwinkte. Ihr linker Fuß stampfte auf, den Boden in weitem Umkreis erschütternd, und bewegte sich nicht mehr. Den Kopf nach unten geneigt, stand der Koloß nun völlig still. Lediglich das Auge pulsierte. Aus den Fenstern, die der Kutsche am nächsten waren, erklangen die ersten, anfangs noch gedämpften Freudenrufe. Doch die Menschen auf der Straße und dem Platz griffen sie auf, und bald herrschte lauter Jubel. Mustaf winkte den Lakaien zu, und die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Die Menge auf dem Platz machte eine Gasse frei, durch die die Kutsche zu rollen begann. Die Statue folgte ihr und zertrat mit jedem neuen Schritt das Pflaster zu Pulver. Die Menschen um Brak drängten vorwärts, um das Wunder aus der Nähe zu sehen. Doch unwillkürlich zitterten sie, als der gewaltige Schatten den ganzen Platz verdunkelte. Eine tiefe Besorgnis quälte Brak. Mustaf und Huz hatten zwar die Menge beruhigt, indem sie ihr zeigten, daß der Bronzekoloß unter ihrer Kontrolle stand. Aber der Barbar war fest davon überzeugt, daß der Geist des Zuträgers die Statue belebte. Und das wiederum bedeutete, er gehorchte unmittelbar der Hexe Ilona, wo immer sie sich auch befinden mochte. Huz verfügte selbst nicht über die Zauberkräfte. Außer vielleicht, dieser Gedanke kam Brak plötzlich, Huz hatte die Hexe getötet, nachdem er ihr ihre Geheimnisse entlockt hatte. Während der Koloß vorbeidonnerte, seufzte Brak erleichtert auf. Ja, so mußte es sein! Ilona war tot! Und Huz hatte in seiner Verderbtheit ausnahmsweise einmal etwas zum Wohl der Allgemeinheit erreicht. Die Jaalstatue verlangsamte ihren Schritt, als sie sich der Stadtmauer näherte. Erneut hielt sie an und drehte ihren monströsen einäugigen Kopf, um von Horizont zu Horizont
alles aufzunehmen. Die Menschen drängten sich bis zu den riesigen Bronzefüßen und flüsterten ehrfurchtsvoll. Die hohe Stadtmauer reichte kaum bis zur Mitte des Titanen. Überraschungs- und Schreckensschreie aus den Reihen der gordischen Armee waren zu hören. Ein mutiger Offizier, der sich noch auf einem einigermaßen stabilen Teil der Stadtmauer gehalten hatte, rief triumphierend zu den Menschen auf dem Platz herab: »Die Sensenwagen wenden! Die Gorden ergreifen die Flucht!« Der Bronzekoloß starrte noch immer über die Mauer hinaus. Die Bürger des Doppelbuchtreichs tanzten jubelnd um seine Füße und stießen Freudenschreie aus. Huz und Mustaf lächelten einander in der Kutsche zu und genossen den auch ihnen geltenden Jubel. Die Verzweiflung, die vor so kurzer Zeit noch auf dem Platz geherrscht hatte, war nun von tobender Begeisterung abgelöst. Soldaten schlugen einander auf die Schultern, und viele verhöhnten die Gorden. Keiner von ihnen war auf die plötzliche Bewegung der Statue vorbereitet. Jene, die den Freudentanz um ihre Füße aufführten, bemerkten es als erste. Ohne Warnung hob der Koloß den gewaltigen Bronzefuß weit über die Köpfe der Menge - und senkte ihn. Drei Dutzend Bürger und mehr wurden unter ihm zerquetscht. * Eine neue Panik brach um die Füße der bronzenen Gottheit aus. Die Statue hob beide Hände und ballte sie zu Fäusten. Mit zwei Hieben zerschmetterte sie die Stadtmauer. Mustaf und Huz kreischten aufeinander ein und griffen hastig nach den Zügeln. Die Rappen bäumten sich auf und wieherten vor Angst. Jaal griff nach zwei Stellen des noch stehenden Mauerteils
und schüttelte sie. Das ganze Fundament von einer Seite des Platzes zum anderen begann zu ächzen und zerspringen. Einen Augenblick später hagelten riesige Steintrümmer auf die Tausende, die in Mauernähe gestanden hatten. Brak, unmittelbar am Eingang zur Prunkstraße, wurde fast überrannt von den kopflos fliehenden Bürgern. Von der Ebene erschallte erneut das Blasen der Kriegshörner. Ein Schrei brach sich aus vielen Kehlen. Überall auf dem Platz deuteten Hände nach oben. Braks Magen verkrampfte sich, als er ebenfalls den Kopf zurücklegte. Auf einem der höchsten Häuserdächer, das Ausblick über den Platz gewährte, stand ein schlankes Mädchen und streckte ihre Arme der Statue entgegen. Ihr blondes Haar wehte im Wind. »Ilona!« keuchte er. Die panikerfüllte Menge, die nun die Prunkstraße entlang zum Herzen der Stadt drängte, schob und riß ihn mit sich. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, sich zu befreien und gegen eine Hauswand zu drücken. Er starrte auf die grauenvolle Szene auf dem Hauptplatz, wo jene, die nicht schnell genug gewesen waren, von dem sich wieder in Stadtrichtung stapfenden Koloß zertrampelt wurden. Jenseits der zerschmetterten Stadtmauer funkelten die bläulich glänzenden Sensen. Die Streitwagen rollten erneut auf die Stadt zu. Die gordischen Befehlshaber hatten Ilona auf dem Dach erkannt. Die Reihen von Sensenmaschinen mähten mit ihren sich drehenden Klingen jeden Busch auf der Ebene nieder. Die Kutsche mit Mustaf ben Medi und Huz al Hussayn dessen Geltungsbedürfnis ein ganzes Volk der Vernichtung preisgegeben hatte - verschwand in einer Seitenstraße. Brak blieb mit dem Rücken gegen die Hauswand stehen, während Jaal sich der Platzmitte näherte. Bei jedem seiner Schritte starben viele unter seinen Bronzefüßen. Die Menschen, die sich an Brak vorbeischoben, waren kaum
noch einer klaren Überlegung fähig. Sie stießen Flüche aus und Gebete. Immer öfter hörte er den Ruf: »Zum Tempel des Heiligen Vlieses! Dort werden die Götter uns beschützen.« Der Koloß stampfte nun auf die Prunkstraße zu, hinter den Tausenden von kopflos Flüchtenden her. Auf der anderen Straßenseite sah Brak mehrere Bürger in den Eingängen verschwinden. Offenbar hofften sie, sich auf die Dächer zu retten. Brak folgte ihrem Beispiel. Er mußte viele Treppen hochrennen, ehe er sich auf dem sonnenbestrahlten Dach des hohen Gebäudes umsehen konnte. Die Häuser standen in diesem Teil der Stadt eng beisammen. Ihre oberen Stockwerke berührten sich fast. Viele der Fliehenden versuchten, von Dach zu Dach springend, sich in Sicherheit zu bringen. Aber Jaal entdeckte sie. Auf der anderen Straßenseite streckte der Koloß im Vorüberstapfen die Hand aus und brachte mit einem einzigen Fausthieb einen ganzen Block von sechs Häusern zum Einsturz, daß die Mauertrümmer mit den schreienden Menschen auf die Straße hagelten. Brak hatte Glück, daß der Gigant sich nicht um die Häuser auf der anderen Seite kümmerte. Aber er war offenbar zu beschäftigt, seine Herrin von einem der Dächer zu pflücken. Das lange Haar wie Gold im Windstrom fließend, stand Ilona nun auf der rechten Schulter des Kolosses. Sie hielt sich an seinem Bronzeohr fest, während er immer weitere Menschen unter seinen Füßen zermalmte. Sie hatte ihren Kopf zurückgeworfen, und obwohl Brak im Krachen der Schritte und einstürzenden Häuser ihre Stimme nicht zu hören vermochte, konnte er doch erkennen, daß sie ein triumphierendes Gelächter ausstieß. Sich umdrehend, sah Brak die ersten Sensenwagen in die Stadt rollen.
