Hallesche Beitrge zur Europischen Aufklrung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Eu...
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Hallesche Beitrge zur Europischen Aufklrung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Europischen Aufklrung Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg
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»Die Stammutter aller guten Schulen« Das Dessauer Philanthropinum und der deutsche Philanthropismus 1774–1793
Herausgegeben von Jçrn Garber
n Max Niemeyer Verlag Tbingen
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli, Monika Neugebauer-Wçlk, Jrgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Wilhelm Khlmann, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Jrgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Sigrid Buthmann Satz: Kornelia Grn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-81035-8
ISSN 0948-6070
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Printed in Germany. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Vorwort
Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf Vorträge zurück, die auf einer kurzfristig einberufenen Tagung in Dessau 1999 gehalten wurden. In Zusammenarbeit mit der ehemaligen Landesbibliothek Dessau und mit dem Gymnasium Philanthropinum Dessau wurde eine Ausstellung zum Dessauer Philanthropinum und seiner Geschichte durchgeführt, die von einem wissenschaftlichen Tagungsprogramm begleitet wurde. Als verantwortlicher Leiter dieser Tagung habe ich lange gezögert, die Beiträge zu publizieren, weil kein systematischer Bezug der Einzelaufsätze zu einer übergreifenden Deutung der philanthropischen Schulbewegung erkennbar wird. Dennoch bieten die Einzelbeiträge – trotz unterschiedlicher Methoden sowie Frage- und Themenstellungen – so viele neue Erkenntnisse, daß deren Publikation gerechtfertigt erscheint. Die Repräsentativität des Dessauer Schulversuchs für die Erziehungsbestrebungen im Rahmen der deutschen Aufklärung steht in einem auffälligen Gegensatz zu einer immer noch fehlenden Gesamtdarstellung des Dessauer Philanthropinums. Die Beiträge dieses Bandes bieten Bausteine für eine Analyse von Institution, Personal, Programm und Wirkung der Dessauer Philanthropen. Zu danken ist den Autorinnen und Autoren, deren Langmut durch die Zögerlichkeit des Herausgebers auf eine harte Probe gestellt wurde. Zu danken ist den beiden hilfs- und einsatzbereiten Sekretärinnen des IZEA, Christine Peter und Kornelia Grün, der wissenschaftlichen Hilfskraft Grit Neugebauer für die Bibliotheksrecherchen sowie Dr. Sigrid Buthmann für ihre sorgfältigen Redaktionsarbeiten. Gewidmet ist der Band dem Nestor der anhaltinischen Geschichtsschreibung im Zeitalter der Aufklärung, Prof. Dr. Erhard Hirsch, ohne den es nach 1945 in Halle keine moderne Dessau-Wörlitz-Forschung gegeben hätte. Die Einzelbeiträge behandeln die Geschichte des Dessauer Philanthropinums im Kontext der deutschen Aufklärungsbewegung. Fast alle Beiträge sind skeptisch gegenüber der Hypothese, daß die Philanthropen ausschließlich der pädagogischen Moderne zuzurechnen seien. Die Philanthropen lassen sich nicht umstandslos der deutschen Rezeptionsgeschichte des englischen Empirismus (Locke und seine Schule) bzw. dem Emile-Paradigma (Rousseauismus) zuordnen, sondern sie sind auch eingebunden in dänisch-norddeutsche Traditionslinien (Beitrag Jürgen Overhoff). Auch die philanthropische Religions- und Toleranztheorie speist sich aus vielfältigen europäischen Theoriekomponenten, die von Basedow erstmals zusammengeführt wurden (Beitrag Klaus Bleeck). Im Bereich der Geschlechteranthropologie zeigt sich allerdings der überragende Einfluß Rousseaus (Beitrag Jan Steinhaußen). Der Beitrag von Erhard Hirsch lokalisiert die Theorie und Praxis des Pä-
VI dagogen Basedow in einer spezifischen Konstellation der Dessauer Aufklärung und des anhaltinischen Reformabsolutismus. Der Philanthropismus als methodische und erkenntnistheoretische Bewegung ist Teil einer antimetaphysischen „zweiten Aufklärung“, welche die Forderung nach Anschaulichkeit und Konkretheit der Erkenntnismethoden erhebt (Beitrag Rita Casale). Kern des pädagogischen Philanthropismus ist die Neugestaltung der Unterrichtspraxis und der Lehrer-SchülerBeziehung (Beitrag Hanno Schmitt). Am Beginn einer Reformschuldiskussion, die von dem Dessauer Schulversuch bis zur Alternativpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts reicht, wird eine Gegentheorie zur traditionellen Ordnungspädagogik entwickelt. Der Philanthropismus etabliert sich im Spannungsfeld von utilitaristischen und naturbezogenen Positionen des Menschen- und Gesellschaftsbildes. Die „beobachtende Vernunft“ wird auf die Menschenanalyse fokussiert, die die Selbstbeobachtung der Lehrenden und Lernenden einschließt (Beitrag Heidrun Diele). Adressaten dieses Erziehungskonzepts sind die ‚merkantilen‘ und die ‚gebildeten‘ Stände (Beitrag Michael Rohleder). Über die Wirkungsgeschichte des deutschen Philanthropismus auf Frankreich informiert der Beitrag von Christophe Losfeld, während der Beitrag von Bernd Feige die deutschen Rezeptionsformen philanthropischer Schulgründungen an einem markanten Beispiel verdeutlicht. Michael Niedermeier zeigt am Beispiel des Naturutopisten Ziegenhagen, welche Formen utopischen Denkens von den Philanthropen adaptiert bzw. zurückgewiesen werden. Die Spätaufklärung bezieht sich positiv und kritisch auf die Sozialdisziplinierungstheorien der Frühen Neuzeit und wandelt diese um zur „moralischen“ und „innerlichen Ökonomie“ des Bürgers (Beitrag Jörn Garber). Die Pädagogik wird verbunden mit einer psychologischen Analyse des Alltagshandelns. Es ist auffällig, daß wichtige Themenfelder in diesem Sammelband keine Berücksichtigung finden. Zu erforschen wären die vielfältigen Beziehungen zwischen Philanthropismus, Halleschem Pietismus und preußischer Reformpolitik im Bereich von Schule und Bildung seit 1770. Erwünscht wären Beiträge über die Kinder- und Jugendliteratur und die bildlichen Unterrichtsmaterialien der Philanthropen. Ausgespart bleiben Analysen der politischen Positionen der Philanthropen, insbesondere ihr Verhältnis zum Reformabsolutismus und zur Französischen Revolution. Hierzu liegen allerdings zahlreiche Forschungen vor, die nach 1968 entstanden sind. Neuerdings werden auch die Natur- und Kulturtheorien der Philanthropen in ihrer Bedeutung für die Aufklärungspädagogik intensiv diskutiert. Überwiegend basieren die Beiträge auf eingehenden Quelleninterpretationen, ein Verfahren, das allein Forschungsfortschritte verheißt. Stellt man diese Ergebnisse ein in neuere Überblicksdarstellungen, wie sie z. B. das Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte zum 18. Jahrhundert aufweist, dann wird deutlich, daß viele der abgedruckten Aufsätze Neuland erschließen, deren Bedeutungszuweisung aber nicht der Herausgeber, sondern der Leser vorzunehmen hat. Jörn Garber, Kassel im Dezember 2007
Inhalt
JÖRN GARBER: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ERHARD HIRSCH: „Das meiste neue pädagogische Licht ist von Dessau ausgegangen“. Zum 275. Geburtstag Basedows und 225. Gründungstag des Dessauer Philanthropins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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JÜRGEN OVERHOFF: Johann Bernhard Basedows Frühschriften und die Anfänge der philanthropischen Pädagogik in Sorö (1753–1758) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
KLAUS BLEECK: J. B. Basedows ethische Grundlegung einer „vernünftigen“ Lebenspraxis aus dem Geiste der Philosophie, Natürlichen Theologie und des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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HANNO SCHMITT: Versuchschule vor zweihundert Jahren. Ein Besuch am Dessauer Philanthropin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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JAN STEINHAUßEN: Geschlechteranthropologie und Erziehung der Töchter im Philanthropismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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HEIDRUN DIELE: „Kalter Zuschauer“ und „Brennspiegel“. Beobachtungen in den Pädagogischen Unterhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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MICHAEL NIEDERMEIER: Franz Heinrich Ziegenhagens konfliktreiches Intermezzo am Dessauer Philanthropin und seine Erziehungsutopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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MICHAEL ROHLEDER: Die Briefe des Rigaer Kaufmanns Heinrich Schilder . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII
CHRISTOPHE LOSFELD: Georges Cuvier als gescheiterter Vermittler des Philanthropismus . . . . . . .
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BERND FEIGE: Johann Peter Hundeiker (1751–1836): Autodidakt, Volksaufklärer, philanthropischer Schulgründer und ein Pädagoge in Zeiten geistesgeschichtlicher Umbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
RITA CASALE: J. H. Campe und die tugendhafte zweite Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
335
JÖRN GARBER: „Die Bildung des bürgerlichen Karakters“ im Spannungsfeld von Sozial- und Selbstdisziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erhard Hirsch in Dankbarkeit und Verehrung zum 80. Geburtstag
JÖRN GARBER (Kassel)
Einleitung
Das späte 18. Jahrhundert erscheint im Spiegel der modernen Forschung gleichsam in zwei gegenläufigen Perspektiven. Während die Schulgeschichtsschreibung im Fach Geschichte zunehmend daran zweifelt, daß es im Zeitalter der Aufklärung einen staatlichen gelenkten Modernisierungsschub in Deutschland gegeben habe, unterstreicht die Pädagogikgeschichte im Fachbereich der Erziehungswissenschaften zumeist die Innovations- und Modernisierungskraft dieses Abschnitts der Pädagogikgeschichte. Die Historiker kritisieren die ältere Absolutismusforschung, die Modernisierung gleichsetzte mit der „Verstaatlichung“ der älteren Ständegesellschaft. Die neuere historische Forschung untersucht die Schuldichte, die Trägerschaft von Schulen, die Auftraggeber von Schulgründungen, die Alphabetisierungsdichte und die Normierung von Zugangsformen in Gesellschaft und Staat durch „Bildung“. Die Historiker zeigen, daß das Aufklärungszeitalter im Bereich der Schulen noch weitgehend geprägt war von den Langzeitstrukturen, die sich während der zweiten Reformation erstmals herausgebildet hatten. Die städtischen und ländlichen Obrigkeiten, kirchliche Institutionen (Konsistorien) und Personen prägen das Schulwesen ‚vor Ort‘ in Deutschland. Die Einschätzung von Strukturen, Einzelinstitutionen, von Lehrern und Schülern, von Alphabetisierung und von der Funktion von Bildung hat sich in dieser Forschungsperspektive entscheidend verändert. Nach der zweiten Reformation hat der Fürstenstaat, z.B. in den Gothaer Schulversuchen des 17. Jahrhunderts, vorwiegend nur jene Schulformen beeinflußt, die verbunden sind mit der Universität (Gelehrtenschulwesen). Erst nach dem Siebenjährigen Krieg kommt es zur Reform des sogenannten ‚Landschulwesens‘, allerdings vorwiegend in den katholischen Gebieten zur Zeit der Josephinischen Reformen und nur in abgeschwächter Form in den protestantischen Territorien, wie z.B. in Preußen. Die Erforschung des Philanthropismus wurde zunächst bestimmt von den zeitgenössischen biographischen Studien der Gründer bzw. Lehrer des Dessauer Philanthropinums.1 Nicht bearbeitet sind die zahllosen Kontroversschriften des 1
Der Philanthropismus in seinen Bezügen zur Aufklärungspädagogik ist zuletzt in allen seinen Aspekten ausführlich analysiert worden im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, hg. von Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann. München 2005. Vgl. insbesondere S. 106ff. (Ulrich Herrmann), S. 262ff. (Hanno Schmitt), S. 284ff. (Jens Bruning), S. 406ff. (Hanns-Peter Bruchhäuser). Alle Artikel verzeichnen umfassend die Quellen und die Sekundärliteratur zum Philanthropismus. Die folgenden Betrachtungen zur Erforschung des Philanthropismus orientieren sich an den wichtigsten Interpretationsmethoden, nicht aber an einem möglichst vollständigen Nachweis von Forschungen zur Geschichte des Philanthropismus, von dessen wich-
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Jörn Garber
ausgehenden 18. Jahrhunderts zu dieser schulischen Institution bzw. die gedruckten Schriften zu Leben und Wirken der Philanthropen.2 Erst im späten 19. Jahrhundert wurde im Zuge der damaligen Schul- und Erziehungsgeschichte der Philanthropismus gleichsam neu entdeckt. Diese Bemühungen kulminierten in der monumentalen Studie von Auguste Pinloche La réforme de l’éducation en Allemagne au dix-huitième siècle. Basedow et le Philanthropisme (Paris 1889).3 Wie dem Titel zu entnehmen ist, wird die philanthropische Erziehungsbewegung zurückgeführt auf die Reformkonzepte Basedows. Bis heute dominiert die personenbezogene Geschichtsschreibung die Forschung zum Philanthropismus. In Deutschland haben Johann Ferdinand Bessler,4 David Stern,5 Walter Vorbrodt,6 Johannes Rammelt7 und Theodor Fritsch8 die Einzelaspekte der Aufklärungspädagogik im Spiegel des Philanthropismus erforscht. Werk und Lebensform der einzelnen Philanthropen wurden als Einheit betrachtet, wobei neben Basedow nur ein kleiner Kreis von Mitarbeitern des Instituts gewürdigt wurde (Carl Friedrich Bahrdt, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann, Johann Stuve und Ernst Christian Trapp). Insgesamt orientierte man sich an der von Campe herausgegebenen Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens.9 Aufklärung,
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tigsten Vertretern, Institutionen, Ideen und Rezeptionsverläufen. Diese sind in dem genannten Handbuch ausgewiesen. Ergänzend sollten die beiden Beiträge von Wolfgang Neugebauer (Niedere Schulen und Realschulen, S. 213–261) und von Jens Bruning (Gelehrtenschulwesen im 18. Jahrhundert, S. 278–323) herangezogen werden. Während die positivistischen Forschungen des mittleren und späten 19. Jahrhunderts die Einheit von Leben und Werk der Philanthropen akzentuieren und die biographische Situation der Aufklärer minutiös nachzeichnen, hat die moderne Forschung die Kontexte zur Entstehung und Struktur des Philanthropismus weitgehend vernachlässigt. Vgl. zur Praxis der biographischen Methode des 19. Jahrhunderts die Edition von Johann Bernhard Basedow, Ausgewählte Schriften. Mit Basedow’s Biographie, Einleitungen und Anmerkungen, hg. von Hugo Göring. Langensalza 1880. Diese Studie wurde ins Deutsche übersetzt: Auguste Pinlonche, Geschichte des Philanthropinismus. [Deutsche Bearbeitung von J. Rauschenfels und Auguste Pinlonche]. Leipzig 1896. Bessler, Johann Ferdinand, Unterricht und Übung in der Religion am Philanthropinum zu Dessau. Niederlössnitz 1900. Stern, David, Johann Bernhard Basedow und seine philosophischen und theologischen Ansichten. Königsberg 1912. Vorbrodt, Walter, Basedow’s Leben und Werke. Halle 1920. Rammelt, Johannes, Johann Bernhard Basedow, der Philanthropismus und das Dessauer Philanthropin. Dessau 1929. Fritsch, Theodor, Philanthropismus und Gegenwart. Leipzig 1910. Die Philanthropismusforschung wurde neu belebt durch die kommentierten Nachdrucke folgender Werke: Johann Bernhard Basedow, Elementarwerk mit den Kupfertafeln Chodowieckis [u.a.]. Kritische Bearbeitung in 3 Bdn., hg. v. Theodor Fritzsch. Leipzig 1909; Johann Bernhard Basedow, Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, mit Einleitung, Anmerkungen und Register, hg. v. Theodor Fritzsch. Leipzig 1913. Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, hg. v. Joachim Heinrich Campe, 16 Bde.; Bde. 1–5: Hamburg 1785; Bde. 6–7: Wolfenbüttel 1786–1787, Bde. 8–9: Wien / Wolfenbüttel 1787; Bde. 10–16: Wien / Braunschweig 1788–1792. Reprint, hg. v. Ulrich Herrmann. Vaduz 1979 [AR, 1–16]. Vgl. hierzu Schmitt, Hanno, Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung – die Philanthropen: Johann
Einleitung
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Utilitarismus und allgemeines Erziehungsdenken wurden als Bewegung und Konzept des entstehenden Wirtschaftsbürgertums interpretiert.10 An diese Forschungen lehnten sich die erziehungsgeschichtlichen Schriften nach 1945 an. Es fällt auf, daß die DDR-Forschung zunächst einen erheblichen Vorsprung vor jener der alten Bundesrepublik gehabt hat. Im Zuge der sogenannten „Erbe“-Forschung wurden die Philanthropen als Vorläufer des polytechnischen sowie des staatsbürgerlichen Unterrichts positiv bewertet (Günter Ulbricht,11 Walter Schöler,12 Erhard Hirsch,13 Rosemarie Ahrbeck-Wothge).14 Erst in den mittleren und späten 60er Jahren setzte die moderne Forschung in der alten Bundesrepublik ein (Herwig Blankertz,15 Ludwig Fertig,16 Ulrich Herrmann,17 Hanno Schmitt18 u.a.). Kritisch wurde die bis
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Bernhard Basedow, Johann Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann, in: Tenorth, HeinzElmar (Hg.), Klassiker der Pädagogik 1. Von Erasmus bis Helene Lange. München 2003, S. 119–143. Urban, Gert-H., Vom Bürger zum Menschen, von der Staats- zur öffentlichen Schule. Ein Wandel in den Auffassungen der Philanthropisten. Reutlingen 1980 (zugleich Diss. phil. Tübingen 1977). Ulbricht, Günther, Der Philanthropismus – eine fortschrittliche Reformbewegung der deutschen Aufklärung, in: Pädagogik 10 (1955), S. 750–764. Schöler, Walter, Der fortschrittliche Einfluß des Philanthropismus auf das niedere Schulwesen im Fürstentum Anhalt-Dessau 1785–1800. Diss. Greifswald 1955. Diese Arbeit geht von der These aus, daß die Philanthropen das niedere Schulwesen nachhaltig beeinflußt hätten. Diese These wird von der neueren Forschung abgelehnt, weil die Philanthropen nur die „gebildeten Stände“ als Zielgruppe ihrer Schulversuche ansprechen wollten. Hirsch, Erhard, Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 18), Tübingen 2003, insb. S. 297ff.; ders., Zierde und Inbegriff des XVIII. Jahrhunderts. Der Dessauer Kulturkreis im Spiegel der zeitgenössischen Urteile, in: Ahrbeck-Wothge, Rosemarie, (Hg.), Studien über den Philanthropismus und die Dessauer Aufklärung (Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1970/3). Halle 1970, S. 100–149.; ders., Halberstadt und Dessau. Zwei Kulturkreise der Goethezeit in ihren Wechselbeziehungen, in: Gleimhaus und Museum der Stadt Halberstadt. Festschrift zur 250. Wiederkehr der Geburtstage von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Magnus Gottfried Lichtwer. Beiträge zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Halberstadt 1969, S. 123–155; ders., Experiment Fortschritt und praktizierte Aufklärung. Franz von Anhalt-Dessau zum 250. Geburtstag. Dessau 1990. Ahrbeck-Wothge, Rosemarie, Die Erziehung zur allseitig entwickelten Persönlichkeit als Zentrum von J. B. Basedows Pädagogik, in: dies. (Hg.), Studien über den Philanthropismus und die Dessauer Aufklärung. Halle 1970, S. 55–80. Herwig, Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersuchungen. Düsseldorf 1963; ders. (Hg.), Bildung und Brauchbarkeit. Texte von Joachim Heinrich Campe und Peter Villaume zur Theorie utilitärer Erziehung. Braunschweig 1965; ders., Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Hannover / Berlin / Darmstadt / Dortmund 1969. Fertig, Ludwig, Campes politische Erziehung. Eine Einführung in die Pädagogik der Aufklärung. Darmstadt 1977. Herrmann, Ulrich, Die Pädagogik der Philanthropen, in: Scheuerl, Hans (Hg.), Klassiker der Pädagogik. Von Erasmus von Rotterdam bis Herbert Spencer, 2. überarb. Aufl. München 1991, S. 135–158; vgl. auch die vorzügliche Edition Ulrich Herrmanns von Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik, mit einem Nachwort: Person und Werk. Paderborn 1977; Hermann, Ulrich, Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland. Weinheim 1993.
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Jörn Garber
dahin vorherrschende Perspektive des Neuhumanismus beurteilt, während die Philanthropen nunmehr als Begründer einer modernen „Laborschule“, d.h. der Einheit von Erziehungstheorie und Unterrichtspraxis, gewürdigt wurden.19 Zugleich wurde die Differenz zwischen Neuhumanismus und Philanthropismus relativiert.20 Die Aufklärung erscheint als Ursprung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Man betonte, daß Deutschland eine eigenständige Aufklärungstradition besessen habe, die im Zuge nationalistischer Vorurteilsbildung, also im 19. Jahrhundert, keine Wirkung mehr entfalten konnte.21 Die Pädagogik der Aufklärung erscheint aber auch als „schwarze Pädagogik“, weil sie Körper und Geist des Menschen zum Zweck ökonomischer Produktivität diszipliniert.22 Man sollte diese Forschungen in den übergreifenden Zusammenhang der sog. „Sozialdisziplinierung“23 stellen, die gegenwärtig in der modernen Mentalitätshistorie diskutiert wird. Bislang hat man die Aufklärungspädagogik einseitig dem Prozeß der Enttheologisierung (Säkularisierung) des Denkens im 18. Jahrhundert zugeordnet und übersehen, daß die Aufklärung ihre Wurzeln durchaus in der Aufklärungstheologie dieses Zeitalters hat.24 18
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Schmitt, Hanno, Schulreform im aufgeklärten Absolutismus. Leistungen, Widersprüche und Grenzen philanthropischer Reformpraxis im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel 1785– 1790, Phil. Diss. Marburg 1978; ders., Philanthropismus und Volksaufklärung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Das Volk als Objekt obrigkeitlichen Handelns (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 13), Tübingen 1992, S. 172–195; ders. / Tosch, Frank (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) im Aufbruch Preußens. Berlin 2001; Schmitt, Hanno (Hg.), Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit. 1746–1818. Wiesbaden 1996. Die zahlreichen Studien bzw. Editionen zum Philanthropismus von Hanno Schmitt sind jetzt verzeichnet in: Link, Jörg-W. / Tosch, Frank (Hg.), Bildungsgeschichte in Quellen. Hanno Schmitt zum 65. Geburtstag. Bad Heilbrunn 2007, S. 329ff. (Bibliographie der Schriften Hanno Schmitts). Schmitt, Hanno, Versuchsschulen als Instrument schulpädagogischer Innovation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Historische Kommission der DGfE (Hg.), Jahrbuch für Historische Bildungsforschung. Band 1. Weinheim / München 1993, S. 153178. Kersting, Christa, Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes ‚Allgemeine Revision‘ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992, S. 257ff. Herrmann, Ulrich / Oelkers, Jürgen (Hg.), Französische Revolution und Pädagogik der Moderne [Zeitschrift für Pädagogik, Beihefte 24], Weinheim / Basel 1990. Dreßen, Wolfgang, Die pädagogische Maschine: zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen / Deutschland. Frankfurt/M. 1982. Angestoßen wurde diese Diskussion durch die folgende Textdokumentation: Rutschky, Katarina (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt a.M. / Berlin / Wien 1982. Garber, Jörn / Schmitt, Hanno, Affektkontrolle und Sozialdisziplinierung: Protestantische Wirtschaftsethik und Philanthropismus bei Carl Friedrich Bahrdt, in: Sauder, Gerhard / Weiss, Christoph (Hg), Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792). St. Ingbert 1992, S. 127–156. Losfeld, Christophe, Philanthropisme, Libéralisme et Révolution. Le ‚Braunschweigisches Journal‘ et le ‚Schleswigsches Journal‘ (1788–1793). (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 17). Tübingen 2002, S. 39ff. Vgl. hierzu auch die Studien von Klaus Bleeck und Jürgen Overhoff in diesem Band. Vgl. Andermann, Ulrich / Andermann, Kurt (Hg.), Regionale Aspekte des frühen Schulwesens (Kraichtaler Kolloquien 2). Tübingen 2000; Hartmann, Peter Claus (Hg.), Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 12). Frankfurt/M. 2004; Hager, Fritz-Peter / Jedan, Dieter (Hg.), Religion und Erziehung in Aufklärungsphilosophie und Aufklärungszeit. Bochum 1995; Bruning,
Einleitung
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Für den Philanthropismus dürfte der Hallesche Pietismus ein unmittelbares Vorbild und zugleich der bekämpfte Konkurrent gewesen sein.25 Die Aufklärungspädagogik hat zu keiner Zeit die Wirkungsbreite, die institutionelle Dynamik und die ökonomische Potenz des Pietismus erlangt. Der Arbeitsgedanke des Pietismus, dessen Nähe zur preußischen Monarchie (unter Friedrich Wilhelm I.), der Zusammenhang von Ökonomie und Jugendfürsorge verweisen auf ähnliche Zielsetzungen von Pietismus und Philanthropismus.26 Der Philanthropismus entstaatlicht die „gute Ordnung“, wie sie die Policey-Lehren der Hochaufklärung entfaltet hatten.27 Bislang sind die staatskritischen Impulse des mittleren und späten Philanthropismus deutlich überakzentuiert worden, der utilitaristische Aspekt dieser Aufklärungsbewegung wurde demgegenüber weitgehend unterschätzt.28 Der Philanthropismus rezipiert die funktionalistischen Ständetheorien des zeitgenössischen Kameralismus, er transformiert diese zu einer sozialen Anthropologie und schafft so die Voraussetzungen für das Erziehungskonzept der „inneren Ökonomie“.29 Ein qualitativer Sprung innerhalb der Erforschung der Aufklärungspädagogik war die Wiederentdeckung des Philanthropismus als Ursprung der modernen wissenschaftlichen Pädagogik. In diesem Sinne hat Christa Kersting die „Allgemeine Revision“ Campes in den Kontext der Auflösung der Systemphilosophien des 17. und mittleren 18. Jahrhunderts gestellt und gezeigt, wie in Deutschland eine autonome Wissenschaftstheorie der Erziehung entsteht.30 Die Anthropologie wird zur „Zentralwissenschaft“ der jüngeren Aufklärung. Die Aufklärungsanthropologie konnte sich auf den philosophischen Empirismus von Locke und Condillac, aber
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Jens, Evangelische Geistlichkeit und pädagogische Praxis. Bemerkungen zur Rolle einer privilegierten Statusgruppe in der ständischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften 7 (2001), S. 131–160. Bislang gibt es keine vergleichende Studie zum Verhältnis von Pietismus und Philanthropismus. Vgl. zu den Halleschen pädagogischen Bestrebungen des Pietismus den vorzüglichen Katalog: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Halle 1997; vgl. auch: Gott zur Ehr und zu des Landes Besten. Die Franckeschen Stiftungen und Preußen. Aspekte einer alten Allianz, hg. von Thomas Müller-Bahlke. Halle 2001. Dies hatte bereits betont: Scherpner, Hans, Geschichte der Jugendfürsorge. Bearbeitet von Hanna Scherpner. Göttingen 1966, S. 61ff. und S. 96ff. Vgl. hierzu Rüdiger, Axel, Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 15). Tübingen 2004, S. 25ff. Vgl. hierzu Kersting, (wie Anm. 20), S. 22ff. Garber, Jörn, Von der nützlichen zur harmonischen Gesellschaft: Norddeutscher Philanthropismus (J. H. Campe) und frühliberaler Ökonomismus (A. Hennings) im Vor- und Einflußfeld der französischen Revolution, in: Herzig, Arno / Stephan, Inge / Winter, Hans G. (Hg.), Sie, und nicht wir. Die französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland 1. Hamburg 1989, S. 245–287. Zur Methode der Anthropologie und ihrer Verankerung im frühneuzeitlichen Wissenschaftssystem vgl. Luhmann, Niklas, Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 1. Frankfurt/M. 1980, S. 162–234. Vgl. Kersting, (wie Anm. 20), S. 115f.
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Jörn Garber
auch auf die philosophische Psychologie von Leibniz und dessen Schule berufen.31 Erst die Annäherung dieser empiristischen Theorien an die Methoden der Naturwissenschaften, nämlich der Medizin und der Biologie, ermöglichte eine Wissenschaft vom Kinde, die Elemente der neuzeitlichen Humoralpathologie aufnimmt. Man betonte insbesondere die Analogie von Erziehen und Heilen.32 Die Entdeckung der unteren Erkenntniskräfte des Menschen, wie sie in der Ästhetik der halleschen Wolff-Schule (Baumgarten, Meier, Krüger) erstmals formuliert wurde, findet Eingang in die Erkenntnistheorie der Philanthropen. Die philanthropischen Morallehren aktualisieren anthropologische Ethiken des späten 17. Jahrhunderts, die nunmehr auf ein neues zivilisatorisch-gesellschaftliches Bildungsideal des Bürgers bezogen werden.33 Zudem wird eine Geschlechtererziehung favorisiert, die sich zunächst auf Rousseau, später aber auf medizinische Theorien der Geschlechterdifferenz beruft.34 Die Entwicklung der Pädagogik zu einer autonomen Wissenschaft erfolgt jenseits von Theologie und Philosophie. Die Wissensprofessionalisierung, die Ausbildung einer disziplinären Matrix, die damit einhergehende Verfachlichung des Wissens wird maßgeblich von dem Philanthropismus der zweiten Generation geprägt. Die Ersetzung philosophischer Fragestellungen durch jene der Biologie, der Medizin, der Anthropologie und der Psychologie verdeutlicht, daß der Philanthropismus Teil der empiristischen Wende der europäischen Aufklärung ab 1750 ist.35 Die Pädagogen sind als Anthropologen und Psychologen maßgeblich beteiligt an der Neubewertung des Verhältnisses von Körper und Geist, wobei der ‚anthropologische Unitarismus‘ die methodischen Voraussetzungen für die Theorie der Erziehbarkeit des Menschen schafft.36 Die physiologische und pragmatische Anthropologie wird verbunden mit der philosophischen Anthropologie des englischen Empirismus bzw. mit der anthropologischen Seelenkunde der Spätaufklä-
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Vgl. Kersting, (wie Anm. 20), S. 136ff. Vgl. ebd., S. 195ff. Zum Begriff der „anthropologischen Ethik“ vgl. Jörg Jochen Berns, Nachwort zu: Schottelius, Justus Georg, Die Sittenkunst oder Wollebenskunst, hg. von Jörg Jochen Berns. München 1980, S. 3–70; vgl. auch Hoorn, Tanja van, Affektenlehre – rhetorisch und medizinisch. Zur Entstehung der Anthropologie um 1750 in Halle, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004), S. 81–100 sowie: Zelle, Carsten (Hg.), „Vernüftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19). Tübingen 2001. Vgl. Kersting, (wie Anm. 20), S. 329ff. Zusammenfassend vgl.: Mayer, Christine, Erziehung und Schulbildung für Mädchen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, (wie Anm. 1), S. 188–211. Vgl. hierzu Kondylis, Panajotis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986. Vgl. zur deutschen Tradition: Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984. Moravia, Sergio, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt a.M. / Berlin 1977.
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rung.37 Die Herauslösung der Pädagogik aus Philosophie und Theologie erzwingt den Bezug auf neue Komplementärwissenschaften. Die Forschung hat zumeist einseitig Locke und Rousseau als Vorbilder für die philanthropische Erziehungstheorie benannt, die Einflüsse der physischen Anthropologie und der Medizin der deutschen Aufklärung aber zumeist unterschätzt.38 Ein Ergebnis dieser pädagogischen Wende innerhalb der Aufklärung ist die Abwertung der älteren Geisttheorie (Pneumatheorie) durch die Entdeckung der Wechselbezüglickkeit von Physis und Geist. Die Pädagogik wird zu einer Integrationswissenschaft mit den Zentralwissenschaften Anthropologie, Psychologie und Ethik (Moral). Hilfswissenschaften sind Ästhetik, Medizin und natürliche Logik. In den späten 70er Jahren werden die ersten Systemtheorien der Pädagogik vorgelegt, die vorwiegend die „Kräfte“ des menschlichen Körpers und Geistes behandeln.39 Der Philanthropismus wurde zunächst als eine politisch-soziale Reformbewegung innerhalb des deutschen Spätabsolutismus analysiert. Kontrovers war die Bestimmung der politischen Zielsetzung der Philanthropen, die entweder als Reformer innerhalb des Absolutismus oder aber als Vertreter des pädagogischen Frühliberalismus gedeutet wurden.40 Der Bürgerbegriff kann entweder als Ausdruck für die „arbeitenden“ Stände, für den Begriff des Staatsbürgers oder als (ökonomischer) Begriff des Stadtbürgers bzw. als moralischer Begriff für den ‚sittlichen Menschen‘ gebraucht werden. Die DDRForschung hatte einerseits den fortschrittlichen politischen Charakter der Philanthropen im Vor- und Einflußfeld der Französischen Revolution akzentuiert41 und andererseits das Theorie-Praxis-Modell dieser Schulform im Sinne einer polytechnischen Erziehungsform hervorgehoben.42 Erst jüngere Forschungen haben die wissenschaftlichen Bezugsfelder des Philanthropismus rekonstruiert und diese überzeugend als anthropologische Erziehungskonzeption klassifiziert.43 Durchweg 37
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Vgl. hierzu Riedel, Wolfgang, Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Garber, Jörn / Thoma, Heinz (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24). Tübingen 2004, S. 1–17. Zu dieser Umwertung innerhalb der Spätaufklärung vgl. den Sammelband von Carsten Zelle (Hg.), „Vernünftige Ärzte“, (wie Anm. 33). Vgl. Lempa, Heikki, Bildung der Triebe: der deutsche Philanthropismus (1768–1788). Turku 1993. Vgl. hierzu den Sammelband: Französische Revolution und Pädagogik der Moderne, (wie Anm. 21); Schmitt, Hanno, Vernunft fürs Volk: Christian Gotthilf Salzmann im Einfluß der Französischen Revolution, in: Freiheit Gleichheit Schwesterlichkeit. Männer und Frauen zur Zeit der Französischen Revolution. Wiesbaden 1989, S. 350370. Vgl. z.B. die einflußreiche Darstellung von Helmut König, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts [Monumenta paedagogica, 1], Berlin 1960. Vgl. z.B. Ulbricht, Günter, Der Philanthropismus – eine fortschrittliche pädagogische Reformbewegung der deutschen Aufklärung, in: Pädagogik 10 (1955), S. 750–764. Diese Sicht der Aufklärungspädagogik wurde begründet durch Kersting, (wie Anm. 20), S. 115ff.
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wird die Spannung zwischen einer organologischen und einer technologisch-mechanistischen Anthropologie hervorgehoben. Erstere erscheint als Begründungsform für eine liberale Gesellschaftskonzeption, letztere für eine reformistisch-absolutistische Zielsetzung.44 Die Naturalisierung des älteren rationalistischen Erziehungskonzepts geht einher mit einer empiristischen, nicht systembezogenen Menschenbetrachtung. Die Philanthropen folgen den naturwissenschaftlichen Methodenidealen ihrer Zeit. Ob sie lediglich eine Erziehungs- oder bereits eine Bildungskonzeption vertreten, diese Positionszuweisung ist bislang in der Forschung strittig.45 Die Philanthropen gehören mit ihrer Schulgründung in Dessau in den Zusammenhang der Selbstorganisation der spätaufklärerischen Intelligenz Deutschlands im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.46 Ungeklärt ist, ob die Philanthropen ihre Wissenschaftsideale an den deutschen Universitäten in einem autonomen Fach etablieren wollten, wie dies die Begründung des ersten pädagogischen Lehrstuhls in Halle (1779) durch Trapp nahelegt.47 Trapp hatte die Begründung der allgemeinen Pädagogik als eine Wissenschaftsrevolution gedeutet, da hier erstmals die Theorie fortlaufend durch die Schulpraxis korrigiert werden sollte.48 Das von Campe herausgegebene Revisionswerk wird zum Organ eines aufklärenden Gesprächs über die wissenschaftlichen Parameter der Erziehungsziele und der Erziehungspraxis.49 Hier werden die Anthropologie, die Psychologie, die Jugend-, Kindheits- und Familiensoziologie in gleicher Weise behandelt wie die Gesellschaftstheorie, die Gesellschaftsschichtungstheorie, die Ökonomie, aber auch die Staatszwecklehre. Neue Untersuchungen fragen nach der Theorie von Individuationsprozessen, nach dem Subjektbegriff der philanthropischen Erziehungslehre und thematisieren diese im Konzept einer psychologischen Anthropologie, die den Selbst44 45
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Vgl. ebd., S. 229ff. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung zum Bildungsbegriff der Aufklärung bietet Bollenbeck, Georg, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. / Leipzig 1994, S. 55f. Vgl. Schmitt, Hanno, Selbstorganisation, Bildungsfähigkeit und Zwang: Die Reform der Elementarschulen in der Provinz Brandenburg 1809–1816, in: Apel, Hans-Jürgen / Kemnitz, Heidemarie / Sandfuchs, Uwe (Hg.), Das öffentliche Bildungswesen. Historische Entwicklung, gesellschaftliche Funktionen, pädagogischer Streit. Bad Heilbrunn 2001, S. 125139. Vgl. hierzu Mainka, Peter, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (17311793). Ein schlesischer Adliger in Diensten Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. von Preußen (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 8). Berlin 1995, S. 463ff. Vgl. hierzu die Allgemeine Pädagogik von Trapp, hg. v. Herrmann, (wie Anm. 17); vgl. auch Gebhardt, Jürgen, Ernst Christian Trapp, ein streitbarer Pädagoge und Publizist der Aufklärung. Eine Studie zur Theoriegeschichte der Pädagogik. Diss. phil. Halle 1994 (masch.); Fuchs, Max, Das Scheitern des Philanthropen Ernst Christian Trapp. Eine Untersuchung zur sozialen Genese der Erziehungswissenschaft im achtzehnten Jahrhundert. Weinheim / Basel 1984; Schmitt, Hanno, Ernst Christian Trapp: Halle und die Widrigkeiten der Welt, in: Kronauer, Ulrich / Kühlmann, Wilhelm (Hg.), Aufklärung. Stationen-Konflikte-Prozesse. Festgabe für Jörn Garber zum 65. Geburtstag. Eutin 2007, S. 247–260. Vgl. Kersting, (wie Anm. 20), S. 229ff.; Finzel-Niederstadt, Wiltraut, Lernen und Lehren bei Herder und Basedow. Frankfurt a.M. / Bern / New York 1986.
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zwang an Stelle des Fremdzwangs schulisch institutionalisiert. Der Mensch definiert sich über seine eigene Natur, über sein Verhältnis zur Außennatur, über seine Emotionalität, über seine instrumentelle Vernunft, über seine Position in Gesellschaft und Geschichte. Offensichtlich gibt es mehrere Schichten bzw. Generationen innerhalb der philanthropischen Bewegung, die alternative Problemformen in das Zentrum ihrer Theorie und Praxis stellen.50 Entscheidend ist, daß hier nicht nur eine neuartige Theoriebildung erfolgt, sondern – in Auseinandersetzung mit und in Konkurrenz zum Pietismus – eine Veränderung der Lehrer-Schüler-Beziehung institutionalisiert wird. Die Philanthropen erstreben eine Professionalisierung von Theorie und Praxis. Sie wollen einerseits die Systematisierung pädagogischer Wissensbestände vornehmen, sie wollen andererseits theologische und metaphysische Vorgaben ersetzen durch anthropologische Methoden einer neuen Erziehungswissenschaft. Zugleich wird diese Wissenschaft eingepaßt in ein Konzept des kulturellen Wandels der Gesellschaft. Es gibt umfangreiche Forschungskontroversen über die Zuordnung der Philanthropen in die Erziehungsgeschichte. Zumeist werden Philanthropismus und Aufklärungspädagogik weitgehend gleichgesetzt oder aber die Abgrenzungen zum Neuhumanismus und zur Pädagogik des deutschen Idealismus nachdrücklich betont.51 Insbesondere die Spannung zwischen Utilitarismus und Humanismus, aber auch die Bedeutung der Anthropologie für die entstehende pädagogische Wissenschaft sind Gegenstand der Forschungskontroversen.52 Neuerdings wird die Pädagogik im Rahmen einer Geschichte des Körpers, der Sinne, der Emotionen, aber auch im Rahmen einer Geschichte des Geistes, des Intellekts und der Moral diskutiert.53 Zögerlich werden die Bezüge zur Medizin, zur Psychologie oder zur Ästhetik herausgearbeitet.54 In Parallele zur Disziplinierungsforschung der Frühneuzeithistorie wird die Beherrschung der Natur im Konzept der Aufklärungspädagogik thematisiert, ohne die alles beherrschende Vorbildfigur Rousseaus weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen. Auch die Geschlechterdebatte bzw. die Mädchen- und Frauenforschung hat ihre Fragestellungen in die Erziehungsgeschichte einge50
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Am schärfsten ist die Zäsur zwischen der älteren und jüngeren Generation des Dessauer Lehrpersonals betont worden von Michael Niedermeier: Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. (Dessau-Wörlitz-Beiträge 6 / Zwischen Wörlitz und Mosigkau 44). Dessau 1995. Zu klären wäre, ob die Dominanz der Pädagogik von Pestalozzi die Wirkung der philanthropischen Erziehungslehre bereits um 1800 eingeschränkt hat. Vgl. hierzu Schmitt, Hanno, Pestalozzi und der pädagogische Diskurs der Philanthropen in der Spätaufklärung, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 3. Weinheim und München 1996, S. 4965. Vgl. hierzu Kersting, (wie Anm. 20), die die pädagogischen Werke von Stuve als Vorläufer des Neuhumanismus innerhalb des Philanthropismus deutet. Dies ist bereits geschehen durch Kersting, (wie Anm. 20). Vgl. Nowitzki, Hans-Peter, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin / New York 2003, S. 87–162; Ziche, Paul, Anthropologie und Psychologie um 1800, in: Breidbach, Olaf / Ziche, Paul (Hg.), Naturwissenschaft um 1800. Wissenschaftskultur in Weimar / Jena. Weimar 2001, S. 96–106.
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bracht.55 Als Ergebnis dieses mehr als 150jährigen Forschungsweges der Philanthropengeschichte ist festzuhalten, daß die jeweiligen allgemeinen Forschungsaspekte von Philosophie, Historie, Literaturwissenschaft, Soziologie, aber auch der ‚weichen‘ Naturwissenschaften unmittelbar eingewirkt haben auf die Beantwortung der Frage, welche neuen Wissensbestände der Philanthropismus generiert habe.56 Bislang sind die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Philanthropismus nur unzureichend erforscht worden. Dies liegt vermutlich daran, daß die ältere erziehungsgeschichtliche Forschung entweder Institutionsgeschichte bzw. Personengeschichte betrieb oder aber im Gefolge der Philosophiegeschichte Theoriegeschichte der wichtigsten Erziehungstheoreme war.57 Nicht selten verbleibt die Philanthropismusanalyse lediglich im Rahmen einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Schriften Basedows bzw. von dessen Nachfolgern.58 Erst die Erforschung der Aufklärungsanthropologie in ihrer Bedeutung für den Konstitutionsprozeß der Pädagogik berücksichtigt die Wissenschaftskontexte der philanthropischen Pädagogik. Die Aufhebung der Zwei-Substanzen-Lehre (Leib-Seele) im Einflußbereich der medizinischen Aufklärung führt zur Bestimmung der Wechselwirkung von Körper und Geist.59 Die Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden (insbesondere aus der Anatomie und Physiologie) ermöglicht die Bestimmung des Menschen als Einheit von Körper und Geist.60 Die Verbindung von Anschauungen der physiologischen, vitalistischen und neuropathologischen Medizin (Albrecht von Haller, William Cullen) erlaubt die Neubegründung der Moralphilosophie aus der unitaristischen Natur des Menschen.61 Bereits die Ethik des späten 17. Jahrhunderts untersuchte das Verhältnis von Affektenlehre und Moral, die körperlichen Einflüsse und ihre Wirkung auf die moralische Entwicklung des Menschen. In der physischen Erziehung der Philanthropen wird die medizinische Diätetik zum Vorbild. In Deutschland haben die sogenannten „philosophischen Ärzte“ (Haller, Un-
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Weigel, Sigrid, Die nahe Fremde – das Territorium des ‚Weiblichen‘. Zum Verhältnis von ‚Wilden‘ und ‚Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung, in: Koebner, Thomas / Pickerod, Gerhard (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt/M. 1987, S. 171–199; Schmid, Pia, Rousseau Revisted. Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Erziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik (1992, H. 6), S. 839–854. Bislang gibt es keinen Forschungsüberblick, der die wissenschaftsgeschichtlichen Zugänge zum Philanthropismus aus interdisziplinärer Perspektive darstellt. Bis in die 80er Jahre hat die pädagogische Erziehungsgeschichte weitgehend ideengeschichtlich gearbeitet, auch wenn Impulse der modernen Sozialgeschichte berücksichtigt wurden, wie dies exemplarisch an den Studien zum 18. Jahrhundert von Ulrich Herrmann nachweisbar ist. Vgl. hierzu paradigmatisch die Ausführungen von Kersting, (wie Anm. 20), zu Basedow ebd., S. 55ff. Vgl. Specht, Rainer, Commercium mentis et corporis. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Vgl. Kersting, (wie Anm. 20), S. 122. Ebd., S. 122.
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zer, Weikart, Zimmermann)62 Einfluß auf die Popularphilosophie genommen. Sie fragen, inwieweit der menschliche Geist abhängig ist von der Beschaffenheit des Körpers bzw. von den Temperamenten und Affekten des Menschen. Pädagogen wie Villaume, Trapp oder Wezel, Stuve und Campe betrachten den Körper als „Instrument der Seele“.63 Die ältere Aufklärung deutet den Menschen als „moralische Maschine“ (Trapp), die jüngere Aufklärung geht demgegenüber aus von einem Modell des sich selbsttätig regulierenden Organismus. Letztlich ahmt der Pädagoge die Natur nach, wenn er den Zögling nach Maßgabe seiner positiven Menschenkenntnis formt. Die technologisch-empirische Wissenschaft empfiehlt eine extreme pädagogische Disziplinierung des Kindes, während die naturnachahmende Methode Wert auf eine autonome Entwicklung des Kindes unter Berücksichtigung von dessen Individualität legt. Die pädagogikgeschichtliche Forschung zum Philanthropismus ist zu ergänzen durch die Arbeiten, die von Historikern zu diesem Gegenstandsbereich publiziert worden sind. Zumeist werden pädagogikgeschichtliche Themenfelder in Strukturbestimmungen der allgemeinen Bildungsgeschichte eingearbeitet. Bis in die 80er Jahre war die historiographische Erziehungsgeschichte maßgeblich geprägt worden durch die preußische Entwicklung im Erziehungswesen seit 1740. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten wurden auch die „topographischen Peripherien“ der Bildungsgeschichte verstärkt berücksichtigt. Die ältere Gelehrten- und Bildungsgeschichte hat sich zunächst an der Absolutismusgeschichte orientiert, wenn sie davon ausging, daß Modernisierung nur nach zuvor erfolgter Verstaatlichung des Erziehungssektors möglich sei. Neueste Forschungen haben überzeugend nachgewiesen, daß bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts von einer einheitlich gesteuerten staatlichen Schulpolitik keine Rede sein kann.64 Vielmehr findet der Schulbildungsprozeß „vor Ort“ statt. Am Beispiel der anhaltinischen Schulgeschichte wird erkennbar, wie ein Austausch von Erfahrungen im Schulsektor von der Peripherie (Anhalt) und nicht vom Zentrum (Berlin) im ausgehenden 18. Jahrhundert gesteuert wird. Man sollte deswegen die philanthropische Schulbewegung durchaus in die allgemeine Schulgeschichte der mitteldeutschen Territorien einstellen, um eine Vergleichsbasis für ihre Beurteilung zu gewinnen. Da die Universität Halle und die Franckeschen Stiftungen in Halle eine einmalige Konzentration von Bildungsein62
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Vgl. Zelle, (wie Anm. 33). Herausragend zu dieser anthropologischen Theoriebildung: Riedel, Wolfgang, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“ (Epistemata 17). Würzburg 1985. Vgl. Kersting, (wie Anm. 20), S.126. Kuhlemann, Michael, Tradition und Innovation. Zum Wandel des niederen Bildungssektors in Preußen 17901918, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung I (1993), S. 4167; vgl. auch die instruktive Zusammenfassung von Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära. 1700–1815. München 1987, S. 268–292; Neugebauer, Wolfgang, Bildung und Staatsbildung in der Frühen Neuzeit, in: Berliner Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 2000. Berlin 2001, S. 57–69.
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richtungen im 18. Jahrhundert aufweisen, ist danach zu fragen, welcher personengeschichtliche und programmatische Austausch zwischen Halle und Dessau stattfand. Offensichtlich ist insbesondere in der Ära Zedlitz ein intensiver Erfahrungsaustausch zwischen den preußischen und den anhaltinischen Schulreformen erfolgt. Die Universität Halle erlebte seit den späten 70er Jahren des 18. Jahrhunderts einschneidende Veränderungen, zu denen auch die Einführung neuer Studiengänge und die Institutionalisierung neuer Professuren gehörte.65 So wurde Ernst Christian Trapp 1779 zum ersten deutschen Professor für Pädagogik ernannt. Insbesondere Theologen wechseln zu den neuen pädagogischen Fachrichtungen über. Die Lehrerausbildung an der Friedrichs-Universität in Halle wurde zunächst von dem Theologen Johann Salomo Semler und später von Christian Gottfried Schütz nachhaltig gefördert. 1776 wurde das Dessauer Philanthropinum als Modellschule für Halle von dem Oberkurator empfohlen. Auch wenn man in Halle die liberale Schulpraxis der Dessauer kritisierte, wollte man die utilitaristische Ausrichtung des Philanthropinums in Preußen übernehmen. Die Lehrerausbildung in Halle folgte der philanthropischen Didaktik. Zudem sollte die Lehrerausbildung nicht nur theoretisch, sondern in der Schulpraxis erfolgen. Der Minister von Zedlitz überprüfte selbst den Wissensstand der Schüler in den Einzelfächern. Man erstrebte den Aufbau von Musterschulen, innerhalb derer künftige Schullehrer ausgebildet werden sollten. Die Universität installierte gleichsam ihre eigenen Laborschulen. Wie kompliziert die Einrichtung einer eigenen Fachrichtung für künftige Pädagogen war, zeigt die Konkurrenz zwischen den Theologen und den Pädagogen in Halle, die sich um 1780 beispielhaft personalisierte in den Streitigkeiten zwischen Trapp und Semler.66 Erst 1780 erfolgte die endgültige Trennung des Halleschen Erziehungsinstituts vom theologischen Seminar, die Pädagogik beginnt sich nunmehr von der Theologie und der Philosophie zu emanzipieren. Dabei ist man bemüht, wie Zedlitz 1780 bemerkte, sich „von den Dessauischen Fehlern“ zu befreien.67 Trapp hat die pädagogische Stoßrichtung der neuen Halleschen Pädagogik in dem Satz zusammengefaßt, es sei nicht seine Absicht, „Polyhistors zu liefern, (sondern) der Jugend Sinn und Verstand zu öffnen, sie zum Fassen nützlicher Dinge fähig und geneigt zu machen“.68 Die Einführung von schulischen Versuchsanstalten, an denen künftige Lehrer in einer Reformatmosphäre ausgebildet werden sollten, führt zur Verbindung von preußischen und anhaltinischen Schulreformen. In Halle wird der berühmte Philologe Friedrich August Wolf als Nachfolger Trapps berufen, um hier die Lehrerausbildung zu reformieren. Leider wurden die pädagogischen Ansätze von Trapp nicht weiter geführt, weil Wolf sich vornehmlich den Altertumswissenschaften zuwandte, ohne die pädagogische Reformbewegung nachhaltig zu
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Vgl. hierzu die Analysen von Rüdiger, (wie Anm. 27). Mainka, (wie Anm. 47), S. 471. Mainka, (wie Anm. 47), S. 473. Mainka, ebd.
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unterstützen. Er wird zum „Vater“ der antikezentrierten Gymnasialpädagogik des frühen 19. Jahrhunderts. Notwendigerweise mußte das anthropologisch ausgerichtete Erziehungskonzepts der Philanthropen in Konflikt mit den kirchlichen Erziehungsnormen geraten. Neue Forschungen haben überzeugend gezeigt, daß der Staat auf das niedere und mittlere Schulwesen bis 1800 kaum Einfluß genommen hat. Die Gelehrtenschule und das niedere Schulwesen standen zumeist unter dem Einfluß der Kommunen bzw. der örtlichen Geistlichkeit. Die allgemeine Unterrichtspflicht wurde zwar immer wieder proklamiert (in Preußen 1717 und 1763), aber nicht durchgeführt. Auch die kirchenrechtlichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 fanden keine Anwendung vor Ort. Es gab nicht einmal für die Dotierung von Schulen und Lehrpersonal einheitliche Richtlinien. Das lokale Kirchen- und Schulpatronat bestimmte selbständig über Schulorganisation und personale Ausstattung. Die geistliche Schulaufsicht blieb bis ca. 1800 ungebrochene Praxis. Die Aufklärung hat die konfessionelle Prägung der Schulen immer wieder scharf kritisiert und die Neutralisierung der Konfessionen im Blick auf deren Einfluß auf die Schulen gefordert. Auch die geistliche Ortsschulaufsicht galt als Hindernis für eine aufgeklärte Schulform. Die in der Französischen Revolution durchgesetzte Entkonfessionalisierung der Schule wurde in Deutschland als vorbildlich empfunden. Aber erst im frühen 19. Jahrhundert ging die Schulaufsicht an den Staat über. Bis dahin proklamierten die Aufklärer eine ‚Verstaatlichung‘ der Kirchen und eine Unterwerfung der lokalen Schulaufsicht unter eine autonome staatliche Schulverwaltung. Das in Preußen gegründete Oberschulkollegium konnte diese Forderungen nicht durchsetzen, obwohl im Preußischen Allgemeinen Landrecht die Schule als Kompetenzbereich des Staates ausgewiesen wurde. Der Staat besaß weder die Mittel noch das Personal, um staatsunmittelbare Schulen organisieren zu können. Dennoch versuchten die Spätaufklärer im Rahmen der sogenannten Volksaufklärung, eine breite Literarisierung bzw. Alphabetisierung des Volkes auch ohne staatliche Maßnahmen durchzusetzen. Die Volksaufklärung wendet sich an Bauern und städtische Bürger und beschreibt deren Arbeits- und Sozialnormierungen. Diese Form der Volksaufklärung, wie sie Schlosser, Rochow, Becker und Salzmann in ihren Schriften und in Modellschulen praktizierten, wurde von den territorialen Landesherren unterstützt. Die Geschichte von Schule, Erziehung und Bildung ist in den letzten 25 Jahren vollkommen umgeschrieben worden. Seit der grundlegenden Dissertation von Wolfgang Neugebauer (1985) ist der Mythos zerstört worden, daß die spätabsolutistischen Territorien eine einheitliche und durchgreifende Schulpolitik betrieben hätten.69 Wolfgang Neugebauer konnte zeigen, daß die Schulwirklichkeit in den 69
Vgl. Neugebauer, Wolfgang, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in BrandenburgPreußen. Berlin / New York 1985; vgl. zur Einordnung dieses Ansatzes ders., Zu Stand und Aufgaben moderner europäischer Bildungsgeschichte, in: Zeitschrift für historische Forschung
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preußischen Städten und auf dem Lande nicht vom Staat, sondern von den Instanzen vor Ort geprägt worden sind. Diese Theorie wurde von der neueren Schulgeschichtsforschung im Rahmen der Geschichtswissenschaft durchweg bestätigt.70 Zugleich wurde die These relativiert, die protestantischen Territorien Deutschlands, insbesondere Preußens, seien führend in der flächendeckenden Beschulung vor 1800 gewesen. Insbesondere der Vergleich von Preußen mit Österreich, also mit einem genuin katholischen Territorium, fällt eindeutig zu Ungunsten des Protestantismus aus.71 Die These von Max Weber, daß gesellschaftliche Modernisierung in der Frühen Neuzeit eine Folge des Mentalitätswandels im Einflußfeld des protestantischen Calvinismus sei, hat lange die Bildungs- und Erziehungsgeschichte in Deutschland beeinflußt, verliert aber heute zunehmend an Bedeutung. In gleicher Weise ist die über Jahrzehnte vertretene Auffassung, daß staatliche Zentralisierung und Erziehungsreformen ein paralleler Prozeß gewesen seien, nachhaltig in Frage gestellt worden.72 Die jüngere Forschung betont demgegenüber, daß seit der zweiten Reformation eine Schulbildung vor Ort stattgefunden habe, die in den politisch wenig profilierten Territorien oft erfolgreicher war als im unmittelbaren Einflußbereich des Absolutismus.73 Die mangelnde Durchdringung
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22 (1995), S. 225236. Vgl. insbesondere ders., Bildung, Erziehung und Schule im alten Preußen. Ein Beitrag zum Thema: „Nichtabsolutistisches im Absolutismus“, in: Jeismann, KarlErnst (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung. Stuttgart 1989, S. 25–42. Zur Einschätzung neuerer Forschungen vgl. ders., Bildungsgeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Jg. 56, H. 10 (2005), S. 585–593, H. 11 (2005), S. 644–656, H. 12 (2005), S. 719–731. Dieser Ansatz wird bestätigt durch KarlErnst Jeismann, ‚Bildungsgeschichte‘ – Aspekte der Geschichte der Bildung und der historischen Bildungsforschung, in: Bödeker, Hans Erich / Hinrichs, Ernst (Hg.), Alteuropa – Ancien Régime Frühe Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 175200. Vgl. Schmale, Wolfgang / Dodde, Nan L. (Hg.), Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (17501825). Bochum 1991; Hammerstein, Notker (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band I: 15. bis 17. Jahrhundert. München 1996; Schindling, Anton, Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 16501800. München 1994; Albrecht, Peter / Hinrichs, Ernst (Hg.), Das niedere Schulwesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Tübingen 1995. Vgl. zusammenfassend Melton, James Van Horn, Absolutism and the eighteenth-century origins of compulsory schooling in Prussia and Austria. Cambridge 1988. Vgl. Düsterhaus, Gerhard, Das ländliche Schulwesen im Herzogtum Preußen im 16. und 17. Jahrhundert. Diss. phil. Bonn 1975; Arnold, Udo (Hg.), Zur Bildungs- und Schulgeschichte Preußens. Lüneburg 1988; Jeismann, Karl-Ernst, Tendenzen zur Verbesserung des Schulwesens in der Grafschaft Mark 17981848, in: Westfälische Forschungen 22 (19969/70), S. 7897; Kuhlemann, Frank-Michael, Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 17941872. Göttingen 1992. Vgl. Carl, Horst, Okkupation und Regionalismus. Die preußischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg. Mainz 1993, S. 21ff.; Baumgart, Peter (Hg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat. Köln / Wien 1984; Teppe, Karl / Epkenhans, Michael (Hg.), Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus. Paderborn 1991. Diese Hypothese wird insbesondere vertreten von der herausragenden Studie von Jens Bruning, Das pädagogische Jahrhundert in der Praxis. Schulwandel in Stadt und Land in den preußischen Westprovinzen Minden und Ravensberg 16481816 (Quellen
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der vormodernen Territorien durch ein einheitliches Schulwesen zeigt sich darin, daß die Schulpflicht nicht durchgesetzt wurde, daß es kein gleichmäßig dichtes Netz von Schulen gab, daß der Unterricht nicht nach Altersstufen ausdifferenziert war, daß die Lehrer keine spezifische Vorbildung besaßen und schlecht besoldet wurden. Es gibt eine regionalgeschichtlich ausgerichtete Forschung, deren Ergebnisse z.T. die pädagogikgeschichtlichen und allgemeinen historischen Darstellungen des Philanthropismus erheblich modifizieren. Zu ihnen gehört die 1969 abgeschlossene Dissertation von Erhard Hirsch, die aber erst 2003 in überarbeiteter Form publiziert werden konnte. Hirsch entwirft ein Panorama des Verhältnisses von ‚Aufgeklärtem Absolutismus‘ und ‚Pädagogischem Jahrhundert‘. Das philanthropische Erziehungskonzept ist Teil eines übergreifenden Reformprozesses, der das Armen-, Sozial- und Medizinalwesen, aber auch die Verkehrsinfrastruktur, die Rechtspflege, die Religionspolitik, die Landwirtschaft, die fürstlichen Privilegien und die Außenpolitik betrifft. Hirsch analysiert die Dessauer ‚Pädagogische Kolonie‘ und zeigt, wie aus der Körpererziehung ein Programm von olympischen Nationalfesten wird. Verlage und Buchhandlungen werden in der Absicht gegründet, eine neue Kinder- und Jugendliteratur zu installieren. Die Winkelmannsche Kunstkonzeption führt zur Errichtung einer ‚Chalkographischen Gesellschaft‘, das Theater- und Musikleben soll das Nützliche mit dem Schönen verbinden, und das Wörlitzer Gartenreich erstrebt insgesamt eine umfassende Kulturkonzeption bzw. die Versinnbildlichung einer bürgerlichen Erziehungsutopie. Dessau mit seinen Erziehungsinstitutionen wird unter dem Fürsten Franz zum Inbegriff einer ‚aufgeklärten Stadt‘. Hirsch zeigt, daß das Philanthropinum Teil einer Reformbewegung war, die neben der Ökonomisierung von Stadt und Land einen Landesausbau erstrebte, der sich noch einmal symbolisch darstellt in Sammlungen, Parkanlagen und Bauten. Hirschs These, daß es ein Bündnis von Territorialabsolutismus und Bürgertum unter dem Fürsten Franz gegeben habe, widersprach der damaligen DDR-Theorie, daß der Absolutismus die staatliche Ausdrucksform des Spätfeudalismus sei. Der Philanthropismus ist eingebettet in eine Landeskultivation, eine humane Rechtspflege, er ist Teil einer neuen Toleranz-, Religions- und Konfessionspolitik, aber auch einer „bürgerlichen“ Finanz- und Ökonomiekonzeption. Insofern spiegelt der Philanthropismus die neuen Tendenzen eines sich ausdifferenzierenden Systems von Politik, Recht, Ökonomie, Verwaltung, Kultur, Kunst und Literatur wider, d.h. Pädagogik im Transformationsprozeß von Gesellschaftsformen ist immer mehr als nur ‚Erziehungskunst‘.74
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und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 15). Berlin 1998, S. 21ff. Vgl. die 2003 gedruckte Dissertation von Hirsch, (wie Anm. 13). Eine Einschätzung seiner Forschungsperspektive im Augenblick des Übergangs der DDR in die Bundesrepublik hat Erhard Hirsch vorgelegt. Vgl. ders., Bibliographie zur Erforschung und Pflege des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises = Wissenschaftliche Beiträge der Universität Halle 14 (1989), Reihe H, Heft 11.
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Eine Fortsetzung, allerdings mit anderer Akzentsetzung, fanden die grundlegenden Beiträge von Erhard Hirsch durch Michael Niedermeier.75 Niedermeier akzentuiert den Bruch zwischen der älteren Generation der pädagogischen Reformer um Basedow und Campe und der jüngeren Generation (der späteren Straßburger Revolutionäre). Erstere vertreten einen Disziplinierungsprozeß des Menschen bzw. des Kindes, letztere orientieren sich an einem organischen Konzept des Wachstums der Natur. Diese These ist bislang von der pädagogischen Diskussion über die Funktion des Philanthropismus innerhalb der Aufklärungsbewegung nur unzureichend rezipiert worden. Es kann nicht überraschen, daß der Philanthropismus ebenfalls Gegenstand der theologiegeschichtlichen, der philosophiegeschichtlichen und der literaturgeschichtlichen Forschung wurde. In Anlehnung an die historische Klassifikation des späten 18. Jahrhunderts als Zeitabschnitt des Reformabsolutismus hat die ‚Sozialgeschichte der Literatur‘ die inneren Widersprüche frühbürgerlicher Normierungssysteme in den Kontext von Bürgertumsanalysen gestellt, die zumeist die Situation des 19. Jahrhunderts zurückübertragen auf das späte 18. Jahrhundert. Insbesondere jene Studien, die der Frankfurter Schule nahe stehen, sehen in dem Selbstzwangkonzept der Philanthropen eine Form der „schwarzen Pädagogik“. Dennoch ist die von Norbert Elias vorgeschlagene Trennung von Fremdzwang und Selbstzwang eine sinnvolle Deutungsperspektive der pädagogischen Erziehungsziele des Philanthropismus, wenn man diese eingliedert in ein umfassendes Konzept der psychologischen Anthropologie der Spätaufklärung.76 Bislang hat die Philanthropismusforschung keinen interdisziplinären Zugang zu ihrem Gegenstandsbereich gefunden. Die Geschichtswissenschaft hat in Verbindung mit der Soziologie bzw. mit der Mentalitätsforschung die vielfältigen Modernisierungsbewegungen in der Zeit vor 1789 durch ein integrales Interpretationskonzept zu analysieren versucht. Dieses vereint in sich herrschaftssoziologische, psychologische und mentalitätsbezogene Forschungsansätze. 1962 entwarf der Frühneuzeithistoriker Gerhard Oestreich seinen Forschungsansatz der ‚Sozialdisziplinierung‘77 als „Leitkonzept“ der frühneuzeitlichen Geschichte Europas. Zu-
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Halle 1989. Zum utopischen Charakter dieser Reformkonzeption vgl. Hirsch, Erhard, Utopia realisata. Utopie und Umsetzung. Aufgeklärt-humanistische Gartengestaltung im DessauWörlitzer-Kulturkreis, in: Saage, Richard / Seng, Eva-Maria (Hg.), Von der Geometrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst. Tübingen 1999, S. 151179. Vgl. Michael Niedermeier, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz, (wie Anm. 50). Vgl. ders., Aufklärung im Gartenreich Dessau-Wörlitz, in: Bechthold, Frank-Andreas / Weiss, Thomas (Hg.), Weltbild Wörlitz. Entwurf einer Kulturlandschaft. Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1996, S. 51–66. Riedel, Wolfgang, Erste Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Garber, Jörn / Thoma, Heinz (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung, (wie Anm. 37), S. 117. Dieser Begriff wurde von Gerhard Oestreich geprägt in seinem grundlegenden Aufsatz: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmoder-
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gleich kommt es zu einer Neubestimmung des Zwangsbegriffs, der im Aufklärungszeitalter von einer herrschaftsbezogenen Fremdzwangkonzeption zu einer psychologischen Selbstdisziplinierungskonzeption wird. Herrschaft wird nicht mehr nur durch staatlichen Fremdzwang gegen Personen ausgeübt, sondern gleichsam von den zu disziplinierenden Subjekten selbst erzeugt. Individuelles Handeln garantiert im Prozeß der Selbstdisziplinirung den Abbau von Fremdzwang, ohne den Gesellschaftsbezug von Individualhandlungen aufzuheben. Insofern ist die Sozialdisziplinierung keineswegs nur auf politische Staatsbildungsprozesse zu beziehen, sondern bezeichnet einen Fundamentalvorgang der Ausbildung moderner Gesellschaftsstrukturen und ihrer mentalen Voraussetzungen, die ohne disziplinarische Selbstverfügung der Gesellschaftsglieder nicht durchzusetzen sind. Es ist offensichtlich, daß insbesondere die pädagogikgeschichtliche Forschung diesen integralen Interpretationsansatz verwenden kann. Die zuvor favorisierten Methoden einer Sozialgeschichte der Pädagogik, aber auch die Verbindung von psychologischen und pädagogischen Fragestellungen lassen sich in dem Konzept der Disziplinierungsforschung vereinigen. Die Pädagogikgeschichte hat von der Disziplinierungsforschung der deutschen Historiker, die insbesondere auf das Verhältnis des neuzeitlichen Konfessionalismus angewendet wurde, kaum Notiz genommen und statt dessen die Foucaultsche Disziplinierungstheorie bevorzugt. Es hätte nahegelegen, diese mit den zivilisationsgeschichtlichen Ansätzen von Norbert Elias und den religionssoziologischen Kategorien von Max Weber zu verbinden.78 Man
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nen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 179–197. Vgl. ders., Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Brigitta Oestreich. Berlin 1980, S. 367–379. Der Prozeß der Sozialdisziplinierung basiert auf dem Schrifttum des europäischen Neustoizismus. Vgl. dazu Oestreich, Gerhard, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, hg. und eingeleitet von Nicolette Mout, (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 39). Göttingen 1989. Neuerdings wird diese Forschungsrichtung verallgemeinernd als „Disziplinierungsforschung“ bezeichnet, die nicht nur auf die Kernbereiche Staat, Kirche, Justiz und Verwaltung bezogen wird, sondern auch und gerade auf gesellschaftliche Teilbereiche wie Ehe, Familie, Nachbarschaft, Zünfte bzw. Bruderschaften, aber auch auf Ehre, Geschlecht bzw. Erziehung. Es findet eine Begriffsdifferenzierung statt: Sozialdisziplinierung, soziale Kontrolle, Sozialregulierung, Zucht, Strafe, Policey etc. werden als ergänzende Termini der Forschung zu Texten von Politik, Recht, Philosophie, Theologie, Pädagogik, Bürokratie oder Militär benutzt. In England bezeichnet man diesen Forschungsgegenstand als „Regulation of Personal Morality“. Die ältere Forschung hat sich insbesondere mit der städtischen und staatlichen Armenfürsorge sowie der Schul- und Kirchenzucht beschäftigt. Insofern ist die Begriffsbildung von Oestreich zunehmend verallgemeinert worden, so daß sie nicht mehr nur im Rahmen der engeren Absolutismusforschung im Bezug auf Staatsbildungsprozesse benutzt wird. Vgl. hierzu: Schilling, Heinz (Hg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (Jus commune. Sonderheft 127). Frankfurt/M. 1999; Schilling, Heinz / Ehrenpreis, Stefan (Hg.), Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel. München / New York /Berlin 2003. Wir gebrauchen diesen Begriff im Sinne von Max Weber: Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, hg. v. Johannes Winckelmann. 2 Bde. München / Hamburg 1969. Hierzu
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könnte eine historische Intelligenzforschung verbinden mit einer historischen Sozialisationsforschung, aus der wiederum eine historische Mentalitätsforschung abgeleitet werden könnte, die ihrerseits als Fundament von Schul- und Erziehungsgeschichte zu fungieren hätte. Die moderne Anthropologieforschung zur Spätaufklärung wäre in dieses Konzept relativ einfach zu integrieren. Angewendet auf die Philanthropismusforschung wäre zu zeigen, daß die Philanthropen selbst bereits diese Integration vollziehen. Ein bislang in der Philanthropismusforschung wenig begangener Weg wird von Dietrich Benner und Herwart Kemper beschritten, wenn sie nach den Ursprüngen heutiger Reformpädagogik fragen und diese in der Aufklärungspädagogik lokalisieren.79 Nachdem die beiden vorbildlichen Erziehungskonzeptionen von Locke und Rousseau vorgestellt worden sind, untersuchen die beiden Autoren „Versuchsschulen zur Zeit der pädagogischen Aufklärung und des Neuhumanismus und die Preußische Bildungsreform“.80 Benner und Kemper interessiert die historische Dimension einer Reform von Pädagogik in den politischen Wechsellagen der Geschichte, wobei die methodische Blickführung bestimmt wird von den heutigen Problemen der Erziehungswissenschaften. Letztlich geht es um die „Kausalität pädagogischen Wirkens“ im Verhältnis einer allgemeinen Bildungstheorie im Spannungsfeld von „Mensch und Bürger“. Die immanente Problematik des Erzie-
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wären ergänzend die Anregungen von Edward Thompson zu übernehmen, der gezeigt hat, daß die Arbeitsverfassung der Frühmoderne abhängt von einer bestimmten Selbstinterpretation der am Arbeitsprozeß beteiligten Stände und Individuen. Vgl. Thomsen, Edward, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie: Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u.a. 1980. In der Geschichtswissenschaft hat man die Sozialisationsforschung auf die Interpretation der Kindheit innerhalb der Ständegesellschaft erfolgreich angewandt. Vgl. Schlumbohm, Jürgen, Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden. 1700–1850. München 1983, S. 213ff. („Kleine Leute in der Stadt – häusliche Zucht und Straßenkinderleben“). Vgl. hierzu Münch, Paul (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“. München 1984. Die institutionellen Voraussetzungen der schulischen Tugendvermittlung im 18. Jahrhundert sind dargestellt worden von Leschinsky, Achim / Roeder, Peter Martin, Schule im historischen Prozeß. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung. Stuttgart 1976. Die Bewußtseinsgeschichte pädagogischen Denkens im 18. Jahrhundert rekonstruiert Dreßen, Wolfgang, Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen / Deutschland. Frankfurt a.M. / Berlin u.a. 1982, S. 50ff. Vgl. Hager, Peter / Jedan, Dieter (Hg.), Staat und Erziehung in Aufklärungsphilosophie und Aufklärungszeit. Bochum 1993. Vgl. Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, hg. v. Dietrich Benner u. Herward Kemper. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, unter Mitwirkung von Gabriele Schulp-Hirsch. Weinheim und Basel 2000, S. 51ff. (der Dessauer Philanthropismus), S. 227ff. (Salzmann). Vgl. auch den Darstellungsband: dies., Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus. Weinheim und Basel 2001, S. 87ff. (Philanthropismus), S. 137ff. (Salzmann). So instruktiv diese Forschungen für den Vergleich heutiger Analysemethoden der Pädagogik mit jenen der Aufklärung sind, so problematisch ist diese Interpretationsform für die historische Deutung der Erziehungsquellen des 18. Jahrhunderts. Vgl. Benner / Kemper, Theorie und Geschichte, (wie Anm. 79), S. 85ff.
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her-Zögling-Verhältnisses muß neu definiert werden anläßlich der Institutionalisierung einer Reformschule außerhalb des Regelschulvollzugs. Basedow und die Gründung des Philanthropins in Dessau erscheinen als Ursprungsform aller modernen pädagogischen Reformbewegungen. Zunächst werden die Programmatik, die Institutionalisierung der philanthropischen Schulform, sodann die konkrete Erziehung, die Unterrichtsmethoden und die Curricula dargestellt. Die Wirkungsgeschichte dieses Erziehungskonzepts wird in Gestalt einer erziehungs-, bildungsund institutionstheoretischen Rekonstruktion so angelegt, daß die pädagogischen Alternativen als implizite Diskussionsebenen des Philanthropismus selbst erscheinen. Dadurch werden neue Gesichtspunkte in die Philanthropismusanalyse eingeführt. Einerseits lassen sich nunmehr die Einflüsse der Elternerwartungen als Teil des pädagogischen Programms der Philanthropen analysieren, andererseits wird das Basedowsche Modell in seinen Möglichkeiten und Grenzen bereits in der zeitgenössischen Diskussion erkennbar. Benner und Kemper sind fasziniert von der methodischen Tiefenschärfe und Themenbreite des Philanthropismus. Die Spannung zwischen gesellschaftsbezogenen Erziehungsnormen und einer autonomen Persönlichkeitstheorie läßt alle modernen Kontroversen über die Erziehungsziele hier in nuce bereits aufscheinen. Damit sind die Philanthropen nicht mehr aus der Perspektive von Neuhumanismus und Klassik in ihrer vermeintlichen Begrenzung auf Nützlichkeit kritisierbar, da sie selbst bereits die Stichworte für die spätere Kontroverse „Brauchbarkeit oder Vollkommenheit“ lieferten. Die Didaktik, der konkrete Unterrichtsprozeß, die Fächerkombination, die Mischung von allgemeinbildenden und berufsbildenden Erziehungszielen, aber auch die anthropologisch bestimmte Beobachtungsform der Zöglinge lassen eine Differenziertheit von Theorie und Praxis der Erziehung erkennen, die im 19. Jahrhundert der Spezialisierung innerhalb des Erziehungswesens zum Opfer fällt. Die beiden Autoren vermeiden durch ausführliche Zitate eine teleologische Betrachtungsweise der Aufklärungspädagogik, sie entdecken im Philanthropismus aus der Perspektive heutiger Pädagogiktheorie zahlreiche Frühformen gegenwärtiger erziehungspraktischer und pädagogiktheoretischer Fragestellungen. Basedow als Gründer des Dessauer Philanthropinums inszenierte diese Schule so öffentlichkeitswirksam, daß die heutige Schulgeschichtsschreibung diese erste „Laborschule“ als Urtypus der modernen Reformschulen betrachtet. Diese Einschätzung mag für die Schultheorie zutreffen, ebenso für die Theorie des LehrerSchüler-Verhältnisses bzw. für die Theorie der Modernisierung von Gesellschaften durch Bildung, sie verfehlt aber die angemessene Charakterisierung der Dessauer Schulpraxis. Vornehmlich die zweite Generation der Dessauer Schulreformer (Campe und Salzmann) legte die Grundlage für eine Anthropologie des Kindes, für die moderne Jugendliteratur und für eine Institutionalisierung einer Laborschule, innerhalb derer der Schulalltag wissenschaftlich reflektiert und zu einer pädagogischen Theorie verarbeitet wird. Im Zeitalter der Französischen Revolution verfolgte dieser Schulversuch durchaus politische Ziele, er geriet in die Auseinander-
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setzungen zwischen den entstehenden politischen Strömungen. Er mußte sein Staats-, Gesellschafts- und Verfassungsbild in gleicher Weise begründen wie seine Kompetenz für die Jugenderziehung. Entstanden in der Achsenzeit zwischen Vormoderne und Moderne, versteht sich der Dessauer Schulversuch als eine Anwendung der Aufklärungsprinzipien auf die Erziehung des Kindes und des Jugendlichen. Folgt man dieser Selbstdeutung, dann wird dieser Schulversuch zu messen sein am praktischen Erziehungserfolg. Das Ergebnis fällt enttäuschend aus, weil die Schülerfrequenzen niedrig waren (zeitweilig gab es mehr Lehrer als Schüler), weil die Ausweitung des Schulversuchs auf das gesamte anhaltinische Territorium nicht gelang, weil der Internatscharakter nur zur Aufnahme von Schülern von wohlhabenden Eltern führte und eine allgemeine Beschulung verhinderte. Die Theorie der Schulpraxis war konzeptionell gut überlegt, aber sie wurde von den Eleven nicht angenommen. Obwohl mit Basedow, Campe, Salzmann, Wolke und Neuendorf bahnbrechende Theoretiker der Wissensvermittlung in Dessau lehrten und den Schulalltag durch wissenschaftliche Begleitung vorbildlich organisierten, trat der Lernerfolg nicht ein. Die älteren Lehrer vertraten ein Disziplinierungskonzept, die jüngeren Lehrer ermunterten hingegen die Schüler zur Selbsttätigkeit und lehnten die Regulierung der Emotionen der Zöglinge ab. Trotz der beeindruckenden Kombination von beobachtender und experimenteller Erkenntnisgewinnung am Kinde, trotz der Thematisierung der psychischen Bedürfnisse der Eleven und deren Berücksichtigung bei der Emotions- und Geistesbildung, trotz des Prinzips der alternierenden Unterrichtspraxis zwischen Erfahrung und Theorie, zwischen anschauender und abstrakter Erkenntnis stellte sich keine positive Lernbereitschaft bei den Schülern und keine Wissenserweiterung im Unterricht ein. Die als Theorie der Unterrichtspraxis konzipierte Pädagogik verfehlte ihre Ziele, die Didaktik mit anthropologischer Begründung führte nicht zur ‚Bildung‘ und ‚Aufklärung‘ der Jugendlichen. Man kann die Gründe für die Diskrepanz zwischen innovativer Theoriebildung und dem Mißerfolg im schulischen Alltag des Dessauer Philanthropinums erst verstehen, wenn man die noch ausstehenden Forschungen zu folgenden Themenkreisen quellenbezogen durchführt: 1. Das gesamte Lehrpersonal des Philanthropinums müßte ermittelt, in seiner intellektuellen Sozialisation (Schule, Universität, berufliche Stationen) und seiner Tätigkeit am Philanthropinum, aber auch in anderen pädagogischen Institutionen erforscht werden. 2. Ein Abgleich zwischen der Theorie des Menschen, der Didaktik und der Psychologie und der tatsächlichen Unterrichtspraxis könnte auf Grund der zur Verfügung stehenden umfangreichen Quellenmaterialien erfolgen. Klassifikationen wie ‚Verwissenschaftlichung der Erziehungspraxis‘ müßten durch präzise Einzelanalysen belegt und begründet werden. Die Transformation von älteren Pädagogiktheorien in jüngere pädagogische Wissensbestände läßt sich nur rekonstruieren, wenn die wichtigsten innerpädagogischen Diskussionen und Kontroversen ab 1770 in umfassender Weise Berücksichtigung finden. Unge-
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klärt ist die Frage, ob sich die Philanthropen primär an den englischen Empirismus (Locke) bzw. den Rousseauismus anschließen oder aber an deutsche bzw. dänische Wissenstraditionen vor 1770.81 Die Wirkungsdauer und der Wirkungsbereich des Dessauer Schulversuchs sind bislang unerforscht. Entscheidend für die Rezeptionskraft dieser pädagogischen Bewegung sind zeitgleiche, konkurrierende Bewegungen (wie Pestalozzi und seine Anhänger) und Gegenbewegungen (wie Klassik, Neuhumanismus und Romantik). Die Leistungen der Philanthropen für die Entwicklung einer pädagogischen Anthropologie sowie deren Wirkungsformen sind bislang nur unzureichend erforscht. Gleiches gilt für die Anfänge einer wissenschaftlichen Schultheorie und deren Umsetzung in die Schulpraxis. Die Philanthropen organisierten, so die ältere Pädagogikforschung, die „Erziehung des Bürgers“. Bürgerlichkeit, Bürger und Bürgertum werden in der Forschung zumeist gleichgesetzt mit den Bürgertumskonzeptionen des 19. Jahrhunderts, die von der Spätaufklärung vermeintlich antizipiert worden seien. Diese Gleichsetzung ist irreführend, da die Aufklärung durchaus die ständischstädtischen Elemente mitreflektiert, die im 19. Jahrhundert aus dem Bürgerbegriff ausgeschieden werden. Die Bestimmung der Aufklärungspädagogik erfolgt in der Pädagogikgeschichte zumeist in Anlehnung an einen deskriptiven bzw. normativen Aufklärungsbegriff. Für einen Teil der Forschung ist die Aufklärung der Beginn der Moderne, für andere Forschungsrichtungen ist die Aufklärung Teil der Überwindung der alten Ständegesellschaft im Übergang zur Funktionsständegesellschaft, die nicht identisch ist mit den Rechts-, Ökonomie- und Lebensformen der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Die Schulgeschichtsschreibung sollte die mitteldeutsche Schullandschaft vergleichend untersuchen, dies gilt insbesondere für eine Analyse des Verhältnisses von Halleschem Pietismus und Dessauer Aufklärung. Dabei wird deutlich, wie erfolgreich die Schulorganisation, die Schülerrekrutierung und die Gestaltung des Schulalltags durch den Pietismus im Vergleich mit der Aufklärung war. Die bisherige Schulgeschichtsschreibung hat die pädagogische Aufklärung überschätzt und den Pietismus unterschätzt. Argumente aus dem preußischen Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts bestimmen z.T. bis heute die Beurteilung der Bildungsgeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Die Kontroversgeschichte zwischen den unterschiedlichen philanthropischen Erziehungsbestrebungen muß noch geschrieben werden. Hierfür sollten nicht
Vgl. hierzu Overhoff, Jürgen, Die Frühgeschichte des Philanthropismus (1715–1771). Konstitutionsbedingungen, Praxisfelder und Wirkung eines pädagogischen Reformprogramms im Zeitalter der Aufklärung (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 26). Tübingen 2004.
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ausschließlich die Selbstdeutungen (Programme) der Schulgründer, sondern auch der Funktionsstatus der Schule vor Ort Berücksichtigung finden, d.h. die Einzelschulen müssen in die jeweilige territoriale Schulgeschichte eingebettet werden. 9. Zwei unterschiedliche Deutungsformen der Bildungs-, Erziehungs- und Schulgeschichte bzw. Universitätsgeschichte sind bislang nur unzureichend verbunden worden. Die Historiker der Schulgeschichte im Zeitalter der Aufklärung arbeiten mit quantitativen Erhebungsverfahren, sie fragen nach der Alphabetisierung bzw. Beschulungsdichte „vor Ort“. Sie ersetzen die Theorie staatlicher Reformen im Erziehungswesen durch eine Erhebung der tatsächlich erfolgten Schulpraxis. Insbesondere die wegweisenden Studien von Wolfgang Neugebauer und Jens Bruning haben ältere Fehlurteile über die überschätzten Wirkungen staatlicher Reformen vor 1800 relativiert, sie haben gleichzeitig Fehlurteile über konfessionell begründete Schulbildungen korrigiert und die Erziehungsinstitutionen „vor Ort“ untersucht. Demgegenüber haben die Pädagogen die Modernität der Aufklärungspädagogik betont. Der Philanthropismus müsste in die allgemeine Schulgeschichte zur Zeit der Aufklärung integriert werden. 10. Diese neuen Themenstellungen könnten unser Bild von der vermeintlichen Modernität der Aufklärung und ihrer Erziehungsbestrebungen relativieren. Insbesondere die These, daß der Staat nach dem Siebenjährigen Krieg in den Territorien eine durchdringende Schulpolitik praktiziert habe, ist unzutreffend. Auch die Auffassung, daß der Protestantismus die herausragende Bildungsbewegung der frühen Neuzeit gewesen sei, die katholischen Territorien aber zurückgeblieben seien, ist eine Fehleinschätzung der bildungsgeschichtlichen Bedeutung beider Konfessionen. So sind die Josefinischen Schulreformen ungleich wirkungsmächtiger gewesen als die vergleichbaren Schulimpulse des preußischen Staates zwischen 1750 und 1800. Max Webers „Protestantische Ethik“ müsste in der Pädagogikgeschichte mit konkurrierenden Deutungsmustern konfrontiert und (notfalls) revidiert werden.
ERHARD HIRSCH (Halle)
„Das meiste neue pädagogische Licht ist von Dessau ausgegangen“ Zum 275. Geburtstag Basedows und 225. Gründungstag des Dessauer Philanthropins Die Freyheit zu denken, kann keine Inquisition und kein Tyrann einem Menschen nehmen; die Freyheit zu reden, zu schreiben und zu handeln, ist die einzige, welche uns die Majestäten und die mächtigen Versammlungen geben können. Braunschweig auf einer Reise zur Beförderung der Schulverbesserung und des Elementarwerks am 18. April 1771 Johann Bernhard Basedow Der ewige Friede ist gewis zu erwarten, wen die natur- und zwekmäsige Lehr- und Erzihkunst an den Kindern aller Stände ausgeübt wird. Christian Hinrich Wolke (Nachlaß)
Der Erziehungsoptimismus der Aufklärung in Äußerungen Kants: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit(1784) Vielleicht daß die Erziehung immer besser werden, und daß jede folgende Generation einen Schritt näher thun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Education steckt das große Geheimniss der Vollkommenheit der menschlichen Natur. Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn nun erst fängt man an, richtig zu urtheilen und deutlich einzusehen, was eigentlich zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospect zu einem künftigen glücklichen Menschengeschlechte. (1778)1
In seinem launigen Gedicht Diner zu Koblenz schildert Goethe 1774 eine der in jener Zeit üblichen Geniereisen, an der teilzunehmen ihm, als dem jugendlichen Erfolgsautor des Werther, vergönnt war. Er selbst sieht sich da als das Weltkind in der Mitten zwischen den beiden Propheten rechts und links. Der Prophete rechts war der bald durch seine Physiognomischen Fragmente weltberühmte Lavater – den 4. Band widmete er noch im gleichen Jahr dem Dessauer Fürstenpaar. Der linksgerichtete, um das gleich im modernen Parteienspektrum auszudeuten –, war Johann Bernhard Basedow, der dritte übrigens im Bunde mit den andern großen Aufklärern und Protagonisten des Deutschen Literaturfrühlings des Geburtsjahr1
Kant über Pädagogik, hg. v. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803, S. 9 (= Philosophische Bibliothek 50, 21898, S. 216). Die umfangreiche Literatur zum Thema siehe Specht, Reinhold / Ziegler, Günter, Bibliographie zur Geschichte von Anhalt (= Mitteldeutsche Forschungen 103, Bde. I–III), Köln / Weimar / Wien 1991 (Band I ist ein Faksimile-Druck von Specht 1930 und 1935). Der Basedow-Text von 1771 nach einem Autograph in der BasedowSammlung der Familie in Rudolstadt (Armin und Bernhard Basedow). Wolke: „Dem künftigen Stifter des ewigen Friedens“, Ms. Dresden e 166, Verschiedenes, auf einer geplanten Biographie des Fürsten Franz.
Erhard Hirsch
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gangs 1724: Klopstock und Kant. Mit dem wenig jüngeren 1729 geborenen Lessing war man sich über die kirchlichen Streitigkeiten mit dem gemeinsamen Gegner, dem Hauptpastor Melchior Goeze, in Hamburg persönlich bekannt geworden und nahe gekommen, auch in der Wertschätzung der Hinterlassenschaft des Hermann Samuel Reimarus – und Lessing sollte bald in seinen Freimaurergesprächen zum Propagandisten des Basedowschen Philanthropins werden. Beide, Lessing wie Basedow, waren froh, durch den Ruf an zwei aufgeklärte Fürstenhöfe, nach Wolfenhüttel bzw. nach Dessau, den üblen Querelen, bei denen sie sich auch nicht immer einig waren, in der „freien“ Reichsstadt Hamburg zu entkommen, Dabei müssen wir mit dem Zeitgenossen Gleim bestaunen, was es für die Aufklärer bedeutete, daß ein Feudalfürst und Oberster Bischof seines Landes „einen Basedow zu sich zu berief“.2 Denn worauf Franz sich einließ, wußte der vorurteilsfreie Mann schon: war doch in Basedows Methodenbuch von 1770 zu lesen, was der „grobe Rührlöffel“ in Wiederaufnahme von Argumentationen des Bauernkrieges zu Lehrzwecken (!) gereimt hatte: Siehst du Schlösser hoch und stark und schön; Denk an die, durch deren Kunst sie stehn: Könnten Fürsten ohne Bauren seyn? Ich denke nein. Sind nicht ohne Fürsten Bauren da? Ich denke Ja”3.