11. Später hätte Brak, der Barbar, nicht mehr zu sagen vermocht, wie es ihm gelungen war, den mächtigen Platz in der Stadtmitte zu erreichen. Aber über die Dächer kam er dort an, wie viele tausend andere ebenfalls. Woran er sich erinnerte, war nicht viel mehr als eine Reihe von alptraumhaften Eindrücken: Jaals monströser Bronzeschädel, der in die entgegengesetzte Richtung blickte, als er an dem Haus vorbeistampfte, auf dessen Dach Brak sich in den Schatten drückte. Ilonas Haar, das wie ein goldgraues Banner im Winde flatterte. Die gordischen Sensenwagen auf den Straßen unten, die die Nachzügler der Fliehenden niedermähten. Brak entsann sich, daß er der Statue nachgeblickt hatte, als sie in einen anderen Teil der Stadt stapfte, wo sich die Waffenlager befanden. Über die Dächer hinweg war Jaals gewaltiger Oberkörper mit den die Häuser zerschmetternden Fäusten zu sehen, und winzig klein auf seiner Schulter die Hexe Ilona. Brak erinnerte sich einer weiten Kluft zwischen den Dächern. Irgendwie war es ihm gelungen, sie zu überspringen. Die Schreie jener, denen es nicht glückte, gellten jetzt noch in seinen Ohren. Er war dem menschlichen Strom von den Häuserdächern durch Labyrinthe von Gängen in einem geräumigen Gebäude gefolgt. Mit Hunderten anderer kam er auf dem Stadtplatz vor dem Säulentempel des Heiligen Vlieses heraus. Jaal war nun westlich über den höchsten Gebäuden zu sehen. Das laute Krachen der stampfenden Bronzefüße war schon ein so gewohntes Geräusch geworden, daß Brak es gar nicht mehr hörte, als er über den Platz rannte, um nach jenen zu suchen, mit denen er sein wollte, wenn es zum letzten Kampf kam.
Daß es bald soweit sein würde, dessen war er sicher. Jaal befand sich bereits auf dem Rückweg von den Waffenlagern, deren Vernichtung Ilona ihm offenbar befohlen hatte. Er näherte sich dem Stadtplatz. Die Menschen strömten nun von Panik erfüllt die Stufen zum Tempel des Heiligen Vlieses empor. Als Brak sich einen Weg durch die Menge bahnte, sah er jedoch nur unbekannte Gesichter und die Trümmer des Altars neben dem Tempel, auf dem die bronzene Jaalstatue vorher gestanden hatte. Auf der anderen Seite blickte die ebenso gewaltige Ashtirstatue hilflos herunter auf die Tausenden von verängstigten Menschlein zu ihren Räderfüßen. Die Fliehenden fluchten ihr, warfen Steine gegen ihr Fundament, weil sie sie im Stich gelassen hatte. * Brak wurde geradezu mit den anderen in den Tempel geschoben. Der Druck der Masse war unvorstellbar. Des öfteren fand er sich gegen eine der vielen Säulen gepreßt. Er konnte sich nicht anders helfen, als sich mit Händen und Füßen freizukämpfen. Trotz der Bemühungen der Akolyten, die das Heiligtum beschützten, waren die schweren Holztüren aus den bronzenen Angeln gerissen. Das innere Sanktum, ein kühler heller Raum, war zum Bersten gefüllt. Über dem immensen Altar hing ein aller Beschreibung spottendes Etwas von einem dicken Goldring, der zwischen zwei hohen, kunstvoll geschnitzten Säulen herabbaumelte. Ein Sonnenstrahl huschte über den Goldring, und nun erkannte Brak das uralte mottenzerfressene Etwas als das Heilige Vlies. Hunderte knieten vor dem Altar und stammelten Gebete. Von einem Balkon, der rings um den Raum führte, beobachteten Gruppen von Soldaten und Akolyten die Szene der Panik unten. Ihm fast unmittelbar auf der anderen Seite des Sanktums
gegenüber entdeckte Brak einen Kopf mit wirren roten Locken. Stolpernd und keuchend kämpfte er sich einen Weg durch die Betenden, während Entsetzensschreie und unheilvolles Krachen von draußen hereindrangen. »Calix! Phonicios!« schrie Brak. Der Rotkopf drehte ihm das Gesicht zu, und Brak sah erfreut die wohlbekannten blauen Augen, und daneben die ihm nicht weniger vertraute Gestalt des graubärtigen Phonicios. Gleich darauf befand er sich inmitten der zu des Kaufmanns Haushalt gehörenden Gruppe. Wie alle anderen in der Stadt hatten sie im Tempel Zuflucht gesucht. Phonicios’ Gesicht war bleich, als er mit zitternden Händen Braks Arm umfaßte. »Barbar«, sagte er erfreut. »Wir fürchteten schon, Ihr hättet Euer Leben an der Stadtmauer gelassen.« »Es fehlte nicht viel«, erwiderte Brak, taumelnd vor Erschöpfung. Calix stützte ihn. Brak bemerkte Saria, die im Gebet vertieft mit gesenktem Kopf neben dem Zirkassier stand. »Nun können wir zumindest Seite an Seite kämpfen, wenn das Ende kommt.« »Wir dürfen den Mut nicht verlieren«, mahnte Phonicios, aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugend. »Ganz sicherlich wird es Mustaf gelingen, das bronzene Ungeheuer zurückzurufen.« »Nichts kann es nun noch halten«, murmelte Brak düster. »Ilona hat es unter ihrer Kontrolle. Ihr Götter, wenn Schwerter etwas dagegen ausrichten könnten, würde ich mein Leben geben. Und ich wette, viele tausend andere hier denken wie ich. Doch gegen diesen Bronzekoloß läßt sich nichts ausrichten.« Sarias sanfte Augen glänzten feucht. »O Brak, Ihr hättet fortziehen sollen! Dies hier ist nicht Euer Kampf!« »Vielleicht war er es am Anfang nicht«, antwortete der Barbar. »Doch nun ist er es längst. Das wenigste, das ich tun
kann, ist das Ende wie ein Mann zwischen Freunden zu erwarten.« Brak deutete mit einer ausholenden Geste auf die Knienden ringsum. »Würde ich ihre Gebete kennen, ich schlösse mich ihnen an.« Phonicios wollte gerade etwas erwidern, als eine weitere Menschenmasse sich in den Tempel zu pressen versuchte. »Jaal! Jaal!« schrien die vor Angst schier Wahnsinnigen. »Jaal ist schon ganz nahe!« Die schweren Schritte des Kolosses ließen den Tempelboden erzittern. »Auf die Knie, Tochter!« rief Phonicios. »Und auch du, Calix, mein getreuer Haushofmeister. »Laßt uns zusammen beten, daß die Götter uns einen schnellen Tod gewähren ...« Der Kaufmann, der sich gerade ebenfalls niederkniete, schrie erschrocken auf, als direkt vor ihm ein Bürger zusammenbrach. Ein Pfeil ragte aus seinem Rücken. Brak wußte sofort, daß der Pfeil Phonicios gegolten und nur das Niederknien den Kaufmann gerettet hatte. Nun schrien mehrere der Knienden ebenfalls und drehten ihre Köpfe. Brak wirbelte herum. »Es ist Huz«, stieß Calix aus. »Und er - Saria!« Ein weiterer Pfeil schwirrte vom Balkon herab. Huz kauerte dort oben über dem Goldring, der das Vlies hielt. Brak hörte Saria aufschreien und sah, wie sie zu Boden sank. Der Pfeil ragte aus ihrer rechten Schulter. Die Männer auf dem Balkon mit seinem gespannten Bogen bedrohend, brüllte Huz in die plötzliche Stille hinunter: »Geht zur Seite, ihr Dummköpfe! Ich bin hier, um Phonicios zu erledigen, der schuld ist an meinem Unglück.« Der Wahnsinn leuchtete aus Huz’ Augen. Er zog die Sehne des Bogens zurück. Auf dem Balkon rannten die Soldaten von beiden Richtungen auf den offensichtlich vom Irrsinn Befallenen zu. Huz drehte sich um, sah sie und schoß den Pfeil ab. Er durchdrang die Kehle eines von rechts kommenden
Soldaten, der nach hinten stürzte. Die von der anderen Seite herbeilaufenden Bewaffneten zögerten. Ihr Offizier brüllte: »Weiter, ihr Feiglinge! Packt ihn! Er ist jener, der aus des Wesirs Kutsche floh! Er verriet uns! Er hetzte Jaal auf uns!« Als die Menge das hörte, richtete sich ihr ganzer aufgestauter Grimm auf Huz al Hussayn. Sie bedachten ihn mit Schimpfworten und drohten ihm mit den Fäusten. Huz stand völlig von Sinnen auf dem Balkon. All das Unglück der letzten Zeit hatte ihm den Verstand geraubt. Er tat einen Schritt zurück und schwang seinen Bogen erst in eine, dann in die andere Richtung. Die Soldaten zögerten immer noch. Welchen Sinn hatte es denn, einen Verrückten gefangenzunehmen, wenn sie doch bald ohnehin alle sterben würden? Die schmetternden Schritte der Bronzestatue wurden immer lauter. Nun bebte der ganze Tempel. Draußen hielt das ohrenbetäubende Schreckensgeschrei an. Rote Wut übermannte Brak, raubte ihm die Vernunft, aber sie ließ ihn auch nicht die bleierne Müdigkeit vergessen und die Gewißheit, daß alles vergebens war. Jene ziegenbärtige Karikatur eines Mannes auf dem Balkon hatte die Vernichtung der Stadt herbeigeführt! Brak sprang über die reglos am Boden liegende Saria, deren Gewand sich mit Blut aus der Pfeilwunde färbte, und begann zu laufen. Wer ihm im Wege war, den stieß er zur Seite. Er stürmte geradewegs auf die den Ring haltenden Zwillingssäulen zu. Zwei Offiziere in Eisenrüstung stellten sich ihm in den Weg. Er rannte sie über den Haufen und riß das Breitschwert des einen an sich. Er hielt die Klinge mit den Zähnen und sprang an einer der Säulen in die Höhe. Gewandt wie ein Affe kletterte er empor. Über ihm glitzerte der goldene Ring, von dem das mottenzerfressene Vlies hing, in der Sonne. Huz lehnte sich
über die Balkonbrüstung, den Bogen gespannt. Brak kletterte höher. Der Pfeil pfiff durch die Luft, prallte gegen den Griff des Schwertes, das Brak zwischen den Zähnen hielt, und trudelte über die Köpfe der Menge. Einige der Menschen unten heulten auf. Braks linke Hand rutschte ab, aber es gelang ihm, sich an einer der erhabenen Schnitzereien festzuhalten und eilig weiterzuklettern. Der Barbar hatte nun fast das Säulenende erreicht. Seine wilde Entschlossenheit machte den Soldaten Mut. Sie drangen auf Huz ein. Der Wahnsinnige schoß einen weiteren Pfeil ab. Der vorderste Soldat sank zu Boden. Huz verschwand. Brak zog sich am Goldring hoch, der dick wie ein Männerarm war. Plötzlich tauchte Huz wieder auf. Er bewegte sich mit der Flinkheit eines Menschen, dem der Irrsinn die Kraft eines Berserkers verlieh. Seine Klinge stieß wie ein Blitz gegen den Ring. Brak hing nun mit beiden Händen an diesem Ring. Wenn Huz auf seine Finger einschlug, konnte er sich nicht mehr halten. Doch Huz kümmerte sich nicht um ihn. Seine Schwertspitze drang unter den Rand des Vlieses und hob es empor. Einen Augenblick später stand Brak im heftig schaukelnden Ring. Huz war mit seiner Trophäe davongeeilt. Köcher und Bogen lagen unbeachtet am Boden. Neues Wehklagen erschallte aus der Menge. Brak verstand nun Huzs Absicht. Er hatte sich des Vlieses bemächtigt, um es den Gorden zu überreichen, was automatisch deren Sieg bedeuten würde. Zweifellos erwartete er, daß sie dafür sein Leben schonen würden. Brak schwang sich mit dem Ring näher an den Balkon - und sprang. In Sekundenschnelle war er über der Brüstung und raste auf die Treppe zu, wo eine Gruppe fassungsloser Soldaten den verschwundenen Huz zu verfolgen suchte. Das Krachen der Schritte war ohrenbetäubend. Die Tempelmauern begannen