Jan Roß4 (1986) hat recht: ein Radikaler wurde in den öffentlichen Dienst berufen – wo gab es das noch einmal im damaligen Deutschland? Man hatte sich auf jener Reise getroffen, die Basedow auf Anraten des Fürsten Franz in die reicheren weil wirtschaftlich fortgeschritteneren Rheinlande unternahm, um Geldspenden für das beabsichtigte Philanthropin-Projekt einzuwerben, da die eigenen Kassen sich durch die Überschwemmungskatastrophen der Jahre 17705 und 1771 und die damit verbundenen deutschlandweiten Mißernten und 2
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Gleim an Basedow, Halberstadt 16.2.1772: Hirsch, Erhard, Progressive Leistungen [...] des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises in der Rezeption der aufgeklärten Zeitgenossen 1770–1815. Ein Beitrag zur Deutschen Ideologie im Zeitalter der Französischen Revolution, Diss. Halle 1969, S. 54 u. S. 183, Druckfassung: Hirsch, Erhard, Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen, Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 18), S. 74, 261; ders., Halberstadt und Dessau, in: Gleimhaus (Hg.), Festschrift zur 250. Wiederkehr der Geburtstage von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Magnus Gottfried Lichtwer. Beiträge zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Halberstadt 1969, S. 143. Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, Altona und Bremen 1770, S. 47. Historie der Vernunft, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 30.11.1986 (Nr. 48: Besprechung meines Buchs Dessau-Wörlitz – „Zierde und Inbegriff des 18. Jahrhunderts“, Leipzig / München 1985; 21987). Dazu u.a. in: Pforte, Johannes / Ross, Hartmut (Hg.), Der Dessau-Wörlitzer Kulturkreis, Wörlitz 1965, S. 95. Durch die noch nicht wieder geschlossenen Deiche drang das Sommerhochwasser 1771 erneut bis Oranienbaum vor (dort erinnert der Erbprinzenstein daran; ein weiteres Denkmal, der Proteusstein, mit der Mahnung, alles für den Schutz der Wälle zu tun, wurde nach dem Dammbruch 1799 auf einem der neun Schönitzer Hügel errichtet).
„Das meiste neue pädagogische Licht“
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Hungersnöte ziemlich geleert hatten. Die Rheinlande waren davon weniger betroffen. An seinem 50. Geburtstag, dem 11. September 1774,6 kam Basedow auf dieser Reise auch der Gedanke, seine Akademie, wie er sie Goethe gegenüber Mitte Juli noch genannt hatte,7 Philanthropin zu nennen, Stätte der Menschenfreundschaft wie der Menschenfreundlichkeit, was ihre Tendenz zum Lehrer-Schüler-Verhältnis im Vergleich zur bisherigen Pauk- und Prügelschule betraf – eine typisch aufklärerische Wortschöpfung, die die Nähe zu maurerischem Denken vermuten läßt. Die Wortprägung war freilich durch seine Vorstellung an Menschenfreunde (1768) vorgegeben. Freimaurertum ist ihm und dem Philanthropin auch stets nachgesagt worden, auch haben die Logen Basedows Projekte immer unterstützt und er mit ihnen kommuniziert; doch hat er auch wieder ausdrücklich betont, kein Maurer zu sein.8 Aber Lessings Empfehlung des Instituts findet sich schließlich doch wieder in dessen bereits erwähnten Freimaurergesprächen. Wie Lessing war die ganze Aufklärergesellschaft im großen Berlin auf das große Experiment gespannt; als Beförderer (Commissionaire) zählen die Viertheljährigen Nachrichten von Basedows Elementarwerke (6 Stücke 1771–1773 dazu: J. B. Basedows Vorstellung wegen des nun vollendeten Elementarwerks an mancherley Leser, vornehmlich an Pränumeranten und Subscribenten 1774) auf: Gillet, Sack, Spalding, Teller, Büsching, Dieterich, Sulzer, Mendelssohn. Bei der eifrigen Propaganda, die Basedow selbst in Szene setzte, seit sich der Moralphilosoph 1767 voll der Pädagogik verschrieb9 und der Popularphilosoph 6
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Der Streit, ob Basedow 1723 oder 1724 geboren wurde, klärt sich dadurch, daß er selbst den Einfall, seine geplante „Academie“ (so noch vor seiner Rheinreise: Vorschläge an das kundige Publicum zu einer Pädagogischen Privat-Academie in Dessau, Dessau 1774, datiert 24.6.; siehe auch die folgende Anm.) Philanthropinum zu nennen, auf seinen 50. Geburtstag in Neuwied datierte, sich in: Das in Dessau errichtete Philanthropinum, Dessau [Ende] 1774, S. 32 als 50jähriger bezeichnet und noch Wolke im Alter (Nachlaß in Dresden e 166: Dem Andenken lieber Freunde, guter Bekannter und merkwürdiger Personen gewidmet) sich an diese Namengebung im Rheinland am 11.9.1774 erinnerte. – Über das spätere Neuwieder Philanthropin, an dem in Dessau ausgebildete Lehrer involviert waren – vor allem Ecker und Johann Simon – siehe Werner Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied, Fulda 1991, S. 158–161. Siehe Hirsch, Erhard, „Anhaltdessaubiederkeit“, in: Donnert, Erich (Hg.), Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. 3 Bde., Weimar / Köln / Wien 1997, Bd. 2, S. 197– 232, hier S. 203. Dennoch weist Basedow den Gedanken, einer Maurerloge beizutreten, von sich: Pädagogische Unterhandlungen 1. Jg. (1777), S. 714, Anm.; siehe Dessau-Wörlitz-Beiträge IV (1990) = Zwischen Wörlitz und Mosigkau 36 (1992), S. 29. In Dessau-Wörlitz gab es keine Logen, da Vater Franz erklärt hatte: Menschenfreundliche Wirksamkeit bedürfe keines Schleiers und deshalb die Weimarer vom Mauern fernzuhalten suchte – was ihm aber auch mit der Rosenkreuzerei seines Freundes Friedrich Wilhelm II. von Preußen nicht gelang. Trotzdem wird Wörlitz immer wieder für die Freimaurerei bemüht: Gegen besseres Wissen will man den „Stein“ in Wörlitz partout zum Freimaurerfelsen erkiesen!? Wie Boie (siehe auch weiter unten, bei Anm. 53) Gleim bereits 1767 informiert: Hirsch, Halberstadt, (wie Anm. 2), S. 143. Es ist erstaunlich, daß Basedow seit seiner erfolgreichen Hauslehrertätigkeit 1752 in Berghorst beim Baron von Qualen und der zehn Jahre vor dem Émile Rousseaus im gleichen Sinne praktizierten Methodus inusitata (1752) und seiner Lehrtä-
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1768 seine Vorstellung an Menschenfreunde10 hatte erscheinen lassen, dem nun eine Flugschrift nach der andern folgte, bis dann 1774, drei Jahre nach seiner Berufung ins „pädagogische Dessau“, das Elementarwerk fertig vorlag, bei dieser Propaganda wurde das Philanthropin eine europaweit bekannte Angelegenheit, vom Tejo bis zur Newa, wie die institutseignen Verlautbarungen „posaunen“ – so die zahlreichen Kritiker. Tatsächlich kamen sowohl aus Lissabon wie aus Petersburg Schüler in die Schule der Menschenfreundschaft und nütz1ichen Kenntnisse, wie Wieland den Zweck der Anstalt im folgenden Jahr im Teutschen Merkur11 umreißt, der sich als deutscher Star-Aufklärer selbst mit dem Projekt einer Akademie trug, und im nächsten Jahr eröffnet Kant durch den Dessauer Anstoß seine pädagogischen Vorlesungen mit einem Kolleg über Basedows Methodenbuch. Unter Bezug auf Basedow fordert er 1777 eine Erziehungs„revolution“, da man sich mit einer bloßen -Reform nicht begnügen könne. Und die Zustimmung eines andern Philosophen, der viel mehr die kompromißbereiten deutschen Aufklärer repräsentiert, Christian Garve, charakterisiert Basedows Erziehungsunternehmen: die niederen Stände durch einen besseren Unterricht und edlere Übungen zu erheben, lohne die Unterschiede zu vernichten; die höheren und gelehrten von der Einbildung einer falschen Hoheit und Weisheit zu befreien und sie mit ihren übrigen Brüdern durch einen gleichen Hauptzweck ihrer beiderseitigen Erziehung genauer zu vereinigen.12
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tigkeit an der dänischen Ritterakademie Soroe sich in seinen größeren Werken (Praktische Philosophie für alle Stände 1758 und Philalethie 1764) nur peripher zur Pädagogik äußert. Aber bereits mit 23 Jahren äußert er ein erstes Mal seine pädagogischen Intentionen: Pinloche, Auguste / Rauschenfels, J., Geschichte des Philanthropinismus, Leipzig 1914, S. 30. Sie brachte ihm den Ruf nach Dessau ein, da Ernst Wolfgang Behrisch, eben aus Leipzig zum Erzieher des vorehelichen Sohns des Fürsten, Franz von Waldersee (1763–1825), berufen, den Fürsten Franz auf diese Schrift aufmerksam gemacht hatte. 1775 / II, S. 134–151: „An alle Menschenfreunde“; ferner: ebd., 1776 / I, S. 195f. Kant hielt viermal Vorlesungen über Pädagogik, bereits 1776/77 über Basedows Methodenbuch (Akademie-Ausgabe, Bd. 9 [1923], S. 569). In einem unedierten Konspekt ist auch ein Abschnitt über „Basedows Anstalt“ vorgesehen (Reicke, Rudolf, Kantiana, Königsberg 1860, S. 340f.). Grundtenor Kants (siehe Anm. 31): Nicht langsame Reform, sondern schnelle Erziehungs-Revolution, das Philanthropin sei hierzu die wichtigste „Experimentalschule“; Reicke, Rudolf, Kant und Basedow, in: Robert Prutz’ Deutsches Museum 12 (1862), S. 329–341; Kant über Pädagogik, hg. v. Theodor Vogt, Langensalza 31901 (Bibliothek pädagogischer Klassiker 13); Wagner, Kant und Basedow, in: Die deutsche Schule, Leipzig 1907; Schwarz, Walther, I. Kant als Pädagoge, Langensalza 1915 (Pädagogisches Magazin H. 607); Messer, August, Kant als Erzieher, ebd. 1924, H. 994, besonders S. 12f.; Rausch, Alfred, Kant als Pädagoge, Annaberg 1924; Fritsch, Theodor, Kant und die Philanthropisten, in: Pädagogische Studien 45 (1924), S. 129ff.; Marx, Heinrich, Die Entstehung und die Anfänge der pädagogischen Presse im deutschsprachigen Gebiet, Frankfurt/M., 1929, S. 93; Opitz, Georg, Kant und die Pädagogik, dargestellt an seinem Verhältnis zum Dessauer Philanthropin, in: Wissenschaftliche Hefte der Pädagogischen Hochschule Wolfgang Ratke Köthen, H. 1/1975, S. 63–70. Kant briefwechselte zur Pädagogik mit Wilhelm Crichton (Prediger in Königsberg, 1732–1805), mit Basedow, Campe und Wolke, warb Schüler in der Königsberger Zeitung für das Institut (es kamen Engländer wie Maclean und die drei Motherby’s und eine Vielzahl Livländer); andere fragten bei ihm an, wie Ewald Egidius Lübeck (der dann 2 Söhne schickte), oder, soweit Reicke 1862. noch nachkommen konnte, Christian Johann Kraus (Voigt, Johannes, Leben des Professors
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So wurde der Name der Dessauer Anstalt richtungweisend für die pädagogische Erneuerung; die seit Comenius und Ratichius betriebene bürgerliche Schulreform der Aufklärung, ja dieser Name, diese Wortprägung Basedows hat dem ganzen pädagogischen Jahrhundert ihren Stempel aufgeprägt und dieser Periode der Schulgeschichte die Epochen-Bezeichnung Philanthropismus gegeben. Zur Blütezeit der „Dessauer pädagogischen Kolonie“13 hatten sich laut einem Handbuch um 1790 nicht weniger als 63 Anstalten14 mit mehr oder weniger Berechtigung den Namen Philanthropin zugelegt. Der dänische Staatsmann und Schriftsteller Eggers ließ 1791 noch kurz vor dem inoffiziellen Ende des Philanthropins – offiziell ist es nie geschlossen worden15 – sein Reisejournal von 1780
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Christian Jakob Kraus, Königsberg 1819, S. 49ff.: der freut sich auf „Umgang mit Leuten aus allerlei Nationen“ in Dessau) und Zitterland (später Schulrat und Pfarrer in Nebran / Westpr.) sind von Kant zur Hospitation ausersehen. Kant kündigte in der Zeitung seine Vorlesungen über Pädagogik an, interessierte Hamann und Hippel, der wiederum in Briefen 1777 an Joh. George Scheffner dessen Bemühungen um das Philanthropin mit Spott begleitet (Hippels Sämtliche Werke, 14. Band); Hamann-Freund Johann Gottlieb Kreuzfeld von der altstädtischen Stadtschule, seit 1777 Prof. der Poesie, bereicherte das Lieder-Corpus des Philanthropins (Pädagogische Unterhandlungen / Lesebuch für die Jugend 2. Jg., S. 274–279; dazu 3. Jg., S. 431; 1. Jg., S. 782f.; 2. Jg., S. 331–333; 3. Jg., S. 283–286, S. 291–293). Kant schickte wirklich Lehramtskandidaten, die der Bankier Heinrich Friedrich Fahrenheid mit 2 000 Tlr. unterstützte, wie den Friedrich Wilhelm Regge (1749–78), von dessen eignem „gerechten Enthusiasmus fürs Philanthropin“ sein Brief an Motherby 12.12.1776 zeugt (gedruckt als Nr. 37 in: Aus dem Nachlasse des Dessauer Philanthropin, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 148 (1893), S. 542f. Regge starb während seiner Hospitation in Dessau. Tod und Beisetzung siehe Anh. HstA Dessau C 18b 34.1 fol. 345, ist aber auch ausführlich geschildert in: Ulrich, Johann Friedrich, Pragmatische Geschichte der vornehmsten katholischen und protestantischen Gymnasien und Schulen in Deutschland, Berlin 1780, I, S. 271ff. Basedow hielt die Trauerrede, Gesänge von Wilhelm Gabriel Steinacker vertont. Regge publizierte in den Pädagogischen Unterhandlungen 1. Jg. 1777, S. 710–721 u.ö. und machte in der Pädagogischen Sonntagsgesellschaft den Vorschlag, Bücher zu referieren. – Von „Erziehungsrevolution“ spricht auch Niemeyer, August Hermann, Grundsätze der Erziehung I (1801), S. 28, und Wolke zitiert ihn in: Anweisung für Mütter und Kinderlehrer, Leipzig 1805, S. 330, nachdem er selbst schon in den Ephemeriden der Menschheit 1784 / I, S. 359) über die „Gährung und Revolution“ räsonierte, die das Philanthropin in den Köpfen bewirkt habe. – Garve ist zitiert nach: Elementarwerk, hg. v. Theodor Fritsch, Leipzig 1908, Bd. II, S. 547ff. Röckl, Joseph, Pädagogische Reise durch Deutschland. Veranlaßt auf allerhöchsten Befehl der bayrischen Regierung. Im Jahre 1805, Dillingen 1808, S. 243. Es gab nach Grellmann, Heinrich Michael Gottfried, Staatskunde von Teutschland im Grundrisse, Göttingen 1790, Bd. I, S. 113 allein in Deutschland 63 Philanthropine, die oft in ihrer Dürftigkeit den Spott der Zeitgenossen herausforderten: „In Hamburg sieht man Schilde über den Hausthüren, auf welchen mit großen Buchstaben geschrieben steht: Allhier ist ein Philanthropinum“; vgl. dazu Gutsmuths im Braunschweigischen Journal 1791, S. 225. Auf diese Statistik nehmen Bezug: Spazier 1786, (wie Anm. 37), S. 21, und Matthisson, Erinnerungen I, Zürich 1810, S. 312. Bezeichnend, daß noch 1810 die assimilationswilligen Juden in Frankfurt/M. dort ihre berühmte Schule nach dem inzwischen so diffamierten Philanthropin nennen, als der Name in Dessau längst abgelegt und die berühmte Anstalt sogar bereits vor 10 Jahren mehr oder weniger eingezogen worden war. Franz wollte den legendären Ruf des „pädagogischen Dessau“ nicht beeinträchtigen durch eine offizielle Schließung, das berühmte „Dessauische Erziehungsinstitut“ als Fehlschlag – so ließ er es außerhalb des Gebäudes (Dietrich-Palais), das 1793 die Amalienstiftung aufnahm, durch die Professoren Feder und Olivier in einzelnen Pensionen in den Hintergebäuden des Kleinen
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drucken und meint, der Name bestünde zurecht, da von hier die Verbreitung der Menschenliebe ausgehe: Zöglinge aller Religionen, Klassen und Nationen fänden sich hier.16 „Denn“, schreibt Lenz 1787, Erziehung und Menschenliebe sollte in dieser philanthropinischen Anstalt immer einer der Hauptaugenmerke sein; man dürfe hoffen, daß die Zöglinge dies auch in all ihre Heimatländer tragen [...] Von Dessau aus verbreitete sich der Eifer und die Thätigkeit, das öffentliche und häusliche Erziehungs- und Schulwesen zu verbessern, über Deutschland und weiter [...] kurz das meiste neue pädagogische Licht ist von Dessau ausgegangen.17
Der Name ward ein Symbol der Zeit, gewann seine Bedeutung trotz der zahlreichen Gegner, die sich zuerst aus der Zahl der klerikalen Reaktion und den Kritikern der Basedowschen Heterodoxie, später aus den Neuhumanisten18 rekrutierten, die sich zunächst damit begnügten, Basedow so wenig Griechisch-Kenntnisse zuzugestehen, daß er das Philanthropin nie mit -th- geschrieben habe19 (völlig aus der Luft gegriffen. Wenn das -h-fehlt, ist es dem Setzer anzulasten, Basedow beherrschte die alten Sprachen natürlich hervorragend). Und schon im Jahre 1807 versteigen sich die Neuhumanisten dann sogar zu der Diffamierung, die Philan-
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Schlosses auf dem Kleinen Markt weiterführen, versuchte sogar für das Fach Kriegswissenschaft (um künftige Offiziere anzulocken) den ihm bekannten badischen Offizier von Troxel zu gewinnen Er gab eine entsprechende Verlautbarung in die Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 26.1, Intelligenzblatt No. 44, S. 388–390, und wies noch Walkhoff für seinen Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift 1797 an, entsprechend zu schreiben – vier Jahre nach dem eigentlichen Ende des Instituts kein Wort davon, statt die Auflösung zuzugeben, wird es als weiter existent deklariert. Bekanntester Schüler des Feder’schen Rest-Philanthropins ist 1795/96 Fürst Pückler-Muskau gewesen. (Hirsch, Diss. 1969, wie Anm. 2, S. 223 bzw. Druckfassung 2003, wie Anm. 2, S. 211f.). Eggers, Christian Ulrich Detlef von, Briefe über eine Reise nach Dessau im Jahre 1780, in: Deutsches Magazin (Hamburg) 1791, S. 127–160; S. 265–288, hier S. 280. Lenz, Christian Ludwig [1760–1833], Ueber das Fürstliche Erziehungsinstitut zu Dessau und besonders den gegenwärtigen Zustand desselben, in: Ephemeriden der Menschheit 1786 II, S. 465–496, dazu: Anhang des Herausgebers (Wilhelm Gottlieb Becker) S. 496–506 (auch als Separatum), Rezensionen dazu in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anhang zum 53. bis 86. Band, hier Bd. III, S. 1256 und Gothaische gelehrte Zeitungen 1787 / II, S. 847. Lenz wird als Lehrer in Schnepfenthal, Dessavicae matris pulchrae filia pulchrior, lebenslang nicht müde, Basedow (als dessen „Amanuensis“ auch er viel gelitten), das Philanthropin und die in Dessau wiederentstandene Gymnastik zu preisen. Niethammer, Friedrich Immanuel, Der Streit des Philanthropinismus und Neuhumanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unsrer Zeit, Jena 1808. Ausgerechnet der Naturwissenschaftler Vieth muß sich 1826 zur Richtigstellung gegen diese unberechtigten Hiebe des Neuhumanismus im Allg. Anzeiger der Deutschen 1826, S. 550–553 und in der Allg. Schulzeitung 1826, S. 309 aufraffen, siehe Krüger, Gustaf, Zur Erinnerung an Gerhard Ulrich Anton Vieth, Dessau 1885, S. 50ff. Dieser Legende ist aber auch der dem Dessau-Wörlitzer Humanismus doch so wohlgesonnene Jean Paul aufgelaufen mit seinem Hieb gegen den „ungriechischen Basedow“: Brief an Karl Reinhold 5.11.1808, Akademie-Ausgabe III 5, S. 244 und noch einmal 1817 mit seinem „Philanthropisten-Wäldchen, wie einmal ein kleines bei Dessau zu Basedows Zeiten hieß, der es mit einem Theta anstatt eines Tau schreiben sollen“: Akademie-Ausgabe I 17, S. 432.
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thropisten erzögen zur Bestialität!20 Bis schließlich der Name auch politisch ganz verdächtig21 wurde und man ihn mied oder sich gar distanzierte. Dagegen sollte sich Basedows Prophetie aus dem Jahre 1775 bewahrheiten: „Stet ruat Philanthropinum Dessaviense – res philanthropica tamen et paedagogia non interit“.22 Es stehe oder falle das Dessauer Philanthropin – die philanthropinische Angelegenheit jedoch und die Pädagogik geht nicht unter. Mit dem programmatisch gewählten Namen wandelte sich tatsächlich die Anthropologie des Aufklärungszeitalters. Normative Zielsetzung in der Läuterungsdebatte des Menschengeschlechts korrespondierte mit der Ausbildung des Menschen zum selbstbewußten Individuum einerseits, zum nützlichen Mitglied der aufgeklärten Gesellschaft andrerseits. 20
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Ernst August Evers, Über die Schulbildung zur Bestialität, Programm Aarau 1807 [zur Eröffnung des neuen Lehrkurses in der Kantonsschule; Evers war ein Schüler Friedrich August Wolfs in Halle]; nachgedruckt in: Dokumente des Neuhumanismus I. Kleine pädagogische Texte, hg. v. Elisabeth Blochmann u.a., H. 17, Berlin / Langensalza / Leipzig o.J., S. 46ff. Dazu: Ahrbeck-Wothge, Rosemarie, Vaterland und Weltbürgertum im Philanthropismus, in: Philanthropismus und Dessauer Aufklärung. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Halle 1970/3 (A 8), S. 81. Zuerst bereits durch Johann Georg Schlosser (Goethes Schwager, den Basedow im Philanthropischen Archiv, 1. St., S. 68, noch unter vielen andern Aufklärern als Mitarbeiter erwünscht hatte): Hrn. Hofrath Schlossers Schreiben an Hrn. Rathschreiber Iselin über die Philanthropinen, in: Ephemeriden der Menschheit 1776 / I, S. 24–41 (hier S. 37) [auch in Schlossers Kleinen Schriften, Bd. I, Basel 1779, S. 1–114, hier S. 16; auch in: Göring, Hugo, Schlosser an Iselin, Pädagogische Schriften, Langensalza 1882]: „so haben zehn eurer Jünglinge sich im ersten Jahr (nachdem sie in Dienst gegangen) sich eine Kugel vor den Kopf geschossen, zehen sind gerädert, und die weichsten haben sich verschlossen in ihren Familien“ (Iselins Entgegnung ebd., Bd. I, S. 227–241, hier S. 236); Rezension in: Allg. Deutsche Bibliothek 29 (1776), 2. St., S. 545ff. und Anhang zum 25.–36. Bd., S. 2047f. Entgegnung des Philanthropins in: Pädagogische Unterhandlungen 1. Jg. (1777), S. 948. Vgl. Wenk, Woldemar, Deutschland vor 100 Jahren, Bd. 2, Leipzig 1890, S. 148: „denn daß diese Philanthropinen, die Schöpfungen eines Basedows und seiner Freunde, nicht geringes zur Ausbildung einer revolutionslüsternen Sinnesweise in der Jugend gethan hätten, sahen auch gemäßigtere Leute als Aloys Hofmann oder Ritter von Zimmermann für unbestritten an“, er zitiert dann Schlosser und Ueber die politischen Angelegenheiten Frankreichs in Briefen an Herrn Educationsrath und Buchhänndler Campe, in: Wiener Zeitschrift I, S. 54 und Epstein, Klaus, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1973, S. 53, 58, 99ff. – Wie man „Dessau“ damals für allen Fortschritt im Denken und Handeln setzte (nach dem bekannten Wort des Turnvater Jahn: „Er war ein Dessauer und kein Schweriner [...]“), konnte es auch zum Verruf dienen, wie Trapp (Versuch einer Pädagogik, 1780, S. 30) es von Semler / Schütz’ Intrigen gegen ihn berichtet: immer wieder würde Semler über Dessau schimpfen und warnen: „Das ist ein Dessauer, hütet Euch vor ihm: Das ist Dessauisch, was er macht, laßt es nicht zu!“ Im übrigen war der Neologe Semler durchaus „dessauisch“ gesinnt, siehe Aufklärung und Erneuerung, (wie Anm. 27), S. 348f. Grundlegend zur Genese und für das geistige Umfeld der philanthropistischen Revolution: Mühlpfordt, Günter, Gelehrtenrepublik Leipzig, in: Martens, Wolfgang (Hg.), Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 17), Heidelberg 1990, S. 53–59. Brief an Iselin, Dessau 11.10.1775, gedruckt in: J. B. Basedow’s Ausgewählte Schriften, hg. v. Hugo Göring, Bad Langensalza 1880, S. 500. Der Gedanke auch in: Philanthropisches Archiv, 1. Stück, S. 107: „Es komme bald um; es wachs und leb ewig: vergessen werden nicht die, welche der Menschheit Adel sind und davon hören“.
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Das wird schon von Zeitgenossen auch kritisch gesehen, z.B. in der angeblichen schablonenhaft geratenen Bildung besonders der Dessauer Weiblichkeit.23 Und die angebliche Erziehung zum Geniewesen führt im Institut selbst tatsächlich zur Spaltung der Lehrerschaft24 und beinahe frühzeitig zur Auflösung des mit so heißen Erwartungen verfolgten Jahrhundert-Experiments. Es ist ein freiheitlicher Hauch aus diesem jugendlich gebliebenen Aufklärerzentrum in die Welt ausgegangen, der nicht nur die Turnerschaft, sondern auch die Romantiker mit ihrer Wanderlust beseelt hat und auch noch die Jungdeutschen inspirierte, wie es auch viele Schüler ausgebildet hatte, die in den Befreiungskriegen als hochchargierte Offiziere und Generäle in den Armeen Kutusows und Blüchers die Stätte ihrer Jugendfreuden wiedersahen, als Anhalt-Dessau als erstes linkselbisches Land aus der erzwungenen Napoleon-Koalition wieder ausschied.25 Von Anbeginn seines pädagogischen Bemühens hatte der bekannte Hamburger Popularphilosoph die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf sich gezogen. Allzu lautstark verkündete er nun die neuere Pädagogik, und sein ständiges Geldsuchen, seine ständigen Spendenaufrufe für ein zu gründendes Institut wurden ihm als Projektemacherei verunglimpft. Es stand schlecht um das Erziehungswesen. Die Schulen waren noch immer „Häuser des Schreckens“ und Folterkammern des Geistes, wie Basedows Vorgänger Comenius sie vier Generationen zuvor genannt hatte. „Der Schulstaub liegt seit Jahrhunderten“, wiederholt Basedow sich selbst mehrmals. Dem hält er seine Dreiheit Natur – Schule – Leben26 entgegen: Schon 23
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Seinem Philanthropin wollte Basedow sehr bald ein Catharineum benanntes Philanthropin für Mädchen folgen lassen, wozu es so wenig wie zu einem Lehrerinstitut oder gar den „großen Schulen für den gemeinen Haufen“ gekommen ist, an den er wohl gedacht hat: Zu beidem siehe Philanthropisches Archiv, 2. Stück, S. 47–50 bzw. S. 50–52. Das Schullehrerseminar richtete der Fürst in Absprache mit Rochow 1779 ohne seine streitsüchtigen Philanthropinlehrer ein (Hirsch, E., Rochow, Basedow und Franz von Dessau als Wegbereiter neuer Pädagogik, in: Schmitt, Hanno / Tosch, Frank (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens, Berlin 2001, S. 107–117), und erst der Vollender der Dessauer Schulreform, Carl Gottfried Neuendorf (siehe unten) richtete nach der Hauptschule 1785 auch eine solche 1786 für die Mädchen ein, „Töchterschule“ genannt: Goethes Schwiegertochter Ottilie von Pogwisch, die aus Dessau stammte, schreibt 1816 von einem Besuch in ihrer Heimat über die Dessauer Mädchen: „sie haben alle fast einen Zuschnitt [...], weshalb sie hier [in Weimar] recht gut gefallen würden [...] Sie entsprechen beinah dem Ideal der Mehrzahl der Männer“ (Schriften der Goethe-Gesellschaft 27/1912, S. 287): Ein größeres Lob konnte sie den Erziehungsmaximen der Aufklärung kaum aussprechen. Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1800, in: Dessau-Wörlitz-Beiträge VI (1992, = Zwischen Wörlitz und Mosigkau 44, Dessau 1995), S. 2–109 (siehe Anm. 60). Einige werden am Ende noch vorgeführt (Anm. 94ff.). Schulstaub: Basedow, Etwas zu lesen [...], Dessau 1775, S. 11; ders., Das in Dessau errichtete Philanthropinum, Dessau 1774, S. IX–XI.: „die durch Striemen eingebläuten Worte eines Gesandten Gottes [...] Das Gewölb schallt täglich wieder vom Geschrei der Geschlagenen. [...] zum Schrecken der zarten Knaben, du Donatus oder Grammatikus im Dornengewand. In den Klassen der Zarten seid ihr Ungeheuer. [...] Natur! Schule! Leben! Ist Freundschaft unter diesen dreien [...]“, siehe das volle Zitat am Ende dieses Beitrags. – Zur Projektemacherei der Zeit siehe Göring, (wie Anm. 22), S. CIV.
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im Agathocrator läßt er den Informator die Wirkung einer Luftpumpe erklären und hat im Hintergrund ein Regal mit mathematischen Körper-Modellen, Himmels- und Erdglobus stehen, um die Modernität seines Unterrichtsanliegens ad oculos zu demonstrieren. Seit Luthers Eingreifen in die Volksschulbildung und Melanchthons Bildungsprogrammen hatte sich nicht viel ereignet, Comenius und Ratke waren in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges mit der bürgerlichen Schulreform nicht zum Zuge gekommen. Der scholastisch anmutende Schulbetrieb beschränkte sich für die unteren Klassen, sofern sie überhaupt eine Schule besuchen konnten, auf elementares Rechnen, Lesen- und Schreibenlernen und Katechismus-Unterricht, die dem frühkapitalistischen Entwicklungsstand der Gesellschaft selbst zu Luthers Zeiten bereits nicht mehr genügen konnten. So hatten einige bedeutende Handelszentren und Reichsstädte wie Straßburg mit Johannes Sturm oder Augsburg mit Hieronymus Wolf versucht, die Diskrepanz zwischen dem Unwissen der proletarischen Masse und den Anforderungen des modernen bürgerlichen Lebens an Handwerk und Manufaktur zu überwinden. Dennoch wurde der widersprüchliche Zustand verewigt und erhalten durch die Stagnation, und die hoffnungsvollen Ansätze zur Zeit der frühbürgerlichen Revolution und Reformation wurden in den Glaubenskriegen zunichte gemacht. So scheiterte der großangelegte Versuch des Ratichius, den er auf dem Reichstag zu Frankfurt 1612 bei der Wahl Kaiser Matthias’ in seinem berühmten Memorial mit großer Schaustellung überreichte. Alle Forderungen Basedows sind hier bereits enthalten: Die Benutzung der Muttersprache, eine schnelle Überwindung der Hürde des Sprachenlernens, nicht zuletzt durch die Anschaulichkeit und die Vorweisung der Objekte, ein Weg, den auch Comenius mit seinem berühmten Orbis pictus beschritt und der ebenfalls von Basedow mit seinem Elementarwerk aufgegriffen wurde. Methodisch und erkenntnistheoretisch charakterisiert sich Ratke durch die Formulierung: „Alles durch Erfahrung und stückliche Untersuchung“. Schon seine Schulreform an Haupt und Gliedern zweckte auf eine allgemeine Bildung aller Volksschichten einschließlich der weiblichen Jugend ab. Die in der Schule vermittelten Kenntnisse sollten im späteren Leben verwertbar sein; er fordert naturgemäße Unterrichtsmethoden. Ratkes Versuch zur Realisierung seiner Ideen in einem von einem fortschrittlich denkenden Fürsten regierten Duodezfürstentum, in Anhalt-Köthen, scheiterte an dem dortigen Klerus, der den rationalen Geist seines ,Realismus‘ nicht gutheißen konnte und entsprechend den Fürsten Ludwig beeinflußte. Nicht besser ging es ihm hierauf in der großen bürgerlich geprägten Stadt Magdeburg, wie er schon zuvor in Basel gescheitert war. Nach dieser kurzen Andeutung von Ratkes Lebensweg wird deutlich, daß Basedow sehr wohl wußte, worauf er sich mit der Wiederaufnahme der Schulreform einließ, und in allen Stücken ist Ratke sein Vorgänger, auch in der Tonart seiner Propaganda. Das führt bis zu einer lockereren Schulzucht, die von den Philanthro-
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pisten schon in Dessau mit Schulsport bereichert wird. All das bringt ihnen aber von den Gegnern den Vorwurf des Spielens oder Tändelns und somit Zeitverspielens ein. Die neue Sprachméthodus des Ratichius ist auch eines der Hauptprobleme des Comenius und ist noch bei Basedow und vor allem in Wolkes Schulschriften und der Pasiphrasie zu finden. Schulmänner des alten Schlages, die Klotze und Krebsiusse, waren schnell mit dem Vorwurf der Latein-Vernachlässigung zur Stelle, wenn Basedow selbst sie als alte Prügler verreißt oder einer seiner Jünger, Ernst Christian Trapp, das Sprachenerlernen für das größte aller Übel erklärt und von den Universitätskollegen als Professor in Halle schnell zur Aufgabe seines Amtes gebracht wird,27 des ersten Lehrstuhls für Pädagogik, den der dem Philanthropin gewogene Minister v. Zedlitz 1779 eingerichtet hatte und mit seiner Sympathie fürs Philanthropin die bösen Absichten seines Königs gegen DessauWörlitz unterlief. Der durchschlagende Erfolg der Basedowschen Schriften – und das trotz seines Verrufs durch die vorausgegangene Periode der „Heterodoxie“ –, die Einleitung des „Pädagogischen Jahrhunderts“ durch diesen Mann, der „zuerst das Eis gebrochen und Deutschland aus seinem pädagogischen Schlummer geweckt“, um zeitgenössische Begriffe und Wendungen, vor allem Joachim Heinrich Campes28 (Abb. 6), zu gebrauchen, beruht also nicht in einer Neuheit seiner reformerischen Gedanken, sondern zeigt nur, wie sehr die bürgerliche Schulreform einem seit langem dringend empfundenen Bedürfnis entsprach. In manchem blieb Basedow mit seinem Elementarwerk hinter seinen Vorgängern, zu denen auch August Hermann Francke und seine berühmten Stiftungen zu zählen sind, zurück, und hier setzt auch zu Recht u.a. die Goethesche Kritik in dem sonst grotesk verzerrten Basedow-Bild im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit an. Denn auf methodischem Gebiet war ihm der systematischere Denker und Weltmann Comenius überlegen. Auch hatte das 18. Jahrhundert wohl bedeutendere aufgeklärte Philosophen aufzuweisen als Basedow. Aber der Ernst, mit dem der Schüler Reimarus’ gegen die Orthodoxie und die gesellschaftlichen Mißstände in seinen popularphilosophischen Schriften zu Felde gezogen war, hatte ihm doch im protestantischen Norden unter den Aufklärern einen großen Kreis von Anhängern gewonnen, die ihn 27
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Jerouschek, Günter / Sames, Arno (Hg.), Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806), Hanau und Halle 1994, S. 349. (Der ja auch viel unter Basedow zu leiden hatte, so daß er Dessau fluchtartig verließ und auch Vater Franz, der ihm bis Hamburg nachfuhr, ihn nicht zur Rückkehr bewegen konnte) In: Braunschweigisches Journal 1790 / II, S. 501: An Basedow’s Grabe („Du sätest mir, [...] Und früh und spat Pflegt ich der Saat Und sie gedieh [...] Und reift die Saat: So sey sie dein; Dort oben Dein, Wo wildes Schrein Um Schul-Latein Und Ketzerein Und alle Fehd’ ein Ende hat“) und ebd., 1791 / III, S. 346ff.; 1791 / II, S. 6 (Basedowianer und Vernunft-Pädagoge seien dasselbe) u.ö. Und noch in einem Brief an Wieland 20.2.1801 stellt er Basedow neben Luther und Rousseau (Leyser, Jakob, Joachim Heinrich Campe, Bd. II, Braunschweig 1877, S. 105). Mit Stolz führte Campe lebenslang seinen Dessauischen Titel Edukationsrat, um den sich andre Pädagogen zum Renommée ihrer Anstalten bei Vater Franz bemühten.
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sogar zu einem „Glaubenshelden“ hochstilisierten: Basedow war unbewußt als Schüler Reimarus’ der Verbündete Lessings geworden, als dieser die Fragmente eines Ungenannten, eben des Reimarus, veröffentlichte; er war der offene Mitstreiter Lessings gegen den Hamburger Hauptpastor Melchior Goeze, dem auch er tüchtig zusetzte, aber freilich durch den bornierten Haß der gesamten Hamburger Orthodoxie nur dadurch der obrigkeitlichen Strafe entzogen war, daß er ins damals noch dänische Altona auswich. Er berichtet selbst ausführlich und eindringlich in der Hauptprobe der Zeiten (1767) und andern Flugschriften über die Machenschaften und Schikanen der Hamburger Orthodoxen gegen ihn und sein aufgeklärtes Wirken. Freilich war er dann auch in Dänemark als Professor an der Ritter-Akademie Soroe seines Amtes enthoben worden. Man hat oft behauptet, daß Basedow sich auf die Pädagogik geworfen hätte, nachdem ihm die Kanzel und der Lehrstuhl der Philosophie durch sein Auftreten unmöglich gemacht worden waren. Dies ist nur bedingt richtig: Als konsequenter Aufklärer mußte er bei der Unabänderlichkeit der gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit auf die Pädagogik als die erste Möglichkeit einer schrittweisen Änderung des Bewußtseins kommen, wie alle Aufklärer den Weg dorthin gefunden haben. Hieraus erklärt sich auch der Erziehungsoptimismus der Aufklärung und die Überschätzung der Möglichkeiten der Pädagogik für die Verbesserung des Menschengeschlechts, der sie zu der Utopie geführt hat, durch Läuterung des Menschengeschlechts die gesellschaftlichen Verhältnisse „vernünftiger“ gestalten zu können. Diese Menschenbesserung mußte nach ihrer Meinung von oben mit den Fürsten beginnen. Genau diesen Weg sollte auch Basedow mit seinem Agathocrator (Leipzig 1771) beschreiten, den er denn auch Joseph II. und Katharina II. gewidmet hat, von denen er dann finanzielle Unterstützung erhielt; daß er das Mädchen-Philanthropin Catharineum nennen wollte, hörten wir schon, auch daß es zu dessen Gründung nie kommen sollte. Ebenso wenig schuf der hitzige und oft übereilte Reformer Basedow Schulen für den „großen Haufen“, den er durchaus nicht vergessen hatte, in seine Überlegungen einzubeziehen. Doch hier vollendeten die besonneneren „Schulverbesserer“, Vater Franz selbst durch die Gründung des Lehrerseminars 1779 und sein „Schulminister“, dem er seine Intentionen voll überlassen konnte, Carl Gottfried Neuendorf (1750–1798; Abb. 4) mit der Dessauischen Schulreform 1785/8729 die oft überspannten Entwürfe des Ekstatikers Basedow. Aber was das Philanthropin an revolutionären Elementen enthielt und die ihm innewohnenden revolutionären Potenzen verdankte es nicht zuletzt dem philosophischen Werk seines Begründers. Vergessen wir nicht die begeisterte Stellung-
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Schöler, Walter, Der fortschrittliche Einfluß des Philanthropismus auf das niedere Schulwesen im Fürstentum Anhalt-Dessau 1785–1800 (Diss. Greifswald), Diskussionbeiträge zu Fragen der Pädagogik H. 7, Berlin 1957; ders., Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts im 17. bis 19. Jahrhundert, Berlin 1970.
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nahme fast aller Philanthropisten und vor allem Campes zur Französischen Revolution; und ein Lehrer des Philanthropins, Johann Friedrich Simon leitete den Tuileriensturm und saß später im Schulministerium Condorcets. Es ist das Verdienst der allzu früh von uns gegangenen Rosemarie Ahrbeck-Wothge (1925–81), durch gründliche Analyse des umfangreichen philosophischen Werks Basedows die innere Einheit seines Lebenswerks wiederhergestellt zu haben, indem sie das bedeutende pädagogische Werk mit seiner noch bedeutenderen Ausstrahlung auf das philosophische Werk seines Schöpfers zurückgeführt und aus ihm heraus erklärt hat. Ich kann mich hier auf das Fazit ihrer schon eine Generation zurückliegenden Forschungsergebnisse30 beziehen und fasse daraus zusammen: Basedows der Weltbürgerschaft unterbreitete Vorschläge betreffen im wesentlichen das pädagogische Gebiet in der Forderung nach der Verbindung von bürgerlich-sittlicher Erziehung mit einer bereits bürgerlich-demokratisch orientierten Allgemeinbildung, die der beruflichen Spezialisierung voraufgehen und mit effektiven Methoden ein modernes Sachwissen zu gesellschaftlicher Nützlichkeit vermitteln soll. Bürgerlich-sittliche Erziehung und bürgerlich-demokratische Allgemeinbildung antizipieren bereits die Bedürfnisse einer künftig bürgerlichen Gesellschaft. Seine den Menschen bessern wollende Erziehungsphilosophie gründet er auf Erfahrung und Moral, auf Erziehung zur bürgerlichen Tugend, die er noch im alten Wortsinne versteht (von ,taugen‘), tauglich zu werden für die Erfordernisse des Tages und somit der Gesellschaft: Sie ist Erziehung zur Gemeinnützlichkeit, einer der anthropologischen Hauptforderungen aufgeklärter Publizistik. Hier ist sein Menschenbild begründet, und in diesem gleichgerichteten Streben gewinnt er sogar den Meister der hohen philosophischen Schule seiner Zeit, Immanuel Kant zu seinem Verbündeten und Propagator. Kant erklärt das Dessauer Institut zur „ersten Experimentalschule“,31 die es zur Menschenverbesserung gegeben habe, und außer den schon 30
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Vor allem ihre Aufsätze in: Philanthropismus und Dessauer Aufklärung, siehe Anm. 20, wo der eine über Vaterland und Weltbürgertum (S. 81–99) schon genannt ist; ebd.: Erfahrung und Sittlichkeit in J. B. Basedows Erziehungsphilosophie, S: 7–54 [enthält S. 53f. ein fast vollständiges, über Göring und Pinloche hinausgehendes Schriftenverzeichnis Basedows]; Die Erziehung zur allseitig entwickelten Persönlichkeit als Zentrum von J. B. Basedows Pädagogik, S. 55–80. – Noch immer nutzbar der kaiserzeitliche Forschungsbericht von Hermann Lorenz, Entwicklung und Bedeutung der Pädagogik J. B. Basedows im Lichte neuerer Forschung, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 148 (1893), S. 113–122, 161–171, 273–282, 352–359, 405–414. Akademie-Ausgabe, Bd. 10 (1923), S. 451 (Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Rosenkranz u. Friedrich Wilhelm Schubert, Bd. 9 [1838], S. 381): „Man bildet sich zwar insgemein ein, daß bei der Erziehung Experimente nicht nöthig wären, und daß man schon aus der Vernunft urtheilen könne, ob etwas gut oder nicht gut sein werde. Man irrt hierin aber sehr, [...] da es auf Experimente ankommt, kein Menschenalter einen völligen Erziehungsplan darstellen kann. Die einzige Experimentalschule, die hier gewissermaßen den Anfang machte, die Bahn zu brechen, war das dessauische Institut. Man muß ihm diesen Ruhm lassen ungeachtet der vielen Fehler, die man ihm zum Vorwurf machen könnte; Fehler, die sich bei allen Schlüssen, die man aus Versuchen macht, vorfinden, so daß nämlich noch immer neue Versuche dazu gehören. Es war in gewisser Weise die einzige Schule, bei der die Lehrer die Freiheit hatten, nach eigenen
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genannten Vorlesungen liefert er drei Aufsätze32 und dem Institut, wie wir schon hörten, durch seine Empfehlungen nicht nur Schüler, die z.T. aus englischen Kaufmannsfamilien in Königsberg und Memel stammen, sondern er schickt sogar Lehramtskandidaten zur weiteren Ausbildung nach Dessau.33 In der Tugenderziehung greift Basedow seine gesellschaftskritischen Überzeugungen mit ihrer bürgerlich-progressiven Tendenz wieder auf. Diese bleibt sein ganzes Leben hindurch konstant, wie noch seine letzten Schriften über eine erleichterte Lesemethode bezeugen. Aber vom Beginn seiner pädagogischen Experimente als Informator im Hause v. Qualen 1752 am Anfang seiner philosophischen Schriften, bereits in der Erstfassung der Practischen Philosophie für alle Stände, ein weltbürgerlich Buch, ohne Anstoß für irgendeine Nation und Kirche (1758) – eine Bearbeitung erscheint zwanzig Jahre später 1777 in Dessau – und in der Philalethie (Wahrheitssuche, 1764) und deren drei pädagogischen Anhängen, steht es für ihn, den Popularphilosophen und Volksaufklärer kat’exochèn, auf Grund seiner neuerlichen Erfahrungen als Professor in Soroe / Dänemark fest, „die Instruktion hat eine unbeschreiblich große Kraft“. Die moralische Qualität des indi-
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Methoden und Planen zu arbeiten und wo sie unter sich sowohl, als auch mit allen Gelehrten in Deutschland in Verbindung standen.“ a) (Rezension) Erstes Stück des philanthropinischen Archivs, mitgetheilt von verbrüderten Jugendfreunden an Vormünder der Menschheit, in: Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen, 26. Stück, 28.3.1776, S. 101ff. Autorschaft erst gesichert, als Rudolf Reicke die Handschrift entdeckte, die im Faksimiledruck dem 2. Bande der Ausgabe Ernst Cassirers 1912, S. 463–465, beigegeben ist. Kant schickte den Aufsatz frisch aus der Presse noch am 28.3. an Wolke (Brief 109 im 10. Band der Akademie-Ausgabe). Spätere Drucke: Reicke, Rudolf, Kantiana. Beiträge zu Immanuel Kant’s Leben und Schriften, Königsberg 1860, S. 70–72 = Neue Preußische Provinzialblätter III. Folge V (Königsberg 1860), S. 163–165; Philosophische Bibliothek 50 (21898), S. 111–113 (hg. v. Julius Hermann v. Kirchmann); Akademie-Ausgabe, Bd 2. (1905), S. 447–449 (Paul Menzer). – b) An das gemeine Wesen, in: ebd., 25. Stück, 27.3.1777, S. 97f. Nachdruck in: Pädagogische Unterhandlungen 1777, 3. Stück, S. 296–301 (Kant an Regge 22.3.1777: daß zu dem „Pränumerationsgeschäfte auf die pädagogische Unterhandlungen den nächsten Donnerstag eine Aufmunterung dazu, imgleichen eine Anzeige, wie sie so wohl als die Subscription angestellt werden sollen, in der Kanterschen Zeitung zu lesen seyn“. Weitere Drucke: Raumer, Karl v., Geschichte der Pädagogik II, Stuttgart 1843, S. 269–272; Reicke, Kantiana, S. 72–76 = Neue Preußische Provinzialblätter III. Folge V, S. 165–168; Philosophische Bibliothek 50 (21898), S. 113–116; Ausg. Cassirers 2 (1912), S. 465–468; Akademie-Ausgabe, Bd. 2 (1905), S. 449–452. Pinloche 1889, S. 33 u. 140; Pinloche / Rauschenfels 1914, S. 21 u. 121: „Es ist aber vergeblich, dieses Heil des menschlichen Geschlechts von einer allmählichen Schulverbesserung zu erwarten. Sie müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll, weil sie in ihrer ursprünglichen Einrichtung fehlerhaft sind, und selbst die Lehrer derselben eine neue Bildung annehmen müssen. Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dieses bewirken.“ – c) Betreffend das philanthropinische Institut in Dessau. Beilage zum 68. Stück der Königsberger gelehrten und politischen Zeitung vom 24.8.1778. Spätere Drucke: Reicke, Kantiana, S. 76–81 = Neue Preuß. Provinzialblätter III. Folge V, S. 169–173; Philosophische Bibliothek 50 (21898), S. 117–122. Echtheit umstritten, doch dürften sich, selbst wenn der Hofprediger Dr. W. Crichton der Verfasser wäre, wesentliche Gedanken Kants wiederfinden. Zudem schickte Wolke 28.10.1778 einen Dankesbrief an Kant nebst 30 Exemplaren der Pädagogischen Unterhandlungen (Akademie-Ausgabe 10, Nr. 142). Siehe Anm. 12.
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viduellen menschlichen Verhaltens und damit – nach Basedows innerster Überzeugung – auch die der menschlichen Gesellschaft insgesamt steht daher mit der Qualität von Erziehung und Unterricht. Basedows Menschenbild ist freilich nicht frei von widersprüchlichen Zügen. So besteht eine Spannung zwischen dem der menschlichen Natur unterstellten Tugendstreben und ihrer leichten Verführbarkeit (der er – nach Erfahrung – und manche seiner Schüler allzu oft selbst unterliegen, und er schont in seinen allsonntäglichen überkonfessionellen „Liturgien“ keineswegs – und auch das bewundert man – die eigne Person, wenn er abends zuvor im Ring wieder allzusehr dem Malaga zugesprochen hatte). So wird es, weil ihm die Besserung der Menschheit und ihrer Gesellschaft auf moralischer Grundlage so sehr am Herzen liegt, verständlich, daß er einen persönlich gedachten Gott als Walter des obersten Richteramtes bestehen läßt, ja den Nachweis seiner Existenz geradezu als seine Lebensberufung auffaßt, um so dem sittlichen Streben des Menschen sein, wie er glaubt, wirkungskräftigstes Motiv zu retten. Die Religion wird damit für ihn zum Mittel im Dienste der Tugend, die ihrerseits als Mittel zum Zweck des menschheitlichen Fortschritts dienen soll. (Unter der Hand bekennt er sich, was die christliche Religion angeht, deutlich zum Sozinianismus).34 Sein Bekenntnis zum Deismus ist aber durchaus ernst zu nehmen. Denn eine weitere Diskrepanz seines Menschenbildes liegt in Basedows Bekenntnis zur menschlichen Aktivität und Selbstständigkeit besonders auf dem Gebiet der practischen Lebensführung und seiner Forderung nach einer an völlige Passivität grenzenden Ergebenheit in die Ratschlüsse Gottes und der staatlichen Obrigkeit. Um nicht nur die noch gläubigen Christen in ihrer Religiosität zu stärken, sondern auch die Abtrünnigen und Zweifler durch die zwingende Kraft seines Beweises wieder auf die Bahnen des Glaubens zurückzuleiten, will er auf die Argumente der Offenbarung verzichten, da diese ja schon eine Glaubensbereitschaft voraussetzen, nicht aber sie erzeugen können. Vielmehr möchte er seine Evidenz allein auf natürlichen menschlichen Erkenntniskräften gründen. Mit diesem Bekenntnis zur natürlichen Religion steht er voll im Strom der deutschen Aufklärungsphilosophie. Er zog freilich auch wegen dieser seiner Heterodoxie, von der schon die Rede war, den ganzen Haß aller orthodoxen Richtungen auf sich. Und das auch noch als Direktor des Philanthropins, als er sich mit dem ebenso berühmten wie verrufenen heterodoxen Theologen Carl Friedrich Bahrdt verbündete, der 1775 das „zweite wahre Philanthropin“ zu Marschlins in Graubünden gründete. Und mußten nicht die Orthodoxen aller Couleur Krämpfe kriegen, wenn Passagen durchsickerten wie die folgende Widmung seines Vermächtnisses für die Gewissen (Dessau 1774) an Carl August von Weimar: 34
Auf Basedows mehr oder weniger offenes Bekenntnis zum Sozinianismus wurde ich im Boettiger-Nachlaß in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden aufmerksam: siehe Philanthropismus und Dessauer Aufklärung, (wie Anm. 20), S. 48, Anm. 211.
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Das Licht, das Gott hervorgebracht / Verdunkeln Menschenlehren; Sie schützt der Kirche alte Macht, / Die Macht wird Gott zerstören. Sie, die der Heiland selbst verbot, / Bleibt nicht mehr unser Enkel Noth Solche Hoffnung / gründet sich auf Fürsten, welche Menschenfreunde, Weise / und Christen sind. Amen, gnedigster Herzog!35
Nichtsdestotrotz finden wir auch diese Seite seines philosophischen Ringens in der Praxis des Dessauer Philanthropins wieder. Nicht nur daß die Überkonfessionalität der Anstalt allzu lautstark verkündet wird, was sogar den schärfer denkenden Mendelssohn36 auf den Plan ruft: ob sich denn die Aufnahme beispielsweise von Juden in einer kosmopolitischen Anstalt nicht von selbst verstehe? Der Religionsunterricht beschränkte sich tatsächlich auf die natürliche und wies den Unterricht in den geoffenbarten Religionen den Stadtgeistlichen der einzelnen Bekenntnisse zu. „Der Betsaal zu Dessau (Abb. 9–12) ist in der ganzen großen Christenheit“ – schreibt Carl Spazier 178637 – „bisher wahrscheinlich noch immer der einzige gewesen, wo man, unter öffentlicher Autorität (!), christliche Religionswahrheit unabgesehen auf das Charakteristische einzelner Kirchen ungestört hat vortragen dürfen“. Wenn man bedenkt, welche Intoleranz nicht nur zwischen den gespaltenen Religionsparteien in Deutschland, sondern selbst unter den protestantischen Richtungen in Mitteldeutschland und auch in Anhalt zu der Zeit noch herrschten – ich darf auf anhaltische Beispiele in meiner Dissertation 1969 verweisen38 –, so kann man nur den Hut abnehmen vor der Leistung, die hier in Anhalt-Dessau durch den Philanthropismus und unter dem Regiment des Vater Franz (der ja oberster Bischof war) vollbracht wurde. Daß aus dem bestehenden Nebeneinander sogar ein gegenseitig hilfreiches Miteinander zwischen Juden und Christen wurde (ein Zeitgenosse nennt Anhalt-Dessau „das für ihre Nazion [der Juden] wiedergefundene Land“),39 macht die vielen enthusiastischen Emphasen der aufgeklärten Zeitgenossen und besonders der vielen pädagogischen Hospitanten bei ihren Besuchen des Dessauer 35 36
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Autograph im Goethe-Museum Düsseldorf. Brief an Campe März 1777: „Ich von meiner Seite finde das Anerbieten der philanthropischen Vorsteher ihrer würdig, aber eben nicht außerordentlich. [...] Welcher vernünftige Mensch wird Basedow und Ihnen die lächerliche Intoleranz zutrauen, daß Sie Ihre Zöglinge nicht werden in der Buchhaltung von einem geschickten Buchhalter unterrichten lassen, weil er das neue Testament nicht annehmen zu können glaubt?“ (nach Würdig, Ludwig, Dessauer Chronik, Dessau 1876, S. 581ff.). Einige Bemerkungen über deutsche Schulen, besonders über das Erziehungs-Institut in Dessau, Leipzig 1786, S. 89 (auch bei Gilow, Hermann, Spaziers Tagebuch, in: Wiss. Beilage zum Jahresbericht des Köllnischen Gymnasiums in Berlin 1911, S. 13, Anm., zitiert). Wie Anm. 2 (ungedruckt), S. 99f. bzw. Druckfassung 2003, (ebenfalls wie Anm. 2), S. 137ff. Auch hier verweise ich auf meine Dissertation 1969, (wie Anm. 2), S. 99–124 bzw. Druckfassung 2003, (wie Anm. 2), S. 137–172; Hirsch, E., „Von der Dessauer Gemeinde ging die Emanzipation der deutschen Juden aus“, in: Dessau-Wörlitz-Beiträge VIII, Dessau 1998 (=Zwischen Wörlitz und Mosigkau 50), S. 11–18 und ders., „Das für ihre Nazion wiedergefundene Land“ (im Druck: erscheint in einem von Giuseppe Veltri herausgegebenen Sammelband).
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Landes verständlich. Der Vernunfttheologe Franz Volkmar Reinhard bringt es für die Aufklärer auf den Punkt: „Der Fürst von Dessau verstände es, die Erde in einen Schauplatz für vernünftige Menschen zu verwandeln“.40 Da freilich nach einem Zeugnis Spaziers mehr Materialismus und Atheimus als Religion vermittelt wurde, ist es auch verständlich, daß die Philanthropiner Scherereien auch mit Eltern und vor allem mit den orthodoxer denkenden Vertretern unter der Dessauer Geistlichkeit bekamen, besonders mit dem streitbaren Superindententen Simon Ludwig Eberhard de Marées (1717–1802). Wahre Purzelbäume schießen mitunter die aus der überkonfessionellen Verbrüderungsschwärmerei erwachsenen Erbauungslieder, wie (1786) Heiden, Juden, Mohammedaner, Katholik und Protestant Sind alle unsre lieben Brüder Und nur auf den sehn wir voll Abscheu nieder, Der Menschenliebe nie erkannt.
Hier offenbart sich aber die Aufklärung in ihrer Erziehungstendenz ganz unmittelbar, freimaurerische Tendenzen sind unverkennbar – die Logen unterstützen das Philanthropinum weiter mit vielerlei Sach- und Geldzuwendungen –, und es ist noch erstaunlicher, daß Basedow selbst hohe Würdenträger des katholischen Deutschlands wie den Abbé Schryder, den schlesischen Abt Felbiger, La Flue und den Hildesheimer Domherrn Moritz v. Brabeck41 zu Fürsprechern und aktiven Beförderern des Instituts gewann. Insbesondere zeigt sich der Einfluß tätig gelebten Christentums etwa der Herrnhuter (siehe Abb. 11 und 12) auf die philanthropistischen Gottesverehrungen Basedows und später seines „präsumptiven Schwiegersohns“42 Johann Jakob DuToit, die zwischen 1781 und 1784 vor allen Christian Gotthilf Salzmann (Abb. 7) auf eine edle Stufe hob; aber auch aus den Basedowschen Predigten ging man, wie Gleim und Franz (Abb. 3) versicherten, „nie unverbessert“43 heraus. Basedow hatte sich auf seinen Werbereisen für das Philanthropin insbesondere für die Herrnhuter Brüdergemeinden und die Mennoniten (z.B. in Neuwied) interessiert. An ihnen
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Zitiert nach Reil, Leopold Friedrich Franz, Dessau 1845, S. 113f. So wurde Franz zum „Abgott der Zeit“ (Andreas Riem; Friedrich Reil; Johann Joachim Winckelmann); Basedows Obtrectator Johann Christian Meier (siehe Anm. 49): „der unvergleichliche Fürst von Dessau, gewiß ein sichtbares Bild der Gottheit auf dieser Erde“ (!). Seine drei Schriften für das Philanthropin siehe Hirsch, E., Dessau-Wörlitz, Moritz von Brabeck und Söder, in: Köhler, Johannes / Nolte, Josef (Hg.), Vernunft und Bildung. Für eine fortgesetzte Aufklärung, (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 18), Köln / Weimar / Wien 1997, S. 33–44, 136ff. Vgl. auch Hirsch, E., Revolutionäres Denken und Handeln [...], in: Wiss. Zeitschrift Universität Halle 39 (1990) G, H. 5, S. 85, Anm. 4. Er gewann auch seinen Bruder Werner v. Brabeck als Sponsoren des Instituts. Carl Pilger’s [Karl Spaziers] Roman seines Lebens. Von ihm selbst geschrieben. Ein Beitrag zur Erziehung und Kultur des Menschen, Berlin 1796, S. 29. Emilie Basedow heiratete aber 1789 den Bernburger Pastor Emanuel Cautius. Siehe Gleim / Lichtwer-Festschrift 1969, (wie Anm. 2), S. 146.
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gefiel eben dem Aufklärer in seinem utilitaristischen Denken der ökonomische Sinn, an letzteren speziell die Erwachsenentaufe und die Kriegsdienstverweigerung. Die Herrenhuter Gemeinde in Barby hatte der Dessauer Kreis mit dem ihn besuchenden Weimarer Hof 1776 gemeinsam besichtigt. Dabei trafen die alten Bekannten zusammen: Goethe, Behrisch, Basedow (Behrisch hatte doch Franz auf Basedows pädagogisches Wirken seit 1767 aufmerksam gemacht und so schließlich Basedows Berufung bewirkt). Von hier sind sogar die Äußerlichkeiten für die philanthropistische Gottesverehrung übernommen, der lediglich erhöhte Tisch des „Liturgen“ – wie Basedow sich und seine Nachfolger dabei tituliert wissen wollte – und selbst die grüne Decke auf dem Tisch des Predigers. Die Erziehung ging über diese Aufsehen erregenden sonntäglichen Gottesverehrungen, die großen Zuspruch auch seitens der vielen aufgeklärten Reisenden fanden, weit hinaus. Die Dessauer Erziehungsmethoden fanden nicht zuletzt auch durch das Reiseland Dessau, die Attraktivität des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs Verbreitung im ganzen deutschen Sprachbereich sowie durch die Zeitschriften, die das Philanthropin fünfzehn Jahre lang herausgab. In diesen Organen des Instituts, dem Philanthropischen Archiv, den Pädagogischen Unterhandlungen 1777–1784 und deren 2. Reihe, Lesebuch für die Jugend, der ‚Jugendzeitung‘, 1778–1784, ferner der Dessauischen Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 1781–1787, begründet von dem bekannten Volksaufklärer Rudolph Zacharias Becker (1758–1822) und ab dem 2. Jahrgang von dem Revolutionssympathisanten Johann Michael Friedrich Schulz(e) (1753–1817) weitergeführt, den Franz vor den preußischen Werbern gerettet hatte und der später in Berlin den preußischen Handelsunterricht reorganisierte. Ihr folgte schließlich die Gazette pour la Jeunesse 1788–1791: in allen wird ein erfolgreicher Kampf gegen Vorurteile aller Art, sogar gegen die der Kirche, wie: „die Welt sei ein Jammertal“ und gegen das Dogma von der Erbsünde44 geführt, insbesondere aber auch heißere Probleme der ständischen Gliederung aufgegriffen und besonders gegen die servile Kriecherei von Menschen aller Stände und den kriecherischen Sklaventon der zeitgenössischen Presse Stellung genommen, die nichts zu berichten wisse, als daß sich der König neulich auf der Jagd erkältet habe und dergleichen mehr (Abb. 21 und 22). Dagegen wird hier engagiert Partei ergriffen für die großen revolutionären Umwälzungen der Zeit, für die holländische Revolution, die Bauernaufstände in Siebenbürgen und der Walachei, schließlich für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und in Zusammenhang damit auch sogleich gegen die Negersklaverei und endlich für die große französische Revolution. Und hier zitieren wir als Kronzeugen den entschiedensten Basedow-Gegner, Johann Christian Meier, Rektor der Domschule Verden: die mit ganz ungewöhnlicher Freymüthigkeit und Wahrheitsliebe redende, französische Zeitung Gazette pour la jeunesse betitelt, die zu Dessau schon seit einigen Jahren herauskömmt und in ihrer Art für unsere Zeit sehr merkwürdig und in der freyen Schreibart fast Beyspiellos ist [...] 44
Hirsch, E., Diss. 1969, (wie Anm. 2), S. 98, in der Druckfassung 2003 S. 136.
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Erhard Hirsch zuvörderst bekenne ich aus dem innersten Gefühle meines Herzens, daß ich nie eine Zeitung mit mehrer Interesse und größerer Aufmerksamkeit gelesen habe und noch lese, als diese Gazette pour la jeunesse und sie daher seit der ganzen Zeit ihrer Existenz als ein merkwürdiges Denkmal für die Nachwelt gesammelt und aufbewahret habe. Gekrönte Häupter und andere Personen vom hohen Rang werden mit sammt ihren Handlungen mit fast beyspeilloser Freymüthigkeit beurtheilt45.
In der Zeitungsstunde las man in Dessauer Klassenzimmern täglich aus dem Moniteur die Pariser Ereignisse vor, übte französische Deklamation an den Reden in der Nationalversammlung oder Robespierres, die z.T. in der Gazette pour la Jeunesse abgedruckt waren, und täglich wurde die Marseillaise gesungen, bis es dann doch dem Aufklärungsfürsten himmelangst wurde vor den Geistern, die er zwanzig Jahre zuvor selbst gegen den massiven Widerstand seines orthodoxen Superintendenten gerufen hatte.46 Von Anbeginn an wurde dem Philanthropin doch – wir hörten es schon – geweissagt, daß einem Zögling dieser Anstalt nur zwei Wege offen stünden: Revolutionär zu werden oder sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, so Goethes Schwager Johann Georg Schlosser47 in Emmendingen, in dessen Hause auch Franz mehrmals bei Reisen in die Schweiz abstieg: In der realen Welt könne sich dann ein so erzogener Mann nicht mehr zurecht finden! Acht Jahre lang war Basedow auf Empfehlung Klopstocks und des aufgeklärten Ministers Bernstorf auf Seeland in Dänemark als Professor an der Ritterakademie zu Soroe tätig. Die ganze Equipe der hohen Schule der dänisch-deutschen Aufklärung dieser Zeit schenkten ihm ihre Freundschaft, neben Klopstock und Bernstorf Cramer, Schlegel, Sneedorf, Rothe und Funke. Hier erschien 1758 die genannte Practische Philosophie für alle Stände: 1777 in Dessau neu aufgelegt, blieb sie eines der meistgelesenen und empfohlenen Bücher seiner Art in der zweiten Jahrhunderthälfte, in der Breitenwirkung nur von den gleichgerichteten Handbüchern Christian v. Wolffs aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts übertroffen: „Dieses klassische Werk muß auch in der kleinsten auserlesenen Bibliothek ihren Platz finden“, heißt es in einer Rezension.48 Die Neuheit seines Unterrichts, die Originalität seiner Lehren, die Wärme seines Wortes begeisterten von seiner ersten Vorlesung an die Zuhörer: „Das aber ist die Wahrheit“, schreibt ein Jahr nach seinem Tode selbst sein verbittertster Verleumder, Johann Christian Meier, der Rektor der Domschule Verden, 45
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Ebd., S. 367ff.; ders., Zeitung und Zeitschrift als Erziehungsmittel zu bürgerlichem Selbstbewußtsein. Das aufgeklärte Zeitungswesen Anhalt-Dessaus zur Zeit des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises, in: Kaiser, Wolfram (Hg.), Buch und Wissenschaft. Wiss. Beiträge Universität Halle 1982/5 (A 57), S. 115–134. Gebhardt, Jürgen, Die Dessauer „Pädagogischen Unterhandlungen“ – ein wissenschaftliches Diskussionsorgan von hohem Rang, in: Dessau-WörlitzBeiträge III (1989) = Wiss. Zeitschrift Universität Halle 41 (1992), S. 15–20; Meier, (wie Anm. 49), S. 123, 126. Reil, (wie Anm. 40), S. 279ff. und Hirsch, Diss. 1969, (wie Anm. 2), S. 368f. bzw. Druckfassung 2003, (wie Anm. 2), S. 521f. Siehe Anm. 21. Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 13 (Lemgo 1778), S. 358–361.
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und Thatsache, daß B** nicht lehrete wie die Schriftgelehrten und Pharisäer [...], kein ausgedroschenes Stroh auf seine Tenne brachte [...], wie leider! bisher vor B-s Ankunft bis zum Eckel und Ueberdruß geschehen war; [...] Als B** seine Lectionen anfing, da spitzte man die Ohren; da hieß es: das ist ein ganz andrer Mann; es ist ein neuer Lehrer, ein Prophet unter uns gekommen49.
Seine Erfolge bescherten ihm aber auch bald Neider und Feinde unter seinen Kollegen. Ihrer Wühlarbeit und der Orthodoxie gelang es schließlich, den ihnen unliebsamen, erfolgreichen Ausländer, der in der Provinzhauptstadt Soroe auch durch die Freiheit seines Benehmens die ruhigen Gewohnheiten des Universitätsphilisterlebens oft genug verletzt hatte, trotz des Schutzes Jens Schjelderup Sneedorfs und anderer, z.B. des Pastors Hammer (seines späteren Schwiegervaters), endlich auf Grund seines Materialismus aus seinem Amt zu vertreiben. Doch ließ ihm die Regierung Bernstorf Gerechtigkeit widerfahren und versetzte ihn mit dem gleichen Gehalt von 800 Talern an das Gymnasium des damals noch dänischen Altona, wo sich nun freilich das ganze Drama von Soroe gleich noch einmal, nur da er schon verketzert war, in wesentlich kürzerer Zeit wiederholte.50 Es blieb Basedow schließlich nur die Möglichkeit, sich den Anfeindungen seiner Kollegen dadurch zu entziehen, daß er seine Tätigkeit am Gymnasium ganz einstellte. Aber er scheint – nach Pinloche – diesen Schritt nur getan zu haben, um den Kampf gegen diejenigen, welche die ersten Urheber aller Verfolgungen gewesen waren, mit größerem Nachdruck fortsetzen zu können.51 In kurzer Zeit erschienen 20 theologische Schriften gegen die Orthodoxie, die ihn mit deren Vertretern, vor allem mit dem Hamburger Hauptpastor Melchior Goeze, in heftigste Streitigkeiten verwickelten. Wir wollen diesen Streit nicht weiter verfolgen so wenig wie die Basedowischen Schriften dieser Jahre, die Basedow in allzu großer Hast konzipiert hatte und denen eigentlich seine Gegner lediglich eine größere Publizität verschafften, als sie es von ihrer Anlage und Inhalt her verdienten. Nur ein Werk hebt sich heraus, das war die schon genannte Philalethie, die die Practische Philosophie für alle Stände wieder aufnimmt, ergänzt und fortsetzt. Hier, 1764, äußert er sich auch wieder über pädagogische Fragen. Er fordert hier zum ersten Mal, möglicherweise in Anlehnung an den Essai d’éducation nationale des französischen Generalprocureurs Louis René de Caradeuc La Chalotais, wie der Franzose Pinloche herausgestellt haben wollte,52 ein von kirchlicher Bevormundung freies Schulwesen und eine sy49
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Meier, Johann Christian, Johann Bernhard Basedows Leben Charakter und Schriften unparteiisch dargestellt und beurtheilt, 2 Bände, Hamburg 1791/92, Bd. I, S. 233. Gervinus empfiehlt mit Recht, dasselbe mit der größten Vorsicht zu gebrauchen: ders., Geschichte der deutschen Dichtkunst, Bd. V, 41853, S. 380 / Pinloche, (wie Anm. 9), S. 31. Nach: Magon, Leopold, Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien, Dortmund 1926. Pinloche / Rauschenfels, (wie Anm. 9), S. 37. Bahn, [Rudolf], Die Frage der Selbständigkeit der Pädagogik Basedows, in: Programm des Herzoglichen Ludwigs-Gymnasiums in Cöthen, Bericht Ostern 1910, S. 3–24. (Teil II in:
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stematische Sammlung von Schulbüchern, welche den Kindern während der ganzen Dauer ihrer Schulstudien in ununterbrochener Folge zur Verfügung stünden. Sodann findet sich hierin wieder eine Abhandlung über die natürliche Religion und Moral, worin er die Ewigkeit der Höllenstrafen sowie die allgemein angenommenen Lehren über Christus, den Heiligen Geist, den göttlichen Ursprung der Bibel, die Taufe, das Abendmahl usw. bestreitet, aus seiner sozinianischen Denkweise eigentlich keinen Hehl macht. Das alles genügte, um sich in der „freien“ Reichs- und Hansestadt Hamburg den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt zu sehen. Auch in Lübeck wurde die sofortige Vernichtung aller vorhandenen Exemplare der Philalethie angeordnet und jeder mit 50 Tlr. Geldstrafe bedroht, der sie einzuführen wagte. Selbst im dänischen Altona, wo seine Schriften doch nicht verboten waren, fand er keinen Drucker mehr. Er wurde mit dem Bann belegt, soweit das den Lutherischen zu Gebote stand, indem man ihn von der Teilnahme am Hl. Abendmahl ausschloß. Zweifellos erhielten die pädagogischen Tendenzen neue Impulse durch das Erscheinen von Rousseaus Émile – aber vergessen wir nicht, daß Basedow seine Methode, die in einer sinnlich-anschaulicheren Gestaltung des Unterrichts bestehen sollte, bereits 1752, also zehn Jahre zuvor, veröffentlicht hatte und daß ihn wohl dabei die Kenntnis Comenius’ und Lockes geleitet hatte; auch die Ansätze in Franckes Pädagogik haben ihn zweifellos beeinflußt. Unter Ablassung von seinen theologischen Kontroversen beschäftigte sich Basedow nun seit 1767 intensiv und zunächst ziemlich ausschließlich mit dem Problem der Pädagogik als Nationalerziehung, wie wir aus dem zitierten Brief53 Heinrich Christian Boies an Gleim wissen. Boie schreibt, er habe im Hause des Goeze-Gegners Alberti Basedow kennengelernt. Er trägt es an der Stirne geschrieben, daß er ein außerordentlicher Mann ist. So finster seine Miene auch ist, so wenig verdirbt er doch eine Gesellschaft. Daß Liebe zur Wahrheit, zur Tugend ihn beseele, zeigt er in seinen kleinsten Handlungen. Izt beschäftigt er sich mit der Algebra [...] Sein Vorhaben, Bücher für Kinder, ganz nach ihrer Fassung eingerichtet, zu schreiben, gefällt mir ausnehmend.
Im Jahre 1768 trat Basedow dann mit einem für die neuere Pädagogik epochemachenden Büchlein, der Vorstellung an Menschenfreunde, hervor, und es zeigt nur wieder die in sich geschlossene gedankliche Welt seiner philosophisch-pädagogischen Intentionen, wenn er den hier bereits enthaltenen Begriff sechs Jahre später für den Namen seiner Anstalt in Dessau, lediglich gräzisiert in Philanthropinum, Stätte der Menschenfreundschaft, ersinnt. In rascher Folge erscheinen nun seine etwas marktschreierischen pädagogischen Schriften, deren „posaunenden Ton“ man ihm so viel vorgeworfen hat. Aber der Erfolg seiner Unternehmung hat die-
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Programm des Herzoglichen Gymnasiums zu Bernburg, Ostern 1911, S. 1–22; mit reichlichen Literaturangaben). Siehe Anm. 9.
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sem Ton doch recht gegeben, denn Basedow kannte durch seine jahrzehntelangen philosophischen Studien seine Zeit und die Zeitgenossen nur zu gut, um zu wissen, wie er ihren Opfersinn für die gemeinnützige, wichtigste Sache des Jahrhunderts ansprechen müsse, wie allein er ihren „Patriotismus“ erwecken könne. Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tode ist freilich auch Goethe unbewußt auf die Seite der Basedow-Gegner und -Verleumder eingeschwenkt, die über den Tod des Reformators hinaus nicht müde wurden, diesen gefährlichen Neuerer und Umstürzler mit ihrem oft spießbürgerlichen Groll zu verfolgen, so wenn auch Goethe ihm in seiner launigen Schilderung in Dichtung und Wahrheit doch sehr auf Kosten der lauteren, ernsten Absichten des Reformators selbst beutelschneiderische Reden zum Vorwurf machte54. Für die Errichtung des Groß-Philanthropinum (im Agathocrator bereits nach dem Vorbild der Franckeschen Stiftungen in Halle entworfen), das nie in der bei seinen Vorstellungen gemäßen Weise zustande kam, benötigte er 30 000 Taler. Für die Abfassung des Elementarbuchs wie des Elementarwerks und anderer Arbeiten seiner „elementarischen Bibliothek“ erbat er ebenfalls die Gebefreudigkeit eines ihm und seinen Lehren erstaunlich zugänglichen Publikums – ein Zeichen, wie sehr sein Anliegen einem dringenden Bedürfnis der Zeit entsprach und wie sehr er die Zeichen der Zeit zu nutzen verstand. Basedows Elementarbuch hatte „von der Veröffentlichung der ersten Kapitel an einen ungeheuren Erfolg, so wie ihn vielleicht kein gutes Buch je gekannt hat“ (Pinloche). Die sauberen und genauen Abrechnungen, die er in seinen vielen öffentlichen Berichten über seine pädagogische Schriftstellerei gab (wie sie auch später das Philanthropin über die ihm gemachten Zuwendungen in seinen Publikationsorganen vorlegte), lassen Basedow und seine Jünger über all diese Zweifel und Verdächtigungen der Geldschneiderei oder gar Unterschleife erhaben sein; ja er wollte bei seinem Rücktritt von der Direktion des Instituts sogar die dafür gezahlten Spenden allen Gebern wieder zurückzahlen, worauf ihm Männer wie Gleim schrieben: Er wolle, selbst wenn das Philanthropin mit Schulden unterginge, noch einmal 50 Taler zu deren Tilgung beitragen, so segensreich habe es bereits in den zwei Jahren seines Bestehens für die Gesamtheit des Erziehungswesens gewirkt!55 Und in vielen Druckschriften wird der Fortgang der Arbeit am Elementarbuche und dem Elementarwerk dem Publikum vorgestellt, um es in Atem und bei Laune zu halten. Auch diese Vielzahl der Schriften (die meist Wiederholungen längst von ihm gehörter Gedanken sind) muß psychologisch aus seiner historischen Situation heraus erklärt und verstanden werden. Während dieser wahrhaft rastlosen Tätigkeit, zu der er bereits in Hamburg den wackeren Christian Hinrich Wolke (1741– 1825; Abb. 5) und den später bekannt gewordenen Diplomaten Christian Conrad Wilhelm v. Dohm gewinnt, ergeht im Mai 1771 der Ruf an „den bekannten Herrn Basedow“, nach Dessau zu kommen, wie es in der Auserlesenen Bibliothek der 54 55
In: Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 14. Buch. Gleim/Lichtwer-Festschrift, (wie Anm. 2), S. 146.
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neuesten deutschen Literatur56 heißt, „unter sehr ansehnlichen Bedingungen [1 100 Tlr. Pension, E. H.] [...], um mit den dasigen Schulanstalten eine Reformation zu unternehmen“. Der aufgeklärte Landesherr (Abb. 3) setzte sich als Oberster Bischof über die Bedenken seines eignen orthodoxen Streithengstes, des Dessauer Superintendenten Simon Ludwig Eberhard de Marées, hinweg, um mit Basedows Hilfe den „Augiasstall seines Schulwesens“, wie er es bezeichnete,57 von Grund auf zu reinigen. Hier in Dessau, wo er Ende November 1771 eingetroffen war, erarbeitete Basedow in zweieinhalb Jahren das trotz aller Einwände bedeutendste pädagogische Werk seiner Epoche, den Orbis pictus des 18. Jahrhunderts, das Elementarwerk, ein geordneter Vorrath aller nötigen Erkenntniß zum Unterricht der Jugend, ein Unterrichtswerk, das noch den Kindern der Romantiker in dritter Generation zum Schulbuch diente58. Basedow unternimmt nun wieder eine Reihe von Reisen für die pädagogische Sache, zuletzt die Rheinreise, die ihn mit Lavater und Goethe zusammenführte, für eine Geldsammlung zugunsten des Instituts, das am 27. Dezember 1774, dem 5. Geburtstag des Dessauer Erbprinzen,59 eröffnet wird, aus dem er sich aber bereits nach zwei Jahren, vorgeblich zum Zwecke der Fortsetzung seiner elementarischen Bibliothek, zurückzieht. Es war ihm gelungen, in dem später so rühmlich bekannt gewordenen Pädagogen Joachim Heinrich Campe (Abb. 6), damals noch Feldprediger in Potsdam, einen Nachfolger als praktischen Leiter des Instituts zu gewinnen: Erste pädagogische Erfahrungen hatte Campe zuvor in der Erziehung Alexanders von Humboldt gesammelt. Doch in einer Aufsehen erregenden Flucht verläßt Campe Dessau auf Grund drückender Verhältnisse des ungeklärten Direktorats und der rebellierenden Jungmannschaft einer genialischen Lehrerschaft, ein Streit zwischen den Aufklärern und den Geniekultanhängern, wie Michael Niedermeier in seiner beachtlichen Veröffentlichung unter Aufarbeitung aller in Dessau, Straßburg und Karlsruhe liegenden Quellen erst jüngst so schön herausgearbeitet hat.60 56 57 58
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1. Band, Lemgo 1772, S. 652; zu Dohm siehe Anm. 66. Bei Reil, (wie Anm. 40), S. 105f. Achim von Arnim, ein Dessau-Wörlitz-„Begeisterter“ (holte nicht nur Bäume und Pferde aus Dessau, sondern auch Verwalter und Gärtner) wurde schon nach dem Elementarwerk unterrichtet, er und Bettina wünschen noch ihre Kinder und spätere Generationen damit zu beglücken und tauschen es mit den Savigny-Kindern aus (7.11.1822): Arnim und Bettina in ihren Briefen, hg. von Werner Vortriede, Frankfurt 1961, S. 383. Erbprinz Friedrich (1769–1814). Für ihn hat er (ebenso wie Lavater) viel Sympathie, hübsch die Tagebuchnotiz der Fürstin Luise 9.6.1771, der Vorfall, der dann zur Errichtung des Erbprinzensteins bei Oranienbaum / Brandhorst führte: „Auf einem Spaziergange mit meinem Sohne, unweit der Wassermühle, bis wohin sich wirklich die Überschwemmung ausdehnte, lief das Kind voller Freude über diesen Anblick, bis an die Brust ins Wasser. Wir hielten ihn erschrocken zurück, indeß Basedow ihm zujauchzte: Vortreflich!“. Siehe Anm. 24. Empfohlen wurde die Niederlegung bereits durch Rötger 1776, (wie Anm. 83), S. 75. Seine „Curator“-Stelle kündigt Basedow 22.8.1776: Anh.StA Dessau C 18b 34.1 fol. 70.
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Noch einmal muß Basedow die lästige Leitung des Instituts auf Drängen des Fürsten auf sich nehmen,61 aber zum praktischen Direktor nicht geeignet, scheitert auch er als älterer Vertreter der Aufklärung an dem Generationsunterschied zu den für ihn offenbar zu jungen, für die Erziehungsfrage noch so enthusiasmierten Lehrern. Basedow tritt nach einem weiteren knappen Jahr erneut zurück und fordert auch, daß der Name Philanthropin nicht mehr verwendet wird, da das Institut so weit hinter seinen Plänen und Erwartungen zurückgeblieben sei. Der Fürst setzt ein sechsköpfiges Direktorium ein, um ihm eine weitgehend demokratische Verfassung zu geben. Aber es herrscht wenig Einigkeit unter dem vielköpfigen Direktorium. Diese Schwäche nutzen die Lehrer aus, und es gibt oft großen Hader und Unordnung im Dessauischen Erziehungsinstitut – wie es nun heißt –, das Spazier deshalb einmal das „Tolle Institut“ genannt hat, ohne daß er es – nach eignem Geständnis – als junge Lehrkraft damals besser getrieben hätte: „Unselige Pädagogenwirthschaft“ nennt er es rückblickend, und sein Kollege Sander akkompagniert ihm
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Am 15.12. erfolgt die offizielle Niederlegung und die Übernahme durch Campe, alles in Gegenwart Franz’, Carl Augusts, Goethes und Christoph Kaufmanns: Philanthropisches Archiv 3, S. 132; 159f., und Luises Tagebuch 15.12.1776: Basedows Abdankung in: Philanthropisches Archiv III, S. 1ff; Campes Erklärung ebd., S. 97–106. Wiedereintritt nach Nietzold, Wolke, Diss. Leipzig (Grimma) 1890, und Pädagogische Unterhandlungen 1. Jg. (1777), S. 405; S. 598–601 (nachdem man Campes Flucht 400 erst mit Krankheit, dann 402 mit Verlust einiger Männer verschwommen umschrieben hatte). Dagegen das 5-Punkte-Ultimatum der Elsässer Simon, Schweighäuser, Schmohl, W. G. Becker, Mochel bei Nietzold a.a.O., S. 78; Basedows zweite Abdankungsurkunde vom 28.4.1778 bei Nietzold 104 (Anh. StA Dessau C 18b 34.1 fol. 316 und 34.2 fol. 4–7). Er betont ebd., fol. 70, 12.8.1778, keinen Tag der Freude gehabt zu haben. Zieht sich auf die Liturgie zurück, (25.3.1778, fol. 339f.: könne in seinem Alter nicht mehr so viel fürs Institut „leiden“ (von Leiden sprechen ebenso Campe wie Wolke). Fol. 377 Franz’ Gewährung; vgl. Rathmann, Heinrich R., Beyträge zur Lebensgeschichte Joh. Bernh. Basedows aus seinen Schriften und andern ächten Quellen gesammlet, Magdeburg 1791 (21792), S. 111–128. Daß Basedow dann zugunsten einer langen Reise nach Halberstadt die Liturgie versäumte, erregte Franz 1779, der aber schon im Frühsommer 1778 ihm gesagt habe, „daß er ihm nun ein unausstehlicher Mann sei. Darauf soll Basedow das Direktorat öffentlich niedergelegt haben“: berichten Göring, (wie Anm. 22), S. 511, und Nietzold, Wolke, S. 104 nach Trapps Bericht vom 16.6.1778. Die Ausdrucksweise paßt aber gar nicht zu Franz’ versöhnlichem Charakter und der Geschichte, die Sophie Becker berichtet (Gleim/Lichtwer-Festschrift, wie Anm. 2), S. 146. – Campe sagte nach Simon, „daß Basedows unruhiger Charakter das Philanthropin in eine Mördergrube für Lehrer und Schüler verwandelt habe“ (Nietzold, S. 97), und schrieb an Simon (ebd., S. 98): „Dass Basedow ein unruhiger Kopf ist, der weder als Direktor des Instituts noch in irgend einem andern Wirkungskreise lange und anhaltend nach einer geraden Linie handeln kann, habe ich ihm selbst oft gesagt, habe ich auch dem gnädigsten Fürsten gesagt, der dieses so gut als ich wußte“. Basedows Sohn Ludwig (in: Rammelt, Johannes, J. B. Basedow, der Philanthropismus und das Dessauer Philanthropin, Dessau 1929, S. 80) meint, der Fürst sei parteiisch gewesen; das hat er von seinem Vater, der es ebenso auslegt in seinem letzten Brief an Rochow 6.5.1780: „Den Fürsten welchen man gegen meine Anschläge, da ihr Zeitpunkt war, eingenommen hat und der gänzlich unschuldig ist, da niemand stark genug für mich redete und meine Rechte behauptete, ohne deren Behauptung ich nichts ausrichten konnte, diesen großen Wohlthäter meiner Familie, diesen vorzüglichen Mann unter den Fürsten verehre und liebe ich bis ins Grab und mit Bereitwilligkeit zu den allergrößten Aufopferungen“: Schmitt / Tosch (Hg.), Vernunft fürs Volk, (wie Anm. 23), S. 117. Zu Campes Flucht: Niedermeier, (wie Anm. 24), S. 59ff.
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1783: „Daß auch er [Fürst Franz] darunter leidet, dauert alle Rechtschaffene. [...] O der vielen unerzogenen Erzieher unserer Zeit“.62 Das widerwärtigste war dabei der jahrelange Prozeß zwischen Basedow und Wolke um 300 Taler, die dieser aus Publikationshonorar, zwar in lauterer Absicht für Institutsinteressen Basedow verschwiegen, juristisch gesehen aber doch diesem „unterschlagen“ hatte. Druckschriften von beiden Seiten warben um eine Stellungnahme beim Publikum für die jeweilige Partei, verschafften aber dem Institut und ihren beiden Gründern, Luthern und Melanchthon der neuern Pädagogik,63 wie Gleim Basedow und Wolke einmal bezeichnete, eine wenig rühmliche und dem Renommée des Instituts sehr abträgliche Publizität. Dennoch: Es wurde die Pflanzstätte oder die „einzige normale Mutterschule“ der „NEUERN Erziehungsart“ (so auch GutsMuths),64 die „Stammutter aller guten Schulen in der Welt” (Kant).65 Es nahm einen bescheidenen Anfang in dem Haus am Neumarkt, das zuletzt vor seiner Zerstörung als Einhorn-Apotheke an der Ecke des Neumarkts diente, wo Basedow mit seiner Familie und den beiden Adlati, Dohm66 und Benzler67 wohnte 62
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Spazier, Karl, (wie Anm. 42), S. 179 bzw. 184. Lävin Sander in: Gleim/Lichtwer-Festschrift 1969, (wie Anm. 2), S. 148. Daß Basedow sich darüber die Hände rieb, siehe den RochowBand, (Anm. 23), S. 117. Siehe Gleim/Lichtwer-Festschrift 1969, (wie Anm. 2), S. 144: Dort auch etwas zum Prozeßund Streitverlauf 1783, der bekanntlich in einer Schlägerei im Goldenen Ring, dem renommiertesten Hotel der Stadt, gipfelte, wobei „Herr Professor Basedow seine Perücke verlor“ und ihm der Arm angebrochen wurde. Wir nennen nur: Etwas aus dem Archive der Basedowischen Lebensbeschreibung von ihm selbst, betreffend des Herrn Professor Wolke und des Herrn M. Reiches vereinigte Feindschaft gegen ihn, Leipzig 1783 (180 Seiten!), übergehen die weiteren Streitschriften und verweisen nur auf die boshafte Schilderung Spaziers, (wie Anm. 42), S. 181–186. In: Gymnastik für die Jugend, Schnepfenthal 1793, S. 121, 122: „Seit dem Aufblühen der NEUERN Erziehungsart [...] verschwand allmählig die Nacht der Mönchserziehung“. „Normale Mutterschule“: Das in Dessau errichtete Philanthropin [...], Leipzig 1775, S. XVI. Kant an Crichton 29.7.1778, Akademie-Ausgabe, Bd. 10 (1922), S. 234, Nr. 136. Christian Conrad Wilhelm von Dohm (1751–1820; 1786 geadelt), wollte nach Studium bei Ernesti in Leipzig, wo er schon Gleims Bekanntschaft machte, der ihn Gellert empfahl, bei Basedow in Altona die moderne Theologie erlernen. Schrieb in Dessau: Vorgängige Nachricht von dem jetzund vollendeten Elementarwerk, mit Wissen Basedows. – Durch Gillet nach Berlin gezogen. Professor am Carolinum in Kassel, dann Archivar in Berlin. Er übernimmt in seiner Darstellung des Fürstenbundes (wobei er Franz’ Anteil und damit die wahren Hintergünde nicht kennt) die von Johannes v. Müller geprägte Formel vom „Deutschen Aristides“ für Franz. Bemühte sich um Veröffentlichung der Briefe Winckelmanns an Franz. Auf Mendelssohns Bitte schrieb er für die elsässischen Juden 1782 Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, dessen französische Übersetzung Bernoulli in Dessau herausgab. – Denkwürdigkeiten meiner Zeit 1778–1806, 5 Bände 1814–1819. Mit Wolke noch 1808–1810 im Briefwechsel. Zum Antritt bei Basedow siehe Mitteilungen aus dem Literaturarchive in Berlin, N. F. 13 (1917), S. 1ff. Friedrich August Benzler (1752–1810). Durch seinen Landsmann Dohm an Basedow vermittelt, später bei Campe in Hamburg, Rektor in Lemgo und Herford und zuletzt Rektor in Bückeburg. Lernt bei Wolke gutes Latein, verbessert es durch den Schüler Tanne und Basedow selbst. In Briefen an Gleim, der zwischen Basedow und Benzler schlichten muß, und Wolke spiegelt sich Basedows Verschrobenheit gegen Dessau, den Fürsten und das Philanthropin wider. Autobiographisch: Bei Basedow. Aus handschriftlichem Nachlaß mitgeteilt von D[aniel].