bereits zu schwanken, als Jaal dem Stadtplatz noch näher kam. Brak rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch und schob die Soldaten, die ihm im Wege waren, einfach zur Seite. Einige riefen ihm zu, stehenzubleiben, unternahmen jedoch nichts, um ihn aufzuhalten. Er bot einen zu erschreckenden Anblick. Sein mächtiger Körper war über und über mit verkrusteten Wunden bedeckt. Sein gelber Zopf baumelte wild auf dem Rücken, im Rhythmus mit dem Löwenschwanz zwischen den Beinen. Seine Augen funkelten. Brak hatte nun bereits alle überholt und befand sich allein auf der steinernen Wendeltreppe, die höher und höher führte. Über den Lärm der schreienden und wehklagenden Menge und dem Krachen von Jaals Schritten und Bersten einstürzenden Mauerwerks hinweg hörte er ein leichteres Geräusch - das von hastenden Sandalen. Nun hatte er das Ende der Treppe erreicht und schoß durch eine offenstehende Gittertür auf das Dach. Er blieb stehen und sah sich um. Überall stiegen Rauch- und Staubwolken von den durch Jaal zerpulverten Trümmern in die Höhe. Von hier aus vermochte Brak einen großen Teil der Stadt zu überblicken. Gut die Hälfte aller Häuser waren nun Ruinen. Tief unten rollten die Sensenstreitwagen durch die Straßen. Der Stadtplatz war immer noch dicht gedrängt. Die Tausenden von Menschen versuchten verzweifelt, sich ins Tempelinnere zu zwängen. Kaum noch drei Seitenstraßen entfernt stapfte der Bronzekoloß ungerührt weiter. Willkürlich zerschmetterte er Häuser, einmal rechts, einmal links, mit seinen gewaltigen Fäusten, oder stieß mit den Füßen dagegen. Wie ein winziges Feldzeichen flatterte Ilonas gelbes Gewand auf seiner Schulter. »Huz?« brüllte Brak. »Huz?« Vorsichtig tat er ein paar Schritte vorwärts aus dem Schatten des kleinen Kuppelbaus auf dem Tempeldach, aus dessen Tür er gekommen war. Das Dach
war ringsum mit einer Brüstung eingefaßt, der Boden mit Mosaikplatten eingelegt und mehrere Marmorbänke luden zum Ausruhen ein. Brak drehte den Kopf. Er konnte Huz nirgends erblicken. Vermutlich hielt er sich unmittelbar hinter dem Aufbau verborgen. Ein anderes Versteck gab es hier nirgends. Trotz des frischen Windes rann der Schweiß über Braks nacktem Oberkörper. Langsam drehte er sich auf den Fersen, bis er wieder mit dem Gesicht zum Kuppelbau stand. Er benetzte die Lippen. Huz wußte, daß man ihn verfolgte. Zweifellos erwartete er, daß der Barbar entweder rechts oder links um den Aufbau laufen würde. Brak studierte das Dach des Kuppelaufbaus. Es war etwa noch einmal um die Hälfte höher als er selbst. Er umklammerte das Breitschwert und sprang. Mit der freien Hand faßte er den Dachrand und zog sich daran hoch. Vorsichtig spähte er über die Wölbung hinweg auf die andere Seite hinunter. Tatsächlich, da kauerte Huz gegen die Wand, das reichverzierte Krummschwert in der Rechten, das er sicherlich vom Wesir erhalten hatte. Huz mußte ihn gehört haben. Er wirbelte herum. Das Heilige Vlies fiel zu Boden, und er stach mit dem Schwert nach Braks nacktem Bein auf dem Kuppeldach unmittelbar über ihm. Brak hüpfte zur Seite und sprang herunter. Noch im Sprung holte er mit seiner Klinge aus, verfehlte den ehemaligen Kaufmann jedoch genau wie dieser zuvor ihn. Die beiden Gegner umkreisten einander. Der goldene Reif, mit dem Huz sein Haar zusammengehalten hatte, war verrutscht. Fettige Strähnen flatterten gegen sein Gesicht. Die langen schmutzigen Nägel hatte er in den Griff seines Schwertes gebohrt. Noch stärker leuchtete der Wahnsinn aus seinen Augen, und Speichel tropfte von den Mundwinkeln in den wirren Bart. »Höllenbrut!« keuchte Huz und entblößte häßliche gelbe Zähne. »Ehe du kamst, war Phonicios hilflos! Du hast den Tod
noch mehr verdient als er.« Vorsichtig, ihre Füße auf dem Boden scharrend, umkreisten die beiden einander weiter. Keiner ließ die Augen vom anderen, um sofort den Angriff des Gegners parieren zu können. »Der Verstand hat Euch nun ganz verlassen, Kaufmann«, knurrte Brak. »Ihr seid es, der den Tod verdient hat - den vielfachen Tod, für das, was Ihr den Bürgern dieser Stadt angetan habt. Seht hinunter auf den Platz! Seht hinab auf die Straßen, wo die Toten zu Tausenden liegen. Sie schreien nach Vergeltung, Kaufmann! Ihr wart es, der den Bronzekoloß losgeschickt hat. Ihr wart es, der auf Ilona hereinfiel und glaubte, in ihr eine Verbündete gefunden zu haben.« »Ich wußte nicht, daß sie den Gorden dient!« kreischte Huz wild. »Als ich sie in einer Taverne kennenlernte, sagte sie, sie käme von einem fernen Land und sei Gefangene der Gorden gewesen und nach der Seeschlacht an die Küste gespült worden ...« Seine Stimme wurde immer schriller. »Ich benutzte sie nur, um das zurückzubekommen, was Phonicios mir genommen hatte. Ich wußte nicht, wer sie wirklich war!« »Phonicios nahm Euch nicht das Leben«, knurrte Brak. »Ihr jedoch das vieler Tausende!« »Und ich hole mir auch deines!« gellte Huz und deutete einen Ausfall nach links an. Brak spannte sich zur Abwehr. Huz kicherte, wirbelte herum und stürmte von rechts auf ihn ein. Die ungeheuren Anstrengungen der letzten Tage verlangsamten Braks Reaktion ein wenig. Er warf sich auf dem rechten Fuß zurück, hob das Breitschwert, doch die Zeit reichte nicht mehr aus, damit zuzustoßen. Huzs Krummschwert hackte dagegen. Das Metall klirrte, und Funken sprühten. Brak zwang das Schwert nach oben, und Huz taumelte, aus dem Gleichgewicht gebracht, nach hinten.
Brak drang auf ihn ein, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Aber er hatte sich verschätzt. Huzs rudernder Schwertarm durchfuhr die Luft unmittelbar neben Braks Rechter, und die Spitze des Krummschwerts drang in den Oberarm des Barbaren. Der Schmerz, durch die dünne scharfe Klinge verursacht, die Huz nun wieder zurückzog, raubte Brak fast die Besinnung. Nur mit größter Willenskraft gelang es ihm, sich auf den Beinen zu halten. Huz nutzte kichernd seinen Vorteil. Während Brak sich noch um seinen Halt bemühte, stieß Huz unterhalb der abwehrenden Rechten zu. Der Barbar drehte sich und schlug nach unten. Sein Schwert verfehlte Huzs Arm, traf jedoch die Klinge. Sofort riß der ehemalige Kaufmann das Krummschwert zurück, holte damit weit aus und ließ es herabsausen. In diesem Augenblick übermannte Brak ein Schwindel der Erschöpfung. Seine Knie gaben nach, und er stürzte zu Boden, mit dem Gesicht auf den steinernen Mosaikplatten aufschlagend. Dadurch verfehlte ihn Huzs wilder Hieb. Brak rollte auf den Rücken. Grinsend beugte der Wahnsinnige sich über ihn und zielte mit der Schwertspitze nach seinem Herzen. Da tat Brak zwei Dinge, die die Verzweiflung ihm eingab, gleichzeitig. Er stieß mit dem rechten Fuß gegen Huz’ Schienbein und hob sein rechtes Handgelenk. Das Breitschwert deutete nun senkrecht in die Höhe, im gleichen Augenblick, als der Schienbeinstoß den ehemaligen Kaufmann zu Fall brachte. Er stürzte direkt in die Klinge. Die Waffe entfiel den Händen des Aufgespießten. Seine Füße schlugen im Todeskampf um sich, und seine Augen starrten weit aufgerissen auf Brak. Ächzend rollte Brak sich auf die Seite und ließ das Breitschwert los. Immer noch auf der mächtigen Klinge aufgespießt, fiel der tote Huz’ auf den
Mosaikboden. Brak schnappte heftig nach Luft und blieb liegen. Blut floß seinen Arm herab. Allmählich nahm sein vor Schmerz pochendes Gehirn die Umwelt wieder wahr. Er hörte erneut das Bersten einstürzender Häuser, das Krachen Jaals schmetternder Schritte und die Schreie der Bürger, die unten auf dem Platz in der Falle saßen. Schwankend hob Brak sich auf die Füße. Sein leerer Magen rebellierte. Er bückte sich und riß einen langen Streifen von Huz’ Umhang. Auf schwachen Beinen taumelte er zu dem Kuppelbau und lehnte sich dagegen. Unbeholfen wickelte er mit einer Hand den Fetzen um den heftig blutenden Oberarm und band ihn so straff, daß er die Zähne aufeinanderbeißen mußte. Doch der Blutstrom war zumindest einstweilen gedämmt. Mit der guten Hand rieb er sich die Augen, torkelte um die Kuppel herum und nahm das Heilige Flies an sich. Mit ihm stolperte er zur Dachbrüstung. Vielleicht würden die Bürger unten auf dem Platz wieder Mut fassen, wenn er ihnen das uralte Relikt zeigte. Gegen einen neuen Schwindelanfall ankämpfend, klammerte er sich an der Brüstung fest. Das Vlies an seinem Griff flatterte darüber. Die Jaalstatue hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes angehalten. Ihr monströses Auge betrachtete die Tausenden von Panikerfüllten zu ihren Füßen. Das Zyklopenaugen leuchtete weißglühend. Triumphierend thronte Ilona auf der Schulter des Kolosses, offenbar nur darauf wartend, daß die verängstigte Menschenmenge unter den Titanenfüßen zerstampft würde. Mit einem hoffnungslosen Grinsen starrte Brak auf das mottenzerfressene Heiligtum in seiner Hand. Es war sinnlos, es den Leuten zu zeigen. Sinnlos, noch weiterzukämpfen. Die Schlacht war verloren - alles war verloren! In wenigen Augenblicken würde Jaal auf den Tempel zustampfen. Und damit war das Ende des Stadtreichs Rodars,
des Königs der Doppelbucht, hereingebrochen. Müde und verzweifelt stierte Brak vor sich hin. Plötzlich spannte er sich. Und begann zu lachen. Es war verrückt. Ein Irrsinn der Verzweiflung. Aber war es nicht besser, als untätig auf den Tod zu warten? So zumindest würde er sterben wie ein Krieger. Sein Blick hing wie gebannt an der noch verbliebenen titanischen Statue neben dem Tempel, auf das bronzene Abbild der Fruchtbarkeitsgöttin Ashtir. Da begann das knirschende Krachen erneut. Bis schier in den wolkenlosen Nachmittagshimmel ragend, begann Jaal sich wieder zu bewegen.
12. Ilona stand nun mit ausgestrecktem Arm auf der Schulter des Kolosses. Es bestand kein Zweifel, auf wen sie deutete. Auf Brak! Auf dem Platz tief unten warfen Tausende die Köpfe in die Nacken und starrten zu ihm empor. Da schnellte der Arm der Hexe nach unten. Jaal änderte die Richtung. Seine Bronzefüße zermalmten Dutzende von Menschen, die sich nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatten. Die Hexe der Gorden hatte Braks Silhouette mit dem flatternden Vlies gegen den helleren Himmel entdeckt. Jaal marschierte auf ihn zu, zwischen Hunderten von panikerfüllten Bürgern hindurch, die sich verzweifelt bemühten, aus seinem Weg zu springen. Ilona kannte die Bedeutung des Heiligen Vlieses, und sie wollte es an sich bringen. Aber Brak raste bereits auf die entgegengesetzte Seite des Tempeldachs zu. An der Brüstung hielt er an und beugte sich darüber. Einige Stockwerke unterhalb führte ein Anbau bis
unmittelbar an die Ashtirstatue, deren Bronze das Sonnenlicht widerstrahlte. Brak schluckte schwer und schwang sich über die Brüstung, wo eine reichverzierte Säule in die Tiefe führte. Vorsichtig Halt an den Skulpturen suchend, begann er nach unten zu klettern. Er war nun in direkter Sicht der Tausenden auf dem Platz. Sie sahen das Heilige Vlies, das er um den Hals geknotet hatte, wie einen Umhang von seinen Schultern flattern. Überraschte Schreie drangen zu ihm herauf. Der Wind peitschte gegen ihn und erschwerte ihm den Abstieg, aber schließlich erreichte er doch den niedrigeren Anbau und hastete über dessen Dach. Jaal hatte sich in der Mitte des Platzes gedreht und stapfte ihm jetzt in der neuen Richtung nach. Nun sprang Brak vom Dach aus in eine enge Gasse, die er von oben entdeckt hatte. Im Schatten der Mauer entlang schlich er auf die Rückseite der bronzenen Göttin zu. Aus ihrem Fundament ragten die gewaltigen mit Eisen beschlagenen Holzräder, die doppelt so hoch waren wie er. Er entsann sich, daß Phonicios erwähnt hatte, wie die Göttin zu den Feldern gerollt war, um ihren Segen für eine reiche Ernte zu geben. Erneut änderte Jaal die Richtung ein wenig. Alle Gebäude rings um den Platz erschütternd, stampfte er nun auf die Ashtirstatue zu. Der Barbar sprang auf das Fundament und rannte um eine der bronzenen Riesenfersen, dann um die andere. Schließlich entdeckte er die Umrisse einer schmalen Tür genau in der Mitte der linken Ferse. Eine reichverzierte Klinke öffnete sie. Mit flatterndem Vlies tauchte er in das düstere Innere des Bronzefußes. Schwaches Licht drang aus der fernen Höhe der hohlen Statue nach unten. Etwas Dunkles, Schwankendes zeichnete sich ab. Brak tastete danach und stellte fest, daß es sich um eine herabhängende Strickleiter handelte.