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und wo Wolke bereits seit einem Jahr drei Kinder nach der neuen Methode unterrichtet hatte. Zur feierlichen offiziellen Eröffnung wurde dann bewußt der fünfte Geburtstag des Erbprinzen Friedrich, 27.12.1774, gewählt, der damit der vierte Schüler wurde. Der Fürst schickte noch einen weiteren Sohn, den Grafen Franz v. Waldersee, und später auch drei Neffen, darunter später regierende Fürsten wie Leopold von Lippe-Detmold, in dieses Institut, so daß im Sinne der französischen und deutschen Aufklärer und im Sinne Basedows mit der Erziehung und Besserung der Regenten der Anfang gemacht wurde, der bezeichnende Weg des Agathocrators – schließlich hatte Franz, wie wir hörten, beim Besuch Rousseaus in Paris 1775 diesem ausdrücklich berichtet, daß er seinen Sohn nach Rousseaus Ideen erziehe. Es sei nicht verschwiegen, daß das Philanthropin von vornherein doch nur eine Schule für die höheren Stände, d.h. die begüterten, nach Basedow „gesitteten Stände”, sein konnte, die in der Lage waren, die 250 Taler Jahrespension zu zahlen. Aus diesen Kreisen rekrutierten sich die Zöglinge, die tatsächlich von der Newa bis zum Tejo, um eine werbewirksame Formulierung Wolkes zu wiederholen, also von Petersburg bis Lissabon hierher von ihren Eltern gebracht wurden. Die Zahl stieg schnell auf die vorgesehene Zahl von 50 Schülern, so daß sehr bald auch noch das Nachbarhaus am Neumarkt mit belegt werden mußte, nach zwei Jahren aber stellte Vater Franz dem Institut den Fürst Dietrichschen Palast mit seinem großen Garten und Nebengebäuden zur Verfügung, darunter auch den Jagdsaal (Abb. 9), der zum Betsaal umstrukturiert wurde. Das Philanthropin erhielt noch ein weiteres Grundstück außerhalb der Stadt, das von Jean Paul sogenannte Philanthropisten-Wäldchen68 (auch Philanthropistenberg),69 und so waren auch die Lokalitäten geschaffen, um dem Gartenbau, den Bewegungsübungen, den Spielen und überhaupt der sprichwörtlich gewordenen philanthropinischen Fröhlichkeit70 ihren Spielraum zu lassen. Insgesamt durchliefen etwa 160 Schüler die Musteranstalt der Aufklärer: spätere Offiziere und in der Mehrheit wohl Kaufleute,71 wo-
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von Cölln [Enkel Benzlers] in: Schulblatt für die Provinz Brandenburg 53 (1888), S. 383–398. Benzlers älteren Bruder Johann Lorenz (1747–1817) wollte Gleim ebenfalls ans Philanthropin vermitteln, der lehnte ab und kam erst später mit Fürstin Luise und ihrer Schwägerin Albert in Kontakt: „Engel nicht Menschen [...] Sie überhäuften mich und meine Frau [...] mit wahrhaft schwesterliche Liebe [...] Noch immer bin ich ganz trunken von Wonne bei der Erinnerung der glücklichen Stunden, die ich bei diesen unvergleichlichen Damen, vol kindlicher Unschuld, Einfalt u Güte zubrachte“ (an Gleim, Lemgo 14.9.1780, Gleimhaus Halberstadt). Jetzt könne er sich eine Anstellung in Dessau vorstellen. Dazu kam es nicht, aber die Verbindung zu Luise blieb über Mattei bestehen (1794). Siehe Anm. 19. Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 1783, S. 3. Die selbst in der bissigen Darstellung Karl Spaziers (siehe Anm. 42) als das Lobenswerte am Ganzen immer wieder herausgestellt wird. Sportliche Spiele, Reiten und Gartenbau zeigte ja schon der Stich von Basedows Ideal-Philanthropin-Projekt im Agathocrator (1771). Erklärtes Ziel und Realität (deshalb auch Griechisch nur nach Bedarf): Lenz in: Ephemeriden der Menschheit 1786 / II, S. 480ff.: Dennoch gab es gute Lateiner, wiewohl keine Zeitverschwendung auf restlose grammatische Richtigkeit: Ludwig Basedow schreibt und spricht es
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durch sie sich mit ihren Lebensläufen, die nicht in Nachschlagewerke und biographische Handbücher gelangten, unseren Nachforschungen entziehen. Nur ein Gelehrter von Rang, durch den Professor Friedrich Gottlieb Busse (1756–1835; später Professor in Freiberg; Abb. 8), dem neben August Friedrich Wilhelm Crome (1753–1833; später Professor in Gießen) bedeutendsten Lehrer in den naturwissenschaftlichen Fächern am Philanthropin, besonders gefördert, ging aus der Anstalt hervor, Ludwig Wilhelm Gilbert,72 Physikprofessor in Leipzig und Halle. Die „kleine“ Schule war also realisiert, die „großen“ Schulen für den großen Haufen, den gemeinen Mann, sollten folgen, ebenso wie die dazu benötigten Lehrerseminare und die Mädchenschulen. Erst seine Nachfolger und Mitarbeiter, vor allem Carl Gottfried Neuendorf, und der in der pädagogischen Frage emsig tätige Fürst – allein hierin schon war er das vielberufene „Muster” eines Regenten, ein Pädagoge auf dem Thron – konnten diese Ideen in die Tat umsetzen. Wie groß aber im Schwunge dieser Basedowschen Ankündigungen und Versprechungen der philanthropistische Enthusiasmus war, zeigen – zur Belustigung sei dies bemerkt – beispielsweise Taufnamen der von der philanthropinischen Welle begeisterten Väter, die ihre Kinder bereits bei der Geburt dem Institut versprachen; so begegnet in den Akten die Anmeldung eines Heinrich Ludwig Philanthropus Oschatz, und Wolke nannte seine frühverstorbene Tochter Philanthropia. Und bis zum Ende des Philanthropins liegen solche begeisterten Briefe mit der Voranmeldung von Kindern gleich nach der Geburt bei den Dessauer Schuleinrichtungen vor, die also um 1800 Weltruf genossen.73
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wie seine Muttersprache, obwohl Sprechen gar nicht das Unterrichtsziel, Weyel verstünde noch mehr Latein als Basedow, Müller und Gilbert (Anm. 72) ebenfalls perfekt. (1769–1824), Sohn des Berliner Advokats am Kammergericht, war 10 Jahre im Institut; Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 1786, S. 145: Nach Manteufel und v. d. Bussche „hat nun am verwichenen Donnerstag auch noch ein dritter, Gilbert, die Universität bezogen, nachdem er bei uns zu seinem akademischen Studien einen treflichen Grund gelegt hatte. Wenn er, wie von ihm zu erwarten ist, mit eben dem rühmlichen Fleiße, den er hier jederzeit bewiesen hat, seine wissenschaftliche Laufbahn fortrsezt: so kann aus ihm dereinst ein sehr geschikter und braver Mann werden. Gott sei mit ihm!“ Er hörte außer Busse auch Spaziers allgemeinbildende Sonder-Vorlesungen und war nach Lenz 1787 gut in Latein und Griechisch; Lenz sagt ihm eine akademische Karriere voraus – man frage Kurt Sprengel in Halle. Nach Wolke, Anweisung, (wie Anm. 12), S. 328, hätten, Gilbert eingeschlossen, nur sechs Schüler ein Philologiestudium aufgenommen. Reliquiae Philanthropini in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau; vom Weltruf noch der von Gustav Rasmus und Gustav Philippson nach 1848 zur „Handelsschule“ umstrukturierten ehemaligen jüdischen Franzschule sprechen noch Muschi und Wäschke in Das Litterarische Anhalt, Dessau o. J. (1888), S. 189. – Daß Basedow seine 1769 geborene Tochter, die berühmte Emilie (!), habe Pränumerantia Elementaria Philanthropia nennen wollen und nur die inständigen Bitten seiner Frau ihn davon abgebracht (Göring, [wie Anm. 22], S. CIV, Anm. 1; Pinloche, [wie Anm. 9], S. 86, Anm. 4) halte ich für eine posthume Spotterfindung, um Basedows Schrullen zu geißeln – zumindest Philanthropia stimmt nicht; denn den Namen Philanthropin hat er ja erst am 11.9.1774 in Neuwied ersonnen (siehe Anm. 6).
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Von einem Besuch im Philanthropin 1778 schreibt der Dichter Matthisson:74 Perschkes [Lehrer in Klosterbergen] Enthusiasmus für alles, was er im Dessauer Erziehungsinstitut sah und hörte, sprühte nicht Funken, sondern schlug in Flammen auf. Matthisson tat im Stillen den Wunsch, nach vollbrachtem Universitätswerke hier in die Reihe der Lehrer zu treten. Hedemann [Matthissons Mitschüler] hatte so großes Wohlgefallen am Tun und Wesen der Philanthropisten gefunden, daß er, um der Natur auch wieder näher zu rücken, gleich diesen ihren zwanglosen Kindern, sich mit Perschkes freudiger Zustimmung unverzüglich das Haar stutzen ließ.
Die Stelle habe ich stellvertretend für viele ausgewählt, weil sie so typisch für die Philanthropinbegeisterung jener Jahrzehnte ist: Perschke ist selbst ein namhafter Lehrer an der Internatsschule Klosterbergen gewesen, wo einst Wieland gebildet wurde. Matthisson faßt gleich den Entschluß, hier einmal Lehrer zu werden, was er auch ausführte (1781–1784) und wie es auch mehrere andre Jünglinge der Zeit dachten und taten; Hedemann läßt sich angesichts der natürlichen Mode, die großen Einfluß auf ihre Zeit ausübte, sofort das Haar stutzen: Die Abschaffung der Perücken, die vielen Aufrufe für eine gesündere Lebenshaltung und Tracht in Dessauer Philanthropin-Schriften und Publikationsorganen haben gewiß ihren Teil dazu beigetragen, daß Zopf und Schnürleib verschwanden – wie gleichzeitig hier das qualitätvolle Mosigkauer Rokoko innerhalb eines Jahrzehnts der Wörlitzer Natürlichkeit weichen mußte, was die Zeitgenossen durchaus sahen und notierten. Die Instituts-Uniform, ein blauer Tuchrock mit weißen Aufschlägen – auch die Lehrer trugen sie, Goethe erkennt 1783 Matthisson bei seinem Besuch in Weimar sofort als Lehrer des Philanthropins –, tat das ihre zu dem freundlichen Bild und sollte die praktizierte Gleichheit in der Behandlung der Stände unterstreichen. Und so wird noch eine andre Stelle aus Matthissons Reisebericht von 1778 bedeutsam: Man wohnte der „Gottesverehrung“ (oder Liturgie) im Philanthropischen Betsaale (Abb. 10 und 12) bei. Basedow hielt eine Rede voll Kraft und Salbung über die Pflichten des kindlich gesinnten Zöglings gegen den väterlich gesinnten Lehrer. Die Zöglinge, alle von freiem Ausblick und blühender Gesichtsfarbe, trugen gestutztes Haar und gleichförmige Kleidung. Kein Federhut unterschied, wie zu Klosterberge, den Edelmann vom Bürgerlichen, ebenso wenig wie eine reicher besetzte Tafel. Nie fehlte das fürstliche Paar in diesen erbaulichen und herzerhebenden Gottesversammlungen. Nach der Gottesverehrung machten die fremden Besucher im Garten des Philanthropins, der in umgitterten Quadraten unter die Zöglinge verteilt war, Basedows Bekanntschaft. Die Physiognomie des finsteren Mannes75 gehörte zu den urkräftigsten und kernhaften, welche man häufig auf Albrecht Dürers und Lukas Cranachs Gemälden antrifft. Sein Sprechen war kurz und gediegen, wie der altrömische Steininschriftenstyl. Einen schönen Knaben von ungefähr acht Jahren stellte Basedow den Reisenden vor, indem er sagte: ,Das ist unser Erbprinz. Er lernt itzt gehorchen, um einst befehlen zu können‘. 74
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Autobiographie aus „Zeitgenossen“, I. Band, 4. Abt., Rudolstadt 1816, S. 19. (Hedemann und Perschke bekamen Ärger mit dem Rektor von Klosterbergen Friedrich Gabriel Resewitz und strengen Verweis wegen des unkonventionellen Haarstutzens. Vgl. selbst den Basedow-Verehrer und -Freund Gleim: 1787 in einem Brief an Benzler: „Basedows Starrkopf und seine starrköpfigen Augenbrauen“, in: Gleim/Lichtwer-Festschrift, (wie Anm. 2), S. 148.
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Bei so viel ehrlicher Begeisterung für den jugendlichen Hauch, den das Institut, den der ganze Dessau-Wörlitzer Kulturkreis ausstrahlte und die Besucher ganz gefangen nahm, bei der Begeisterung, die auch Basedow selbst für sein Werk zeigte, wird uns die Utopie, die in der Überschätzung der Erziehung für die Menschenbesserung lag, noch einmal recht deutlich. Die wissenstheoretische Voraussetzung der philanthropistischen Anthropologie ist die Rückbesinnung auf die Natur: Die Erziehung ist Dienst am Menschen, an einer Natur. Die Erziehung der Philanthropisten ist von hohem Ethos getragen. Sie erklären immer wieder, daß aller Unterricht ohne moralische Erziehung nach ihrer Auffassung keinen Wert habe. Physische und moralische Erziehung müssen eine Einheit bilden, der Sachunterricht anschaulich und nach dem neuesten Wissensstand eingerichtet werden, wobei den Naturwissenschaften mehr Raum zu geben ist. Basedow machte sich bei der Abfassung des Elementarwerks Wolkes (Abb. 5) frische von der Universität mitgebrachten naturwissenschaftlichen Kenntnisse zunutze und konnte den sportlich durchgebildeten Jeverländer und andere junge Lehrkräfte für die körperliche Ertüchtigung der Schüler einsetzen. Dem Verbalunterricht, wie er trotz Ratichius, Comenius und Locke bis auf seine Zeit noch immer üblich war, setzt er Realunterricht mit dem Prinzip der Anschaulichkeit und Modellsammlungen entgegen, ohne den Sprachunterricht, wie dem Philanthropin immer wieder vorgeworfen wird, zu vernachlässigen. Das Lateinische bespielsweise nimmt noch einen adäquaten, ihm damals noch zukommenden Raum ein, da die dereinstigen Studienbewerber Latein noch schriftlich und mündlich beherrschen mußten.76 Wir haben sogar den Protest einer Mutter in den Akten, deren Sohn nicht studieren sollte, gegen den Umfang des Lateins am Philanthropin. Daneben öffnete man sich dem neusprachlichen Unterricht: Französisch wurde umfänglich von herausragenden muttersprachlichen Lehrerpersönlichkeiten gelehrt. In der erwähnten Gazette pour la Jeunesse wurde sogar eine weitverbreitete französischsprachige Schülerzeitung von beachtlichem Niveau geschaffen und für das Unterrichtsgeschehen genutzt. Bei der Begeisterung des Dessauer Kreises für England wurde selbstverständlich auch dem Englischen ein Platz eingeräumt, dessen Erlernung in den rückständigen Gebieten des Reiches als staatsgefährdend verboten war – in Preußen (Krawall gegen Trapps Ankündigung, Englisch zu lehren, 1779 in Halle) ebenso wie in Österreich noch 1780!77 Sogar das Italienische78 und Russische79 wurde versuchsweise aufgenommen, ist aber 76 77 78 79
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Vgl. die Anm. 71. Hirsch, E., Diss. Halle 1969, (wie Anm. 2), S. 40, in der Druckfassung 2003 S. 53. Lehrte Spazier (Carl Pilger, [wie Anm. 42], S. 169) fakultativ in morgendlichen Privatstunden. Vorstoß des Handelslehrers Johann Michael Friedrich Schulz(e) schon wegen der vielen Balten beim Direktorium: Anh. StA Dessau C 18b 34.2 fol. 172, 195. Der „Spracher“ Wolke konnte ja auch Russisch. Die Pädagogischen Unterhandlungen 2. Jg. (1779), S. 465 erläutern: „Die fremden Töne werden anfangs den Schülern versinnlicht, durch Vorweisung gezeichneter oder gemalter Figuren [es gab auch eine ganze Gemäldesammlung im Turm (Abb. 9) des Betsaals, der den Krieg überstanden hatte und erst 1997 dem Neubau der Sparkasse weichen mußte], wirklicher Gegen-
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wohl nicht weit gekommen. Die Sprachen sind dabei nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Ich zitiere nur eine für die Methodik des Dessauer Philanthropins bezeichnende Verlautbarung des Instituts: „Die Mitteilung fremder Sprachen geschieht bey der Erlernung nüzlicher Sachkenntnisse“.80 Das wichtigste Anliegen, die anschaulich-sinnliche Unterrichtsweise und die daraus entwickelte Methodik, ist auch daraus erkennbar: Die Grundlage bilden zunächst die Tafeln zum Elementarwerk, die dem Orbis pictus des Comenius verpflichtet sind, denselben nur auf den neuesten Stand bringen und dabei durch die hervorragenden Stiche Daniel Chodowieckis zugleich manch gesellschaftlich hochbedeutendes Charakterbild des 18. Jahrhunderts als pädagogisches Pendant zu den bekannten Hogarthschen Arbeiten liefern. Ein paar Beispiele aus der Vielzahl der Unterrichtsstoffe seien aus dem Elementarwerk herausgegriffen: Anatomie des Menschen im Vergleich mit dem Blatt aus dem Orbis pictus des Comenius, der Abschnitt bei Basedow benutzt die Tafel 9, die zugleich einen Arztbesuch mit einschließt. In nuce ist hieraus schon der Goethesche Tadel ersichtlich, daß die Zeichnungen seines Elementarwerkes noch mehr als die Gegenstände selbst zerstreuten [...], indem das, was in der Welt-Anschauung keineswegs zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen nebeneinander steht; weswegen es auch jener sinnlich-methodischen Vorzüge ermangelt, die wir ähnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen müssen.
Die Demonstration der Zoologie (Kenntnis der Tiere, Tafel 21/2) geht bis zur Sektion einer Raupe, die offensichtlich auch im Unterricht praktiziert wurde. Bis in die Einzelheiten des täglichen Lebens geht der Lateinunterricht des Orbis pictus: z.B. Der Pferdestall. Ein entsprechendes Blatt fehlt im Elementarwerk, aber der fürstliche Reitstall – die Philantropinisten durften dort Pferde leihen und im Lustgarten-Hippodrom reiten – bot genügend Anschauung, und die ausgefallenen Latein-Vokabeln hat man wohl nicht mehr für nötig befunden. Es hatten sich aber zwei Modelle in der Schausammlung des Philanthropins erhalten, die von den Schülern selbst im handwerklichen Unterricht unter Anleitung von Handwerksmeistern aus der Stadt hergestellt wurden. Nur einer ist uns bekannt; er ist, wie die kleinen architektonischen Verzierungen nahelegen, wohl ein direkter Modellnachbau aus dem Dessauer Marstall (Erdmannsdorff 1775); eine Abbildung gibt Hermann Lorenz in den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 16 (1906), der uns dankenswerter Weise damals noch vorhandene
stände oder Modelle von ihnen, auch in gewissen Sprachzielen durch Minen und Gebärden, damit man der Übersetzung der fremden Sprachen in die bekannte Sprache so wenig als möglich bedürfe. So lernt man die fremden Sprachen am leichtesten und am geschwindesten und erhält sie am festesten. Wenn nur täglich viel über die Sinne fallenden Dinge wie in der Muttersprache gesprochen wird: so kommt alt und jung zur Kenntnis derselben, fast ohne zu wissen, wie“. Ebd., 3. Jg., S. 528, Anm.: erst sprechen, dann lesen!
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Reste der Modellsammlung abgelichtet hat; erst nach 1945 sind die meisten der abgebildeten Objekte verloren gegangen. Überhaupt wurde handwerklicher Unterricht durch Meister aus der Stadt oder auch in deren Werkstätten unterrichtet; er betraf Hobeln, Schreinern, Drechseln und andere vorwiegend Holzarbeiten leichter Art, wie Basedow sie in seinen Propagandaschriften gefordert hatte. Lorenz zeigt auch das Modell eines Schöpfwerks oder das einer Flußbadeanstalt (Abb. 18), wie sie damals in Dessau existierten, oder das Modell eines Brückenjochs. Das Modell eines vornehmen Hauses (es ist das Modell des Schlosses Großkühnau bei Dessau)81 führt u.a. in die Zimmermannsarbeit ein (vgl. die Tafeln 35 und 36 des Elementarwerks). Von der Technologie des damaligen Bauwesens (es sei wenigstens auf die Lehrbücher der Technologie verwiesen, die der Dessauer Seminardirektor Carl Philipp Funke bei Bertuch gegen die Jahrhundertwende herausgab und die im ganzen deutschen Sprachbereich Verwendung fanden) ist das Modell eines Baukrans (Abb. 17) übrig geblieben. Von der Gartenarbeit hörten wir schon. Für die Hofmeister, die das Elementarwerk auf Landgütern benutzten, waren aber im Kupferwerk auch Berufsbilder durch Stiche angeregt; so zeigt z.B. die Tafel 55 (Abb. 15) Werkstätten der Kürschner, Gerber und Töpfer sowie eine Glashütte. Die Tafel „Angewandte Mechanik“ (Tafel 88) mit den verschiedenen Formen der Kraftübertragung (Abb. 13) ist für die Physik interessant. Zur Verdeutlichung des Blitzschlages existieren noch zwei Kirchenmodelle, und ähnlich muß ein Soldat (s.u.) mit seinem elektrischen Gewehr funktioniert haben (die große Kirche und der Soldat sind bei Lorenz abgebildet): Der über den Auffangknopf geleitete Funke muß, wenn die Drähte des Blitzableiters auseinander gebogen sind, er also abgestellt ist, zwei Spannungen überspringen und entflammt dann den Äther im Kirchendach. Vom Naturalienkabinett, das viel größer als das erhaltene der Franckeschen Stiftungen gewesen sein muß, denn es wurde zeitweilig ein Lehrer als Kustode desselben abgestellt, hat sich nur ganz wenig erhalten. Wir wissen von einer umfangreichen Sammlung ausgestopfter Vögel, z.T. von dem um das Landschul81
Heute Sitz der Kulturstiftung Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Das Modell zeigt noch das Doppelwalmdach, das im Biedermeier durch ein neues Dach ersetzt wurde, als Schloß Kühnau zum Landesmuseum ausgebaut wurde: Man hielt es stets für das Dietrich-Palais (= Philanthropin-Hauptgebäude); es ist aber das Holzmodell zu Schloß Kühnau des Baumeisters Christian Friedrich Damm von 1752, das der „Kühnsche Prinz“ Albert der Modellsammlung des Philanthropins schenkte. Die Richtigstellung wird Helmut Erfurth verdankt, siehe: Museum für Stadtgeschichte Dessau (Hg.), Fürst Franz von Anhalt-Dessau 1740–1817. Fürst der Aufklärung, Dessau 1990, S. 16. (Hier auch Abb. der Modelle: Schöpfwerk, Kirche zur Veranschaulichung des Blitzeinschlags, Kran, Pferdestall, Brückenjoch, Turngeräte nach: Hermann Lorenz, Die Lehrmittel und Handarbeiten des Basedowschen Philanthropins,in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 16/1906, S. 303–332 nebst 12 Tafeln); vgl. die Aufstellung, die Rammelt, (Anm. 61), S. 127 gibt. Reste der Naturaliensammlung in: Hirsch, E., Dessau-Wörlitz, (wie Anm. 4), Tafel 44 (hier auch: Flußbadeanstalt und die Kapelle mit Dachreiter zur Demonstration eines Blitzeinschlags). – Prinz Albert hatte in seiner positiven Jugendphase Basedow zudem 100 Taler für ein Exemplar des Agathocrators gezahlt.
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wesen so verdienten, mit Dessau und seinem schulfreudigen Fürsten engstens befreundeten Domherrn Friedrich Eberhard von Rochow82 auf Reckahn gestiftet. Der Religionsgeschichte, der Ethnologie und der Kulturkunde mag eine vor dem Kriege noch vorhandene Chinesen- oder Buddhafigur (Abbildung bei Lorenz) gedient haben. Den grob gearbeiteten Modellen von Pflug und Egge (Abbildung ebd.) sieht man die Herkunft aus den Philanthropin-Schülerwerkstätten noch an. Sie waren schon zur Zeit des großen Aufsehen erregenden ersten Schauexamens im Mai 1776 vorhanden und Gegenstand eines lateinisch geführten Unterrichtsgesprächs.83 Da viele Zöglinge aus dem deutsch-livländischen und einige aus dem russischen Landadel84 stammten und für eine militärische Laufbahn gebildet werden sollten, fehlt es nicht an entsprechendem Anschauungsmaterial, den schon genannten Infanteristen mit elektrischem Gewehr nannten wir schon, auch das Modell eines Kriegsschiffes gehört hierher und das Modell einer Festung, das der Fürst wohl zur Unterstützung der Intention der Chodowiecki-Tafel „Belagerte Festung“ (Tafel 68 aus dem Elementarwerk) aus einer Marmorplatte (Schiff und Festungsmodell bei Lorenz abgebildet) arbeiten ließ; es ist erst nach 1945 verloren gegangen. Es sind sehr viele bedeutende Offiziere aus dem Philanthropin hervorgegangen, die mit den Armeen Kutusows und Blüchers Dessau wiedersahen; einige werden wir weiter unten noch aufzählen. Nutzen wir noch weitere Kupfertafeln des Elementarwerks zur Verdeutlichung von Basedows methodischen Intentionen: In einer Tafel über Jagdwesen und Nahrungserwerb (Tafel 87 aus dem Elementarwerk) findet sich auch der Lachsfang,
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Siehe den Aufsatz Basedow, Rochow und Franz von Dessau als Wegbereiter der „neuern Pädagogik“, in: Vernunft fürs Volk, (wie Anm. 23). Rochow unterhielt auch zwei „Famulanten“ im Philanthropin, womit er sich strafbar gemacht hatte, da Friedrich II. gegen seinen mit den Philanthropisten konspirierenden Minister von Zedlitz verboten hatte, Schüler nach Dessau zu schicken. Man versuchte aber auf vielfältige Weise, das Reskript zu unterlaufen. Es sind uns mehrere Berichte des sog. Großen Examens vom 13. bis 15. Mai 1776 überkommen: von Campe in: Allg. Deutsche Bibliothek 9, S. 557f.; von Rötger, Briefe eines ganz unpartheyischen Kosmopoliten über das Dessauische Philanthropin, Leipzig 1776; von Rochow (dieser wurde von Wieland, der wegen Krankheit nicht selbst hatte kommen können, sogleich im Teutschen Merkur 1776 / II, S. 186–196 abgedruckt), Schummel, Fritzens Reise nach Dessau, Leipzig 1776, dazu: Teutscher Merkur 1777 / I, S. 102; Stroth, Bezeugung der Warheit von der öffentlichen Untersuchung des Philanthropins am 13. 14. und 15 May, Quedlinburg 1776; Schreiben Herrn Zollikofers an Herrn Pfarrer Lavater in: Ephemeriden der Menschheit 1776 / II, S. 202–208; Zollikofer an Garve 31.8.1776 (Briefwechsel zwischen Garve und Zollikofer, Breslau 1804, S. 218–220). Drei Briefe, von Eck, Professor in Leipzig, von Oberprediger Rambach in Quedlinburg, und von Pastor Reccard in Klosterbergen, druckt Basedow selbst ab in: Philanthropisches Archiv, 2. Stück, S. 107ff. Kritische Stimmen: Mangelsdorf, Versuch 1779, S. 395–410; Benzlers Autobiographie in: Schulblatt für die Provinz Brandenburg 1888, (wie Anm. 67), S. 394. Als „Allgemeine Kosmopolitenwallfahrt“ schon 1782 im Almanach der Belletristen (192) bewitzelt. Immerhin verspricht Basedow in seinen Anreden an das „Weltbürgertum“ im Philanthropischen Archiv, 1. Stück, S. 16, wenigstens „Europäer“ zu erziehen. Butzmann, Erich, Vom Einfluß des livländischen Adels auf die Umgestaltung des Dessauer Erziehungsinstituts 1783, in: Schriften des Dessauer Philanthropinums, H. 3, Dessau 1957, S. 7–11.
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dargestellt am Dessauer Lokal, womit dieser gerade nicht sehr qualitätvolle Stich Chodowieckis vom uralten Dessauer Muldwehr und Gestänge mit der Andeutung des Knobelsdorff-Baus des Dessauer Stadtschlosses weltweite Verbreitung fand. Entgegen der Goetheschen Kritik, die wir bei etlichen Tafeln nicht in Abrede stellen wollen, läßt sich vielfach das Prinzip des stufenweisen Fortschreitens vom Einfachen zum Komplizierteren erkennen. Mit den Nahrungsmitteln und ganz vertrauten häuslichen Szenen in einem noch sehr kinderreichen Zeitalter beginnt es Tafel 1 (rechts die Basedow so vielfach angekreidete Szene der stillenden Mutter, so wie er ja gleich anfangs den Geburtsvorgang in seiner ganzen Natürlichkeit erklären wollte). Auch bei der nach Einwänden korrigierten zweiten Fassung dieser Tafel hat er sich davon nicht abbringen lassen. Er wollte ja gleich im Kindesalter dafür werben, daß das Ammenwesen verdrängt würde, indem jede Mutter mit ihrem natürlichen Muttergefühl ihr Kind selbst stillen sollte. Wir sehen also, wie die Aufklärung in ihrer ganzen Breite einschließlich der popularmedizinischen Schriften über gesunde Lebensführung – wir nennen die französischen / schweizerischen Ärzte Simon André oder Clement Tissot und verweisen nicht zuletzt auf Rousseaus Émile – hier eingeflossen ist. Für Jean Paul ist Basedow ohnehin „der geistige Übersetzer des Émile in Deutschland“ gewesen, doch verwahren sich die Erziehungsgeschichtler des 19. Jahrhunderts incl. Pinloche mit Recht dagegen, den Philanthropinismus als Rousseauschen Ableger zu betrachten.85 Üble Gewohnheiten der Kinder bei Tisch heißt die 2. Tafel, und sie gibt wieder ein Genrebild. Typisch der erzieherische i-Punkt, daß links einem armen Mann, der darum bittet, von der gedeckten Tafel verabreicht wird. Es folgen allerlei Spiele der Kinder: Besuchsspiel / Blinde Frau / Reifen-Kreisel-Drache / Federballspiel, damals Volant genannt (Tafel 6 aus dem Elementarwerk), das die Philanthropisten, wie auch „Klopfball“ (Tennis), in Dessau zu großer Beliebtheit brachten, alle Kreise und auch die Weiblichkeit besaß die größte Gewandtheit darin, wie ein Reisender berichtet.86 Und so läuft das schrittweise Vorgehen weiter über diese Tafel 16 von den „Beschäftigungen in den vier Jahreszeiten“, seit der Renaissance ein Thema der Zeit und seit James Thomson sogar der hohen Literatur, Musik und Kunst. Schließlich dringen wir dann aber schon vor zu moralischen Erörterungen und Tugenderziehung auf Tafel 28, die „Macht der Angewöhnung“ überschrieben ist: Tabak / Der Geizige / Der Wollüstling / Der Hochmütige. Für die Aufklärung bezeichnend die Tafel 80: „Vorurteile gegenüber der jüdischen Religion“, hier übrigens der einzige Porträtstich im Elementarwerk: Moses Mendelssohn! (Abb. 16) Aber dann finden sich auch regelrechte historisch-dialektische Tafeln, die eine ganze Entwicklung nach den Hauptetappen skizzieren sollen. Eine solche ist die Tafel 33: „Ursprung und Unterschied der Staaten“: „Berat85 86
Pinloche, (wie Anm. 9), S. 59, Anm. 3. Müller, Adolf [hallescher Medizinstudent aus Bremen], Briefe von der Universität in die Heimat. Aus dem Nachlasse Varnhagens von Ense, 4. Band, S. 189f. (18.4.1805).
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schlagung eines halbwilden Volkes, Obrigkeit anzuordnen“ / „Vorstellung der republikanischen Regierung“ / „Vorstellung der monarchischen Regierung“ / „Eine Stadt und Gegend, welche unter der Regierung steht“. Schließlich ist auch eine Tafel 85 der Heraldik gewidmet, wobei Basedow geschickt die vier Wappen der Hauptbeförderer seines philanthropinischen Plans für die jeweiligen Stände verwendet: zwei kaiserliche Wappen: das deutsch-römische (Joseph II.), das russische (Katharina), das dänische (Christian VII.), womit ein königliches Wappen gezeigt wird, und schließlich als Beispiel für ein fürstliches Wappen das anhalt-dessauische, wo ihm schließlich die Möglichkeit gegeben wurde zur Entfaltung seiner pädagogischen Intentionen. Wie das Blatt über die „Entwicklung der Staaten“ ist auch die Tafel 4, also eine der frühesten, als dialektischer Prozeß angelegt und vermittelt im Überblick eine menschheitsgeschichtliche Entwicklung: Verschiedene Behausungen, Höhlen, Zelt, Laubhütten, ländliche und städtische Wohnungen, ein pädagogisches Programm, das sich auch in den Wörlitzer Anlagen gestaltet findet. Worin die ganze Welt Erbe des Dessauer Philanthropins geworden ist, das war die Einführung des Schulsports als Unterrichtsdisziplin, die nicht nur Bewegung zwischen die einzelnen Schulstunden bringen und der Gesundheit dienen sollte wie ihr Vorläufer, die sog. Locomotionen in den Franckeschen Stiftungen: Sie wurde Mittel der moralischen Erziehung, und die Dessauer Turnpädagogen (Basedow, Wolke, Campe, Simon, DuToit, Neuendorf, Olivier, Peters, Lenz, Vogel u.a.) hatten durch ihre Überlegungen bereits in vielen Disziplinen eine auf Leistungssteigerung abzielende Unterrichtsmethodik entwickelt. Es wurde bei verschiedenen Übungen (die z.T. ihrer Schädlichkeit wegen längst nicht mehr praktiziert werden, wie das Tragen von Sandsäcken mit ausgestrecktem Arm, das aber GutsMuths noch beibehielt) sorgfältig über die Leistungssteigerung Buch geführt.87 Auf einem Zeitungsfoto von 193888 (Abb. 19) sieht man in selbstgebastelten Schülermodellen des Philanthropins noch heute ganz geläufige Sportgeräte wie Pferd, Barren, schräge Leiter, zum großen Teil Erfindungen des Philanthropins und besonders DuToits, außerdem erhalten wir Nachricht von folgenden weiteren Sportarten: Tanzen, Reiten, Fechten, Gymnastik, Baden und Schwimmen im Sommer, auf dem Eise gehen und Schlittschuhlaufen im Winter; Pferdsprung, Voltigieren; Behendigkeitsübungen und Mutproben, die also wieder unmittelbar der moralischen Erziehung dienen sollten wie Abspringen vom rollenden Wagen, vom Kahn zum Schiff usw., Dinge, wie sie die Zufälligkeiten des späteren Lebens erfordern könnten, ähnlich das Waagehalten, das Gehen auf einem aufgekanteten Brett, Ba87
88
Vgl. zahlreiche Aufsätze von Karl (v.) Waßmannsdorff, siehe Hirsch, E., Diss. Halle 1969, (wie Anm. 2), S. 231ff., in der Druckfassung 2003, S. 324ff., Kapitel: Dessau die Wiege der neueren Turnkunst, überarbeitet in: Albrecht, Peter / Hinrichs, Ernst (Hg.), Das niedere Schulwesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 20), Tübingen 1995, S. 312–322; Druckfassung 2003, (wie Anm. 2), S. 324ff. Abb. 10 in: Philanthropismus und Dessauer Aufklärung, (wie Anm. 20), S. 71.
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lancieren sowie Übungen am Schwebebalken, bekannt aus GutsMuths Turnbuch (Abb. 20), bei dem das dickere Ende festsaß, das sich verjüngende freischwebende Ende schwankt: So wollte man die Kinder daran gewöhnen, Gefahren abzuschätzen und ertragen zu lernen; und dem dienten ja auch die sog. „Casualtage“, die monatlich einmal veranstaltet wurden, wo man mit ungeheizten Zimmern und sonstigen durch eventuelle Umstände bedingten Unbequemlichkeiten zurechtkommen mußte. Auf Abhärtung wurde überhaupt größter Wert gelegt. Der erzieherische Wert tritt besonders in den Übungen hervor, die eine Leistungskontrolle ermöglichten und damit, bei planmäßigem täglichen Training, auch die Möglichkeit einer Leistungssteigerung und -kontrolle boten. Dabei wird vom frühesten Methodiker und Systematiker der „physischen Erziehung“, die nach Campe und den anderen Philanthropisten eine Einheit mit der moralischen bildet, von Peter Villaume im 8. Band von Campes Allgemeiner Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens89 1787 ausdrücklich auch hier das stufenweise Vorschreiten vom Leichteren zum Schwereren als Kennzeichen der Dessauer Methodik hervorgehoben. So hören wir vom Springen in die Tiefe, in die Höhe – die Springpfeiler mit aufgelegter Gerte auf verstellbaren Holzstiften sind auch schon eine Dessauer Erfindung –, wir hören ferner vom Weitsprung mit und ohne Springstock (es kam nur auf die Weite an; den Stabhochsprung hat erst GutsMuths entwickelt) über den sich allmählich von 3 auf 8 Fuß verbreiternden berühmten Sprunggraben: alles ist auf dem GutsMuths-Stich (Abb. 20) abgebildet. Selbstverständlich war dieser Graben auch wieder in erster Linie zur Leistungssteigerung und als Mutprobe gedacht, Villaume hat aber Weitsprünge bis 12 Fuß gesehen – man bedenke, daß es keine Turnschuhe oder überhaupt Sportdreß gab. Bei Schlechtwetter mußte man auf Arten von Hallenturnen bedacht sein: Springen über ein von zwei Personen geschwungenes Seil, Barren- und Leiterübungen; auf der schrägen Leiter (Erfindung DuToits) mit verschränkten Armen hinaufgehen, Auf- und Abhangeln, sodann Baumklettern, Werfen; Raufen oder Ringen, Kegelspiel, Reifen, Schaukel, Ballspiele, Ballonspiel und Volant (der schon genannte Federball), Schießen mit dem Pfeil nach der Scheibe, Schnellauf und Wettlauf - und hier müßte etwas über die berühmten alljährlich ausgerichteten, auch von Goethe mit Fritz von Stein besuchten Drehbergspiele90 gesagt werden, bei denen auch die kleinen Philanthropisten involviert waren. Die Turnhistorie, z.B. Karl (von) Waßmannsdorff, schätzt ein: „Mit der Dessauer Anstalt beginnt tatsächlich die Geschichte des deutschen Turnens der neuesten Zeit“.91 Und Lenz, der ehemals Adjunkt Basedows in Dessau und später Latein- und Sportlehrer in Schnepfenthal
89 90 91
S. 441ff. Weitere zeitgenössische Darstellungen siehe Hirsch, E., (wie Anm. 87). Hirsch, E. zuletzt in: Nikephoros. Zeitschrift für Sport und Kultur im Altertum 10 (1997), S. 265–288 (mit vollständiger Literatur). In: Monathsschrift für das Turnwesen 1886, S. 282.
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war, schreibt schon 1800 von einer Skandinavienreise, wo er auf Turnvereine stößt: „Von Dessau ging die Gymnastik hernach ins übrige Deutschland und selbst in fremde Länder über“.92 Alljährlich wollte man ein bis zwei Monate in Zelten auf dem Lande wohnen: Daraus wurden die Schulwanderungen und Turnfahrten, die die Philanthropiner über Barby und Gnadau bis nach Magdeburg, nach Sandersleben, zum Muldenstein, mehrmals in den Harz und bis Naumburg führten. Die Turnfahrten blieben sicher nicht ohne Einfluß auf die Wanderlyrik der Romantik. Wir denken an Wilhelm von Burgsdorf (1772–1822), der die fünfzehntägige Harzwanderung 178693 beschrieb und der in keinem der Tagebücher der Romantiker fehlt. Das waren Neuerungen in der Jugenderziehung, die bislang unvorstellbar waren und auch viel Kritik seitens der schulgerechten Pädagogen provozierten, die aber vor allem Ausdruck des über Dessau-Wörlitz liegenden jugendlichen Hauchs sind, den wir schon mehrmals anklingen ließen; wir haben sehr weltliche Liederbücher von 1779 und 1782, die 210 Lider (Abb. 23 und 24) aus der Produktion des Philanthropins, und erstmalig ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das imstande war, das bislang noch immer mittelalterlich gehandhabte Pauksystem abzulösen. Leibesstrafen waren im Philanthropin streng verboten und führten in einem Fall sogar zur Relegierung des Lehrers. Aus dem Geist dieser Anstalt – und dafür haben wir etliche Zeugnisse – entstand eine weltoffene Generation, die sich zeitlebens mit Freuden ihrer frohen Dessauer Jugendzeit entsann. In der positiven Epoche der französischen Revolution war es ein Mann, der als junger Lehrer in Dessau gewirkt und am Philanthropin neuere Geschichte gelehrt hatte, der nun – wir hörten eingangs davon – den Sturm auf die Tuilerien befehligte, Johann Friedrich (Jean Frédéric) Simon. Als der Freiheitskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft begann, standen schon viele ehemalige Philanthropin-Schüler als Generäle in den vordersten Linien oder befanden sich in den Hauptquartieren Blüchers oder v. Wittgensteins, General v. Golz, die russischen Generäle Marschoff, Gebrüder Grafen Mannteufel, deren jüngster bei Leipzig fiel, wenige Tage, nachdem er den Tummelplatz seiner Jugendjahre hier in Augenschein genommen, ferner v. Rönne, v. Dahlen, einiger andrer nicht zu gedenken,
92 93
Bemerkungen auf Reisen in Dänemark, Schweden und Frankreich gemacht [1796], Gotha 1800, S. 38f. In: Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 1786, S. 276, 281, 283, 291, 300, 305 und als Separatum: Kurze Beschreibung einer Harzreise des Dessauischen Erziehungsinstituts, Leipzig 1786, 52 Ss., vgl. Jugendzeitung 1787, S. 98 (auch die Reise nach Barby 1785 hat er beschrieben und seinen Eltern geschickt, leider ist sie m. W. nicht gedruckt erschienen, doch berichtet auch hierüber die Jugendzeitung 1785, S. 281ff.): Lorenz, Hermann, Die Schülerwanderungen am Philanthropinum zu Dessau, in: Jb. für Volks- und Jugendspiele 11 (1902), S. 211–229.
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wie ein ehemaliger Schüler (der Dessauer Kammerpräsident Ludwig [v.] Basedow, der jüngste Sohn Basedows) in seiner Autobiographie 1834 schreibt.94 Nicht zu übergehen und doch nur kurz zu erwähnen möglich, daß außer GutsMuths auch Turnvater Jahn und mit ihm Friesen gerade zur Zeit der Befreiungskriege den engsten Kontakt zum Dessauer Kreise hielt (u.a. zum Militärtheoretiker Berenhorst). Hier in Dessau wirkte ja auch der dritte im Dreigestirn der Turnväter, Gerhard Ulrich Anton Vieth. Es muß der Hinweis auf die Rolle genügen, die Vieth, Adolf Werner und andere in Dessau mit dem Unterlaufen der Turnsperre von 1820–1842 in Deutschland gespielt haben. Von den berühmteren Absolventen des Instituts haben wir hier fast ausschließlich die Militärs namentlich genannt mit Ausnahme des Halle / Leipziger Physikprofessors Ludwig Wilhelm Gilbert, des gefeierten Herausgebers der Annalen der Physik (1799–1824). Dagegen lieferte das Institut aus meiner Zeit manche theils in der Diplomatie, theils als Militärs bekannt gewordene Namen z. B. den Hannöverschen Minister Grafen von Münster, den Russischen Gesandten Baron von Schröder in Dresden, den als Gesandten in Paris verstorbenen General von Golz, den Sohn eines holländischen Admirals Dedel, welcher schon als Knabe mit seinem Vater die Seeschlacht bei Doggersbank [1781] mitmachte und wahrscheinlich einer der jetzt bekannten Niederländischen Diplomaten ist [...];95 v. Nostiz, der im Jahre 1783 beim Abschied von Salzmanns Institut in Schnepfenthal unter heißen Thränen von allen, allen Abschiedsküsse erhielt [Dessauische Jugendzeitung, 20. Stück 1783), hat später als Adjutant an Blüchers Seite ausgehalten, und der von uns erwähnte Dessauer Philanthropist v. d. Goltz ist auch Blüchers Adjutant geworden.96
Es müßten nun die Folgen des Philanthropismus für das Land herausgestellt werden durch die Landesschulreform, die Carl Gottfried Neuendorf (Abb. 4) in den Schulordnungen von 1785 und 1787 durchsetzen konnte und damit die Ideen Basedows vollendete in einem konsequent vom Konsistorium getrennten, erstmals in Deutschland staatlichen Schulsystem, das sich bis in die kleinste Dorfschule erstreckte und selbst die jüdischen Konfessionsschulen mit einbezog97. „Im Dessauischen ist das Schulwesen zuerst in Deutschland auf einen festen Fuß und in ordentlichen Zusammenhang gekommen“, schreibt der bedeutende Halberstädter Rektor Fischer 1797 in der Berliner Monatsschrift; „schwerlich ist noch ein deutsches Land vorhanden, wo das Schulwesen so sehr ein Ganzes und ein in diesem Geist entworfenes Ganzes ausmacht“.98 Ein von den ehemals Dessauer Philanthropisten Campe (Abb. 6) und Trapp im Herzogtum Braunschweig durchgesetztes staatliches Schulwesen, das in Hanno Schmitts Dissertation 1978 (gedruckt 1979)
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Aufzeichnungen aus meinem Leben, in: Rammelt, (wie Anm. 61), S. 79. Ebd. Gilow, (wie Anm. 37) S. 24f. und Lorenz, Hermann, in: Pädagogische Blätter 1892, S. 530. Vgl. die in Anm. 29 zitierte Arbeit von Walter Schöler. 1797 / I, S. 129.
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mustergültig aufgearbeitet worden ist,99 konnte sich trotz Begünstigung durch den mit Dessau verbundenen Herzog Ferdinand nicht länger als vier Jahre gegen die Obstruktion des Konsistoriums behaupten – so wie es schon Wolfgang Ratke 170 Jahre zuvor im Fürstentum Anhalt-Köthen ergangen war. Progressive Denker auf der ganzen Welt haben sich immer wieder zu Basedow und seinem pädagogischen Werk bekannt. Der russische revolutionäre Demokrat Alexander Nikolajewitsch Radischtschew anerkannte Basedows Wirken und seine politische Rolle und erbittet sich noch aus seiner Verbannung im sibirischen Irkutsk 1791 von Woronzow die Übersendung einer Biographie Basedows mit den Worten: Wie muß uns das Leben eines Mannes interessieren, dessen Leben und Werke einen Einfluß auf seine Epoche ausgeübt haben. Wenn Europa Rousseau verpflichtet ist für die Umgestaltung der allgemeinen Regeln der Erziehung, dann zweifellos Basedow für jene leichten und vereinfachten Methoden, selbst Kindern das beizubringen, woran man sich zu Anfang des Jahrhunderts erst mit zwanzig Jahren gewagt hat. Das soll nicht bedeuten, daß ich in Bausch und Bogen alle neueren Einfälle gutheiße, den Kindern das Lernen zu erleichtern. Die Zeit wird den Vorzug oder die Abgeschmacktheit der Methode Basedows erweisen. Aber in meinen Augen muß jeder, der auf den Zustand der Geister wirkt, bekannt werden. In mythologischen Zeiten hätte man aus ihm einen Gott gemacht, die Griechen hätten ihm einen Tempel errichtet.100
In Dessau ist der Basedow-Denkstein (Abb. 2) erst in den 50er Jahren demoliert worden! Lassen wir inmitten der unglaublichen Diffamierungen, welche die Neuhumanisten sich ausdachten, bei dem völligen Verruf des Philanthropismus und der erneuten Verketzerung seines Initiators im Zuge der Restauration, dem außer Jean
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Schmitt, Hanno, Schulreform im aufgeklärten Absolutismus. Leistungen, Widersprüche und Grenzen philanthropischer Reformpraxis im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel 1785– 1790 (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte Band 12), Weinheim und Basel 1979. 100 Radischtschew, A. N., Isbrannyje sotschenija, Moskwa 1952 (russ.), S. 558: Freundlicher Hinweis von Dietrich Freydank†. Vgl. Opitz, Georg, A. N. Radischtschew und die pädagogischen Ansichten Basedows und Wolkes, in: Wiss. Zeitschrift Universität Leipzig, 26 (1977) G, H. 4, S. 325–329. Es bleibt unklar, welche Biographie Basedows er bestellte, die seines Freundes Rathmann (Anm. 61) oder die seines Obtrectators (détractateur) Meier (was er nicht wissen konnte; Anm. 49), die beide 1791 erschienen. Das Dessauer Basedow-Denkmal auf dem Erdmannsdorff-Friedhof (Basedow starb in Magdeburg und wurde dort beerdigt, da seinem letzten Willen: „Ich will seziret sein zum Wohle der Menschheit“ nicht entsprochen werden konnte) wurde erst 1950 demoliert, nur das Relief ist sichergestellt worden. – Für die weitreichende Ausstrahlung des Philanthropismus und seiner Autoren sei auf eine Übersetzung von Salzmanns Konrad Kiefer (Kiferi) ins Georgische (1912) und mehrerer Schriften Salzmanns ins Japanische (1904; 1925) verwiesen (Salzmann-Bibliographie, Weimar 1981), und soeben macht mich Hermann Goltz, in Halle Lehrstuhlinhaber für die Geschichte der Ostkirche, darauf aufmerksam, daß die Armenier die Schule für ihre Gemeinde in Kalkutta vermutlich unter dem Wirken Wolkes in Petersburg Markam Sirakan (Menschenliebe = Philanthropin) genannt haben, die noch heute besteht.
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Paul auch noch Karl Marx101 aufläuft, die Stimme eines vereinigten Kollektivs fortschrittlicher Pädagogen zu Worte kommen, die 1847, im Jahre vor der bürgerlichen Revolution, das Basedowsche Elementarwerk erneut, für ihre Zeit bearbeitet, herausgaben und mit den Worten begleiteten: Ja, die Einführung besserer Lehrbücher in den Schulen schreibt sich von Basedows Zeit her, und wenn man heutzutage ganz Allgemein einen so großen Nachdruck z.B. auf die Turnübungen legt, so muß man wissen, daß auch hierin Basedow die Bahn brach [...] Ja alles, was wir sind oder Vortreffliches haben in unsern Schulen und Häusern – mehr oder weniger haftet es mit seinen ersten Anfängen nur in Basedow. Was andere vor und neben ihm ebenfalls einsehen und wünschen mochten, – er doch nur ein ausgezeichneter Charakter; hat es mit unerschütterlichem Muthe und unterstützt von edlem Enthusiasmus praktisch gemacht. Seit Basedows Zeit ist das öffentliche Unterrichtswesen weit mehr als früher der Gegenstand ernstlicher Staatssorge geworden. Basedow, welcher zugleich niederriß und neu schuf, und zwar beides in großen Style, war ein bedeutender Beförderer des Staatswohls, eine Stütze der für die Menschheit so wichtigen Aufklärung [...].102
Es ist tatsächlich das Verdienst Basedows und seines Dessauer Philanthropins, die Ideen der bürgerlichen Pädagogik seiner Vorgänger Comenius und Ratke endlich in die Praxis umgesetzt zu haben und das bürgerliche Schulmodell mit allen Abstrichen der gegebenen historischen Situation wenigstens in Anhalt-Dessau realisiert und dadurch zur Vollendung gebracht zu haben. Von hier, dem gepriesenen und so stark frequentierten103 aufgeklärten Musterstaat strahlte es auf ganz Deutschland und über die Grenzen des deutschen Kulturbereichs hinaus auf viele Länder Europas aus. Auch der bereits dem Neuhumanismus wesentlich verpflichtete hallesche Stiftungsdirektor August Hermann Niemeyer – Franckes Urenkel – nennt wie Kant den Philanthropismus eine Erziehungsrevolution.104 Haben wir bereits Campes Lobeshymnen auf seinen Vorgänger zitiert,105 so sei auch auf Vieths Basedow-Enkomion abschließend verwiesen, da er dessen Verdienste als
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Vgl. den nicht gerade gesellschaftshistorisch geschickten Ausfall: „Eine kindisch dumme Beschäftigung (dies ahnungsvoll gegen Basedow und seine Nachstümper) läßt den Geist der Kinder dummen“ in: Das Kapital I, Kap. 13, Anm. 309 (Marx-Engels-Werke 23, S. 513). 102 Aus: Johann Bernhard Basedows Elementarwerk. Ein encyklopädisches Methoden- und Bildungsbuch für alle Kindererziehung und den Jugendunterricht in allen Ständen [...] nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaften und Volkscultur neu bearbeitet und herausgegeben von einem Vereine von Erziehern und Fachgelehrten. Demnach dritte vermehrte und verbesserte Auflage, Stuttgart 1847 (1020 S. ohne Tafeln), S. V. 103 Man kam nicht nur der Dessauer Pädagogischen Provinz wegen: die Sozialeinrichtungen, die Nationalspiele am Drehberg, das Theater, die Allgemeine Buchhandlung der Gelehrten, die Chalkographische Gesellschaft, nicht zuletzt der Neue Begräbnisplatz, vor allem aber das Gartenreich waren die andern Attraktionen. Bezeichnenderweise aber resumiert der Erziehungswissenschaftler Theodor Fritsch (Kant und die Philanthropisten, [wie Anm.12], auch zitiert von: Schöler, Walter, Der naturwissenschaftliche Unterricht im 17. bis 18. Jahrhundert, Berlin 1970, S. 274): „Nicht Königsberg, nicht Weimar, sondern Dessau war damals das deutsche Mekka, zu dem man pilgerte“. 104 Siehe Anm. 12. 105 Siehe Anm. 28.
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jüngerer Zeitgenosse noch aus der Zeit heraus zu würdigen verstand. In einer Schulrede zum 50-jährigen Jubiläum der Dessauer Hauptschule 1835 sagt er: In pädagogischer Hinsicht hat der Zeitgeist in unsern fünf Dezennien vorzüglich von hier aus sich thätig bewiesen. Ein Mann voll Eifer und Energie griff unmittelbar vor unserer Periode mit kräftiger Hand, wie früher der edle, muthige Luther, in das Schul- und Erziehungswesen ein. Das philanthropische Institut [...] machte gewissermaßen Epoche in der Geschichte der Pädagogik und wurde Mutter und Muster anderer ähnlichen Anstalten. Wer es näher gekannt hat, wird, wenn er nicht von Vorurtheilen befangen ist, bedauern, daß es so bald unterging [...] das Philanthropin hatte unstreitig viel Antheil an den Änderungen, welche nach und nach in Disciplin, Lehrstoff und Lehrform stattfanden. Die alte, mitunter ziemlich pedantische Schulzucht wich einer humaneren Behandlung; die barsche herrische Anrede mit Er und Ihr wurde mit dem väterlichen Du und dem höflichen Sie vertauscht, und was dergleichen kleine Modifikationen mehr sind, wodurch allmälig das Verhältniß zwischen Lehrer und Schüler eine gefälligere Form annahm. [Mathematik und Physik, Musik und Gymnastik „sind nicht mehr gänzlich aus der Jugendbildung ausgeschlossen“] [...] Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper, das ist ein großer Zweck, auf den jede Erziehungs- und Lehranstalt hinarbeiten muß [...]
In sich schlüssig und seiner eudämonistisch angelegten, auf das gesellschaftlichNützliche abzweckenden „praktischen Philosophie“ getreu charakterisiert Basedow seine Lebensleistung mit eignen Worten bereits in frühen Propagandaschriften: Natur, Schule, Leben: Ist Freundschaft unter diesen dreyen; so wird der Mensch, was er werden soll und nicht allsobald seyn kann: fröhlich in der Kindheit, munter und wißbegierig in Jugend, zufrieden und nützlich als Mann... Erinnert euch eurer eignen Schulnoth! Erbarmt euch, Freunde, der Frühlingsjahre!106
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Basedow, Das in Dessau errichtete Philanthropinum [...], Leipzig 1774, [Vorwort] S. XIII und X; Philanthropisches Archiv II (Dessau 1776), S. 35. Vgl. Pädagogische Unterhandlungen 3. Jg. (1780), S. 45, 462; 5. Jg. (1784), S. 365; Wolke, Kupfertafeln 1782, S. VII, X, in der lateinischen Übersetzung: „iuventus miseria scholastica laborans“, statt dessen Schulfreude: S. XVI; und noch 1820 spricht er in seinem I. Lesebuch 279 davon; auch Crome in seiner Selbstbiographie, Stuttgart 1833, S. 81: „sogenannte Schulnot“. Auch in der angemessenen Würdigung, die Johann Michael Friedrich Schulz(e) nach Basedows Tod gibt: Rechenschaft an das deutsche Publicum von dem, was er seit Jahren für diese Lehr- und Erziehungsanstalt gedacht, empfunden; geredet, geschrieben; getan und gelitten hat, Berlin 1791 (Gilow, Hermann, Das Berliner Handelsschulwesen des 18. Jahrhunderts. Monumenta Germaniae Paedagogica 35/1906, S. 68: „unbeschreibliche Schulnoth“) und in: Lehrbuch der neuern Geschichte, Bd. II, Berlin 1791, S. 141f.
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Johann Bernhard Basedow (1724–1790) von Daniel Chodowiecki für Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek 1774
Erhard Hirsch
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Taf. I, Abb. 1: Basedows Grab auf dem Heiliggeistfriedhof Magdeburg
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Taf. I, Abb. 2: Basedow-Denkstein auf dem Dessauer Friedhof (1955 abgeräumt)
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Taf. I, Abb. 3: Leopold Friedrich Franz, Fürst von Anhalt-Dessau (Vater Franz, 1740–1817) Ölbild von Reinhold Lisiewski um 1772 im Luisium (1980 verschollen)
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Taf. I, Abb. 4: Carl Gottfried Neuendorf (1750–1798), Reformator des Anhalt-Dessauischen Schulwesens (Stich eines unbekannten Meisters)
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Taf. II, Abb. 5: Christian Hinrich Wolke (1741–1825), Direktor des Philanthropins nach Basedow und Campe (Ölbild eines unbekannten Malers)
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Taf. II, Abb. 6: Joachim Heinrich Campe (1746–1818) Lithographie nach Johann Heinrich Schröder
Erhard Hirsch
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Taf. II, Abb. 7: Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) Deckfarbenbild von Friedrich Wilhelm Bollinger
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Taf. II, Abb. 8: Friedrich Gottlieb v. Busse (1756–1835) Lithographie nach Ritusch
Taf. III, Abb. 9: Dessau, Poststraße: Philanthropin-Turm und Betsaal
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Erhard Hirsch
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Taf. III, Abb. 10: Philanthropische Gottesverehrung nach Basedows Elementarwerk, Tafel 48 Darüber: Aufstieg zum Tempel der Tugend und Naturkundeunterricht als Natur-Religion
Taf. III, Abb. 11: Herrnhut, Betsaal
„Das meiste neue pädagogische Licht“
Taf. III, Abb. 12: Liturgie im Philanthropischen Betsaal in Anwesenheit des Fürstenpaares Stich von Daniel Chodowiecki für Basedows Gesangbuch des Dessauer Philanthropins
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Taf. IV, Abb. 13: Tafel 88 des Elementarwerks: Angewandte Mechanik
Taf. IV, Abb. 14: Tafel 21/2 des Elementarwerks: Zoologie
Erhard Hirsch
„Das meiste neue pädagogische Licht“
Taf. IV, Abb. 15: Tafel 55 des Elementarwerks: Kürschner / Gerber / Töpfer / Glashütte
Taf. IV, Abb. 16: Tafel 80 des Elementarwerks: Vorurteile gegen die jüdische Religion
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Taf. V, Abb. 17: Reliquiae Philanthropini: Modell eines Baukrans
Erhard Hirsch
„Das meiste neue pädagogische Licht“
Taf. V, Abb. 18: Reliquiae Philanthropini: Modell einer Dessauer Flußbadeanstalt
Taf. V, Abb. 19: Turngeräte des Dessauer Philanthropins in Modellen der Schüler (verbrannt)
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Taf. V, Abb. 20: Dessauer Schulturnen und Turngeräte nach Johann Christian Friedrich GutsMuths Turnbuch
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„Das meiste neue pädagogische Licht“
Taf. VI, Abb. 21: Pädagogische Unterhandlungen, Außenumschlag
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Taf. VI, Abb. 22: Pädagogische Unterhandlungen, Ein Lesebuch für die Jugend, Titelblatt
„Das meiste neue pädagogische Licht“
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Taf. VI, Abb. 23: Philanthropistenlider, Erste Sammlung. Durch C[hristian]. H[inrich]. Wolke. Dessau 1979
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Erhard Hirsch
Taf. VI, Abb. 24: Zweihundert und zehn Lider frölicher Geselschaft und einsamer Frölichkeit, gesamlet von Wolke. Dessau 1782
JÜRGEN OVERHOFF (Potsdam)
Johann Bernhard Basedows Frühschriften und die Anfänge der philanthropischen Pädagogik in Sorö (1753–1758) 1. Die Anfänge der philanthropischen Pädagogik in der gegenwärtigen Philanthropismusforschung Zu den geläufigsten Thesen der gegenwärtigen Philanthropismusforschung gehört die Feststellung, daß Johann Bernhard Basedow, der Initiator und zugleich wichtigste Protagonist der philanthropischen Pädagogik, seinen Durchbruch als aufklärerischer Pädagoge und Reformer mit der 1768 erschienenen Programmschrift Vorstellung an Menschenfreunde1 erzielte. „Erst durch das Werk von 1768“, in dem er den ausführlichen Plan eines realienkundlichen Elementarwerks für einen nach philanthropischen Grundsätzen erneuerten Schulunterricht vorlegte, sei Basedow zum „pädagogischen Programmatiker“ geworden.2 Zwar habe Basedow auch schon vor dem Erscheinen seiner Vorstellung an Menschenfreunde „auf dem Feld theologischer und popular-philosophischer Publizistik“3 eine gewisse Wirksamkeit erzielt, doch sei diese schriftstellerische Tätigkeit vergleichsweise erfolglos und vor allem ohne wirklichen Bezug zu seinem später verfolgten pädagogischen Anliegen geblieben.4 Wiederum hätten erst die Vorstellung an Menschenfreunde und die dieser Schrift unmittelbar folgenden Vierteljährlichen Unterhandlungen mit Menschenfreunden,5 den entscheidenden Auftakt „zu einer breiten pädagogischen Diskussion und zu einer beachtlichen Reformbewegung im privaten wie im öffentlichen Schulwesen“6 dargestellt, als deren vorläufiger Höhepunkt dann die 1774 erfolgte Gründung des Dessauer Philanthropins, der ersten nach philanthropischen Grundsätzen eingerichteten Schule Deutschlands, zu verstehen sei.
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6
Basedow, Johann Bernhard, Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen und Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt. Mit einem Plane eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis, Hamburg 1768. Reble, Albert, Johann Bernhard Basedow. Leben und Werk, in: Johann Bernhard Basedow. Ausgewählte pädagogische Schriften, hg. v. Albert Reble. Paderborn 1965, S. 258. Herrmann, Ulrich, Die Pädagogik der Philanthropen, in: Scheurl, Hans (Hg.), Klassiker der Pädagogik. Bd. 1: Von Erasmus von Rotterdam bis Herbert Spencer, 2. überarb. Aufl., München 1991, S. 142. Vgl. ebd. Basedow, Johann Bernhard, Vierteljährliche Unterhandlungen mit Menschenfreunden über moralische und dennoch unkirchliche Verbesserungen der Erziehung und Studien. Altona / Bremen 1768–1769 (mehrere Stücke). Kopitzsch, Franklin, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Hamburg 21990, S. 364.
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Jürgen Overhoff
Nur wenige Autoren haben bisher den Versuch unternommen, diese weithin akzeptierte Auffassung von der Entstehungsgeschichte und -zeit der philanthropischen Pädagogik gezielt zu hinterfragen. Zwar finden sich mancherorts durchaus kleinere Anmerkungen, die darauf verweisen, daß Basedow auch in den 1750er Jahren schon erziehungstheoretische Texte verfaßte, die in ihrem Kern dem Inhalt der Programmschriften der späten 1760er Jahre recht nahe kamen.7 Allerdings sind trotz solcher Hinweise bisher weder die genauen Entstehungsumstände noch inhaltlicher Stellenwert und unmittelbare Wirkung dieser Frühschriften Basedows einer eingehenderen Untersuchung unterzogen worden. Das bislang nicht eben ausgeprägte Interesse am frühen Schrifttum Basedows mutet einigermaßen erstaunlich an, wenn man in Betracht zieht, daß doch schon seit der Veröffentlichung von Armin Basedows wegweisender Arbeit Johann Bernhard Basedow (1724–1790) aus dem Jahr 1924 vielfältige und wichtige „neue Beiträge, Ergänzungen und Berichtigungen“8 zu Basedows Leben und Werk vor allem auch mit Blick auf die 1750er Jahre vorliegen. Auch wenn Armin Basedow eher daran gelegen war, möglichst viele bis dahin unbekannte Fakten zur Lebensgeschichte seines um die Pädagogik so verdienten Ahnen zu präsentieren, als diese dann unter bildungsgeschichtlichem Aspekt zu interpretieren, legt eine aufmerksame Lektüre seiner Arbeit doch den Schluß nahe, daß Basedow schon gegen Ende der 1750er Jahre – also während seines langjährigen Wirkens an der Ritterakademie im dänischen Sorö – ein weitreichendes und insgesamt schlüssiges Programm einer neuartigen Pädagogik der Menschenliebe und -freundschaft entworfen hatte. Ohne die Verdienste von Basedows erziehungstheoretischen Traktaten der späten 1760er und frühen 1770er Jahre für die Verbreitung und Entwicklung des Philanthropismus schmälern zu wollen, unternimmt der vorliegende Aufsatz daher im Anschluß an Armin Basedows wertvolle Vorarbeit den Versuch, die in Sorö entstandenen und bisher noch völlig unzureichend kommentierten Schriften Basedows der Jahre 1753 bis 1758 als früheste und durchaus programmatisch angelegte Gestaltgebung einer neuen, philanthropischen Erziehungslehre zu deuten. Von Interesse sind dabei vor allem drei Fragestellungen: Erstens wird zu klären sein, ob Basedows frühe Arbeiten auf dem Gebiet der Theologie und der Philosophie tatsächlich so sehr von seiner späteren Beschäftigung mit pädagogischen Themen abgekoppelt waren, wie es in der einschlägigen Forschung oft dargestellt wird,9 oder ob sie nicht vielmehr den entscheidenden Ausgangs- und Bezugspunkt für sein Programm einer philanthropischen Erzie7
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Vgl. Schmitt, Hanno, Basedow, in: Reinalter, Helmut (Hg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa, Bd. 1 (1770–1800), Frankfurt/M. 1992, S. 9: „Den Kern der späteren Schriften zur Verbesserung des Unterrichts enthält [schon] die Pract[ische] Phil[osophie] für alle Stände (1758).“ Basedow, Armin, Johann Bernhard Basedow (1724–1790). Neue Beiträge, Ergänzungen und Berichtigungen, zu seiner Lebensgeschichte. Langensalza 1924. Vgl. Anm. 3 und 4.
Johann Bernhard Basedows Frühschriften
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hungslehre bildeten. Zweitens soll untersucht werden, welche pädagogische Zielsetzung die frühen Schriften Basedows eigentlich auszeichnete und inwieweit diese Zielsetzung dann auch noch für die pädagogischen Programmschriften der späten 1760er und frühen 1770er Jahre Geltung hatte. Schließlich wird zu fragen sein, ob und in welchem Maße bereits die Frühschriften Basedows rezipiert und öffentlich diskutiert wurden.
2. Basedow als Professor der Philosophie: Vom Wert der Philosophie für die Theologie Als Johann Bernhard Basedow am 26. Januar 1753 die Professur der Beredsamkeit und Moralphilosophie an der dänischen Ritterakademie zu Sorö übertragen bekam, hatte er erst wenige Monate zuvor ein in Leipzig und Kiel absolviertes Studium der Theologie beendet. Weite Strecken dieses Theologiestudiums hatte Basedow damit zugebracht, das rechte Verhältnis von Philosophie und Theologie neu zu bestimmen, um die Grundlagen der Theologie gegenüber den zunehmenden Einwürfen religionskritischer Freigeister besser schützen und verteidigen zu können. Als beflissener Schüler des Leipziger Philosophie- und Theologieprofessors Christian August Crusius hatte er dessen Schriften mit Beginn seines Studiums im Jahr 1746 eingehend rezipiert, um sich in der Folge einen eigenständigen aber doch ähnlichen theologischen Standpunkt zu erarbeiten. Wie seinem Lehrer Crusius kam es Basedow vor allem darauf an, einem nur „einseitigen aufklärerischen Denken eine Gesamtschau“ entgegenzusetzen, „welche Philosophie und Theologie in eine fruchtbare Symbiose führte“.10 Crusius hatte nämlich in seinem Unterricht wie auch in seinen Schriften immer wieder zu zeigen versucht, so Basedow, daß die philosophischen „[...] Beweise und Wahrheiten, wozu wir durch den Weg der Wahrscheinlichkeit und durch das Argument von der Sicherheit gelangen [...]“,11 durchaus auch zur Verteidigung der offenbarten Religionswahrheiten herangezogen werden konnten. „Niemals kann ich diesem Lehrer gnug danken“,12 schrieb Basedow daher später über Crusius, daß er wiederholt auf die Möglichkeiten einer echten Rehabilitierung der Theologie durch die Philosophie aufmerksam gemacht hatte. Von den Chancen einer wirklichen Symbiose von Philosophie und Theologie wollte Basedow, kaum daß er selber Hochschullehrer in Sorö geworden war, nun auch den ihm anvertrauten Schülern der Ritterakademie eingehend berichten. Bereits im Frühjahr des Jahres 1753 erschien Basedows kleine Schrift Versuch, wie 10 11 12
Röwenstrunk, Gert, Crusius, in: Krause, Gerhard / Müller, Gerhard, Theologische Realenzyklopädie, Berlin / NewYork, 1981, Bd. 8, S. 244. Basedow, Johann Bernhard, Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Grenzen der glaubwürdigen Offenbarung. Altona 1764, Bd. 1, S. 473. Ebd.
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fern die Philosophie zur Freygeisterey verführe?,13 in der er darlegte, daß sich die Wissenschaftsdisziplinen der Philosophie und der Theologie trotz ihrer unterschiedlichen Prämissen ganz ohne Zweifel gegenseitig ergänzen konnten und sollten. Basedow hatte diese Schrift auf Anweisung des dänischen Premierministers, Oberhofmarschall Adam Gottlob von Moltke, verfaßt, der seine Berufung nach Sorö ganz maßgeblich betrieben hatte.14 Moltke hatte im Berufungsverfahren zur Bedingung gemacht, „daß Herr Basedow zugleich mit der Professur der Beredsamkeit notwendig einen oder den anderen Teil der Philosophie traktieren solle, falls er sein Amt mit Nutzen bekleiden solle“.15 Dabei wollte Moltke aber sichergestellt wissen, daß Basedow die Philosophie nicht als religionskritische sondern als konstruktive, die Religion in ihrer unverzichtbaren Stellung und Bedeutung würdigende Wissenschaft auswies. Wie sehr er diesen Ansprüchen Moltkes genügen würde, stellte Basedow in seiner kleinen Schrift nachdrücklich unter Beweis. Daß es in der Geschichte der Philosophie verschiedene Systeme gegeben habe und noch immer gebe, die zum Abfall vom Glauben und zur Freigeisterei verführten, so Basedow, sei sicher unstrittig, doch solle man aufgrund dieses sicherlich beklagenswerten Befundes „etwa die Philosophie aus der Zahl der Wissenschaften verbannen?“.16 Stattdessen käme es doch wohl viel eher darauf an, die offenkundigen Fehler religionsfeindlicher Lehren zu entlarven, um alle falschen Beweise aus der Philosophie zu verbannen. Beispielsweise herrsche „in den meisten Philosophien die demonstrativische Denkungsart“, doch frage er, ob statt einer mathematisch ausgerichteten Methode nicht „die Beweise der Wahrscheinlichkeit und der moralischen Gewißheit“ die einzigen seien, „die mit Gründlichkeit für die Christliche Religion gebraucht werden können?“.17 Wie schon Crusius, sein „Vorgänger in dieser schweren Lehre“,18 dargestellt habe, könne die Offenbarung nun einmal nicht mittels mathematischer Sätze verifiziert oder falsifiziert werden. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der historischen Bibeltexte genüge es aber, die philosophischen „Regeln der Wahrscheinlichkeit“19 zu beherzigen, um die darin enthaltenen 13 14
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Johann Bernhard Basedow, Versuch, wie fern die Philosophie zur Freygeisterey verführe. Kopenhagen 1753. Die nicht zu überschätzende Bedeutung der vom dänischen Premierminister Moltke lancierten Kultur- und Bildungspolitik für die Entwicklung von Basedows philanthropischer Pädagogik ist bisher noch völlig unzureichend beschrieben worden. Eine umfassende Biographie Moltkes fehlt ohnedies. Mehr Informationen zu Moltkes Bildungspolitik und zu seinem Verhältnis zu Basedow finden sich demnächst in: Kopitzsch, Franklin / Overhoff, Jürgen, Der deutsch-dänische Kulturaustausch im Bildungswesen 1746–1800, in: Das achtzehnte Jahrhundert 25,2 (2001), S. 184–196. Vgl. zu dieser Thematik aber auch: Bohnen, Klaus, Der Kopenhagener Kreis und der „Nordische Aufseher“, in: Bohnen, Klaus / Jörgensen, Sven-Aage (Hg.), Der dänische Gesamtstaat. Tübingen 1992; Eaton, John Wallace, The German influence in Danish literature in the eighteenth century. The German circle in Copenhagen 1750–1770. Cambridge 1929, S. 51f. Brief des Grafen Reuß an Moltke, 14.12.1752, zit. nach Basedow, (wie Anm. 8), S. 62. Basedow, Versuch, (wie Anm. 13), S. 10. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 13.
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Lehren annehmen zu können. „So wenig es auch das Ansehen“ habe, so gehöre doch gerade letztere Anmerkung ganz entscheidend zum hier verhandelten Sachverhalt, da sie deutlich genug aufzeige, „daß kein Besser Mittel sey, einen Menschen, der sich durch die Philosophie verleiten lassen, zurückzubringen, als die Philosophie selbst“.20 Recht gelehrt, folgerte Basedow also, sei die Philosophie der Hinführung zum Glauben nicht abträglich, sondern geradezu dienlich. Die Philosophie solle also getrost als ein überaus nützliches und in vielerlei Hinsicht unverzichtbares Instrument bei der Bewältigung schwieriger theologischer Fragestellungen geschätzt und in Gebrauch genommen werden.
3. Basedow als Professor der Theologie: Vom Wert der Theologie für die Ethik Basedow hatte nunmehr gegenüber Moltke zum Ausdruck gebracht, daß die zeitgenössische Theologie von einer mit intellektueller Redlichkeit vorgetragenen Philosophie nicht nur verteidigt, sondern womöglich auch verbessert werden konnte. Noch wichtiger war Basedow aber, wie sich in der Folge herausstellen sollte, der Umkehrschluß dieser Feststellung. Nicht nur die Theologie bedurfte zur Stärkung ihrer Position philosophischer Beihilfe, auch die Philosophie lebte ganz wesentlich von den besonderen Erkenntnissen und Lehren der Theologie. Insbesondere Ethik und Politik, diese beiden wichtigen Zweige der praktischen Philosophie, glaubte Basedow, benötigten dringend theologische Unterstützung, wollten sie ihr hohes Ziel, die Gesellschaft wirksam und dauerhaft zu verbessern, eines Tages wirklich erreichen. Da nun gerade die praktische Philosophie derjenige Teil der Philosophie war, den Basedow laut Moltkes Geheiß vor allen anderen Teilbereichen dieser Wissenschaft als Unterrichtsfach an der Ritterakademie zu Sorö anzubieten hatte,21 arbeitete er seit 1753 verstärkt an der Darstellung einer theologisch begründeten Moralphilosophie. Zur selben Zeit bemühte er sich in Sorö auch um die Übertragung der Professur für Theologie, wohl nicht zuletzt um seine theologischen Überlegungen mit einer größeren Selbstverständlichkeit und Autorität vortragen zu können. In einem entsprechenden Gesuch an den dänischen König Friedrich V. bat Basedow den Monarchen, ihm fortan – zusätzlich zu seinen ohnehin schon zahlreichen 20 21
Basedow, Versuch, (wie Anm. 13), S. 19. Aus einem Brief Friedrich Gottlieb Klopstocks an Nikolaus Dietrich Giseke vom 19. Juni 1751 geht deutlich hervor, welche Intentionen Moltke mit der Einrichtung der „Profession der Philosophie“ in Sorö verfolgte. In diesem Brief erläutert Klopstock nämlich, wie sich Moltke den Philosophieunterricht auf der Ritterakademie vorstellte: „Durch die Philosophie versteht Moltke eine nüzliche pracktische Philosophie, wie sie für junge Leute von der grossen Welt gehört“, Klopstock, Friedrich Gottlieb, Werke und Briefe, Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Herbert Gronemeyer, Abt. Briefe II, Berlin / New York 1979, S. 54.
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Lehrverpflichtungen als Professor der Philosophie und der Beredsamkeit – auch zwei der „wöchentlichen Lehrstunden in der Theologie allergnädigst aufzutragen“.22 Dabei unterstrich er seine Qualifikation für dieses Amt mit dem schlichten Hinweis darauf, daß er einer sei, „der Theologie studiert hat“.23 Basedows Eingabe fand beim König Gehör. Gegen Ende des Jahres 1757 durfte er, seinem Vorschlag gemäß, die ersten öffentlichen theologischen Vorlesungen für die studierende Jugend in Sorö anbieten. In seiner Antrittsvorlesung in dieser Professur unterstrich Basedow gegenüber seinen jungen Zuhörern, daß er ihnen als Theologieprofessor nun nicht plötzlich ganz und gar neuartige Lehren vortragen würde. Stattdessen würde ihnen das, was sie von ihm als Philosophieprofessor schon immer an theologischen Einsichten hatten erfahren können, auch jetzt erläutert werden, nur eben mit mehr Zeit und in ausführlicherer Form. „Sie wissen es, meine Herren“, versicherte Basedow seinen Schülern, [...] daß ich immer dasselbe gesagt und lange zuvor, ehe die theologischen Lehrstunden mir übergeben werden konnten, berechtigt zu seyn gewünscht habe, die vollkommne Ueberzeugung und Empfindung des Christenthums, die Gott meiner anhaltenden Untersuchung geschenkt hat, Ihnen mitzutheilen, und daß ich schon lange in dem philosophischen Unterrichte und dem Umgange dasjenige that, was ich, ohne die Gränzen meines Amtes zu überschreiten, thun durfte.24
Nach Basedows Dafürhalten war ein schon frühzeitig erworbenes theologisches Grundwissen vor allem deshalb so wichtig, weil die Tugend, deren Vorstellung und Einübung doch das Hauptziel der praktischen Philosophie darstellte, ohne Religion „entweder nicht möglich, oder wenn sie mit heftigen Begierden kämpfen soll, nicht sicher und stark genug“ sei.25 Da tugendhaftes Verhalten vorzüglich darin bestand, „unser gegenwärtiges Wohl für größre Vortheile andrer aufzuopfern“,26 könne ohne Überzeugung von unserer Unsterblichkeit und von der Vergeltung des Gehorsams und Ungehorsams nach unserm Tode auch von niemandem erwartet werden, dauerhaft selbstlos zu handeln. Deswegen könne auch nur ein der Religion innig verbundener Mensch [...] den stärksten natürlichen Bewegungsgrund aller Handlungen, ich meine die Selbstliebe, mit der Pflicht, das allgemeine Beste seiner Mitbrüder auf das genaueste zu beobachten, mit Grunde der Wahrheit vereinigen. Denn nur er weis es gewiß, das GOTT seine Seele nach dem 22
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Eingabe Johann Bernhard Basedows an König Friedrich V. vom 18. August 1757, Reichsarchiv Kopenhagen, Danske Kancelli, Sjaellands Missiver 454–55/1757, zit. nach Basedow, (wie Anm. 8), S. 66. Ebd. Basedow, Johann Bernhard, Vom Unterrichte in der Theologie auf Ritterakademien gehalten an statt der ersten theologischen Vorlesung, in: Reden über die glückselige Regierung Friedrichs des Fünften Königs in Dännemark und Norwegen. Nebst andern Reden theils gehalten, theils übersetzt von Johann Bernhard Basedow. Kopenhagen / Leipzig 1761. Basedow, Unterrichte, (wie Anm. 24), S. 102. Ebd., S. 103.
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Tode nicht zernichten, nicht in einen Zustand des ewigen Schlafes versinken lassen wolle; daß Gott alle Gedanken, Absichten und heimliche Thaten richten werde, um einen jeden nach seinen Werken zu vergelten, und daß wir daher heilig und vollkommen, das ist, für alle Menschen gemeinnützig, gerecht, redlich, hülfreich und barmherzig seyn sollen.27
Wie sehr ein tugendhaftes Verhalten von einer soliden theologischen Bildung abhing, demonstrierte Basedow noch anschaulicher und besonders eindringlich anläßlich einer weiteren Rede, einer Trauerrede „über den frühzeitigen Tod des Freyherrn von Rosenkranz“,28 die er nur wenige Monate nach seiner theologischen Antrittsvorlesung vorzutragen hatte. Der an den Blattern verschiedene junge Herr Rosenkranz, ein Schüler der Ritterakademie, entstammte einer der ältesten und wichtigsten Adelsfamilien Dänemarks, die schon seit mehreren hundert Jahren bedeutende Ratgeber und Beamte der dänischen Könige gestellt hatte. Offensichtlich hatte auch der jüngste Spross der Familie Rosenkranz eine vielversprechende Karriere als Staatsdiener vor sich, als ihn die tödliche Krankheit befiel. Basedow hob in seiner Trauerrede auf diesen jungen Adeligen nun darauf ab, daß den Herrn Rosenkranz nicht allein seine Herkunft, sondern vor allem seine religiösen Überzeugungen zu einem Muster an tugendhaftem Verhalten gemacht hätten.29 Er sei ein „Menschenfreund“30 und „ein seltenes Muster einer klugen Friedfertigkeit“31 gewesen, der Duelle und andere „hassenswürdige Gewohnheit[en] des Adels und des Kriegsstandes“32 in gleicher Weise verabscheut habe. Auch habe er stets „den unbilliger Weise verachteten und unterdrückten Ständen der Menschen“33 seine Liebe bezeugt, und dies „zwar einigermaßen nach seiner natürlichen Neigung, aber weit mehr vermittelst der Ueberzeugung, daß ein vernünftiger Mensch und ein Christ es verbunden ist zu seyn“.34 Rosenkranz habe nämlich gewußt, daß allein „die ächte Gottseligkeit“ allezeit „in der Menschenliebe thätig“ sei.35 Nicht zuletzt deshalb habe er stets „mit der begierigsten Aufmerksamkeit“ bei seinem Lehrer Basedow „die Uebereinstimmung der reinen Vernunft und der göttlichen Offenbarung freudig vern[ommen]“.36 So sei nun gerade auch die von Rosenkranz geglaubte Verheißung einer künfigen Glück27 28
29
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Ebd., S. 123. Basedow, Johann Bernhard, Rede über den frühzeitigen Tod des Freyherrn von Rosenkranz, in: Reden über die glückselige Regierung Friedrichs des Fünften, Königs von Dännemark und Norwegen; nebst andern Reden, theils gehalten, theils übers. von J. B. Basedow. Kopenhagen 1761. Daß Rosenkranz „ein für mich selbst nachahmenswürdiges Muster des Christenthums ist“, bekannte Basedow auch in einem Schreiben vom 8. Juli 1758 an Christian Fürchtegott Gellert, vgl. C. F. Gellerts Briefwechsel, (1756–1759), hg. v. John F. Reynolds. Berlin / New York 1987, Bd. 2, S. 181. Basedow, Rede, (wie Anm. 28), S. 135. Ebd., S. 134. Ebd., S. 133. Ebd., S. 139. Ebd., S. 135. Ebd., S. 142. Ebd., S. 140.
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seligkeit die beste Versicherung gegen die Annahme, er habe „vergeblich tugendhaft und christlich gelebt“.37 Auf diese Weise an Rosenkranz erinnernd und ihn zum Vorbild nehmend, appelierte Basedow schließlich auch an alle anderen Mitschüler: „Wollte Gott, theureste Zuhörer, wollte Gott, ich könnte Sie dadurch allesamt zu Gottseligen, zu gläubigen, und zu mitleidigen Menschenfreunden machen!“.38
4. Practische Philosophie für alle Stände I: Von allgemeiner Menschenliebe und religiöser Toleranz Nachdem Basedow seit Mitte der 1750er Jahre nun schon in einigen Gelegenheitsreden skizzenhaft ausgeführt hatte, inwiefern theologische Einsichten der praktischen Philosophie entscheidend zugute kommen würden und religiöse Bindungen ein tugendhaftes Verhalten erst wirklich ermöglichten, legte er noch im Verlauf des Jahres 1758 das großangelegte System einer theologisch begründeten Moralphilosophie vor, an dem er seit mehreren Jahren gearbeitet hatte. Er nannte sein auf zwei voluminöse Bände angewachsenes Werk Practische Philosophie für alle Stände39 und eröffnete gleich im Vorwort, daß es einer von seinen Hauptzwecken gewesen“ sei, „die Freunde der Philosophie“ auch zu Freunden der „Religion zu machen, oder sie vor Zweifeln gegen dieselbe zu bewahren“.40 Denn, wie er weiter ausführte, „so nützlich überhaupt die practische Philosophie ist; so werden die Bewegungsgründe, die Pflichten für Pflichten zu erkennen und bey starken Reizungen zum Gegentheile dennoch auszuüben“, bei jemandem, der die biblische „Offenbarung mit der Vernunft verbindet, weit kräftiger seyn, als bey einem bloßen Philosophen“.41 Der entscheidende Unterschied zwischen einer bloß philosophischen und einer theologisch begründeten praktischen Philosophie bestand für Basedow in der jeweiligen Definition und Bewertung des Begriffs der Selbstliebe. Während so berühmte, und von Basedow durchaus verehrte, Autoren wie Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf42 in ihren politischen Schriften zum Naturrecht die Selbstliebe des Menschen positiv deuteten und von ihr gar ein individuelles Recht auf Selbstverteidigung herleiteten, das dann das Fundament ihrer Ethik und Politik 37 38 39 40 41 42
Ebd., S. 153. Basedow, Rede, (wie Anm. 28), S. 139. Basedow, Johann Bernhard, Practische Philosophie für alle Stände, 2 Bde. Kopenhagen / Leipzig 1758. Ebd., Vorrede. Ebd., S. 1033. Basedow führt Grotius und Pufendorf in seiner Vorrede (wie Anm. 39f.) als zwei ihn außerordentlich inspirierende Verfasser einer praktischen Philosophie an und bemerkt, daß „es gleich ein unerträglicher Stolz seyn würde, wenn man sich nicht gerne für einen Schüler dieser großen Männer erkennen wollte“.
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bildete, stand Basedow der natürlichen Selbstliebe als Prinzip der Ethik weitaus reservierter und kritischer gegenüber. Bezeichnenderweise widmete Basedow seinen Reflexionen über die natürliche Selbstliebe kein eigenständiges Kapitel, sondern erörterte sie als Teil eines Paragraphen, der die allgemeine Menschenliebe zum Thema hatte. Für all diejenigen, die sich an den Weisungen der göttlichen Offenbarung orientierten, mache es nämlich keinen Sinn, die Selbstliebe von der allgemeinen Menschenliebe abzusondern, da doch geboten sei: „Man liebe einen jeden andern Menschen als sich selbst“.43 Weil jeder andere Mensch „ein eben so wichtiges Mitglied der göttlichen Republik, als ich,“ sei, müsse „mir sein Wohl in eben dem Grade lieb seyn, als das Meinige“.44 Sollten wir hingegen an dem Nutzen des Lebens eines anderen Menschen „entweder zweifeln, oder ohne den allerstärksten Beweis, es gar für schädlich halten dürfen; so würde eine allgemeine Unsicherheit des Lebens eingeführt werden“.45 Die Folgen eines solchen Zustandes wären dann eine dauerhafte Feindseligkeit unter den Menschen, die sich niemand wünschen dürfe. Die göttlich gebotene, allgemeine Menschenliebe auch als Philosoph zu lehren und zu kultivieren, so Basedow, sei also das beste Mittel, Staat und Gesellschaft lebenswerter und „selbst die Freundschaften sichrer“46 zu machen. Dies beinhalte selbstverständlich auch, „gegen alle Menschen unpartheyisch zu seyn“, denn nur „ein Unpartheyischer vergißt nicht, daß er ein Bürger der ganzen Welt ist“.47 Das Gebot, unparteiisch zu sein, erstrecke sich zweifelsohne auch auf den Umgang mit unserern Widersachern und Feinden. Wenn Menschenliebe nämlich das Bestreben bedeute, „jemanden glückseelig zu machen, oder zu Verhütung seines Unglücks bey Gelegenheit etwas beyzutragen“, so sei man unbedingt „schuldig, seinen ärgsten Feind zu lieben, und nicht zu haßen, oder sein Unglück nicht zu wünschen und nicht zu befördern“, denn auch „er ist unter der Zahl derjenigen Geschöpfe, die wir als uns selbst lieben sollen“.48 Basedow hob nun hervor, daß Feindesliebe nicht etwa nur ein unerreichbar hohes Ideal gottgefälligen Handelns war, sondern durchaus auch im gesellschaftlichen Alltag von jedermann praktiziert werden konnte, wenn man darunter vor allem die Bereitschaft und den festen Willen zur Versöhnung und Vergebung verstand. So solle ein jeder „die Endigung der Feindschaft und das Aufhören der Nothwendigkeit, dem Feinde Schaden und Verdruß zu verursachen, aufrichtig wünschen“49 und fremdem Zorn mit Sanftmut, „ohne Grausamkeit und Rachbe-
43 44 45 46 47 48 49
Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 31. Ebd., S. 31f. Ebd., S. 39 Ebd., S. 87. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 104. Ebd., S. 86f. Ebd., S. 90.