Hebel und Flaschenzüge, hatte Phonicios gesagt. Hebel und Flaschenzüge ... Das Leben einer ganzen Stadt hing davon ab. * Sein erschöpfter Körper war dem Aufgeben nahe, nur sein schier übermenschlicher Wille trieb Brak weiter, eine schwankende Stricksprosse nach der anderen empor. Das Licht über ihm zog sich immer höher zurück, verschwamm. Aber er wußte, daß es nur ein Trick seines übermüdeten Geistes war. Schließlich erreichte er die Plattform etwas unterhalb von Ashtirs pupillenlosen Augen. Der Wind blies durch diese beiden großen Öffnungen. Sie befanden sich ein wenig über Braks Kopf, und er hatte durch sie einen beschränkten Ausblick auf den Himmel. Erschrocken zuckte er zurück, als der Riesenkopf Jaals plötzlich an einer durch das linke Auge sichtbaren Stelle auftauchte. Der Koloß kam näher. Gleich darauf sah Brak Ilona ganz deutlich auf Jaals Schulter. Ihr Gesicht war verzerrt, als sie offenbar auf die Wesensessenz irgendwo in der Statue einschrie. Brak bemühte sich, sich davon nicht ablenken zu lassen, sondern in Ruhe die Anordnungen von Hebeln zu studieren, die aus dem Boden der Leitplattform ragten. Mit beiden Händen umklammerte er den größten Hebel in der Mitte und zog daran. Quietschend setzten sich die eisenbespannten Räder in Bewegung, und die Ashtirstatue rollte geradeaus. Hastig schob Brak den Hebel zurück. Fast hätte er die Bronzestatue geradewegs auf Jaal zugeschickt. Zwei andere Hebel, links und rechts vom mittleren, schienen dem Barbaren vielversprechend. Er zog am rechten. Doch er klemmte. Mit aller Kraft zerrte er daran, ließ die Muskeln und Sehnen unter seiner Haut hervorquellen. Endlich ließ er sich bewegen.
Irgendwo begannen Flaschenzüge zu surren. Schwerfällig schwang die Statue nach rechts. Erneute Schreckensschreie erklangen aus der Menge auf dem Platz. Nun drehte die Ashtirstatue sich völlig herum. Brak konnte den Bronzejaal nicht mehr sehen. Er schob den rechten Hebel zurück und zog erneut am mittleren. Die Göttin begann in der neuen Richtung vorwärtszurollen. Brak hörte ein hölzernes Knirschen. Was war der Statue zum Opfer gefallen? Kleine Holzhäuser? Schuppen? Er vermochte von hier nichts zu sehen. Er konnte den Bronzekoloß nur blind lenken und hoffen, daß es stimmte, was er über den Zuträger gehört hatte. Während die Statue weiterrollte, kletterte Brak zur rechten Augenöffnung empor und sah sich um. Geradeaus, am Ende einiger kleinerer Häuser, die die rollende Göttin zermalmte, kreuzte eine breite Prunkstraße ihren Weg. Rechts, doch weit entfernt, leuchtete im Schein der Sonne das Kobaltblau der Doppelbucht, zwischen der sich die Landzunge erstreckte. Brak wartete, bis Ashtir die Prunkstraße fast erreicht hatte, dann sprang er wieder auf die Plattform hinab. Mit größter Kraftanstrengung zerrte er erneut den rechten Hebel zurück. Knarrend bog die Statue in die breite Straße ein. Er stellte den Hebel wieder auf Ruhestellung und zog am mittleren. Die Bronzegöttin begann schneller zu rollen. Brak stellte fest, daß er ihre Geschwindigkeit nicht verringern konnte, da die Straße zum Hafen leicht abfiel. Immer schneller rollten die Räder. Die Bronzebrüste der Göttin schimmerten über den Dächern. Mit zermalmendem Krachen folgte ihr der Jaalkoloß. Erleichtert ließ Brak sich auf den Boden fallen und drückte seine heiße Stirn an den kühlenden Hebel. Bis jetzt stimmte seine Berechnung. Das Ganze war ein makabrer Witz. Eine Tod und Zerstörung zurücklassende Bronzestatue stapfte einer anderen nach.
Doch gerade darauf hatte Brak gebaut - auf das weibliche Geschlecht des Kolosses, in dem er mit ständig zunehmender Geschwindigkeit auf den Hafen zurollte. Er vermeinte Ilona wütend auf die Lebensessenz in Jaal einbrüllen zu hören. Aber das war unmöglich, kein Laut konnte so weit dringen. Der Geist, der die Jaalstatue antrieb, war jener des Zuträgers, der keinen Weiberrock ungeschoren lassen konnte. Nun unterlag er auch in dem gewaltigen Bronzekoloß seinem unüberwindbaren Drang, genau wie vor wenigen Tagen in der steinernen Jaalstatue. Er verfolgte eine Frau - eine Bronzefrau von zwanzigfacher Menschengröße. Brak dachte nicht mehr an sich selbst, an das Schicksal, das ihm bevorstehen mochte. Wichtig war nur, daß der Jaalkoloß der Ashtirstatue in den Hafen, ins Meer folgen würde. Vielleicht hatten die Bürger des Doppelbuchtreichs dann noch eine Chance, die Invasoren zurückzuschlagen. Braks ganzer Körper wurde in der Titanin geschüttelt, wenn die Räder über Hindernisse rollten - über Wagen, die die verängstigten Bürger auf der Prunkstraße stehengelassen hatten. Immer noch folgte das krachende Stampfen Jaals der rollenden Göttin. Brak wünschte sich, er könnte Ilonas Gesicht sehen, die sich gewiß verzweifelt an der Schulter des Kolosses festhielt und vergeblich versuchte, die lüsterne Lebensessenz des Zuträgers wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vor einer kurzen Weile, zwischen zwei schmetternden Schritten, hatte Brak nämlich ganz deutlich etwas gehört, und diesmal gewiß nicht in seiner Einbildung. Der Wind hatte Flüche durch die Augenöffnungen getragen. Es war Brak nicht schwergefallen, Ilonas kreischende Stimme zu erkennen. Plötzlich streckte sich eine purpurne Hand mit sieben Fingern nach ihm aus. Mit weitaufgerissenen Augen zuckte der Barbar zurück. Aus dem Nichts bildete sich ein Dämon mit langen Stoßzähnen. Er
kreischte und wirbelte durch die Luft. Brak sprang zurück. Fast wäre er über den Rand der Plattform in die Tiefe der hohlen Statue gefallen. Der Dämon flog um Braks Kopf und streckte die siebenkralligen Klauen nach ihm aus, während er mit den Zähnen klickte. Brak fluchte. Vor Erschöpfung kaum noch fähig, den Arm zu heben, schlug er nach der Bestie. Seine Hand drang durch sie hindurch - aber die Berührung brannte wie Feuer. Nun wand eine kobaltblaue Schlange sich aus dem Boden der Plattform. Zischend stieß ihr Kopf nach Braks Bein. Ein riesiges Menschenauge schnellte, blutige Tränen vergießend, auf seinen Kopf zu. Vergeblich versuchte er es abzuwehren. Eine Stimme schrillte in seinen Ohren. Dann eine weitere, gefolgt von Dutzend anderen, die in allen Tonlagen quietschten, kreischten, schrien, wimmerten, knurrten, brummten, plärrten, heulten, ächzten und schluchzten. Eine Frauenleiche, in weiße Tücher gehüllt, wickelte sich um ihn, lachte über ihn, während ihre Zähne ausfielen und ihre Haut sich schälte, bis nur noch ein grinsender Totenschädel übrigblieb. Die Luft im Kopf der Statue wurde schwarz. Schuppenfinger, verzerrte, verstümmelte menschliche Gestalten kreisten um Braks Kopf. Der Barbar begann hilflos zu lachen, als er gegen die Wesen kämpfte, die nicht greifbar waren. Immer wieder schlug er in die Luft. Er spürte die feuchtkalte Berührung und vermochte die gespenstischen Dinge doch nicht zu fassen. Ein feuerspeiender Greif, so groß wie der ganze Raum über der Plattform, versuchte, ihn zu verschlingen. Brak starrte wie gelähmt auf die Flammen, die ihn einhüllten. Dumpf erinnerte er sich an die Seeschlacht, an die Zauberkreaturen auf dem Wasser. Sie sind nicht echt! schrie sein Verstand. Es sind Ilonas
Phantasieungeheuer! Du kannst sie nicht mit den Händen oder dem Schwert bekämpfen - nur mit deinem Verstand. Sie sind nicht echt! Sie sind Schemen! Nichts weiter! Sie können dir nichts anhaben! Ein Säbelzahntiger stürzte sich auf Brak, grub seine Zähne in Braks Wade. Brak brüllte und warf sich gegen die Innenwand der Statue. Inmitten der Kakophonie der heulenden, kreischenden, wimmernden Alptraumgestalten, hörte er eine ferne triumphierende Stimme. »Barbar? Barbar? Auf die eine oder andere Weise werden meine Kräfte dich zerstören. Barbar? Dein Ende ist nahe ...« Ein Basilisk verbiß sich in seinen Bauch, eine Spinne krabbelte seinen Rücken hinab. Ein Aasgeier mit winzigem Kindergesicht hackte nach seinen Augen. Brak preßte die Fäuste gegen seine Schläfe. Unfähig, sich noch zu berherrschen, brüllte er sein Grauen hinaus. Ein schwaches Murmeln in seinem Gehirn versicherte ihm, daß diese Ungeheuer nicht echt waren. Nicht echt! Plötzlich wußte Brak mit völlig klarem Verstand, daß er an die Vernunft glauben mußte, wenn er nicht sterben wollte. Doch gerade in diesem Augenblick griff die bisher grauenvollste Bestie ihn an, sandte unvorstellbare Schmerzen durch seinen Schädel. Er warf die Arme zurück. Spannte sich. »Verschwinde!« keuchte er. »Verschwinde, Alptraum!« »Sie sind echt!« wimmerte eine Stimme aus dem Nichts. »Sie werden dich töten ...« »Fort, Spukgestalten!« keuchte er heiser. Er schloß die Augen, warf den Kopf zurück und bohrte sich die Nägel in die Handflächen, bis er das Blut spürte. Mit der letzten Willenskraft, die noch in ihm steckte, brüllte
er: »FORT MIT EUCH! FORT!« Da losten sich die Alptraumgestalten, alle gleichzeitig zischend, auf. Nur ein Gestank wie von brennendem Fleisch blieb zurück. In diesem Augenblick legte die gigantische Ashtirstatue sich polternd schräg ... Brak schlitterte über die ganze Plattform. Einen schier endlosen Moment schien der hohle Bronzekoloß nach vorn zu kippen. In der Tiefe rauschte aufgewühltes Wasser. Keuchend kletterte Brak zur linken Augenöffnung empor. Der kalte Schweiß näßte das Vlies auf seinem Rücken. Die Ashtirstatue war über das Ende der Landzunge geradewegs in das Meer gerollt. Die riesigen Räder drehten sich immer noch, doch nun auf dem schrägen steinigen Grund bedeutend langsamer. Mit einem Mal begann die Wasseroberfläche gewaltige Wellen zu schlagen, die unmöglich die Bronzegöttin verursacht haben konnte. Brak klammerte sich an der Öffnung fest, da kam plötzlich die gewaltige Gestalt Jaals weit links in seinen Blickwinkel. Ashtirs Räder versanken tief in den Schlamm des Meeresgrunds und vermochten sich nicht mehr zu drehen. Ilona hing an Jaals Schulter. Sie riß an ihren Haaren, ihrem Gewand, und hämmerte mit den Fäusten gegen den Bronzehals der Statue - ein Bild wütender Verzweiflung. Langsam hoben sich die mächtigen Arme Jaals, streckten sich aus. Langsam watete der Koloß, getrieben vom lüsternen Geist des Zuträgers, auf Ashtir zu. Langsam trafen die beiden Titanen sich zu einer gespenstischen Umarmung. Jaals Bronzearme legten sich leidenschaftlich um die Mitte der Bronzefrau. Brak verlor fast den Halt an der Augenöffnuhg. Fester drückte der Jaalkoloß die Ashtirstatue an sich, noch fester ... Die bronzene Göttin begann zu bersten. Grelles Licht aus dem Zyklopenauge drang in die Augenöffnungen, blendete
Brak. Langsam, in ihrer titanischen Umarmung, begannen die beiden Kolosse in das Meer zu kippen. Brak sah flüchtig, wie Ilona ihre Hand nach ihm ausstreckte. Ihr Gesicht war alt, ihr Haar nicht länger gelb, sondern weiß, und ihre Stimme schrillte über das Bersten der Ashtirstatue hinweg: »Barbar - ich bin am Ende. Helft mir! Streckt Euren Arm aus! Zieht mich zu Euch hinüber! Rettet mich vor ...« Ein Bruchstück aus dem Hals der Ashtirstatue schmetterte Ilona gegen Jaals Bronzeschulter und zerdrückte sie zu blutigem Brei. Die ganze Welt wirbelte um den von Schwindel erfaßten Barbaren, als die Göttinnenstatue völlig auseinanderbarst. Er stürzte sich unaufhaltsam drehend durch den Raum, den Kopf einmal der strahlenden Sonne, einmal dem kobaltblauen Wasser zugewandt. Mit einem Krachen, das schier das ganze Universum erschütterte, schlugen die beiden ineinander verschlungenen Kolosse auf dem Meer auf. Brak tauchte Augenblicke später unter. Wasserspuckend und keuchend schoß er bald darauf an die Oberfläche zurück. Weit entfernt glitzerten eiserne Rüstungen auf der Landzunge. Mit letzter Kraft stieß der Barbar sich durch das aufgewühlte Wasser. Hinter ihm spritzte das Meer in einer gewaltigen Explosion bis nahezu an die Himmelsdecke. Riesige Blasen stiegen an die Oberfläche. Sie zerplatzten und strömten einen Gestank der Verwesung aus, den der Wind ins Nichts blies. Mit einem Mal war das Wasser ganz still. Nur noch wenige in der Sonne schillernde Bläschen kündeten von dem Untergang der Bronzegötter. Brak schlug mit dem Kopf gegen einen herausragenden Felsen an der Landzunge. Doch kräftige Soldatenhände zogen ihn aufs Trockene und versuchten unbeholfen, den Fellknoten