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gierde“,50 begegnen und entgegenwirken. „Denkt“, rief Basedow seine Leser zur Besinnung auf eigene Schwächen auf, „wie oft ihr die Sanftmuth derer, die ihr beleidigt, wünscht und bedürft“.51 Die von Basedow biblisch-theologisch begründeten Postulate, Selbstliebe in allgemeine Menschenliebe aufgehen zu lassen, auch Feinden gegenüber unparteiisch und grundsätzlich wohlgesonnen zu sein sowie allen Widersachern die ständige Bereitschaft zur Versöhnung zu signalisieren, konnte nicht ohne große gesellschaftliche Konsequenzen auch für den Umgang mit fremden Religionsverwandten oder gar andersgläubigen Menschen bleiben. Die geoffenbarte Religion lehre nämlich auch, so Basedow, daß mir „das menschliche Geschlecht“ fraglos „wichtiger“ sein müsse, als „meine Religionssecte“.52 Deswegen sei auch kaum etwas so „abscheulich“ wie der „Mord in Religionsverfolgungen“.53 Wer die Form seiner eigenen Religiosität über den Wert des Lebens anderer Menschen stelle, handele verwerflich und allen göttlichen Geboten zuwider, zumal allein Gott urteilen könne, ob jemand, der eine bestimmte „Religion verwirft, oder nicht für zuverläßig hält, ungläubig sey“.54 Deshalb müsse der Staat auch „sehr vorsichtig seyn, und die Freyheit, daß man in Religionssachen einige ungewöhnliche Meinungen vortragen und vertheidigen darf, nicht mit zu engen Gränzen umschließen“.55 Vielmehr sei eine für jedermann freie Untersuchung der Religionswahrheiten „in aufgeklärten Zeiten“56 unerläßlich. Wer in die Forderung nach allgemeiner Menschenliebe auch die Anerkennung und Duldung fremder Religionen so fraglos einschloß, wie Basedow es tat, mußte auch danach trachten, bestehenden staatlichen Benachteiligungen zu widersprechen. In der Tat forderte Basedow, daß „Bürger, die eine besondere“, aber dem Gemeinwesen nicht schädliche, ja sogar „gute Religion haben“, nicht von „Aemtern und anderen Vortheilen“ ausgeschlossen werden dürften.57 Wenn dies nämlich geschehe und wenn man solche Bürger überdies noch „mit vorzüglichen Lasten belegt, oder auszuwandern zwingt“, sei dieses „zwar eine gelinde aber doch ungerechte Art der Verfolgung“.58 Deshalb würden beispielsweise auch „die Juden“, die ein solches Schicksal so oft hatten erdulden müssen, „beßre Bürger“, „wenn man ihnen mit den Christen gleiche Rechte verstattete“.59 Diese Forderung, versi50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 87. Ebd., S. 96. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 33. Ebd., S. 52. Ebd., S. 683. Ebd., S. 734. Ebd., S. 681. Ebd., S. 740. Ebd. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 742. Vgl. auch ebd., S. 798. „Die Partheilichkeit der Christen gegen die Juden ist also eine höchst strafbare Sache“, denn, „Aemter dürfen sie nicht bekleiden, Landgüter nicht kaufen, Handwerk nicht treiben, unter Taglöhnern und Soldaten werden sie nicht geduldet. Was sollen also die armen Nachkommen
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cherte Basedow einmal mehr, sei auch deswegen biblisch-theologisch begründet, weil sie „mit dem Befehle des Heilandes überein komme, der die „Verfolgungen von den Juden“ wie auch von ungläubigen „Heiden, welche die Neuerung in der Religion dämpfen wollten“, ganz ausdrücklich „verbot“.60 Einzig solche Sekten oder Religionen, die ihrerseits eine andere Glaubensgemeinschaft verfolgten, solle „der Staat nicht leiden“61 und in ihrem Wirkungskreis beschneiden. Ansonsten könne ein jeder Staat, „in dem die Rechte einer Kirche gegen die andre gut bestimmt“ sind und in dem auch „keine sehr mächtige, zur Verfolgung geneigte Secte“ vorhanden ist, „bey zwanzig gleich privilegierten Religionen sehr ruhig und glücklich seyn“, wovon, laut Basedow, unter den zeitgenössischen Staaten „ein Pensylvanien“ ein „vortreffliches Exempel“ sei.62 Der Vorteil und Gewinn eines mit so weitreichenden religiösen Freiheiten und Pflichten ausgestatteten Staates bestünde nämlich ganz offensichtlich darin, der allgemeinen Pflicht, so viel Menschen „als möglich, zu brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen“, um auf diese Weise „selbst unser eignes Glück dadurch befördern“ zu helfen, besonders gut zu genügen.63
5. Practische Philosophie für alle Stände II: Menschenfreundschaft und religiöse Toleranz als pädagogisches Programm Ein ganz wesentliches Anliegen der Practische[n] Philosophie für alle Stände war es nun zu zeigen, daß all diese Einsichten und Werte auch an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden mußten. Gelebte Menschenfreundschaft und praktizierte religiöse Toleranz waren nämlich für Basedow so unabdingbare Voraussetzungen einer aufgeklärten, leistungsstarken und zufrieden in sich ruhenden Gesellschaft, daß sie seiner Ansicht nach nicht früh genug vermittelt werden konnten. Er widmete daher zwei umfangreiche Paragraphen seines Werks einer seinen gesell-
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Abrahams anfangen?“. Basedows hier vehement vorgetragene Forderung nach einer umfassenden bürgerlichen Gleichstellung der Juden ist ein bemerkenswert frühes Beispiel der humanitären Toleranzidee in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts. Erst vier Jahre zuvor war Lessings Mitgefühl und Toleranz einforderndes Schauspiel Die Juden im Druck erschienen. Vor dieser bemerkenswerten Veröffentlichung hatte allein Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G., Leipzig 1747, das Porträt eines edlen Juden zu zeichnen gewagt. Über Basedows große Verdienste als Vorkämpfer der religiösen Toleranz und der Judenemanzipation ist bisher noch kaum zusammenhängend gearbeitet worden. Vgl. aber immerhin die Würdigung von Basedow als besonders früher Verfechter der religiösen Toleranz bei Schreiner, Klaus, Toleranz, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 524–605. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 742. Ebd., S. 739. Ebd., S. 747. Ebd., S. 409.
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schaftspolitischen Vorstellungen entsprechenden Erörterung der Erziehung und des Unterrichts der Kinder. „Hauptzweck der Erziehung“ sei, so Basedow, daß Kinder „glückselige und gemeinnützige“ Glieder der menschlichen Gesellschaft würden.64 Die Mittel, diesen Zweck zu erreichen, dürften aber niemals dem Zweck selbst widersprechen, weshalb man „nie berechtigt sey, die Glückseligkeit der Kinder durch lasterhafte Mittel befördern zu wollen“.65 Daher laute ein erstes Gebot in der Erziehung: „Ueberhäuft eure Kinder nicht mit vielen Befehlen“, sondern „verbindet, bey zunehmender Einsicht, die Gründe eurer Befehle mit denselben; so wird der Gehorsam, williger und vernünftiger“, und „desto weniger stöhrt er die Liebe und Freude“.66 Zärtlich zu warnen und zu belehren sei also immer klüger als zu schimpfen und zu bestrafen, da der Wunsch gemeinnützig zu handeln auf diese Weise viel stärker ausgeprägt werden könne. Wolle man Kinder „zu Liebe und zum Vertrauen“ zu ihren Mitmenschen bewegen, „so schränke man ihre unschuldigen Begierden nicht ein“.67 Vor allem aber sei man „ein Freund seiner Kinder so oft und so bald man kann, und nur Herr, so oft und so lange man muß“.68 „Die Hochachtung der Kinder gegen die Eltern und Aufseher“ werde nämlich befördert, wenn ihnen ihre Pflichten den Mitmenschen gegenüber „ohne Zwang angewöhnt“ würden.69 Nicht „durch Furcht herrschen“, sondern „durch unschuldige Sachen ihre Liebe zu vergrößern“70 suchen, sei der einzuschlagende Weg bei der Erziehung unserer Kinder. Zärtliches und liebevolles Anleiten zu freundlichem, vernünftigem und vor allem auch gemeinnützigem Handeln in der Gesellschaft konnte aber nur erfolgreich sein, so Basedow weiter, wenn der Wunsch, Menschenfreundschaft und allgemeine Menschenliebe zu praktizieren, ein Resultat echter Gottesfurcht war. „Hauptsächlich“ solle man daher „seinen Kindern Gottseligkeit und Liebe zur Religion einflößen“ und den entsprechenden „Unterricht in der Religion“ dann mit „lauter angenehmen, wenigstens niemals mit verdrießlichen Umständen“ verbinden.71 So stelle man „Gott den Kindern anfangs als lauter Liebe und Weisheit vor“, und erst wenn sie von Liebe und Dankbarkeit gegen ihn eingenommen seien, erkläre man göttliche Gebote und zeige, „wie ein weiser und liebender Gott auch Strafe drohe“.72 Weiterhin lehre man die Kinder auch Rachbegierde zu verabscheuen, und weder die niedrigen Stände noch irgendwelche anderen Religionsparteien und Bevölkerungsgruppen zu verachten. Könne man die Kinder dazu bringen, uneingeschränkt alle Menschen zu achten und zu respektieren, würde man sie 64 65 66 67 68 69 70 71 72
Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 540. Ebd., S. 540. Ebd., S. 542f. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 545. Ebd. Ebd. Ebd., S. 554. Ebd., S. 547. Ebd., S. 547.
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schon frühzeitig zur „Gerechtigkeit und Menschenliebe“73 gewöhnen und zu glücklichen und gemeinnützigen Bürgern erziehen. Basedows philanthropisches Erziehungsideal, eine allgemeine Menschenliebe und Menschenfreundschaft möglichst frühzeitig zu vermitteln und religiös zu fundieren, um die kreativen Energien der Kinder für die Gestaltung einer aufgeklärten, toleranten und gemeinnützigen Gesellschaft zu gewinnen, spiegelte sich auch in der von ihm im Anschluß an diese Ausführungen vorgeschlagenen Reform der gängigen Unterrichtsmethoden wider. So könnten diejenigen, die die lateinische Sprache zu erlernen hätten, diese durch „eine leichtre Methode“ lernen, „als gemeiniglich geschicht“.74 Man solle zunächst spielerisch, ohne unnötigen Zwang, lateinische Wörter und Wendungen im lebendigen Umgang mit den die Kinder umgebenden Realien bekannt machen. Erst nach dem Erwerb eines gewissen Vokabulars solle dann „die grammaticalische Richtigkeit“ der erlernten Wendungen „durch gewiße Uebungen, die ich hier so weitläuftig nicht ausführen kann“, eingeübt werden.75 Auch in anderen Fächern solle, so viel wie eben möglich, „in zufälligen Gesprächen“,76 die den kindlichen Trieb zur Nachahmung ganz wesentlich stimulierten, vermittelt werden. „Sitzen, ein Buch in der Hand halten, die Augen drauf heften, lange auf einerley Sache merken“, sei den Kindern nämlich „mit Recht ein Abscheu“.77 Ob nun lateinischer Sprachunterricht oder Rechenlehre anstehe, es müsse in jedem Fall gewährleistet sein, dass keine unnötigen Qualen und Torturen für die Schüler entstünden. Denn auch eine „unvernünftige Strenge“ in der Methode des Unterrichts könne das angestrebte Erziehungsideal, den Kindern Menschenfreundlichkeit und eine „gründliche und eifrige Gottesfurcht“ zu vermitteln, vereiteln.78 Immer müsse ein Pädagoge daher auch durch die von ihm gewählte Unterrichtsmethode zu verstehen geben, „daß er Tugend höher als Gelehrsamkeit schätze“.79
6. Die Wirkung der Frühschriften Basedows Was bis hierher hinreichend deutlich geworden sein dürfte, ist die beeindruckende Konsequenz, mit der Basedow sein philanthropisches Erziehungsprogramm von 1758 aus dem breit angelegten System einer theologisch begründeten Moralphilosophie herleitete. Seine in Sorö angestellten philosophischen und theologischen Bemühungen waren also, anders als oft behauptet, tatsächlich unmittelbare Voraus73 74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 548. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 560. Ebd., S. 561. Ebd., S. 555. Ebd., S. 556. Ebd., S. 562. Basedow, Practische Philosophie, (wie Anm. 39), S. 562.
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setzung und Grundlage seines ersten Entwurfs einer Pädagogik der Menschenfreundschaft. Daß dieser Entwurf einer Erziehungslehre bereits alle wesentlichen Punkte des später noch detaillierter ausgestalteten Programms der philanthropischen Pädagogik enthielt, wußte niemand besser als Basedow selbst. Noch Jahre später bezeichnete er die erziehungstheoretischen Kapitel der Practische[n] Philosophie für alle Stände als sein erstes und zugleich „vollständige[s] System der Erziehung und des Unterrichts“, das er „nachher niemals aus dem Sinn gelassen“ habe.80 In der Tat finden sich im vierten und fünften Hauptstück des Methodenbuch[s] von 1770 – in teilweise identischen Wendungen – alle wesentlichen Erziehungsgrundsätze aus der Practische[n] Philosophie für alle Stände wieder. Auch die Programmschriften, die Basedow anläßlich der Eröffnung des Dessauer Philanthropins verfaßte, gaben exakt das von Toleranz und Menschenliebe bestimmte Erziehungsideal wieder, das er schon in den 1750er Jahren proklamiert hatte, wenn sie beispielsweise forderten, daß Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Religionen „das Menschliche und Bürgerliche zusammen gemeinschaftlich lernen und zugleich in den ersten Jahren sich zur heilsamen Vertragsamkeit gewöhnen“ sollten.81 Den eindrücklichsten Hinweis auf die bleibende Bedeutung der Practische[n] Philosophie für alle Stände als Grundbuch der philanthropischen Pädagogik lieferte aber zweifelsohne Joachim Heinrich Campe, als er dieses Werk noch 1796 als Basedows „bestes und gemeinnützlichstes Werk“, ja als vielleicht einziges seiner Bücher, das auch „im künftigen Jahrhunderte noch Leser finden wird“, pries.82 Die Practische Philosophie für alle Stände wurde aber auch schon unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung in ihrer pädagogischen Bedeutung erkannt und gewürdigt. Es ist also nicht zutreffend, daß die philanthropische Pädagogik erst seit Ende der 1760er Jahre von einer interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wurde. Noch im Jahr 1758 erschien, wohl auf Initiative von Jens Schelderup Sneedorf, der ebenfalls an der Ritterakademie zu Sorö lehrte, eine erste dänische Übersetzung der wichtigsten Passagen der Practische[n] Philosophie für alle
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Basedow, Johann Bernhard, Ueberzeugende Methode der auf das bürgerliche Leben angewendeten Arithmetik zum Vergnügen der Nachdenkenden und zur Beförderung des guten Unterrichts in den Schulen. Altona 1763, hier Vorrede. Basedow, Johann Bernhard, Für Cosmopoliten etwas zu lesen. Leipzig 1775, S. 22. Basedows Erziehungsideal der religiösen Toleranz findet sich eingehender beschrieben bei: Overhoff, Jürgen, Immanuel Kant, die philanthropische Pädagogik und die Erziehung zur religiösen Toleranz, in: Emundts, Dina (Hg.), Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung. Wiesbaden 2000, S. 133–147. Zit. nach dem im Entstehen begriffenen zweiten Band der Briefausgabe: Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Edition der Briefe zwischen 1789 und 1814, Brief Campes an einen Geistlichen [Gotthilf Sebastian Rötger?, J. O.] vom 2. September 1796. Ich danke den zukünftigen Herausgebern des zweiten Bandes der Campe-Briefausgabe, Anke Lindemann-Stark, Christophe Losfeld, Jürgen Schiewe und Hanno Schmitt für die Genehmigung des Vorabdrucks dieses Zitats.
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Stände.83 Sowohl die deutsche als auch die verkürzte dänische Ausgabe des Werks wurde in wichtigen Zeitschriften Deutschlands und Dänemarks eingehend besprochen.84 In Leipzig veranlaßte Christian Fürchtegott Gellert eine ausführliche Rezension in den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen.85 Am Ende dieser Rezension bedauerte der Rezensent, ein Freund Gellerts, daß Gellert ein solches Werk nicht selbst geschrieben habe: Sonst wünscht der Herr Verfaßer, daß unser Herr Prof. Gellert sich möchte entschlossen haben, ein Lehrgebäude dieser Wissenschaft, nach seinem Geschmacke, aufzuführen. So sehr wir glauben, daß Herr Basedow in demselbigen Geschmacke geschrieben hat, so werden doch Kenner urtheilen, wie sehr eine solche Bemühung des Herrn Gellerts der Philosophie zur Ehre gereichen würde.86
Gellert selbst bestätigte dieses hohe Lob dann in einigen seiner Briefe. In einem Schreiben von 26. Februar 1759 an Johanna Erdmuth von Schönfeld, in dem er dieser jungen Dame eine „kleine deutsche Bibliothek“ von guten, lesenswerten Büchern zusammenstellte, empfahl Gellert auch Basedows Practische Philosophie für alle Stände als ein „Buch für den Verstand u. das Herz zugleich, keine ängstliche und auch keine schwatzhafte Philosophie“.87 Daß Gellert insbesondere die pädagogischen Zielsetzungen der Practische[n] Philosophie für alle Stände befürwortete, geht aus einem Brief vom 26. Oktober 1762 an Caroline Lucius hervor. „Basedow in seiner practischen Philosophie für alle Stände“, so Gellert, habe [...] in zwey kurzen Capiteln die vornehmsten Regeln von dem Unterrichte und der Erziehung der Jugend (zu Ende des ersten Bandes) gesammlet, und, einfältig mit Zahlen bemerkt, dem Leser hingesetzt. Lesen sie diese, gute Mademoiselle, wenn Sie den witzigen Emil gelesen haben, und sagen Sie mirs alsdann auf Ihr Gewissen, ob ein verständiger sorgfältiger, christlicher Vater, oder auch eine ihm ähnliche Mutter, oder so ein Lehrer, Anführer, oder Freund, bey einer klugen Anwendung dieser und andrer einfältigen Regeln, den Verstand und das Herz ihrer Jugend nicht gewisser und kürzer und glücklicher bilden werden, als nach den feyerlichen Betrachtungen eines Rousseau.88
Basedows philanthropische Pädagogik wurde also schon seit Ende der 1750er Jahre als eine gänzlich neuartige und originelle Erziehungslehre wahrgenommen und erzeugte somit schon lange vor der Gründung des Dessauer Philanthropins ein nicht zu überhörendes Echo. Wie bereits erwähnt, schmälert dieser Befund keines83 84
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Basedow, Johann Bernhard, Philosophiske Pligter for dem, som vilde indgaa Aegteskab. Kopenhagen 1758. Rezensionen der Practische[n] Philosophie für alle Stände finden sich in: Le mercure danois, dedie au roi (1759) August, S. 80 und Oktober, S. 22 sowie in Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen (1759), 20. Stück, 15. Februar 1759, S. 185–191. Der Rezensent der Göttingische[n] Anzeigen befindet, daß sich Basedow mit dieser Schrift „neue Verdienste erworben“ hat, da er „sich, in seinem Lehrbuche, zugleich als einen Philosophen, Menschenfreund, Patrioten, und Christen erwiesen“ habe, ebd., S. 189. Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Leipzig, Nr. 35, 1. Mai 1758. Ebd., S. 316. Gellerts Briefwechsel, (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 225. Gellerts Briefwechsel, (wie Anm. 29), Bd. 3 [1991], S. 253.
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wegs die Bedeutung von Basedows pädagogischen Schriften aus der Zeit der 1760er und 1770er Jahre. Allerdings wird wohl erst durch die Kenntnis von Basedows Frühschriften so recht ersichtlich, was die philanthropische Pädagogik, jedenfalls den Intentionen ihres Urhebers zufolge, vor allem sein sollte, nämlich ein ganz entscheidend theologisch motiviertes gesellschaftliches Reformprogramm zur Beförderung von gemeinnützigem Handeln und religiöser Toleranz.
KLAUS BLEECK (Mannheim)
J. B. Basedows ethische Grundlegung einer „vernünftigen“ Lebenspraxis aus dem Geiste der Philosophie, Natürlichen Theologie und des Christentums Es ist für protestantische und katholische Historiographen der Theologie der Aufklärungszeit nahezu Konsens, der zeitgenössischen Einstellung der Vernunft gegenüber der christlichen Religion und Theologie als göttlicher Offenbarung und ihrer Auslegung ein spezifisches, zumindest tendenziell gegensätzliches Verhältnis als epocheneigentümlich zu unterstellen. Differenzierungen ergeben sich sodann in idealtypischer Stilisierung aus der jeweiligen Positionierung im Wechselspiel zwischen den Polen „Vernunft“ und „Offenbarung“, die sich als historische Abfolge der geistesgeschichtlichen Strömungen von Wolffianismus, Neologie und Rationalismus darstellen lassen: Der Wolffianismus der ersten Jahrhunderthälfte zeichnet sich durch einen – im ganzen – widerspruchsfreien Parallelismus von Vernunft und Offenbarung aus; die protestantische Reformtheologie (Neologie), die sich zeitlich anschließt und ihren Höhepunkt um 1780/90 hat, eliminiert kontrarationale Bestandteile der christlichen Offenbarungsreligion, ohne den Offenbarungsbegriff preiszugeben; der gleichzeitige bzw. diese Geistesrichtung ablösende und beerbende Rationalismus, der in Lessings Religionsphilosophie seinen ersten und prototypischen „Erfüller“ hat, deutet – unter Substituierung genuin christlicher Glaubensbestandteile durch Vernunftpostulate – Offenbarungswahrheiten in Vernunftwahrheiten um: Der Inhalt, von dem die Neologie den Offenbarungsbegriff entleert, ist der historische; der Inhalt, den sie neu einfüllt, ein rationaler. Der Rationalismus gießt den von der Neologie beiseite gestellten historischen Inhalt in das Vernunftgefäß. So hat sich ein Wechsel in der Offenbarungsidee vollzogen; aber auch der Vernunftbegriff ist ein anderer geworden.1
Unter dem Primat der „sittlichen“ Vernunft wird eine ethisch motivierte Dogmenkritik veranstaltet, die als Religionsinhalt den gemeinüblich werdenden Dreiklang „Gott, Vorsehung, Unsterblichkeit“ als „allervollkommenste natürliche Religion“ unter Einschluß spezifisch „christlicher“ Wahrheiten als Vernunftreligion präsentiert.2 1 2
Aner, Karl, Theologie der Lessingzeit. Hildesheim 1964 [ND Halle 1929], S. 4, (hier auch der Versuch, die beschriebene geistesgeschichtliche Entwicklung in „Gleichungen“ abzubilden). Ebd., S. 183ff. – In ähnlicher Weise synthetisierend verfährt die Anschlußstudie von Feiereis, Konrad, Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1965, (Erfurter Theologische Studien 18), die in vergleichender Absicht die Philosophen und Theologen Baumgarten, Meier, Reimarus, Spalding und Jerusalem behandelt. Theologie und Philosophie sind im 18. Jh. gleichermaßen vernunft-akzentuiert, was eine Einebnung der Differenzen bis zur Deckungsgleichheit von Offenbarungs- und natürlicher Religion zur Folge hat. Der enge Konnex von (natürli-
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Die soeben referierte und in ihrer abstrakten Quintessenz zitierte Epochencharakteristik ist die eines protestantischen „Klassikers“ der Theologiegeschichtsschreibung, dessen konstruktiver Zugriff in späteren Spezialstudien z.T. auf Skepsis3 stoßen sollte und sich im einzelnen auch wohl entschiedene Korrekturen4
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cher) Religion und Sittlichkeit bestimmt den eudämonistisch verstandenen Lebenssinn (im Diesseits wie im Jenseits). Da die natürliche Religion – als Ersatz für die christliche Offenbarungsreligion – konstitutiv für die philosophische Ethik wird, kann sich im ausgehenden 18. Jh. eine Religionsphilosophie etablieren, die in ihrer kantianischen Vollform das Ansehen einer allgemeinen moralischen Vernunftreligion gewinnt. Im Prinzip der Vernunftautonomie bleiben die „Grundwahrheiten“ der natürlichen Theologie (Dasein Gottes, Unsterblichkeit der Seele, Moralität) in revidierter Fassung als Postulate der praktischen Philosophie erhalten und verweisen zurück auf den Annäherungsprozeß von Aufklärungsphilosophie und Neologie (prägnante Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie: S. 242–250). Zur protestantischen Theologie der Aufklärungszeit vgl. ferner (z.B.): Hirsch, Emanuel, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. IV./1. Gütersloh 21960; Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung. Gütersloh 1965; Hornig, Gottfried, Der englische Deismus sowie Neologie und Aufklärungstheologie, in: Andresen, Carl (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 3. Göttingen 1984, S. 115–146; Sparn, Walter, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S. 18–57; als aktueller Forschungsbericht: Nowak, Kurt, Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie Deutschlands seit 1945. Leipzig 1999. (Forum Theologische Literaturzeitung. H. 2.) Vgl. dazu Schollmeier, Joseph, Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967: kritische Revue der Forschungsliteratur: S. 39ff.; programmatisch – gerade auch (u.a.) im Blick auf Aner ausgesprochener Verzicht auf „globale“ Urteile über die Theologie der Aufklärung (Beschränkung auf Spalding, 1714–1804); eine Parallele zu Basedow ergibt sich aus dem Umstand, daß auch Spalding im ganzen eher Autodidakt war, aber – anders als Basedow – in einem zeitgenössischen Theologen (August Friedrich Wilhelm Sack) eine entscheidende Bezugsperson fand (dazu ebd., S. 184–210). Spaldings theologisch-philosophische Position war bereits um 1750 (Bestimmung des Menschen, 1. Fassung 1748) voll entfaltet (vgl. ebd., S. 56ff.). Spalding und Basedow zeigen zweifellos gewisse Affinitäten: Vernunfterkenntnisse (Tugend, Gott, Unsterblichkeit: Spalding; Gott, Jüngstes Gericht, Unsterblichkeit: Basedow); Gottebenbildlichkeit, erreichbar über sich steigernde Erfüllung des Sittengesetzes (Spalding, Basedow); Christentum als Synthese von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion, verstanden als Abfolge von Stadien der Religionsgeschichte (vgl. ebd., S. 68 und Anm. 26; Ähnlichkeiten, die gleichwohl Abweichungen zeigen); Vorrangigkeit des Christentums, die die natürliche Religion als „sekundäres“ Produkt erscheinen läßt (vgl. ebd., S. 66ff.). Spaldings philosophische Leitautoren waren Shaftesbury und (besonders) Hutcheson (vgl. ebd., S. 145ff.). Insgesamt kann festgehalten werden, daß die Positionen nicht eigentlich deckungsgleich sind (die Erkundung von Abhängigkeiten ist hier auch nicht beabsichtigt). Vgl. dazu Müller, Wolfgang, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung zur Theologie der ‚Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion‘. Berlin / New York 1984. (Theologische Bibliothek Töpelmann 43); ders., Von der Eigenständigkeit der Neologie Jerusalems, in: Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 26 (1984), S. 289–309. Darstellungsabsicht ist die Rekonstruktion der Gedankenwelt Jerusalems, nicht eigentlich also sein Verhältnis zu Zeitgenossen (vgl. Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, S. 25). Der Nachweis der „Eigenständigkeit“ Jerusalems erfordert jedoch die exemplarische Profilierung der Denkvoraussetzungen (vgl. ebd., S. 160ff.: Leibniz, Wolff, S. J. Baumgarten, Reimarus, Foster, Tindal). Dabei ergibt sich u.a., daß Jerusalem in den Wolffischen Ansatz der Ethik eingebunden blieb (entgegen Aner, [wie Anm. 1], der die Reflexion des Sittlichen in der Neologie gerade als epochale Absage an Wolff interpretierte: Müller, Johann
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gefallen lassen mußte. Die Grundtendenz des Zeitalters, zumal der Aufweis des durchgängigen basalen Wechselverhältnisses von „Vernunft“ und „Offenbarung“, ist aber zweifelsfrei zutreffend geschildert. Jedenfalls gibt es von katholischer Seite5 durchaus analoge Bewertungen des historischen Tableaus. Gemeinsam ist zumindest auch die Einschätzung, daß die deutsche Aufklärung durchweg eine gewisse Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung angenommen hat.6 Theologisch werden „rationale Verflachungen“ sowie insgesamt die „Auszehrung des Geheimnisses der Offenbarung in Richtung auf bloße Praktikabilität und Utilität“7 moniert. Fundamentaltheologisch erweist sich die aufklärerische Offenbarungskritik im Rückblick in ihrem Kontext und ihren Leitbegriffen als Folge neuzeitlicher Anthropozentrik, und das bedeutet, daß der Offenbarungsinhalt restriktiv dem Kriterium der Heilsrelevanz unterworfen wird.8 In der Selbstgewißheit der Vernunft erfährt der Gottesgedanke eine Funktionalisierung: er wird „Hilfsmittel zur Glückseligkeit [...] So wird die Gottesidee zunehmend ethisiert, was die Gefahr der Reduktion von Religion auf Sittlichkeit impliziert“.9 Zudem wird die Unterscheidung von Vernunftkonstrukt und Offenbarungsinhalt dadurch hinfällig, daß die Vernunft in ihren rationaltheologischen Fiktionen einer „natürlichen Religion /
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Friedrich Wilhelm Jerusalem, S. 190 u. 200). Die von Aner behauptete Abhängigkeit von Foster wird gleichfalls relativiert (vgl. ebd., S. 209ff.), so daß Jerusalems Differenz zur Orthodoxie letztlich durch die Philosophie Leibniz’, Wolffs und dessen Schule (z.B. S. J. Baumgarten) begründet ist (vgl. ebd., S. 223). Die von Aner für Jerusalem in der Parallelität konstatierte Gleichwertigkeit von Vernunft(erkenntnis) und Offenbarung erscheint bei Müller als entschiedene Vorrangigkeit (Vorgängigkeit) der Offenbarung. In der Sittenlehre Jesu erfolgt via „Offenbarung“ eine Wiederbekanntmachung der natürlichen Religion, die gerade keine Schöpfung der autonomen Vernunft darstellt, „[...] da sie ohne die von Christus gebrachte Form der Religion undenkbar ist.“ (ebd., S. 39). Von nun an ist der christlichen Religion für die Moral ein eminenter motivationaler Bestimmungsgrund gegeben (Erreichung des ewigen Lebens). Das Verdienst Christi ist für Jerusalem die „[...] ‚Lehre von der Einheit Gottes, von seiner moralischen Vorsehung, von der Unsterblichkeit der Seele und dem künftigen Vergeltungszustande, und von der göttlichen Sendung des Erlösers‘ “ (zit. nach ebd., S. 49). Die autonome Vernunft kann nicht „selbstmächtig“ zu Religionswahrheiten vordringen, sondern bedarf (bestimmter) Offenbarungen. Der Weltprozeß ist durch die Vorsehung geordnet und durch das Medium „Vernunft“, das gleichermaßen Bestandteil göttlicher Vorsehung ist, erkennbar. Es besteht jedoch eine „grundsätzliche Abhängigkeit der menschlichen Vernunft von der göttlichen Offenbarung bzw. Vorsehung“ (ebd., S. 50). Als „letzte Begründung“ für die Ethik fungiert das apologetische Interesse an der Wahrheit der Religion: „Zusammenfassend können wir sagen, daß die Religion dem Menschen – im Sinne der Perfektibilitätstheorie – das Ziel vermittelt, sich zu vervollkommnen, indem er durch sein ethisches Handeln Gott ähnlich wird“, vgl. ebd., S. 129. Vgl. dazu Seckler, Max, Aufklärung und Offenbarung, in: Böckle, Franz (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Freiburg / Basel / Wien 1981. (Enzyklopädische Bibliothek 21), S. 6–78; Seckler, Max / Kessler, Michael, Die Kritik der Offenbarung, in: Kern, Walter (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie. Freiburg / Basel / Wien 1985, hier Bd. 2, S. 29–59. Seckler, Aufklärung, (wie Anm. 5), S. 32. Ebd., S. 34. Seckler / Kessler, Kritik, (wie Anm. 5), S. 32. Ebd., S. 33.
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Theologie“ die positive Religion (Christentum) ersetzt bzw. als „Kontrastfolie“ zu deren Evaluierung verwendet wird. Ganz abstrakt und in struktureller Verdichtung lassen sich somit Wechselbeziehungen von Vernunftreligion (natürlicher Religion) und positiver Religion (Christentum) bestimmen, die als Matrix für die Interpretation historischer Zeitströmungen dienen können. Diese Bezüglichkeit prägt sich konstellativ folgendermaßen aus: [...] sei es als deren [der positiven Religion, K. B.] bleibendes Substrat (,wahre‘ Religion) nach und gegen alle Tradition, sei es als Vision eines reineren göttlichen Ursprungs (,ursprüngliche‘ Religion) vor aller Tradition, sei es schließlich normativ im Sinne der einzig gottgemäßen und menschenwürdigen Form von Religion (,ethische‘ Religion) ohne alle Tradition. Im offenbarungskritischen Kontext stellt sich hier die Frage nach der Vernunft von Religion und Offenbarung, die gewöhnlich nur durch die Überführbarkeit des Offenbarungsinhalts in materielle Sittlichkeit positiv beantwortet werden kann, während jeder mit einem kognitiv konzipierten Geheimnisbegriff sich verbindende Gehorsams- und Autoritätsglaube unter das Verdikt der Unvernünftigkeit und damit der Unsittlichkeit gerät.10
Der Traditionsbegriff dieser Strukturbeschreibung ist ersichtlich „katholisch“ konnotiert, und zwar in dezidiert aufklärungskritischer Absicht. Protestantische Theologen transportieren selbstverständlich gleichfalls dogmatische Traditionsbestände; die reformorientierte Theologie der Aufklärungszeit hat jedoch, zumal in ihren volkspädagogischen Varianten, eine deutlich biblizistische Grundierung, die dem Protestantismus, seinem eigenen Anspruch zufolge, ohnehin wesenseigentümlicher ist. Insbesondere in ihrer Spätform als „ethische Religion“ (Kant, Deutscher Idealismus) findet sie – selbst in einer „historischen“ Darstellung – im Katholizismus hingegen offenkundig eine entschiedene Zurückweisung. Sie hat in dieser Ausformung ihre legitime Existenzberechtigung als praeambula fidei verloren. In der protestantischen Aufklärungstheologie liegt eine Gemengelage vor, die nicht als ausschließendes Konkurrenzverhältnis empfunden wird. Allerdings ist die „natürliche Theologie“, wenn sie in enger Verschwisterung mit der Aufklärungstheologie auftritt, im schulphilosophischen Kontext in ihrer rationaltheologischen Substanz eigentlich eine philosophische Teildisziplin innerhalb der Metaphysik (metaphysica specialis). Immer dann jedoch, wenn diese nicht „akademisch“ sein will und demgemäß z.B. ihre Beweisansprüche in der Gotteslehre absenkt, wird auch das schulphilosophische Erscheinungsbild aufgegeben. Wenn zudem mit der Rezeption des englischen Deismus neue ideelle Allianzen eingegangen werden, kann die Reduktion des Christentums auf wenige grundlegende Glaubenssätze – etwa in deutlicher Filiation zu Herbert von Cherburys „notitiae communes / veritates catholicae“11 zu einer popularphilosophischen Pointe führen. Im Sinne einer Kon10 11
Ebd., S. 33f. Vgl. dazu den knappen Handbuch-Beitrag über Herbert von Cherbury von Pailin, David A., in: Schobinger, Jean-Pierre (Hg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts (England). Basel 1988, hier Bd. 3.1, S. 224–239, hier S. 224f., sowie die jüngst erschienene monumentale Monographie von Stroppel, Clemens, Edward Herbert von Cherbury. Wahrheit, Religion, Freiheit. Tübingen und Basel 2000. (Tübinger Studien zur
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senstheologie können sodann die Anerkennung der Existenz eines Gottes, die moralische Lebensführung in der Zeitlichkeit (Tugendübung als Lebensaufgabe) sowie die Vorstellung von einem transmundanen Gericht – und die damit verbundene bzw. vorausgesetzte Idee von der Unsterblichkeit der Seele – eine halbsäkulare Moral fundieren. Diese hat, indem sie dem Anspruche nach auf nicht-professionellen („laienhaften“), gleichwohl gültigen Vernunfterwägungen („Wahrheiten“) beruht, den Status allgemeiner Zugänglichkeit, universeller Reichweite und überzeugender „Simplizität“. Teilweise kann ein derartiger Bastard aus Moral und Theologie im Gewande einer partiellen Kritik an einzelnen Traditionsbeständen der positiven Religion (Christentum) auftreten – prinzipiell ist jedoch die harmonische Anschlußfähigkeit kirchlicher Religiosität gewahrt.12 Zwanglos kann die Lebensleistung Basedows als Autor auf diese Skizze des geistesgeschichtlichen Zeithorizontes bezogen werden. Grundlegend ist auch für ihn das vornehmlich schiedlich-friedliche, zuzeiten aber auch durchaus antagonistische Wechselspiel von „Vernunft“ und „Offenbarung“.13 Der von ihm verwendete Religionsbegriff ist nicht eindeutig und zweifelsfrei fixierbar; er „changiert“ eigentümlich, von ihm selbst eingestanden und jeweils bestimmten Lebensabschnitten zugeordnet, in differenten theologischen und philosophischen Semantiken, deren Inkompatibilität zweifellos von seinen jeweiligen Lektüren sehr disparater Provenienz in heute schwer rekonstruierbarer Abkunft herrührt. Je nach Kontext kann ein traditionelles Christentum protestantischer Konfession, das Kunstgebilde eines interkonfessionell homogenisierten „Universalchristentums“, ein philosophischer Gottesglaube mit deistischen Akzenten, moralphilosophischer
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Theologie und Philosophie 20). Beide Autoren behandeln die – skeptisch bzw. relativierend – beurteilte Frage der Legitimität der „Vaterschaft“ für das Phänomen „Deismus“, die in unserem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben kann (vgl. dazu bes. ebd., S. 396ff.: Begriff „Deismus“ und „Vater der Religions- und Offenbarungskritik der Aufklärung“). Die sog. Fundamentalartikel der Religion (Textnachweise: ebd., S. 264, Anm. 28) werden von Stroppel im 2. Teil seiner Arbeit in ihrem Werkkontext und in der Rezeptionsgeschichte ausführlich dargestellt (ebd., S. 259–410). Daß sich auch Basedow im Einflußfeld dieser „religionsphilosophischen“ Vorstellungswelt bewegt, ist zu unterstellen, wenngleich eine ausdrückliche Berufung auf diese Tradition, die aber durchaus zeitgenössisches Gemeingut darstellt, nicht vorliegt. Herbert von Cherbury wird jedoch in den verschiedensten Kontexten zu wiederholten Malen namentlich erwähnt. Vgl. dazu den konzisen philosophiegeschichtlichen Abriß von Schröder, Winfried, Religion bzw. Theologie, natürliche bzw. vernünftige, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 (1992), Sp. 713–724. Vgl. dazu Kantzenbach, (Protestantisches Christentum, [wie Anm. 2], S. 190), der Basedow als „Radikalaufklärer“, der gleichwohl nicht eigentlich als Kirchenfeind auftrat, bezeichnet; das Kurzporträt Basedows erscheint unter dem Kapitelrubrum „Radikalismus“ (ebd., S. 212–214) und unterstellt opportunistische Verschleierungen – eine sicherlich insgesamt irreführende Deutung, da Basedow eigentlich lediglich, wenn auch in teilweise abweichender Eigenart, neologischen „common sense“ vertritt; aufschlußreich ist das Zitat aus Bahrdts Autobiographie, das Basedows Position – in seiner „reifsten“ Fassung, wie man einschränkend hinzufügen muß – als „ ,neumodischen Glauben an eine geoffenbarte natürliche Religion‘ “ charakterisiert (zit. nach ebd., S. 212f.) und damit als eigenwillige „Sondermeinung“ zwischen allen theologischen Fronten (also weder orthodox noch neologisch) kritisiert.
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Substanz und entsprechendem Reduktionismus sowie die Vorstellung einer umstandslos „vernünftigen“ Verträglichkeit von natürlicher Religion und Christentum als Offenbarungsreligion angetroffen werden, die sich in den Spätschriften zur proklamierten Indifferenz beider steigert. Mit dieser Problemlösung, die im übrigen durchaus zeittypisch ist, wird die alte Streitfrage einer Vor- bzw. Nachrangigkeit von natürlicher („rationaler“) und „positiver“ (geoffenbarter) Religion als überholt verabschiedet. Vernunft- und Offenbarungsreligion sind identisch, und zwar als „christlich“ identifizierbar. Freilich handelt es sich dabei um ein Christentum, das von vermeintlichen, im historischen Prozeß aufgetretenen, von Menschen zu verantwortenden Überformungen („Perversionen“) gereinigt ist und eigentlich eine Glaubenslehre zeigt, die auf die Inhalte der natürlichen Religion (und Theologie) zurückgeführt ist. Das derart destillierte und kondensierte Christentum stellt sich nunmehr als moralische Vernunftreligion dar, die zugleich einen integralen Bestandteil in der Architektonik seiner praktischen Philosophie bildet. In der Substanz ist diese als eudämonistisch-utilitär14 und damit gleichfalls als zeitüblich charakterisierbar; das Beiwerk ist – im Sinne einer überlegten Selektion aus dem aktuellen Theorieangebot – eklektisch (und damit natürlich nicht sonderlich originell); die Form der Darstellung ist undogmatisch, nicht-deduktiv sowie in der Abkehr vom Glauben an die Übertragbarkeit des mos geometricus von der Mathe-
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Das 2. Hauptstück der 1. Fassung von Practische Philosophie fuer alle Staende. Copenhagen und Leipzig 1758 ist überschrieben: „Von der Befoerderung der allgemeinen Glueckseeligkeit oder Vollkommenheit“ (S. 23ff.). Die Perfektibilität der menschlichen Gattung ist als Gemeinschaftsaufgabe Pflicht-Verwirklichung des göttlichen Schöpfungszwecks. Die Schlußpassage des § 120 („Von dem Willen, dem Guten und der Glueckseligkeit“, S. 933ff.) definiert die Begriffe „Vollkommenheit“ und „Glückseligkeit“ abermals alternativ/synonym bzw. „Vollkommenheit“ als instrumentell im Blick auf „Glückseligkeit“ (S. 939). Die Nähe zu Wolff, der als „letztes Ziel“ menschlichen Handelns „Vollkommenheit“ ansetzt, „deren Erlangung notwendig Glückseligkeit zur Folge hat“, ist unverkennbar; vgl. dazu Schwaiger, Clemens, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart / Bad Cannstatt 1995. (FDMA II.10), hier S. 197; vgl. dazu auch Mori, Massimo, Glück und Autonomie. Die deutsche Debatte über den Eudämonismus zwischen Aufklärung und Idealismus, in: Studia Leibnitiana 25 (1993), S. 27–42. Mori macht darauf aufmerksam, daß auch Crusius – bei aller Gegnerschaft zu Wolff – „die Identität von Glückseligkeit und Vollkommenheit“ betont und zudem „im Gehorsam gegenüber den ‚natürlichen Gesetzen Gottes‘ die Bedingung für die Verwirklichung von beidem“ sieht (ebd., S. 32). Das ist exakt Basedows Positionsbestimmung in einer Prinzipienfrage der Praktischen Philosophie. Moris Feststellung, derzufolge „[...] die deutsche Aufklärung die eudämonologische Frage fast immer in einer untrennbaren Verbindung mit der religiösen Dimension [denkt, K. B.]“ (ebd.), gilt auch für Basedow; zur zeitgenössischen Diskussion vgl. ferner Grunert, Frank, Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung, in: Grunert, Frank (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998. (Frühe Neuzeit 145), S. 351–368. – Die „philanthropische Schule“ der Pädagogik kennt in der Theoriebildung durchweg analoge Zielbegriffe; vgl. dazu Schrader, Karl, Die Erziehungstheorie des Philanthropismus (Versuch eines Systems). Langensalza 1928. (Friedrich Manns Pädagogisches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften, Heft 1218), S. 10ff.: zu Bahrdt, Trapp, Campe, Struve, Villaume – auf Differenzen unter den behandelten Autoren wird hingewiesen.
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matik auf die Moralphilosophie,15 und zwar in der erklärten Nachfolge seines Leipziger akademischen Lehrers Crusius, zumindest tendenziell anti-wolffianisch; die Stoffpräsentation verzichtet auf den philosophischen Fachjargon und will damit populär sein, ohne gelegentliche Rückgriffe auf den Theorienfundus der schulgerechten Philosophie prinzipiell auszuschließen. Damit ist ein deutliches Indiz für die Zurechenbarkeit Basedows zur innerhalb der deutschen Aufklärung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominanten Strömung der Popularphilosophie gegeben. Insgesamt zeigt das Werk eine gewisse lebensgeschichtliche Phasenbildung mit deutlichen Zäsuren zwischen den jeweiligen Arbeitsschwerpunkten in den Disziplinen Philosophie, Rationaltheologie und Pädagogik. Nachhaltig ist eine auffällig missionarische Grundeinstellung der Theorieproduktion, deren selbstgewisse Ichbezogenheit eine kaum gezügelte Neigung zur autobiographischen Mitteilsamkeit hervortreten läßt. Die eigene Lebensgeschichte mit ihren Glaubenskrisen wird dergestalt bedeutsam für die geleistete Denkarbeit und zugleich – offenkundig in von Zweifeln ungetrübter Selbsteinschätzung – als exemplarisch und epochaltypisch für den Gang des Geistes seines Zeitalters empfunden.
I. Zur Einführung sollen zunächst zwei ausgewählte Dokumente aus der Rezeptionsgeschichte Basedows referiert werden, die dem frühen 19. Jahrhundert entstammen. Es sind dies: (1) der Basedow-Artikel aus der von Ersch und Gruber herausgegebenen Allgemeinen Encyclopaedie der Wissenschaften und Kuenste aus dem Jahre 1822 und (2) eine kurze, Basedow betreffende Passage aus dem von Snell und Snell verfaßten Handbuch der Philosophie für Liebhaber16 aus dem Jahre 1829.
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Zum philosophiegeschichtlichen Kontext vgl. Tonelli, Giorgio, Der Streit über die mathematische Methode in der Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Entstehung von Kants Schrift über die ‚Deutlichkeit‘, in: Archiv für Philosophie 9 (1959), S. 37–66. Snell, Christian Wilhelm / Snell, Friedrich Wilhelm Daniel, Handbuch der Philosophie fuer Liebhaber. II. 8: Geschichte der Philosophie des Mittelalters und der neuern Zeit. Giessen 1829. (Verfasser dieses Teils ist Johann Friedrich Snell). Der Basedow-Artikel in: Ersch, Johann Samuel / Gruber, Johann Gottfried (Hg.), Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Kuenste. Leipzig 1818–1889, hier Bd. I. 8, S. 6–9) konnte sich auf die ergiebigen, unmittelbar nach Basedows Tod veröffentlichten Biographien von Rathmann, Heinrich, Lebensgeschichte und Character Joh. Bernh. Basedows aus seinen Schriften und andern aechten Quellen dargestellt. Magdeburg 1791), und Meier, Johann Christian, Johann Bernhard Basedows Leben und Character und Schriften unparteiisch dargestellt und beurtheilt. 2 Theile. Hamburg 1791/92 stützen. Rathmann hat gleichsam eine hagiographische Tendenz, Meier gibt sich hingegen durchweg animos. Sein Gesamturteil ist eindeutig negativ: „Als Gelehrter, man mag dabey auf ausgebreitete Kenntnisse in Sprachen und Wissenschaften sehen, war er wirklich ein sehr kleines und alltaegliches Licht; die einzige practische Philosophie ausgenommen, und auch da hat er das Meiste entlehnt“. (ebd., T. 1, S. 14f.).
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Der Basedow-Eintrag im Ersch / Gruber ist zweigeteilt und jeweils namentlich gezeichnet. Der erste Teil ist im wesentlichen dem Philosophen Basedow gewidmet und stammt von Wilhelm Gottlieb Tennemann, einem seinerzeit bekannten Philosophiehistoriker kantianischer Prägung († 1819); der zweite Teil hat August Hermann Niemeyer, also einen ausgewiesenen Pädagogen und Theologen, den Autor der Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts (erstmals 1796), zum Verfasser. Zwei Experten unterschiedlicher fachlicher Kompetenz werden also bemüht, um das Phänomen Basedow angemessen zu behandeln. Dieser Sachverhalt ist insofern für die weitere Rezeptionsgeschichte Basedows symptomatisch, als sich in deren Verlauf nach anfänglicher Ratlosigkeit über seine disziplinäre Einordnung schließlich eine insgesamt vereinseitigende Vereinnahmung des „Pädagogen“ Basedow in der pädagogikgeschichtlichen Doxographie ereignet hat, und zwar unter stetig zunehmender Ausblendung der philosophischen und theologischen Komponenten seines Werkes. Das biographische Porträt ist differenziert und weist in den Bereichen Philosophie, Theologie und Pädagogik intellektuelle Gravitationspunkte auf, die sich mit wechselnder Gewichtung über die gesamte Lebensspanne verteilen. Aus der Sicht der beiden Experten zeichnet sich jedoch eine gewisse Zweiteilung der Aktivitäten Basedows in der Weise ab, daß nach einer philosophisch-theologischen Kampfzeit Ende der 60er Jahre „eine neue Periode in dem Leben des merkwürdigen Mannes“ (Tennemann) anbricht, die Basedow als Bildungsreformer und rührigen „Schulunternehmer“ (Luhmann)17 auftreten läßt. Niemeyer kritisiert zwar die Basedowschen Reformgedanken wegen ihrer „pomphaften“ Selbstinszenierung als Traditionsbruch, betont sodann aber durch den überaus schmeichelhaften Vergleich von Basedows zentraler pädagogischer Programmschrift Vorstellung an Menschenfreunde (1768) mit Luthers Sendschreiben An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen aus dem Jahre 1524 dessen epochale Bedeutung als Reformpädagoge. Die zahlreichen theologisch inspirierten Kontroversen, etwa die mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze,18 also jenem Geistlichen, mit dem auch Lessing einen berühmt-berüchtigten Streit ausfocht, werden hingegen von Tennemann in leicht 17
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Luhmann, Niklas, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft. Von der Philanthropie zum Neuhumanismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, S. 105–194, hier S. 122. Vgl. zu Goeze: Höhne, Hans, Johann Melchior Goeze im Urteil seiner Zeitgenossen und der Literatur über ihn bis heute, in: Reinitzer, Heimo (Hg.), Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (1717–1786). Wiesbaden 1989, S. 27–62; Boehart, William, Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988. (= Diss. Phil. Hamburg 1982). Zu den Querelen in Altona vgl. ferner Basedow, Armin, Johann Bernhard Basedow (1724–1790). Neue Beiträge, Ergänzungen und Berichtigungen zu seiner Lebensgeschichte. Langensalza 1924. (Friedrich Manns pädagogisches Magazin. H. 995), S. 77ff. (die Biographie endet 1771); zum historischen Hintergrund: Kopitzsch, Franklin, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2 Teile. Hamburg 1982. (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 21).
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belustigter Manier und anekdotenhaft verfremdet vorgetragen, obwohl sie für Basedows Lebensgeschick einschneidende Folgen hatten und im übrigen ihren charakteristischen Niederschlag in seinen Werken fanden; immerhin wird Basedow attestiert, er habe „unstreitig de[n] freiere[n] Untersuchungsgeist in der Theologie angeregt“.19 Die (latente) deistische Substanz seiner Lehre wird allerdings zugunsten einer eher harmonistischen Deutung im Rahmen der zeitüblichen protestantischen Dogmatik verleugnet. Eine gewisse Ironie prägt überhaupt die Schilderung seines Werdeganges, seiner Schul- und Universitätsstudien. Insbesondere sein nur knapp zweijähriges Studium in Leipzig, das später in Kiel mit einer Magisterpromotion20 über ein – so würde man heute sagen – fremdsprachendidaktisches Thema einen formalen Abschluß fand, wird eher als befremdlich empfunden. Ein Schülerverhältnis zu Crusius, dem Leipziger Gegenspieler des sonst die philosophische Szene nahezu unangefochten beherrschenden philosophischen Schulhauptes Wolff, wird angedeutet. Daß sein Studium im wesentlichen als Selbststudium organisiert war, galt geradezu als Verfehlung. Daß Basedow seine Professur an der Ritterakademie in Soroe einflußreichen Gönnern verdankte, die auch nach theologischen Auseinandersetzungen bereitwillig Schutz gewährten, mochte den Karrieresprung allenfalls erklären. Sein erstes philosophisches Werk, die Practische Philosophie fuer alle Staende von 1758, immerhin eines seiner Hauptwerke, erhält das Prädikat „populär“ – keine anerkennende Qualifizierung im Wertekanon eines Kantianers, weil damit die als historisch überholt empfundene Popularphilosophie der Zeit vor der kantianischen Wende assoziiert werden sollte. Daß ein Basedow – welch Skandalon angesichts der späteren Denkleistung des Idols Kant! – sodann gleichsam vor der Zeit auch eine „Reform der Philosophie“ (Tennemann) mit seinen Schriften Philalethie (1764) und Theoretisches System der gesunden Vernunft (1765) unternahm, konnte nur als gänzlich verfehltes Unterfangen eines sprunghaft operierenden Geistes ohne „Tiefe“, „reifes Urtheil“ und „Stetigkeit“ denunziert werden. Durchaus zutreffend wird dann aber referiert, und zwar teilweise unter Verwendung nicht nachgewiesener Zitate aus dem Theoretischen System der gesunden Vernunft:
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Tennemann, Basedow, in: Ersch / Gruber, (wie Anm. 16), S. 7. Eine ausführliche Inhaltsparaphrase der entsprechenden Druckschrift (Kiel 1752) findet sich in Schmid, Karl Adolf (Hg.), Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsere Zeit. Bd. IV./2. Stuttgart 1896, S. 39–56. Besonders breit und gründlich werden hier im übrigen die pädagogischen Schriften Basedows referiert; auch das Dessauer Philanthropin wird als Reformschule eingehend gewürdigt. Mit sicherem Blick wird der Umstand akzentuiert, daß Reimarus für Basedow eine nahezu uneingeschränkte Autorität darstellte. Basedows philosophische und theologische Produktion tritt insgesamt – mit Ausnahme seiner Praktischen Philosophie – vergleichsweise in den Hintergrund bzw. bleibt – das gilt zumal für die theologischen Schriften der beiden letzten Lebensjahrzehnte – unerwähnt (ein Beispiel für das DepartementDenken der pädagogischen Historiographie!).
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Die Philosophie war ihm ein gemeinnuetziger Inbegrif der zur Befoerderung philosophischer Erkenntnisse geordneten und vorgetragenen Wahrheiten und Vermuthungen der nicht auf Offenbarung sich stuetzenden Vernunft; Demonstration und strenger Beweis war daraus verbant, als nur fuer die abstracte Mathematik gehoerig, und die Gewißheit der philosophischen Erkentniß auf analoge allgemeine Erfahrungen [,] eine Haeufung der Wahrscheinlichkeit und eine P f l i c h t z u g l a u b e n, was aus jenen beiden Quellen nicht erkant werde, gestuetzt. Eine solche Philosophie kann, wenn auch wohlgemeint, doch im Ganzen nichts als ein loses Gewebe von Einfaellen, wahren und falschen Ansichten und Ideen seyn. Ueberhaupt war Basedow gluecklicher im Einreißen als Aufbauen.21
Was moniert Tennemann an Basedow? Er kritisiert den unsystematischen, unfertigen, gleichsam dekonstruktivistischen Charakter der Philosophie Basedows mit Argumenten ad hominem – und er verfügt über die „Grundlagengewißheit“ (Luhmann)22 der Mehrzahl der philosophischen Parteigänger Kants und Fichtes nach der säkularen Zäsur der imponierenden Systeme. Ebendies gilt nun auch für die kurze, abqualifizierende Notiz über Basedow im Handbuch der Philosophie für Liebhaber – auch dies ein Werk von Kantianern. Dort heißt es nach einem beiläufigen Hinweis auf das Dessauer Philanthropin, das Basedow „berühmt“ machte: [Er] beurtheilte den Werth der Philosophie, nicht als einer nothwendigen Wissenschaft, sondern bloß nach der Gemeinnuetzigkeit und Faßlichkeit; darum verwarf er, was ein tieferes Forschen erheischte und keinen unmittelbaren Nutzen zeigte. Er beguenstigte also diejenige Popularphilosophie, welche ein oberflaechliches Raesonnement für gruendliches Denken nimmt und jeden seichten Kopf, der einen Schluß zu Stande bringen kann, glauben macht, er sey ein Philosoph. 23
Christian Wilhelm Snell, der sich als „Idealist“ versteht, vergleicht an anderer Stelle24 in der Terminologie Kants die „Systeme des moralischen Empirismus“ mit denen des „Purismus und Rationalismus“, wobei als Prototyp der sog. empirischen Systeme das „Glückseligkeitssystem“ des philosophisch (vorgeblich) erledigten Eudämonismus figuriert. Basedow wird hier zwar nicht ausdrücklich genannt, wäre aber fraglos in diesem Kontext zu situieren.25 Die im Zitat registrierte Zugehörig21 22
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Tennemann, Basedow, in: Ersch / Gruber, (wie Anm. 16), S. 7. Vgl. ders., (wie Anm. 17), S. 123; auch „Theorievertrauen“ genannt. Gemeint ist, daß die pädagogischen Kantianer sich in der Gewißheit wiegen, daß alle philosophischen Probleme von Kant endgültig gelöst seien und „für den take off einer eigenständigen Erziehungswissenschaft“ umstandslos beigezogen werden könnten (ebd., S. 123ff.). Der Philanthropismus wird insgesamt als „theoriefern“ gedeutet: „Die Bedeutung der philanthropischen Bewegung lag, anschließend an das praktische und literarische Wirken Basedows, nicht auf theoretischem Gebiet. Die Philanthropie stellt sich selbst, darin Zeitströmungen folgend, als pragmatisch, empirisch, metaphysikfeindlich dar, als bedacht auf Nutzen und auf das Glück der Menschen“ (ebd., S. 128). Snell / Snell, Handbuch, (wie Anm. 16), S. 163. Snell, Christian Wilhelm, (wie Anm. 16): Theil IV: Moralphilosophie. Gießen 1805, S. 192ff. In gleicher Weise negativ werden Basedows philosophische Arbeiten – seine pädagogischen trugen ihm gleichwohl eine gewisse „Berühmtheit“ ein und waren in jenen fundiert – von Wilhelm Traugott Krug beurteilt in: ders., Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben [...] Bd. 1., o.O. 21832, S. 288f. Von seinen philosophi-
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keit zur sog. Popularphilosophie ist, von heute aus geurteilt, hellsichtig. Die im Umfeld jeweils kurz, aber durchweg freundlicher behandelten Autoren, z.B. Mendelssohn, Eberhard, Tetens, Sulzer, werden mit guten Gründen gleichfalls dieser philosophischen Grundströmung des deutschen 18. Jahrhunderts zugerechnet. Die Zwischenbilanz läßt sich folgendermaßen aufmachen: Der in illustrativer Absicht vorgeführte Ausschnitt aus der Rezeptionsgeschichte zeigt beispielhaft, daß Basedow mit seiner Philosophie nach dem Auftreten der idealistischen Systeme schlagartig zum „toten Hund“ wird. Kant etwa hat zwar das Schulexperiment Philanthropin publizistisch unterstützt; von einer besonderen Wertschätzung der Philosophie Basedows ist hingegen nichts bekannt.26 Das hat suggestive Auswirkungen auf die Deutungsgeschichte gehabt; Basedow bleibt tendenziell nur das Renommee des Reformpädagogen. Seine philosophischen Werke werden ob-
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schen Werken heißt es dort, sie seien „[...] hoechst popular, aber nicht sehr gruendlich abgefasst.“; immerhin wird ihm attestiert, daß er mit seiner Kritik am „Idealismus“ (insbes. an Leibniz) „[...] wenigstens weiteres Nachdenken [veranlasste], wenn er auch selbst auf diesem Wege keine haltbare Philosophie zu Stande bringen konnte“. Über seine theologischen Lehrmeinungen verlautet nichts. – Als „origineller“ (philosophischer) Kopf wird Basedow von Buhle, Johann Gottlieb, Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften. Bd. VI.2. Göttingen 1805, S. 545ff., bezeichnet. Über seine theoretische Philosophie heißt es: „Sein Zweck war hierbey, alles Studium der Philosophie auf das eigene Interesse des Menschen, und das Beduerfniß der Glueckseligkeit zu lenken, und statt einer demonstrativen Wissenschaft in Sachen der Metaphysik einen Glauben einzufuehren. Er erklaerte daher gleich die Philosophie ueberhaupt fuer einen gruendlichen Vortrag gemeinnuetziger Erkenntnisse, theilte sie ein in Anthropologie und Theologie, und behandelte sie so popular, wie sie noch nie in Deutschland behandelt war“ (S. 547). In der Pädagogik war er ein „Revolutionär“ (vgl. S. 545). – Der Göttinger Theologe Carl Friedrich Stäudlin fällt in seiner Geschichte der Moralphilosophie. Hannover 1822, über Basedows praktische Philosophie, die das Prinzip der „Befoerderung der allgemeinen Glueckseligkeit zum allgemeinsten moralischen Gesetz“ erhebe, ein überaus negatives Urteil: „[...] im Wissenschaftlichen ist sein [Basedows, K. B.] Verdienst sehr geringe“ (ebd., S. 956). Zur angemessenen Einschätzung dieses Urteils muß man berücksichtigen, daß Stäudlin die Moralphilosophie im Sinne Kants als Prinzipienwissenschaft versteht. Kant repräsentiert – mit der Abkehr vom Glückseligkeitsprinzip als „herrschender Gewohnheit“ in der Fundierung der Ethik – mit seiner Metaphysik der Sitten die Gegenposition zur zeitgenössischen Schulphilosophie und begründet ein „revolutionär“ neues Paradigma (vgl. ebd., S. 960ff.). Die Moralphilosophie kann für Stäudlin nur auf diesem Wege „Wissenschaft“ werden. Damit ist zugleich programmatisch statuiert, daß die Lebenswelt („[...] die besondern Umstaende und Verhaeltnisse, in welche er [der Mensch, K. B.] sich in dieser Welt versetzt findet“, S. 963) kein legitimer Ausgangspunkt für die Moralkonstituierung sein kann. In diesem Sinne kann z.B. Gellerts Moralphilosophie allenfalls als „Muster eines edlern popularen und zugleich ruehrenden, bildenden und bessernden Vortrags der vornehmsten moralischen Lehren“ gelten (S. 954). Bereits in seinem früheren Werk (ders., Philosophische und biblische Moral. Ein akademisches Lehrbuch. Göttingen 1805) hatte Stäudlin gut kantianisch „Glückseligkeit“ als ein Prinzip denunziert, das auf „keine Weise“ leitend für das sittliche Handeln sein könne (und dürfe), vgl. ebd., S. 102 u. 250. Über die „Pädagogik“ heißt es, sie sei „[...] eine besondere Wissenschaft und Kunst geworden“. Basedow wird als einer derjenigen Autoren genannt, die „noch die groeste Wirkung hervorgebracht [haben]“: ebd., S. 325, Anm. 227; in einer Aufzählung mit Locke, Rousseau, Campe u. Pestalozzi. Vgl. dazu Overhoff, Jürgen, Immanuel Kant und die Erziehung zur religiösen Toleranz, in: Emundts, Diana (Hg.), Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung. Wiesbaden 2000, S. 133– 147.
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skur. Zudem professionalisiert sich die Pädagogik – das ist natürlich ein wissenschaftsgeschichtlicher Gemeinplatz – als Wissenschaftsdisziplin gerade in dem Maße, in dem sie sich von der Philosophie (und Theologie) emanzipiert. In der gemilderten Form des ideengeschichtlichen Rückblicks wird der philosophische – kaum jedoch der theologische – Anteil zwar noch registriert, gilt gleichwohl als isolierbarer Bestandteil des Gesamtwerkes in peripherer Randlage, für den keine fachliche Zuständigkeit mehr besteht. Es ist daher kein Zufall, daß es in der einschlägigen Spezialliteratur nahezu Gemeingut der Bewertung der Lebensleistung Basedows geworden ist, daß seiner Wirksamkeit eine lebensgeschichtliche Phasenbildung zugeschrieben wird, derzufolge einem philosophisch-theologischen Lebensabschnitt im Zuge einer Schwerpunktverlagerung eine vornehmlich pädagogische Orientierung folgt, die in eine eher theologisch akzentuierte Spätphase ausläuft. Das ist zwar faktisch zutreffend, bedeutet jedoch keineswegs einen radikalen Bruch innerhalb der intellektuellen Biographie Basedows.27 Diese läßt sich vielmehr zwanglos in der Weise als Einheit verstehen, daß die philosophischen, theologischen und pädagogischen Aktivitäten aller Lebensphasen doxologisch in enger Verknüpfung erscheinen. Denn das philosophische Denken, das in Basedows akademischer Lehrtätigkeit als Professor an der Ritterakademie Soroe und später in ähnlicher Position am Altonaer Akademischen Gymnasium in seinen Hauptwerken zur praktischen und theoretischen Philosophie zu einer eigenständigen, die gesamte Palette der philosophischen (Kern)Disziplinen abdeckenden Systembildung tendiert, fundiert auf Dauer gleichermaßen Theorie und Praxis aller pädagogischen Intentionen. Zumal der eigene Beitrag zur praktischen Philosophie besitzt eine Scharnierfunktion für alle Lebensphasen. Dies findet seinen äußerlichen Ausdruck bereits in dem Umstand, daß die beiden Fassungen seiner Practischen Philosophie fuer alle Staende (1758, 1777) einen analogen pädagogischen Verwendungszweck primär darin haben sollten, daß sie jeweils zu allererst als Lehrbuch in jenen Schuleinrichtungen dienen sollten, in denen Basedow lehrend und leitend tätig war (Soroe, Altona, Dessau). Zudem besitzen Lehrmittel in Basedows Konzeption einer umfassenden, systematischen Curriculumreform, wie sie programmatisch 1768 in seiner Vorstellung an Menschenfreunde formuliert wird, in der von ihm als zwingend empfundenen Sequenz der Reformschritte – Schulbücher, Lehrerseminare, Schulen und Universitäten – einen vorrangigen Spitzenplatz. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß er auch seine genuin philosophischen Werke stets als Lehrbücher für den gymnasialen und universitären Unterricht entworfen hat. Diese sind in stofflicher Hinsicht zugleich aus seiner fachlichen Kompetenz als Philosoph sein Beitrag zur pädagogischen Reform. Materialiter ergibt sich so eine Iden27
Vgl. dazu – in der Geschichtsschreibung der Pädagogik nahezu als Ausnahme – Moog, Willy, Geschichte der Pädagogik. Bd. 3. Die Pädagogik der Neuzeit vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Franz-Josef Holtkemper. Düsseldorf / Hannover 1967, (Kap. 4: Der Philanthropismus [S. 83–125]; darin § 11, S. 85–106: Basedow). Wiederholt (S. 88 u. 91) betont Moog programmatisch die gedankliche Einheit des Gesamtwerks (ohne Einzelbelege).
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tität von Philosophie und Pädagogik. Da die metaphysischen Basissätze seiner „Theologie“ ein integraler Bestandteil seines disziplinenübergreifenden Lehrgebäudes sind, gilt dies gleichermaßen für diese, die – nach einer zwischenzeitlichen rationaltheologischen, deistischen Akzentuierung – in den letzten beiden Lebensjahrzehnten wieder eine stärkere Affinität zum Christentum als Offenbarungsreligion aufweist.
II. Bei der Rekonstruktion seines Lehrgebäudes soll zunächst auf Programmschriften Basedows aus seiner Soraner und Altonaer Zeit zurückgegriffen werden, die ungleich prägnanter als in den Hauptwerken Namen und Positionen bezeichnen, die den Traditions- und Argumentationszusammenhang seiner (praktischen) Philosophie zu erkennen geben. Es handelt sich im übrigen nicht eigentlich um belanglose Präliminarien, da Basedow selbst ja stets Wert darauf legte zu betonen, daß sich die Entwicklungsgeschichte seines Geistes und seiner Lehrmeinungen durch Konsequenz und Kontinuität der Auffassungen auszeichne. Das führte allerdings auch zu einer auffälligen, ja penetranten Redundanz in den Aussagen. Basedows Antrittsrede in Soroe, zunftgemäß in lateinischer Sprache abgefaßt, trägt den Titel De philosophiae studio a procerum filiis prudenter moderando.28 Es 28
Dissertatio. Havniae 1753. – Die in § 9 verkürzt zitierten Lehrbücher lassen sich wie folgt identifizieren: (1) Baumeister, Friedrich Christian, Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolffii conscriptae. Vitembergae 1736 (und weitere Auflagen); (2) Ernesti, Johann August, Initia doctrinae solidioris. 1736 (mehrere Auflagen); (3) Gottsched, Johann Christoph, Erste Gruende der gesammten Weltweisheit (zahlreiche Auflagen zwischen 1733 und 1763; wieder in: Gottsched, Johann Christoph, Ausgewählte Werke, hg. v. P. M. Mitchell. Bd. V.1–4. Berlin / New York 1983–1995); (4) Hollmann, Samuel Christian, Institutiones philosophicae (3 Teile 1727–1734), von der 2. Aufl. an als In universam philosophiam introductio (Logik, Metaphysik, Physik, Pneumatologie, natürliche Theologie). Zu Crusius fehlt ein Kompendium seiner Philosophie (von Basedow als Desiderat beklagt). In § 18 findet sich eine Auseinandersetzung mit Rousseau („Divionensis victor“) und seinem Discours sur les sciences et les arts. Das dabei gebotene (angebliche) Zitat in lat. Übersetzung stellt offenkundig eine Kompilation dar. Basedow deutet die kulturpessimistische Argumentation Rousseaus als rhetorisches Feuerwerk („pro pessima causa“) und bemerkt ironisch, übergroße Bildung könne das Denken korrumpieren. – Einen ähnlichen Zweijahreskurs hat Basedow später auch für das Fach Theologie entworfen: Discours, von der Nothwendigkeit und Art theologischer Vorlesungen auf Ritterakademien (als Nr. 4 in Basedow, Johann Bernhard, Reden ueber die glueckselige Regierung Friedrichs des Fuenften Koenigs in Daenemark und Norwegen. Nebst andern Reden theils gehalten, theils uebersetzt. Kopenhagen u. Leipzig 1761 [21771], S. 99–126. Der Theologiekurs soll (u.a.) gegen die Anfechtungen der Freigeisterei immunisieren und dabei die Verbindung zum Philosophieunterricht (Recht der Natur, Sittenlehre der Vernunft) herstellen. Insbesondere werden die folgenden Lehrobjekte genannt: (1) Wahrheit des Christentums (Apologie) in Abwehr der Freidenker; (2) ausgewählte Stellen des NT (Rücksicht auf Standespersonen); (3) biblische Theologie (Dogmatik); (4) Religionsgeschichte (Konfessionen u. Sekten). Es soll auf „facultaetenmaeßige Gelehrsamkeit“ verzichtet werden; Basedow will ausdrücklich kein „Pedant der Gottesgelahrtheit“ sein (vgl. S. 10ff.).
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handelt sich um programmatische Erörterungen zum eigenen Amtsverständnis aus Anlaß der Übernahme einer Professur für Praktische Philosophie und Deutsche Beredsamkeit an einer Adelsakademie. Die intrikate Frage lautete: Wie, wozu und in welchem Umfange soll Philosophie vor Aristokratensöhnen (procerum filii) traktiert werden? Die Feststellung des Redners, die zukünftigen Hörer seien nicht für die Pfarre, die Schule oder eine gelehrte Existenz, z.B. als Juristen oder Mediziner, bestimmt, fällt erwartungsgemäß traditionell aus. Der „homo politicus“ ist natürlich nicht der richtige Adressat für das lautstarke Gezänk streit- und ruhmsüchtiger Schulphilosophen. Konzessionen im Lehrprogramm in Gestalt von Abstrichen am hergebrachten Kanon der Philosophie sind erforderlich (§§ 9, 10). Das Biennium – u.U. steht sogar ein Dreijahreskursus zur Verfügung – bedarf didaktisch wohlüberlegter Strukturierung; bei der Stoffbehandlung sind Subtilitäten zu meiden; grundsätzlich ist der Nutzenaspekt („utilia“) Richtpunkt des Lehrvortrags. Die als Lehrbücher empfohlenen Kompendien sind modern, aktuell und haben – ein wenig überraschend angesichts der ausgeprägten Abneigung Basedows gegenüber der Philosophie Wolffs – fast durchweg entschiedene bzw. moderate Wolffianer zu Verfassern (Baumeister, Gottsched, Ernesti usw.). Daß die Teilgebiete der Philosophie von unterschiedlicher Relevanz für die sog. vornehme Jugend sind – Logik, elementare Mathematik, Christenlehre, Rechtskunde, Pflichtenlehre und Völkerrecht werden als adäquate Lehrstücke beispielsweise genannt – versteht sich. Das Lob der Philosophie, das eigentliche Professionalität für den „politicus“ ausschließt (§ 20), hebt das eigene Fach, die Moralphilosophie, als „disciplina amoenissima“ (§ 16) heraus. Konzessionen an die Lernbereitschaft des adligen Schulpublikums werden nochmals akzentuiert: „recte temperatum philosophiae studium“ (§ 19) ist eines der Postulate, daß kein „rigorosum philosophiae studium“ (§ 20) geboten sei, ein weiteres. Werden so auch unzweifelhaft standesbedingte Konzessionen gemacht, so haben diese doch durchaus keinen gleichsam devoten Charakter. Daß Subtilitäten und esoterische Feinheiten gemieden werden sollen, ist überhaupt Basedows Grundüberzeugung, ganz unabhängig von exklusiven adligen Sozialisationsbedürfnissen. In der Vorstellung an Menschenfreunde29 ist zudem verschiedentlich der Grundsatz vertreten, die „Bestimmung der künftigen Lebensart“ müsse ausschließliches Kriterium für Art und Umfang der pädagogischen Versorgung sein.30 Das dort anzutreffende gesellschaftliche Schichtungsmodell, das dichotom strukturiert ist, differenziert auf der Basis von „gemeinem Haufen“ und „gesitteten Bürgern“ das gesamte voruniversitäre Bildungswesen nach bildungsökonomischen Gesichts29
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Der vollständige Titel lautet: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt. Mit einem Plane eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis. Hamburg 1768. – Der Text wird nach folgender Ausgabe zitiert: Basedow, Johann Bernhard, Ausgewählte Schriften, hg. v. Albert Reble. Paderborn 1965, S. 5–80. Vgl. ebd., S. 26 und S. 35.
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punkten. Die Pointe ist nun, daß der Sozialkategorie „Kinder der vornehmen Bürger“ „auch die Kinder des Adels“ zugerechnet werden, weil „das Wort Bürger in dem allgemeinen Verstande [genommen wird], in welchem es ein Staatsglied anzeigt“.31 Bürgertum und Adel gehen eine Elitensymbiose ein. Nicht ganz unzutreffend ist daher der von einem frühen kritischen Biographen Basedows geäußerte Vorwurf, Basedow habe sich „immer nur vorzueglich mit honesta juventute, mit begueterten und angesehenen Menschenfreunden und mit den vornehmen Staenden in der buergerlichen Gesellschaft beschaeftiget und abgegeben“.32 Er bezieht sich dabei, wie zuvor schon an anderer Stelle, offenkundig auf die skizzierte Soraner Antrittsrede. Aus dieser leitet er einen Grundzug der Basedowschen Pädagogik ab: Nach meiner Einsicht aber sollten die Soehne der großen vornehmen und reichen Hansen – mit Erlaubniß [,] daß ich mich eines Wortes aus Luthers Zeiten bediene – sich vorzueglich und geflissentlich durch die Philosophie zu vernuenftigen Weltbuergern bilden lassen; weil alsdann weit weniger Unheil durch sie in der menschlichen Gesellschaft wuerde angerichtet werden.33
Zwar heißt es bei Basedow: „Das Staatsbeste ist die allgemeine [Hervorh. K. B.] Wohlfahrt der Einwohner“.34 Beispielgebend für die moralische und intellektuelle Qualität einer Sozietät sind jedoch die „vornehmen Stände“. Diese genießen, obwohl die Kinder „vornehmer“ Bürger und junge Adlige im realen Leben der je eigenen Sozialsphäre verhaftet bleiben, eine inhaltsgleiche Unterweisung. Das Idealgymnasium der Zukunft betont in seinem Erscheinungsbild die Einheitsphysiognomie: „Wenn es einmal da ist: so ist es zugleich ein Gymnasium, eine Ritterakademie, eine Kadettenakademie und wie man es sonsten nennen will“.35 Die Kritik an den von ihm als Auswüchse der Philosophie empfundenen Erscheinungen ist für Basedow keine achselzuckende Schmeichelei an die Adresse des Herrenstandes. Dem Philosophieunterricht an den Gymnasien und Universitäten wird in polemischer Invektive die allfällige Entschlackung von den Hypertrophien der Metaphysik anbefohlen: „Besonders wird die Kosmologie und die Theologie a priori, die Psychologie a priori, die liebe Monadologie und die Theologie a priori aus der Zirbeldrüse der Menschen Abschied nehmen“.36 Ganz in diesem Sinne konnte bereits in der Philalethie die eigene theoretische Philosophie kokett als „eine gute Philosophie der Damen und der Cavaliere“37 bezeichnet werden, war 31 32 33 34 35 36 37
Ebd., § 32, S. 33. Meier, Basedows Leben, (wie Anm. 16), T. 2, S. 331f. Ebd., S. 265. Basedow, Schriften, (wie Anm. 29), § 23, S. 25. Ebd., § 50, S. 66. Ebd., S.65. Basedow, Johann Bernhard, Philalethie. Neue Ansichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Graenzen der glaubwuerdigen Offenbarung dem denkenden Publico eroeffnet. Altona 1764. Bd. 1 (1. Hauptstück), S. 13. – Zur „Damenphilosophie“ vgl. Schneiders, Werner, Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 2–18, (Tendenzen der Aufklärung: Hof- u. Damenphilosophie, S. 10ff.; dort auch ein Bericht über ein Wolff angedientes Projekt, eine „Welt-
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doch in dieser die reklamierte Reform der Philosophie schon vorgelegt worden. Die „Gelehrten“, die als sog. „abgeteilte Stände“38 ein „öffentlicher Stand“ sind und „gleichsam eine Würde im Staate“39 repräsentieren, stehen in gewisser Weise außerhalb des sozialen Zwei-Schichten-Modells. Sie genießen als „moralische[s] Salz der ganzen Nation“40 einen Ehren- und Sonderstatus. Ihre pädagogischen Bedürfnisse dürfen daher auch von denen der gemeinen Schulpopulation abweichen, es gelten Sonderkonditionen. Die lateinische oratio auspicalis, de variis gravissimis circa axiomata moralia quaestionibus,41 mit der Basedow am 7. Oktober 1761 sein Lehramt am Altonaer Christianeum antrat, enthält eine im Ansatz diskursive, im ganzen aber, dem rhetorischen Anlaß entsprechend, apodiktische Darlegung seiner moralphilosophischen Grundsätze, die er als Schulmann und Philosoph für die eigene Position reklamierte. Es handelt sich sozusagen um die nachgereichte wissenschaftstheoretische Fundierung der ersten Fassung seines ethischen Hauptwerkes Practische Philosophie fuer alle Staende aus dem Jahre 1758. An der neuen Wirkungsstätte sollte dieses Lehrbuch der „lectio“ zugrunde gelegt werden, was in den Folgejahren nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse auch regelmäßig der Fall war.42 Nach einer allgemeinen Grundlegung sollten Ethik, Naturrecht und eine kurzgefaßte Politik, also die Disziplinen der Praktischen Philosophie, behandelt werden. Die akademische Unterweisung sollte allgemein eine zweifache Zielsetzung verfolgen und einerseits zu Frömmigkeit, Anstand und Klugheit erziehen, andererseits eine Fülle gelehrten Wissens vermitteln.43 Die Markierung des eigenen Standpunktes erfolgt durchweg ex negativo, über die Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Ableitungen. Dabei soll ermittelt werden, welcher allgemeine Grundsatz (primum et generale axioma) für die Disziplin konstitutiv sein kann. Die Lehren der Stoiker, Hutchesons und anderer neuerer Philosophen von einem angeborenen Sinn (sensus innatus) für das Wahre, das sittlich Gute und die Übereinstimmung der Dinge werden abgewiesen, da ein solcher Sinn nicht zur
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weisheit für die Dames“ zu schreiben); vgl. ferner ders., Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 144, wo eine gleichgerichtete Adressatenausweitung in der Philosophiedefinition des Hallenser Philosophen Georg Friedrich Meier notiert wird (in seiner Vernunftlehre). Basedow, Schriften, (wie Anm. 29), § 33, S. 35) Ebd., § 20, S.22f. Ebd., § 49, S.61. Basedow, Johann Bernhard, Oratio auspicalis, de variis gravissimis circa axiomata moralia quaestionibus. Altona (1761). Darin findet sich eine Anrede der versammelten Gäste, unter ihnen zahlreiche Hamburger (auch Reimarus) (vgl. dort [S. 8]: überschwengliche Danksagung an seine ehemaligen Lehrer am Hamburger Akademischen Gymnasium). Vgl. dazu die Übersicht über die von Basedow am Altonaer Gymnasium absolvierten Lektionen (nach den erhaltenen Vorlesungsverzeichnissen) bei Basedow, Armin, Basedow, (wie Anm. 18), S. 82ff. Vgl. Basedow, Oratio auspicalis, (wie Anm. 41), S.11.
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geistigen Ausstattung der Sterblichen gehöre. Wenn es ihn gäbe, wäre er ohne voraufgehende Unterweisung und die Kraft des Beispiels ungewiß, unbestimmt und schwach. Vorauszusetzen wäre die Existenz von Menschen, deren Handeln durch Anleitung und Instruktion bereits derart „formiert“ sein müßte, daß in festen Grundsätzen deren Gewißheit und Wahrheit garantiert wäre. Überdies spricht der Umstand gegen die Annahme eines solchen „sensus innatus“, daß diejenigen nicht mit Gründen überzeugt werden können, die behaupten, die „vorgegebene“ Übereinstimmung von Natur und Tugend nicht zu erkennen.44 Kategorischer Ablehnung verfällt sodann das Prinzip der Handlungs- und Willenslehre Wolffs, das Willenskonzept und natürliches Handlungsfeld in vernünftiger Übereinstimmung sieht, da so die angeborene und praktizierte Sündhaftigkeit des Menschen gewissermaßen das Ansehen von Unschuld und „Entsühnung“ gewinnt. Die Konstitutionsprinzipien von Grotius und Pufendorf (concentus gentium; studium societatis) sollen übergangen werden, da sie, wegen der Nachrangigkeit der Referenzen „Gott“ und „Selbst“, Konsistenzprobleme in der Pflichtenlehre involvieren. Ohne Gewaltsamkeit sind Bezüge auf Gott und das Selbst (Ich) nicht ableitbar aus der moralphilosophischen Übereinstimmung aller Völker (Tradition) und einer universellen Sozialität;45 zudem sind viele Handlungen so beschaffen, daß überhaupt keine soziale Interaktion vorliegt. Die Grundannahmen Hobbes’ über die prekäre und friktive menschliche Koexistenz im Stande der Natur (status belli omnium contra omnes) sowie die vorgeschlagene Prävention durch einen allmächtigen Leviathan (absoluta regum potestas decernendi, quid bonum et honestum, malum et turpe sit) werden als Ausgeburten eines areligiösen englischen Höflings in krisenhafter Zeit abgetan.46 Ungleich akzeptabler sind jene philosophischen Grundsätze, denen zufolge die Tugend um ihrer selbst willen und ohne 44 45
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Vgl. ebd. S. 11f. Ähnliche Argumentationen kehren in der Philalethie, (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 109f., wieder, wo Wolff, Crusius, Grotius und Pufendorf pauschal gleichermaßen eine Inkonsistenz in der Grundlegung der moralphilosophischen Pflichtenlehre als „schaedliche Schwaeche“ vorgeworfen (bzw. unterstellt) wird. Basedow konstatiert gleichsam einen Sprung in der Triaden-Architektur der Pflichtenlehre (Selbst, Gott, Mitmensch bzw. Sozietät) und schlägt eine geänderte Abfolge vor, die er für widerspruchsfrei hält: Selbstliebe (ist evidentermaßen Pflicht); gebotene Folgeleistung für göttliche Gesetze; Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit, denn diese ist allgemeines göttliches Gesetz. Selbstliebe und „Liebe des Ganzen“ harmonieren auf diese Weise im Blick auf das göttliche Gebot, dessen Befolgung Glückseligkeit (Vollkommenheit) garantiert. Die behauptete strukturelle Inkonsequenz naturrechtlicher Theoriebildung in den Basisbegriffen ist auch andernorts unterstellt worden: vgl. dazu insbesondere Vollhardt, Friedrich, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Communicatio 26), S. 76ff. (socialitas bzw. conservatio sui im profanen Naturrecht bei Samuel Pufendorf sowie die sofort einsetzende Kritik auf der Basis christlicher (offenbarungstheologischer) Konzepte, die mit der Vorstellung einer vernunftgeleiteten Selbstliebe ohne Destruktivität konterkariert wurden – ein Kernproblem der deutschen Aufklärung; passim). Hobbes-Charakteristik: „[...] homo a religione alienus, aulae Anglicanae adulator, qui ex turbulentissimis patriae suae temporibus, ea, quae omni tempore et loco fieri oportet, deducere studuit“, Basedow, Oratio auspicalis, (wie Anm. 41), S. 13.
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Rücksicht auf Gefahren, Verluste und Gewinn anzustreben ist. Allerdings gilt, daß diese Handlungsanweisungen als „heidnische“ bei fehlendem Rückhalt in der Offenbarung und in der Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele willkürlich gesetzten, betrügerisch manipulierbaren Zielen zubestimmt sein können.47 Als auf den ersten Blick zutreffend erscheint eine Argumentationsfigur aus dem Fundus der natürlichen Religion (Theologie), der die Liebe und Verehrung eines höchsten Wesens als grundlegendes Gebot gilt, die gleichwohl auf eine (zusätzliche) „Offenbarung“ verzichten zu können glaubt. Die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele sind damit anerkannt, alle nur erdenklichen Pflichtengebote können aus dieser Quelle abgeleitet werden. Die Konstruktion hat nur den Fehler, daß die universelle Gültigkeit einer derartigen natürlichen Norm („Naturgesetz“) – ebendiese wird ja unterstellt – in der Argumentation an die (vorgängig) erfüllte Voraussetzung des Daseins Gottes gebunden und damit (fälschlich) in ihrer Geltung eingeschränkt und nicht für Völker valide ist, die keinen Gott kennen (wie z.B. die Grönländer). Andererseits entbehrt die Vorstellung einer allumfassenden Vollkommenheit und Glückseligkeit (universi perfectio hoc est communis omnium felicitas), die als erstes, unbezweifeltes und generelles Axiom gesetzt wird, der göttlichen Instanz der moralischen Bewertung und jenseitigen Wiedervergeltung (Unsterblichkeit der Seele und Gericht). Mag ein solcher Beweisgang „ohne Gott“ selbst Atheisten von der Wahrheit der Proposition überzeugen; nur geschieht dies um den Preis des Verzichts auf eine eben allein durch die Gottheit, den christlichen Schöpfergott, garantierte Gewähr des Arguments,48 wenn anders nicht an die Stelle gelungener Beweisführung die beredten Zauberkünste Shaftesburys treten sollen.49 An dieser Stelle bricht Basedow das insgesamt willkürlich auswählende und sprunghaft reihende Referat moralphilosophischer Positionen zur Konstitutionsproblematik der Disziplin einfach ab und postuliert nunmehr eigene Grundsätze, deren theologischer Kontext erst durch die weiteren Erörterungen konturiert wird. Einstweilen kann festgehalten werden, daß er seine Revision so anlegt, daß historisch frühe (antike, „heidnische“), vergleichsweise moderne (Grotius, Hobbes, Pufendorf) und rezente (Wolff, Hutcheson, Shaftesbury) Vorstellungen gleichermaßen abgewiesen bzw. in ihrer Geltungsreichweite eingeschränkt werden. Der kritische Bewertungsmaßstab ist offenkundig der beobachtete zu hohe Grad an Profanität. Die erste und allgemeinste Anweisung für das menschliche Leben ist das Streben nach eigener, vernünftiger Glückseligkeit (Pflicht der Selbstliebe). Dabei gilt es, um Beschwerlichkeiten und Gefahren zu meiden, umsichtig das Handeln nach Ursachen und Folgen abzuwägen. Diese Verbindlichkeit ist allgemein und selbst für Atheisten zwingend. Für Basedow kann auf dieser Grundlage der Beweis leicht 47 48
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Ebd., S. 12–14. Voraussetzung ist Gott als Zeuge (testis) und Wiedervergelter (renumerator). Die Existenz Gottes und die – im finalen Gericht – vollzogene moralische Bilanzierung sind Basedows moralphilosophische „Fundamentalartikel“. Ebd., S. 14f.
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geführt werden, daß die Unsterblichkeit der Seele und das Jüngste Gericht (futurum Dei iudicium) „vernünftig“ einsichtig gemacht werden können, daß eine Lebensgestaltung gemäß göttlichem Gesetz, im Vertrauen auf Gefahrenabwehr („Sicherheit“) und in der Hoffnung auf das höchste Gut, die Glückseligkeit aller bedeutet und für die menschliche Vernunft aus dieser Quelle die Fülle der besonderen Pflichten ableitbar wird.50 Verheerende Folgen für die praktizierte Sittlichkeit haben aus Basedows Sicht gleichermaßen Prinzipien, die entweder im Blick auf Leibniz’ Lehre vom zureichenden Grunde die Willensfreiheit leugnen oder fallweise die willkürliche Suspendierung vom allgemeinen Sittengesetz erlauben. Ein gravierender Fehler der philosophischen Debatte ist aber auch die übergroße Wertschätzung des Naturgesetzes, die sich seiner Ansicht nach in zweifelhafter Beweisführung derart äußert, daß diesem die Prädikate „notwendig“, „ewig“, „unveränderbar“ und „vollkommen“ zugesprochen werden, die sodann über den Wert einer menschlichen Handlung entscheiden. Trotz allen Wortgepränges und aller Großsprecherei bleibt es gleichwohl eine einfache, unumstößliche Wahrheit, daß die Maßstäbe für „gut“ und „böse“ ein für allemal festgelegt sind, und zwar unabhängig von jedem menschlichen Zutun. Erkennbar ist das für jeden mit Urteilsvermögen („gesunder“ Vernunft) versehenen Menschen, und zwar aus der Natur und dem stetigen Gange der Dinge.51 Als „axioma generale“ ist für Basedow demnach erwiesen: Die Befolgung eigener und allgemeiner Glückseligkeit sowie der Lobpreis Gottes sind aufgegeben (Pflicht). Die im Wege eines (fiktiven) Gesetzgebungsverfahrens dekretierte „universalitas“ dieses Grundsatzes wäre allerdings ohne Wirksamkeit. In gleicher Wiese ohnmächtig sind Deklarationen über die Ewigkeit, Unveränderbarkeit und Vollkommenheit des Naturrechts – insgesamt Ausdruck menschlicher Maßlosigkeit, die überhaupt zur Signatur des Zeitalters geworden ist. Die vernunftstolze QuasiSicherheit, die das Naturrecht vermeintlich gewährt, ist für Basedow in der Lehrmeinung auf die Spitze getrieben, die der bewiesenen Vortrefflichkeit des Naturrechts höhere Wertschätzung zukommen läßt, als bloßer Offenbarung je zugestanden worden wäre.52 Im Urteil Basedows haben die Philosophen des Zeitalters, die eine ausgesprochene Neigung zur Weltlichkeit und entsprechende Geringschätzung des Christentums zeigen, eine deutliche Hochschätzung für die natürliche Religion, so daß man befürchten müsse, die Verächter des Christentums trügen am Ende noch den Triumph davon. Basedow nimmt für sich in Anspruch, in die tiefsten Geheimnisse der Philosophie eingetaucht zu sein, in denen Gefahr droht für das Seelenheil eines guten Christen, in Gestalt von Unglauben und Feindseligkeit gegen den christlichen Glauben. Der christliche Philosoph (christianus philo-
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Ebd., S. 15f. Ebd., S. 17f. Ebd., S. 19f.
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sophus) hat dafür Sorge zu tragen, daß die Philosophie den Feinden des Christentums das geistige Rüstzeug aus den Händen schlägt. In Fragen des Glaubens kann die philosophische Wahrheit in keinem Falle Kriterium für die religiöse Gewißheit sein.53 Die Vernunft, die sich in den Sanktuarien der Offenbarung geltend machen will, überschreitet ihre legitimen Befugnisse und wird leicht zur Feindin des Christentums. Eine Grenzüberschreitung ähnlicher Gefährlichkeit liegt jedoch auch vor, wenn sich die Vernunft, gleichsam als Rückfall in die Scholastik, dazu anbietet, kirchliche Dogmen mit philosophischen Denkmitteln zu beweisen. Abzulehnen sind demnach z.B. die Beweise der Unsterblichkeit der Seele aus den göttlichen Attributen. Eine derartige Legitimationsbeschaffung für seine offenbarten Wahrheiten fügt dem Christentum schweren Schaden zu und bringt nicht den erhofften dauerhaften Erfolg über gegnerische philosophische Lehrmeinungen.54 Die alten Streitfragen der Theologen, in welchem Verhältnis Naturrecht und geoffenbartes (göttliches) Recht zueinander stehen, wie sich philosophische und christliche Tugend zueinander verhalten, wie Gebrauch und Mißbrauch des Gesetzes zu beurteilen sind, will Basedow für sich und seinen moralphilosophischen Unterricht so beantworten, daß generell der Vorrang von geoffenbartem Gesetz und Glauben anerkannt wird. Auf den Vorrang der Offenbarung ist die „Wahrheit“ der folgenden Lehrsätze zurückzuführen: (1) die Unsterblichkeit der Seele und der ewige Tugendlohn, die beide auf andere Weise – nämlich philosophisch! – nicht zureichend erwiesen werden können; (2) der Pflichtenkanon, der göttlicher Autorität und Sanktionierung bedarf; (3) die im Gebet erflehte Hilfe des Heiligen Geistes bei der menschlichen Tugendübung, die menschliche Fassungskraft übersteigt; (4) die Heilsgewähr Christi, die in der menschlichen Seele zu Liebe und Verehrung führt und Ansporn zu tugendhaftem Wandel ist.55 Nach diesen Zugeständnissen an die geoffenbarten Wahrheiten des Evangeliums, die zweifellos für Basedow auch dazu dienen, dem notorischen Häresieverdacht56 zuvorzukommen, dem er sich ausgesetzt sah, ist er darum bemüht, der Philosophie ihr Recht und eine gewisse, gleichsam sekundäre Eigenständigkeit zu sichern. Dies geschieht in der Weise, daß die philosophische Erkenntnis als ein durchaus gleichursprüngliches Gut und Gnadengeschenk des himmlischen Vaters bezeichnet wird und insofern den gleichen Status wie das Offenbarungswissen beanspruchen kann. Damit entfällt die Vorstellung, daß das Offenbarungswissen an Würde und Umfang gewinnt, wann immer die Vernunfterkenntnis Einbußen erleidet. Abgelehnt wird jedoch abermals der Anspruch einer säkularen Vernunftmoral, 53 54 55 56
Ebd., S. 20f. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 24f. Zu entsprechenden Auseinandersetzungen in Basedows Soraner Zeit, die schließlich zu seiner Versetzung nach Altona führten, vgl. Basedow, Armin, Johann Bernhard Basedow, (wie Anm. 18), S. 72ff.
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selbstmächtig zur Tugendübung zu qualifizieren und gar die ursprüngliche Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts zu leugnen. Natürlich hätte eine solche Moral keinen Anteil an der „sapientia divina“, auf die sie vielmehr mutwillig verzichtet. Eine derartige Lehrmeinung entspricht freilich ohnehin nicht dem wohlgegründeten Selbstverständnis „vernünftigen“ Philosophierens. Zumal ein Philosoph, der gläubiger Christ ist, „homo christianus divina gratia perfusus“, kann die Vorzüge des Glaubens mit denen der Vernunfterkenntnis kombinieren, indem er die Lehren der Philosophie, die mit dem Glauben vereinbar sind, in Handlungsakte konvertiert. Die zwanglose Koexistenz von Glaube und Philosophie wirkt sich im Felde der Moral so aus, daß die „virtus philosophica“ dem Vernunftgebrauch ohne göttliches Zeugnis entspringt und die moralische Qualifizierung einer Handlung vollzieht, wo die „virtus christiana“ im Vertrauen und in Liebe zu Christus die Neigung zur Sünde überwindet. Damit entfällt die gerade unter Theologen gerne geübte Verachtung für die „zweite“ Gottesgabe, das „lumen alterum“, die Vernunft.57 Basedows früheres umfangreiches Thesenpapier Versuch, wie fern die Philosophie zur Freygeisterey verfuehre?,58 von ihm als vorläufiger Entwurf zu einer geplanten größeren Abhandlung verstanden, ist einer ähnlichen Thematik wie die Antrittsrede über die Hauptfragen der Moralphilosophie gewidmet. Abermals geht es darum, die als lebens- und heilsbedeutsam empfundene Grenzlinie von Vernunfterkenntnis und Offenbarungswissen eindeutig zu markieren, um mißbräuchliche Übergriffe der Philosophie, deren sich die Freigeister (Deisten) als Werkzeug bedienen, abwehren zu können. Während es durchaus problematisch zu sein scheint, mit Hoffnung auf allgemeine Zustimmung eine „wahre Definition der Philosophie“ zu geben (§ 7) und damit zugleich den Begriff „Philosoph“ zu bestimmen, ist es für Basedow vergleichsweise leicht, die auszeichnenden Merkmale eines „Christen“ zu benennen: Wer der heiligen Schrift, so bald er ihren Wortverstand und die Absicht der Worte nach dem Zusam[m]enhange erkennet, zu glauben aufrichtig Willens ist, weil er sich ueberhaupt, zureichende Gruende dieses Glaubens zu haben, ueberredet; der ist ein Christ.59
Der Philosoph hingegen betätigt sich – dies zumindest ist unumstritten – als Wissenschaftler, arbeitet aber in Gegenstandsbereichen, auf die zugleich andere Disziplinen (Mathematik, „Historie der Natur“, Geschichte, „Gottesgelahrtheit“) ihre in 57 58
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Basedow, Oratio auspicalis, (wie Anm. 41), S. 28f. Basedow, Johann Bernhard, Versuch, wie fern die Philosophie zur Freygeisterey verfuehre? Copenhagen 1753. Anlaß für die Abfassung war ein entsprechender Auftrag des Grafen Moltke. Basedow beschränkte sich bewußt auf die neuzeitliche Philosophie, da ihm die Philosophie der Antike als „überholt“ galt und für die diskutierte Problematik in ihrer „heidnischen“ Qualität ohnehin uninteressant war (vgl. ebd., § 8). Freigeist: „Wer der heiligen Schrift deßwegen, weil er zwischen ihren Ausspruechen, und seiner anderswoher geholten vermeinten Erkenntniß, einen Widerspruch antrifft, und keine Beweise ihrer Goettlichkeit oder Wahrheit zu sehen vermeint, ich sage, wer der heiligen Schrift deßwegen seinen Beyfall versagt, und sie nicht fuer die Quelle der Wahrheit erkennen will, der ist ein Freygeist“ (vgl. ebd., § 12).
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den Rechtsansprüchen ungeklärten Zuständigkeiten geltend machen. Kenner der Philosophie könnten sich immerhin fragen, „ob sie nicht eigentlich eine Sammlung von Betrachtungen sey, wodurch man solche Wirkungen und Ursachen der Dinge aus gewissen Grundsaetzen, die von der Geschichte und Gottesgelahrtheit unterschieden sind, herzuleiten und zu beurtheilen suchet, aus deren Erkenntniß man einen allgemeinen Nutzen vermuthet“ (§ 8). Die eigentliche „Definition“ dieser Wissenschaft soll sich nicht in der Aufzählung ihrer Arbeitsgebiete erschöpfen. Vielmehr sind „gewisse Grundsaetze“, an denen sich „allgemeine Eigenschaften der philosophischen Denkungsart“ ablesen lassen, die ihrerseits die klare Abgrenzung von den Inhalten der „christlichen Religion“ ermöglichen, für diese Disziplin spezifisch und konstitutiv (§ 9). Methodisch werden bestimmte Denkmittel logischer und metaphysischer Art (Satz vom Widerspruch, Satz vom zureichenden Grunde, Aussagen über das Wesen der Dinge usw.) eingesetzt, um – sei es „selbstdenkend“ in vollendeter Originalität, sei es in eklektischer Manier – ein „zusammenhaengendes Lehrgebaeude von Betrachtungen“ aufzuführen. Der Systembildner, das heißt der Philosoph, bedient sich bei diesem Geschäft – so will es eine von Basedow abgelehnte und bekämpfte Mode der Zeit – der „demonstrativische[n] Denkungsart“, einer aus der Mathematik, also einer fachfremden Wissenschaft, entlehnten Methode des Beweis- und Schlußverfahrens (§ 17). Ohne daß Basedow im gegebenen Zusammenhange seiner Problemskizze sich die Mühe machte, im einzelnen eine Widerlegung zu versuchen, setzt er in Form einer suggestiven rhetorischen Frage an die Stelle prätentiöser „mathematischer Strenge“ die Behauptung, daß die „[...] Beweise der Wahrscheinlichkeit und der moralischen Gewißheit [...] die einzigen sind, die mit Gruendlichkeit fuer die Christliche Religion gebraucht werden koennen“ (§ 17). Auf diesem Wege läßt sich – u.a. werden Baumgarten und Crusius andeutend als Argumentationshelfer aufgeboten – nach seiner Auffassung der „Demonstrirsucht mit falschen Grundsaetzen“ (§ 18) am ehesten entgegenwirken. Die Philosophie, die ihren rechtverstandenen Part bei diesem Projekt der Religionsrechtfertigung zu spielen hat, soll nur darauf verzichten, mit kontraproduktiven Folgen zweifelhafte Philosopheme zu benutzen, die den „wahren“ Sätzen der Offenbarung eine „philosophische“ Aura verleihen, dann aber sogleich wieder dem prüfenden Räsonnement der Religionsverächter ausgesetzt und nicht gewachsen sind (§ 15f.). Basedows kritische Überlegungen, die sich u.a. ausführlicher mit dem Satz vom zureichenden Grunde und seiner Anwendung auf theologische Problemstellungen (§ 26ff.) sowie der Theodizee (§ 38ff.) beschäftigen, laufen letztlich darauf hinaus, das von der Philosophie in guter Absicht eingeleitete Unternehmen, „eine genaue Gleichheit der Offenbarung mit dem Grade der natuerlichen Erkenntniß und mit den Gruebeleyen der menschlichen Vernunft“ herzustellen (§ 46), aufzugeben, weil es den eigentlichen Kern der christlichen Religion (bzw. der Theologie), den Komplex unauflöslicher „Geheimnisse“, nicht zu erreichen vermag (§ 36f.). Die Offenbarung, von der es heißt, sie sei „einmahl da“, ist für den gläubigen Christen
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eben einfach „wahr“, und zwar aus Gründen, die sich mit den bekannten (und überhaupt nur denkbaren) philosophischen Mitteln nicht beweisen lassen; gleichwohl gilt sie Basedow in ihren Folgen als zweifellos segensreich („nuetzlich“) (§ 37). Ohnehin befriedigt der Glaubensinhalt der christlichen Religion das (angebliche) menschliche Grundbedürfnis, sich Gewißheit über ein Nachleben der Seele nach dem leiblichen Tode zu verschaffen (§ 48). Das Christentum, verstanden als Inbegriff der Moralphilosophie, repräsentiert die Teleologie menschlicher Existenz: Die Sittenlehre der Christlichen Religion kommt mit dem Besten des menschlichen Geschlechts so genau ueberein; sie giebt denen, die sich bessern wollen, so viel Trost und Hoffnung, denen aber, die in Lastern fortfahren, so viel Schrecken und Furcht, und endlich giebt sie zu den grossen Tugenden, die der Selbstliebe, in Betrachtung dieses gegenwaertigen Lebens zu widersprechen scheinen, so dringende Bewegungsgruende, daß nicht viele Freygeister sich an die selbe haben wagen koennen (§ 52 recte § 54).
Die sittigende, glücksfördernde Potenz des Christentums stabilisiert zudem das Gemeinschaftsleben und ist allen anderen Moralentwürfen, zumal auch denen der heidnischen Antike, ganz eindeutig überlegen (§ 53 recte § 55).
III. Wie gesagt: Die referierte Antrittsvorlesung am Altonaer Christianeum von 1761 liefert zur 1. Fassung der Practischen Philosophie (1758)60 gewissermaßen die dort fehlende Auseinandersetzung mit der moralphilosophischen Tradition nach. Die damals als prominent hervorgehobenen Philosophen sind durchweg Zeitgenossen, die allerdings in unterschiedlichem Grade Basedows Wertschätzung besaßen (z.B. Wolff, Hutcheson, Crusius, Gellert). Es handelt sich sozusagen in erster Linie um seinerzeit „aktuelle“ Autoren, die 20 Jahre später, in der 2., veränderten Ausgabe der Practischen Philosophie nicht wieder aufgezählt zu werden brauchten. Der gleichfalls in der Referenzliste der vorbildlichen Autoren geführte Montesquieu – assoziiert wird mit dieser Nennung gewiß das 1748 erstmals erschienene Werk De l'esprit des lois – ist im ganzen ohne Rezeptionsspuren geblieben, wenn man von einer doch eher beiläufigen Empfehlung („vortreffliche Anleitung“) für ein „philosophisches Lehrgebäude eines buergerlichen Rechts“ in den einschlägigen rechtsphilosophischen Partien bei Basedow absieht.61 Der Verdacht mag hier, wie 60
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Hinweise zur Zitierweise: Die 1. Auflage der Practische[n] Philosophie fuer alle Staende. Copenhagen u. Leipzig 1758 zitiere ich fortan in der Kurzform Pr. Phil.; die 2. Auflage (Practische Philosophie fuer alle Staende. Ein weltbuergerlich Buch ohne Anstoß fuer irgend eine Nation, Regierungsform und Kirchen. 2 Theile. Zweyte verbesserte Auflage. Dessau 1777) als „Pr. Phil. I bzw. II“, mit „2“ als Hochzahl (die beiden Teile der 2. Auflage weisen – im Unterschied zur 1. Aufl. – eine getrennte Paginierung auf). Basedow, Pr. Phil., (wie Anm. 60), S. 262.
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bei vielen der anderen nur namentlich angeführten Autoren auch (z.B. im Falle von Grotius und Pufendorf), naheliegen, der bekannte Name werde nur aufgerufen, weil beim interessierten Publikum eine Erwartungshaltung vorlag. Die als vorbildlich und repräsentativ genannten S. J. Baumgarten62 und Mosheim stehen in diesem Sinne beispielhaft für eine im 18. Jahrhundert noch stark vertretene Konkurrentin der praktischen Philosophie aus dem Fächerspektrum der Theologie, die sog. christliche Sittenlehre (theologische Moral), der sich Basedow in der für ihn ja typischen Basisproblematik des spannungsreichen Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung verpflichtet weiß. Hutchesons Sittenlehre der Vernunft, so lautet der Titel in der von Lessing gelieferten deutschen Übersetzung von 1756,63 gab Basedow überhaupt Veranlassung, sich zu Fragen der Moralphilosophie zu äußern – ursprünglich plante er nach eigener Angabe nur einen Kommentar zu diesem Werk, war aber bald der Ansicht, „[...]daß ich Neues genug haette, um ein eignes Buch zu machen, das mehr fuer die Welt, als für die Engellaender, eingerichtet waere“.64 Dieser ungeschrieben gebliebene Kommentar wäre gewiß, wie später noch gezeigt werden soll, nicht unkritisch ausgefallen. S. J. Baumgarten und Mosheim werden theologiegeschichtlich zu den repräsentativen Gestalten der sog. Übergangstheologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerechnet, jener Interimsphase zwischen Pietismus und eigentlicher Aufklärungstheologie (Neologie) in der zweiten Jahrhunderthälfte. Zu den Hauptwerken beider Autoren zählt jeweils eine theologische Moral mit gleichermaßen ausgezeichneter Reputation beim zeitgenössischen (Fach)Publikum. S. J. Baumgarten nimmt eine „Schlüsselposition unmittelbar an der Wende zur eigentlichen Aufklärungstheologie“65 ein und zählte Orthodoxe (z.B. Goeze, Wöllner) und Neologen sowie später bekannte Philosophen (z.B. seinen jüngeren Bruder Alexander Gottlieb, G. F. Meier, J. A. Eberhard) zu seinen zahlreichen Schülern. Unter dem deutlichen Einfluß von Wolff 66 zeigt sich – bei durchgehend bewahrter Rechtgläubigkeit – die Tendenz, die Einzellehren „vernünftig“ zu erweisen; insofern ist eine gegenüber der Orthodoxie „veränderte Geisteshaltung“ zu
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Von Basedow wird kein (unterscheidender) Vorname genannt. Ich unterstelle, daß nicht der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten, sondern der ältere Bruder, der Hallenser Theologe Siegmund Jacob B., gemeint ist, obwohl jener u.a. auch eine Ethica philosophica (1. Aufl. 1740, 21751) verfaßt hat, die an sich – von der Chronologie her – als Vorbild in Frage käme, was aber doch sehr unwahrscheinlich ist, da der überaus knappe Leitfaden nur für die Hörer von Baumgartens Vorlesungen gedacht war. Hutcheson, Francis, Sittenlehre der Vernunft. Aus d. Englischen uebersetzt. 2 Bde. Leipzig 1756. (Englisches Original: A System of Moral Philosophy [...]. 2 vol. London 1755; posthum). Basedow zitierte aus dieser Übersetzung, nicht aus dem englischen Original. Basedow, Pr. Phil., (wie Anm. 60), S. 5f. Schloemann, Martin, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 26), S. 19. Ebd., S. 66–79.
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beobachten.67 Gleichwohl wird die Welt als „Heilsordnung“ verstanden, in der die „Lebenspflichten“ der Christenmenschen „wesentlich“ auf Gott bezogen sind: „Die theologische Moral ist demnach die in der Schrift gegründete Lehre von Einrichtung des Verhaltens der Menschen zur Vereinigung mit Gott“.68 Die christliche Moral enthält Moralgebote, die höherwertig sind als Vernunfterkenntnisse; natürliche und geoffenbarte Wahrheiten konvergieren dennoch in harmonischer Verknüpfung.69 Handelndes Subjekt der theologischen Moral ist der „Christ“ (Adressat der philosophischen Moral ist der „Mensch“). Schriftauslegung und Dogmatik sind „methodisch“ vorrangig, die „Vernunft“, die in der philosophischen Moral gesetzgebend ist, dient hier nur subsidiär als hermeneutisches Instrument. Die in der Schrift gebotene Offenbarung ist als Verhaltensgrundlage gemäß der vorgeschriebenen Heilsordnung, die durch das von Christus erworbene Heil verbürgt ist, für den Christen absolut verpflichtend.70 Für den Christen gilt das Gebot, sich in lebenslangem Streben aus dem Sündenstand zu lösen und den Stand der Gnade zu erlangen (§ 67ff.). Die anthropologische Grundgegebenheit, seine „wesentliche Beschaffenheit“, ist für den Christen die Ausrichtung auf die „Vereinigung mit Gott“ (vgl. S. 670ff.): „Daraus [...] erhellet, daß in dem Unterricht vom rechtmaeßigen Verhalten der Christen billig von der Vereinigung mit Gott, als dem letzten und hoechsten Zweck aller Pflichten und Tugenden, gehandelt werden muesse“ (S. 674f.). Die christliche Weltsicht überbietet die Glückseligkeitslehren der Antike; „die Vereinigung mit Gott“ erscheint im Vergleich mit der platonischen Vorstellung von der Erhebung der Seele als „algemeinerer und hoeherer Endzweck“ (S. 672, Anm.). Trotz dieser genuin theologischen Momente des Gottesbegriffs und einer Dogmatik, die im Denkhorizont des Altprotestantismus verbleibt, ist mit der gleichzeitigen Anthropologisierung und einer im sonstigen Werk geleisteten „verdiesseitigenden Lösung des Gottesglaubens vom Wunderglauben“ Baumgartens Theologie in ihrem Ertrag durch eine deutliche „Intellektualisierung“ charakterisiert.71 Mosheim, von dem gesagt wurde, er stehe in der Tradition der Helmstedter Irenik,72 hat seine Moraltheologie, die ursprünglich in einem akademischen Kontext angesiedelt war, nachträglich dem Argumentationsstil der Moralischen Wochenschriften angepaßt und ganz entschieden auf ein Laienpublikum ausgerichtet.73 das 67 68 69 70 71 72 73
Ebd., S. 75. Baumgarten, Siegmund Jacob, Unterricht vom rechtmaeßigen Verhalten eines Christen, oder Theologische Moral, zum academischen Vortrag ausgefertiget. Halle 31744, S. 2. Vgl. ebd., S. 5f. Vgl. ebd., S. 82. Schloemann, Baumgarten, (wie Anm. 65), S. 204. Ebd., S. 16f. Vollhardt, Friedrich, Christliche Moral und civiles Ethos. Mosheims ‚Sittenlehre der Heiligen Schrift‘, in: Mulsow, Martin (Hg.), Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Wiesbaden 1997. (Wolfenbütteler Forschungen 77), S. 347–372, hier S. 348f.); zur Bandaufteilung und Verfasserschaft vgl. ebd., Anm. 7. Mosheim, Johann Lorenz von, Sittenlehre der Heiligen Schrift, meine Zitate entstam-
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eine allgemeinverständliche theologische Antwort auf die als „bedrohlich empfundenen Moralsysteme der französischen Aufklärung“ erhalten sollte.74 Absichtsvoll wird daher der Versuchung einer metaphysischen Grundlegung mit logizistischer Nachkonstruktion der göttlichen Schöpfung widerstanden; dem Vortrag „aechter“ Wahrheiten soll der Vorzug gegeben werden. Diese sind biblisch offenbart und lassen sich als „Sammlung“, die „schrift= und vernunftmaeßig“ anzulegen ist, als gedeutetes Konstrukt zur Sittenlehre formieren (S. 4f.). Da die Quelle dieser Sittenlehre die Hl. Schrift ist, bezieht jene ihren „Hauptgrund“ aus den Propheten und Aposteln (S. 6). In einem plastischen Bild werden die Differenzen zur philosophischen Moral aufgezeigt: „Die Glaubenslehren sind bey der Sittenlehre eben das, was das Gewicht an einer Uhr ist“ (S. 7). Mag auch der getrennte Lehrvortrag von Glaubens- und Sittenlehren, die ursprünglich eine Lehreinheit bildeten, durchaus legitim sein, die bewußte Säkularisierung der Sittenlehre gilt als illegitim (S. 7–9). Die „geistliche Sittenlehre“ ist Gesetz des Herrn; die Vernunft hat als „gesunde Vernunft“ die Funktion eines Organs zur Interpretation und Applikation von Glaubensanweisungen. Trotz dieser überaus starken Akzentuierung des Glaubens- bzw. Offenbarungspols wird abermals eine vorgegebene Harmonie von Glaube (Offenbarung) und Vernunft unterstellt (S. 9ff.). Die Unterschiede einer „Sittenlehre der Schrift“ und einer solchen der „Vernunft“ sind prinzipiell vorgegeben: Offenbarung vs. „gesunde Vernunft“. Die Beweisverfahren sind in der Hl. Schrift für Mosheim kurz, klar und unumstößlich, in Vernunftethiken hingegen kontrovers und umständlich. Die Sittenlehre der Hl. Schrift setzt sich das zusätzliche Ziel, mit der Bildung des Herzens die „Heiligung“ als Abkehr von der Sündhaftigkeit einzuleiten. Die theologische Moral kennt zwei „Hauptstücke“: (1) die „inwendige“ Heiligkeit der Seele (erreichbar in der Nachfolge Christi und dem Übergang in die Gemeinschaft mit Gott); (2) die Heiligkeit des (äußerlichen) Wandels im Vollzug der Tugendgebote (vgl. S. 51ff.). Die Wahrheitssuche mit Hilfe der „gesunden Vernunft“ wird, besonders in geistlicher Hinsicht, allemal mit konstitutiven Defiziten behaftet sein (vgl. S. 82ff.). Trotz des Einsatzes „belletristischer Formen“ ist das bändereiche Werk, das keinerlei Systematik aufweist, zweifellos von „ermüdender Weitschweifigkeit“.75 Mosheim und Baumgarten, die gefeierten Vertreter ihrer Disziplin,76 repräsentieren schon im theologischen Ansatz ihrer Werke den (potenziellen) Widerpart einer philosophisch konzipierten Moral. Insbesondere Mosheim vertritt mit der Annahme, „daß nur durch eine uebernatuerliche Gnade das Herz des Menschen
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men Teil 1 in der 5., verm. u. verb. Aufl. Leipzig 1773, [11735); Mosheims Intention: Vorrede zu T. 1, S. 14f. Ebd., S. 347. Ebd., S. 351; vgl. die Inhaltsübersicht (in Anlehnung an den Fortsetzer Miller), S. 353. Vgl. dazuStäudlin, Carl Friedrich, Geschichte der christlichen Moral, in: Geschichte der Kuenste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 11. Abtheilung (Theologie). Goettingen 1808, S. 747ff.
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geheiligt werden koenne“,77 einen entschieden supranaturalistischen Standpunkt. In ihren Argumentationen betonen beide Autoren unter Berücksichtigung der traditionell vorgegebenen Bipolarität des moralischen Diskurses naturgemäß den Offenbarungspol. Für Baumgarten, den von Wolff nicht nur im Argumentationsstil beeinflußten „Systematiker“,78 ist der konstitutive Vernunftanteil an der Begründung moralischer Akte allerdings höher zu veranschlagen. Immerhin ist beiden die Annahme gemeinsam, daß Vernunft und Offenbarung letztlich in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen (oder gedacht werden können). Ebendiese Unterstellung teilte Basedow durchaus; zudem mußte ihm, der ja schon in seinen Soraner Jahren in allerlei theologische Querelen verwickelt war, gleichwohl aber Ambitionen auf eine theologische Lehrtätigkeit hegte, daran gelegen sein, sich durch entsprechende literarische Referenzen als „rechtgläubig“ im Sinne der allgemein akzeptierten Lehrtradition zu erweisen. Das geschah am besten dadurch, daß man – zumindest dem Anscheine nach – den Primat der ehrwürdigen theologischen Moral, die einstweilen noch nicht in den auflösenden Sog der (reformierten) Philosophie geraten war und gegenüber der zunehmend tonangebenden Philosophie vorerst noch nicht unter Rechtfertigungsdruck stand,79 vollauf anerkannte. Damit befand sich Basedow also in einem spannungsfreien Einklang mit der theologischen Lehrtradition des Protestantismus. Ganz anderer Provenienz ist das Werk Les Mœurs (1748 u.ö.) des französischen Autors François Vincent Toussaint (1715–1772), das als typisches Produkt der französischen Aufklärungsphilosophie aus dem Umkreis der „philosophes“80 gelten kann, zeitgleich mit La Mettries L’homme machine und Montesquieus De l’esprit des lois sowie in zeitlicher Nachbarschaft zu Diderots Pensées philosophiques (1746) – Werke, denen es an zeitgenössischer Prominenz gleichkam und rezeptionsgeschichtlich vorerst verbunden blieb. Wegen seines spektakulären sofortigen Verbots im Herkunftsland – „condamné au feu“ auf Beschluß des Pariser Parlaments – erwarb es das unvermeidliche Renommee, skandalträchtig zu sein, was seiner internationalen Verbreitung natürlich nicht abträglich war. Der Verfasser wurde freilich ins Exil getrieben und landete nach einer Zwischenstation in Brüssel in Berlin, wo er ab 1764 Professor für Rhetorik und Logik an der „Académie des Nobles“ Friedrichs II. war. Als Schriftsteller war er später nicht mehr erfolgreich; er trat u.a. mit der Übersetzung einer Werkauswahl Gellerts ins Fran-
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Ebd., S.750. Ebd., S. 754. Vgl. ebd., S. 733, (eine zutreffende Beobachtung und Verlaufsanalyse). Ein bissiger Kommentar von Basedow bezieht sich offenbar auf diese: „Es ist ein sonderbarer Mißbrauch des Worts [Philosoph, K. B.], wenn sich Atheisten, Scepticker und die Naturalisten zum Unterschied von den Christen, die oftmals im hoehern Grade philosophische Genies, und in der Philosophie weit geuebter sind, sich selbst und ihre Nachahmer mit diesem Namen beehren.“ Vgl. ders., Theoretisches System der gesunden Vernunft, ein akademisches Lehrbuch. Altona 1765, S. 46f.
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zösische hervor.81 Die Resonanz seines Erstlings aber erwies sich als phänomenal: Der „philosophische“ Bestseller der Jahrhundertmitte wurde zudem zum Longseller der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und überstrahlte zeitweise durchaus den Ruhm der heute literatur- und philosophiegeschichtlich beglaubigten Größen seiner Zeit (z.B. Diderot).82 In der deutschen Rezeption seit der Jahrhundertmitte wurde Toussaints Werk, insbesondere in der unter dem Titel Die Sitten mehrfach aufgelegten deutschen Übersetzung, gleichfalls als brandaktuell empfunden und anfangs ziemlich kontrovers diskutiert. Der Autor wurde zunächst zusammen mit Diderot, dessen juristischer Mitarbeiter an der Encyclopédie er für die ersten beiden Bände war, und La Mettrie als „Materialist“ stigmatisiert.83 Obwohl sich diese Einschätzung der Wissenschaftspublizistik im Falle Toussaints sehr bald nach ruhiger Überprüfung als unbegründet erwies und sich Toussaints Kritik an den „katholischen“ französischen Zuständen in Staat, Kirche und Gesellschaft (politische Korruption, „Klerisei“, Hof – immer ohne Namensnennung, aber deutlich genug) einigermaßen problemlos in das zeitgenössische Selbstbewußtsein des protestantischen Deutschland einfügen ließ, war der Umstand, daß Basedow gerade diesen Autor und dieses Werk mit seiner offen bekundeten Wertschätzung auszeichnete, ungewöhnlich und durchaus nicht unproblematisch. Das zeigt noch der späte Nachhall einer Bewertung dieses Sachverhalts in der Literaturübersicht von Gellerts Moralischen Vorlesungen,84 in der Basedows Practische Philosophie in der damals allein vorliegenden 1. Fassung neben einem sanften Tadel insgesamt Lob zuteil wurde. Zitiert
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Gellert, Christian Fürchtegott, Extrait des œuvres [...] contenant ses apologues, ses fables et ses histoires [...]. 2 vol. Züllichau 1768. Vgl. dazu Adams, Margaret Elinor, F. V. Toussaint. Life and Works. Boston University Graduate School, Ph. D. 1966, DA 66–11, 294. Adams nennt 32 französische Ausgaben sowie 7 englische und 5 deutsche Übersetzungen (dt. Ausgaben ohne Autopsie; Rezeptionsgeschichte: S. 175–227; Hauptwerk (Les Mœurs): S. 100–174). Vgl. dazu Mass, Edgar, Französische Materialisten und deutsche „Freygeisterei“ (1746–1753), in: Schneiders, Werner (Hg.), La mission des Lumières. Akzeptanzprobleme und Kommunikationsdefizite [...] Marburg 1993, (Das 18. Jahrhundert. Supplementa Bd. 1), S. 129–156, bes. S. 131ff. – In der Vorrede zur dt. Übersetzung von Les Mœurs werden einige dt. Rezensionen genannt, darunter auch eine von S. J. Baumgarten. Ich zitiere nach folgender Ausgabe: Gellert, Christian Fürchtegott, Moralische Vorlesungen; Moralische Charaktere, in: ders., Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Sibylle Späth, Bd. VI. Berlin / New York 1992, 10. Vorlesung, S. 119 (die Moralischen Vorlesungen erschienen erstmals 1769 im Druck); vgl. hingegen die frühe, überaus positive (empfehlende) Notiz bei Stockhausen, Johann Christoph, Critischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek fuer den Liebhaber der Philosophie und schoenen Wissenschaften. 2., verb. u. verm. Aufl. Berlin 1758, hier S. 36: „Die Sitten des Herrn Toussaint muessen jedem, der Tugend und Geschmack liebt, als ein Originalbuch angenehm seyn.“ Besonders empfohlen werden im übrigen: die Philosophische Sittenlehre von Darjes, die Sittenlehre der Vernunft von Hutcheson und Meiers Sittenlehre.
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wurde von Basedow, und zwar aus der deutschen Übersetzung, insbesondere aus dem Komplex „Gesellschaftstugenden“, also aus dem 3. Teil der Sitten.85 Diese prononcierte Zitierhäufigkeit, und zwar in beiden Auflagen der Practischen Philosophie, ist schon deshalb auffällig, weil Basedow damit gegen eine eigene programmatische Regel verstößt, nicht im Stile der „Schule“ andere Autoren zu traktieren – eine Übung, die er sonst fast durchweg befolgt. So aber stellt sich die Merkwürdigkeit ein, daß Toussaint im Grunde der einzig zitierte, ja geradezu „geplünderte“ Autor ist. Natürlich liegt sogleich die Frage nahe, warum das geschah. Eine Antwort ist schnell gefunden: Die Sitten Toussaints, die nicht eigentlich ein „Sittensystem“86 präsentieren, sondern in einer Abfolge von Porträtskizzen moralische „Charaktere“ schildern, waren für Basedow vorbildlich und boten sich für das literarisch-rhetorische Bedürfnis an, die eigene Darstellung in bewußter Abkehr von den Gepflogenheiten der „Schule“ durch stilistische Anleihen, die übrigens fast durchweg als Zitate kenntlich sind, publikumswirksam aufzulockern. Toussaints Werk weist in formaler Hinsicht in der gleichsam international zeitüblichen Triade seiner Pflichtenlehre mit den Referenzen Gott, Selbst und Mitmenschen (Gesellschaft) eine konventionelle Dreigliederung auf. Der Autor ist in seiner theoretischen Qualität eigentlich ganz unergiebig und bei unaufgeregter Betrachtung als moderater Freigeist (Deist) zu bezeichnen.87 Die unprätentiöse Absicht des Werks, wie sie sich aus dem „Avertissement“ ergibt, artikuliert den Verzicht auf eine Offenbarungsreligion – jedenfalls für die eigene Argumentation: „[...] la religion naturelle suffit“. Für diese Religion wird sogleich universelle Geltung in Anspruch genommen: „Je veux qu’un Mahométan puisse me lire aussi-bien qu’un Chrétien: j’écris pour les quatre parties du monde“.88 Eine „strafbare Verachtung der Offenbarung“ lag damit, so sah es jedenfalls der ungenannte Herausgeber-Übersetzer der deutschen Ausgabe (S. XI, Vorrede), nicht vor; Toussaint selbst war, wie er es bereits durch den Titel dokumentierte, nicht daran interessiert, 85 86 87
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Toussaint, François Vincent, Die Sitten, Aus dem Franzoesischen uebersetzt. Frankfurt u. Leipzig 1773, hier 3. Teil, S. 220–320. Ebd., S. XIV (Vorrede des Herausgeber-Übersetzers). In der Einschätzung folge ich Mass, Materialisten, (wie Anm. 83); die Ansicht von Barling, T. J., Toussaint’s ,Les Mœurs‘, in: French Studies 12 (1958), S. 14–20, Toussaints Werk repräsentiere „a notable landmark in the development of French Deism“ (ebd., S. 14), wird von Adams (wie Anm. 81) im ganzen angemessen relativiert. Allerdings leidet die Darstellung unter einem irrigen (rigiden) Verständnis von „Deismus“ (in Abgrenzung zum „Theismus“), vgl. ebd., S. 120ff. u. S. 282ff.). Zutreffend wird festgestellt, daß keine grundsätzliche Scheidung von Ethik und Religion vorliegt. Anlaß zum spektakulären Verbot gaben – neben „häretischen“ Überzeugungen (Leugnung der ewigen Höllenstrafen; Gott kein Rachegott) – eine dezidierte Sozialkritik (Ehe, Familie, Erziehung, Elitenschelte) sowie die Proklamation einer „religion naturelle“. Religiöse Toleranz wird entschieden propagiert. All dies findet sich im übrigen – in dieser oder jener Form – auch bei Basedow. Adams wertet Toussaints Werk als „one of the foundation pieces of the Enlightenment“ (S. 286). Zit. nach : Toussaint, François Vincent, Les Mœurs. Amsterdam 1763 (unter Beibehaltung der Orthographie).
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durch prekäre theologische Bezüge einen Platz auf dem Index zu erlangen. Die neutrale Titelwahl erfolgte, „parce que j’y peints celles [les mœurs, K. B.] qu’on a & celles qu’on devroit avoir“ (ebd.). Die gebotenen Schilderungen sollten gleichsam objektivierende Abbilder der „Natur“ sein, keine Idealisierungen – lakonische Darstellungen ohne Kommentar (S. XIIf.). Die auf diese Weise eher additiv als systematisch gewonnene Tugendethik basiert auf reflektierter Verhaltenssteuerung im Tugendvollzug. Vernunft („raison“) diktiert die Nachhaltigkeit dieser Einstellung („la fidélité constante“) als Bereitschaft zur Erfüllung gottgesetzter Pflichten; Vernunft ist das Organ, das die göttlichen Befehle empfängt – „[...]une portion de la sagesse Divine, dont le Créateur a orné nos ames, pour nous éclairer nos devoirs“ (Discours préliminaire, S. 9). Tugenden als Vollzug der nahezu allen Glaubensgemeinschaften – und damit für nahezu alle Menschen – gemeinsamen, universellen Dispositionen („loix innées, loix communes de tous les hommes“, S. 15f.) entspringen einer normativen Naturvorgabe („loi naturelle“), die sozusagen als ursprünglicher als alle Religionen, die als Offenbarungsreligionen erst historisch später aufgetreten sind, zu gelten hat. Die Mißachtung dieses Sachverhalts führt zu Fehlformen des Glaubens (Devotismus, Superstition). Trotz dieses dem Anscheine nach konstruktiven Ansatzes dominieren tatsächlich „Empfindungen“, vor allem solche der „Liebe“, die Tugendszene, zumal in der Schlußpassage des „Discours préliminaire“: „Aimer Dieu, vous aimer vous-mêmes, aimer vos semblables, voilà toutes vos obligations. Du premier de ces trois amours, naît la piété: du second, la sagesse; le troisième engendre toutes les vertus sociales“ (S. 22). Zurecht wurde Toussaint daher als Vertreter eines „déisme sentimental“ etikettiert.89 Es kann vermutet werden, daß Basedow – zumindest partiell – die Auffassungen Toussaints schon in seiner Soraner Zeit, also in der Zeit der Abfassung der ersten Version seiner Practischen Philosophie, geteilt hat. Jedenfalls hätte er sich dann aus Opportunitätsgründen dazu verstanden, das doch offenkundig deistische Fundament dieser Tugendethik zu verleugnen. Der letzte Absatz der Practischen Philosophie akzentuiert mit der christlich verstandenen Harmonie von Vernunft und Offenbarung zumindest ganz entschieden den Eindruck, die gesamte zuvor dargebotene Moralphilosophie sei offenbarungskonform und damit „christlich“ (S. 1033f.; „schoenste Uebereinstimmung zwischen Schrift und Vernunft“: „Von den Erkenntnißmitteln der Tugend und Klugheit“, S. 13). Erst die zweite Auflage der Practischen Philosophie operiert 20 Jahre später ganz ungedeckt. Der Untertitel lautet jetzt bezeichnenderweise „Ein weltbuergerlich Buch ohne Anstoß für irgendeine Nation, Regierungsform und Kirche“; an anderer Stelle wird das Werk zudem als ein solches deklariert, „welches so eingerichtet ist, daß es ohne Anstoß auch von Israeliten, Mahomedanern und Naturalisten gelesen werden koenne“ (II2, 89
Barling, Toussaint, (wie Anm. 87), S. 14, Wiedergabe eines Zitats aus einer französischen Übersetzung eines Diderot-Werkes von Venturi.
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S. 96).90 Dazwischen lag freilich die breite Phase der Weiterentwicklung seiner religionsphilosophischen Ansichten, die unbeschadet der parallel bzw. supplementär fortbestehenden analogen Geltungsansprüche des Christentums ohne Rücksicht auf lästige Opportunitäten mit der Gegebenheit eines originär gleichermaßen validen „natürlichen“, vernunftautonomen Moralzuganges zu rechnen bereit war. Gellert, der in der Practischen Philosophie einschmeichelnd von Basedow als der legitime Baumeister eines „Lehrgebaeude[s] dieser Wissenschaft“ apostrophiert wird (S. 15), wodurch zugleich dessen Vorbildrolle für das eigene Werk anerkannt wird, ist für Jahrzehnte an seiner lebenslangen Wirkstätte, der Universität Leipzig, durch seine in eine breitere Öffentlichkeit ausstrahlende Vorlesungstätigkeit eine gefeierte Autorität dieser Disziplin gewesen.91 Seine erst posthum (1770) vollständig unter dem Titel Moralische Vorlesungen veröffentlichten Lehrvorträge sind aus dieser hervorgegangen (bei ständiger Veränderung und Erweiterung im Laufe von 25 Jahren). Wie schon erwähnt, wird Basedow in den Lektüreempfehlungen der 10. Vorlesung für die 1. Fassung seiner Practischen Philosophie mit Lob bedacht und für die „anstoeßige Philalethie“ getadelt (S. 119f.). Anerkennung findet insbesondere sein Stil („populaerer Vortrag“), der als „leicht“ und „gruendlich“ zugleich geschildert wird. Durchaus in Basedows Sinn dürfte die attestierte „Gemeinnützigkeit“ gewesen sein, entsprach diese doch gerade dem proklamierten Selbstverständnis des eigenen Philosophierens. Merkwürdig ist hingegen das nahegelegte Ansinnen, eine bessere Anordnung des Lehrstoffes im Blick auf ein „System“ als wünschenswert erscheinen zu lassen. Damit läßt er bei Basedow, der nun erklärtermaßen auch ein „Lehrbuch“ liefern wollte, als Desiderat erscheinen, was in seinen eigenen Moralischen Vorlesungen offenkundig ein auffälliges Defizit ist. Andererseits lobte Gellert brieflich gelegentlich an Basedows Werk, daß dieses einen Gleichklang von „Verstand“ und „Herz“ herstelle92 und damit deren unaufgelöste Opposition glücklich meide.93 Die zustimmend als Anreger genannten Autoren (z.B. Mosheim, Baumgarten, Crusius, Hutcheson) sind im übrigen eben jene, die auch Basedow entsprechend auszeichnete. Auch Gellerts Moralische Vorlesungen arbeiten zu illustrativen Zwecken mit „Beyspiele[n] und Gemälde[n]“, die mit Repräsentanten menschlicher Werthaltungen (meist mit 90 91
92 93
Eine ähnliche Stelle findet sich auch in: J. B. Basedows Elementarwerk, kritische Bearbeitung in drei Bänden, hg. v. Theodor Fritzsch. 3 Bde. Leipzig 1909, hier Bd. 1., S. 443f. (4. Buch). Gellert, Schriften, (wie Anm. 84), Bd. VI, S. 313f. (Kommentar); vgl. auch Höhler, Else, Gellerts Moralische Vorlesungen. Diss. Phil. Heidelberg 1917/21; über den publizistischen Erfolg neuerdings Arto-Haumacher, Rafael, Ein erster Bestsellererfolg der Verlagsgeschichte. Gellert, Reich und die Weidmannsche Buchhandlung, in: Aus dem Antiquariat (2001), 2, A 64–73 (=Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 17 vom 27.2.2001); interessant die Bemerkung: „[...] und ich wage die Behauptung, die ,Moralischen Vorlesungen‘ von Gellert waren mit das meist gedruckte Buch des 18. Jahrhunderts“ (A 70); allein in den 80er Jahren wurden etwa 35 000 Exemplare verkauft – insgesamt (vielleicht) an die 100 000! Gellert, Christian Fürchtegott, Briefwechsel, hg. v. John F. Reynolds, Berlin 1987, hier Bd. 2 (1756–1759), S. 225, (Brief Nr. 465 vom 26.2.1759). Gellert, Schriften, (wie Anm. 84), S. 7–9: „Vorerinnerung“.
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gräkisierenden sprechenden Namen versehen) ausgestattet sind.94 verfolgten also ein ähnliches Stilideal wie Basedow. Insgesamt ist die Annäherung an das Genre „theologische Moral“ – und damit ist eine entscheidende Differenz zu Basedow bereits in dieser frühen Phase seiner geistigen Entwicklung zu beobachten – als Grundtendenz ganz unverkennbar, wenngleich auch der Gegenstand der Vorlesungen eigentlich „nur die Pflichten der Vernunft“, die allerdings eben „Christen“ vorgetragen werden, sein soll (vgl. S. 56). Zwar wird durchaus konstatiert, die „Quelle der natuerlichen Sittenlehre“ sei die „Vernunft und das moralische Gefuehl des Guten und Boesen“, begrifflich zusammengefaßt als „gesunde Vernunft“ (also ein begriffliches Konstrukt, das auch Basedow gerne verwendete) (S. 49); entscheidend ist jedoch das Wertgefälle von Vernunft und Offenbarung: Die „christliche Sittenlehre“ entstammt einer „hoehere[n] Quelle“, nämlich der göttlichen Offenbarung und ist unmittelbar verpflichtend (vgl. S. 50). Der theologischen Moral ist wegen dieser Abkunft, die freilich zu ihrer Identifizierung gleichfalls des Einsatzes der Vernunft bedarf, ein „unendliche[r] Vorzug“ eigen (vgl. S. 53). Die Pflichten erscheinen insgesamt als Stufenbau: Die Pflichten gegenüber Gott genießen absolute Vorrangigkeit; „Begriffe eines allerhoechsten und heiligen Wesens“ sind die Quelle aller Pflichten (vgl. S. 273). Zeitgenössische Rezensenten95 haben wiederholt zutreffend festgestellt, Gellert habe kein „System“, die Intention seiner Vorlesungen sei eher erbaulich-paränetisch; ausgesprochen kritisch eingestellte Zeitgenossen (z.B. Mauvillon u. Unzer; vgl. S. 363ff.) störte schon der „sanft=pathetisch[e]“ Duktus des Lehrvortrags sowie die schwankende Begrifflichkeit und „lächerliche Menge von beweislosen Postulaten“ (S. 367): Denn die populäre Philosophie, wie man sie nennt, ist nichts mehr als eine besondre Einkleidung der Philosophie, und sie muß unter dieser Einkleidung eben die Gründlichkeit haben, als in jener scientifischen Gestalt, welche von tausend gemachten Kunstwörtern strotzt [...] (ebd.).
Basedow kann zum Zeitpunkt der Publikation der 1. Fassung seiner Practischen Philosophie naturgemäß Gellerts Moralphilosophie in der später gedruckten Version nicht gekannt haben. Wohl aber ist es immerhin möglich, daß er bereits als Leipziger Student in Gellerts Anfangsjahren als Universitätsdozent zu dessen Hörern zählte.96 Im übrigen ist bekannt, daß er sich intensiv darum bemühte, einen Briefwechsel mit Gellert zu initiieren, und zwar unter Berufung auf sein Kopenhagener „Netzwerk“ (Klopstock, Cramer).97 Unmittelbare Absicht war dabei offenkundig, eine positive Rezension der Practischen Philosophie in Leipzig zu „bestellen“, wenn möglich aus Gellerts eigener Feder (was freilich mißlang – nur ein 94 95 96 97
Ebd., S. 286–309 (Anhang: „Moralische Charaktere“). Ebd., S. 318ff. (Dokumentation). Gellert, Briefwechsel, (wie Anm. 92), S. 397 (Kommentar). Ebd., S. 156f. u. 180f. (Brief Nr. 399 vom 10.3.1758 (Soroe) bzw. Brief Nr. 424 vom 8.7.1758).
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„Vertrauter“ schrieb schließlich die gewünschte Besprechung).98 Die kritische Erörterung seiner Absichten hat Basedows Wünschen im ganzen sicher entsprochen. Der zustimmend herausgestrichene Eklektizismus seiner Stoffdarbietung („neue Betrachtungen und sorgfaeltige Anmerkungen, die mehr als verschiedene ganze Buecher unterrichten“) korrespondierte tatsächlich eigenen Intentionen. Die im Kontext ausdrücklich hergestellte Referenz zu Ernestis Initia als vorbildlicher lateinischer Zusammenfassung des philosophischen Lehrstoffes nahm zudem eine geistige Nachbarschaft vorweg, die Basedow erst in der Philalethie für sich selbst in ihrer angestrebten Vorbildlichkeit entdecken sollte. Das „populäre“, gemeinverständliche sprachliche Gewand fand uneingeschränkte Zustimmung: „Herr Basedow [...] hat die Lehrart und Sprache der Philosophie, der Lehrart und Sprache in den andern menschlichen Geschaeften aehnlich gemacht, und dennoch den Vorzug der philosophischen Erkenntniß vor der gemeinen nicht aufgehoben“ (S. 314f.).
IV. Der knappe Vorbericht der Erstauflage seiner Practischen Philosophie setzt mit der selbstbewußten Feststellung ein, das eigene Werk, „worinnen die Pflichten aller Staende, so viel als moeglich, besonders bestimmt sind“, könne seinen Platz neben den „bekannten philosophischen Buecher[n] von dem Rechte und der Sittenlehre der Natur“ beanspruchen. Reklamiert wird damit nicht (nur) eine bisher etwa noch freie Nische im Theoriengebäude der praktischen Philosophie, eingefordert wird vielmehr die ranggleiche Ebenbürtigkeit mit der verfügbaren theoretischen Spitzenproduktion. Die auf Verständlichkeit bedachte Art der Darstellung läßt sich im Vergleich mit dieser als besonderer Vorzug anpreisen. Zudem überschreitet das Werk mit den Hauptstücken 13–15 (in der 1. Ausgabe), in denen Sätze aus Metaphysik, Logik, natürlicher Theologie und Psychologie traktiert werden, den eigentlichen Stoffkreis der praktischen Philosophie, so daß beinahe, fehlten nicht ganz Ausführungen zur Mathematik und Physik und würde nicht das, was an Logik und Metaphysik geboten wird, von Basedow selbst als zu wenig explizit empfunden, ein Kompendium aller philosophischen Disziplinen vorliegt. Gerade in diesen Teilen, wie auch in der kurzgefaßten „Politik“ (= 12. Hauptstück: Auszug aus der philosophischen Staatslehre), wird neben der sonst auch leicht verdaulich präsentierten Gedankenkost obendrein abstrakt und nach „neuer“ Art argumentiert. Indirekt wird schon in der Vorrede – ohne direkte Namensnennung – kräftig gegen Wolff polemisiert: „Die scientifische oder demonstrative aeußerliche Gestalt der Lehrart ist mit Fleiß gemieden“; im Umkehrschluß gilt: „Ich halte es für eben so unanstaendig, den moralischen Saetzen die Maske der geometrischen Allgemein98
Vgl. Anonymus, „Copenhagen“, in: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Nr. 35 vom 1.5.1758, S. 313–316.
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heit und Gewißheit zu geben, als wenn man sich bemuehen wollte, die Geometrie in die Schreibart eines Toussaints oder Montesquious einzukleiden“. Durchaus im Sinne der Popularphilosophie ist die vielberufene „Gemeinnützigkeit“ schon durch die Themenwahl so sicherzustellen, daß die abgehandelten Gegenstände auf ein allgemeines Interesse stoßen und derart dargestellt werden, daß ein breites Verständnis erzielt werden kann (vgl. Pr. Phil., S. 20f.). Basedow und seinesgleichen schreiben für die eigentlichen Fachgenossen und zugleich für diejenigen, welche eben so wohl Liebhaber und Kenner einer natuerlichen und angenehmen Schreibart, als des gruendlichen Denkens sind. Und unsere Zeiten haben das Glueck, daß so wohl die meisten Gelehrten, als die Staatsleute, der Adel, der Kaufmann oder gesittete Buerger, und das andere Geschlecht unter diesen Kennern und Liebhabern sind [...] (Pr. Phil., S. 4).
Eine derartige Philosophie ist an ein breites Publikum in mittlerer Niveaulage adressiert, der akademische Elfenbeinturm wird bewußt verlassen. Die Spitze gegen das Wissenschaftsideal von Wolff, wie es etwa im Discursus praeliminaris de philosophia in genere (erstmals 1728)99 proklamiert worden war, ist unverkennbar und gewollt. Rhetorisch-stilistischer Aufputz gehörte für Wolff gerade nicht zu den Erfordernissen einer nüchternen, „wissenschaftlichen“ Darstellungsweise „in philosophicis“ (vgl. § 149). Wolffs Klassifikation der Erkenntnisarten bzw. -stufen (cognitio historica, mathematica, philosophica) (Kap. 1, §2ff.), also eines seiner prominentesten Lehrstücke, das allerdings selbst von den treuen Anhängern mit einer gewissen Reserve aufgenommen wurde,100 findet sich bei Basedow erwartungsgemäß gleichfalls nicht. Ansprüche auf besondere methodische Exaktheit (Beweisführung im Stile des mos geometricus), universelle Reichweite (Möglichkeitswissenschaft) und Fundamentalwissenschaft (Letztbegründung) werden ebenfalls nicht erhoben. Die Philosophie soll nicht zum achtungsgebietenden Popanz werden, vor dem das Publikum ehrfurchtsvoll erstarrt. Die eigene Philosophie enthält für Basedow keine „unnuetzen Grillen“, keine „langen Demonstrationen sonnenklarer Wahrheiten“ und keine „rostige[n] Ketten solcher Vernunftschluesse oder Syllogismen, die dem Verstande nichts helfen[,] ihn nur druecken“ (Pr. Ph., S. 15). Sie formiert sich nicht zum geschlossenen System, sondern ist bescheiden nur „eine Sammlung aller gemeinnuetzigen und zugleich etwas schweren Vernunftwahrheiten“ (S. 16). Basedow versteht die Philosophie emphatisch als „Wirklichkeitswissenschaft“ – Erkenntnis für Menschen nach Maßgabe des Menschenmöglichen und entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse in 99
Wolff, Christian, Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe. Übers., eingel. u. hg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. (FDMA. Abt. I (Texte), hier Bd. 1. 100 Vgl. dazu Schneiders, Werner, Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Aufklärung, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S. 58–92, hier: S. 72; ders., Hoffnung, (wie Anm. 36), S. 28ff.
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der Lebenswelt. Daher wird stets adressatenspezifisch argumentiert (z.B. Philalethie, Bd. 2, S. 380) und die Stoffdarbietung auf das jeweilige Publikum seiner Lehr- und Ratgeberschriften ausgerichtet. Demgemäß ist die theoretische Philosophie (Philalethie, Theoretisches System der gesunden Vernunft) zumindest in weiten Teilen eher für (angehende) Akademiker („Gelehrte“), Gymnasiasten der oberen Klassen und Studenten, gedacht, wohingegen die Practische Philosophie für alle Stände bei allenfalls vorausgesetzter Bereitschaft zur sorgfältigen Lektüre nahezu für jedermann zum Hausbuch werden kann. Abgesetzt gegen die Fehlform ihres überzogenen Selbstverständnisses im Wolffianismus, „eine aus unumstoeßlichen Gruenden bewiesene Wissenschaft aller moeglichen Dinge, wie und warum sie moeglich sind“ (Philalethie, Bd. 1, S. 7), zu sein, ist die Philosophie für Basedow idealiter lediglich „eine gemeinnuetzige und durch Beweise bestaetigte Sammlung von glaubwuerdigen Saetzen, welche keine Erzaehlungen und geoffenbarte Instructionen sind“ (Philalethie, Bd. 2, S. 378). Damit ist – anders als bei Wolff und seiner (potenziellen) Allzuständigkeit für „Wissen“ überhaupt – eine eher traditionelle Teil- und Bereichszuständigkeit unter Verzicht auf Faktenwissen („Historie“ in allen Spezialisierungen als Staaten-, Kirchen- und Gelehrtengeschichte) und Offenbarungstheologie für die Philosophie reklamiert. Deren „Gemeinnützigkeit“ inkarniert in den formalen und materialen Darstellungsprinzipien Gründlichkeit, Vollständigkeit und Wirklichkeitsbezug, und zwar im beständigen Rekurs auf die menschliche Natur, auf Erfahrungen aus der Lebenswelt und die sich aufdrängende Evidenz der Phänomene. Die „Vorbereitung zu der Lehre von des Menschen Natur“ schließt demgemäß mit der programmatischen und zugleich hoffnungsfrohen Absage an die bekämpfte herrschende System-, Wesens- und Begriffsphilosophie der „Leibniz-Wolff-Schule“: [...] daß viele einsehen werden, das Leichte, das Natuerliche, das mit der allgemeinen gesunden Vernunft Uebereinstimmende, und besonders das nicht auf mathematische, sondern analogische Art Bewiesene, sey das Wahre und Gemeinnuetzige; und die hohen Erkenntnisse aus andern unumstoeßlichen Gruenden, aus dem Wesen der Dinge, und aus den Definitionen, sey[e]n mit allen Monaden und Harmonien, die Wirkungen einer philosophischen Phantasie (Philalethie, Bd. 1, S. 14).
Wie schon beispielhaft belegt, ist Basedow bereits von der nächsten Philosophengeneration, den Epigonen Kants und Fichtes, mit dem seinerzeit polemisch gemeinten Verdikt belegt worden, er sei ein „Popularphilosoph“. Die Kategorie „Popularphilosophie“ hat in der heutigen Philosophiegeschichtsschreibung diesen ursprünglich pejorativen Klang verloren und wird nunmehr deskriptiv verwendet.101 101
Holzhey, Helmut, Popularphilosophie, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7 (1989), Sp. 1093–1100. Der Literaturliste wären z.B. hinzuzufügen: Bachmann-Medick, Doris, Die ästhetische Ordnung des Handelns (Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts). Stuttgart 1989; Altmayer, Claus, Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992. (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 36); hier eine gewisse Skepsis
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In ihren Anfängen wird sie auf eine akademische Rede des Leipziger Philologen Ernesti, der später zu einer theologischen Professur aufrücken konnte, zurückgeführt, in der am 2.5.1754 in programmatischer Absicht – unter Bezugnahme auf einen aktuellen Appell Diderots an die Philosophen und Naturforscher seiner Zeit – aus Anlaß der Ankündigung akademischer Redeübungen zum Thema „Philosophie“ de philosophia populari gehandelt wird.102 Die kurze Prolusio enthält ein ausdrückliches Plädoyer für eine auch im „wissenschaftlichen“ Diskurs zu beobachtende Darstellungsform, die bei angemessener Sachhaltigkeit doch gleichfalls stilistische Qualitäten aufweisen sollte. Das Ideal dieser „popularitas erudita“ hat für Ernesti seine antike Ahnengalerie (z.B. Pythagoras, Sokrates); Cicero erfährt besonderes Lob als Feind „trockener“ Subtilitäten (S. 152). Die Lebensideale der Antike (urbanitas, humanitas) waren in der Blütezeit anerkannte Standards der Zivilisation, was seinen Ausdruck darin fand, daß auch die politischen und sozialen Eliten philosophisch gebildet waren (S. 153f.). Die Philosophie gewann ihre alte Geltung erst nach einer langen Phase der Dekadenz (Scholastik) in der Renaissance gemeineuropäisch zurück (S. 155). Das in diesem Kontext propagierte Philosophen-Ideal ist, wie die empfohlenen Stilvorschriften und Darstellungsformen zeigen, durchweg rhetorisch imprägniert. Ernesti hat sein Stilideal der „puritas“ in der Akkomodation an einschlägige antike Autoren (in der Philosophie an Cicero) in seinem verbreiteten und mehrfach aufgelegten Lehrbuch Initia doctrinae solidioris (4. Aufl. 1758) als (philosophischen) Vorkurs für Universitätsabgänger – im Urteil seiner Zeitgenossen – selbst mustergültig befolgt. Dabei hat er charakteristischerweise in einigen philosophischen Subdisziplinen (z.B. der Ontologie), aber auch in strittigen Fragen der aktuellen schulphilosophischen Debatten, eine gewisse Zurückhaltung geübt. Zwar anerkannte er z. B. die Spitzenstellung der Kategorie „Vollkommenheit“ (perfectio humana) in der Philosophie Wolffs mit der Übernahme in seinen eigenen Abriß der Moralphilosophie, lehnte aber etwa dessen „Überdehnung“ in der Umfangs- und Gegenstandsbestimmung der Disziplin „Philosophie“ als Möglichkeitswissenschaft selbstbewußt ab.103 Von ebendiesen „lateinischen Anfangsgruenden der Weltweißheit“ heißt es in der schon erwähnten Rezension des Leipziger Anonymus von Basedows Practischer Philosophie fuer alle Staende in der unmittelbaren Textumgegenüber dem Etikett „Popularphilosophie“ als Kampfbegriff: S. 3–15; Koch-Schwarzer, Leonie, Populare Moralphilosophie und Volkskunde. Christian Garve (1742–1798). Reflexionen zur Fachgeschichte. Marburg 1998. (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde e.V. 77); insbes. S. 292–344: Popularphilosophie und Popularitätsdiskurs; Böhr, Christoph, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart / Bad Cannstatt 2003. (FDMA. Abt. 2 (Monographien). Bd.17). 102 Ernesti, Johann August, Opuscula oratoria, orationes, prolusiones et elogia [...]. Lugduni Batavorum 1762. S. 149–156. 103 Ders., Initia, 41758, (wie Anm. 28), S. 3 (Ablehnung des weiten Philosophie-Begriffs); zur „demonstratio mathematica“: Pos. 31, S. 9; vgl. bereits Schneiders, Hoffnung, (wie Anm. 37), S. 143, Anm.
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gebung der Besprechung von Basedows Werk, es habe „mehr als alle andere Buecher den guten Geschmack allgemein gemacht und die Hoffnung, der Barbarey laenger zu widerstehen, befestigt“.104 Basedow hegte seinerseits eine entschiedene Wertschätzung für Ernestis darstellerische und denkerische Qualitäten. Im Kontext einer umfassenden Kritik an den philosophischen Koryphäen seiner Zeit lobte er an Ernestis Initia die „vortrefflichste Schreibart“ und meinte zudem, nur Bescheidenheit habe dazu geführt, den Lehrtext als „Schulbuch“ firmieren zu lassen.105 Basedow ist demnach, wie gezeigt werden konnte, dem Ursprunge des Phänomens „Popularphilosophie“ nah, wenn man diesen in Ernestis Prolusio und – wie hier geschehen – in seinen Initia lokalisiert. Da die Popularphilosophie als philosophiegeschichtlich epochale Erscheinung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland zudem originär gegen den „akademischen“ Wolffianismus gerichtet war, später jedoch ihrerseits dem dann siegreichen Kantianismus erlag, kann es als gesichert gelten, daß Basedow mit seinem (philosophischen) Werk entsprechend eingeordnet werden kann. Auch die sonst für die Zuordnung bemühten Kriterien (z.B. bürgerliches Lesepublikum als Adressat; Vermittlung pragmatisch-utilitärer Informationen für die Bedürfnisse der (bürgerlichen) Lebenswelt; Ideal der Gemeinverständlichkeit; Systemfeindschaft; Selbstdenkertum und selbstbewußte Eklektik; eudämonistische Orientierung der Lebensideale) lassen sich einigermaßen zwanglos anwenden. Wenn zudem Göttingen und Berlin als Zentralorte der Popularphilosophie gelten können,106 kann Basedow, dessen Practische Philosophie fuer alle Staende aus der Göttinger Filiale der Popularphilosophie eine überaus zustimmende Besprechung erhielt,107 gleichsam als assoziiertes Mitglied verstanden werden. Wenn der Kreis der zugehörigen Philosophen im übrigen sogar auf Reimarus ausgedehnt wird,108 muß der bekennende Reimarus-Schüler Basedow abermals eingeschlossen werden.
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Rezension zu Basedow, (wie Anm. 98), S. 313. Vgl. dazu Basedow, Johann Bernhard, Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Mit einer Einl. v. Horst M. P. Krause. Vaduz 1979, S. 475 (lobender Hinweis auf Ernestis Initia: „Wir haben in den Initiis des Herrn Doctors Ernesti, sowohl in Absicht auf die Gruendlichkeit, die Ordnung und das Maaß der Materien, als auf die vortreffliche Schreibart, einen solchen Schatz, den ich mit keinem zu vergleichen weiß.“) – Das Werk sei allemal besser als die „bandreichen Systeme“ deutscher Schulphilosophen, heißt es in der Philalethie, (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 473. 106 So z.B. Schneiders, Werner, Philosophiebegriff, (wie Anm. 100), S. 89 (für Göttingen); Holzhey, Helmut, Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung?, in: ders. (Hg.), Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung. Basel / Stuttgart 1977, S. 117–138, hier S. 135 – Basedow wirkt „außerhalb dieser Zentren“: Anm. 12). 107 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 20. Stück vom 15.2.1759, S. 185–191. 108 So Schneiders, Werner, Hoffnung, (wie Anm. 37), S. 144.; vgl. auch ders.: Philosophiebegriff, (wie Anm. 100), S. 80f.
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V. In der Vorrede zur 2. Ausgabe seines Werkes begründet Basedow das Ausbleiben einer von verschiedenen Seiten gewünschten und geforderten abermaligen Edition mit dem lange gehegten, aber unausgeführten Plane, eine Neufassung seines Moralsystems vorzulegen, die mit dem Titel Sittenlehre des Menschen entschiedener als zuvor jede ständische Qualität der vorgetragenen Lehren transzendieren sollte. Aus bemühter sozialer Beobachtung und Erfahrung wollte er sodann eine Serie von Einzelethiken abfassen, die diese Universalethik als Berufs- und Standesethiken „der Reichen, der Armen, der Kaufleute, der Handwerker, der Bauren, der Officiere, der gemeinen Soldaten, des Richters und Advocaten, des Arztes, der Eltern, der Kinder u.s.w.“ flankieren und für die zureichende Konkretion der zuvor nur allgemein entwickelten ethischen Vorschriften sorgen sollten. Diese Allgemeinheit, die sich in der Wendung der Titelfassung „für alle Staende“ nahelegt, bedarf jedoch der Erläuterung; denn der Standesbegriff ist als solcher ungemein mehrdeutig und insofern von einer charakteristischen und zugleich problematischen Rückwirkung auf das gesamte Moralkonzept. Er indiziert bedeutungsmäßig allgemein gesagt (1) eine soziale Schicht, (2) einen Beruf (Amt) und (3) eine Lebenslage (Lebensart). Damit ergibt sich eine breitgefächerte Semantik, die insgesamt die „merkwuerdigen Verschiedenheiten der Menschen“ in ständischer Hinsicht bezeichnet: Die Menschen sind verschieden: 1) am Alter; 2) am Geschlechte; 3) an angeborner und erworbner Einsicht; 4) am Gemuethscharacter; 5) an Tugend und Laster; 6) an der Beschaffenheit des Leibes; 7) an Aemtern und Beschaeftigungen; 8) an der Subordination; 9) an andern Umstaenden [...] (Pr. Phil. I2, S. 450).
Eine praktische Philosophie, die dieser Mannigfaltigkeit der Verhältnisse in der menschlichen Lebenswelt mit Vorschriften und Ratschlägen korrespondieren wollte, müßte die genannten (ständischen) Besonderheiten („Verschiedenheiten“) in einer Art von empirischem Universalismus in nahezu unendlicher additiver Reihung berücksichtigen.109 Das ist natürlich illusionär, aber eine unvermeidbare Folge des hier vorliegenden vormodernen, traditionalistischen Ethik-Konzepts 109
Die Problematik war Basedow an sich durchaus gegenwärtig: vgl. dazu Elementarwerk, (wie Anm. 90), Bd. I, S. 543 (Nacherinnerung zur „Sittenlehre des Elementarwerks“, 5. Buch): „Als ein Ganzes ist diese Sittenlehre so vollständig, als sie auch für einen Erwachsenen sein darf, dessen besonderer Stand und Gemütscharakter noch nicht vorausgesetzt ist. Eine Sammlung ausführlicher Abhandlungen von jeder einzelnen Pflicht und Klugheitsregel muß man hier nicht suchen. Der stärkste Foliant würde sie nicht fassen. Daß man besondere Sittenlehren für das Gesinde, für Handwerker, für Kaufleute, für Kriegsmänner, für Obrigkeiten, für Lehrer und Schriftsteller, für das weibliche Geschlecht, für Eheleute, für Eltern [...] und so für jeden wichtigen Stand der Menschen wünschen könne, das versteht sich von selbst. Aber so weit konnte ich mich nicht einlassen.“ In der Ausgabe von 1783 konnte Basedow bereits auf die 2. Auflage seiner Practische[n] Philosophie, die in der Tat viel ausführlicher die „Sittenlehre“ traktierte, verweisen; die prinzipielle Problemlage blieb davon jedoch unberührt.
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einer Tugendmoral ohne Basisprinzip, etwa in Gestalt des in formaler Hinsicht universalistischen kategorischen Imperativs Kants.110 Eine Konsequenz jenes Typs von Tugendmoral ist die Auflistung von Tugenden und Lastern, deren Katalog bei Basedow die stattliche Zahl von 29 Tugenden bzw. – als offene Liste! – von 62 Lastern umfaßt (Pr. Phil. I², S. 233f. u. S. 428ff.). Überdies ist, wie nicht anders zu erwarten, das Gesellschaftsmodell, auf das die Basedowsche Moral hin entworfen ist, „ständisch“ (stratifikatorisch) verfaßt. Die gesellschaftliche Schichtung hat ökonomische und rechtliche (privilegierende) Ursachen; sie gilt, wie der Weltlauf überhaupt, als gottgewollt und damit als „gut“. Ein in dieser Welt Benachteiligter, ein „Armer“, hat daher zu bedenken – und damit findet er sich auf ein Leben nach dem Tode, „in Ewigkeit“, das ihm Genugtuung verschaffen wird, vertröstet –, „daß Gott weise Ursachen habe, den Unterschied des zeitlichen Vermoegens nicht aufzuheben, und daß eine ganze Ewigkeit diesen Unterschied leicht rechtfertigen koenne“ (Pr. Phil. I², S. 382). Entsprechend gilt für die (gerechtfertigte) Existenz eines Erbadels, „daß das Daseyn eines Adels mit der guten Regierung und mit der allgemeinen Glueckseligkeit fast nothwendig zusammen hange“ (Pr. Phil., S. 853). In der für Basedow göttlich sanktionierten Sozialordnung, einem Mixtumcompositum aus bürgerlichen (ökonomischen) und feudalen Elementen (Privilegien), wird für die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder, „die nuetzlichsten Glieder des Staates“, die „Kuenstler“, Handwerker, Tagelöhner und Landarbeiter (Pr. Phil. I², S. 404), die ihnen zustehende Moral ganz einfach dekretiert: Wenn der gemeine Haufe weis, daß Gott das Boese kuenftig bestrafe und das Gute belohne, wenn er die allgemeinen und wichtigen Pflichten aller Menschen gegen Gott, sich selbst und den Mitbruder, und die Pflichten seines eigenen Standes, als von Gott befohlne Pflichten und als Mittel seiner eignen Glueckseligkeit und Gewißheit erkannt, und das Mittel der Vorsehung Gottes weis, so weis er genug. Denn nach dem Weltlaufe hat er kaum Zeit dieses recht zu lernen (Pr. Phil., S. 932).
Aber eigentlich enthält das soeben vorgetragene Zitat bereits überhaupt die Quintessenz der Basedowschen Moral; allerdings gilt, daß diese der gesellschaftlichen Elite aus „vornehmen“ Bürgern und Adligen zuvor erst einmal aufwendig vermittelt worden sein muß. In diesem Vermittlungsprozeß ist der Gottes-Begriff zentral: Die Erkenntniß Gottes, seiner Eigenschaften und der Pflichten, wozu sie uns verbinden, ist ein vortreffliches Mittel der Glueckseligkeit, welches wir uns, und vermoege der Pflicht, die allgemeine Vollkommenheit zu befoerdern, auch andern, so viel als moeglich, zu verschaffen, verbunden sind [...] (Pr. Phil., S. 665).
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Immerhin taucht die sog. Goldene Regel, eine „alte moralische Regel“, gelegentlich auf – bezeichnenderweise aber eindeutig als individualethischer Verhaltensgrundsatz mit deutlich utilitärer Konnotation (im Kontext der Erörterung des Grundsatzes der Selbstliebe); vgl. dazu Pr. Phil., S. 32 u. Pr. Phil. I2, S. 106. Damit ist lediglich eine gewisse äquivalente Reziprozität gegeben, und zwar in einer Zweierrelation.
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Die individuell bzw. kollektiv aufgegebene Pflicht der Realisierung der „Vollkommenheit“ ist als Finalbegriff der menschlichen Existenz nicht nur als in der jeweiligen Gegenwart erreichbarer Zustand, sondern auch bzw. vornehmlich als unendlicher Progreß „einer in Ewigkeit stuffenweise zunehmenden Glueckseligkeit“ (Pr. Phil., S. 619) im Sinne einer fortschreitenden Optimierung konzipiert. Dazu heißt es am Beginn des 12. Hauptstücks der 1. Fassung, das auszugsweise die „philosophische Staatslehre“ behandelt, in korrigierender Absicht, daß die kalkulierende geschichtsphilosophische Bilanz für die menschliche Gattung als die „Vollkommenheit des menschlichen Geschlechts“ in der anwachsenden Aehnlichkeit der Menschen mit Gott und hoehern Geistern, und in der Vermehrung der Faehigkeit und Geschicklichkeit, wodurch man sich immer mehr und mehr zum Genusse englischer und goettlicher Glueckseligkeit auf kuenftige Zeiten vorbereiten kann [...] (Pr. Phil., S.707),
zu suchen sei.111 Wie Basedow registriert, verklären „einige Philosophen“ den gesellschaftlichen Urzustand, den Stand der Wildheit, zum Idealzustand. Unter ihnen ist ein „witziger und beredter Schriftsteller“, der in der „Art eines gelehrten Scherzes [...] den Schluß gemacht [hat], daß wir viel weniger gluecklich sind, als die Hottentothen und Esquimaux“ (S. 706). Wie bereits in der Soraner Antrittsrede, in der Rousseaus 1. Discours ähnlich interpretiert worden war (§ 18), bemühte Basedow abermals im Sinne eines metaphysischen Optimismus, der den Gang der Zeiten als allseitige Progression der menschlichen Gattung sich vollziehen sieht, die göttliche Vorsehung. Hier leistet sich Rousseau einen „gelehrten Scherz“, dort trug er – in Basedows Deutung – im Vollbesitz seiner rhetorisch-gelehrten Bildung ein „argumentum pro pessima causa“ vor – und meinte das Gegenteil. Wie schon ausgeführt wurde, unterblieb jedoch die beabsichtigte Aufspaltung der Ethik in eine quasi-universalistisch gefaßte Propädeutik als Kern und einen Kranz von begleitenden Spezialethiken112 zugunsten jener bereits erreichten ersten Problemlösung, die die Allgemeinheit und hinreichende Vollständigkeit ihrer Lehren gerade im Rekurs auf die Tatsachen der „menschlichen Natur“, die Selbstevidenz der Aussagen sowie die Lebenserfahrung der Leser gewahrt sah, ohne doch selbst im einzelnen zu unnötiger, andernfalls unvermeidbarer Weitschweifigkeit auszugreifen, vielmehr sich dem Grundsatz „geneinnütziger Kürze“ verschrei111
Vgl. zu dieser Vorstellung, die als kommun gelten kann, den Artikel Perfektibilität (II) von Hornig, Gottfried, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7 (1989), Sp. 241–244. 112 Zeitweise hatte Basedow jedoch in dieser Hinsicht andere Pläne; vgl. dazu z.B. seine Schrift Die ganze Natuerliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Buerger. Halle 1768. Laut Vorrede war gerade an Einzelethiken für die „Pflichten eines jeden Hauptstandes“, und zwar jeweils ohne „Dornhecken der unnoethigen Gruebeleyen“, gedacht, ebd., S. XIIIf. Das „Privatleben der gesitteten Buerger“ erschien ihm geradezu als der „wichtigste Stand der Menschen“ (ebd., S. XV). Unmittelbar sollte die Handreichung einem 15jährigen Sohn als „taegliche moralische Lectuere“ dienen (ebd., S. XVIII). Für den „gemeinen Mann“ in Stadt und Land konnte ggf. eine abgewandelte, vor allem auch gekürzte Version, nachfolgen.
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ben konnte. Diese Gemeinnützigkeit seines „Systems der Sittenlehre“, die diesem in Basedows Selbstdeutung die Qualität eines Hausbuches sicherte, sollte zugleich mit den Prinzipien der „Gründlichkeit“ (in Ableitung und Beweis seiner Hauptsätze) und „Annehmlichkeit“ (in Stil und Darstellung) vereinbar sein. Im ganzen schien so ein „Mittelweg“ gefunden zu sein, der ohne Vorbild war. Während die „Staatssachen“ (Politik) und das Natur- bzw. Vernunftrecht, die den angehenden Staatsbeamten und insbesondere den Studenten der Jurisprudenz zugedacht waren, nahezu unverändert blieben, erfuhr die theoretische Philosophie in Gestalt eines komprimierten Abrisses im Rückgriff auf die inzwischen erschienenen Bücher Basedows (Philalethie; System der theoretischen Vernunft) in der 2. Auflage seiner Praktischen Philosophie nicht nur eine gänzliche Neubearbeitung, sondern erlangte zudem den prominenten Kopfplatz, mit dem die eigentliche Darstellung nunmehr einsetzt. Im Grunde wurde damit nur eine Verlegenheit und mangelhaft ausgewiesene Entscheidung der ersten Ausgabe berichtigt, nach der die „hoechsten Grundsaetze, woraus die meisten andern practischen Wahrheiten bewiesen werden“, absichtsvoll ans Ende gestellt worden waren, weil sie einerseits der Fassungskraft der Leser einiges zumuteten, andererseits – wie Basedow durchaus zutreffend bemerkt – „als eine besondre Wißenschaft“ geradezu einen Fremdkörper darstellten. Die theoretische Philosophie, aus der ein metaphysisch-theologisches Kondensat in der praktischen Philosophie die Funktion einer Grundlegung übernimmt, hat Basedow in den schon mehrfach erwähnten Schriften Philalethie und Theoretisches System der gesunden Vernunft in voller Breite entfaltet und damit – kleine Defizite (Mathematik, Physik) werden bereitwillig eingestanden – im Selbstverständnis die eigene Philosophie vollendet und als „System“ etabliert. Die genannten Werke stehen zeitlich und inhaltlich in einem engen Zusammenhange; die mäandernd-ungebändigte Denkbewegung der zweibändigen Philalethie von 1764 findet in der im Folgejahr erschienenen Publikation eine gradlinige, präzisierte und stark verkürzte Zweitfassung. Die utilitären Fixpunkte der praktischen Philosophie, die lebensweltlichen Orientierungsbedürfnisse der „gesitteten Stände“ sowie die Professionsbedürfnisse der Gelehrten aller Fakultäten, bestimmen auch hier Anlage und Stofflichkeit der Darstellung. Philosophische Traditionsbestände, etwa die „alten Griechen“ (Platon, Aristoteles), aber gleichermaßen auch die Systeme neuzeitlicher Philosophen (Descartes, Leibniz, Locke), haben kein Eigenrecht. Sie stehen vielmehr voll und ganz zur Disposition des Popularphilosophen, der „Selbstdenker“ ist und in souveräner urteilskritischer Denkoperation ihm für sein eigenes philosophisches Geschäft passend erscheinende Versatzstücke aus fremden Gedankengebäuden herausbricht und in neuem Arrangement ungeniert wieder bzw. weiter verwendet. Leitintentionen sind dabei ein unterstelltes Mandat des interessierten Publikums, die Beseitigung der „alten und neuen scholastischen Grillen“ sowie ein Philosophieren „aus der Vorstellung von dem Beduerfnisse eines
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Erforschers und Vertheidigers der von der Praxis nicht weit abfuehrenden Wahrheiten“ (Pr. Phil. II2, S. 116f.).113 Der Philosophiebegriff dieser theoretischen Philosophie schließt Offenbarungswissen – und damit auch das Christentum und seine Theologie – erklärtermaßen aus. Die alte Opposition von „Vernunft“ und „Offenbarung“ ist damit in den Hintergrund gedrängt; das Herzstück dieser Philosophie ist die „natürliche Religion“, die sog. Vernunftreligion. Der Gott der christlichen Theologie wird demzufolge durch den Gott der Philosophen ersetzt. Das Tableau dieser (theoretischen) Philosophie ist mit den von Basedow aufgeführten Teilbereichen Logik, Ontologie, Psychologie, Kosmologie, natürliche Theologie und Naturlehre (Körperwelt) durchaus der „in Deutschland“ üblichen Tradition entsprechend besetzt – 114 allerdings in deutlich revisionistischer Absicht, und zwar derart, daß die klassischen metaphysischen Subdisziplinen Ontologie und Kosmologie stark schrumpfen sollten und die theoretische Philosophie mit dem neu etikettierten Hauptteil „Lehre vom Menschen“ (Anthropologie) sowie dem Traditionsbestandteil „Natürliche Theologie“ überhaupt neu formiert werden sollte. Fragen der Klassifikation waren freilich aus seiner Sicht ohnehin ganz gleichgültig und dem Zeitgeschmack unterworfen.115 Oppositionshaltung und Traditionsbruch kündigen sich aber bereits in 113
Hier heißt es: „Außer der Mathematick und Naturlehre, haben wir genug Philosophie aller Art (natuerliche Theologie und Moral mitgerechnet) in diesem gegenwaertigen Buch, für den gemeinschaftlichen Nutzen, nicht nur aller gesitteten Staende, sondern auch aller Studirenden, die nicht berufen sind, Lehrer der Philosophie zu werden [...]“. Man müsse auch Descartes, Newton, Locke, Leibniz, Crusius u.a., also die anerkannten Größen der neueren Zeit, nicht eigens in der Absicht lesen, „daß noch etwas Gemeinnuetziges darinnen zu finden sey, welches von mir uebergangen werden mußte“. Die angeführte Passage findet sich in: XI.7 („Vom Unterrichte“). 114 Vgl. dazu Philalethie, (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 11 u. Bd. 2, S. 378f.; ferner ders., System, (wie Anm. 80), S. 43ff.; zur Problematik der Binnengliederung des Faches „Philosophie“ vgl. insbesondere Tonelli, Giorgio, The Problem of the Classification of the Sciences in Kant’s Time, in: Rivista critica di storia della filosofia 30 (1975), S. 243–294 (über Basedow eine vergleichsweise kurze Notiz (S. 274), die seine programmatisch vertretene Sorglosigkeit in klassifikatorischer Hinsicht (System, [wie Anm. 80], S. 40f.) als „further confirmation of the impact of the British and French anti-sytematic mind of that time on Basedow“, und zwar als schulunabhängigen Denker, deutet. Eine entsprechende Aufgeschlossenheit gegenüber „westlichen“ Einflüssen wird nicht näher erläutert (bzw. belegt). Ähnliches wurde später von Kuehn, Manfred, Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston / Montreal 1987. (McGill-Queen's studies in the history of ideas 11) vermutet bzw. behauptet (vgl. bes. S. 269ff.). Über das Verhältnis von Kant zu Basedow heißt es postulatorisch: „His critical philosophy and Basedow's educational policies have a certain affinity that deserves to be investigated further“, ebd., S. 273f. Die z.B. von Tonelli behauptete Beeinflussung Basedows durch Crusius wird stark relativiert. Die „Popularphilosophie“ wird als eigenständige philosophische Richtung mit autochthoner („deutscher“) Wurzel nicht in den Blick genommen. – Logik und Naturlehre werden in Basedows theoretischer Philosophie nicht eigentlich behandelt. 115 Die Architektur seiner „Philosophie“ (auch der Praktischen Philosophie) ist freilich zuzeiten – gleichsam auch unabsichtlich – ein wenig unklar (vgl. z.B. die Ausführungen zur Binnengliederung der Praktischen Philosophie im Elementarwerk, (wie Anm. 90), Bd. 1, S. 541–43); vergleichsweise konsistent ist die Darstellung im Elementarwerk in der Fassung von 1783, die den Schluß von Buch 9 (und damit des Textteils) bildet: „Begriff von der ganzen Philosophie“
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der Wendung „gesunde Vernunft“ an, in der das Beiwort „gesund“ metaphorisch auf einen Krankheitsbefund verweist. Sehr bald stellt sich heraus, daß ehrwürdige Teildisziplinen der theoretischen Philosophie, die dieser bisher substantiell waren, nämlich z.B. Metaphysik, Ontologie und Kosmologie, morbid sind und kaum therapiert werden können. Schuld an diesen Krankheits- und Zerrüttungserscheinungen sind ausgerechnet die allseits als renommiert anerkannten deutschen Schulphilosophen unter den Zeitgenossen: die Baumgarten, Darjes, Meier – und vor allem der prestigemächtigste von allen: Wolff. Insbesondere dessen Bestimmung der Philosophie als sog. Möglichkeitswissenschaft – „eine aus unumstoeßlichen Gruenden bewiesene Wissenschaft aller moeglichen Dinge, wie und warum sie moeglich sind“ – 116 findet zu wiederholten Malen Basedows empörte Kritik, da sich für sein Verständnis darin ein hybrider Anspruch artikuliert, der das Tor für „erdichtete Welten“ öffnet und dazu beiträgt, die vorhandene Wirklichkeit systematisch zu verfehlen. Der imponierende Apparat der mathematischen Beweismethode sowie bestimmte philosophische Denkmittel (die Rede von „a priori“, zureichendem Grunde, prästabilierter Harmonie, Demonstration) werden als Taschenspielertricks und Wortspiele denunziert. Was auf den ersten Blick wie eine Erkenntnis- und Metaphysikkritik aussehen mag, entpuppt sich freilich sogleich als willkürliches und unausgewiesenes Verfahren, da andere Bestandteile der Metaphysik der inkriminierten Autoren – im Falle Leibniz z.B. dessen Theodizee – geradezu unbesehen affirmiert werden. Abermals zeigt sich der eklektische Grundzug der Basedowschen Philosophie, die fallweise bestimmte Theoriestücke akzeptiert oder verwirft und ein im ganzen unzusammenhängendes Konglomerat heterogener Elemente versammelt, deren prinzipieller Status im Blick auf eine klar definierte Erkenntnisabsicht unbestimmt bleibt. So werden z.B. gewisse Gottesbeweise, etwa der sog. ontologische Gottesbeweis, mit kurzen Worten abgetan. Der im physikotheologischen Kontext im Anschluß an seinen ehemaligen Lehrer am
(S. 469–72); den Anspruch zulänglicher Vollständigkeit erhebt auch die Vorrede (1. Aufl. von 1774, S. XLVIII). 116 Philalethie, (wie Anm. 37), Bd.1, S. 7; ähnlich auch Bd. 2, S. 63f. u. 377 (§ 177). Die Formulierung bezieht sich gewiß auf Wolffs „Vorbericht von der Weltweisheit“, § 1, in der sog. Deutschen Logik, vgl. Wolff, Christian, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Hg. u. bearb. v. Arndt, Hans Werner. Hildesheim 1965; ders., Gesammelte Werke. Deutsche Schriften. 1. Abt., Bd. 1: „Die Welt-Weisheit ist eine Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind.“ (S. 115; vgl. auch den Kommentar, S. 254: Hinweis auf die entsprechende Fundstelle im Discursus praeliminaris, § 29; die Begriffsbestimmung hatte Wolff bereits 1703 gefunden). Wolff-Polemik findet sich z.B. auch in Sachen „Kosmologie“ (Philalethie, [wie Anm. 37], Bd. 2, S. 353f.). Ehrfurcht gebietenden Fachbenennungen (wie Noologie, Thelematologie, Monadologie usw.) war Basedow ganz abhold (ebd., Bd. 1, S. 12); inkonsequent war er insofern, als seine Philalethie (Liebe Zur Wahrheit) ja selbst eine (uneingeführte) Neuprägung darstellte. Spöttisch seine Bemerkung: „Und ich habe ein Halbdutzend neue Ologien, oder Tiken und Miken in Vorrath, wenn es verlangt wird“ (ebd., S. 13).
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Hamburger Akademischen Gymnasium, Reimarus,117 vorgetragene bzw. nahegelegte kosmologische Gottesbeweis wird hingegen ohne eigentliches Problembewußtsein für die grundsätzliche Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Gottesbeweisen überhaupt118 im Sinne einer gleichsam realistischen Metaphysik ganz einfach als „wahr“ unterstellt.
VI. Die bereits zu wiederholten Malen beobachteten autobiographischen Einsprengsel kehren auch an den entscheidenden Gelenkstellen der Philalethie wieder. Im zweiten Teil des ersten Bandes, dem eigentlichen Herzstück seiner theoretischen Philosophie, in dem zunächst von den „Vorerkenntnissen der natuerlichen Religion“ (§ 195ff. = S. 415ff.) gehandelt wird, erfährt der Leser, daß der Autor bereits in seiner späteren Jugend den Glauben, und zwar im Rückgang auf die natürliche Religion, zum beständigen Gegenstand juveniler Untersuchung gemacht habe (S. 415). Damals schon will er den entscheidenden „methodischen Fehler“, mathematische Beweisverfahren auf Theologie und Philosophie zu applizieren, als Grundproblem der Rationaltheologie erkannt haben. Die „Ausarbeitung“ eines in sich schlüssigen und selbsttragenden Konzepts der natürlichen Religion auf der Basis „bloßer“ Vernunftoperationen, ohne stützenden und bestätigenden Rückgriff auf (christliche) Offenbarung, erschien schon seinerzeit als unmöglich. Die christliche Religion, eine Offenbarungsreligion, wurde folgerichtig „einiger Gegenstand“ der Glaubensspekulation. Das Christentum der ersten beiden Jahrhunderte, das Urchristentum, ließ ihm die „Sonne“ der Erkenntnis aufgehen (S. 417). Die „Wahrheit“ der Offenbarung, so lautete die Schlußfolgerung, muß Gegenstand philosophischer Untersuchung sein (dürfen), aber unter Beachtung der „Graenzen der Philosophie“ (S. 418). Im zweiten Hauptstück („Die natuerliche Religion in ihrer Staerke und Schwaeche“, § 213ff. = S. 467ff.), das charakteristischerweise 117
Hermann Samuel Reimarus wird im § 182 des 2. Bandes der Philalethie, (wie Anm. 37), S. 400–402, ein überschwengliches Lob gezollt, und zwar insbesondere seinem Werk Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (erstmals 1754), neu hg. v. Günter Gawlick, in: Gesammelte Schriften. Göttingen 1985, Bd. 1 u. 2. (darin bes. die Abhandlungen 9 u. 10: „Worinn die Nichtigkeit der Zweifel gegen die goettliche Vorsehung gezeiget wird“ bzw. „Von der Seelen Unsterblichkeit und den Vortheilen der Religion“). R. galt Basedow als europäische Berühmtheit, der er eine nachhaltige Resonanz („Lehrer vieler Jahrhunderte“) prophezeite. Gleichwohl erstarrte er nicht in purer Devotion und äußerte z.B. (verhaltene) Kritik an Reimarus’ Vernunftlehre; im übrigen war er der Meinung, sein eigenes Werk erreiche das breitere (nicht nur gelehrte) Publikum. B. wollte gleichsam die Lücken füllen, die Reimarus gelassen hatte (Danksagung für Unterweisung und Wohltaten in seinen Schülertagen: ebd., S. 407). 118 Basedow, System, (wie Anm. 80), IV.1, S. 124ff. (Gottesbeweise): die „Grundeigenschaften Gottes“ werden von Basedow „bloß aus Betrachtung der Welt“, also physikotheologisch, geschlossen (ebd., S. 174; „wahrer Beweis“ (mit sog. Vorbereitung) ebd., S. 130ff.; allgemein wird auf die Behandlung in den §§ 198–208 in der Philalethie [wie Anm. 37] verwiesen); Unsterblichkeitsbeweise (aus Basedows Sicht: falsche), ebd., S. 146ff.