an seinem Hals zu öffnen. »Hier habt ihr das Vlies, das ...«, begann Brak und versank in der gnädigen Schwärze der Bewußtlosigkeit. Und so kam es, daß das Volk des Doppelbuchtreichs sein größtes Heiligtum zurückerhielt. Soldaten eilten damit zum Stadtplatz und brachten die Kunde, daß die beiden Bronzestatuen im Meer versunken waren. Das gab den Bürgern neuen Mut. Sie kletterten auf die Dächer und bombardierten die Invasoren mit Steinen. Diese etwas ungewöhnliche Kriegswaffe aus einer Stellung, wo die Sensenmaschinen nichts auszurichten vermochten, gewann die Schlacht nach einer Nacht und einem Tag, und die Invasoren zogen sich auf die Ebene außerhalb der Stadt zurück. Doch auch die zweite Nacht brachte den Gorden kein Glück. Ungläubig starrten die Bürger des Stadtreichs hinaus auf die Ebene, wo der Feind kopflos die Flucht zu ergreifen versuchte, als König Rodar persönlich angeritten kam. Er war durchaus nicht tot, wie die Boten gemeldet hatten, sondern war nur gezwungen gewesen, sich zurückzuziehen, als seine Armee geschlagen war. Doch der König hatte bald darauf begonnen, die versprengten Soldaten zu sammeln und war gerade rechtzeitig an der Ebene angekommen, um die Gorden in einer erbitterten Schlacht aufzureiben. Nie wieder würden ihresgleichen wagen, das Stadtkönigreich zu bedrohen. Man erzählte sich später, daß die Frauen, Greise und Kinder die einzigen, die in den gordischen Städten zurückgeblieben waren - die Tempel und alle Statuen des Ziegengottes niederrissen und sich ihrer Trauer um die gefallenen Gatten, Söhne und Väter hingaben. Aber davon hörte Brak lange Tage nichts, bis er wieder einmal - und diesmal unter glücklicheren Umständen - in Phonicios’ Haus erwachte. Auch dieses Mal war es Saria gewesen, die ihn gesund
gepflegt hatte, trotz der eigenen Verletzung, die jedoch glücklicherweise ebenfalls am Verheilen war. Kaum hatte Brak jedoch die Augen aufgeschlagen, konnte ihn nichts mehr im Bett halten. Und so kam es auch, daß eines frühen Morgens, nachdem ihn König Rodar persönlich im Palast geehrt und eine mehrtägige Feier dort für ihn veranstaltet hatte, eine kleine Gruppe von Menschen sich im Hof vor Phonicios’ Haus versammelte. Im Hintergrund rissen ein paar der Bediensteten Witze über den Wesir Mustaf ben Medi, der aus dem Stadtreich verbannt worden war. Phonicios brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Das ist ein herrliches Pferd, Lord Phonicios«, sagte Brak mit leuchtenden Augen und bewunderte das ungeduldig tänzelnde Tier. »Es ist viel zu gut für einen Barbaren.« Phonicios schlug Brak herzlich auf die Schulter. Sein Gesicht war nicht länger hager und abgespannt, und er trug wieder, wie zuvor, die Roben des Gildenmeisters. Diese ehrenvolle Stellung war ihm einstimmig von allen Angehörigen der Kaufmannsgilde erneut zugesprochen worden. »Damit kann ich nur einen Teil von dem vergelten, was Ihr für uns tatet, Brak. Ohne Euch würde es diese Stadt nicht mehr geben.« Der Barbar schwang sich auf das Pferd. Saria stand neben dem Zirkassier, der seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Beide wünschten ihm viel Glück und eine gute Reise. Phonicios blickte zu Brak empor. »Warum nur wollt Ihr nicht bleiben?« murmelte er. »Ihr sollt einen ehrenvollen Platz in meinem Haushalt haben und eine angesehene Stellung unter den Stadtvätern. Das versprach König Rodar mir persönlich.« Brak lächelte wehmütig und schüttelte den Kopf. »Ein verlockendes Angebot, Lord Phonicios. Doch würde ich es annehmen ...« - er zuckte die Schultern - »dann wäre ich nicht der Mann, der ich bin. Es ist mir bestimmt, durch die Welt zu
ziehen und einem Traum zu folgen, der erst im goldenen Khurdisan Erfüllung finden kann.« Er hob abschiednehmend die Hand. Die Freunde legten die Hände über die Augen, um sie vor der aufgehenden Sonne zu schützen, und blickten ihm nach, bis er im Labyrinth der Straßen verschwunden war. ENDE
Als TERRA FANTASY Band 14 erscheint:
DAS HEER DER FINSTERNIS Abenteuer in Magira, der Welt der Magier und Heroen
von Hugh Walker Zwei Menschen im Bann dunkler Mächte Sie stammen aus zwei verschiedenen Welten, doch ihre Schicksale scheinen auf seltsame Weise miteinander verknüpft zu sein. Da ist Ilara, die junge Priesterin aus dem Lande Ish. Ihr trachtet man nach dem Leben, weil sie sich geweigert hat, ein Menschenopfer darzubringen. Und da ist Franz Laudmann, genannt Frankari, der eines Nachts zu seinem Entsetzen entdeckt, daß die von ihm miterschaffene Spielwelt ebenso real ist wie seine eigene. Beide Menschen sind in den Bann dunkler Mächte geraten, seit sie einen Teil der Wahrheit der Götter erkannten. Ein Magier, die Adepten, die Mythanen, die Reiter der Finsternis, die Mächte des Chaos - sie alle stellen Ilara und Frankari gnadenlos nach. DAS HEER DER FINSTERNIS ist der zweite, in sich abgeschlossene Band des MAGIRA-Zyklus. Teil 1 des Zyklus erschien unter dem Titel REITER DER FINSTERNIS als Band 8 der TERRA-FANTASY-Reihe. Weitere MAGIRA-Romane sind in Vorbereitung.