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mit einem „Vorbericht“ in eigener Sache einsetzt und sodann das argumentative Finale der ganzen Schrift darstellt, die dem Titel zufolge ihre Gedankenarbeit „bis in die Graenzen der glaubwuerdigen Offenbarung“ vorantreiben will, werden die Stationen der eigenen Geistesbildung im Sinne einer (vorläufigen) intellektuellen Autobiographie abermals markiert. Die eigene kindliche Unterweisung in der Gotteslehre, die nach einer sehr viel späteren Selbstaussage in einem strikt lutherisch-orthodoxen Milieu stattfand,119 führte zunächst zu einem „blinden“ Glauben, dessen prophetisch-mirakulöse Ingredienzen bereits im 16. Lebensjahr ersten Zweifeln ausgesetzt waren. Halt bot zeitweise dem philosophischen Adepten der imponierend begründete Anspruch der Philosophie Wolffs; ein gewisser, vorerst hilfloser Widerwille begann sich zu regen (S. 471f.): Die blosse Harmonie der Seele und des Leibes, mit der ganzen Monadenlehre, ward mir ein philosophischer Roman. Alle mathematische Demonstration, welche die analogische Schlußart nicht zu Huelfe nimmt, wurde mir durch die Exempel der demonstrirten Irrthuemer verdaechtig [...] (S. 472f.).
Leibniz und Wolff, die zunächst „gläubig“ akzeptierten Autoritäten der Metaphysik, werden – und das ist wieder charakteristisch für seine genuin eklektische Einstellung – zumindest teilweise in entscheidenden Lehrstücken verworfen, und zwar unter dem Einfluß von Crusius, der ihm „fideistisches“ Vertrauen in (bescheidene) „Wahrscheinlichkeit“ anstelle einer mit absoluter Gewißheit demonstrierten „Wahrheit“ vermittelt. Dies wird zwar dankbar registriert, im Rückblick auf die Leipziger Studienzeit bezeichnenderweise aber sogleich wieder dergestalt relativiert, daß nun durchaus Zweifel an gewissen Lehrsätzen von Crusius geäußert werden (z.B. an der mit Vernunftbeweisen bekräftigten Ewigkeit der Höllenstrafen: S. 471–473). Das erste Studienjahr in Leipzig versetzte dem jungen Basedow überhaupt den bedeutsamsten Schub seiner geistigen Entwicklung: den Verzicht auf Autoritätsgläubigkeit und den dezidierten Entschluß zur Autodidaktik, einer bewußten Option für das Projekt „Selbstdenken“ (S. 473). Bereitwilligst nennt er die Namen – nicht die Werke! – der zeitgenössischen Berühmtheiten der deutschen Schulphilosophie: Canz, Bilfinger, Baumgarten, Meier und Darjes – lauter entschiedene oder moderate Wolffianer,120 deren Werke er „in ihren interessanten Stellen durchgedacht [!]“ haben will. Ausschweifende Lektüre ist ihm aber schon wegen eines Augenleidens nicht möglich, die „Gewohnheit, scharf nachzudenken“, ist somit auch geradezu erzwungen; mit etwa 25 Jahren gelangt er „zur Ueberzeugung von der natuerlichen Religion und von dem in der Bibel enthaltenen Christenthume“ (S. 474) – von ihm als spannungsfreie Symbiose verstanden, die 119
„Ich bin lutherisch in einem streng=orthodoxen Orte erzogen“, vgl. Basedow, Johann Bernhard, Examen in der allernatuerlichsten Religion und in andern practischen Lehren von Buergerpflicht, Toleranz und Tugend imgleichen von Vernunft und ihrer Gotteskenntniß. Germanien, zur Zeit Kaiser Joseph des Zweiten. [Leipzig] 1784, S. 218. 120 Vgl. dazu Wundt, Max, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Hildesheim 1964. [ND der Ausg. Tübingen 1945.]
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man tatsächlich jedoch als überaus ambigue und changierend bezeichnen muß. Die verwendeten Ausdrücke „Religion / Theologie“ werden nämlich häufig unbewußt / bewußt zu äquivoken Bezeichnungen. „Religion“ ist, zumal ohne begleitendes Epitheton, entweder christliche (Offenbarungs-) Religion oder deistische (natürliche) Religion, ganz spät in der abschließenden religionsphilosophischen Synthese seiner Schrift Examen in der allernatuerlichsten Religion121 in letzter Steigerung sogar beides zugleich, wobei sich gemäß der einleitend zitierten Beobachtung Aners122 im Prozeß wechselseitiger Annäherung und Durchdringung ein ambivalentes Amalgam von Vernunfthervorbringung und Offenbarungsinhalt ergibt. Das so gewonnene Ineinander von deutscher Philosophie auf dem Gebiete der Gottesspekulation und zeitgenössischer deutscher Theologie (Sack, Mosheim) kompliziert sich im Für und Wider der Rezeption insbesondere der englischen Religionsverteidiger (z.B. Clarke, Butler, Foster) und Religionskritiker (Cherbury, Shaftesbury, Hobbes, Tindal, Collins, Hume, Bolingbroke) (vgl. überhaupt S. 473/75).123 Im einzelnen läßt sich der Vorgang der Verarbeitung dieser vielfältigen Lektüren wohl kaum durch eindeutige Zuordnungen rekonstruieren; das Ergebnis ist jedenfalls identifizierbar und wird unter dem Signum „Universal=Christenthum“ als Konstrukt von „Gottesgelehrten“ („besonders in Engelland“) – gemeint sind hier natürlich nur die Religionsverteidiger der Autorenliste – im Sinne einer gemeinsamen Glaubensbasis aller christlichen Denominationen, und zwar als gattungsbedeutsam für die Menschheit, präsentiert (§ 274 = S. 607ff.). Derartige Glaubensuniversalien sind u.a.: (1) die Evangelien und die Apostelgeschichte sind glaubwürdig; (2) die Apostelbriefe sind „echt“; (3) Jesus Christus ist der Sohn Gottes („der groeßte unter allen goettlichen Gesandten“); (4) Apostel sind Gesandte Gottes und Jesu Christi; (5) „Der Inhalt der wahren natuerlichen Religion [...] ist auch durch Jesum Christum und seine Apostel geoffenbart“ (S. 608). Indem die Vergebung der Sünden versprochen wird, Gebete erhört werden sollen, Jesus als „Muster der Tugend“ erscheint und alles überhaupt menschengemäßer und weniger „abstract“ als die Rationaltheologie einherkommt, gelten die „Maengel der natuerlichen Religion“ als durch „Offenbarung ersetzt“ und salviert („besser gemacht“). Vorgeblich handelt es sich um konsensfähige „Wahrheiten“, deren Beweisbarkeit auch ohne gelehrten theologischen Aufwand ganz einfach als gegeben hinzunehmen ist. Die anschließende Beweisführung bedient sich des literarischen Kunstgriffs, die argumentative Erörterung in Dialogform fortzusetzen (Z = Zweifler; C = Christ: S. 610–690). Delikate Themen können solchermaßen im Schutze einer verhohlenen Autormeinung „objektiviert“ werden (z.B. Erbsünde; Auferstehung der Toten; Trinität usw.); manches erscheint dem Christen des Gesprächs, der ohnehin kein
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Vgl. Anm. 118. Vgl. dazu Anm. 1. Eine entsprechende Aufzählung bereits in der 1. Fassung der Pr. Phil. von 1758, S. 704f.
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„Theolog“ sein will (S. 641), schlicht als biblisch unverbürgte „Lehre“ und damit als Produkt des gelehrten Theologenstreits späterer Jahrhunderte und folglich als überflüssiges Dogma (S. 640ff.). Angebliche Widersprüche können durch vernünftige Anwendung traditioneller hermeneutischer Regeln behoben werden; für Auferstehung und Jungfrauengeburt wird „Glaube“ gefordert (S. 635); in Sachen „Wunderwerke“ ist einerseits die sog. figürliche Redeweise der Hl. Schrift, andererseits die beschränkte Reichweite der Vernunft in Rechnung zu stellen (S. 637). Die Erörterungen über das Trinitätsdogma (S. 659ff.) sind traditionell: „[...] der Christen Lehre von Gott [ist] nicht wider die gesunde Vernunft, sondern ein Geheimniß“ (S. 663); der Gottmensch Christus ist gleichfalls ein „Geheimniß“ (S. 663f.). Zuvor war „Religion“ ganz allgemein in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Sozietät menschlicher Wesen so näher bestimmt worden, daß ihre funktionelle Leistung in der Herstellung der Verbindlichkeit bestehe, „die wichtigsten gesellschaftlichen Pflichten, wenigstens gegen ihre Landesleute und Glaubensbrueder“, zu beachten, „z.E. sich auch vom heimlichen Morde, Diebstahle, Ehebruche und falschem Zeugnisse zu enthalten“ (S. 556). Die Bindewirkung der Moral wird als theonom verbürgt vorgestellt; das ist zumindest der Normalfall, dem gleichwohl die ethnologischen Befunde insofern nicht immer entsprechen, als es auch Völker gibt, die keine Religion und die dieser zentrale Gottesvorstellung kennen.124 Die Anforderungen an eine solche Religion erschöpfen sich in den schon mehrfach genannten drei Fundamentalartikeln (Existenz Gottes mit den Eigenschaften „einzig“, „ewig“, „verständig“, „gütig“; göttlich veranlaßte Unsterblichkeit der Seelen; Gericht im Jenseits mit der Bilanzierung des irdischen Wandels nach Maßgabe von Tugend und Laster) (S. 556–558). Die Falschheit dieser Glaubensartikel ist für Basedow nicht erweisbar, ihre moralische Funktionalität hingegen bei hinreichender Erwägung auch ohne den philosophischen Sukkurs schulgerechter Demonstration wegen des sich zwingend einstellenden „moralischen Beyfall[s]“ eine jedermann zugängliche Erfahrung (S. 560). Eine solchermaßen „beglaubigte“ Religion erhält das Prädikat „wahre natürliche“. Sie ist zweifellos ein Kunst- bzw. Zivilisationsprodukt, das sich historisch nicht als originär nachweisen läßt: „Die uns bekannten Voelker haben allesammt, entweder keine Religion, oder eine nach ihrer Meynung geoffenbarte, oder endlich eine natuerliche, deren Saetze durch die geoffenbarte bestaetigt werden“ (S. 565). Die „wahre natuerliche Religon“ tritt demgemäß stets in Kombination mit einer geoffenbarten – z.B. also dem Christentum – auf, die jener als Bestätigung dient. Aus diesem Verhältnis, das eigentlich ein deutliches Abhängigkeitsverhältnis begründet, wird nun jedoch nicht gefolgert, daß auf ein derartiges Religionskonstrukt geradezu verzichtet werden könnte; vielmehr wird 124
[Basedow, Johann Bernhard], Vermaechtniß fuer die Gewissen. Fuer alle Gottesverehrer, auch die Nichtchristen. Ein Lehrbuch der natuerlichen Religion, auch zur Erinnerung und Erbauung. 2 Theile. Dessau 1774, hier Teil 2, S. 120; ders., Examen, (wie Anm. 119), S. 152ff.: Grönländer als Beispiel; so schon in der Altonaer Antrittsrede.
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die Möglichkeit offen gelassen, die „wahre natürliche Religion“ auch ohne eine Offenbarungsreligion zu propagieren (moralisches Selbstdenkertum).125 Auch diese Vernunftreligion, die man als Schwundstufe einer Offenbarungsreligion verstehen kann, ist für Basedow unbezweifelbar „wahr“. Sie hat gleichermaßen eine Restmasse an „Geheimnissen“, die mit Vernunftoperationen nicht ergründbar sind (z.B. das Dasein Gottes, die Providenz, das Seelenleben nach dem Tode: S. 571). Auf sich gestellt hat die natürliche Religion konstitutive Schwächen: (1) sie verfügt über kein unbezweifelbares Glaubensfundament (erst ein Offenbarungswissen kann die Zweifelsucht ihrer Anhänger definitiv beenden); (2) sie kennt das Institut des Gebets nicht; (3) sie ist wegen ihrer „abstracte[n] Denkart“ nichts für den „gemeinen Mann“: „Ohne Befriedigung dieses Triebes nach dem Wunderbaren, wird die natuerliche Religion schwerlich geschickt werden, eine unter dem gemeinen Haufen ausgebreitete Religion zu seyn“ (S. 597f.); (4) Probleme der Etablierung einer autonomen Moral; (5) Fehlen einer gottesdienstlichen Praxis (Liturgie: S. 599). Der Rundblick auf die europäische Welt in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit ergibt hingegen, daß alle „gesitteten“ Nationen christlich sind, allerdings mit konfessionellen Abweichungen untereinander (S. 603ff.). Die gemeinsamen Grundüberzeugungen lassen sich als „Universal=Christenthum“ harmonisieren. Basedow formuliert eine für ihn feststehende Überzeugung: [...] ich glaube, daß ausser der reinen Mathematik keine einzige fuer das menschliche Geschlecht interessante Wahrheit besser bewiesen, und vor allem scheinbaren Einwerfen gesichert sey, als die Wahrheit des Universal=Christenthums [...], weil sie die Maengel der natuerlichen Moral, sowohl ueberhaupt, als besonders durch das vollkommene Muster der Tugend Jesu Christi ersetzt (S. 607f.).
Bereits im Religionsdisput der Philalethie wird die Frage erörtert, wie es zugehe, „daß der Unglaube und der Zweifel heutiges Tages, auch so gar unter wohlgearteten Gemuethern, Ueberhand nimmt?“ (S. 664ff.). Der als „Christ“ ausgewiesene Dialogpartner diagnostiziert moralischen Verfall („Laster der Menschen“: Unzucht, gemeinschädliches Verhalten, Desinteresse am Christentum) als Ursache. Die natürliche Religion gilt ihm als manipulationsanfällig; die herrschende Philosophie begünstigt den Unglauben und lebt zugleich dem Wahn, mit dem Instrumentar der Mathematik Glaubensgewißheit für die natürliche Religion beschaffen zu können. Christliche Glaubenssätze entbehren dieser Schein-Gewißheit ohnehin. Da die Offenbarung angesichts dieser Konstellation keinen Kredit genießt, ist praktizierte Ungläubigkeit eine verbreitete Erscheinung. Wenig ansprechend ist hingegen das Treiben orthodoxer Gläubiger und ihrer Theologen. Die Erziehung der nachwachsenden Generation126 folgt nicht dem einzig wahren Stufengang: (1) 125
Basedow entschließt sich, in diesem Kontext die Begriffe „Deist, Atheist, Naturalist“ bewußt aus seinem Vokabular zu streichen, vgl. ebd., S. 568; ebenfalls ders., System, (wie Anm. 80), IV.2, S. 183. 126 Vgl. dazu auch bereits als kurze Zusammenfassung der Grundsätze: ebd., IV.2, S. 255–258.
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der vorgängigen „Erkenntniß der Werke Gottes“; (2) dem Fortgang zu den „verbindlichen Vermuthungen, die wir natuerliche Religion nennen“ und (3) dem Übergang zu Offenbarungswahrheiten (S. 667ff.). Es wird exklamiert: „Gott weis, ich schreibe aus Liebe zum wahren Christenthume“ (S. 671). Die falsche Religionspädagogik wird verheerende Wirkungen für das Christentum haben: Unglaube und Zweifel werden „wie die Pest wueten“: Die Zweifelsucht und ein selbsterdachtes Gesetz der Natur, wird bei Fuersten und ihrem Hofe, bey dem Adel und dem Kriegsstande, bey den Philosophen und weltlichen Gelehrten, bey vornehmen Buergern und den Aufwaertern der Unglaeubigen in die Stelle der christlichen Religion treten [...] (S. 672).
Die gläubige Prophetie vertraut auf die Selbstkorrektur und göttliche Prädestination in nachfolgenden Jahrhunderten. Für Kirche und Kirchenorganisation127 wird an die Obrigkeit appelliert, „die Hindernisse der politisch guten Religion, und den mit ihr streitenden Unglauben oder enthusiastischen Trieb [...] durch Gesetz aus dem Wege zu raeumen“ (S. 678). In der Bekenntnisschrift Haupt=Probe der Zeiten,128 die Basedows Plädoyer für einen liberalen und toleranten Religionsdiskurs in aller Breite exponiert, wird diese Zeitkritik nach den als Martyrium empfundenen Erfahrungen der letzten Jahre im Rahmen einer Selbstrechtfertigung und als lebensgeschichtliches Zwischenresümee erneut vorgetragen. Dabei steht für Basedow fest, daß das von ihm eingeleitete ideenpolitische Reformwerk fortgesetzt werden muß, um den durch Werteverfall eingetretenen Prozeß der Dekadenz zu stoppen.129 Gegen die Alternative der „Zerrüttung“ erhebt sich das zeitdiagnostische Lamento: „[...] der Naturalismus wird anwachsen und in einen moralischen Scepticismus ausarten, man wird kaum von der Keuschheit der Jugend und von der Treue der Ehen mit Ernste mehr reden duerfen“ (Vorrede). Insbesondere an die Eliten des Gemeinwesens – sie werden in einer späteren Schrift130 abermals als Hofleute, Adlige, „Bürger“, Militärs und Angehörige des Gelehrtenstandes identifiziert – ergeht die Mahnung, sich vom bequemen, unbefragten Opportunismus und Konformismus in Glaubensfragen abzu127 128
Grundsätzlich dazu (z.B.) auch: ebd., S. 258ff. Basedow, Johann Bernhard, Haupt=Probe der Zeiten in Ansehung der Religion, Wahrheitsliebe und Toleranz. Berlin 1767. 129 Vgl. dazu auch die Schlußpassage in: Basedow, System, (wie Anm. 80), S. 265f. 130 Basedow, Vermaechtniß, (wie Anm. 124), Theil 1; Vorrede, S. X. Gemeint sind sog. Konventionschristen, die zwar über eine Einführung in das Christentum verfügen – und also formell als Christen gelten – , ihr Christentum aber nicht eigentlich praktizieren (z.B. also tatsächlich die Unsterblichkeit der Seele und das jüngste Gericht nicht für eine Glaubenstatsache ansehen – „und also auch keine natuerliche Religion haben“: ebd., S. VIII). „Dieses Uebel wird, wenn man der natuerlichen Religion nicht aufhilft, in demselben Grade, als die Zahl der unter Christen lebenden Nichtchristen, zunehmen“ (ebd., S. X); hier auch ein Hinweis auf die beliebte Lektüre der gefährdeten Christen: Voltaire und Hume – Gefahren, die hieraus für das Christentum entstehen. Beklagt wird zudem der Umstand, daß die Irregeleiteten so gar nicht „mit eines Reimars und eines Jerusalems gruendlichen und weitlaeuftigen Schriften fuer die natuerliche Religion bekannt [werden]“ , vgl. ebd., S. IX.
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kehren. Der hier nur allgemein als Schreckgespenst benannte Komplex „Naturalismus / Skeptizismus“ hat später namentlich genannte Repräsentanten (Voltaire, Hume). Die von diesen Autoren ausgehende Versuchung hat für Basedow praktizierten Atheismus zur Folge. Damit die Grundsätze des Protestantismus in Gestalt einer entschiedenen Verpflichtung auf die Glaubenswahrheit und in bewußt angetretener Luther-Nachfolge wieder zur Geltung kommen können, muß die verantwortliche Glaubensdiskussion allerdings zuvor vom Konformitätsdruck der „Landesorthodoxie“ befreit werden. Hauptintention der eigenen Gedankenarbeit war es für Basedow in der Philosophie-Reform, „die fuer die natuerliche und geoffenbarte Religion wichtigen Schlußregeln aus der Analogie, aus der gehaeuften Wahrscheinlichkeit und aus der Glaubenspflicht in ihre Wuerde und Brauchbarkeit zu setzen“ (S. 35f.). Das vor diesem Hintergrund als gesichert erwiesene Glaubensbekenntnis sieht Basedow sodann in Übereinstimmung „mit dem alten und apostolischen Christenthume“ (S. 38). Das Christentum erscheint als „beste Religion“: „[...] so ist die christliche Religion mit den natuerlichen Erkenntnissen von Gott nicht nur in keinem Streite, sondern bestaerket und ergaenzet vielmehr dieselbe auf die allerbeste Art“ (ebd.). Folglich besteht die Aufgabe des Zeitalters darin, das apostolische Christentum zu restituieren, und zwar als Akt des Revisionismus wider den „Steifsinn“ der Orthodoxen (vgl. S. 39). Die bisher nachgezeichnete Gedankenfolge mag als wenig brisant erscheinen; zu bedenken ist allerdings, daß die Haupt=Probe der Zeiten neben der Rechtfertigung auch eine Selbstkommentierung eigener Schriften enthält, die an Eindeutigkeit des Selbstverständnisses nichts zu wünschen übrig läßt. Schon in seiner Soraner Zeit will Basedow „paradoxe“ Ansichten gehegt haben, die für seine Glaubensgenossen zumindest ungewohnt, wenn nicht geradezu „häretisch“ waren (als Beispiele eigenständiger Auffassungen nennt er die Positionsbestimmungen zur Ewigkeit der Höllenstrafen, der Trinitätslehre sowie der göttlichen Inspiration der ganzen Hl. Schrift: S. 110ff.). Dergleichen ereignete sich noch innerkirchlich, überschritt noch nicht die abgesteckten Zirkel des Christentums. Aus der „paradoxe[n] Freymuethigkeit“ (S. 121) ergab sich der „Anfang meines Widerspruchs gegen Kirchenlehren“ (S. 125), der den Übergang in eine religionskritische Phase einleitete, in der die im Grunde dem Christentum ganz wesensfremde spekulative Rationaltheologie, die der offenbarten Wahrheit des Christentums voraufliegt, in den Mittelpunkt der Reflexion tritt: „Die moegliche natuerliche Erkenntniß Gottes und die auf Voraussetzung solcher Wahrheiten gebaute Moral muß das erste seyn, und so wohl zum Verlangen nach einer wahren Offenbarung, als zur Beurtheilung derer angepriesenen [!] die Gemuether vorbereiten“ (S. 128f.). Eingestanden wird immerhin die partielle Übereinstimmung mit den von ihm so genannten Naturalisten (Tindal, Collins, Hume) – eine Sammelbezeichnung für Anhänger der natürlichen Religion und der Glaubensskepsis (S. 102). Das solchermaßen vertretene Christentum ist eindeutig deistisch getönt und in der absichtsvollen Reduktion auf
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interkonfessionelle Universalien ein Projekt Basedows, von dem dieser weiß, daß es für Orthodoxe keinesfalls konsensfähig ist: Der Beweis des Christenthums als der besten Religion, enthaelt nur, nebst der natuerlichen Erkenntniß Gottes, den Beweis des Universalchristenthums, das ist, derjenigen Lehrsaetze, ueber welche fast keine christliche Kirche mit der andern streitig ist, welche die Hauptsaetze des Christenthums ausmachen, und deren Bekenntniß als fuer eine christliche Gemeine zureichend waere (S. 176).
Basedows moderater Deismus – moderat deshalb, weil dieser komplementär die christliche Offenbarungsreligion anerkennt – 131 erfuhr nach der Philalethie, die eine erste Fassung seiner theoretischen Philosophie bot, im Grunde nur geringfügige Veränderungen; die Zweitfassung Theoretisches System der gesunden Vernunft stellt im ganzen lediglich eine konzisere, von Abschweifungen befreite Version dar. Die pädagogischen Hauptwerke (Methodenbuch, Elementarwerk) setzen ganz auf das deistische Grundkonzept und verbannen, sofern die institutionalisierte Sozialisation im Rahmen der überkonfessionellen Gemeinschaftsschule im Blick ist, die christliche Kinderlehre in die Privatsphäre des „Hauses“ (Erziehung wird höher gewichtet als [schulische] Unterweisung). Für Basedow war diese Konzeption widerspruchsfrei, denn wahre Religion war der natürliche Gottesglaube, der von den Christen als prophetisch und geoffenbart begriffen wurde. Vernünftige Nichtchristen konnten sich nicht als Gegner des „auf rechte Weise vorgestellten wahren Christenthums“ verstehen.132 Die Anhänger der natürlichen Religion haben vielmehr mit den Christen einen gemeinsamen Glaubensschatz, der als Bollwerk gegen das „groeßte Unglueck des menschlichen Geschlechts“ dient, nämlich zur Abwehr von Gottesleugnung, der Leugnung der Unsterblichkeit der Seele sowie der Leugnung des Jüngsten Gerichts. Maßnahmen zur Pflege und Ausbreitung der natürlichen Religion sind daher im gemeinsamen Interesse; ein „Tempel der allerheiligsten Providenz“ soll etabliert und zu universalreligiösen Andachten genutzt
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Charakteristisch u.a.: Pr. Phil. II2, 320 („Bey uns ist es weltkundig, daß nur in juedischen, christlichen und mahomedanischen Gemeinen der Inhalt der natuerlichen Religion mit Zusaetzen, und zwar als eine prophetische, und von Gott offenbarte Religion, gelehret werde. Alle andere Voelker sind Heiden, oder haben gar keine Religion“.). Vgl. von den zahlreichen Beiträgen Günter Gawlicks zum Thema z.B. seinen resümierenden Artikel Deismus, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (1972), Sp. 44–47 (nicht notwendig ist das Phänomen „Deismus“ unvereinbar mit Inhalten von Offenbarungsreligionen); ders., Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung, in: Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften (Hg.), Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein „bekannter Unbekannter“ der Aufklärung. Göttingen 1973, S. 15–43 (natürlich ist Basedow keinesfalls der radikalen Richtung zuzurechnen, die jede Offenbarung verwarf und eine selbstverantwortete Sittlichkeit vertrat); vgl. auch ders., Reimarus und der englische Deismus, in: Gründer, Karlfried (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Heidelberg 1989, (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 11), S. 43–54; von theologischer Seite (z.B.) den Überblicksartikel „Deismus“ von Gestrich, Christoph, in: Krause, Gerhard (Hg.), Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), S. 392–406. 132 Basedow, Vermaechtniß, (wie Anm. 124), S. XII.
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werden.133 Ganz in diesem Sinne ist das Elementarwerk bewußt so konzipiert, daß es, um seine kosmopolitische Mission zu erfüllen, auf die Anleitung zur Unterweisung in einer der bekannten Offenbarungsreligionen (Christentum, Judentum, Islam) verzichtet. Das könnte – als eigentliche Pointe – auf einen gerade für das Christentum glaubensfeindlichen Akt hinauslaufen; der Autor ist sich zwar in der Tat eines „gewissenhafte[n] Widerspruch[s] gegen geltende Lehren verschiedener Kirchen, auch der protestantischen“, bewußt, versteht sich jedoch ausdrücklich dennoch nicht als „naturalistischer Gegner des Christenthums“. Dieser Grundeinstellung entsprach die bei dieser Gelegenheit erklärte Absicht, baldmöglichst eine den eigenen religionspädagogischen Ansichten genügende Einführung in die Christenlehre nachfolgen zu lassen.134 Die drei Schriften, die Basedow in ungemeiner Produktivität im Jahre 1780 veröffentlicht hat,135 stehen ganz offenkundig unter dem für ihn aufwühlenden Eindruck der von Lessing herausgegebenen Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten, die Reimarus zum Verfasser hatten. Diese Autorschaft war den Zeitgenossen freilich unbekannt; Basedow aber hat – eine Mutmaßung, die er allerdings nicht in eine entsprechende Namensnennung auslaufen ließ – mit guten Argumenten zweifellos geahnt, wer der Verfasser der Fragmente war.136 Reimarus war sein alter Lehrer am Hamburger Akademischen Gymnasium und ein gerne bemühter Gewährsmann in Sachen „natürliche Religion“. Der Verfasser der Fragmente er-
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Ebd., S. XIIIf. Vgl. dazu die Nachbemerkung zum 4. Buch des Elementarwerks, (wie Anm. 90), Bd. 1, S. 443: („Deisten, Juden, Christen, Mahomedaner stimmen darin überein, daß dasjenige, was ich von der Religion in diesem Werke entschieden habe, nützliche und heilsame Wahrheit zum Besten einer jeden einzelnen Person und zum Besten ganzer Staaten sei [...]“). Basedow verzichtet auf die „geoffenbarte Religion“, kündigt aber zugleich ein Werk über das Christentum an. Das Christentum ist auch aus bloßen Vernunftgründen zu schätzen. Keineswegs wird die Position eines Naturalisten eingenommen (vgl. überhaupt S. 439ff.). 135 Ders., (1) Fuer forschende Selbstdenker: Lehren der Christlichen Weisheit und Zufriedenheit. Eine Folge des Friedens zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft. Christianopel in Alethinien [Leipzig] 1780; (2) Eine Urkunde des Jahrs 1780 von der Neuen Gefahr des Christenthums durch die scheinbare Semlerische Vertheidigung desselben wider den ungenannten Fragmentisten. Dessau 1780; (3) Vorschlag an die Selbstdenker des 19ten Jahrhunderts zum Frieden zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft. 2 Theile. Irenopel in Alethinien [Leipzig] 1780. 136 Vgl. dazu Vorschlag an die Selbstdenker, (wie Anm. 135), T. 1, S. 66ff. („Von den Fragmenten des Ungenannten, besonders wider Jesum und die Apostel“); der Verfasser der Fragmente erscheint Basedow als „geübter“ Philosoph und Kenner der „heiligen Sprachen und Antiquitaeten“. Die „Wolfsche Philosophie“ hat für den Skeptiker eine radikalisierende Wirkung gehabt. „Die Wolfische Philosophie gab also unserm Ungenannten seinen Gott [...]“: „Nun ward die demonstrirende Wolfische Philosophie [...] sein Lieblingsstudium“ (die biblischen Altertümer wurden (vergleichsweise) zum Nebengeschäft). Das nunmehrige „Nebengeschäft“ war – so darf man hinzufügen – am Hamburger Akademischen Gymnasium das eigentliche „Hauptgeschäft“ von Reimarus (Professur für orientalische Sprachen; philosophische Grundkurse – u.a. Logik – traten hinzu. Basedow vermutet im übrigen, daß der Verfasser der Fragmente bereits tot sei, (S. 72); Reimarus starb 1768.
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schien Basedow als „der beste der Deisten“ – 137 diese Einschätzung als Hauptautor des deutschen, ja des internationalen Deismus wird noch heute geteilt.138 Zugleich aber gaben die Fragmente wieder einmal Anlaß, den eigenen vertrauten Umgang mit der Philosophie seiner Zeit in der Weise zu resümieren, daß Demonstrationen mit dem Anspruch auf unumstößliche, „mathematische“ Gewißheit – eben das Erkenntnisprogramm des Wolffianismus139 – als letztlich unglaubwürdig und mißglückt zu gelten haben. Der philosophische Beweis der Unsterblichkeit der Seele wird so z.B. abermals als „unmöglich“ konstatiert. An sich selbst kann Basedow im übrigen die Überzeugungsarbeit von der „Goettlichkeit des Ursprungs der Christenlehre“ als vollzogen bekunden (vgl. S. Vff.). Neu ist – zumindest in dieser Eindeutigkeit – das Bekenntnis, Deist gewesen zu sein (S. 8; S. 75). Als Relikt dieser zeitweiligen Überzeugung macht sich das im Grunde vieldeutige Konglomerat aus Christentum und natürlicher Religion (Deismus) nach wie vor geltend – allerdings mit einer neuartigen Variante, die die Rationaltheologie als Ableitungsprodukt des Christentums versteht: Das „wohlverstandene Urchristenthum“ ist nichts anderes „als die Sammlung von denselben Lehrsaetzen, welche die weisesten Philosophen neuerer Zeiten aus dem Christenthume [...] herausgezogen haben“ (S. 18f.). Dieser Extrakt ist nicht als falsch erweisbar, aber auch nicht aus bloßer Vernunft herleitbar; allenfalls darf unterstellt werden, eine derartige Vernunftreligion sei gleichfalls „wahr“. Immerhin vermag Basedow für seine Person zu bezeugen, daß derartige „natuerliche Lehren“ bedingte „Zufriedenheit“ bedeuten können. „Seelenbeduerfnisse“ sind freilich zu allererst existenziell und daher naturgemäß nicht demonstrabel.140 Entsprechende Bedürfnisse vermag die natürliche Religion nicht zu befriedigen, sie ist „ein blosser Schatten, ein wahres Nichts“ und wegen ihrer „Kraftlosigkeit“ als „Volkslehre“ geradezu ungeeignet (S. 30ff.). Diese Erkenntnis markiert eine entscheidende Differenz zu Reimarus: „Ihm fehlte das Mistrauen gegen die natuerliche Religion“ (S. 78). Die Defizite der natürlichen Religion sieht Basedow durch das „apostolische Christenthum“ ausgeglichen (S. 79ff.). Das Neue Testament „[ist] eine Sammlung aller, der menschlichen Natur zu ihrer wahren Glueckseligkeit dienlichen Lehren, Warnungen, Troestungen“ (S. 87). Die alte widerspruchsfreie moralisch-religiöse Synthese sieht sich gerechtfertigt: „Nennt man die Sammlung aller fuer die menschliche Natur dienlichen Lehren, die natuerliche Religion: so ist das Urchristenthum nichts anders, als die von erleuchteten Wunderthaetern, vorgetragne, beglaubigte und noethiger Weise versinnlichte natuerliche Religion“ (S. 88). Basedow bekundet in diesem Zusam137 138 139
Ebd., T. 1, S. 3. Gawlick, Reimarus und der englische Deismus, (wie Anm. 131). Abermalige Kritik am Wolffianismus (z.B.): Vorschlag an die Selbstdenker des 19ten Jahrhunderts, (wie Anm. 135), T. 1, S. 96ff. (eingekleidet in eine literarische Fiktion). 140 Vgl. dazu ebd., S. 24 („Seelenbeduerfnisse“) und S. 242: „ Die reine mathematische und reine ontologische Erkenntnis hat im menschlichen Leben keinen Nutzen, wenn sie nicht vermischt ist mit solchen Erkenntnissen, welche wir nur durch die Sinne, durch den Glauben und durch das Vermuthen von dem Daseyn der Dinge erlangen.“
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menhang abermals, daß er „nach schweren und stuermischen Zweifeln“ „vor Jahren in den sichern Hafen des Christenhums“ gelangt sei, und zwar durch göttliche Führung (S. 91). Die natürliche Religion gewährt als philosophisches Kunstprodukt, das menschlicher Rationalität entspringt, keine letztverbürgte Sicherheit: Kurz, die natuerliche Religion, wenn sie auch erweislich waere, wuerde doch nur seyn, fuer Pythagoras und Socrates, fuer einen Wolf und Reimarus, nicht fuer die Fuersten, Minister, Generale, Hofleute, Handelsmaenner, Buerger und Bauern; nicht fuer den Menschen als Menschen; nicht fuer den Europaeer, als Europaeer; besonders nicht fuer den groeßten, und folglich achtbarsten, Haufen, und fuer die Jugend desselben (S. 143).141
Die „beste Religion“, deren „Hauptsache“ die Idee eines „kuenftige[n] wiedervergeltenden Lebens“ ist (S. 246), hat die zentrale Funktionalität in ihrer Kompetenz für „wahrscheinliche und practische Urtheile“ bei der Ausgestaltung der menschlichen Lebenspraxis. Als „Religionsphilosophie“ kann sie sich ganz auf das eigene, aufgeklärte Jahrhundert stützen und auf „Antiquitaetenstudien“ (S. 247) verzichten – eine überdeutliche Absage Basedows an die Fakultätstheologie seiner Zeit.142 Die Theorieproduktion Basedows, die im Jahre 1780 einen deutlichen Gipfel hat, weist zahlreiche Wiederholungen auf. Sie zeigt zudem erstmals eine gewisse Verunsicherung; die „rationale“ Rekonstruktion des Christentums gewinnt ein Übergewicht über die ständigen Rekapitulationen der Lehrsätze der natürlichen Religion. Lehren der christlichen Weisheit, die an forschende Selbstdenker adressiert sind, proklamieren zwar einleitend abermals die Überzeugung, der „philosophische Glaube“ sei als rationaler Gottesglaube den Glaubensvorstellungen aller Offenbarungsreligionen vorgängig (T. 1, S. 9), bekräftigen demnach insoweit altbekanntes Gedankengut. Der als „richtig“ apostrophierte Weg zum „guten Leben“, der über das „Vertrauen zu der Lehre Jesu und der Apostel“ führt, setzt aber eine konzentrierte Beschäftigung mit der christlichen Lehre voraus, soweit diese biblisch ausgewiesen ist. Dementsprechend werden Bibel-Nacherzählungen (AT, NT) geboten; der Inhalt des Christentums wird in Lehrsätze ausgemünzt (S. 159ff.); Bibelsprüche werden aneinander gereiht (S. 176ff.). Die Überzeugung 141
Zu Wolff als Deist: Gawlick, Günter, Christian Wolff und der Deismus, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Wolff (1679–1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983. (Studien zum 18. Jahrhundert 4), S. 139–147 (vgl. insbes. S. 142/44: 6 Punkte, die objektiv (nicht subjektiv!) für eine Wegbahnung in religionskritischer Hinsicht sprechen; es lag ein ambivalentes Verhältnis zum Deismus vor: „Die Tendenz, das Übernatürliche aus der Welt zu verbannen, ist bei Wolff spürbar; bei den Späteren wird sie dominant“ (S. 144); vgl. ferner (im gleichen Sammelband) Schneiders, Werner, Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff, S. 9–30. – Bereits in der 1. Fassung seiner Practische[n] Philosophie stellte Basedow die (rhetorische) Frage: „Wo ist die vollkommne natuerliche Religion? Vielleicht in einem Tindal, in einem Wolff?“, vgl. Anm. 59, S. 686. 142 Vgl. dazu Basedows Semler-Polemik, (wie Anm. 135), die von Hornig in seiner Semler-Monographie nur beiläufig notiert wird, vgl. Hornig, Gottfried, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996. (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 2).
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wird geäußert, die „gesunde Vernunft“ erkenne, daß die christliche Religion die „menschliche Glueckseligkeit“ bedeutet: „Denn es ist sonnenklar, daß das gemeine Beste vereinigter Menschen durch Ausbreitung dieses Glaubens wuerde befoerdert werden“ (S. 174). Da der Glaubensinhalt im Verständnis Basedows im wesentlichen aus Moral besteht, wird u. a. breit die sog. Sittenlehre Jesu referiert (T. 2, S. 228ff.). Abermals schließen sich persönliche Bekenntnisse an (S. 585ff.), die diesmal – wie das ganze Werk ohnehin – die Funktion haben, als „Lebensbeschreibung“ den intellektuellen Ertrag einer insgesamt problematischen Existenz darzubieten. Der gegenwärtige Text versteht sich im übrigen in der Hauptsache als irenisches Kondensat aus Protestantismus und Katholizismus – eine neue Version der Idee des „Universal=Christenthums“, die allerdings in dieser Umgebung nicht unter diesem Signum figuriert. Eine gewisse „Disharmonie“ der in älteren und jüngeren Schriften vorgetragenen Gedanken wird immerhin eingeräumt; Jahre der „stillen“ Arbeit haben jedoch zu einer gewissen Konsolidierung geführt. Die Zeiten der Glaubensunsicherheit, in denen nacheinander die Stationen des Luthertums, der atheistischen Skepsis, der wiedergewonnenen Christlichkeit sowie des Reformchristentums durchlaufen wurden, gehören der Vergangenheit an. Die Glaubensposition als „paradoxer Christ“ verfestigt sich als letzter Ruhepunkt.143 Das Examen in der allernatuerlichsten Religion aus dem Jahre 1784 stellt in weithin katechetischer Form Basedows letzten Versuch dar, die eigene Glaubenskonzeption in gültiger Synthese aus natürlicher Religion und Christentum vorzutragen. In der ihm eigenen Euphorie erscheint ihm sein Werk als „bester Sohn“ seines „Geistes“ (S. 14). Der Autor bekundet abermals, er sei „von Jugend auf“ „um der Religion willen“ daran interessiert gewesen, „einen jeden Winkel der Philosophie“ zu durchleuchten, wann immer er „etwas Brauchbares zu finden hoffte“; in diesem Buch sei er nun „ganz“, „was er zu sein vermag“ (S. 3). Fern jeder Bescheidenheit ist das Werk denjenigen gewidmet, denen die „Vormundschaft fuer die Menschheit“ übertragen ist; und das sind die Gelehrten am Schreibpulte, „wo zwey der schoensten und ehrwuerdigsten Schwestern, die jemals gewesen sind (und sich einander nicht entbehren koennen) – Vernunft und Offenbarung – ihnen bestaendig zur Seite stehen!“ (S. 14). Das Werk findet demnach sein Selbstverständnis in der mittlerweile bekannten Lebensthematik Basedows: dem Programm einer metaphysisch-theologisch aufgeklärten Lebenspraxis im Gewande der Popularphilosophie. Die Methode der Analogie-Beweise hat Plausibilitäten („practische Folgen“) im Blick; wem das nicht zureichende Gewißheiten verschafft, mag sehen,
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Vgl. dazu das folgende Lebensbekenntnis: „Der Scharfsinnige wird also [...] folgern, daß ich eine besondere Bestimmung gehabt habe, auf ungebahnten Wegen, Wahrheit und Glueckseligkeit fuer die Menschen zu suchen; ferner, daß ich in folgender Ordnung nach und nach gewesen sey, ein Lutheraner; ein atheistischer Zweifler; ein Naturalist; ein Wiederbekehrter zum Christenthume; ein paradoxer Christ, in zunehmendem Grade; ein innerlich geplagter Gruebler; ein aeußerlich geplagter und entweder gehaßter oder verlaßner Schriftsteller [...]“, vgl. Basedow, Fuer forschende Selbstdenker, (wie Anm. 135), hier T. 2, S. 588f.
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wo er bleibt und wie er im Leben zurecht kommt. An die Stelle der Argumentation tritt der barsche Sarkasmus.144 Die „Religionslehre“ – man beachte die Äquivokation „natürliche Religion / christliche Religion“! – wird „in einer nuetzlichen Bedeutung des Worts“ als „[d]iejenige Lehre von Gott oder von der Vorsehung, welche abzielt auf Bekraeftigung der Sittenlehre, und auf Troestung der Leidenden“ (S. 195), definiert. Bezugspunkt ist die als anthropogene Konstante den Menschen als Menschen auszeichnende „menschliche Natur“, die den utilitären Beurteilungsund Bewertungsmaßstab „einer jeden Religion“ abgibt (S. 199). Die Vernunftbasis ist aber allemal in der natürlichen Religion gegeben; an der Vereinbarkeit mit ihr bemißt sich deren „Nutzen“. Dieser ist im Falle der natürlichen Religion für das Gemeinwesen unmittelbar manifest, und zwar insbesondere durch jenen Glaubensinhalt, „der die Sittenlehre durch die Lehre von dem allvaeterlichen Gerichte ueber die unsterbliche[n] Seelen bekraeftigt“ (S. 201). Die Offenbarung der biblischen Texte setzt der „kluegelnde[n] Vernunft“ jedoch gebührende Grenzen (S. 243). In einem aufschlußreichen Vergleich wird der Christenlehre als „helle[s], fruchtbringende[s] Sonnenlicht“ die philosophische (natürliche) Religion als „Wachskerze“ entgegengesetzt (S. 314). Die Gemeinsamkeiten sind freilich offenkundig: Weder die christliche Offenbarungsreligion noch die Vernunftreligion sind im eigentlichen Sinne beweisbar; sie sind im „Glauben“ vor der Vernunft äquivalent. Der „Glaubensgrund“ (Basedow) ist somit identisch; insofern kann das Christentum – in letztlich allerdings paradoxer Übersteigerung – als „allernatuerlichste Religion“ zugleich Universalreligion sein.145 Andererseits enthalten demge144
Vgl. Basedow, Examen, (wie Anm. 119): „Die philosophisch behandelte natuerliche Religion“, S. 152ff. 145 Vgl. ebd., „Von den Christgenossen“ (S. 326ff.). „Christ=Genossen“ (Christianorum socii) heißen die Anhänger („Freunde“) der natürlichen Religion, die „falsche Kirchenlehren“ ablehnen (S. 327), wohl aber einen Gott glauben. Sie zeichnen sich durch ihre Nähe zu den Christen aus (S. 328). Vernunftgründe in Sachen des Glaubens haben freilich nur den Status des „Wahrscheinlichen“: „[...] so besteht der ganze philosophische Beweis der natuerlichen Religion in folgenden Puncten: 1) Die gesunderhaltne Vernunft verweilt sich gern bey der Untersuchung, ob sie wahr sey. 2) Sie hat nichts gegen die Bejahung einzuwenden. 3) Es deucht ihr auch (durch eine unentwikkelte Gewissens=Empfindung)[,] daß die Bejahung glaublicher sey, als das Gegentheil. 4) Und es dient in den meisten Umstaenden einem jeden Menschen, sie fuer wahr zu halten. Und nun muß die Vernunft (wenigstens die meinige) Punctum machen“ (S. 340). Die Erörterung läuft in die rhetorische Frage aus: „Ist das nicht die allernatuerlichste Religion, die sich sowohl nach dem Inhalte, als nach dem Glaubensgrunde und nach dem Eindrukke, fuer die menschliche Natur am besten schickt?“ (S. 343).– Es ergeben sich gewisse Analogien zu Kants Praktischer Philosophie, insbesondere zu seiner Religionsschrift (1793): z.B. das Statement: „Aber einem Teile nach wenigstens muß jede, selbst die geoffenbarte Religion doch auch gewisse Prinzipien der natürlichen enthalten“ (Kant, Immanuel, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1956ff.; Bd. 4, IV.1, S. 825) sowie im anschließenden Abschnitt IV.1.1. („Die christliche Religion als natürliche Religion“, ebd., S. 826ff.). Die „wahre Religion“ ist „reiner Religionsglaube“ („bloßer Vernunftglaube“), kein „Kirchenglaube“, der nur die Funktion eines „Vehikels“ zur Realisierung der Vernunftreligion haben kann. Der Offenbarungsglaube bedarf ohnehin der Auslegung auf einen „Sinn“ hin, „der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer Vernunftreligion zusammenstimmt“ (S. 771). Die Postulatenlehre Kants hat insofern gleichfalls bei Basedow eine Entsprechung, als seine
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mäß für Basedow die Evangelien (S. 296ff.) die „ganze natuerliche Religion“: „Die Sammlung ist so vollstaendig, daß ehe Etwas entbehrt, als zugesetzt werden kann“ (S. 307). Für eine derartige „allernatuerlichste Religion“ sprechen ihr Inhalt und Glaubensgrund sowie Einfluß und Wirkung auf die „menschliche Natur“.
VII. Die eigentliche Grundlegung der praktischen Philosophie, die vorgeblich in der theoretischen Philosophie geleistet wird, verdankt sich ganz offenkundig einem dezisionistischen Gestus: Befoerdere dein eignes wahre Beste, ist der erste moralische Grundsatz, der keines Beweises bedarf. Aus ihm und den anerkannten Eigenschaften Gottes, folgert man den zweyten Hauptsatz, nemlich: Richte deine Handlungen nach den Goettlichen Gesetzen ein, weil du sonst dein wahres Wohl nicht befoerdern kannst. Aus diesem folgt der dritte: Befoerdere die allgemeine Glueckseligkeit nach deinem besten Wissen, weil dieses das allgemeine Goettliche Gesetz ist. Legt man solche Gruende der Sittenlehre; so erkennt die gesunde Vernunft sie mit anschauendem Beyfalle für wahre Gruende; so wird die Bestimmung der Pflichten, nicht einem streitigen Geschmacke ueberlassen; so ist Selbstliebe, und Liebe des Ganzen in Uebereinstimmung; so bedarf man keiner Sophisterey, die Pflichten unter eine solche allgemeine Regel zu zwingen, die keine ist.146
Der Kontext dieser „Grundlegung“ der eigenen praktischen Philosophie ist eine Auseinandersetzung mit der „moral sense“-Philosophie, wie sie u.a. in der Moralphilosophie Hutchesons ihren Ausdruck fand. Der kritische Diskurs ist seinerseits eingebettet in die einleitende Bestandsaufnahme zur anthropologischen Ausstattung des Menschen, die Basedow in der Philalethie seiner theoretischen Philosophie vorangestellt hat. Diese umfangreiche Einleitung ist „Anthropologie“ überschrieben und figuriert im Theoretischen System der gesunden Vernunft als „philosophische Lehre vom Menschen“. Im Argumentationszusammenhang dieser rekonstruierend verfahrenden Dokumentation zum Trieb- und Instinkthaushalt des Menschen wird die Existenz eines „moralischen Gefühls“ nicht geradezu geleugnet, diesem aber nur ein Status als schwacher, instabiler „Instinct“147 zugesprochen.
praktisch wahren Sätze einen ähnlichen (erkenntnistheoretischen) Status in der Hinsicht haben, daß sie nicht eigentlich – im Stile der traditionellen Beweisverfahren der Metaphysik (Gottesbeweise etc.) – bewiesen werden können. Die natürliche Religion ist eine Moral, die als „vollständige Religion, die allen Menschen durch die eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann“ (S. 832), gelten darf. Der Offenbarungsglaube kann nie „vorgängig“ sein: „[...] die allgemeine Menschenvernunft [muß] in einer natürlichen Religion in der christlichen Glaubenslehre für das oberste gebietende Prinzip anerkannt und geehrt [werden]“ (S. 835). 146 Philalethie, (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 109; in ähnlicher Formulierung auch in Basedow, System, (wie Anm. 80), III.2, S. 63f. (unmittelbar voraufgehend: „Gott will die hoechste Summe der Glueckseligkeit, und folglich den belohnen, der diese Neigung nachahmt, den bestrafen, der ihr zuwider handelt. Dies ist sein Universalgesetz.“) 147 Vgl. dazu z.B. Basedow, System, (wie Anm. 80), S. 71ff.
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Hutcheson wird in diesem Zusammenhang mit seinem „moral sense“-Konzept nur deshalb diskutiert, weil er seine gesamte Moralphilosophie entsprechend konstruiert. Offenkundig wird ihm ein Moralprinzip unterstellt, das ausschließlich vorreflexiv und ohne jede Beimischung intellektueller Momente über den Wert von Handlungen urteilt, und zwar in reiner Emotionalität, mediatisiert durch einen „sensus innatus“. Ein derartiges angeborenes moralisches Gefühl entstellt nach Basedows Meinung den „Vortrag der Moral“ und wird daher grundsätzlich verworfen, weil die Basis für eine Moral solchermaßen überaus fragil ausfallen muß. Bildlich gesprochen ist die „geistige Zunge“ nicht das adäquate Organ bzw. Medium, das ohne eine „philosophische oder theologische Instruction“ zur Aneignung und Ausbildung einer Moral führen kann.148 In dieser Klarstellung deutet sich bereits an, daß die eigene Prinzipienlehre ungemein voraussetzungs- und folgenreich sein wird. Angesichts der Gegebenheiten 148
Hutcheson, dessen Moralphilosophie Basedow nach der Übersetzung von Lessing, Sittenlehre der Vernunft, (wie Anm. 63), zitiert (vgl. dazu z.B. Pr. Phil., S. 621: Lektürehinweis auf die Seiten 279–310: Hutchesons „Gotteslehre“, Optimismus-Konzept), will die „Natur“ des Menschen „ohne Huelfe einer uebernatuerlichen Offenbarung“ beschreiben (S. 41), geht aber dabei von einer göttlichen Schöpfungsordnung aus: „Gott hat durch die Einrichtung unsrer Natur, und durch das uns mitgetheilte moralische Gefuehl sattsam zu erkennen gegeben, daß er sich der Sache der Tugend, und der allgemeinen Glueckseligkeit annimmt“ (S. 314). Das „moralische Gefuehl“ (so übersetzt Lessing durchweg „moral sense“) hat – als menschliche Grundausstattung – die „natuerliche und unmittelbare Bestimmung, gewisse Neigungen und die daraus fließenden Handlungen zu billigen“ (S. 117f.). Es handelt sich um einen Naturtrieb, der zwar mit Bewußtsein (Vernunft) verbunden, jedoch im Ursprung vor-reflexiv ist: „Man kann von unmittelbaren Empfindungen, keine andern Beweise fuehren, als daß wir uns auf unsere Herzen berufen“ (S. 122). Das moralische Handeln beruht einerseits auf der „gebieterische[n] Gewalt“ der voll entfalteten moralischen Disposition, bedarf zudem eines angestrengten Impulses einer instrumentell verstandenen Vernunft und setzt andererseits die „Erkenntnis [...voraus], daß ein regierender Geist die Welt beherrsche, und daß es eine moralische Austheilung gebe“ (S. 146). Gemeint ist: Es gibt einen Gott und ein göttliches Gericht und damit Garanten der Seelenruhe. Nachahmung der moralischen Vollkommenheit Gottes stellt – als unerreichbares Ziel – die regulative Orientierung menschlichen Handelns dar (vgl. S. 194). – Basedow hat – und damit liegt er im Trend der deutschen Hutcheson-Rezeption, vermittelt über Lessings Übersetzung (vgl. dazu Leidhold, Wolfgang, Francis Hutcheson. Mensch, Moral und Politik, in: Kreimendahl, Lothar (Hg.), Philosophen des 18. Jahrhunderts. Eine Einführung. Darmstadt 2000. S. 87–103; hier S. 92f.) – das „moral sense“-Konstrukt zweifellos im Sinne einer „Gefühlsethik“ und damit in genauer Opposition zu einer „rationalen“ Konstitution der Moral (miß)verstanden (vgl. den Hinweis Leidholds auf Kants analoges Verständnis dieses (vermeintlichen) Sachverhalts). Die Rolle der Vernunft wird von Hutcheson instrumentell, aber sinnenbasiert gedeutet. „Zentrale Komponenten“ seiner Moralphilosophie stellen Liebe (agape), Moralsinn und Vernunft dar; Sprute, Jürgen, Der Begriff des Moral Sense bei Shaftesbury und Hutcheson, in: Kant-Studien 71 (1980), S. 221–237, betont das „Zusammenspiel von Vernunft und Moral Sense“ in der Bildung von moralischen Urteilen (vgl. S. 233). Sein Resümee lautet: „Wie mir scheint, dürfte man Hutchesons Auffassung wie derjenigen Shaftesburys am ehesten gerecht werden, wenn man sie als eine Theorie der Deutung moralischer Urteile zu verstehen sucht, die ein sowohl objektiv-naturalistisches als auch emotivistisches Gepräge zeigt“ (S. 237); vgl. dazu ferner Engbers, Jan, Der ,Moral-Sense‘ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001 (GRM-Beiheft 16), S. 141–146 (Basedow-Stellungnahmen zu Hutcheson; über Hutchesons Moralphilosophie: S. 19ff.).
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der conditio humana ist nämlich der Gesamtbestand an moralphilosophischen Überzeugungen und Traditionen unter Einschluß seiner theonomen Implikate in einem langwierigen, sich über Kindheit und Jugend erstreckenden Prozeß der Moralgenese in den Institutionen von Elternhaus und Schule zu vermitteln und vom Heranwachsenden zu erwerben.149 Die Pädagogik, die als Sammelbezeichnung für „Anweisung und Berathschlagung, wie jeder Theil der Erziehung, des Unterrichts und des Schulwesens nach und nach verbessert und zur Vollkommenheit gebracht werden könne“,150 in der 1. Ausgabe des Methodenbuchs zunächst noch in der Sprachform „Pädagogie“ und mit dem Synonym „Scholastic“ auftritt, hat hier ihren Ausgangspunkt.151 Diese Disziplin hat in Basedows Verständnis, eingeschränkt auf Erziehung und Unterricht im Kindes- und Jugendalter, den Charakter einer „ars“. Die „Kunst der Erziehung“ wird erst dereinst, wenn die entsagungsvolle und zeitraubende Aufgabe ihrer Zusammenstellung abgeschlossen sein wird, über einen Regelkodex zugehöriger Anweisungen und Ratschläge verfügen können.152 Das pädagogische Instrumentarium, das somit erst zukünftig im Prozeß der didaktischen Erfahrungskumulation komplettiert werden kann, dient dem sozialen Zweck, die der nachwachsenden Generation „von Natur“ anhaftenden kognitiven und moralischen Defizite sozialisierend abzubauen und solchermaßen die Sicherung und Fortentwicklung des erreichten zivilisatorischen Standards zu gewährleisten. Die im Anschluß an eine Zitatensammlung aus Rousseaus Emile und in erneuter Abgrenzung zu den Vertretern der Vorstellung eines angeborenen „moralischen Gefühls“ von Basedow im Methodenbuch formulierte Position operiert daher mit einem Natur-Begriff, der ambivalent gefaßt ist und der evaluierenden Anpassung an den Gesellschaftszweck bedarf. Die angeborene „Natur“ erfährt im Sozialisationsprozeß die erwünschten sozialen Modifikationen, die aus der Lebensum-
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Der religiösen Unterweisung („Instruction“), dem Religionsunterricht also, kommt demgemäß eine große Bedeutung zu; vgl. dazu Meiers, Kurt, Der Religionsunterricht bei Johann Bernhard Basedow. Seine Bedeutung für die Gegenwart. Diss. Phil. Saarbrücken 1969 (auch als unveränderte Buchveröffentlichung: Bad Heilbrunn 1971; mit weitem Horizont und systematischer Stoffdurchdringung); ferner Jansen, Marlies, Religionsunterricht und Sittenlehre philanthropischer Pädagogen (Basedow, Campe, Salzmann) als Konsequenz ihrer theologischanthropologischen Standorte. Diss. Paed. Duisburg 1978. 150 Vgl. dazu Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, in: Basedow, Johann Bernhard, Ausgewählte Schriften. Hg. v. Hugo Göring. Langensalza 1880, S. 13–125 (hier S. 92; vgl. auch S. 13, Anm. 1: Hinweis zur Sprachgebung; die Ausgabe von Göring folgt im wesentlichen dem Text der 3. Aufl. 1773). 151 Vgl. dazu auch den begriffsgeschichtlichen Beitrag „Pädagogik“ von Roessler, Wilhelm, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhard (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4 (1978), S. 623–647. 152 Vgl. dazu Pr. Phil. II2, S. 60f.; auch für Kant (Über Pädagogik, 1803) ist „alle Erziehung – eine Kunst“ (wie Anm. 145, Bd. 6, S. 703), die, um „Studium“ werden zu können, zuvor ihren „Mechanismus“ ablegen muß, um „Wissenschaft“ sein zu können (S. 704). Basedow und sein Philanthropin in Dessau werden mehrfach erwähnt. Um einen „systematischen Begriff von dem ganzen Zwecke der Erziehung“ zu gewinnen, ist Denkarbeit zu investieren (S. 734ff.).
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welt in Elternhaus und Schule in Gestalt „belehrender Eingriffe“ resultieren. Das Grundkonzept ist das einer graduellen Moralgenese, die nach einem festen Ordnungsschema in geregelter Sequenz aufzubauen ist.153 Aus anfangs egoistischen, auf „Selbstliebe“ fixierten Antrieben wird – unter schrittweise erweitertem Einbezug der sozialen Umwelt – ein moralischer Habitus der Person errichtet, der von Natur vorgegebene instinktive und durch „Belehrung“ erworbene reflexive Elemente in sich vereint und vorerst der durchgängigen Handlungs- und Urteilssicherheit durchaus (noch) entbehrt: irrtümliche Reaktionen bzw. Handlungseinstellungen als Folge fehlgeleiteter Nachahmungen in bestimmten Situationen und Bezügen bleiben möglich und bedürfen der Korrektur durch Eltern und Pädagogen. Erst vergleichsweise spät – eigentlich erst im Erwachsenenalter – ist „tugendhaftes“ Verhalten als normgerechtes Regelverhalten und gewünschtes Erziehungsziel eigenverantwortlich auf Dauer gestellt. „Tugend“ als verallgemeinerte Handlungsnorm muß durch Erziehung internalisiert werden und ist keine Naturausstattung im Sinne eines angeborenen „moralischen Gefühls“, das autogen das „vollkommenste Triebwerk unserer Moralität“ (S. 78) darstellte. Diese Naturanlage muß gleichwohl nicht völlig geleugnet werden; sie besitzt freilich nur die Qualität einer formbaren Anlage. Beim Aufbau der moralischen Person kommt es also primär darauf an, in einem von Eltern und Lehrern organisierten Übungs- und Lernprozeß Kriterien für die Bewertung von Handlungen unter dem Aspekt von „gut“ und „böse“ an die nachwachsende Generation zu transferieren. Die übermittelten Normen bedürfen, da sie für Basedow letztlich „vernünftig“ nicht begründbar sind, der göttlichen Sanktionierung: „Alle andern moralischen Lehrgebäude sind entweder höchst unvollständig oder auf einem sandigen Grunde gebaut“ (S. 79). Die Moralkonstitution durch ein naturgegebenes „moralisches Gefühl“ und / oder über die Annahme einer in gleicher Weise fungierenden gemeinmenschlichen „Sympathie“ ist in ihren Fundamenten „schwach“; erst „Religion“ vermittelt die „Stärke eines herrschenden Princips“ (ebd.). Der Verzicht auf eine religiös fundierte Sittenlehre bedeutet „Naturalismus“ und damit – in konsequenter Gedankenausrichtung – praktizierten Atheismus. „Moral sense“-Philosophen schaden daher (unbewußt) der „Religion“ (S. 80). „Religion“ fungiert als „Mittel“ irdischer Glückseligkeit (S. 131ff.). Im emphatischen Sinne ist daher „Unterricht“, und zwar insbesondere in der Religion, als sinnstiftendes Prinzip der Soziogenese ein „Hauptstueck der Philosophie“ (Pr. Phil. II 2, 103). Trotz der beschriebenen Unterschiede in der Bestimmung der Ursprünge der Moral ist jedoch zwischen Basedow und Hutcheson das Ausmaß der Übereinstimmung groß: die zeitübliche Pflichtentrias (Pflicht der Selbstliebe (Selbsterhaltung), Gemeinschaftspflichten (Gemeinwohl), Pflichten gegenüber Gott) gehört dazu, ferner die teleologische Orientierung auf im Wege der Tugendübung reali153
Basedow, Methodenbuch, (wie Anm. 150), S. 101f. („Abstammung der moralischen Erkenntniß“: 12 Positionen, die ein moralisches Minimum repräsentieren).
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sierte Glückseligkeit (Eudämonie). Beide Autoren sind zudem Vertreter der mainstream-Ideologie des sog. metaphysischen Optimismus, zu dessen Leitdogmen die Vorstellung von der Wohlordnung der Welt und der natürlichen Überlegenheit des Guten über das Böse sowie die These von der Welt als der besten aller möglichen zählen.154 Die Gewißheit der Zweckmäßigkeit der Welt, die in der göttlichen Providenz garantiert ist, wird in der natürlichen Theologie, dem Herzstück der theoretischen Philosophie Basedows und damit auch seiner praktischen Philosophie, entwickelt und in immer neuen Variationen in seinen philosophischen und pädagogischen Hauptwerken vorgetragen. Die praktische Philosophie speist sich aus diesem als deistisch identifizierbaren Dogmenbestand: Die natuerliche Religion hat nur drey Lehrsaetze. 1) Es lebt in Ewigkeit ein allmaechtiger, allwissender, höchstguethiger Gott oder Allvater. 2) Die menschlichen Seelen sind unsterblich. 3) Das Bestreben nach Tugend, wird von der Fuersehung Gottes mit überwiegenden Vortheilen der Seelen belohnt, und der Mangel derselben oder die Lasterhaftigkeit mit ueberwiegenden Nachtheilen bestraft“ (z.B. Pr. Phil. II², S. 170).
Als sog. Beweis wird u.a. in Anschlag gebracht, daß eine „unleugbare Gemeinnuetzigkeit dieser Lehrsaetze für das menschliche Geschlecht, fuer die Staaten, fuer die Familien, und einzelne Menschen“ gegeben sei (ebd.). Diesem genuinen Kernbestand seiner Vorstellungswelt hat Basedow die konzentrierte Aufmerksamkeit seiner Denkarbeit gewidmet und in vielen Anläufen den quasi-logischen Status einer Sammlung widerspruchsfreier, „wahrer“ Sätze zu verleihen gesucht. Für die Akzeptanz dieser sog. praktisch wahren Universalsätze reklamierte er in eigentümlicher Begriffswahl den Terminus „Glaubenspflicht“. Sieht man zunächst einmal von der Problematik der behaupteten „Logizität“ dieser moralphilosophischen 154
Vgl. dazu z.B. Basedow, System, (wie Anm. 80), IV.1, S. 135ff. – Die Konzeption eines „mundus optimus“, die in der Nachfolge von Leibniz z.B. von Wolff und seinen Anhängern vertreten wurde, stieß in der Thomasius-Schule, bei Crusius sowie im Umkreis der Berliner Akademie (Maupertuis) durchaus auf Opposition. Die Darstellung von Fonnesu, Luca, Der Optimismus und seine Kritiker im Zeitalter der Aufklärung, in: Studia Leibnitiana 26 (1994), S. 131– 162, plädiert für Differenzierungen (insbes. S. 142–162) und facettiert das Phänomen in seinen metaphysischen, existenziellen und anthropologischen Dimensionen. Aus der Krise der Theodizee und des Vorsehungsglaubens ging für Fonnesu „die für das Jahrhundert typische Aufmerksamkeit für die Natur und die Lebensbedingungen des Individuums“ hervor (S. 162). Für Hutcheson – anders als Hume – und Basedow gilt dies gerade nicht. – Vgl. zum Problemkomplex ferner Lorenz, Stefan, De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ ,Theodizee‘ und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997. (Studia Leibnitiana. Supplementa Bd. 31). Die „skeptische Grundstimmung“, die Lorenz „um 1760“ konstatiert, hat Basedow (noch) nicht erreicht (vgl. S. 181ff.); zu Hutchesons Moralphilosophie vgl. nunmehr Moore, James, Hutcheson’s Theodicy. The Argument and the Context of A System of Moral Philosophy, in: Wood, Paul (Hg.), The Scottish Enlightenment. Essays in Reinterpretation. Rochester 2000. (Rochester Studies in Philosophy, vol. 1), S. 239–266 (M. akzentuiert im Blick auf das Theodizee-Konzept die Sonderstellung dieser Schrift im Kreise der einschlägigen sonstigen moralphilosophischen Publikationen Hutchesons, die aber offenkundig nicht im Rezeptionshorizont Basedows lagen; eine entsprechende Beschränkung, die auf an sich gebotene Differenzierungen verzichtet, ist daher hier gerechtfertigt).
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Grundsätze ab, bleibt deren Funktionswert für ein Gemeinwesen bestehen, der in einem eigenen Unterkapitel155 als „bürgerlich gut“ bzw. „politisch gut“ spezifiziert wird. Von dieser natürlichen Religion heißt es sodann, sie sei „leichter“ zu vermitteln, „weil sie einen kleinern Inhalt hat, und weil ihre Wahrheit und Vernunftmaeßigkeit, von vielen ueberlieferten Religionen der gesitteten Voelker, und fast von allen Philosophen der neuern Zeit, bestaetiget wird“ (S. 170). Zweifellos liegt hier eine verblüffende Adaptation des Zivilreligion-Konzepts aus Rousseaus Contrat social (IV.8) vor156 – allerdings ohne Übernahme der rahmengebenden „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages“, aber unter Mitrezeption des Gedankens eines innigen Konnexes von Vernunftreligion und Gesetzesherrschaft. Entgegen dem (naheliegenden) ersten Anschein ist der Begriff „Glaubenspflicht“ kein genuin theologisches Lehrstück, und zwar weder der natürlichen noch der Offenbarungstheologie. Das Konzept findet sich durchweg in Basedows pädagogischen und philosophischen Schriften und wird dort gelegentlich mit dem kräftigen Selbstlob einer großen Ideeninnovation eingeführt.157 Am eigentlichen Ursprungsort, in der theoretischen Philosophie, wird „Glaubenspflicht“ im Kontext einer Behandlung der Wahrheitsproblematik thematisiert (z.B. Theoret. System., III.3, S. 67ff.), und zwar im Sinne einer erkenntnistheoretischen (Verlegenheits)Maxime angesichts der an sich dilemmatischen Situation, daß „strenge“ Kriterien für die Erweisbarkeit von Wahrheit (Gewißheit) nicht zur Verfügung stehen. „Scheindemonstrationen“ mit den Denkmitteln der zeitgenössischen Metaphysik (z.B. Apriorismus; „Formular“ vom zureichenden Grund; Satz vom Widerspruch etc.) will Basedow ja gerade nicht einsetzen bzw. als angemessene Problemlösungen anerkennen. Schlüsse aus abstrakten Begriffen erscheinen allemal als „unnuetze Grillen“ und führen im Extremfall nur zu dickleibigen Ontologien. Für das eigene – selbstbewußt nur deklarierte – empiristische Erfahrungskonzept steht ohnehin schon fest, daß „Realsaetze von der Existenz der Dinge [...], die nicht in die Sinne fallen, niemals aus bloßen Begriffen erweislich sind“ (S. 87). Die als üblich apostrophierte Korrespondenztheorie der Wahrheit („Uebereinstimmung der Gedanken mit den Objecten“: S. 79) wird gleichermaßen beiseite gesetzt. Base155
„Von Gesetzen in Ansehung der Religion“ (Pr. Phil. II2, S. 167ff.). „Zu ihrem [der natürlichen Religion, K. B.] Beweise dient, als ein einziger zusammengesetzter Beweis [....]“: (1) „unleugbare Gemeinnuetzigkeit dieser Lehrsaetze fuer das menschliche Geschlecht, fuer die Staaten, fuer die Familien, und einzelnen Menschen“; (2) „unleugbarer großer Nachtheil“ für diejenigen, die sie nicht kennen, leugnen bzw. bezweifeln; (3) „fast allgemeine Geneigtheit der Menschen, diese Lehrsaetze zu glauben, wenn sie gehoert oder gelesen und verstanden [...] und (nach erworbener Einsicht in ihre Gemeinnuetzigkeit, in die Zweckmaeßigkeit der Welt und in die Natur unserer Seelen) oft ueberlegt werden“ (S. 170). 156 Vgl. dazu Forschner, Maximilian, Rousseau über religion civile, in: Leidhold, Wolfgang (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 21–42. 157 Vgl. z.B. Basedow, System, (wie Anm. 80), III.3, S. 67ff.; ders., Methodenbuch, (wie Anm. 150), S. 147f.; Pr. Phil. I2, S. 273; ich versuche eine deutende Synthese, ohne jeden denkbaren Einzelnachweis.
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dows eigentliches Interesse findet hingegen eine pragmatische Wahrheitskonzeption, die „moralische oder practisch gewisse Wahrheiten“ (S. 78) fokussiert, deren „logischer“ Status allenfalls das Prädikat „wahrscheinlich“ zuläßt und deren (mindere) Gewißheits-Qualität als „Glaube(n)“ eingestuft werden kann. Diese Wahrheiten sind ausgezeichnet durch ihre Lebensbedeutsamkeit. Als „wichtige Wahrheiten“ sind sie qualifiziert, weil sie „heilsam“ auf den eudämonistischen Endzweck menschlicher Existenz, die zeitlich / überzeitlich im Gottesglauben verbürgte und sich als infinite moralische Vervollkommnung realisierende Glückseligkeit, bezogen sind. Die als „Mittel“ irdischer Glückseligkeit instrumentalisierte (natürliche) Religion geht in der Zeitlichkeit in ihrer Funktion für menschliche Moralität auf: „Religion [...], sofern sie praktisch ist [...], ist das einzige Princip einer vollständigen Sittenlehre [...]“.158 Moralisches Handeln, das unter Zeitdruck und unter kalkulatorisch zu bewältigenden Risikobedingungen steht, bedarf des entlastenden Widerlagers fundamentaler Annahmen, die im „Glauben“ an die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Vorstellung eines (jüngsten) Gerichts ihren Ausdruck finden. Diese Glaubensartikel tragen zur „irdischen Wohlfahrt“ bei (S. 132), dienen dem „wahren Besten“ und sind somit überhaupt Existentialien des menschlichen Zusammenlebens, das in der Glaubenstatsache eines providentiellen und richtenden Gottes seinen bürgenden Garanten hat: „Die Liebe der Sicherheit erfordert, allezeit so zu handeln, als wenn die göttliche Vergeltung gewiß wäre [...]“ (S. 134).159 Die als übermenschlich gedachte (göttliche) Gerechtigkeit, die als „Vergeltung“ verstanden wird, setzt die Fortexistenz der (menschlichen) Seele nach dem Tode voraus. Die Handlungsgebote für das irdische Leben („Zeitlichkeit“) sind göttlichen Ursprungs und begleiten das Menschendasein bis zum leiblichen Tode; dieser „liegt gleichfalls auf dem Wege der Vervollkommnung unserer unsterblichen Seele“ (Pr. Phil. I2, S. 198). Das ewige Heil verwirklicht sich „in progressu“ und erfordert somit die Idee einer „Zeit“ und „Ewigkeit“ umgreifenden Kontinuität der Person. Bei Basedow ist diese zeitübergreifende personale Perfektibilität konzeptionell durch die Verklammerung von Sätzen der Ethik mit solchen der (natürlichen) Theologie hergestellt. Anders als bei Kant liegt eine im Grundansatz theonome – in Kants Terminologie also „heteronome“ – Ethik-Begründung auf der Basis der (natürlichen) Theologie vor. Das von Basedow unterstellte handlungsleitende Sicherheitsdenken,160 das moralphilosophisch als Unsterblichkeits- und Gottesglaube ge158 159
Basedow, Methodenbuch, (wie Anm. 150), S. 79. Vgl. dazu bereits den § 89 der 1. Fassung der Pr. Phil., S. 665ff. („Von der Pflicht in Religionssachen zu glauben“); das Sicherheitsargument findet sich hier auf S. 673. 160 Die „Sicherheitsmaxime in Glaubenssachen (argumentum a tuto)“ wird von Kant in der Religionsschrift, (wie Anm. 145), spöttisch als prudentistisches Argument abgetan (Quintessenz: „es ist ratsam, lieber zu viel, als zu wenig zu glauben“ (ebd., S. 863)). In seinem Verständnis ist „moralische Gesinnung“ auf der Basis „reiner moralischer Grundsätze“ ohne Rekurs auf Offenbarungssätze das Primäre. Nach der Klassifikationstabelle im Analytikteil der Kritik der Praktischen Vernunft (wie Anm. 145, S. 153) wäre Basedows Moralphilosophie
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boten ist, stellt für ihn ein starkes, apodiktisch gewisses Antriebsmotiv zur Erlangung wahren Glücks (Glückseligkeit als ewiges Heil), und zwar als Strafvermeidung („Rechtfertigung“) vor der göttlichen Gerichtsinstanz, dar. Das Heil der Seele ist nur unter der Bedingung „gesichert“, daß eine übermenschliche (göttliche) Gerechtigkeit die prinzipielle „moralische“ Fragwürdigkeit menschlicher Existenz in ihrem (abschließenden) Richterspruch kompensiert. In funktioneller Hinsicht dient ein solcher Gott – der Gott der natürlichen Theologie und der einer entsprechend metaphysisch grundgelegten praktischen Philosophie – lediglich als „Quietiv“ (K. Barth) und als Tugendstimulans. All dies ist zweifellos eine Frage des Glaubens und der religiösen Überzeugung und insofern nicht Ausdruck einer innerweltlichen, säkularen, vernunftautonomen moralischen Motivation (Ethik).161 Das Theorem „Glaubenspflicht“, das originär der Reflexion über Wahrheitsbedingungen in der theoretischen Philosophie entstammt, auf dem Umweg über die Natürliche Theologie mit metaphysischen Referenzen (Gott, Unsterblichkeit, Gericht) versehen wird, um schließlich der praktischen Philosophie das normative Fundament zu bereiten, ist als Begriffskonstruktion gewiß befremdlich. Entfernt man die Referenzen, bleibt ein eigensinniger Terminus zurück, der die Assoziation nahelegt, ein repressives Potential sei in ihm virulent. Dabei kann man sich auf eine bereits zeitgenössische Rezeption berufen; denn schon Campe, der mit zwei weiteren Diskussionspartnern (Schlosser, Rhode) im Jahre 1788 über mehrere Nummern des Braunschweigischen Journals162 einen Dialog über die „Glaubenspflicht“ führte, empfand die Begriffsbildung als „widersinnig“ (S. 422f.) und unterstellte ein despotisches Prinzip (S. 420). Der Glaube gilt ihm, der als Protagonist einer „liberalen“ Position auftritt, als Gewissenssache, die keinen Zwang dulde. Gewissens- und Glaubensfreiheit erscheinen als das „theuerste und kostbarste wohl am ehesten als Unterfall des Prototyps „Crusius“, der als „theologischer Moralist“ figuriert, zu verzeichnen. Gottes Wille, ausgedrückt in seinen Geboten, bedeutet Fremdbestimmung (Heteronomie). Gott als Postulat der reinen praktischen Vernunft ist nicht der „Grund“ aller Handlungsverbindlichkeiten, „denn dieser beruht [...] lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst“ (S. 256). Gleichwohl postuliert Kant „in moralischer Absicht“ einen Vernunftglauben (Religion) mit Gott als „moralische[m] Welturheber“ (S. 278). In diesem Zusammenhang fällt ein Diktum, das geradezu als Replik auf ein zentrales Theorem der Basedowschen Praktischen Philosophie („Glaubenpflicht“) gelesen werden kann: „Ein Glaube aber, der geboten wird, ist ein Unding“ (ebd.). Der „Wert der Person“ gründet in verantworteter Moralität der Handlungen; kein Gott in seiner „furchtbaren Majestät“ darf handlungsbestimmend sein (S. 282). Die „Idee von Gott“ ist allererst „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“: „Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt ausserhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie“ („Beschluss“ der Metaphysik der Sitten (wie Anm. 145, S. 627ff.)). Der Geltungsbereich der Vernunftreligion als Moral ist innerweltlich und beschränkt sich auf die Relation „Mensch / Mensch(en)“. Die Beziehung „Mensch / Gott“ bedeutet einen Ausgriff in die Transzendenz und ist „schlechterdings unbegreiflich“ (S. 633). 161 Problematik des Unsterblichkeitspostulats: vgl. dazu Siep, Ludwig, Ethik ohne Unsterblichkeit?, in: Niewöhner, Friedrich (Hg.), Unsterblichkeit. Wiesbaden 1999. (Wolfenbütteler Forschungen 86), S. 115–126, mit Blick auf Kant und das von ihm proklamierte Unsterblichkeitspostulat vgl. S. 116ff. 162 Braunschweigisches Journal (1788), 1., 4., 9., 11., 12. Stück. (MF).
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Kleinod der Menschheit“ (S. 423). Der Ausdruck „Glaubenspflicht“, „den ein künftiger kleiner oder großer protestantischer Pabst dazu misbrauchen könnte, uns erst das Glauben überhaupt, dann seinen Glauben, erst zur Pflicht, dann zum Gesetz zu machen“ (ebd.), offenbart in diesem Begriffsverständnis einen neuen semantischen Aspekt, der bei Basedow nicht einbezogen war. Allerdings ist zu bedenken, daß die ganze Diskussion als Subtext zur beginnenden preußischen religionspolitischen Reaktion unter Friedrich Wilhelm II. und seinem berüchtigten Minister Wöllner mit anspielungsreichen Bezügen operiert.163 Am Ende ist die Übereinstimmung der Diskussionspartner insoweit wiederhergestellt, als nunmehr Basedow als Person164 vollauf exkulpiert ist; für Campe bleibt allerdings ein schaler Nachgeschmack, da für sein Verständnis „als-ob-Evidenzen“, die Schlosser durchaus mit Basedow konform als sinnvolle Lebensmaximen verteidigt, allemal nicht eigentlich „verpflichtend“ sein können (S. 406). Schlosser hingegen kann keinen – auch nur potenziellen – Glaubensmißbrauch erkennen, da Basedows Konzept keine religionspolitischen Implikationen der gemeinten Art einschließe, vielmehr nur individualethische Konsequenzen für das eigene Leben – im Sinne von: „jeder ist sein eigener Despot“ – haben solle (S. 424). Auch für Schlosser ist freilich „Glaubenspflicht“ in logischer Hinsicht „abentheuerlich“ (S. 425). Durchaus zutreffend identifiziert Schlosser die Basedowsche Glaubenspflicht als „eine bloß moralisch=natürlich=allgemeine Pflicht“ (S. 435).
VIII. Nach den bisherigen Ausführungen, die sich bewußt auf Basedows Philosophie und (Rational-)Theologie konzentriert haben, ist zuzugeben, daß sich insbesondere in der theoretischen Philosophie als Folge einer strikten Opposition gegenüber rationalistischen Systemen (Wolff als Prototyp) gewisse Veränderungen abzeichnen, die man verallgemeinernd als Metaphysik-Abbau verstehen darf. Unverkennbar ist zudem ein erkenntniskritischer Impetus, der mit einem eigenen Lösungsvorschlag, der Einführung des erfahrungsbasierten Analogie-Begriffs als Wahrheitskriterium, den als problematisch erwiesenen Begründungsstatus bestimmter
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Vgl. dazu eine entsprechende MF-Edition einschlägiger Quellen, die Dirk Kemper veranstaltet hat. Der zugehörige Begleitband trägt den Titel: Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788. 118 Schriften auf 202 Mikrofiches, hg. v. Kemper. Hildesheim 1996. – „Hier wurde nicht um eine begrenzte kirchenpolitische Maßnahme gestritten, hier stand vielmehr die preußische Aufklärungspolitik der letzten vierzig Jahre grundsätzlich zur Disposition“ (ebd., S. 60). Die Debatte zog sich etwa über 5 Jahre hin. Ein Zensuredikt (9.12.1788) versuchte früh die Unterdrückung der öffentlichen Erörterung. Die Wöllnerische Religionspolitik wird ausführlicher dargestellt, vgl. S. 97–111. 164 Äußerung von Campe: „dieser freie Denker“, (wie Anm. 162, S. 428f.).
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metaphysischer Theoreme (Gott, Unsterblichkeit) zu sanieren sucht.165 Das bedeutet aber z.B. keineswegs, daß diese Lehrstücke nunmehr als erledigt gelten können. Überdies kann nicht davon die Rede sein, daß sich Basedows Pädagogik unter dem Einfluß einer reformierten Philosophie zugleich aus dem Klammergriff der Theologie befreit; denn diese zeigt in Gestalt einer Konsenstheologie, der natürlichen Religion bzw. Theologie, eine geradezu dominante Präsenz.166 Insofern hat es sich regelmäßig als mißlich erwiesen, daß bei dem Versuch, Basedows Theorieproduktion historisch zu verorten, kaum je das Gesamtwerk mit seinen Schwerpunktbildungen in Philosophie, (Rational-)Theologie und Pädagogik in den Blick genommen wurde. Verbreitet ist vielmehr die Ausblendung insbesondere der für Basedow doch gerade charakteristischen Theoriefacetten philosophischer und theologischer Provenienz. Die genannten Disziplinen stehen zudem keineswegs unverbunden nebeneinander, sondern bilden einen lebensgeschichtlich formalen und einen gedanklich-konstruktiv materialen innigen Konnex. Gerade Arbeiten, die den Einsatzpunkt einer eigenständigen Pädagogik, die Anfänge von deren „wissenschaftlicher“ Autonomie, disziplingeschichtlich fixieren wollen, erliegen immer wieder der Versuchung, aus der Frontbildung gegen die Systemphilosophie des Wolffianismus, die als Auflösungsprodukt lediglich eine neue philosophische Zeitströmung, die Popularphilosophie, generiert, eine Entwicklung zum empirischkausalen und praxisorientierten Denken abzuleiten.167 Dabei wird dann gerne die rationaltheologische (deistische) Fundierung unterschlagen, die gewiß kein bloßes Ornament darstellt, sondern als ein sinngebendes Motiv von zugleich konstitutiver („metatheoretischer“) Bedeutung fungiert. Zwar mag es zutreffen, daß Basedow 165
Vgl. zu dieser Problematik allgemein Kutschera, Franz von, Vernunft und Glaube. Berlin / New York 1990. Kutschera formuliert die verbreiteten „Ergebnisse“ modernen Philosophierens, denenzufolge der Theismus „sich rational nicht schlüssig begründen [läßt]“, (ebd., S. 42) und die „Existenz Gottes, und damit die zentrale Behauptung des theologischen Glaubens, rein rational und schlüssig [sich] nicht widerlegen läßt“, (ebd., S. 61). Finalität und Funktionalität der Weltdinge, die über einen Analogieschluß auf einen Schöpfergott schließen lassen – die Charakteristika des sog. teleologischen Arguments – , finden eine überzeugende Kritik (vgl. S. 34ff.). Natürlich bleibt gültig, daß „sich Transzendentes“ im Erleben „vor allem in seiner sinn- und weltstiftenden Funktion“ zeigt (S. 212). 166 Vgl. dazu Wiater, Werner, Die Emanzipation der Pädagogik von der Theologie. Ein früher Versuch von Johann Bernhard Basedow (1724–1790), in: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung (1986), H. 27, S. 231–252. Gegen Aufsatzende wird sogar „eine Emanzipation der Pädagogik aus der Philosophie und eine Abgrenzung zur Theologie“ konstatiert (S. 251) – eine Deutung, die angesichts der vorgelegten Darstellung keiner Widerlegung bedarf. 167 Vgl. dazu Nieser, Bruno, Aufklärung und Bildung. Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der Aufklärung. Weinheim 1992. (Studien zur Philosophie und Theorie der Bildung 20). Der „innere Zusammenhang“ von Basedows theoretischer Leistung wird insgesamt zu sehr auf „Philosophie“ reduziert (vgl. ebd., S. 155f.); die Rationalismuskritik (insbes. am Systemdenken Wolffs) wird umstandslos als Trendwende „zum empirisch-kausalen und praxisorientierten Denken und im Streben nach Realitätsnähe“ gedeutet (vgl. ebd., S. 160). Verkannt wird, daß das Prinzip „Analogie“ zu allererst dazu dient, die „metaphysischen“ Gottesbeweise zu ersetzen – fürwahr keine besonders „empirische“ Intention!
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ohnehin als pädagogischer Theoretiker im Grunde weniger ergiebig ist, was immerhin so unterschiedliche Autoren wie Grube und Sünkel unterstellen.168 Wenig befriedigend ist – jedenfalls aus diesem Blickwinkel – andererseits eine Akzentuierung gerade der Bedeutung der pädagogischen Theorie und eine gleichzeitige Abwertung der theologischen Position der Spätschriften, die angeblich eine „Annäherung an eine pietistisch gefärbte Offenbarungsfrömmigkeit“ zeigen.169 Eine einleuchtende Lösung des Dilemmas ist gegeben, wenn mit Kersting konstatiert wird, daß der Philanthropismus insgesamt als vor-disziplinäre Phase der Pädagogik als Wissenschaft zu gelten hat und zudem darauf bestanden wird, erst der zweiten Generation der Philanthropen, den Autoren des Revisionswerkes, den Rang von unmittelbaren Vorläufern zu reservieren.170 Dann sind auch nicht ledig168
Vgl. dazu Grube, Kurt, Die Idee und Struktur einer rein-menschlichen Bildung. Ein Beitrag zum Philanthropismus und Neuhumanismus. Halle 1934. (Pädagogik in Geschichte, Theorie und Praxis Bd. 1). Der Hinweis auf Basedows theoretische Unergiebigkeit tritt freilich ganz vesteckt auf (S. 58, Anm. 123), hat aber durchaus Gewicht, weil Grubes Arbeit m.E. nach wie vor die beste Rekonstruktion der im Titel genannten bildungstheoretischen Konzeptionen darstellt; vgl. ferner Sünkel, Wolfgang, Zur Entstehung der Pädagogik in Deutschland. Studien über die philanthropische Erziehungsrevision. Münster 1970, masch. Habil-Schrift. Sünkel behandelt Basedow nur ganz beiläufig und eher abschätzig. Bezeichnend ist die Feststellung, daß alle Philanthropen durch ein „systematisches Desinteresse an der Philosophie“ auffallen (vgl. S. 27). Die Philanthropen sind für ihn zugleich „wenig tiefgründige Philosophen“ (S. 11). Damit mag die Frage nahe gelegt sein, ob nicht der Niedergang der Philosophie Bedingung für die Konstitution einer eigenständigen Pädagogik gewesen sei (vgl. 28ff.); vgl. ferner Oelkers, Jürgen, Die große Aspiration. Zur Herausbildung der Erziehungswissenschaft im 19. Jahrhundert. Darmstadt 1989. Oelkers vermag in Basedows „Elementarwerk“ keine „Pädagogik“ zu erkennen – „erst recht keine Begründung ihrer ,Wissenschaftlichkeit‘ “ (S. 30). Dagegen spricht für Oelkers gerade der Umstand, daß Basedows Erziehungspraxis „mit sehr weitreichenden theologischen und anthropologischen Theorien verbunden [ist]“: „Der Zusammenhang dieser umfänglichen und mühsamen Spekulation mit der handfesten, empirischen Methode geht weitgehend verloren“ (S. 31). Erst bei Trapp steht nach seiner Einschätzung der Erziehungszweck im Mittelpunkt „einer systematischen und säkularen Pädagogik [...], die einen dezidiert empirischen Wissenschaftsanspruch vertrat, ohne ihn freilich so recht einlösen zu können“ (S. 37). Im ganzen wird eben auch hier „weit mehr Erziehungsphilosophie als Erziehungswissenschaft“ geboten (ebd.). 169 Vgl. dazu Ahrbeck-Wothge, Rosemarie, Erfahrung und Sittlichkeit in J. B. Basedows Erziehungsphilosophie, in: Studien über den Philanthropismus und die Dessauer Aufklärung. Vorträge zur Geistesgeschichte des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises. Halle (Saale) 1970. (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1970/3 [A 8]), S. 7–54, hier S. 16; Ahrbeck-Wothge arbeitet Basedows Werk mit wirklich stupender Textkenntnis auf, setzt aber gelegentlich zweifelhafte ideologiekritische Akzente, die z.B. seine Pädagogik als „progressiv“, seine Theologie hingegen je länger je mehr als „regressiv“ erscheinen lassen, bes. ebd., S. 29. Im übrigen vermag ich nicht zu erkennen, weshalb das von Basedow propagierte Analogie-Prinzip, das doch tatsächlich ursprünglich und vornehmlich dem Zwecke dient, rationalistische Gottesbeweise zu substituieren (vgl. aber S. 15f.), besonders geeignet sein soll, den naturgesetzlich determinierten Weltzusammenhang „empirisch“ zu erklären. 170 Vgl. dazu Kersting, Christa, Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes ,Allgemeine Revision‘ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992. Basedow wird im Blick auf die „pädagogische Doxographie“ als sekundäre Figur im Konstitutionsprozeß einer sich professionalisierenden Pädagogik gesehen (S. 23), die 2. Generation der Philanthropen hingegen entsprechend aufgewertet (S. 31). Basedow wählte den – im ganzen desolaten – „monarchischen Weg“ pädagogischer Reformen (vgl. S. 46ff.). In die epochale Er-
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lich allgemeine, deklaratorische Emanzipationsbewegungen im Sinne einer Abkehr von der Philosophie (und / oder der Theologie) für die Konstituierung der Pädagogik als Wissenschaft hinreichende Vorbedingungen; problemanalytische Verfahren und die Bildung von Diskursgemeinschaften der Experten, die sich für den Autorenkreis des Revisionswerkes nachweisen lassen, gewinnen zusätzlich Relevanz. Das aber heißt im Falle Basedow, daß in seinem Werk wesentliche Voraussetzungen für die Konstituierung der Pädagogik als empirische Handlungswissenschaft noch nicht erfüllt sind. Basedow gehört damit eindeutig mit nahezu seinem gesamten Ideenbestand in die vorwissenschaftliche Phase der Pädagogik. Es ist daher geraten, Basedow unberücksichtigt zu lassen, wenn immer es darum geht, die Anfänge einer eigenständigen Pädagogik mit wissenschaftlichem Anspruch zu rekonstruieren. In materialer Hinsicht ist Basedows Pädagogik weithin lediglich eine Reprise seiner Philosophie und deren rationaltheologischer (metaphysischer) Implikate.171 So bietet das Elementarwerk, das in Basedows Selbstverständnis das vordringlichste pädagogische Reformdesiderat darstellte, in der Art eines Universallese- bzw. -lehrbuchs, von ihm auch „Schulenzyklopädie“ genannt, in den ersten fünf Büchern mit den Stücken Psychologie, Logik, Natürliche Religion und Sittenlehre nur eine Neubearbeitung der entsprechenden Disziplinen seiner theoretischen und praktischen Philosophie. Auf die einschlägigen älteren Arbeiten wird auch ausdrücklich Bezug genommen, belegen sie doch nachhaltig die eigene Kompetenz. Ferner heißt es, „alle übrigen Teile der Philosophie (ob man gleich die gewöhnliche Form nicht sieht)“, seien gleichermaßen von ihren Elementen an bis ans Ende der gemeinnützigen Subtilitäten so bearbeitet [...], daß auch ein zum Studieren gewidmeter junger Mann, wenn er durch gute Lehrer im Gebrauche des Elementarbuches geübt ist, nur des Bücherlesens und des Nachdenkens, nicht aber eines Lehrers bedarf, bis an die äußersten Grenzen des gemeinnützigen philosophischen Denkens zu kommen.172
Ebendies waren, wie man sich erinnern wird, die Zielsetzungen der ausführlicher charakterisierten philosophischen Hauptwerke. Die philosophische Substanz wird für beide Teile der Philosophie – am Ende des 5. Buches für die praktische, am Schluß von Buch 9 (bzw. 10) für die theoretische Philosophie – resümierend klassifiziert. Die Schlußbemerkung des Gesamtwerks bringt es unter dem Rubrum „Begriff von der ganzen Philosophie“ abermals unzweideutig auf den Punkt: folgsbilanz, derzufolge die „Pädagogik [...] als rationale, finale Handlungswissenschaft an Profil [gewann]“ (S. 128), läßt sich Basedow jedenfalls nicht mit Fug einordnen. Vgl. dazu Stach, Reinhard, Das Basedowsche Elementarwerk. Seine Geschichte, Eigenart und pädagogische Bewertung zum 200. Jahre seines Erscheinens, in: Paedagogica Historica 14 (1974), S. 454–496. Stach akzentuiert einerseits den wechselseitigen Bezug der Disziplinen Pädagogik, Philosophie und Theologie (vgl. S. 460f.); andererseits wird diese Mehrdimensionalität seines Werkes aber nicht näher analysiert; die nicht-pädagogischen Schriften stellen angeblich nur eine „Stoffsammlung der für die einschlägigen Kapitel und entscheidenden Fragen des Elementarwerks zur Pädagogik, Logik, Sittenlehre und Religion“ dar (ebd.). 172 Vgl. dazu Basedow, Elementarwerk, (wie Anm. 90), Bd. 1, S. XLVII. 171
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Man wird aus dem Vorigen sehen, daß außer den mathematischen Wissenschaften, das Elementarwerk alles aus der Philosophie enthalte, was den meisten Lesern gemeinnützig ist, durchzudenken, von Zeit zu Zeit zu wiederholen und bei gewissen Umständen nachzuschlagen.173
Mehr als eine philosophische Allgemeinbildung zur Bewältigung der alltäglichen Lebenspraxis wollte Basedow nicht vermitteln; auch die akademische Philosophie – und dies durchaus in einer von der Sache her gebotenen erkenntniskritischen Selbstbeschränkung – sollte auf ein popularphilosophisches Minimum reduziert werden. In dieser lebensweltlichen Zielsetzung fand das utilitär motivierte philosophische Raisonnement sein Genüge.
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Ebd., Bd. 2, S. 469ff., Zitat S. 472.
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Versuchschule vor zweihundert Jahren Ein Besuch am Dessauer Philanthropin Meine Reise in die Vergangenheit begann an einem spätsommerlichen Septembermorgen in Dessau, einer Stadt mit etwa 10 000 Einwohnern, nahe der Mündung der Mulde in die Elbe gelegen.1 Der Besuch des Philanthropins war mit dem für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Direktor Wolke brieflich vereinbart worden.2 Da die Schule vor einigen Monaten (sechs Jahre nach ihrer Eröffnung) in das Dietrichsche Palais in der Zerbster Straße umgezogen war, konnte ich sie von meinem Gasthof aus in wenigen Minuten erreichen. Der ehemalige Palast des Fürsten Dietrich war der Schule geschenkt worden und besteht aus einem Hauptgebäude mit zwei Seitenflügeln; die weißgrauen, mit schwarzer Quaderzeichnung angemalten Gebäude schließen von drei Seiten einen Garten in ihrem Inneren ein. Bevor man das Hauptgebäude betritt, überquert man einen großen grünen Platz, auf dem Linden wohltuenden Schatten spenden. Kurz nach neun Uhr, also eine Stunde nach Unterrichtsbeginn, war ich vor der Schule. Zunächst begegneten mir etwa 20 Jungen im Alter zwischen 8 und 12 Jahren. Sie hatten nicht, wie allgemein üblich, frisierte und gepuderte Perücken und steife Kleider an, sondern trugen rundes, abgeschnittenes Haar, offene Kragen, einfache graue Jacken mit blauen Aufschlägen und Kragen; auf den Köpfen hatten sie leichte weiße Hüte mit einem blauen Band. Zwei junge Männer, in gleicher Weise gekleidet, waren bei ihnen; ich hielt sie für Lehrer, obwohl sie auch ältere Brüder von Schülern hätten sein können. Lehrer und Schüler waren gerade beim Ballspiel. Als ich ihnen eine Zeitlang zugeschaut hatte, forderten sie mich auf, mit ihnen das Nachahmespiel zu spielen. Ich war überrascht, wie selbstbewußt und unbefangen die Kinder mit mir als Fremden umgingen. Später erfuhr ich, daß körperliche Erziehung und Handfertigkeitsunterricht mehrmals täglich (maximal von 910 Uhr; 1314 Uhr; 1820 Uhr) angeboten werden. Wenn es das Wetter zuläßt, gehen die Schüler sehr oft in das „Wellenbad an der Mulde“ bei der herzoglichen Mühle; im Herbst lassen sie ihre selbstgebauten Drachen steigen; im Winter gibt es Schneeballschlachten, Schlittschuhlaufen und Schlittenfahren. Für den Fall, daß das Wetter nur Beschäftigungen im Haus zuläßt, wurden über 40 Spiele (meist 1
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Der nachfolgende Text wurde nur leicht modifiziert bereits an einer für die Philanthropismusforschung entlegeneren Stelle publiziert: Beck, Johannes / Heiner Boehnke (Hg.), Jahrbuch für Lehrer 5 (1981), Pädagogische Alternativgruppen, Schule in der Region, Schulkörper. S. 343–355. Der Ideal-Entwurf des Dessauer Philanthropins von Daniel Nikolaus Chodowiecki aus dem Jahr 1771 ist abgebildet in: Schmitt, Hanno / Tosch, Frank (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Berlin 2001, S. 128.
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Lernspiele) gesammelt oder selbst erdacht. Nach dem Mittagessen spielen die Schüler abwechselnd Billard oder gehen in den Handfertigkeitsunterricht, wo ihnen ein Dessauer Handwerksmeister Grundkenntnisse im Tischlern, Drechseln, Schmieden, Lackieren, Buchbinden, Kupferstechen und weiteren handwerklichen Künsten beibringt. Beim Zeichen der Glocke, pünktlich um 10 Uhr, gingen Lehrer und Schüler recht zwanglos in das Hauptgebäude. Dort trafen sie auf die übrigen Philanthropisten, die gerade technisches Zeichnen, Musik oder Tanzen geübt hatten. Alle 53 Schüler der Schule verteilten sich nun in verschiedene Fachkurse: zwei französische, drei lateinische und einen kaufmännischen. Ich wurde von dem mir schon brieflich bekannten Direktor Wolke begrüßt und in seinen Unterricht mitgenommen. Von 10–12 Uhr unterrichtet er täglich in dem untersten von drei lateinischen Kursen. – Auf dem Wege zum Klassenzimmer erklärte mir Wolke, daß man seit einem Jahr von der Zuordnung der Schüler in drei feste Klassenverbände (eine Klasse für die kleinen Philanthropisten, zwei für die großen: für zukünftige Studierende und für zukünftige Kaufleute) abgekommen sei. Zwar werde in Erziehungsfragen noch die Zweiteilung von kleineren und größeren Schülern beibehalten, für die Gestaltung des Lehrplans spiele der Altersunterschied aber keinerlei Rolle mehr. Man differenziere jetzt lediglich nach den Wünschen und Neigungen der Schüler und ihrer Eltern sowie dem jeweiligen Lernstand. Wolke, vierzigjährig, groß, im Gesicht sehr hager, aber freundlich und väterlich wirkend, betrat in meiner Begleitung das Klassenzimmer. Als erstes fiel mir auf, daß die zwölf Schüler, die so zwischen 8 und 12 Jahre alt sein mochten, noch nicht auf ihren Bänken saßen. Basedow – der Schulgründer – war gegen den absolutistischen Schulzwang und hatte den Schülern das Stehen, Gehen und Bewegen während des Unterrichts in dem pädagogischen Grundsatzprogramm der Schule erlaubt; nur zum Schreiben, Zeichnen und Lesen sollten die Schüler sitzen. Kritik in der Presse und von den Eltern an dem, wie man zuweilen schrieb, „anarchistischen“ Schülerverhalten haben dazu geführt, daß die Lehrer des Philanthropins jetzt etwas stärker auf Disziplin sehen. – Die Schüler begaben sich auf ihrer Plätze. Wolke begann den Unterricht mit einem Spiel. Zunächst gab er, später auch reihum jeder Schüler, auf lateinisch die Anweisung, Stimmen bestimmter Tiere nachzumachen. Darauf brüllte der ganze Kurs wie Löwen, krähte wie Hähne, miaute wie Katzen, bellte wie Hunde usw.; die Schüler hatten natürlich einen ungeheueren Spaß dabei. Anschließend spielte man „Namenerraten“. Wolke fragte die Schüler, welche Vierfüßler, Vögel, Fische, Insekten usw. sie kennen. Die Schüler antworteten hintereinander mit entsprechenden lateinischen Begriffen; wußte ein Schüler keines der gesuchten lateinischen Wörter, so durfte er auch deutsch antworten. Die gefundenen Begriffe schrieb Wolke geordnet nach Sachgruppen an die Tafel und erzählte dabei – wenn immer möglich auf lateinisch – von der Anatomie und von den Lebensgewohnheiten der Tiere in der Natur.
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Der wesentliche Grundsatz von Wolkes „Versinnlichungsmethode“ (diese wurde auch von den übrigen Lehrern im Englisch- und Französischunterricht angewandt) besteht darin, daß der Lehrer – soweit sinnvoll – in der fremden Sprache redet und den Schülern den Inhalt des Gesagten sinnlich faßbar zu machen versucht. Diese Methode konnte ich nun auch bei der unterrichtlichen Arbeit mit dem Elementarwerk beobachten. Dieses wichtigste Veranschaulichungsmittel der philanthropischen Pädagogik (bestehend aus 100 Kupferstichen mit 269 Einzelbildern) versucht, Natur und Welt, Kultur und Gesellschaft ganzheitlich in Bildern darzustellen. Wolke hat selbst sechs Entwürfe für Kupfertafeln gezeichnet (die übrigen stammen hauptsächlich von dem berühmten Berliner Kupferstecher Chodowiecki) und methodische Hinweise für den Gebrauch der Bilder im Unterricht veröffentlicht. Zunächst bekamen die Jungen ein Bild aus dem Elementarwerk gezeigt (vgl. Abb.). Wolke gab sodann ausgiebig Zeit zum Anschauen und Nachdenken über das Bild. Schließlich entwickelte er, häufig in deutscher Sprache, u.a. folgende Fragen: Seht das kleine Kind an der Mutter Brust, was macht es? Was macht die Mutter? Seid ihr alle so klein gewesen wie der Säugling? Ich auch? Wodurch sind wir größer geworden? Woher haben wir Speise und Trank bekommen? Was ist man denen schuldig, die uns von Anfang unseres Lebens an unterhalten haben? Was muß man nachher, wenn man größer wird, tun, um seinen Unterhalt zu erwerben? Müßt ihr dies auch tun dereinst? Wie wollt ihr das anfangen? Was muß man tun, um gut zu lernen? Wie muß man lernen?
Ich war erstaunt, mit welch ernsthaftem Eifer die Schüler mitarbeiteten. Besonders interessant fand ich das Gespräch über Herrschaft und Knechtschaft sowie die ständige Gliederung der Gesellschaft (vgl. Text zur Abbildung). Das Bild ist im Original 21 cm lang und 15 cm hoch. In einer 1780 erschienenen Erklärung heißt es u.a.: Bei dem Dienstmädchen leitet man die Unterredung auf dienen und herrschen, befehlen und gehorchen, Unterschied der Stände, gegenseitige Pflichten der Dienstboten und Herrschaften; Erzählungen von guten und schlechten Domestiken, und wie es ihnen gegangen; Beispiele von Kindern, die guten Bedienten schlecht begegneten und wie es ihnen gegangen: Verhältnis der Kinder gegen das Gesinde; Unterschiede der Kleidung des Dienstmädchens und der Mutter; woher er komme. Niemand muß sich über seinen Stand kleiden. Niemand muß mehr ausgeben, als er einnimmt. (vgl. Anm. 8).
Wohl zur Entspannung durften die Jungen gegen Ende der Doppelstunde (man hält sich im Philanthropin nicht sklavisch an die Aufspaltung der Fächer) ihre selbst verfaßten deutschen Aufsätze, Erzählungen, kleine Reiseberichte, Fabeln und Briefe vorlesen. Wolke achtete auf eine unaffektierte Ausdrucksweise und besprach wie nebenbei logischen Aufbau, stilistische und sprachliche Fragen der Schülerarbeiten. Später erfuhr ich, daß die Lehrer die Themenwahl und auch die literarische Form vorwiegend den Schülern überlassen. Nach einer verbindlichen Absprache mit dem Lehrer muß der Schüler aber bei der selbst gestellten Aufgabe bleiben und sie auch im Normalfall innerhalb einer Woche bewältigen.
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Zehn Minuten vor zwölf, beim Zeichen der Glocke, wurde der Unterricht beendet. Die Schüler verließen aber nicht das Klassenzimmer, sondern wir hielten alle zusammen „Mora“, die Ruhe- und Nachdenkpause. Im Philanthropin essen Lehrer und Schüler gemeinsam. So gingen auch wir nach der Mora zusammen in den geräumigen Speisesaal im Obergeschoß, der auch als Tanz- und Gymnastiksaal genutzt wurde, und setzten uns an einen langen Tisch, so wie man ihn in Bauernhäusern findet. Es dauerte nicht lange, bis die Tischgesellschaft vollständig war und das Mittagessen beginnen konnte. Das Essen wurde aufgetragen, und wir begannen, ohne Tischgebet zu essen. Da es Werktag war, gab es kein Fleisch, sondern zwei kräftige vegetarische Speisen. Die Gespräche zwischen Lehrern und Schülern schienen mir völlig ungezwungen, man aß ohne steife Etiquette, aber auch ohne den sonst in größeren Schülergruppen üblichen Unfug. Nach dem Essen nahm ich mir in Begleitung eines Schülers etwas Zeit für einen Rundgang durch das Palais, während die übrigen Schüler zum Handfertigkeitsunterricht gingen. Zunächst schauten wir nur kurz in das Fechtzimmer und den kleinen Theaterraum, dann gingen wir direkt in den Wohnflügel. Hier wohnen die meisten Lehrer und Schüler; auch Direktor Wolke hat dort mehrere Zimmer. Alle unverheirateten Lehrer leben jeweils mit einer Schülergruppe (ca. 9 Personen) in einer Wohneinheit von zwei bis drei Zimmern zusammen. In den von uns besichtigten großen, luftigen Räumen fiel zunächst die peinliche Ordnung und Sauberkeit auf. In einem Zimmer jeder „Wohnung“ steht ein großer Tisch, an dem jeder Schüler einen eigenen Arbeitsplatz hat. Die Schlafzimmer wirkten auf mich spartanisch: Bettgestelle mit harten Matratzen und Decken – aber ohne Federbetten – stehen in Reih und Glied; auch hat jeder Schüler ein Kleiderschränkchen, in dem er selbst Ordnung halten muß. Mein junger Begleiter erzählte mir voller Stolz, daß er gerade eine Woche lang abends die Aufsicht habe, d.h. er muß dem Lehrer darüber Bericht erstatten, ob alle Zimmergenossen ihre Sachen geordnet, sich gewaschen haben und zur rechten Zeit im Bett liegen. Durch seinen Bericht wurde ein früherer Verdacht von mir bestätigt, daß die Philanthropisten niemals ohne Aufsicht ihrer Erzieher gelassen werden. Der totale Erziehungsanspruch gab mir zu denken. Den Philanthropen erscheint, so wurde mir jedenfalls auch bei späteren Nachfragen immer wieder versichert, ihre Lebensform nicht problematisch. Anschließend gingen wir in den „Goldenen Saal“, in dem Konzerte, der „Senat“ und die Lehrerkonferenzen stattfinden. Dort hängen die Bilder des Schulgründers Basedow, Direktor Wolkes und weiterer Lehrer und Gönner des Philanthropins. An den Wänden stehen Schränke, die eine kleine Bibliothek und eine Lehrmittelsammlung enthalten. Die von Freunden der Schule gestifteten Unterrichtshilfen bestehen u.a. aus einer großen Anzahl von Kupferstichen, die im Sprachenunterricht und auch im Zeichnen Verwendung finden. Ich besah mir besonders die naturwissenschaftliche Sammlung. Zur Botanik fand ich neben Bildern zwei außerordentlich reichhaltige Herbarien und ein Mikroskop. Für den Geographieunterricht gab
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es Karten, Erd- und Himmelskugeln sowie ein Fernrohr. Mein Begleiter erzählte mir zusätzlich von dem kleinen Observatorium in einem Turm des Nebengebäudes, wo zuweilen der Astronomieunterricht stattfinde. Sehr interessant fand ich die Modelle für den Physikunterricht. Die „Elektrisiermaschine“ (ein Generator) ist allgemein bekannt; auch einen Kran mit Flaschenzug hatte ich im Original schon gesehen. Neu war für mich jedoch ein Modell zur Veranschaulichung des Blitzschlags.3 Man kann den Blitzableiter abstellen und dann mit Hilfe eines elektrischen Funkens ein kleines Feuer durch Entflammung von Äther im Kirchenschiff erzeugen. Schon vor meinem Besuch hatte ich von der Abschaffung roher und entwürdigender Schulstrafen am Philanthropin gehört. Es war mir aber nicht klar, welche Erziehungsmittel an ihre Stelle getreten waren und welche Funktion der im besuchten Raum regelmäßig stattfindende „Senat“ in diesem Zusammenhang hatte. Mein junger Führer berichtete mir, daß im Philanthropin durchaus nicht auf Belohnung und Strafe verzichtet werde. Die Schüler würden zwar zur Einsicht in die Notwendigkeit, das Gute zu tun, erzogen; als Erziehungsmittel gebe es aber ein sehr feierliches und schulöffentliches Belohnungs- und Bestrafungszeremoniell. Nach jeder Stunde verteilten die Lehrer an die Schüler, mit deren Leistungen sie zufrieden gewesen waren, kleine Kärtchen (ich hatte das schon bei meinem Unterrichtsbesuch beobachtet); zusätzlich würden die guten und schlechten Schülerleistungen vom Lehrer notiert. In dem gerade besichtigten Goldenen Saal werde dann unter Anwesenheit aller Lehrer und der besten Schüler (= Senat) die während der Woche festgehaltenen guten und schlechten Leistungen und Verhaltensweisen der Schüler in das große Handbuch eingetragen. Für 50 Beweise von Fleiß und Tugend werde sonntags nach dem Gottesdienst auf den im Betsaal eigens dafür vorgesehenen „Meritentafeln“4 hinter dem Namen des vorbildlichen Schülers ein goldener Nagel eingeschlagen; einen schwarzen Nagel bekomme man für 12 Beweise von schlechtem Betragen. Alle Schüler hätten den Ehrgeiz, möglichst viele goldene Nägel hinter ihrem Namen zu haben; das Einschlagen eines schwarzen Nagels habe er noch nicht erlebt. 3
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Das Kirchenmodell zur Demonstration der Wirkung des Blitzschlages im Unterricht des Philanthropins ist abgebildet in: Schmitt, Hanno (Hg.), Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit 1746–1818. Ausstellung des Braunschweigischen Landesmuseums und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 29. Juni bis 13. Oktober 1996. Wiesbaden 1996, S. 60. Eine Abbildung der Meritentafel des Philanthropins befindet sich in: Schmitt, Lebensklugheit, (wie Anm. 3), S. 58. Die Meritentafel war aus Holz hergestellt und 1,38 m breit und 1,32 m hoch. Sie war von 1777 bis Ende des Jahres 1779 in Gebrauch. Anfangs diente sie nur als Fleißtafel, später als allgemeine Meritentafel. Ein breites weißes Feld links war für die goldenen Nägel, das rechte schwarze Feld für die eisernen (auch schwarzen) Nägel vorgesehen. Für 50 goldene Nägel bekamen die Schüler einen Orden unter großer Feierlichkeit nach der „Gottesverehrung” überreicht. – Auf der Originaltafel waren, wie aus den Einschlagstellen ersichtlich, nur 11 schwarze Nägel eingeschlagen; die niedrige Zahl erklärt sich daraus, daß die Schüler schlechte Bewertungen durch gutes Betragen wieder wettmachen konnten.
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Durch die Erzählung des Schülers waren mir die schon in den Schülerwohnungen aufgetauchten Fragen drängender geworden. Ich spürte ein körperliches Unwohlsein. Hier entdeckte ich jene Spur der auch mich seit der Kindheit beherrschenden doppelgesichtigen Erziehung: auch der Erziehungsalltag am Dessauer Philanthropin war, wie meine Erziehung, durch das Nebeneinander und manchmal Gegeneinander von menschenfreundlichen (eben „philanthropischer“), liebevollen, auf gegenwärtiges Glück und Befreiung abzielenden gesellschaftskritischen Erziehungsbemühungen einerseits und andererseits von der affirmativen Einübung „nützlicher“ Charaktereigenschaften und Verhaltenszeremoniellen geprägt; zwischen der Erziehung zum Widerstand und fürsorglicher Anpassung sah ich am Philanthropin nur wenig Platz für eine Eigenentwicklung des kindlichen Willens. So war mein positiver Eindruck von dieser Schule nachhaltig getrübt. Daran konnte auch der spätere Hinweis eines Lehrers nichts ändern, der mir erzählte, daß das Belohnungsritual im Lehrerkollegium umstritten sei. Etwas entschädigt wurde ich allerdings durch die auf einem Tisch ausliegende Konferenzordnung. Aus ihr entnahm ich einmal, daß Gespräche über pädagogische Fragen die wichtigste Aufgabe jeder Konferenz sein sollten; zum andern las ich über die Entscheidungsprozesse: „Sind die Stimmen gleich geteilt, so erfolgt dieselbe nach der Partei, bei welcher der Direktors Stimme ist. In allen übrigen Fällen erfolgt die Entscheidung nach der Mehrheit der Stimmen.“ Stimmenthaltung war nicht möglich, jedoch konnten schriftliche Minderheitenvoten abgegeben werden. Schließlich führte mich mein Begleiter noch in den sehr schönen, äußerst gepflegten Garten des Philanthropin.5 Da mir Nützlichkeit als wichtigstes Erziehungsprinzip bereits vertraut war, verwunderte es mich wenig, daß der Garten fast ausschließlich als Nutzgarten angelegt war; auch das Gemüse für unser Mittagessen stammte daraus. Im hinteren Teil des Gartens gab es einen langen Laubengang, in dem sich die Vorrichtungen für die gymnastischen Übungen befanden. Im übrigen Teil stand eine größere Zahl von Obstbäumen, unter denen man spazierengehen konnte. Einige Schüler hackten gerade ein Beet; von ihnen erfuhr ich, daß sie zwar auch Unterricht im Gartenbau bekämen, dieses Stück Land aber völlig selbständig und eigenverantwortlich bearbeiten dürften. Den Nachmittag brachten wir auf einem Spaziergang zu, den ich in Gesellschaft eines Lehrers und seinen Untergebenen machte. Hier hatte ich recht Gelegenheit, mich noch mehr von den eigenthümlichen Vorzügen dieser Anstalt zu überzeugen, welche in der Art des Umgangs der Lehrer mit den Zöglingen liegen. Die kleinen waren beständig beschäftigt. Alles, was sie sahen, interessierte sie. Ihre Fragen an den Lehrer zeugten von ihrer Lebhaftigkeit und ihren gesunden Begriffen. Er bediente sich dieser Gelegenheit, ihnen mancherlei neue Begriffe beizu-
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Auf dem in Anm. 2 nachgewiesenem Stich des Philanthropins sieht man Schüler verschiedenen Alters beim Spielen, gymnastischen Übungen und bei der Gartenarbeit.
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bringen und insbesonderheit ihre Aufmerksamkeit zur eigenen Prüfung zu entwikkeln und zu schärfen. Und dann, den Frohsinn hätten sie sehen sollen.6
Der von mir [H. S.] gegebene Bericht wurde vor allem auf der Grundlage der bisher unbekannten, anonym verfaßten Briefen über eine Reise nach Dessau im Jahr 17807 geschrieben. In dem Bericht habe ich versucht, ähnlich wie man es bei Erfahrungsberichten von heutiger Schulwirklichkeit tut, die mir zugänglichen, oft widersprüchlichen Tatsachen und Zusammenhänge zu einer Skizze des pädagogischen Alltags am Dessauer Philanthropin zu verarbeiten. Diese Alltagsbeschreibung ist nur insofern fiktiv, als sie aus einer heute nur für Spezialisten verständlichen Sprache der Primärquellen8 in unsere Sprache übersetzt und durch mein persönliches Quellenstudium geprägt ist. Jede Aussage über die philanthropische Musterschule könnte belegt werden; selbst der Handlungsablauf meines Berichts orientiert sich an demjenigen der Briefe.9 Für eine ins Einzelne gehende, umfassende Darstellung der 1774 gegründeten und bis 1793 mit Höhen und Tiefen ringenden ersten philanthropischen Versuchsund Musterschule ist hier nicht der Platz.10 Nachzutragen ist aber, daß von den ca. 150 Schülern (u.a. aus: Holland, Dänemark, Frankreich, Portugal, Polen, Wien, Prag, Riga), welche die Schule während ihres Bestehens besucht haben, 60 adliger Herkunft waren, die übrigen Schüler waren Söhne von Kaufleuten, reichen Bauern
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[Anonym], Briefe über eine Reise nach Dessau im Jahr 1780, in: Deutsches Magazin, 1. Bd., 2. und 3. Stück, hg. v. Christian Ulrich Detlev von Eggers, Hamburg 1791, S. 127–160 und 265–288. [Anonym], Briefe, (wie Anm. 6). Diese finden sich in folgenden Schriften: Basedow, Johann Bernhard, Elementarwerk mit den Kupfertafeln von Chodowiecki u.a., kritische Bearbeitung in 3 Bdn. mit Einleitung, Anmerkungen und Anhängen, hg. v. Theodor Fritzsch (ND Leipzig 1785), Leipzig 1909; Franke, Otto, Beiträge zur Geschichte des Philanthropins zu Dessau aus dem handschriftlichen Nachlasse desselben. 1. Teil: Revision des Lehrplanes unter Wolkes Direktion in den Jahren 1778– 79. 2. Teil: Lehrbericht des Mag. Friedrich Wilhelm Goethe über seinen philosophischen, historischen und lateinischen Unterricht in der vorakademischen Klasse (1780–1781), in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte (1892), Heft 2, S. 30–48 und 181–201; Lorenz, Hermann, Die Lehrmittel und Handarbeiten des Basedowschen Philanthropins nebst 12 Tafeln mit Abbildungen der wichtigsten in Dessau noch heute vorhandenen Reste, in: ebd. (1906), Heft 16, S. 303–332; ders., Die Meritenbücher und Meritentafeln des Philanthropins zu Dessau, in: ebd. (1902), Heft 12, S. 93–120; Nietzold, Franz Ferdinand:, Wolke am Philanthropin zu Dessau. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im achtzehnten Jahrhundert, Grimma 1890; Schmid, Karl Adolf, Geschichte der Erziehung von Anfang an bis auf unsere Zeit, Bd. 4, 2. Abt., Stuttgart 1898, S. 27–361; Schummel, Johann Gottfried, Fritzens Reise nach Dessau, hg. v. Albert Richter, [ND Leipzig 1776] Leipzig 1891; Trapp, Ernst Christian, Versuch einer Pädagogik, hg. v. Ulrich Herrmann [ND Berlin 1780], Paderborn 1977; Würdig, Ludwig, Chronik der Stadt Dessau. Von den frühesten Zeiten bis Ende 1875. Dessau 1876, S. 563–584. Siehe Anm. 6. Vgl. Niedermeier, Michael, Campe als Direktor des Dessauer Philanthropins, in: Schmitt, Lebensklugheit, (wie Anm. 3), S. 45–65; ders., Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und historisches Zentrum um 1780. Dessau 1995.
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und Gelehrten. Dies galt, obwohl die Schule zunächst für arme und reiche11 Schüler gedacht war. Das nur von reichen Eltern bezahlbare Schulgeld (es entsprach dem zwei- bis dreifachen des Jahresgehalts eines Lehrers an niederen Schulen) war sicher der Hauptgrund für die schließlich sich durchsetzende Schülerzusammensetzung. Trotz des hohen Schulgeldes kämpfte das Philanthropin ständig mit Geldsorgen. Allein die für heutige Vorstellungen riesigen Geschenke des Dessauer Fürstenhauses sowie eine große Zahl von privaten Spenden aus dem Kreis der „Aufklärungsgesellschaft“ vermochten den 19jährigen Bestand der Schule zu sichern. Abgesehen von den ökonomischen Problemen waren aber wahrscheinlich die oft in persönliche Kränkungen abgleitenden, destruktiven Streitereien unter den zunächst begeistert nach Dessau gezogenen Pädagogen ausschlaggebend für den Niedergang der Schule. Nicht zuletzt muß man sich natürlich vergegenwärtigen, daß das Philanthropin inmitten eines unterentwickelten und erbärmlichen spätfeudalen Erziehungs- und Unterrichtswesens existiert hat. Die auf den Grundanschauungen von Locke und Rousseau aufbauenden philanthropischen Erziehungsvorstellungen stießen auf ein besonderes Interesse, weil sie in Zeiten struktureller Krisenerscheinungen und im Zusammenhang mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Emanzipationsbestrebungen des noch sehr unterentwickelten Bürgertums vorgetragen wurden. Aus heutiger Sicht bleibt bemerkenswert, daß es auf einer Insel inmitten der spätfeudalen Gesellschaft (sogar mit kräftiger fürstlicher Unterstützung) möglich war, neue pädagogische Forderungen und Erfahrungen für ein bürgerliches Schul- und Erziehungswesen konzeptionell und experimentell zu entwickeln.12 In diesem Sinne könnte diese „Schule“ – modern gesprochen – als „Alternativschule“ verstanden werden.
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Dies wird bereits im Titel der zur Eröffnung des Philanthropins erschienenen Schrift deutlich. Vgl. Basedow, Johann Bernhard, Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, Arme und Reiche, Leipzig 1774. Im Fürstentum Dessau wurde schon zu Zeiten des Philanthropins (ab 1785) eine umfassende, gerade auch die niederen Schulen einbeziehende Schulreform eingeleitet. Schulgeldfreiheit, Staatsschule, Trennung von Kirche und Staat, Verbesserung der sozialen Lage und der fachlichen Ausbildung der Lehrer sowie ein planvoll aufgebautes, zusammenhängendes Schulsystem (eine Art additive Gesamtschule) waren der Ertrag dieser noch vor der französischen Revolution begonnenen, nach philanthropischen Grundsätzen durchgeführten grundlegenden Neuordnung. Vgl. Schöler, Walter, Der fortschrittliche Einfluß des Philanthropins auf das niedere Schulwesen im Fürstentum Anhalt-Dessau 1785–1800, Berlin (Ost) 1957; Hirsch, Erhard, Dessau-Wörlitz. Aufklärung und Frühklassik. Leipzig 21987, S. 89–106.
JAN STEINHAUßEN (Jena)
Geschlechteranthropologie und Erziehung der Töchter im Philanthropismus In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rückt der Mensch verstärkt in den Blickpunkt der Wissenschaften. Die Anthropologie etabliert sich in diesem Kontext als die „Wissenschaft vom Menschen“, die den „ganzen Menschen“ untersucht und bei dieser Untersuchung auf die Beobachtung und Sinneswahrnehmung zurückgreift sowie empirische und induktive Beweisformen als Erkenntnismethoden anwendet. Die Anthropologie der Spätaufklärung rehabilitiert die menschliche Körperlichkeit, sie überwindet die Konzeption des homo duplex, sie erkennt in der Umwelt einen wichtigen Entwicklungsfaktor, und sie sieht in archaischen und fremden Kulturen originäre Vorbilder für menschliches Leben.1 Die Pädagogik der Spätaufklärung wurde von anthropologischen Fragestellungen substantiell beeinflußt.2 Pädagogen dieser Zeit knüpfen eine adäquate Erziehung an eine genaue Kenntnis der kindlichen Natur. Diese Fundamentierung der Pädagogik mit der Anthropologie hat verschiedene Dimensionen: Die Anthropologie stellt der Pädagogik Wissen über den Menschen zur Verfügung. Pädagogen der Spätaufklärung verstehen die Anthropologie, Psychologie und Medizin als Basisoder auch als Hilfswissenschaften der Pädagogik. Der Rekurs auf die zeitgenössische Anthropologie sowie auf philosophische Ansätze aus der schottischen Aufklärung führen zu einer signifikanten Wissensvermehrung in der Pädagogik. Damit verbunden ist ein neuer Begründungsanspruch für Erziehungsregeln. Es reicht bei der Begründung von Erziehungsregeln nicht mehr aus, sich auf die Erfahrung und das Alltagswissen des Erziehers zu berufen. Der Arzt, der Psychologe, der Anthropologe gelten als Autoritäten einer wissenschaftlichen Begründungspraxis. Darüber hinaus will sich die Pädagogik der Spätaufklärung selbst als Erfahrungswissenschaft im Kanon der Wissenschaft etablieren. Die Erziehungstheorie soll auf Erfahrungswissen über den Menschen im Kontext seiner Umwelt, seiner Anlagen und Vermögen basieren. Pädagogen der Spätaufklärung wollen selbst ihr Erfahrungswissen über das Kind einbringen. Dabei spielen Biographien, Autobiographien, Einzelfallbeobachtungen, Tagebücher als Quellen der Wissensproduktion für die pädagogische Theorie eine wichtige Rolle. Pädagogen werden in diesem Sinne zu Anthropologen. Sie rezipieren nicht nur zeitgenössische anthropologische Modelle, sie sammeln selbst Fakten, vergleichen diese und versuchen sie typolo1 2
Vgl. dazu Moravia, Sergio, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt 1989. Vgl. dazu Kersting, Christa, Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaften. Weinheim 1992.
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gisch zu klassifizieren. Sie beobachten selbst und reflektieren über die Konstitution des Menschen in Abhängigkeit von geburtlicher Disposition, Erziehungsumfeld und Perspektiven in der Gesellschaft. Im Kontext der ,Anthropologischen Wende‘ erfolgt in der Pädagogik damit eine Kritik und Ablösung mechanistisch-physikalischer Erklärungsparadigmata durch organologisch-lebensweltliche. Referenzfeld der Erziehung des Menschen ist der Organismus Mensch und das Umfeld des Menschen. Dabei folgt der Pädagoge den biologischen und sinnesphysiologischen Entwicklungsgesetzen des Kindes und des Jugendlichen. Die Empirie begreift er als Voraussetzung für die Formulierung von Erziehungsregeln. Diese Deutung und Neucodierung des Menschen im Rahmen der neu entstehenden Wissenschaften ist innerhalb der Pädagogik der Spätaufklärung auch begleitet von einer anthropologischen Neubestimmung der Geschlechterdifferenz. Sie ist von der Schematisierung eines scharfen Dualismus der Geschlechter gekennzeichnet, in deren Folge die Differenzierung der Geschlechter komplexer wird.3 Im nachfolgenden Beitrag soll untersucht werden, inwiefern anthropologische Fragestellungen die Theorie über die Erziehung der Töchter im Philanthropismus beeinflußt haben und inwiefern die anthropologische Neubestimmung der Geschlechterdifferenz das Bild vom Mädchen, die Vorstellung von seiner Bestimmung und seiner Erziehung in der Pädagogik der Spätaufklärung verändert hat. Haben Philanthropen die Theoreme für die Erziehung der Mädchen mit Erkenntnissen der zeitgenössischen Anthropologie begründet? War Rousseaus Geschlechterentwurf Vorbild, und gibt es im Philanthropismus Ansätze zu einer psycho-physischen Anthropologie der Frau? Versuchten Philanthropen die weibliche Natur zu ergründen, um auf dieser Grundlage eine geschlechtsspezifische Erziehung zu legitimieren?
Geschlechteranthropologie und die Erziehung der Töchter bei Rousseau Rousseau bezieht sich in seinen Schriften noch nicht explizit auf Anthropologen und Mediziner, die den Geschlechtergegensatz thematisieren, die entscheidenden Innovationen bezüglich einer Sonderanthropologie kamen erst in den 70er, 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, also nach dem Erscheinen von Rousseaus Schriften. Rousseau geht bei der Bestimmung des Menschen von dessen Naturzustand aus. Dieser Naturzustand ist keine Realität, sondern ein hypothetisches Konstrukt.4 Die Kontrastfolie ist der zivilisierte Mensch, der sich in einem Zivilisationsprozeß verwandelt und seiner eigenen Natur entfremdet hat. Der Kulturmensch ist für Rousseau ein depraviertes Tier. Der natürliche Mensch ist hingegen 3 4
Vgl. Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750–1850. München 1996, S. 133. Vgl. Alder, Doris, Die Wurzeln der Polarität. Geschlechtertheorie zwischen Naturrecht und Natur der Frau. Frankfurt 1992, S. 130.
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der um die in einem Zivilisationsprozeß erworbenen Eigenschaften reduzierte Mensch, ursprünglich gut, ein sprachlos asoziales Wesen, und mit diesen Eigenschaften frei und perfektibel, ein Wesen, das sich, wie Rousseau anmerkt, von Orang-Utans und anderen Primaten nicht so ohne weiteres unterscheiden läßt. Der Zustand der Reflexion ist für Rousseau hingegen ein Zustand wider die Natur.5 Im Diskurs über die Ungleichheit entwickelt Rousseau die Auffassung, daß die Geschlechterdifferenz ursprünglich für den Menschen nicht existierte. Es gibt nach Rousseau zwei Arten bestehender Ungleichheit: die natürliche oder physische sowie die moralische und politische.6 Die moralische oder politische hänge von Übereinkünften ab. Die physische sei hingegen naturgegeben. Die Körper- und Geisteskraft, so nahm er an, seien jedoch noch nicht geschlechtsspezifisch bestimmt. Mangels natürlicher Unterschiede waren die Geschlechter für Rousseau im Naturzustand gleich.7 Geschlechterkategorien sind für Rousseau auf der ursprünglichen Kulturstufe irrelevant. Demnach ist die Frau in allem, was nicht unmittelbar mit dem Geschlecht zusammenhängt, dem Mann gleich. Rousseau bezieht diese Aussage vor allem auf anatomische und physiologische Momente wie die Organe und die Gestalt sowie auf sozial geprägte und biologisch determinierte Momente wie Bedürfnisse und sozial herausgebildete Fähigkeiten. Die Maschine, meint Rousseau, ist gleich gebaut. Die Bewegungen sind gleich.8 Die Ungleichheit ist, so Rousseau, im Naturzustand kaum fühlbar und ihr Einfluß ist gering.9 Nur im Geschlechtsakt erkennen sich die verschiedenen Geschlechter. Daß die Menschen im Urzustand sich ungeachtet der Indifferenz im Verhalten im Akt der Zeugung trotzdem erkennen, erklärt er damit, daß der Mensch im Urzustand ein triebhaftes Verhältnis zum anderen Geschlecht besitzt. Das Physische dränge den Menschen zum anderen Geschlecht. Dabei unterscheide das männliche Wesen nicht das Individuum. Es ist weder für Gefühle der Bewunderung und Liebe empfänglich. Es gibt, da die Empfindungen für den Geschlechtsunterschied nicht sensibilisiert und rationalisiert sind, auch keinen Krieg der Geschlechter.10 „War das Bedürfnis befriedigt, erkannten sich die beiden Geschlechter nicht mehr wieder.“11 Die anthropologischen Unterscheidungsmerkmale von Mann und Frau vermutete er vor allem im Geschlecht. Im Geschlecht gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede. Was das Geschlecht genau ist, definiert Rousseau nicht. Er selbst gab zu bedenken, daß das, was bei der Konstitution geschlechtsgebunden ist und was nicht, schwer festzustellen sei. Der fühlbare Unterschied zwischen den Menschen werde erst durch die
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Rousseau, Jean-Jacques; Diskurs über die Ungleichheit, hg. v. Heinrich Meier, Paderborn 1993, S. 89. Vgl. ebd., S. 67. Vgl. Alder, (wie Anm. 4), S. 130. Vgl. Rousseau, (wie Anm. 5), S. 385. Vgl. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 155ff. Vgl. ebd., S. 175.
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äußeren Umstände entwickelt.12 Um Vorstellungen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu erhalten, bedarf es der gezielten Beobachtung und Reflexion. Diese kommt erst auf einer bestimmten Kulturstufe.13 Erst die Kultur betont den Geschlechtsunterschied und macht ihn subjektiv erlebbar, womit die Differenzen, so nahm Rousseau an, zwischen den Geschlechtern wachsen. Damit ist die Wahrnehmung des Geschlechtsunterschieds für Rousseau in seinem zweiten Diskurs offenbar kein Zeichen der Ursprünglichkeit, sondern einer Niedergangsentwicklung. Je stärker arbeitsteilige Prozesse und gegenseitige Abhängigkeit das Zusammenleben der Menschen bestimmten, desto stärker prägten sich soziale Ungleichheiten und Hierarchie zwischen den Geschlechtern aus. Die Frau wurde häuslicher und gewöhnte sich an die Bewachung der Hütten und Kinder, der Mann ging auf Nahrungssuche.14 Je stärker jedoch ein Geschlechtsdimorphismus in einer Kultur wahrgenommen und von einer Geschlechterdichotomie ausgegangen wird, desto stärker wirken Entfremdungserscheinungen zwischen den Menschen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist also, so scheint es, für Rousseau keine primär ursprüngliche Disposition. Ihre Macht und ihr Wachstum verdankt sie der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten, dem Fortschritt des menschlichen Geistes sowie der Etablierung des Eigentums.15 In Rousseaus Erziehungsroman Emil oder Über die Erziehung stellt sich diese Auffassung etwas differenzierter dar. Sophies Erziehung findet im Umfeld einer ideal gedachten Familie statt, die sich von der Gesellschaft abkehrt und in der es eine manifeste Geschlechterdifferenz gibt. Stärker als in seinem Diskurs rekurriert Rousseau auf einen geschlechtlichen Dimorphismus, der Grundlage eines differenzierten Erziehungssystems zwischen den Geschlechtern ist. Vor allem die Frau ist durch das Geschlecht determiniert. Während beim Mann die allgemeinen Merkmale überwiegen, wird die Frau von ihrer geschlechtlichen Disposition bestimmt. Diese Geschlechtsdetermination ist nicht, wie man unter Bezug auf den zweiten Diskurs annehmen könnte, kulturell gewachsen, sie ist für die Frau konstitutiv. Wie sich dieser Widerspruch erklärt, ist in der Literatur umstritten. Sicher kann man davon ausgehen, daß Rousseau, als er sich den ursprünglichen Menschen vorstellte, an einen Mann dachte. Der moderne sozialisierte Mensch war für ihn nicht nur ängstlich, kriecherisch und weichlich, er war auch weibisch.16 Weibliche Eigenschaften waren ihm Ausdruck von Degeneration. In seinem Erziehungsroman geht er davon aus, daß es ein starkes und ein schwaches Geschlecht gibt. Er beobachtete die unterschiedliche geschlechtliche Aktivität von Mann und Frau. Bei Frauen konstatierte er eine Übermacht des Trie-
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Vgl. Rousseau, (wie Anm. 5), S. 205. Vgl. ebd., S. 125. Vgl. ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 271. Vgl. ebd., S. 93.
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bes.17 Der Mann sei hingegen weniger im Geschlechtlichen befangen. Bei ihm überwiegen die Art- oder Gattungsmerkmale, die ihn als Menschen auszeichnen. Die Frau sei hingegen stärker durch ihr physiologisches und anatomisches Geschlecht bestimmt sowie durch den biologischen Reproduktionsprozeß. Dazu gehören für Rousseau die Schwangerschaft, die der Frau Schonung auferlegt, sowie das Stillen, das das Kind an die Mutter bindet. Geduld, Liebe Zärtlichkeit und Eifer liegen in ihrer Natur begründet, um die optimale Versorgung des Kindes zu gewährleisten. Die spezifische körperliche Konstitution der Frau und ihre Stellung im Reproduktionsprozeß sind für Rousseau natürlich. Mit seinem Weiblichkeitsentwurf, der sich als Gegenentwurf zum Mann ausweist, gilt Rousseau als ein Wegbereiter der bürgerlichen Konstruktion des Geschlechtsverhältnisses.18 Dieser funktionalen Ausdifferenzierung der Geschlechterrollen, so deuten sozialwissenschaftliche Ansätze diese dichotome Geschlechterkonstruktion, liegt ein umfassender mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Wandel zugrunde, in dessen Folge mit der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben die neue Kernfamilie entsteht. Rousseau wird in diesem Sinne als Begründer einer bürgerlichen Geschlechterideologie gesehen. Die Einwände gegen Rousseaus Weiblichkeitsentwurf sind massiv formuliert worden. Rousseau befestige die patriarchalische Ordnung, die die Aufrechterhaltung des männlichen Herrschaftsanspruches legitimiert. Er begründe die Rolle der Frau nicht aus der Natur, sondern von tradierten gesellschaftlichen Rollenverhältnissen. Er leugnet damit implizit seine naturrechtlichen Prämissen. In bezug auf die Frau, so stellt es Verena Ehrich-Haefeli dar, dient das Naturargument in Emil lediglich dazu, die Frau von Emanzipation und dem Gebrauch der Vernunft selber auszuschließen und sie in die Schranken ihrer Kreatürlichkeit zurückzuweisen.19 Die weibliche Autarkie, so Kersting, sei bei Rousseau nicht der auf dem Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen und Kräften beruhenden nachgebildet. Die Frau stelle sich auf jeden der versammelten Menschen ein, ohne sich selbst als Individuum abzugrenzen.20 Rousseau begründet Organisationsprinzipien der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft, die für die Frau keinen Raum zur Emanzipation hat. Die Frau wird reduziert auf das moralische Geschlecht. Rousseau behandle, so Bennent, die kulturell vermittelte Charakterdifferenz der Geschlechter wie ein naturgesetzliches vorherbestimmtes und deshalb untadeliges Phänomen.21 In der 17 18
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Vgl. Rousseau, (wie Anm. 5), S. 386f. Vgl. Priem, Karin, Das Frauenbild Jean-Jacques Rousseaus in der deutschsprachigen feministischen Kritik, in: Hansmann, Otto (Hg.), Seminar: Der pädagogische Rousseau. Teil 2, Kommentare, Interpretationen, Wirkungsgeschichte. Weinheim 1996, S. 280f. Vgl. Ehrich-Haefeli, Verena, Natur und Weiblichkeit: Zur Ausarbeitung der bürgerlichen Geschlechterideologie von Rousseau bis zu Schiller, in: Söring, Jürgen / Gasser, Peter (Hg.), Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur. Frankfurt 1999, S. 155–194, hier S. 174. Vgl. Kersting, (wie Anm. 2), S. 350. Vgl. Bennent, Heidemarie, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiehistorische Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur. Frankfurt 1985, S. 86.
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Tat, so scheint es, liegen Rousseaus Bestimmung des Geschlechtsunterschieds ideologische Prämissen zugrunde. Seine Beobachtungen sind undifferenziert. Sie folgen nicht (s)einem empirischen Programm, sondern erscheinen als apodiktische Bedeutungszuschreibungen. So wird nicht plausibel, weshalb Mädchen von Natur aus Spiegel, Schmuck oder Puppen lieben sollten, Jungen hingegen stärker die Bewegung suchten. Es ist wenig überzeugend, wenn Rousseau meint, daß Frauen von Natur aus Zwang ausgesetzt werden müßten. Rousseau nimmt keine genaue Trennung von physiologischen, anatomischen und moralischen Kategorien vor, und der Zusammenhang zwischen körperlicher Konstitution und moralischer Auswirkung bleibt vage. Sein Naturbegriff, darauf hat bereits in den 80er Jahren Silvia Bovenschen hingewiesen, ist mehrdeutig. Er hat für Frauen andere Implikationen als für Männer. Jene gesellschaftliche Natur, die Emil als autarkes Individuum ausweist, sind bei Sophie abwesend oder nur als ergänzende Negation anwesend. Emils Freiheit von äußerem Zwang steht bei Sophie die Notwendigkeit des Zwanges in der Form einer Unterwerfung unter den Mann gegenüber.22 Wenn Rousseau weibliches Verhalten aus der Natur und den Neigungen begründet, so steht man allerdings vor einem Grundproblem Rousseauscher Geschlechteranthropologie: Natur und Soziales werden weder begrifflich genau abgegrenzt noch in der Argumentationspraxis streng getrennt. Er unterscheidet nicht zwischen einem anthropologischen Verhaltenspotential und einem sozial erlernten Rollenverhalten. Die Logik seiner Argumente, die Erziehungsregeln begründen, sind daher kaum zwingend. Erscheint die Argumentation zwar in sich kohärent, bleibt die Signifikanz der Beobachtung unzureichend. Während seine Erziehungsmaxime für Emil sich kohärent mit seinen Vorstellungen vom Natürlichen aus dem zweiten Diskurs verbinden lassen, scheint ein Bindeglied zwischen dem Natürlichen des zweiten Diskurs und zu seinem Weiblichkeitsentwurf im Emil nur in der Argumentationsform noch präsent. Bei der Erziehung des Mädchens erfolgt zwar noch der Rekurs auf die natürlichen Anlagen, er bleibt aber deklaratorisch und ohne Bezug zu entsprechenden Erziehungsregeln. Während Emils Erziehung auf der freien Anlagenentfaltung beruht, fußt Sophies Entwicklung implizit auf einer latenten Intervention gegen eine natürliche Entwicklung. Das emanzipatorische Potential, das seine Anthropologie enthält, bezieht er nicht auf den Geschlechterunterschied. Während der Mann seine Fähigkeiten und Anlagen im Sinne des Naturhaften entfaltet und autonom und autark wird, bleibt Sophie in ihrer Entwicklung fremdbestimmt und heteronom. Die anthropologische Differenz zwischen Depravation des entfremdeten Gesellschafts- und ursprünglichen Menschen konstatiert Rousseau nicht bei den unterschiedlichen Geschlechtern. Die Frau ist bei Rousseau eine Projektion des Mannes, sie entspricht, was Rousseau als Naturgesetzlichkeit inter22
Vgl. Bovenschen, Silvia, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt 1979, S. 173.
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pretiert, seinen Bedürfnissen, ihr Bild ist kulturell durch tradierte Rollenvorstellungen überformt und modifiziert durch sich ausdifferenzierende Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft. Während Emils Erziehung dem anthropologischen Postulat der Naturnähe verpflichtet bleibt, folgt weibliche Erziehung anderen Maßstäben. Die Erziehung des Mädchens beruht auf Fremdinternalisierung, sie ist repressiv und traditionell. Sie ist nicht wie bei Emil auf freie Selbstbestimmung und -entwicklung orientiert, sondern auf die Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse des Mannes fixiert.23 Rousseau entwickelt Erziehungsmaximen für Sophie entgegen seiner Ankündigung nicht induktiv, vom Vermögenspotential der Frau ausgehend, sondern von ihrer Bestimmung her. Er rekurriert somit nicht auf den medizinisch-anthropologischen Diskurs und die Geschlechterdifferenz zwischen Mann und Frau, sondern konstruiert die Frau im Kontext männlicher Ideale und Wertvorstellungen. Christa Kersting meint dazu, daß das, was Rousseau als anthropologische Differenz zwischen den Geschlechtern geltend macht, divergierenden Vernunftmodellen entspricht, die selbst nur Ausdruck von unterschiedlichen Sozialisationen von Mann und Frau sind.24 Ungeachtet dieser fundamentalen Einwände, die durch diskurstheoretische Überlegungen relativiert werden, ist Rousseaus auf die Natur des Menschen weisendes Postulat innerhalb des pädagogischen Diskurses innovativ, und es hat, wenn auch in kritischer Auseinandersetzung, für alternative Modelle von Weiblichkeit eine wichtige Rolle gespielt. Rousseaus Argumentation geht von signifikanten anthropologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern aus. Diese Unterschiede haben moralische und erziehungspraktische Relevanz. Das erscheint wichtig, weil sich Argumentationsstrukturen ändern. Auch wenn Rousseaus Deutung der Geschlechterdichotomie kulturell überformt bleibt, unternimmt er den Versuch, Verhalten, Moral und Erziehung der Geschlechter aus der Anthropologie zu begründen. Damit wendet er sich auch gegen eine religiöse oder durch Vorurteile geprägte Begründung von Erziehungsregeln. Die Natur begründet das Geschlecht. Sie befiehlt dem Geschlecht eine bestimmte Handlung. Daraus leitet Rousseau ein bestimmtes Verhalten und Erziehungsmaßstäbe ab. Die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, die Rousseau zwischen Mann und Frau feststellt, müssen, so nahm er an, die Moral beeinflussen. Er erkennt also, daß es einen Zusammenhang zwischen menschlicher Geschlechtsdisposition und Moral gibt.25 Der natürlich determinierte Geschlechtsunterschied bedingt für Rousseau die Übernahme unterschiedlicher sozialer Rollen. Die Natur hat der Frau die Kinder angetragen, sie muß daher dem anderen dafür verantwortlich sein. Untreue ist ein Relikt beider Geschlechter. Bei der Frau wiegt es schwerer, weil sie die Familie auflöst. Aus der 23 24 25
Vgl. Schmid, Pia, Rousseau Revisited. Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Erziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik (1992) 6, S. 839–854, hier S. 840f. Vgl. Kersting, (wie Anm. 2), S. 350. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder Über die Erziehung, hg. v. Ludwig Schmidts, Paderborn 1993, S. 389.
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sich aus der Natur ergebenden Geschlechterdisposition begründet Rousseau also soziale Pflichten und soziale Verantwortung. Aus der anthroplogischen Bestimmung der Frau leitet er die moralische Verantwortung der Frau ab.26 Einen sozialen Rollentausch lehnt Rousseau demnach vor dem Hintergrund seiner Geschlechteranthropologie ab. Diese Argumentationsstruktur kann man an einem einfachen Beispiel erläutern: Rousseau beobachtete, daß es zwischen Mann und Frau unterschiedliche geschlechtliche Aktivitäten gibt. Bei Frauen konstatierte er eine Übermacht des Triebes. Diese sichere die biologische Reproduktion des Menschen. Beim Mann erlösche der Trieb unmittelbar nach der Befriedigung. Rousseau folgert: Es muß soziale Regelmechanismen geben, die die Übermacht des weiblichen Triebes kontrollieren. Der Frau gebietet die Scham eine Regelkontrolle über die Triebe. Beim Mann steuert das Bedürfnis den Trieb. Er benutzt den Verstand als Regelmechanismus zur Beherrschung der Triebe. Warum beim Mann die Vernunft, bei der Frau die Scham Triebbeherrschung kontrolliert, wird nur schwach begründet. Das Bedürfnis steht der Vernunft näher, der Trieb dem Gefühl und damit der Scham. Erst nachdem Rousseau die soziale Rolle der Geschlechter unter Rekurs auf seine Beobachtung begründet hat, verweist er auf die Erziehung. Entsprechend seiner sich auf die Natur berufenden Argumentationslogik, daß Frau und Mann dem Charakter und Temperament nach weder gleich gebildet sind noch sein dürfen, folgt, daß sie auch nicht die gleiche Erziehung haben dürfen. Alles, so formuliert er seine Erziehungsgrundsätze, was das Geschlechtliche betrifft, muß als naturgegeben betrachtet werden. Unabhängig davon, daß diese Beobachtung hinsichtlich ihres Geltungsanspruches keinerlei Signifikanz besitzt, ist der Begründungszusammenhang neu und folgenreich. Die Natur ist für Rousseau das außerhalb der sozialen Konvention liegende Kriterium für die adäquate Geschlechtererziehung. Erziehung muß geschlechterspezifisch sein. Verständige Mütter, so Rousseau, machen aus ihrer Tochter keinen Mann, als ob sie die Natur Lügen strafen wollten.27 Das Mädchen nach der Natur zu erziehen, heißt für Rousseau, daß die weiblichen Stärken hervorzuheben sind. Widerspricht Erziehung der Natur, ergibt sich ein inadäquates Rollenverhalten in der Gesellschaft. Ob Rousseaus Weiblichkeitsentwurf damit antiemanzipatorischen Charakter trägt und einen männlichen Herrschaftsanspruch formuliert oder ob die Frau für Rousseau einen sich anders begründenden Machtfaktor neben dem Mann darstellt, wie Christine Garbe annimmt,28 sei dahingestellt. Mit dem anthropologischen Argument der Erziehung zur Natur wurden nicht nur 26 27 28
Vgl. ebd., S. 390. Vgl. ebd., S. 393. Vgl. Garbe, Christine, Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. Zur Konzeption des Weiblichen bei Jean-Jacques Rousseau, in: Brehmer, Ilse / Jacobi-Dittrich, Juliane / Kleinau, Elke / Kuhn, Annette, „Wissen heißt Leben [...]“. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983, (Frauen in der Geschichte 4), S. 65–87, hier S. 66ff.
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ideologische Geschlechterrollen affirmativ bestätigt, sondern zunächst grundsätzlich hinterfragt. Kinder dürfen nicht so leben, meint Rousseau, wie ihre Großmütter. Sie müssen frisch, unbeschwert und ausgelassen sein, singen und tanzen.29 Kindadäquate Erziehung konnte mit dem Verweis auf ein konkretes Entwicklungsniveau begründet werden. Das Mädchen wird nicht zur Frau erzogen, weil es religiöse, soziale und traditionelle Normen verlangen, sondern weil die Natur es so verlangt. Mit seinem Rekurs auf die Natur und dem Hinweis auf ihre Bedeutung für eine geschlechtsspezifische Erziehung hat Rousseau ungeachtet seines konservativen Weiblichkeitsentwurfs einen Begründungsansatz etabliert, der moderne und sich aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft speisende Begründungsansprüche innerhalb des pädagogischen Diskurses vorwegnahm.
Geschlechteranthropologie und Erziehung der Töchter im Philanthropismus Rousseau hatte auf philanthropische Pädagogen in einem Maße Einfluß, daß dieser hier nicht Gegenstand sein kann. In der Forschung wird die Auffassung vertreten, daß Rousseaus Modell der weiblichen Entwicklung Grundlage der klassisch weiblichen Bildungstheorie wurde.30 Zahlreiche Themen wie das richtige Wickeln, das Stillen, die richtige zwanglose Kleidung, das Wiegen des Kindes, das Schädliche der Vielleserei sind überhaupt erst durch Rousseau populär geworden. Dieser Einfluß Rousseaus wurde von Philanthropen selbst thematisiert: „Locke und Rousseau sind bisher“, so meinte Campe, unter den neuern Erziehungsphilosophen diejenigen gewesen, deren pädagogische Lehrgebäude am weitesten bekannt und am meisten gelesen worden sind. Sie verdienen ohnstreitig auch noch jetzt, von allen, denen die Erwerbung gründlicher Erziehungseinsichten am Herzen liegt, gelesen und studiert zu werden.31
Dabei gab Campe zu bedenken, daß Mängel und Fehler dieser Theorien offenkundig seien. Die Philanthropen verstanden sich zwar in der Tradition von Locke und Rousseau, nicht aber als deren Adepten. Dabei muß man von grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangspositionen ausgehen: Rousseau streitet vor allem mit seinem Diskurs über die Ungleichheit dezidiert gegen Klerikalismus und gegen das despotische Machtgefüge der französischen Adelsgesellschaft. Der Geschlechterunterschied ist für ihn zumindest in seinem Diskurs über die Ungleichheit kein die Gesellschaft konstituierender Widerspruch. Sein Hauptanliegen ist Gesellschaftskritik. Das Selbstverständnis der Philanthropen war anders. Ihre Kritik gegenüber 29 30 31
Vgl. Rousseau, (wie Anm.25), S. 405. Vgl. Kersting, (wie Anm. 2), S. 366 und Priem, (wie Anm.18), S. 280f. Vgl. Campe, Johann Heinrich, Einleitung zur Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Hamburg 1785, S. XLVIII.
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Aberglauben in der Wissenschaft und der Erziehung richtete sich nicht fundamental gegen das herrschende System. In vielem, etwa in finanzieller Hinsicht, waren die erziehungspraktischen Bemühungen der Philanthropen auf staatliche Zuwendungen angewiesen. Philanthropen empfanden sich nicht in fundamentaler Opposition zum Staat und zur Gesellschaft, sondern verstanden den Staat als Träger ihrer Ideen. Dieses Selbstverständnis hatte Konsequenzen. Rousseau hat institutionelle Erziehung abgelehnt. Im Abschnitt über die Erziehung der Frau im Emil lehnt er öffentliche Erziehung ab, weil man durch sie keinen Sinn für das Heim entwickeln könne.32 Der korrumpierte Staat, der das Individuum von sich selbst entfremdet hatte, konnte nicht Verantwortungsträger sein, dieses Individuum zu sich selbst und zur Natur zu erziehen. Infolge dieses Ausgangspunktes gerät nicht die Geschlechtererziehung in den Mittelpunkt. Das ist bei den Philanthropen anders. Sie halten zwar die frühkindliche Erziehung durch die Mutter für unverzichtbar und notwendig, und in der entscheidenden Prämisse, daß in der frühkindlichen Erziehungsphase der natürliche Entwicklungsprozeß des Kindes den Vorrang vor einer Intervention besitzt, folgen sie Rousseau.33 Ihr Erziehungsplan ist jedoch nicht primär auf die Familie, sondern auf die Institution gerichtet. Johann Stuve meinte 1788, daß es die zweckmäßigste Art der Erziehung von Mädchen sei, wenn sie außer einer guten häuslichen auch den Unterricht an einer öffentlichen Institution genießen würden.34 Dadurch hatte eine geschlechtsspezifische Erziehung zumindest nach den ersten Lebensjahren für Philanthropen einen anderen Stellenwert als für Rousseau. Campe forderte sogar 1786 vehement, daß die Ressourcen des Staates verstärkt für die Erziehung der Mädchen in Aussicht gestellt werden müssen. Philanthropische Erziehungskonzepte forderten nachdrücklich Erziehung für beide Geschlechter jedweden Standes und unabhängig vom sozialen Milieu.35 Die Philanthropen waren aus gesellschaftspolitischen und praktischen Erwägungen an einer Theorie der Mädchenbildung und -erziehung interessiert. Die Bemühungen um eine Theorie der Mädchenerziehung selbst sind auch Ausdruck von Verwissenschaftlichungs- und Institutionalisierungsprozessen der Pädagogik.36
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Vgl. Rousseau, Emil, (wie Anm. 25), S. 423. Vgl. u.a. Campe, Johann Heinrich, Ueber die früheste Bildung junger Kinderseelen im ersten und zweiten Jahre der Kindheit, in: Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesen in Deutschland. Hamburg 1785, hier Bd. 2, S. 3–296, bes. S. 237. Stuve, Johann, Ueber die Nothwendigkeit der Anlegung öffentlicher Töchterschulen für alle Stände. Eine Beilage, in: Campe, Johann Heinrich, Ueber einige verkannte Mittel, (wie Anm. 35), S. 55–112. Vgl. Campe, Johann Heinrich, Ueber einige verkannte wenigstens ungenützte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung und des öffentlichen Wohlstandes, zwei Fragmente. Frankfurt 1969 [ND Wolfenbüttel 1786], (Quellenschriften zur Industrieschulbewegung 2), S. 45. Vgl. Mayer, Christina, Die Anfänge einer institutionalisierten Mädchenerziehung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kleinau, Elke / Opitz, Claudia (Hg.), Geschichte der Mädchenbildung. Frankfurt / New York 1996, S. 373f.
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Unterschiede gibt es darüber hinaus im anthropologischen Begründungsanspruch. Natürlich benutzt auch Rousseau empirisches Material. Seine Argumentationslogik folgt einer in der zeitgenössischen Naturwissenschaft vorherrschenden Methode, die Naturgesetze durch die Linse sozialer Beziehungen deutet.37 Er stützte sich bei der Rekonstruktion des Naturzustandes auf die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse von Buffon sowie auf das ihm verfügbare ethnologische Wissen über die „wilden Völker“. Er kannte die Reiseliteratur seiner Zeit.38 Rousseaus empirische Ansätze sind jedoch noch kaum programmatisch entwickelt. Ich werde, so schreibt er im Diskurs über die Ungleichheit des Menschen, mich nicht damit beschäftigen, den natürlichen Zustand des Menschen vom Embryo bis ins spätere Alter zu untersuchen. Man könne über diesen Gegenstand nur vage Vermutungen anstellen. Die vergleichende Anatomie habe bisher nur wenige Fortschritte gemacht. Rousseau geht von dem Zustand aus, wie er den Menschen vor sich sieht.39 Das ethnologische Wissen befragte er nicht in erster Linie nach dem Geschlechtsunterschied oder der Rolle der Geschlechter in der archaischen Gesellschaft, sondern nach dem Ursprung des Menschen als Gattungswesen. Die Philanthropen hatten hingegen andere Quellen. Bei ihnen gibt es den programmatischen Anspruch, das Wesen des Menschen, sein Verhalten, seine moralischen Qualitäten, seine physiologischen und anatomischen Voraussetzungen empirisch zu überprüfen. Sie benutzten nur marginal ethnologisches Material, sie rekurrierten in stärkerem Maße auf Erkenntnisse der zeitgenössischen Medizin, Psychologie und Anthropologie. Wenn sie von der Natur des Menschen sprachen, meinten sie weniger einen archaischen Zustand des Menschen im Sinne Rousseaus, sondern einen physisch gesunden, moralisch gesitteten Menschen. Der Anspruch des philanthropischen Programms war es, auf der Grundlage von medizinischen, psychologischen und anthropologischen Kenntnissen über den Menschen sowie auf der Grundlage von eigenen systematischen Beobachtungsergebnissen rationale normative Erziehungsgrundsätze abzuleiten. Insofern ist der empirische Begründungsanspruch des philanthropischen Programms differenzierter als bei Rousseau. Das Erziehungsprojekt vor allem des Revisionswerkes orientierte sich an dem sich normal entwickelnden, bürgerlich männlichen Kind. Die Einführung eines Mädchenschulwesens spielte bei den Philanthropen dabei zunächst keine herausragende Rolle. Die wichtigen Werke zur Mädchenerziehung erschienen außerhalb des Revisionswerkes, vor allem Campes Väterlicher Rath sowie Stuves Mädchenbildungsprogramm Ueber die Nothwendigkeit der Anlegung öffentlicher Töchter-
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Vgl. Schiebinger, Londa, Das private Leben der Pflanzen: Geschlechterpolitik bei Carl von Linné und Erasmus Darwin, in: Orland, Barbara / Scheich, Elvira, Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaft. Frankfurt 1995, S. 245–269, hier S. 246. Vgl. Rousseau, (wie Anm. 5), S. 96. Vgl. ebd., S. 77f.
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schulen.40 Trotzdem stellt sich die Frage, ob dieses an empirischen Methoden orientierte Programm der Philanthropen auch auf die Beobachtung der Geschlechter bezogen wird und ob aus diesen Beobachtungen Erziehungsregeln abgeleitet werden. Mehr als bei der Erziehung des Jungen, so vermutet Pia Schmid, gehen Theorien zur weiblichen Erziehung von der Deutung des weiblichen Körpers aus. Theorien zur Erziehung der weiblichen Theorie kommen nicht umhin, den weiblichen Körper zu deuten.41 Steht die Debatte um weibliche Erziehung nur im Kontext des neuen bürgerlichen Familienbildes42 oder in gleichem Maße im Kontext des zeitgenössischen anthropologischen Diskurses? Inwiefern hat Rousseaus Weiblichkeitsentwurf die Diskussion im Philanthropismus beeinflußt? Noch lange bevor der Kommentar zum Emil im Revisionswerk erschien, setzt sich als einer der ersten Basedow in seinem Methodenbuch für Väter und Mütter mit Rousseaus 5. Kapitel auseinander.43 Zu dieser Zeit ist die Auseinandersetzung mit Rousseau, dessen Bücher in verschiedenen europäischen Ländern verboten wurden, für Basedow noch in einem Maße kompromittierend, daß er den Autor des Emil nicht nennt.44 Basedows Erkenntnisse über die Entwicklung des weiblichen Geschlechts sind gering. Er verfügt, was er selbst zugibt, über keine Erziehungspraxis. Er will sich deshalb im Gedankengang an Rousseaus Ausführungen im Emil halten, die er schätzt und für tiefgründig hält.45 Er setzt der einfachen Einteilung des starken und schwachen Geschlechts eine differenziertere entgegen: Das männliche Geschlecht sei von Natur aus geschickter, viel zu arbeiten, Erfahrungen aus der Ferne einzubeziehen, Handwerke, Künste, Commerzien oder Wissenschaften zu erlernen. Mit seiner Stärke könne er die Familie schützen. Diese Stellung legitimiere den Mann zur Herrschaft.46 Unerfahrenheit, Weichlichkeit, Furchtsamkeit sowie ein starker Hang zur Kleinlichkeit seien unmännliche Eigenschaften des anderen Geschlechts. Die Frau dürfe sich nicht so teilen und zerstreuen wie der Mann. Sie sei seine natürliche Ratgeberin. Sie nehme, selbst beherrscht, Anteil an der Herrschaft durch die Erziehung der Kinder sowie durch ihre Aufsicht über Hausgenossen und das Gesinde. In der Bestimmung der Geschlechterdifferenz gibt es kaum Differenzen zu Rousseau. Basedow benutzte noch kein eigenes empiri40
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Vgl. Jonach, Michaela, Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und Jean-Jacques Rousseau. Frankfurt 1997, S. 99. Vgl. Schmid, Pia, Sauber und schwach, stark und stillend. Der weibliche Körper im pädagogischen Diskurs der beginnenden Moderne, in: Akashe-Böhme, Farideh (Hg.), Von der Auffälligkeit des Leibes. Frankfurt 1995, S. 55–79, hier S. 55. Vgl. Schmid, Pia, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen, in: Kleinau, Elke / Opitz, Claudia (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, 2 Bde. Frankfurt / New York 1996, hier Bd. 1, S. 327–345, S. 329. Basedow, Bernhard, Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Altona / Bremen 1770. Vgl. ebd., S. 273. Vgl. ebd. Vgl. Basedow, Methodenbuch, (wie Anm. 43), S. 276.
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sches Material zur Charakterisierung des weiblichen Geschlechts. In seiner Argumentationslogik folgt er allerdings nicht Rousseau. Eine Erziehung des weiblichen Geschlechts zur Natur spielt bei ihm keine Rolle. Johann Jacob Brechter schließt in seinen Anmerkungen über das Basedowsche Elementarwerk direkt an Rousseau an. Er argumentiert bezüglich der Geschlechterdifferenz etwas differenzierter als Basedow, ohne die grundsätzlichen Prämissen in Frage zu stellen. Es geht ihm um ein Muster, nach dem alle Eltern ihre Töchter erziehen können. Er relativiert jedoch Rousseaus Beobachterstandpunkt. Er könne sich nicht ohne Zwang in dasjenige einlassen, was der Frau ganz eigen sei. Sein Charakter, seine Denkungsart, seine Gewohnheiten sich auszudrücken, hinderten ihn daran. Man könne demnach nichts Vollkommenes erwarten.47 Seine Hauptkritik an Rousseau und Basedow bezieht sich darauf, daß keine wirklichen Vorschläge zur Verbesserung der Erziehung gemacht werden.48 Auch hinsichtlich seines Begründungsanspruches folgt Brechter nicht Rousseau: Zwar hebt er wie Rousseau den Geschlechterunterschied hervor. So solle man bei der Erziehung ganz allgemein stärker auf die Eigenheiten des Geschlechts achten. Eine Frau mit maskulinen Gesichtszügen und Sitten und mit einem robusten Charakter empfindet er als einen ekelhaften Anblick. Daß solche falschen Eindrücke entstehen, führt er nicht auf die Natur, sondern auf eine geschlechtsunspezifische Erziehung zurück. Eine Vermischung der Geschlechter und der Erziehung, so glaubt Brechter, führe zu Verunstaltungen und richte Schaden an. Er begründet die Geschlechterdifferenz allerdings nicht mit medizinischen, psychologischen oder anthropologischen Erkenntnissen. Für entscheidend hält er, wie die Konvention darüber urteilt.49 Der Körper der Frau spielt demnach keine autonome und die Frau als Subjekt stärkende Rolle. Die Frau erkennt sich nicht als Geschlechtssubjekt durch ihr Geschlecht, sondern durch einen religiös-moralischen Verhaltenskodex. Der Religion gebührt, so Brechter, bei der Erzeugung von Tugenden der oberste Rang. Aus der Religion leiten sich die wahren Grundsätze der Erziehung ab. So geht es Brechter nicht um die Identitätsfindung über den Körper, sondern um dessen Verhüllung. Man hat die Stellung des Leibes bei einer Frau so zu ordnen, daß sie der Sittlichkeit entsprechen. Man müsse sie nicht wissen lassen, daß Brüste von Bedeutung sind, noch weniger, daß sie Männern ein erotisches Lustobjekt sind. Aus der strengen, empirisch aber nur schwach oder gar nicht fundierten Markierung der Geschlechterdifferenz schließt Brechter auf eine strenge Trennung der Geschlechter und plädiert für differenzierte Erziehung auf der Grundlage der Geschlechtsunterschiede sowie der unterschiedlichen sozialen Rollen. In seinem Gesellschaftsmodell ist die Frau dem Mann subordiniert. Sie partizipiert nur im häuslichen Milieu an der Gesell-
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Vgl. Brechter, Johann Jacob, Anmerkungen über das Basedowische Elementarwerk. Zürich 1772, S. 204. Vgl. ebd., S. 207. Vgl. ebd.
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schaft. Man benötige keine philosophierende Frau, sie sei für die Arbeiten ihres Geschlechts, für das Waschen, die Kinderbetreuung, den Abwasch usw. verantwortlich.50 Dort, wo Brechter den Ausgangspunkt bei dem Körper der Frau nimmt, argumentiert er nicht im Sinne Rousseaus, sondern im Sinne einer Korrektur der Natur zugunsten einer Mäßigung.51 Diese frühe Auseinandersetzung mit Rousseaus Geschlechteranthropologie wird in den folgenden Jahren nicht unmittelbar fortgesetzt. In den 70er Jahren ist der Bezug auf eine Sonderanthropologie der Frau und eine darauf basierende Erziehung selten. Zwar meinte ein Autor Anfang der 70er Jahre in der Allgemeinen Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen, daß alles, was von der Erziehung der Frau gesagt werden könne, sich aus den Prinzipien der Organisation ihres Körpers und dem besonderen Zweck ihres Geschlechts herleite.52 Der Bezug auf den weiblichen Körper blieb aber vordergründig. In dieser Zeit überwiegt die Kritik am überkommenen Erziehungssystem. Man monierte, daß eine Erziehung des weiblichen Geschlechts nicht stattfindet. Thematisch wird danach gefragt, ob die Erziehung der Töchter sich für die „große Welt“ öffnen oder ob sie auf das traditionelle Hausmilieu beschränkt bleiben sollte. Sollen die Mädchen lesen und den galanten modernen Roman als Schule der Manieren, des Umgangs, des Witzes und Scharfsinnes, der Herzensbildung und Einbildungskraft begreifen, oder sollen sie, wie es bereits Fénelon forderte, den Roman meiden, weil er den Kopf mit lauter Träumereien anfüllt und weil er weder eine Beziehung zu den wahren Beweggründen noch zu den Fehlern der jungen Mädchen hat?53 Im allgemeinen lehnen Erziehungsschriftsteller in dieser Zeit eine weltoffene Bildung für das weibliche Geschlecht ab. Das Romanlesen verführe, so ist der Tenor, zu unsittlichem Handeln, es motiviere zur Ausschweifung des menschlichen Herzens, es vermittle nicht, die Wahrheit vom Falschen zu unterscheiden, es entfremde das Mädchen von seinen Aufgaben.54 Den umfangreichsten Beitrag zur Erziehung des weiblichen Geschlechts legte innerhalb des Philanthropismus Johann Heinrich Campe mit seinem Väterlichen Rath für meine Tochter vor. Es war das populärste zeitgenössische Buch über die Mädchenbildung.55 Seine Schrift geht, was Systematik, Kohärenz und gedankliche Klarheit betrifft, über Basedows und Brechters Erziehungsschriften für Mädchen weit hinaus. Sie bringt zum ersten Mal das Rousseausche Erziehungsprogramm für
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Vgl. Brechter, Anmerkungen, (wie Anm. 47), S. 252. Vgl. ebd., S. 281. Vgl. Zobel, Rudoplph Wilhelm, Briefe über die Erziehung der Frauenzimmer. Berlin / Stralsund 1773. Vgl. auch die Rezension zu diesem Band in: Allgemeine Bibliothek für das Schulund Erziehungswesen, 1. Bd., II. Stück, Nördlingen 1773, S. 365. Vgl. Von der Erziehung der Töchter, in: Wochenschrift zum Besten der Erziehung der Jugend. II. Band, 37. Stück, Stuttgart 1771, S. 569–584, hier S. 580f. Vgl. Erziehung, (wie Anm. 53), S. 582f. Vgl. Schmid, (wie Anm. 42), S. 331 sowie Jonach, (wie Anm. 40), S. 117ff.
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Mädchen in modifizierter Form in einen systematischen Zusammenhang, ohne die kritische Distanz zu Rousseau zu verlieren.56 Daß Campes Menschenbild von Rousseaus Anthropologie beeinflußt wurde, liegt auf der Hand und kann man am zweiten Teil des Väterlichen Raths für meine Tochter nachvollziehen. Der Mensch, so Campe, ist ursprünglich gut. Wenn er in seinem Lebensvollzug negative Eigenschaften aufweist, wurden diese in einem Vergesellschaftungsprozeß internalisiert. Campe ergänzt, und insofern über Rousseau hinausgehend, diese Auffassung durch ein Erfahrungsargument: Kinder seien im ursprünglichen Zustand gut. Erst die schlechte Behandlungsart mache das Kind schlecht. Dieser Ansatz ist eher behavioristisch als kulturanthropologisch gedacht wie bei Rousseau. Wie Rousseau begreift Campe die Entwicklung des Kindes wesentlich als Selbstentfaltungs- und Selbstaneignungsprozeß. Er relativiert damit den Erziehungsanspruch und die Rolle des Erziehers.57 Campe bestimmt im ersten Teil seines Buches die Frau zunächst wie Rousseau als Gattungs- und Geschlechtswesen. Jedoch folgt sein Programm zunächst keinem Naturideal, sondern dem philanthropischen Erziehungsprogramm. Dieses zielte auf die Verwirklichung eines Glücksanspruches gegenüber sich selbst sowie für andere Menschen. Er verwirklichte sich durch eine zweckmäßige Ausbildung und Anwendung aller Kräfte und Fähigkeiten in demjenigen Kreis, in welchem und für welchen die Vorsehung den Menschen geboren hat. Bei dieser allgemeinen Bestimmung des Menschen argumentiert Campe nicht explizit mit einem anthropologischen Modell oder einer Sonderanthropologie der Frau, sondern mit der kontingenten Stellung des Menschen in einem konkret historischen Umfeld. Sein Ausgangspunkt der zweckmäßigen Entfaltung der Kräfte und Fähigkeiten impliziert, so scheint es, zunächst ein Selbstentfaltungskonzept, das sich allerdings nur auf den konkreten Wirkungskreis der Frau bezieht.58 Bezogen auf die besondere Stellung der Frau stellt sich also die Frage, ob Campe auf der Grundlage von Beobachtungen eine weibliche Sonderanthropologie entwickelt, die seine Erziehungsgrundsätze für die Töchter bestimmt, oder ob er seine Erziehungsregeln allein mit der Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft begründet. Campes Antwort erscheint eindeutig. Er schreibt: Würde man das Verhalten mancher Frauen und Töchter beobachten und sich aus diesen Beobachtungen den Begriff von der weiblichen Bestimmung bilden, käme man zu einem Beobachtungsbild, das die Bestimmung der Frau nur verzerrt wiedergibt.59 Campe verweist hier nicht auf die Beobachtung eines natürlichen Entwicklungsprozesses, sondern 56 57
58 59
Vgl. ebd., S. 118. Vgl. Campe, Johann Heinrich; Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder, in: Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Wolfenbüttel 1786, Bd. 5, S. 29. Vgl. Campe, Johann Heinrich, Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, Braunschweig 1796, S. 8. Vgl. Campe, Väterlicher Rath, (wie Anm. 58), S. 14.
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im Sinne von Rousseau auf die depravierte Erscheinung einer Frau, die ihren sozialen Pflichten nicht mehr nachkommt. Für Campe sind hinsichtlich einer adäquaten weiblichen Erziehung nicht die aus einem Beobachtungsprozeß gewonnenen Daten über die natürliche Entwicklung des Mädchens oder eine physiologischanatomische Sonderanthropologie im Sinne Ackermanns entscheidend, sondern bürgerliche Normen wie Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, wirtschaftliche Kenntnisse und Geschicklichkeit. Die Frau als beglückende Gattin, als bildende Mutter und weise Vorsteherin des inneren Hauswesens ist Maßstab eines inneren Normierungsprozesses. Campes Bildungsprogramm für die Frau als vom Mann sich unterscheidendes Wesen ist demnach kein Selbstentfaltungskonzept, das die natürlichen Anlagen der Frau entwickeln will, sondern ein Entsagungsprogramm,60 das allerdings der sozialen Realität und den sozialen Erfordernissen des ausgehenden 18. Jahrhunderts Rechnung trägt. Sein Programm impliziert zwar die bewußte Verdrängung von Natürlichkeit und verlangt Affektkontrolle und Selbstverleugnung. Vor dem Hintergrund einer sozialen Wirklichkeit erhält jedoch die Bestimmung der Frau durch Campe eine Wertschätzung, die sie in der Rolle einer aktiven und unverzichtbaren Mitgestalterin des sozialen Gesamtwohls sieht.61 Nur an nachgeordneter Stelle verweist Campe auf Momente, die man als weibliche Sonderanthropologie deuten kann, auf eine natürliche Abhängigkeit, auf die geistige und körperliche Unterlegenheit der Frau. Der Mann verfügt, hierin Rousseau und tradierten Vorstellungen folgend, über stärkere Muskelkraft, straffere Nerven, unbiegsamere Fasern, ein gröberes Knochengebäude, kühneren Unternehmungsgeist sowie über Anlagen zu einem umfassenderen Verstande. Ihn zeichnen Stärke, Kühnheit, Kraft von Leib und Seele aus. Die Frau ist für Campe hingegen schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig. Nur in einzelnen physiologischen Bestimmungen gibt es Differenzen: So nimmt Campe an, daß der sinnliche Wollusttrieb beim Mann doch stärker ist als bei der Frau. Allerdings sei der Trieb kürzer und der Mann könne leichter zu seinen Pflichten zurückkehren. Es sei daher zu rechtfertigen, daß die Gesetze für das weibliche Geschlecht schärfer seien als für den Mann.62 Campe orientierte sich hier weniger an Rousseau, sondern offenbar an Unzer, der in seiner in der Allgemeinen Revision erschienenen Schrift über die Diätetik der Schwangeren die Schwäche der Frau mit ihrer physiologischen Beschaffenheit erklärt hatte. Der weibliche Körper habe längere und schlaffere, dafür weniger verwickelte, zugleich zähere Fasern, um die Anstrengungen einer Schwangerschaft zu überstehen. Als Ausgleich habe sie dafür schwä-
60 61 62
Vgl. Schmid, (wie Anm. 42), S. 332. Vgl. Campe, Väterlicher Rath, (wie Anm. 58), S. 18f. Vgl. auch Campes Anmerkungen zu Rousseaus Emil in: ders. (Hg.), Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Wien / Braunschweig 1791, Bd. 15, S. 26f.
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chere Nerven als der Mann.63 Aus ihrer physiologischen Disposition leitet Unzer ein Verhaltensideal ab, das der Frau einen mäßigen Umgang mit Leidenschaften, Verzicht auf Stärke und freiwillige Ehrfurcht auferlegt.64 In seinem Rousseaukommentar differenzierte Campe seine Auffassungen. In ihm gibt es Hinweise dafür, daß er in Anlehnung an Rousseau von unterschiedlichen intellektuellen Entwicklungsprozessen von Mädchen und Jungen ausging und daß diese ein geschlechtsspezifisches Erziehungssystem begründen, das Mädchen wie Jungen einen emanzipatorischen Entwicklungsraum zugesteht.65 Diese Konsequenz zieht Campe jedoch nicht. Er beruft sich zwar auf die Natur der Frau, begründet aber mit ihr wie Rousseau nur bestehende soziale Geschlechterrollen. Frau und Mann hätten einen ganz anderen Maßstab zur Ausmessung des Grades ihrer Vollkommenheit. Ein Weib, welches dem Geiste nach ein vollkommener Mann sei, würde ein ebenso mißgebildetes Wesen sein wie ein Mann, der dem Körper nach ein vollkommenes Weib wäre. Beide würden ihrer Bestimmung nicht nachkommen können. Campe formuliert hier stärker als in anderen Schriften seine tiefe Aversion gegen eine Geschlechtervermischung: Das Weib als Mann, so Campe und Trapp in ihrem Rousseau-Kommentar, ist eine Mißgeburt.66 Von Natur aus verfügt die Frau, so Campe, über die Tugenden der Geduld, Sanftmut, Nachgiebigkeit und Selbstverleugnung. Auf Grund dieser natürlichen Disposition ergebe sich ein gesellschaftliches Rollenverhalten: Der Mann ist Herrscher, Beschützer und Oberhaupt.67 Diese natürliche Bestimmung ist jedoch bei Campe nicht das Bestimmende. Die psycho-physiologischen Gründe sind für Campe sekundär. Selbst wenn die Natur der Frau Kräfte des Geistes gegeben hat, die sie in eine aktive, zum Mann in Konkurrenz stehende Rolle drängen, gebe es eine bürgerliche Verfassung, die eine Partizipation der Frau verhindert.68 Obwohl Campe damit weibliche Erziehung in erster Linie mit der Bestimmung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft begründet, bleibt er in methodischer Hinsicht durchaus der empirischen Programmatik der Philanthropen verpflichtet. Sein Text zur Erziehung der Mädchen ist grundlegend zum Verständnis einer Anthropologisierung der Pädagogik und des philanthropischen Erziehungsprogramms. Er wendet sich dagegen, daß Sitten, Moden, die Lebensart und Vorurteile die Frau furchtsam, schwach, kleinlich, ängstlich und unbeholfen machen.69 Ihre natürliche Stärke und Gesundheit müsse die Frau gegen gesellschaftliche Konventionen und Modedünkel durchsetzen. Insofern relativiert er die Dominanz einer die Frau in 63
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Vgl. Unzer, Johann Christoph, Die Diätetik der Schwangeren, in: Campe, Johann Heinrich (Hg.), Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Hamburg 1785, Bd. 3, S. 4. Vgl. ebd., S. 47ff. Vgl. Campe, (wie Anm. 62), S. 68ff. und S. 80f. Vgl. Trapps und Campes Anmerkungen zu Rousseaus Emil, (wie Anm. 62), S. 39. Vgl. Campe, Allgemeine Revision, (wie Anm. 62), S. 23. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. Trapp, (wie Anm. 62), S. 35.
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ihren natürlichen Anlagen verbiegenden Norm.70 Zudem realisiert er in der Durchführung seiner Gedanken exemplarisch die empirische Programmatik der Philanthropen. Er geht konsequent von der Bestimmung des Menschen und der Bestimmung der Frau für ein Erziehungskonzept aus.71 Dieses Argumentationsmuster läßt sich durchgehend verfolgen. Campe fragt bei konkreten Tätigkeiten der Frau immer zuerst danach, ob sie der Bestimmung der Frau und ihren körperlichen und geistigen Voraussetzungen entsprechen. Er argumentiert hier kohärenter und konsequenter als Rousseau. Ich darf, so schreibt er etwa über die Lesebegierde, statt jedes anderen Beweises, mich auf die Erfahrung und die Wahrnehmung der Leser berufen, die gewohnt sind, mit beobachtenden Blicken die Dinge zu sehen und über Ursachen und Folgen des Beobachteten zu reflektieren.72 Er verweist hier auch darauf, daß das philanthropische Erziehungsprogramm auf Erfahrungsgrundlagen basiert.73 Sein Selbstverständnis als Aufklärer hängt mit Vernunft- und Erfahrungserkenntnis zusammen.74 Insofern folgt seine Argumentationslogik dem empirischen Programm der Philanthropen. In der grundsätzlichen Bestimmung der Frau argumentiert er allerdings vom Standpunkt einer den Menschen primär in seiner sozialen Ordnung bestimmenden Anthropologie. Ob sein Erziehungskonzept für die Frau eine Hinwendung zur psycho-physiologischen Anthropologie dokumentiert, wofür es im zweiten Teil seiner „Ratschläge“ Hinweise gibt, kann man jedoch anzweifeln. Der normative Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft bleibt für die Erziehung dominant. Eine an erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen der Medizin, Anatomie oder Physiologie und Anthropologie sich anschließende Argumentation läßt sich nur in Ansätzen nachweisen. Jene Mediziner und Anthropologen, die auf den Geschlechterunterschied medizinisch und anatomisch rekurrierten und die einen Zusammenhang zwischen Physis und Moral der Frau herstellen wollten, wie die Franzosen Pierre Roussel, Cabanis oder auch der deutsche Anatom Ackermann, spielen bei Campe noch keine wesentliche Rolle. Die Erfahrungsdaten, die Campe aus eigenen Untersuchungen und Beobachtungen dem Erziehungsprozeß zu Grunde legt, sind für seine grundsätzlichen Erziehungsgrundsätze der Frau nicht konstitutiv. Und auch auf eigene Beobachtungen über die natürlichen Bedürfnisse der Frau greift Campe
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Vgl. ebd., S. 37f. Campe gibt detaillierte Vorstellungen über den Menschen in seinem zweiten Teil seines Väterlichen Raths. Er geht dort vor allem auf die Eigentümlichkeiten verschiedener Menschenklassen ein. Diese Eigentümlichkeiten bezieht er allerdings nicht auf die Geschlechterdifferenz, vgl. ders., Väterlicher Rath, (wie Anm. 58), S. 264. Vgl. ebd., S. 65. Über den Beobachterstandpunkt eines weisen Mannes schreibt Campe im zweiten Teil seines Väterlichen Raths, daß man sich niemals von Stimmungen leiten lassen solle, sondern Zeiten und Umstände berücksichtigen muß. Erst wenn man Beobachtungen in genügender Anzahl gesammelt hat, ist man imstande, den gewöhnlichen Seelenzustand des Beobachteten von dem ungewöhnlichen zu unterscheiden, vgl. ebd., S. 467f. Vgl. ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 378f.
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kaum zurück. Die die Frau determinierenden physiologischen und anatomischen Faktoren sind bei Campe so undifferenziert und variationsarm, daß man von einer weiblichen Sonderanthropologie nicht sprechen kann. Er beschreibt zwar Unterschiede der Geschlechter. Seine Beschreibung bezieht sich aber meist auf Verhaltensweisen, denen apodiktisch unterstellt wird, sie seien für das Geschlecht typisch. Neugier, Schamhaftigkeit, Fröhlichkeit, Unbeschwertheit, geringes Urteilsvermögen, Reinlichkeit, Neigung zur Zierde, zum Schmuck usw., Geschwätzigkeit, Weichheit, Gefühlsseligkeit usw. sind keine anthropologischen Kategorien, sondern entstammen aus einem Gemisch von Alltagswahrnehmung, Gewohnheitszuschreibungen und Vorurteilen. Systematische Beobachtungen fehlen. Somit löst Campe das, was seine eigene empirische Programmatik sowie die von Trapp und Stuve verspricht, nämlich die menschliche Natur zu erforschen, um auf den Ergebnissen der Beobachtung und des Experiments Erziehungsregeln zu begründen, bei der Erziehung der Töchter nicht ein. Trapp kritisierte in seinem Kommentar genau den Punkt, den auch Campe vernachlässigte. Rousseau, so Trapp, wechsle immer die Bezugsebenen zwischen Beobachtung und Vernunft. So behauptet er von einem Geschlecht das, was nur bei einzelnen Individuen zu beobachten ist. Und selbst diese habe er durch das gefärbte Glas seines Unwillens gesehen. Hier klingt der Vorwurf einer unpräzisen und durch Vorurteile belasteten Beobachtung an. Vor allem die negativen Beschreibungen seien bei Rousseau verabsolutiert.75 Und Campe selbst kritisierte Rousseau in seinem Kommentar: Rousseau verwechsle beständig die gesellschaftlich beim Menschen geprägten Momente mit der Ebene des Menschen, die naturhaft sei.76 Er kritisierte, daß Rousseau die Merkmalszuschreibungen der Frau, die sie als Naturwesen charakterisieren, willkürlich seien. Vieles, was Mann und Frau auszeichne, resultiere aus der unterschiedlichen Erziehung, nicht aus der Natur.77 Campe berührte hier einen wichtigen Punkt: Rousseaus Frauenbild beruht auf einer willkürlichen Zuschreibung von Merkmalen, die weder verifizierbar sind noch sich überzeugend als Natureigenschaften ausweisen. Er kritisiert an Rousseau genau jenes, was zum erfahrungswissenschaftlichen Programm der Philanthropen gehörte, nämlich die fehlende empirische Fundamentierung von Rousseaus Weiblichkeitsentwurf. Die Merkmale, die Rousseau den Frauen zuschreibt, so Campe, seien fehlerhaft. Er habe etwas von seiner Einbildungskraft hinzugetan, was sich im Original nicht findet. Die Natur bilde keine Wesen mit Eigenschaften, die sich widersprechen und einander aufheben.78 Diese Kritik hinderte Campe nicht daran, gleichfalls die Einbildungskraft an die Stelle einer genauen Beobachtung zu setzen. Er bleibt mit seinem Väterlichen Rath hinter dem anthropologischen Programm des Philanthropismus zurück. Bei ihm konkur-
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Vgl. Trapps Anmerkungen zu Rousseaus Emil, (wie Anm. 62), S. 18f. Vgl. Trapps und Campes Anmerkungen, (wie Anm. 62), S. 35. Vgl. die Anmerkung Campes zu Rousseaus Emil, (wie Anm. 62), S. 7. Vgl. Campe, (wie Anm. 62), S. 220.
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rieren zwei Grundsätze des Philanthropismus miteinander, die sich in der Erziehung der Mädchen scheinbar nicht miteinander verbinden lassen. Die utilitaristische Ausrichtung des Programms steht in Konkurrenz zur Natur der Frau. Das utilitaristische Moment dominiert und wird auf die Natur der Frau projiziert. Campe sieht allerdings zwischen der natürlichen Entwicklung des Mädchens und ihrer zukünftigen sozialen Rolle keinen Widerspruch. Er überwindet sogar, das hatte er bereits in früheren Schriften ausführlich begründet, die durch Rousseau eingeführte Trennung von Mensch und Bürger. Für Rousseau mußte eine Erziehung, die das Kind zum Menschen erzieht, auf die ursprüngliche Veranlagung des Kindes zurückgehen. Man müsse sich, so Rousseau, entscheiden, ob man das Kind für andere oder für sich erzieht. Im ersten Fall richte sich Erziehung gegen die Natur des Kindes, im zweiten gegen die sozialen Einrichtungen. Man müsse entscheiden, ob man einen Bürger oder einen Menschen erziehen wolle, beides zugleich sei unmöglich.79 Campe gelingt eine wichtige Differenzierung. Die abgeleiteten Kräfte oder Fähigkeiten sind spezialisierte oder modifizierte Kräfte, die das Kind in Abhängigkeit von seiner zukünftigen Bestimmung entwickelt. Campe beschreibt damit keinen notwendigen Entwicklungs-, sondern einen Modifizierungsprozeß, der sich in Abhängigkeit von einer prospektiven sozialen Entwicklung vollzieht. Die abgeleiteten Kräfte stehen und entwickeln sich damit nicht im Widerspruch zu den ursprünglichen Kräften. Vielmehr müsse der Erwerb spezieller Fertigkeiten auf der Entwicklung der ursprünglichen Kräfte beruhen.80 Die Entwicklung der abgeleiteten Kräfte befähigen das Kind zur Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Die Entwicklung der ursprünglichen Kräfte des Kindes ist hingegen essentiell für alle substantiellen biologischen und sozialen Lebensvorgänge. Campe sah im Unterschied zu Rousseau die Entwicklung der ursprünglichen Anlagen nicht im Widerspruch zu einer gesellschaftlichen Anpassung. Je mehr die ursprünglichen Kräfte des Menschen, so formuliert Campe seine Regel, sich dem Ebenmaß nähern, desto größer und ausgebreiteter ist seine Brauchbarkeit im bürgerlichen Leben.81 Er bezog sich mit dieser Argumentation zwar nicht auf eine geschlechtsspezifische Erziehung. Jedoch erklärt sie, daß Campe keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Selbstentfaltung der Vermögen des Mädchens und einer Erziehung sah, die der sozialen Bestimmung der Frau gerecht wird. Die Auffassungen anderer Philanthropen widersprechen denen Campes nur in Details. Die Pflichten der Hausfrau, der Gattin und Mutter stehen im Vordergrund
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Vgl. Rousseau, Emil (wie Anm. 25), S. 12. Campe, Johann Heinrich, Von der nötigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichtes unter den menschlichen Kräften, in: Bildung und Brauchbarkeit, hg. v. Herwig Blankertz. Braunschweig 1965, S. 45. Vgl. Campe, Sorge, (wie Anm. 80), S. 47.
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einer sich aus dem Nutzen herleitenden Erziehung.82 Eine modische Erziehung, die sich an Äußerlichkeiten orientiert und dem Zeitgeist folgt, lehnen Philanthropen ab. Daß Philanthropen eine modische Erziehung ablehnen und auf die Bestimmung der Frau als Gattin, Mutter und Hausfrau insistieren, bedeutet jedoch nicht, daß Mädchen eine auf modernen Wissensbeständen aufbauende Bildung vorenthalten werden soll. Kenntnisse über die Natur, die Beschaffenheit von Mineralien, Kenntnisse über die Körper von Tieren, Pflanzen und Menschen bereiten es auf das Leben vor und gehören zum Bildungsrepertoire.83 Die Wissensvermittlung soll allerdings nicht in erster Linie an einem allgemeinmenschlichen oder Selbstentfaltungsideal, sondern am Nutzen für die bürgerliche Gesellschaft orientiert werden. Lange Zeit galt vor allem Salzmann als Pädagoge, dem man eine frauenemanzipatorische Erziehungspraxis nachsagte. Ihm wurde zugeschrieben, daß er Mary Wollstonecrafts A vindication of the Rihghts of Woman übersetzt und populär gemacht hat und daß er in zentralen Postulaten deren emanzipatorische Sicht auf die Frauen teilte. Michael Niedermeier hat hingegen darauf hingewiesen, daß Salzmann mit den erziehungstheoretischen Überlegungen anderer Philanthropen übereinstimmte und daß er in wesentlichen Annahmen Wollstonecraft widersprach.84 Zwar hat Salzmann eine weltoffene Bildung für Mädchen praktiziert, die ihnen eine eigene Berufswahl ermöglichte, und seine eigenen Töchter waren als Lehrerinnen in Schnepfenthal beschäftigt. In wichtigen Positionen folgte er jedoch Campe: Die Frau war auf die Familie und den Haushalt beschränkt. Sie war dem Mann subordiniert. Sieht man von dem in philanthropischer Tradition stehenden Schnepfenthaler Gelehrten Georg Friedrich Weißenborn ab, gehen Philanthropen also in der Frage der Geschlechtererziehung und ihrer anthropologischen Fundamentierung über Rousseau kaum hinaus. Trotz partieller Differenzen gibt es in der Erziehung der Töchter wichtige Übereinstimmung. Rousseau hat recht, meinte Brechter, wenn er sagt: Ein Frauenzimmer müsse nicht durch Trotzen, sondern durch süße Worte, durch Nachgeben und Unterordnung sich fügen. Lasset eure Töchter nie auffahren, sondern gewöhnt sie im Geiste Rousseaus an das Nachgeben, Erdulden, Ertragen der Fehler und Schwachheiten.85 Erziehung von Mädchen, das hat Pia Schmid festgestellt, ist bei Philanthropen restriktiv angelegt.86 Während die Anthropologie vom Menschen an exponierten Stellen in Lehrbüchern für Kinder sowie in zentralen Schriften behandelt wird und das Erziehungssystem begründen soll, gibt es keine differenzierte Geschlechteranthropologie. Die Bestimmung
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Vgl. Wolke, Christian Heinrich, Ob das weibliche Geschlecht einer Verbesserung oder größern Vervollkommnung fähig und würdig sei?, in: Pädagogische Unterhandlungen 3 (1781), S. 417–427, hier S. 417. Vgl. ebd., S. 420ff. Vgl. Niedermeier, Michael, Die Wollstonecrafte-Salzmann-Legende, in: Zeitschrift für Germanistik (1993) 3, S. 606. Vgl. Brechter, (wie Anm. 47), S. 283. Vgl. Schmid, (wie Anm. 42), S. 337.
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der Geschlechter im Erziehungs- und Unterrichtsprozeß bereitet Schwierigkeiten. Im Braunschweigischen Journal diskutierte man 1788 darüber, ob es günstig sei, den Geschlechterunterschied den Heranwachsenden an Toten zu verdeutlichen: „Wenn schnöde Wollust dich erfüllt“ / , so argumentierte ein Pädagoge, „So werde durch dies Schreckenbild / Verdorrter Todtenknochen / Dein Kitzel unterbrochen.“.87 Der Autor lehnte diese Praxis, und zwar im Unterschied zu Campe, ab, jedoch ist die Belehrung der Kinder über den Geschlechtsunterschied für die Pädagogen in erster Linie ein sittliches Problem. Nicht über die Unkenntnis der anatomischen Unterschiede, sondern über die Gefahr, daß mit dem Zeigen der Geschlechtsorgane geschlechtliche Wollust erzeugt wird, reflektierten Pädagogen. Erziehung des Mädchens, das wird an diesem didaktischen Beispiel deutlich, wird nicht mit der Natur der Frau oder ihren anthropologischen, physiologischen und psychischen Eigenheiten begründet, sondern von außen als Sanktion formuliert, die sozial oder religiös begründet wird. Nur an wenigen Stellen verweisen philanthropische Pädagogen auf die Natur Frau. Der Rekurs auf die Natur begründet die Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann und schreibt ihre soziale Rolle fest. Auch die auf die Natur der Frau bezogenen Argumentations- und Untersuchungsebenen begründen, daß Frauen aus physiologischen Gründen nicht wissenschaftlich denken können. Es ändern sich zwar Argumentationsstrukturen, die Quellen, die Erziehungsregeln begründen, sowie der Anspruch von Wissenschaftlichkeit. Damit erfolgt gleichfalls, insofern die Erziehung der Töchter nicht ohnehin mit sozialen Erfordernissen legitimiert wird, die Neubegründung einer hierarchischen Geschlechterordnung durch einen Rekurs auf die Natur der Frau. Sie führt aber zu keinen neuen Ergebnissen oder einem anderen Bild der Frau, sondern zu einer an Rousseau orientierten anderen Form der Legitimation von geschlechtsspezifischen Erziehungsregeln.
Auffassungen zur Anthropologie der Frau und zur geschlechtsspezifischen Erziehung um 1800 Die in den 90er Jahren geführte Debatte um eine geschlechtsspezifische Erziehung kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Sie differenziert sich wesentlich und ist durch alternative Theorien u.a. von Theodor Gottlieb Hippel und Amalie Holst gekennzeichnet. Zwei Hauptrichtungen bleiben aber bestehen. Sie verbindet der Bezug auf die Anthropologie und die Natur der Frau. Der Rekurs auf die originäre und sich vom Mann unterscheidende Natur der Frau legitimiert Argumentationsstrategien, die allerdings in kontroverse Schlußfolgerungen münden.
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Vgl. Winterfeld, M. A., Ueber die Art und Weise Kinder über den Unterschied der Geschlechter zu belehren, in: Braunschweigisches Journal I (1788) 8, S. 102–109, hier S. 104.
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Dominant bleibt auch in der Folgezeit die von philanthropischen Pädagogen vertretene Position, daß die Erziehung des „Frauenzimmers“ sich auf das Hauswesen orientieren muß. Die Regeln für die Erziehung der Töchter werden aber viel stärker aus den Prinzipien der Organisation des Körpers der Frau sowie dem besonderen Zweck ihres Geschlechts hergeleitet.88 Diese sehr allgemeine Feststellung, die bereits in den 70er Jahren verbreitet war und die eine geschlechtsspezifische und auf traditionellen Werten basierende Erziehung legitimieren sollte, wird um 1800 konkretisiert: Das Wesen des weiblichen Körpers, so argumentieren Autoren um 1800, liege nicht in der Schwäche des Körpers oder der Gehirngröße der Frau, sondern in der Ökonomie des gesamten weiblichen Körpers. Die Natur bestimme den weiblichen Körper zur Erzeugung, Bildung und Ernährung der Frucht. Folglich sei es notwendig, daß ein großer Teil der Nerven- und Körperkraft sich auf die Erfüllung dieses Zwecks konzentriere. Die Zuströmung gewisser Säfte und Kräfte zu den Teilen, wo sich die weibliche Bestimmung erfüllt, sei Naturgesetz und halte auch dann an, wenn die Frau nicht mehr ihrer eigentlichen Bestimmung, dem Gebären von Kindern, nachkommt. Vor dem Hintergrund einer spezifischen Ökonomie des weiblichen Körpers schlußfolgern Autoren dieses Ansatzes auf die Notwendigkeit einer geschlechtsspezifischen Erziehung. Erziehung für das weibliche Geschlecht schließt Bildung im Sinne der Wissenschaften und Künste weitestgehend aus. Erziehung orientiert sich auf die Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft, die Familie, das Hauswesen und die Versorgung der Kinder und des Mannes.89 Das Herrschaftsverhältnis, das die Unterordnung der Frau unter den Mann vorsieht, ist in diesem Zusammenhang nicht nur gottgewollt, sondern naturhaft.90 Die Schlußfolgerungen sind ähnlich wie bei Campe: Bis zum vierzehnten Lebensjahr ist eine geschlechtsspezifische Erziehung kaum relevant. Sie macht sich allenfalls in der Kleidung bemerkbar. Geschlechtsspezifische Erziehung setzt im Moment der Geschlechtsreife ein. Sie bezieht sich aber nicht auf moralische oder religiöse Inhalte, sondern die Töchter werden im Alter der Geschlechtsreife auf ihr zukünftiges Arbeitsumfeld orientiert. Wissenschaftliche und Kunstbildung sind für die Frau nicht nur unnötig, sondern schädlich, weil sie sie von ihren eigentlichen Aufgaben entfremden. Die Frau ist ihrer Natur nach Gattin, Mutter und Hausfrau.91 Anthropologen und Pädagogen, die in der Spätaufklärung von einer Sonderanthropologie der Frau ausgingen, behaupteten also nicht nur eine schwächere Konstitution der Frau in Geist und Körper, sondern begründeten diese Schwäche mit der
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Vgl. Rezension über Briefe über die Erziehung der Frauenzimmer, in: Allgemeine Bibliothek, (wie Anm. 52), S. 365. Vgl. Gieseler, Ueber die vorgebliche Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts, in: Bibliothek der Pädagogischen Literatur, I. Bd., III. Stück, Gotha 1800, S. 418–432, S. 421ff. Gieseler reagierte mit seiner Schrift auf einen Beitrag von Weißenborn, (vgl. Anm. 93), der im Anschluß besprochen wird. Vgl. Gießeler, Zurücksetzung, (wie Anm. 89), S. 426. Vgl. ebd., S. 429.
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größeren Reizbarkeit der Frau, den biegsameren und schwächeren Muskeln, dem rascheren Umlauf des Blutes. Sich auf den anthropologischen Begründungszusammenhang berufend, daß zwischen Körper und Seele eine untrennbare Verbindung bestehe, schlußfolgern sie, daß die Frau auch in ihren intellektuellen Fähigkeiten dem Mann naturhaft unterlegen sei. Entwicklungspsychologisch wurde festgestellt, daß sich der Verstand bei Mädchen zunächst zwar schneller entwickle, aber auf einer gewissen Stufe stehenbleibe. Der Charakter der Frau sei von Natur aus schwach, was mit dem übermäßigen Hang zur Sinnlichkeit begründet wird. Die Rolle der Frau im Haus und als Mutter ließ sich auf diese Weise mit einem Rekurs auf die Natur der Frau erklären. Die methodischen Schwächen dieses apodiktischen Bezugs auf eine unterschiedliche Natur von Frau und Mann wurden von Zeitgenossen allerdings klar erkannt. Der dem Salzmannschen Schnepfenthaler Gymnasium verpflichtete Gelehrte und Lehrer Georg Friedrich Christian Weißenborn, den Michael Niedermeier treffend als wahrhaften Wollstonecraft-Verehrer und Vorkämpfer der Frauenbefreiung charakterisiert,92 vertrat eine radikal gegenteilige Position:93 Er stellte fest, daß man zwischen angeborenen Eigenschaften, Fremd- und Selbsterziehung keine genauen Grenzen ziehen kann. Was als Eigenschaftspotential der Frau ausgegeben wird, kann sich als Erziehungsprodukt erweisen. In Weißenborns Sicht ist es kurzschlüssig, eine bestimmte Verhaltensweise linear auf eine ursprüngliche Anlage zurückzuführen. Die Handlungen des Menschen begründen sich komplex: durch das Verhältnis zu anderen Menschen, durch sein Verhältnis zu den Institutionen der Gesellschaft, durch seinen eigenen Gesundheitszustand, durch seine individuelle Wahrnehmungsweise, durch seine erworbene Bildung, seine erworbenen Neigungen und Angewohnheiten. Die Rückführung einer Handlung oder eines Verhaltens auf die naturhafte Anlage entlarvt er als Spekulation. Sie lasse, so Weißenborn, keinen sicheren Schluß auf die Bestimmung des weiblichen Geschlechts zu. Die Ursache für die von Männern konstatierte Schwäche der Frau liegt, so nahm Weißenborn an, weniger in der Natur des weiblichen Geschlechts, sondern in Erziehungsdefiziten: in einer Erziehung, die eine Selbstentwicklung und -entfaltung nicht zulasse und in einer Bildung, die ausschließlich auf das Häusliche gerichtet sei. Während die Erziehung des männlichen Geschlechts auf freien Umgang, auf gesellschaftliche Zusammenhänge, auf die Bildung der Denkungsart sowie die Entwicklung und Entfaltung der seelischen Kräfte orientiert, projizieren die Erzieher auf Mädchen deren antizipierte gesellschaftliche Rolle.94 Weißenborn plädiert 92 93
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Vgl. Niedermeier, (wie Anm. 84), S. 615. Vgl. Weißenborn, Georg Friedrich Christian, Ueber die bisherige Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts, in: Bibliothek der Pädagogischen Literatur. I. Bd., I–IV Stück, Gotha 1800, S. 81–99, S. 85. Michael Niedermeier nimmt an, dass Weißenborns Frau, Wilhelmine Weißenborn, die Tochter Salzmanns, am ersten Teil mitschrieb (vgl. Niedermeier, [wie Anm. 84], S. 612). Vgl. Weißenborn, (wie Anm. 93), S. 92ff.
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vor diesem Hintergrund für eine geschlechterneutrale Erziehung. Der Geschlechtsunterschied und die natürlichen Anlagen begründen für ihn keine unterschiedlichen sozialen und intellektuellen Kompetenzen. Sie sind überformt durch eine seit Jahrhunderten wirkende unterschiedliche Behandlung der Geschlechter.95 Die Frau wird von Weißenborn, und hierin stimmte er mit Amalia Holst, Theodor Gottlieb Hippel, Mary Wollstonecrafte u.a. überein, nicht mehr nur als Hausfrau und Mutter, sondern als am gesellschaftlichen Leben Partizipierende gesehen. Er kritisierte, daß der Erziehung des weiblichen Geschlechts in der Vergangenheit nicht gleichermaßen Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Ursache dafür sieht er in den bestehenden Machtverhältnissen. Die Frau bedurfte keiner Erziehung, die über die Alltagsgeschäfte des Haushaltes hinausging, weil sie zum Hausgerät des Mannes degradiert war. Auf das Innere des Hauses verwiesen, blieb ihr ein weltlicher Umgang weitestgehend verschlossen.96 Weißenborn lehnte damit eine Begründung von Erziehungsmaximen mit einer weiblichen Sonderanthropologie ab. Trotzdem stellt sich die Frage, ob es um 1800 Erziehungstheorien gab, in denen Pädagogen im Paradigma Rousseaus auf die Natur der Frau verweisen, aber andere Schlußfolgerungen ziehen. Zur gleichen Zeit wie Campes Väterlicher Rath erschien der Artikel von J. M. Schwager Ueber die bürgerliche Verbesserung des weiblichen Geschlechts im Jahrbuch für die Menschheit 97 sowie 1792 Schwarz’ Grundriß einer Theorie der Mädchenerziehung. Schwarz wie Schwager formulieren einen Gegenentwurf zur Anthropologie der Frau bei Rousseau und Campe. Schwarz grenzt sich ausdrücklich von Philanthropen wie Salzmann und Campe ab, deren allgemeine Grundsätze zu einer Pädagogik er zwar nicht generell verwirft, ihnen aber unterstellt, daß sie sich fast ausschließlich auf Männer beziehen.98 Schwarz und Schwager gehen nicht mehr in erster Linie von der sozialen Rolle der Frau aus, sondern von der Frage, welche Bestimmung das weibliche Geschlecht angesichts seiner Kräfte und Anlagen hat. Sie verwerfen das Bild der Frau als schwächeren Teil der Menschheit. Ihre soziale Rolle als Mutter, Erzieherin, Gattin und Gehilfin des Mannes zweifeln sie zwar nicht an, sie bestreiten aber, daß sich die Frau auf das Ausfüllen dieser Rolle beschränken lasse. Die Frau habe grundsätzlich das gleiche Genie wie der Mann. Daß Frauen keine spekulativen Systeme entwerfen, hänge nicht mit ihrem intellektuellen Vermögen, sondern mit ihrer sozialen Rolle zusammen. Dem Aufnahmevermögen der Frau unterstellen sie sogar eine höhere Leistungsfähigkeit. Sie 95 96 97
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Vgl. ebd., S. 94. Vgl. auch Meister, Leonhard, Ueber die weiblichen Fähigkeiten, in: Jahrbuch für die Menschheit (1788), Bd. 2, II. Stück, S. 97–116, S. 101. Vgl. Schwager, Johann Moritz, Ueber die bürgerliche Verbesserung des weiblichen Geschlechts, in: Jahrbuch für die Menschheit oder Beyträge zur Beförderung häuslicher Erziehung, häuslicher Glückseligkeit und praktischer Menschenkenntniß, hg. v. Friedrich Burchard Beneken. Hannover 1789, Bd. II, IV. Stück, S. 364–397. Vgl. Schwarz, Friedrich Heinrich Christian, Grundriß einer Theorie der Mädchenerziehung in Hinsicht auf die mittleren Stände. Jena 1792, S. 11.
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vermuten, daß ihre heuristischen Fähigkeiten auf Grund ihrer höheren Alltagsenzyklopädie ausgeprägter seien. Auch die Einbildungskraft und gedankliche Flexibilität seien bei Frauen in der Regel größer als bei Männern. Selbst bei der Bewertung der körperlichen Konstitution der Frau gehen sie davon aus, dass sie dem Mann ebenbürtig sei. In wilden Völkerschaften sowie in niederen Volksklassen, so die Argumentation von Schwager, erledigen Frauen vergleichbare Tätigkeiten wie Männer.99 Zwar seien Körperbau und Nervenstränge schwächer, das wurde durch die vergleichende Anatomie bereits Mitte der 70er Jahre konstatiert, jedoch tue der Mann alles, um diese anatomischen Unterschiede in soziale zu transportieren, um sein Herrschaftsverhältnis aufrechtzuerhalten. Die Frauen müßten, so schlägt Schwager vor, in gleicher Weise körperlich abgehärtet und ertüchtigt werden wie die Männer. Die als Krankheit definierte monatliche Regelblutung solle die Frau nicht als Krankheit oder Einschränkung erfahren, sondern als periodische Wohltat empfinden.100 Schwager geht nicht vom Typus Frau aus, sondern von der Variationsbreite der menschlichen Konstitution. Damit verweist er implizit darauf, daß die anatomisch konstatierte Bipolarität der Geschlechter eine ungenügende Klassifizierung ist, um auf konstitutive Merkmale der Frau, auf ihre Moral und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schließen. Als Quellen nennt er u.a. ethnologische Zeugnisse, die für ihn ein hohes Maß an Argumentationskraft besitzen, weil sie den ursprünglichen Zustand näher beschreiben als Beobachtungen in der modernen Gesellschaft Mitteleuropas. Er verweist außerdem auf das Alltagsmilieu von Frauen aus niederen Schichten. Daß sich der dortige Frauentypus von der bürgerlich situierten Frau unterscheidet, hatte bereits Krünitz in seiner 1788 erschienenen Encyclopädie festgestellt: [...] die Weiber des gemeinen Mannes, welche oft gar die schwersten Arbeiten verrichten müssen, [sind] mehr wie Mannspersonen, als Frauenzimmer anzusehen. Man sieht sie auf den Marktplätzen auf dem Felde, aller Orten mit den Männern vermischt: sie müssen sich unter eben die Lasten biegen; und kommen sie nach Hause, so warten neue Arbeiten auf sie. Die Frau [...] scheint beyden Geschlechtern anzugehören, und muß nicht allein ihre eigenen Arbeiten, sondern auch noch sehr oft die Arbeit des Mannes übernehmen.101
Diesen Frauentypus hatten Rousseau und Campe noch nicht im Blick. Rousseau, besonders aber Campe, übertragen ihre Charakterisierung des weiblichen Geschlechts innerhalb des bürgerlichen Milieus auf alle übrigen Stände. Aus der sozial bestimmten Kategorie des weiblichen Geschlechts wird der weibliche Stand.102 Die Vielfalt körperlicher, sozialer und kultureller Unterschiede wird dadurch nivelliert und angepaßt an die Anforderungen, die an die bürgerliche Frau der Mittelschichten gestellt werden.103 Bei Schwager sind die anatomischen und 99 100 101 102 103
Vgl. Schwager, (wie Anm. 97), S. 373. Vgl. ebd., S. 392. Zit. nach Jonach, (wie Anm. 40), S. 132. Vgl. ebd., S. 133. Vgl. Kersting, (wie Anm. 2), S. 384.
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physiologischen Merkmalszuweisungen hingegen differenzierter. Die Wahrnehmung von unterschiedlichen Manifestationen von Weiblichkeit entsprechend dem jeweiligen sozialen Milieu hinderte Schwager daran, (s)ein Weiblichkeitsbild zu generalisieren. Auf der Grundlage der natürlichen Bestimmung der Frau fordert er keine Sondererziehung für Töchter und Frauen, sondern die soziale Gleichstellung sowie die Öffnung aller Berufsgruppen für Frauen. Damit stellt er die Dichotomisierung des menschlichen Geschlechts generell in Frage.104 Auch Schwarz verweist dezidiert darauf, daß sich erst nach gründlicher Kenntnis der weiblichen Natur eine Erziehungstheorie entwerfen lasse.105 Vor allen Dingen müsse man den Unterschied der Charaktere der Geschlechter, die in der Natur gründen, untersuchen, um eine Erziehungstheorie der Geschlechter zu entwickeln. Die natürlichen Unterschiede, auf die Schwarz verweist, betreffen den Körperbau, die feinere Organisation des Körpers, die kleineren und zarteren Muskeln und Nerven sowie die höhere Empfänglichkeit des Gefühls. Er verweist außerdem auf Unterschiede der seelischen Disposition, der sinnlichen Vorstellungs- sowie der Einbildungs- und Gedächtniskraft, des Scharfsinns und der Beobachtungskraft. Er lehnt es jedoch ab, eine anatomische Betrachtungungsweise auf ein soziales Gefüge zu projizieren. Er relativiert damit kulturelle Bedeutungszuschreibungen. Was auf der einen Seite eine Schwäche sei, erweise sich auf der anderen Seite als eine Stärke. Er beschreibt auf diese Weise das weibliche Geschlecht mit einer anderen Metapher als Campe, der die Frau mit Efeu verglich, der am Boden liegend zertrampelt wird, sich aber am Baum, der den Mann symbolisiert, emporranken kann. Die Frau sei wie der Mann, so Schwarz, ein Baum, ein geschmeidigerer, zäherer, der den Stürmen allerdings besser trotzen kann.106 Er verweist darauf, daß man die den Geschlechtergegensatz ausmachenden Unterschiede von der Stärke des Mannes und der Schwachheit der Frau aufgeben müsse, sowohl betreffs des Körpers als auch des Geistes.107 Die Geschlechter haben in Rücksicht auf ihre Natur vergleichbare Rechte und Pflichten. Auch der Frau stehe das Recht auf Veredelung des Geistes, das Recht auf Freiheit usw. zu. Die Argumentation ist bei Schwager und bei Schwarz kohärent. Sie versuchen, und insofern folgen sie Rousseaus Naturpostulat und in methodischer Hinsicht der empirischen Programmatik der Philanthropen, erziehungstheoretische Maximen auf der Grundlage von Beobachtungen der weiblichen Natur aufzustellen. Auf der Grundlage der Anatomie und Physiologie des weiblichen Körpers soll eine Pädagogik des weiblichen Geschlechts formuliert werden. Die Defizite der Frau, die von Rousseau, Campe und zahlreichen anderen Anthropologen, Philosophen und Pädagogen thematisiert wurden, werden allerdings als Vorurteile entlarvt. Die ver-
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Vgl. Schwager, (wie Anm. 97), S. 375. Vgl. Schwarz, (wie Anm. 98), S. 12. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 32f.
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meintlichen Defizite sind nicht natürlich, sondern sozial erworben. Die Frau werde durch Regeln, Konventionen, in ihrer Lebensart so eingeschränkt, daß ihre natürlichen Anlagen depravieren. Man müsse, so der Schluß, von der ursprünglichen Art der Frau ausgehen, also von der Frage, was die Frau im rohen Naturzustand des Menschen gewesen ist. Schwarz und Schwager sind mit diesen Auffassungen in den 90er Jahren schon keine Ausnahmen mehr. Die Klage, daß die Frau auf das Alltägliche des Haushaltes verwiesen sei, wird Ende des 18. Jahrhunderts auch infolge der durch die Französische Revolution forcierten Emanzipationsbewegung vehement vorgetragen. Die Frau war nicht wegen ihrer Anlagen auf das Milieu des Hauses und geringfügige Arbeiten verwiesen sowie von Ehre erheischenden Geschäften ausgeschlossen, sondern weil gesellschaftliche Machtverhältnisse sie in diese Rolle zwangen. Die Erziehungs- und Unterrichtsgegenstände, die dem weiblichen Geschlecht offeriert werden müssen, sollen sich demnach nicht pragmatisch und nützlichkeitsorientiert an der traditionellen Rolle im Haus orientieren, sondern an der Selbstentfaltung und Ausbildung der wirklichen Anlagen der Frau. Pädagogen der Spätaufklärung plädieren vor diesem Hintergrund für eine Anlagenentfaltung.108 Die Anlagenentfaltung sehen sie im Unterschied zu Campes Erziehungsratschlägen im Widerspruch zur tradierten gesellschaftlichen Rolle der Frau. Anlagenentfaltung verspricht Selbstentfaltung und schließlich Emanzipation von gesellschaftlichen Rollenmustern. Wenn mit dieser Kritik noch keine Neubestimmung der Geschlechter in der Gesellschaft verbunden ist, hat es etwas damit zu tun, daß die Beobachtungsprogramme selbst noch weitestgehend die bürgerliche Situiertheit und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern widerspiegeln. In jedem Falle hat die Vorstellung, daß die Geschlechterdifferenz sich nicht in einen simplen Geschlechtsdimorphismus übersetzen läßt, im romantischen Denken eine Fortsetzung gefunden. Carus bemerkte später, daß zwischen Beobachtung und bürgerlichen Verhältnissen eine Differenz bestehe, die es zugunsten der Beobachtungsergebnisse aufzuheben gilt.109 Er verwies in seiner Psychologie darauf, daß die Geschlechterverhältnisse von den historisch gewachsenen Machtverhältnissen entkleidet werden und auf die Natur reduziert werden müssen. Er bezweifelte, ob die Geschlechter überhaupt dichotomisch zu denken sind, weil Größe und Stärke weder absolut seien, noch sich sinnvoll auf Geschlechtsindividuen beziehen lassen. Er zog den für seine Zeit radikalen Schluß, daß es in den Anlagen nicht einmal Gradverschiedenheiten gibt. Dementsprechend müssen nicht der Geschlechtertyp, sondern das Individuum in den Mittelpunkt rücken sowie die Gattungseigenschaften. Mit der Annahme einer natürlichen Grunddisposition relativiert er nicht nur die utilitaristische Ausrichtung der Geschlechtererziehung Campes, sondern radikalisiert Rousseaus Naturpostulat. Das Angelegte sei entscheidend: Aus Mädchen 108 109
Vgl. Meister, (wie Anm. 96), S. 107 und Weißenborn, (wie Anm. 91), S. 82f. Vgl. Carus, Friedrich August, Psychologie. II. Bd., Leipzig und Berlin 1808, S. 5.
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könne man keine Männer erziehen. Wenn man Jungen und Mädchen gleichermaßen erziehe, würden sich, so nahm er an, die natürlichen Anlagen durchsetzen. Folglich bedarf es keiner geschlechterspezifischen Erziehung. Im Kontext dieser Kritik am überkommenen Erziehungssystem versuchen Pädagogen und pädagogische Schriftsteller wie Weißenborn, Hippel, Amalia Holst, Schwarz, Schwager, Meister u.a. neue Leitbilder für Frauen zu etablieren. Leitbild ist nicht mehr ausschließlich die Hausfrau, die ihren bürgerlichen Pflichten im Schatten des Mannes genügt, sondern Leitbild sind weltoffene gebildete Frauen, die sich vom Mann emanzipieren. Sappho, die Gottschedin, die Karschin, die Gatterer und Rudolphie stehen für Frauen, die sich über ihre Bildung definieren. Ihr Ruf und ihre materiellen Verhältnisse gründeten sich nicht mehr auf die Vorherrschaft des Mannes in der Familie. Damit werden die bestehende Stellung der Frau in der Gesellschaft und die Geschlechterverhältnisse auf radikale Weise in Frage gestellt:110 Die der Frau traditionell zugesprochenen Attribute, die ihre Subordination unter den Mann und die ihre geringe Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben begründeten, wie Gefühlsreichtum und die Stärke der Einbildungskraft, erhalten eine Neubewertung. Imagination und Gefühl wurden der Frau zwar auch früher nicht abgesprochen, im Gegenteil, aber gerade dieser Erkenntniszugang zur Welt verwehrte ihnen, so die Annahme, den Weg zu tieferer Erkenntnis. Die Domäne der Frau war nicht orientiert auf die Philosophie und Gelehrsamkeit, sondern auf das Galante, das Ästhetische und Alltagsmoralische. Daß sich die Aufmerksamkeit der Frauen auf andere Gegenstände richtete als die des Mannes, auf galante Unterhaltung, auf leichtes Spiel, auf Gegenstände des Haushaltes und der unmittelbaren Umgebung, liege aber weniger, so kritisieren Pädagogen um 1800, an der mangelnden Intellektualität der Frau, sondern an dem Milieu, in dem Frauen verkehren. Der Erkenntnisgegenstand sage noch nichts über die Beherrschung des Gegenstandes und nichts über intellektuelle Fähigkeiten aus. Richte sich die Aufmerksamkeit der Frau auf traditionell dem Mann vorbehaltene Gegenstände, seien ihre Fähigkeiten denen des Mannes ebenbürtig. Als primär wird zudem nicht eine instrumentelle Bildung begriffen, die auf die Bestimmung der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter zielt, sondern Herzensbildung. Mit einem ungebildeten Herzen könne man weder Ratgeberin noch Erzieherin noch Vormund sein.111 Mit der indirekten Aufwertung der Erkenntnisgegenstände der Frau hängt zusammen, daß die Frau als das ästhetisch wahrnehmende Geschlecht im Zuge einer Anthropologisierung der Geschlechterdebatte positiv bewertet wird. Die ästhetische Wahrnehmung der Welt wird der rationalen Erkenntnis nicht mehr subordiniert oder im Verhältnis zu ihr nicht mehr geringgeschätzt. Sie erfährt eine grundsätzliche Aufwertung. Im empiristischen Paradigma gehe, so argumentierte 110 111
Vgl. Meister, (wie Anm. 96), S. 97f. Ueber die jetzt allgemeine Gewohnheit jungen Frauenzimmern Talente zu geben, in: Jahrbuch für die Menschheit (1789), I. Bd., I. Stück, S. 1–8, S. 5.
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Meister, die sinnliche Erkenntnis der rationalen voran. Da die weiblich sinnlichen Erkenntnisfähigkeiten feiner und lebhafter seien als die des Mannes, haben sie einen prädestinierten Zugang zur Welt. Und obwohl unterschiedliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen zwischen den Geschlechtern bestehen bleiben, der Mann anhaltender und tiefer ergründend, die Frau nuancierter und differenzierter sehe, verfügen beide Geschlechter über die grundlegenden heuristischen Fähigkeiten des Beobachtens, Vergleichens und Unterscheidens.112 Die vermeintliche Schwäche des Körpers wird nicht mehr als Indiz für die generelle Minderwertigkeit der Frau gesehen. Gerade ihre körperliche Schwäche prädestiniert sie für eine traditionell den Männern vorbehaltene Domäne, jene der Gelehrsamkeit. Ausgangspunkt für ein Erziehungssystem für Mädchen sind, so läßt sich zusammenfassend über diese Diskussion sagen, nicht eine gottgewollte Ordnung oder die gesellschaftliche Stellung der Frau, die sie auf die Rolle als Hausfrau, Gattin und Mutter festlegt, sondern die Natur und die natürlichen Anlagen der Frau. Der Rekurs auf die Natur hat hier eine andere Begründungsfunktion als bei Rousseau und im philanthropischen Kontext. Er ist nicht nur rhetorisches Zugeständnis. Die Natur der Frau, darin sind sich pädagogische Autoren der Spätaufklärung, die emanzipatorische Aspekte hervorheben, einig, ist zwar schwächer, feiner und empfindsamer. Sie begründet aber weder ein Herrschafts- noch ein gesellschaftliches Ordnungsverhältnis. Die weiblichen Anlagen sind zur Vollkommenheit fähig. Das Vollkommenheitspostulat, das von Pädagogen der Spätaufklärung kontrovers zum philanthropischen Nützlichkeitsdenken diskutiert wird, wendet sich zwar nicht grundsätzlich gegen die gesellschaftliche Ordnung und die Stellung der Frau in dieser. Es ist aber für sie nicht begründend. Vervollkommnung bedeutet nicht, adäquate Einpassung der Anlagen in das gesellschaftlich der Frau zugewiesene Umfeld, sondern adäquate Anlagenentfaltung.113 Rousseaus grundsätzlicher Ansatz, die Natur als Ausgangspunkt jeglicher Reflexion über Erziehung zu nehmen, erwies sich auf diese Weise als fruchtbar und folgenreich.
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Vgl. Meister, (wie Anm. 96), S. 103ff. Vgl. u.a. Marezoll, Johann Gottlob, Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Leipzig 1788, S. 10f.
HEIDRUN DIELE (Halle)
„Kalter Zuschauer“ und „Brennspiegel“ Beobachtungen in den Pädagogischen Unterhandlungen1 Es liegt am Tage, daß Erziehung ohne psychologische Kenntnisse lediglich nichts taugt, und der Erzieher, der nicht die allgemeine Grundsätze der Erziehungskunst nach den besonderen einzelnen Charakteren seiner Zöglinge anzuwenden weiß, ein Stümper ist. Und wie viel vollkommener muß also der seyn, der sich durchs studium der Seelenlehre gewöhnt hat, jeden einzelnen Charakter seiner Zöglinge vorher genau zu studieren, ehe er bei seiner Erziehung allgemeine Grundsätze anwendet.2
In diesem Zitat stellt David Immanuel Mauchart die Wichtigkeit von Kenntnissen über den Menschen3, hier speziell den Zögling, deutlich heraus. Er betont die Notwendigkeit des Wissens über den Einzelnen bei der Anwendung allgemeiner Regeln der „Erziehungskunst“, welche am Ende des 18. Jahrhunderts universitär etabliert werden sollte.4 Zu jener Zeit mußte sich Pädagogik als Wissenschaft mit verschiedenen ambivalenten Problemen auseinandersetzen. Eine der wichtigsten Herausforderungen bestand in der Notwendigkeit einer methodologischen Fundierung. Als Erkenntnismethode wurde dabei die Beobachtung propagiert. Eine Voraussetzung, um Beobachtungen als wissenschaftliche Methode nutzen zu können, war die Klärung verschiedener Parameter, die die Beobachtungen beeinflussen. Andererseits sollten Beobachtungen genutzt werden, um diese Parameter zu ergründen. Dieser Zwiespalt wird im Folgenden anhand einer Beobachtungsanleitung verdeutlicht. Ein anderes Spannungsfeld entstand dort, wo sich die entstehende Pädagogik innerhalb der verschiedenen Disziplinen verorten mußte. Dabei griff sie einerseits auf das Wissen bereits vorhandener Disziplinen wie zum Beispiel die Medizin zurück. Andererseits nutzte sie weitere Fachrichtungen, die selbst im Entstehen be1
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Folgender Artikel entstand im Kontext des von der DFG geförderten Forschungsprojektes: „Empirische Kinderforschung in deutschsprachigen pädagogischen Zeitschriften 1768–1808“, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Geleitet wird es von Frau Professor Pia Schmid, der ich an dieser Stelle für ihre Unterstützung herzlich danken möchte. Mauchart, David Immanuel, Phänomene der menschlichen Seele. Eine Materialien=Sammlung zur künftigen Aufklärung der Erfahrungs=Seelenlehre. Stuttgart 1789, S. 23. Trapp schreibt dazu: „Die menschliche Natur ist die allgemeine Erkenntnißquelle aller derer, die am Menschen arbeiten, oder soll es wenigstens sein.“ Trapp, Ernst Christian, Versuch einer Pädagogik. Mit Trapps hallischer Antrittsvorlesung. Besorgt v. Ulrich Herrmann, Paderborn 1977 [Reprint der Ausgabe Berlin 1780], S. 46. So wird 1779 Ernst Christian Trapp als erster Professor für Pädagogik und Philosophie in Halle berufen. Vgl. zur Etablierung u.a.: Tenorth, Heinz-Elmar, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. 3., überarb. u. erw. Aufl., Weinheim / München 2000, S. 102–113; Kersting, Christa, Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes ,Allgemeine Revision‘ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992, S. 9.
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griffen waren. Diese waren zum Beispiel die Psychologie und Anthropologie.5 Kennzeichnend für diese Gründungsphasen war der Rückgriff auf empirische Methoden. Ein Schwerpunkt der Konstituierungsphase bestand im Sammeln von Informationen, was auch durch Aufrufe initiiert wurde. Das Medium, in dem der Informationsaustausch stattfinden sollte, waren Zeitschriften. Diese wurden als Podium zur Diskussion vielfältiger Probleme innerhalb der Etablierungsphase einer Wissenschaft gebraucht. Besonders ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der Zeitungsmarkt in starkem Umfang.6 Kirchner7 konstatiert für die Zeit ab 1740 eine immer stärkere Differenzierung der Fachpresse in deutscher Sprache.8 Für eine eigenständige pädagogische Presse im weitesten Sinne läßt sich diese Entwicklung für das letzte Drittel des Jahrhunderts nachweisen.9 Doch nicht nur in der Fachpresse wurde die Beobachtung als eine der empirischen Methoden thematisiert und deren Wichtigkeit anerkannt. So erschien 1789 in den Gemeinnützigen Blättern, das sich als ein Aufklärungsblatt an ein breiteres Publikum richtete, folgende Erklärung eines Anonymus: Beobachten: Je mehr man die Natur beobachtet, desto mehr nimmt sowohl Unglaube als Aberglaube ab. Je besser man sich selbst beobachtet, desto besser lernt [man, H. D.] Andre kennen: und je besser man Andre beobachtet, desto besser lernt man sich selbst kennen. [...]10
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Ebd., S. 115–135 und S. 195–228. Vgl. u.a. Goldfriedrich, Johann, Geschichte des deutschen Buchhandels vom Beginn der Fremdherrschaft bis zur Reform des Börsenvereins im neuen Deutschen Reiche. 1805–1889. 4. Bde. Leipzig 1886–1913, hier Bd. 4 (1913). Kirchner, Joachim, Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens. Mit einer Gesamtbibliographie der deutschen Zeitschriften bis zum Jahre 1790. Leipzig 1928, I. Teil, S. XI. Deutlich wird diese bewußte Wahrnehmung der Spezialisierung in den Wissenschaften auch bei den Redakteuren selbst. Beispielhaft sei auf die von Friedrich Nicolai herausgegebene Allgemeine Deutsche Bibliothek verwiesen, die in den Jahren 1765–1806 erschien. Diese bedeutende Rezensionszeitschrift schwillt nicht nur mit zunehmenden Jahrgängen im Umfang an, sondern auch in der Anzahl ihrer Gliederungspunkte. Ab dem 1. Stück im 19. Band (1773) bilden Erziehungsschriften eine eigene Rubrik. Das kontinuierliche Anwachsen von Zeitschriften unter der Rubrik „Erziehungswissenschaft“ ist im Allgemeinen Sachregister der neusten deutschen Zeit- und Wochenschriften zu verfolgen. Nehmen die Zeitgenossen Johann Heinrich Christoph Beutler und Johann Christoph Friedrich GutsMuths für den Zeitraum 1760–1770 fünf Zeitschriften in jene Rubrik auf, so steigt die Zahl für den Zeitraum 1780–1790 auf 35. Noch deutlicher wird dieser Zunahme an pädagogischen Zeitschriften bei einer Auszählung anhand von Joachim Kirchner. Dieser führt in der Zeit 1700–1819 229 Schriften auf, die im deutschsprachigen Raum erschienen sind. Diese verteilen sich wie folgt: 1700–1709: 0 1730–1739: 1 1760–1769: 7 1790–1799: 35 1710–1719: 2 1740–1749: 4 1770–1779: 32 1800–1809: 46 1720–1729: 0 1750–1759: 2 1780–1789: 71 1810–1819: 29 Vgl. Kirchner, Joachim, Die Zeitschriften des Deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830. Stuttgart 1969, S. 36–50. [Anonym], [Ohne Titel], in: Gemeinnützige Blätter. Eine Wochenschrift zum Besten der Armen. Halberstadt 1789, Nr. 13, S. 197–208, hier S. 205.
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Es wird deutlich, daß diese empirische Methode in der Alltagswelt und als Alltagswissen vorhanden war. Auffallend ist, daß sich die Begriffserklärung ausschließlich auf die Beobachtung von Menschen bezog, obwohl im Kontext der Zeitschrift das nicht zwingend notwendig gewesen wäre. Auf die Kenntnis des Anderen, genauer des Zöglings, richteten, wie anfangs zitiert, die Pädagogen ihr Augenmerk. Dabei beschränkten sie sich nicht darauf, das Wissen aus anderen Fachgebieten zu nutzen, sondern forderten verstärkt eigene Beobachtungen. Ziel war es, durch bessere Kenntnis der Schüler Rückschlüsse auf eine optimale Unterrichtsorganisation11 zu ziehen und auf einer Makroebene generelle Erziehungsverbesserungen ableiten zu können. So rief zum Beispiel Campe alle „Hofmeister, welche Beobachtungsgeist haben“, dazu auf, „Anecdoten, welche oft lehrreicher, als die gelehrtesten Abhandlungen sind“, den Pädagogischen Unterhandlungen mitzuteilen.12 In der Folge soll nun untersucht werden, inwiefern dieses Modell, anhand von Beobachtungen zu allgemeineren Aussagen zu gelangen, innerhalb der Dessauer Zeitschrift Pädagogische Unterhandlungen umgesetzt wurde. Die Pädagogischen Unterhandlungn erschienen in der Zeit von 1777 bis 1784. Der Plan sah ein monatliches Erscheinen vor, das im April 1777 beginnen sollte.13 Jedoch kamen in dem Jahr nur noch vier Ausgaben heraus. Insgesamt erschien der erste Jahrgang monatlich. Gleichwohl wurde in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Allgemeinen Deutschen Bibliothek beklagt, daß seit „[...] einigen Monaten (wir schreiben diß in der Mitte des Decembers 1777) [...] gar nichts weiter von dieser lesenswürdigen Schrift erschienen“ sei.14 Schließlich wurde der zweite und dritte Jahrgang in eine Quartalsschrift umgewandelt, und die letzten beiden Jahrgänge erschienen schließlich innerhalb von vier Jahren. Für die ersten vier Stücke des Jahres 1777 zeichneten Johann Bernhard Basedow und Joachim Heinrich Campe als Herausgeber für die Zeitschrift. Campe verließ im Herbst 1777 Dessau. Nach Angaben von Heinrich Marx übernahm Basedow die Redaktion, „[...] um schon mit Beginn des 2. Jahrgangs sich in den Hin-
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Vgl., Kapp, Johann, Beobachtungen und Erfahrungen, in: derS. , Zur Erholung für Lehrer und Freunde der Schulen. Bayreuth 1786, II. Stück, S. 122–235, hier S. 126; wieder unter dem Titel: Ad actum oratorium in Memoriam b. Martini Lutheri d. XV. Nov. cb b CCLXXV. habendum invitat. M. Ioann. Kappius, Gymnas. Curiens. Conrector. Curiae typ. I. A. Hetschelii, in: Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Teutschland. Nördlingen 1776, Bd. 4, I. Stück, S. 178–187. C.[ampe, Joachim Heinrich], [ohne Titel], in: Pädagogische Unterhandlungen 1 (1777/1778) 1. Stück, S. 71. C.[ampe, Joachim Heinrich], Plan der Pädagogischen Unterhandlungen, in: Pädagogische Unterhandlungen 1 (1777/1778), 1. Stück, S. 3–14, hier S. 10. Anzeige „Pädagogische Unterhaltung [...]“, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Berlin und Stettin 1778, 33. Band, 2. St., S. 587–589, hier S. 589.
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tergrund zurückzuziehen“15 und Christian Heinrich Wolke die Leitung zu überlassen. Bereits seit dem fünften Stück 1777 bis zur Aufgabe der Zeitschrift zu Beginn des Jahres 1784 stand dann das „Dessauische Erziehungs=Institut“ als Herausgeber auf den Titelseiten. Der Plan des Journals erscheint als Informations- und Werbekampagne für das Dessauer Philanthropinum und seine Unternehmungen. So wird im ersten Punkt des Planes konstatiert, daß „die mehresten mißbilligenden Urtheile“ und die „Langsamkeit, mit der man diese Unternehmungen durch Beyträge befördert hat“,16 daher rührten, daß die Vorstellungen der Philanthropen über ihr Werk noch nicht deutlich genug geworden seien. Daher solle „[...] zuvörderst unser ganzer Plan noch einmal, so kurz und so verständlich, als es uns möglich seyn wird, beschrieben werden“.17 Der zweite Punkt sah die Dokumentation der methodischen Entwicklungen vor. Auch sollten kleine „Aufsätze über pädagogische Materien“18 zur Diskussion gestellt werden. Diese würden später in ein zweites Methodenbuch aufgenommen werden. Weiterhin sollten Vorschläge zur Mitarbeit an der Schulbibliothek, Anfragen über pädagogische Zweifel, Antworten auf Einwendungen und Wünsche, Ankündigungen neuer philanthropischer Schulschriften sowie Beschreibungen von Basedows Erfahrungen in Form eines Lebenslaufes ihren Platz im Journal finden. Das Konzept der Zeitschrift sah aber auch vom Institut unabhängigere Themen vor. Einerseits war die Veröffentlichung „[a]llerley Aufsätze zu einer angenehmen und nützlichen Lesung für Kinder“19 vorgesehen. Ob diese den Kindern vorgelesen werden oder sie diese selbständig lesen sollten, wurde nicht vermerkt. Andererseits sollte der Anfang einer Kinderzeitung vorgestellt werden. Es war geplant, daß Kinder in diesem Teil der Unterhandlungen „[...] mit den vorzüglichsten Begebenheiten ihrer Zeit bekannt gemacht werden“.20 Ergänzt würde die Kinderzeitung durch „lehrreiche Beyspiele guter und schlechter Handlungen von Kindern aus der Geschichte, auch wohl aus Romanen, Schauspielen oder aus eigener Erfindung“ und alltäglicher Erfahrung.21 Diese Kinderzeitung wurde ab dem 2. Jahrgang zu einem „getrennten Ableger“.22 Allerdings stellt Marx fest: „Die Ausführung übt ziemliche Freiheit gegenüber den Entwurf.“23 Nicht alle Programmpunkte wurden tatsächlich umgesetzt. Marx zählte sechs Stoffgebiete aus,
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Marx, Heinrich, Die Entstehung und die Anfänge der pädagogischen Presse im deutschen Sprachgebiet. Beiträge zur Geschichtsschreibung des deutschen Erziehungswesens im 18. Jahrhundert. Frankfurt 1929, S. 91. C.[ampe], Plan, (wie Anm. 13), S. 5. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Marx, (wie Anm. 15), S. 93. Marx, (wie Anm. 15), S. 91.
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die regelmäßig behandelt wurden.24 Auch in einer zeitgenössischen Rezension wird diese „Freiheit“ festgestellt und bemerkt, „daß sie [die Zeitschrift, H. D.] aber noch wichtiger seyn würde, wenn die Herausgeber ihrem öffentlich bekannt gemachten Plane getreu geblieben wären“.25 Die Zielgruppe der Pädagogischen Unterhandlungen wurden im aufgestellten Plan nicht näher benannt. An dieser Stelle wurden die Adressaten nur mit „denkenden Publikum“26 oder als „thätige(n) Beförderer alles erkannten Guten“27 bezeichnet. Schon genauere Auskunft erteilte der Titel auf der Umschlagsseite. Dieser lautete ab dem zweiten Jahrgang: „Philanthropisches Journal für die Erzieher und das Publikum“. Die Auszählung der Pränumeranten, die Marx durchführte, belegt jedoch, daß vergleichsweise wenige Erzieher für diese Zeitschrift gewonnen werden konnten.28 Einen Grund dafür sieht Marx darin, daß die Kritik an der bisherigen Erziehungspraxis „als Verdammungsurteil über ihre eigene Arbeit empfunden wurde“.29 Offensichtlich hatte der kleine, von Campe veröffentlichte Aufruf an Hofmeister, „Anecdoten, welche oft lehrreicher als die gelehrigste Abhandlung sind“,30 der Zeitschrift zu senden, nicht den erwünschten Erfolg. Im ersten Quartal des zweiten Jahrganges – also in der 13. Ausgabe – nimmt Johann Karl Wezel31 die schlechte Bilanz zum Anlaß, auf die Wichtigkeit von Beobachtungen und gesammelten Erfahrungen einzugehen. Sein Artikel „Ueber die Erziehungsgeschichten“32 erörtert 24
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„Redaktionsangelegenheiten, Institutsberichte, Erziehungsaufsätze, Andachten und Ansprachen, Kinderzeitung, allgemeine Beiträge...“ Zu deren Verteilung vgl. Marx, (wie Anm. 15), S. 91. [Anonym], Pädagogische Unterhandlungen [...], in: Allgemeine Bibliothek für das Schul= und Erziehungswesen in Teutschland. Nördlingen 1779, 7. Bd., 1. Stück, S. 135–170, hier S. 169f. C.[ampe], Plan, (wie Anm. 13), S. 3. Ebd., S. 13. Für den 2. Jahrgang zählt er folgende Zusammensetzung der Pränumeraten aus: 2,5 % Pädagogen; 4,7 % Gelehrte; 10,6 % Geistliche; 19,9 % Adlige; 17,4 % Beamte; 12,7 % Kaufleute; 26,7 % Unbenannte und neun bürgerliche und vier adlige Frauen. Die Auszählung des ersten Jahrganges, die von Kersting durchgeführt wurde, ergab, daß im ersten Jahrgang der Anteil von Pädagogen mit 6,4% angegeben werden muß. Einen Grund für die Verringerung der Pränumerantenzahlen bei den Pädagogen sieht Kersting (bei Annahme einer gleichen Zuordnung zu den sozialen Gruppen bei Marx) im Weggang Campes vom Institut. Vgl. Marx, (wie Anm. 15), S. 94; Kersting, (wie Anm. 4), S. 108. Marx, (wie Anm. 15), S. 94. C[ampe], [ohne Titel], (wie Anm. 12), S. 71. Wezel, Johann Karl (1747–1819): Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Pädagoge, Philosoph. Studierte ursprünglich Theologie, dann Jurisprudenz, Philosophie und Philologie in Leipzig; Hofmeister in Bautzen und Berlin; Reisen nach Petersburg, London und Paris; Theaterdichter in Wien; ab 1793 Schriftsteller in Sondershausen. Vgl. dazu Manger, Klaus, ,Wezel, Johann Karl‘, in: Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 15 Bde. München 1992, hier Bd. 12, S. 285–287. Wezel wurde durch Zollikofer und Weiße mit dem Institut bekannt, vgl. W.[olke], Vorbericht, in: Pädagogische Unterhandlungen 2 (1778), 1. Quartal, o.S. Wezel, Johann Karl, Ueber Erziehungsgeschichten, in: Pädagogische Unterhandlungen 2 (1778), 1. Quartal, S. 21–43. Diese Anleitung wurde bereits von Christa Kersting und
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die Notwendigkeit, aber gerade auch die Schwierigkeiten von reflektierten Beobachtungen, die das Gerüst einer auf Menschenkenntnis beruhenden Erziehung bilden sollten. Als Gründe für die schlechte Resonanz vermutet er, daß ein Teil der Leser sicher nicht wisse, was sie beobachten sollten und der andere Teil diese Aufgabe als zu schwierig erachte. Dabei könne doch gerade die Erziehungskunst noch lange Zeit nichts, als Sammlung einzelner Erfahrungen seyn, aus welchen wir zuweilen ein allgemeines Regelchen abstrahiren, in das Register eintragen, und wohlbedächtig abwarten, ob nicht über lang oder kurz eine entgegengesetzte Erfahrung ihm seine Allgemeinheit wieder raubt.33
Diese Auffassung vom zurückhaltenden Umgang mit beobachteten Phänomenen unterstreicht Wezel gleich zu Beginn seines Artikels, indem er Kritik an der bisherigen „unzeitigen Theoriesucht der Sterblichen“ übt.34 Diese Sucht zeige sich darin, so Wezel, daß so bald drei oder vier gleiche Phänomene beobachtet würden, diese in Einen allgemeinen Satz zusammen [gebunden würden, H. D.]; und da wir so hurtig zu allgemeinen Sätzen zu gelangen wissen, so muß nothwendig unser Vorrath sehr bald so stark anwachsen, daß wir der Lust nicht widerstehen können, sie zu klassificiren, zu ordnen, in Regimenter und Kompanien zu vertheilen, eine förmliche Theorie, ein förmliches Systemchen herauszukünsteln.35
Die so entstandenen Theorien oder Systeme hätten dann ohne weitere Überprüfung so lange Bestand, bis einmal ein Grillenkopf kam, der den Handel wieder ganz von vorn anfieng, und uns so viel neue widersprechende Erscheinungen beybrachte, daß unsre allgemeinen Wahrheiten zu einzelnen individuellen oder lokalen Erfahrungen zusammenschrumpften, und das ganze System zu weiter nichts mehr taugte, als zum – verbrennen.36
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Margret Kraul vorgestellt. Kersting interpretierte diese Anleitung eines „philosophischen Arztes“ als „pädagogisches Beobachtungs- und Therapiemodell, das sich an die medizinische Forschung anlehnt.“ Vgl. Kersting, (wie Anm. 4), S. 203; gleichfalls dieser Interpretation als Heilsgeschichte folgte Kraul, welche diese Anleitung in Anlehnung an Moritz’ Roman Anton Reiser als Möglichkeit der Selbsterkenntnis auslegte. Kraul, Margret: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten in der Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Fohrmann, Jürgen (Hg.), Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998, S. 11–28; Fritzsch, Theodor, Zur Geschichte der Kinderforschung und der Kinderbeobachtung, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 13 (1906), S. 497–506. An dieser Stelle soll der Beobachtungsplan von Wezel möglichst wenig gedeutet werden. Zentral geht es vielmehr um die Frage, welche methodologischen Grundlagen die Pädagogik propagierte und wie das Fachpublikum darauf reagierte. In diesem Punkt wird der Artikel über die Betrachtungen von Fritzsch hinausgehen. Wezel, (wie Anm. 32), S. 23. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22.
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Weiterhin kritisiert Wezel den Hang, einzelne Erfahrungen als Gesetze anzunehmen, insbesondere bei dem kleinen „Umfassungskrais unseres Denkens“.37 Nachdem sich Wezel kritisch mit der bisherigen Theoriebildung auseinandergesetzt hat, diskutiert er nun systematisch, welche Einflußfaktoren bei Beobachtungen zu berücksichtigen seien, um Verzerrungen in der Wahrnehmung zu vermeiden. Ziel sei die Erstellung eines Erziehungsplanes aufgrund von Beobachtungen. Eine erste Schwierigkeit liege in der Unsicherheit der Beobachtung selbst. Da der Mensch, laut Wezel eine „zusammengesetzte Maschine“,38 unter so vielen Einflüssen stehe, könne man nie mit Sicherheit sagen, ob die Reaktion des Zöglings aufgrund des erzieherischen Handelns oder anderer Umwelteinflüsse erfolge. Zu letzteren zählt er ebenso Faktoren wie zum Beispiel die Ernährung des Zöglings als auch die ihn umgebende Luft. Gerne würde er die äußeren Einflußfaktoren messen, jedoch: Lächerlich könnte es wohl manchem scheinen, wenn er sich vorstellt, daß er mit der Fleischwage oder dem Barometer untersuchen soll, wie sein Knabe von einem moralischen Fehler befreyt worden ist: manchem paradox – allein alles muß lange Zeit paradox seyn, ehe es zur Wahrheit wird: – daß es Jemanden gottlos scheine, so viel Unwissenheit trau ich keiner Seele zu. Inzwischen ist der Einfluß dieser körperlichen Ursachen auf unsre moralische und intellectuelle Vollkommenheit so gewiß, so mächtig, so allgemein, daß ich fest überzeugt bin, die Psychologie müsse bey diesem Einflusse anfangen, und könne nur alsdann erst gedeihen, wenn unsre Kenntniß desselben genauer und vollständiger ist.39
Nach dem Verweis auf die Komplexität des Beobachtungsgegenstandes und der Beobachtungssituation kommt Wezel auf den Beobachter selbst zu sprechen. Die Schwierigkeit bestehe in einem Mangel an ausreichender Menschenkenntnis. Diese könne nicht in Hörsälen oder aus Büchern gewonnen werden, sondern nur im Umgang mit Menschen. Beginnen solle der Beobachter mit der Beobachtung seiner Selbst. Dazu müsse er aus sich heraustreten und sich selbst unbeteiligt beobachten.40 Für eine allgemeine Menschenkenntnis wären dann diese eigenen Erfahrungen mit denen zu vergleichen, die man an anderen erkannt habe. Ein nächstes Problem bei der Sammlung pädagogischer Beobachtungen entwickele sich daraus, daß innerhalb von Wezels Beobachtungsanleitung der Beobachter nicht unabhängig vom Lehrer des Zöglings konzipiert wird.41 In dieser 37 38 39 40
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Wezel, (wie Anm. 32), S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27; vgl. dazu: Moritz, Karl Philipp, Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, in: Deutsches Museum. Leipzig 1782, 1. Band, 6. Stück, S. 485–503, hier S. 495. Zur Bedeutung von Selbst- und Menschenkenntnis zur Zeit der Aufklärung vgl. auch: Kaufmann, Doris, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die „Erfindung“ der Psychiatrie in Deutschland: 1770–1850. Göttingen 1995, S. 25–49. Ebenfalls in den Pädagogischen Unterhandlungen veröffentlichte Trapp seinen Plan zum Aufbau des Buches Versuch einer Pädagogik, das 1780 erschien. Trapp entwickelt in diesem Buch gleichfalls Gedanken über Möglichkeiten und Grenzen von Beobachtungen. Sein Plan sieht jedoch einen geschulten unabhängigen Beobachter vor. Trapp, Ernst Christian, Versuch
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Situation würde das „Beobachtungsobjekt Zögling“ bewußt – zum Beispiel durch die Wahl der Methoden – oder unbewußt beeinflußt. Die letztere Form der Einwirkung gehe aus unbewußten Handlungen und Charaktereigenschaften des Lehrers hervor, welche bei einem vertrauensvollen Verhältnis zum Zögling von diesem wie durch einen ‚Brennspiegel zurückprallen‘ würden.42 Wezel erkennt die Bedeutung des angenommenen Verhaltens, dessen Wirkung noch dadurch verstärkt werde, daß der Erzieher besonders das sehe, was er sehen möchte. Die letzte von Wezel beschriebene Erschwernis sei, daß ein Lehrer meist nur vorübergehend den Zögling unterrichte. Daraus folge, daß er nie mit Sicherheit sagen könne, ob die Wirkungen aufgrund seiner Erziehungsmittel erfolgten oder die seines Vorgängers. Aus den genannten Problemen ergebe sich bei der Niederschrift der gesammelten Beobachtung die Notwendigkeit, daß der Beobachter „alles für Vermuthung ausgiebt, was nicht Faktum oder unmittelbare Erfahrung ist“.43 Nach so vielen Zweifeln und zu beachtenden Hindernissen, die die Umsetzung von Wezels Plan in Frage stellen könnten,44 kommt er nun zu der Frage nach dem Sinn von Beobachtungen. Diese beantwortet er mit folgender Gegenfrage: „Ist es denn nicht unendlich besser, sich neunmal zu irren, um zum zehntenmale die Wahrheit zu erwischen, als die Wahrheit nicht Einmal finden wollen, um sich nicht neunmal zu irren?“45 Dabei spiele es (im Rahmen der Zeitschrift) keine Rolle, ob die Erziehungsgeschichten vollständig seien oder nur aus einzelnen Erfahrungen bestünden. Daraufhin geht Wezel erneut auf die Wichtigkeit von psychologischen Kenntnissen ein. Um also der Erziehungskunst mehr Vollkommenheit zu verschaffen, muß die pädagogische Beobachtung vervielfältigt und erleichtert werden; um dieses zu bewerkstelligen, muß die wahre Psychologie, die Kenntniß der Seele und des Menschen, vollständiger, richtiger und ausgebreiteter werden. Dies ist eine Kette von Arbeiten, die fest in einander greifen, und wo wir bey der letztern nothwendig anfangen müssen, um die beyden vorhergehenden zu Stande zu bringen.46
Um solche Kenntnisse zu erwerben, solle man Kinder und junge Leute beobachten, „um den Menschen an ihnen zu studiren“.47 Denn „man wird ohne meine Versicherung glauben, daß man ihn nirgends besser und bequemer studiren kann“.48
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einer Pädagogik, in: Pädagogische Unterhandlungen 3 (1779), 1. Quartal, S. 62–68. Seine Ausführungen zur Beobachtungssituation in: Trapp, (wie Anm. 3), S. 46–75, hier S. 70. Wezel, (wie Anm. 32), S. 28. Ebd., S. 30f. Er selbst schreibt: „Himmel! welche Erfordernisse! Je mehr ich in ihre Zergliederung hineingehe, je mehr verringert sich die Hoffnung, Erziehungsgeschichten zu bekommen [...]!“, ebd., S. 27. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34f. Wezel, (wie Anm. 32), S. 35. Auch Karl Philipp Moritz schätzte die ungekünstelte Natur von Kindern, die die „Verstellungskunst“ noch nicht beherrschten. Seine Kritik galt den gesell-
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Das Studium des Kindes selbst beginne man mit Erkundigungen über den bisherigen Lebensverlauf des Zöglings. So könne zum Beispiel die Amme nach wichtigen Charaktereigenschaften, Umgang, Beschäftigungen usw. des Zöglings befragt werden. Keine Person im Umfeld sollte unberücksichtigt bleiben. Auch falsche Informationen sollten bis zu einer späteren Revision gesammelt werden. Erst im nächsten Schritt würde das Augenmerk auf den Zögling gelegt: Man sey anfangs ganz kalter Zuschauer, bemühe sich so wenig als möglich auf ihn zu wirken, setze ihn durch mannigfaltige Veranlassungen in Wirksamkeit, und locke ihm den ganzen Umfang seiner kleinen Thätigkeit, seines Denkens, Empfindens und Wollens ab, suche die Dauerhaftigkeit, Schwäche, Stärke seines Körpers, die Beschaffenheit seiner Organisation durch Proben und Versuche zu erforschen. In einigen Wochen wird man so ziemlich – Kopf und Beobachtungstalent vorausgesetzt! – den Grad einer jeden seiner körperlichen, denkenden und wirkenden Kräfte und ihr Verhältniß unter einander wissen, und die Richtung seiner Thätigkeit kennen – alles nur so ziemlich! – mehr läßt sich von der Hand nicht fordern.49
Aus den gesammelten Erkenntnissen sei schließlich ein auf den beobachteten Zögling zugeschnittener Erziehungsplan aufzustellen, der die Richtung und Mittel der Bemühungen des Lehrers enthalte. Dieser Plan wäre zu spezifizieren, indem der Erzieher nun auf die Begebenheiten des Tages schaue und mit den aufgestellten Zielen vergleiche. Kritik an den Eltern bzw. deren falschem Intervenieren klingt in Wezels Ausführungen an, weil sie zugunsten ihres Kindes oft inkonsequent seien und dem Erzieher entgegenarbeiten würden. Um sich die Arbeit zu erleichtern, solle der Erzieher seine Zöglinge zum Anlegen von Diarien ermuntern.50 Deren Wert dürfte allerdings nicht überbewertet werden, da sie insbesondere anfangs wegen der Unaufmerksamkeit der Kinder sehr „mager“51 ausfallen würden.
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schaftlichen Konventionen. „Daß das Gepräge der Seele von dem Gesichte des Menschen schon so früh verwischt wird, daß sein Ton und seine Mienen schon so früh die selige Uebereinstimmung mit Gedank und Empfindung verlernen, das ist die Frucht der Ueppigkeit und Verfeinerung, der auswendig gelernten Verbeugungen, lächelnder Blicke, und künstlichen Wendungen in den unbedeutendsten Ausdrücken der Höflichkeit.“ Moritz, (wie Anm. 40), S. 498f. Wezel, (wie Anm. 32), S. 35. Ebd., S. 36. Offensichtlich unterlag das Tagebuch noch keiner „Geheimhaltung“. Ein anderer Autor verwies auch auf die Monotonie von Kindertagebüchern und wertete deren Wert für Stilübungen ab, vgl. [Anonym], Auszüge aus dem Schreiben eines Privaterziehers, über die Bildung des Styls junger Leute, in: Gedanken, Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung. Berlin und Stettin 1782, 3. Band, 4. Stück, S. 3–23, hier S. 7f. Auch Salzmann riet seinen Zöglingen das Anlegen eines Tagebuches, welches Eltern und Erziehern vorgelegt werden solle. Vgl. Salzmann, Christian Gotthilf, Ankündigung einer Erziehungsanstalt, in: ders., Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher. Krebsbüchlein oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder; noch etwas ueber die Erziehung nebst Ankuendigung einer Erziehungsanstalt [ND Berlin 1948], S. 185–248, hier S. 217. Wezel, (wie Anm. 32), S. 37.
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Eine nächste Stufe der Beobachtung erreicht Wezel, indem er das Verhalten des Zöglings sowie die Veränderungen hinterfragen will. „Seine erste Frage bey jeder [Veränderung, H. D.] ist – woher das?“52 Dem Wezelschen Verständnis entspricht es, wenn der aufgestellte Erziehungsplan stets reflektiert und wenn nötig, verbessert werden sollte: Endlich verstehts sichs von selbst, daß er sich in der Ausführung seiner Plane – denn ein Erziehungsplan ist wie der Plan eines Feldzugs: man muß ihn standhaft verfolgen, aber auch biegsam ändern: jede kleine einzelne Operation hat einen für sich, der der ganzen Unternehmung untergeordnet ist – daß er also sich selbst in der Ausführung seines Hauptplans und der kleinen einzelnen Operationen beobachtet, oft bey sich bedenkt, was er gethan hat, und mit welchem Erfolge.53
Schließlich entwirft Wezel einen sehr differenzierten Fragenkatalog, der die zuvor behandelten Themen untergliedert. Er sei sich bewußt, daß wohl kein Erzieher diesen ganzen Plan in allen Punkten ausarbeiten könne. Doch wünschte er sich, daß ein jeder versuchen solle, so viel und so genau wie möglich zu arbeiten. Ganz wichtig sei ihm die Aufrichtigkeit bei den Ausführungen. Letztlich wollte er mit seinem Beitrag dazu aufrufen, überhaupt mit Beobachtungen zu beginnen. In der Schlußpassage schrieb er: Und nun, ihr Pädagogen, Hofmeister, Informatoren, Kinderlehrer, Rektoren, Konrektoren, Schulmeister und Professoren! – beobachtet, schreibt! Die Naturkündiger lassen mit einer Sorgfalt, als wenn das Wohl des Weltalls davon abhinge, Barometer aufstellen, um das Wetter zu beobachten, verschreiben und verdrucken Riese Papier mit 0.9. und 0.5. weil sie vermeynen, ihre Wissenschaft dadurch zu vervollkommnen: wollet Ihr dann, die ihr so großen Einfluß auf die Menschheit haben wollt, haben sollt, und haben könntet, Kopf und Hände in den Schooß legen, und nicht für den Unterricht Eurer Nachfolger sorgen? [...] Also noch einmal – beobachtet, und dann – schreibet!54
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Johann Karl Wezel Beobachtungen von Zöglingen als die wichtigste Voraussetzung bei der Erstellung eines pädagogischen Konzeptes erachtet hat. Innerhalb der Auseinandersetzung mit der Methode stieß er jedoch auf zahlreiche Schwierigkeiten, die die Durchführbarkeit seines Planes unmöglich erscheinen ließen. Dennoch entwarf Wezel einen Fragekatalog, der ein relativ objektives Bild des Beobachtungsgegenstandes ermöglichen sollte und die genannten Schwierigkeiten zu umgehen versuchte. Die vollständige Beachtung aller Kriterien schien ihm selbst als wenig praktikabel. Deshalb rief er dazu auf, wenigstens Teilbereiche seines Planes umzusetzen und Auszüge aus dem Lebenszusammenhang der Zöglinge zu beobachten und niederzuschreiben. Im folgenden sollen nun beispielhaft zwei Beobachtungen dargestellt werden, die als Verwirklichung eines Teiles von Wezels Beobachtungsplan angesehen
52 53 54
Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42f.
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werden könnten. Die erste wurde von Peter Villaume55 eingesandt und erschien zwei Jahre nach Wezels Ausführungen. Der andere vorzustellende Artikel wurde von Karl Spazier56 verfaßt und wurde in der letzten Ausgabe der Pädagogischen Unterhandlungen veröffentlicht. Villaume berichtet in seinem Aufsatz „Bemerkungen über Kinder“ von verschiedenen Episoden, die er mit seinen Söhnen und Schülerinnen erlebte. Diese ordnet er unter vier Rubriken mit den Überschriften „I. Wissenschaft“, „II. Aufmerksamkeit“, „III. Ordnung“ und „IV. Einbildungskraft“. Angefügt wurden dann noch drei weitere Bemerkungen. Während er in der ersten Rubrik seinen Beispielen noch Teilüberschriften wie z.B. „Begrif von Gott“, „Untergang der Sonne“ oder „Moral“ gab, waren alle nachfolgenden Beispiele aneinander gereiht und wie auch die ersten kommentiert. Zwei von Villaumes Beobachtungen sollen nun vorgestellt werden. In der Ausführung „Begrif von Gott“ wird das Gespräch eines Vaters mit seinem dreijährigen Kind wiedergegeben. Das Kind wurde gefragt, ob es Gott liebe, was es bejahte, da es von ihm sein Morgenbrot bekommen habe. Auf die Bemerkung des Kindes, daß Gott im Himmel sei, stellt der Vater richtig, daß er „allenthalben“, also auch hier, sei.57 Daraufhin wurde Gott in der Stube und auch hinter dem Schrank vom Kind gesucht. Villaume stellt nun fest: „Das Kind weiß nicht, warum es Gott liebt; also liebt es ihn nicht, und es lügt. Es könte wohl nicht wissen, warum es seinen Vater liebt; aber es sieht seinen Vater und empfindet seine Wohlthaten.“58 Villaume kritisiert diese Art, Kinder Gottesfurcht zu lehren. Er tadelt die Verwendung von Aussagen wie „Der liebe Gott giebt uns alles“ und „Allgegenwart Gottes“, da diese keinen Inhalt für Kinder haben würden. Villaume gibt aber keine Hinweise, welches Vorgehen besser wäre. In der Rubrik „Einbildungskraft“ zeigt Villaume, wie stark, aber auch wie flüchtig die Einbildungskraft von Kindern sei. Um dieses zu beweisen, erwähnt er 55
56
57 58
Villaume, Peter (1746–1825): verschiedene Lehrerstellen; Lehrer am Waisenhaus der Charité; Theologiestudium; Ordinationsstelle Schwedt; Prediger und Leiter einer Erziehungsanstalt für Frauenzimmer in Halberstadt; Professor am Joachimsthalschen Gymnasium; Auswanderung nach Dänemark; Erziehung der niederen Bevölkerungsschichten in Holsteinborg in Holstein. Dazu: Wothge, Rosemarie, Ein vergessener Pädagoge der Aufklärung. Peter Villaume, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe. Halle 1956/1957, 6. Band, S. 429–454; [Villaume, Peter], Bemerkungen über Kinder, in: Pädagogische Unterhandlungen 3 (1780), 2. Quartal, S. 202–229. Karl Spazier (1761–1805): verschiedene Lehrer- und Hofmeisterstellen u.a. am Philanthropin zu Dessau; der Schulzischen Handelsschule zu Berlin und Mitdirektor an der von Olivier gestifteten Erziehungsanstalt in Dessau. Dazu: Fabian, Bernhard (Hg.), Deutsches Biographisches Archiv. Eine Kumulation aus 264 der wichtigsten biographischen Nachschlagewerke für den deutschen Bereich bis zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts. Microfiche-Edition. München / New York / London / Paris 1982, MF 1200, S. 29–56; Spazier, Karl, Einige Scenen aus meiner Kindheit, in: Pädagogische Unterhandlungen 5 (1784), 4. Quartal, S. 492–503. [Villaume], Bemerkungen, (wie Anm. 55), S. 203. Ebd.
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Beispiele aus dem Spielverhalten der Kinder. So konnte er beobachten, wie seine Söhne fiktiv ein Kartenspiel ohne Karten spielten und wie ihre Bälle als Butter und Käse fungierten. Auch verweist er auf das Puppenspiel der Mädchen. Andererseits konnte er ebenfalls bemerken, wie schnell der Verwendungszweck eines Gegenstandes wechselte. So wurde ein Schemel einmal als Schleuse genutzt und im nächsten Moment als Kanzel. Daraus schlußfolgert Villaume, daß die Einbildungskraft der Kinder ihre größte Fähigkeit sei, was aus der geringen Anzahl von Ideen herrühre. „In tiefer Dunkelheit giebt eine kleine Lampe einen großen Schein; und in einem leeren Kopfe muß nothwendig jede einzelne, ganze, durch nichts verfinsterte Idee, eine große Lebhaftigkeit haben.“59 Davon ausgehend stellt er fest, daß die Eindrücke, welche in der Jugend gefestigt würden, unauslöschlich seien. Aber gleichzeitig solle bedacht werden, daß eine Überhäufung mit Wissen und eine zu schnelle Abfolge in der Erweckung von Eindrücken diese verwischen und damit dem schnelleren Vergessen preisgegeben würden. „Ueberdieß muß man wohl Acht geben, daß die Eindrükke, nemlich die Empfindungen sehr stark, aber die Ideen, die Abstraktionen, die Lehren, sehr schwach sind. Daher vergessen die Kinder so leicht die Regeln der Aufführung und Ermahnungen.“60 Sie seien nicht aus dem „Wirkungskreis ihrer Sinne“ und könnten daher nicht verstanden werden.61 Aus diesen Beobachtungen leitet Villaume nun ab, daß man Kinder unter sieben Jahre nur wenig lehren solle, damit sie keine falschen Begriffe bekämen. Weiterhin schlußfolgert er, daß man Kindern keine „schädlichen Eindrükke von Lastern, Eitelkeit, Furcht, Geiz“ geben solle, da diese „unauslöschlich“ seien.62 Außerdem könne man aus den Beobachtungen ersehen, [d]aß, wenn sie einen falschen Eindruk bekommen haben, man sogleich suchen muß, wie man ihn durch einen unterschiedenen, oder gar entgegengesezten Eindruk auslöschen könne, den man geschwind darauf folgen läßt.63
Diese Regel könne verwendet werden, wenn ein Kind beispielsweise einen Schrekken bekommen habe. Im Gegensatz zu Villaume nutzt Spazier seine eigene Kindheitserinnerung als Ausgangspunkt, um daraus fünf Leitsätze für pädagogisches Handeln abzuleiten. Damit folgt er dem Weg der geforderten Introspektion, die in der eigenen Kindheit beginnen solle.64 Er erzählt die Episode, da er als wohl sechsjähriger Knabe im 59 60 61 62
63 64
[Villaume], Bemerkungen, (wie Anm. 55), S. 222. Ebd., S. 223. Ebd., S. 223. Ebd., S. 224, vgl. dazu auch die Bemerkungen zu den ersten Eindrücken von Kindern bei schlechten Wiegenliedern, z.B.: Dillenius, Friedrich Wilhelm Jonathan: Fragmente eines Tagebuches über die Entwicklung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Anlagen eines Kindes, in: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen InhaltS. Braunschweig 1789, 11. Stück, Nr. 2, S. 320–342, hier S. 330. [Villaume], Bemerkungen, (wie Anm. 55), S. 224. Vgl. Moritz, (wie Anm. 40), S. 492.
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Herbst aus der Schule kam und das zum Wochenschluß angestimmte Lied sang.65 Besonders eine Zeile des Liedes hätte es ihm angetan, „wo ein beruhigender Uebergang der Harmonie ist, und wo sich der Gesang aus einem feierlichen Mollton mit ungemeiner Kühnheit in den zunächst verwandten Durton auflöst“.66 Doch diese nachträglich von ihm angestellten Betrachtungen würden nicht seine Vorliebe für dieses Lied und die im Herbst wiederkehrende Erinnerung an diese Szene rechtfertigen. Spazier erkennt vielmehr andere Gründe als Ursache an. Zum einen sieht er sie in seiner damaligen Jugend „wo mir jeder Gegenstand der ewigschönen Schöpfung noch neu war, und diese Neuheit einem jeden Gegenstand einen Reiz gab, der mit jedem Genusse schwächer wird“.67 Hinzu komme, daß er während des Gesanges unter einem alten Nußbaum zu stehen kam, der gerade seine alten Blätter abwarf. „Ich weis noch eben, wie ich unter dem Baume dastand und mit einer gewissen Wemuth in die halb entblätterten Aeste lange Zeit hinaufsah [...]“.68 Die nun folgenden Betrachtungen schließen sich unmittelbar an dem als Zögling Erlebten an. Spazier stellt fest, daß ihm von allen am Vormittag gelernten Dingen nur dieses Liedchen in Erinnerung blieb. Die Ursachen beschreibt er wie folgt: „Ohne Zweifel, weil die Worte simpel, verständlich und – bildlich waren.“69 Daraus entwickelt er die pädagogische Maxime: Es ist beinahe überflüssig zu erinnern, wie sehr beim ersten Unterricht es darauf ankomme, mit Kindern in schicklichen Bildern zu reden; ihnen alles, so viel geschehn kan, zu versinlichen; sie nichts lernen lassen, was sie nicht verstehen können, was nicht aus ihrer Sphäre hergenommen ist, oder nicht durch irgend eine Beziehung darauf deutlich gemacht werden kan.70
Diese Beziehungen und Ähnlichkeiten sollten, so Spazier, besonders bei Gedächtnisübungen vom Lehrer eingesetzt werden. Damit verweist er gleich an erster Stelle auf die von den Philanthropen wiederholt geforderte „Versinnlichung“ der Lehrgegenstände. Seine zweite Lehre, die Spazier aus dieser Erinnerung zieht, ist, daß man bei der Unterweisung der Zöglinge die Rahmenbedingungen, in denen die Unterweisung geschehe, beachten sollte. Zum Beispiel seien Spaziergänge71 und besondere Ereig-
65 66 67 68 69 70
71
Spazier, Scenen, (wie Anm. 56), S. 494: „Seine Blätter werden alt, und doch niemals ungestalt. Gott gibt Gluk zu seinen Thaten, Was er macht mus wohlgeraten.“ Ebd., S. 494. Ebd., S. 494. Ebd., S. 495. Ebd., S. 495. Spazier, Scenen, (wie Anm. 56), S. 496; vgl. dazu u.a. Westhof, M., Wie die Jugend durch die Nachahmung zu edlen Gesinnungen und rühmlichen Handlungen angetrieben werden könne, in: Neues hamburgisches Magazin, oder Fortsetzung gesammelter Schriften aus der Naturforschung der allgemeinen Stadt- und Landoekonomie und den angenehmen Wissenschaften überhaupt. Hamburg und Leipzig 1775, 86. Stück, S. 185–192. So nutzt Moritz das Thema Spaziergang als Rahmung, um seinen Zöglingen Themen wie Religion oder Tod darzustellen, vgl.: Moritz, Karl Philipp, Unterhaltungen mit meinen Schülern. Berlin 21783.
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nisse Momente, in denen besonders nachhaltig auf den Zögling gewirkt werden könnte. Die in solchen Situationen entwickelten Ideen würden sich mit den jeweiligen Empfindungen verweben. So könnte man die Idee später, schon durch ähnliche Empfindungen, hervorlocken. Spaziers dritte Feststellung knüpft an die Debatte um die Verwendung von Bildern an. Er mahnt zum behutsamen Umgang mit Bildern und Eindrücken,72 „weil dergleichen Eindrükke in spätern Jahren sehr oft unerklärbare Neigungen, Abneigungen, Launen und Gewohnheiten erzeugen, und sich nicht selten in unerkante Motive zu Handlungen formiren!“73 Als Beispiel wählt Spazier den Bereich des Glaubens und schließt: Warum wolten wir ihnen nicht lieber, so viel wir können, Alles unter der Gestalt des Angenehmen darstellen und ihnen schon die ersten Scenen ihres frohen Jugendalters im voraus verfinstern, da sie überdem noch manchen Regentag erleben müssen und des dikken Nebels noch genug übrig bleibt, der ihnen die freie Aussicht benehmen wird.74
Auch seine vierte Folgerung hat mit dem Tagesgeschehen zu tun und richtet sich auf die Wichtigkeit von Traditionen. Seiner Ansicht nach sei es besser, Kinder, „besonders solchen, auf die wenig oder gar keine eigentliche Erziehung gewant werden kan“,75 ein Lied oder einen einfachen Spruch zu lehren, welche länger in der Erinnerung blieben als Katechismus und Glaubenslehre. An dieser Stelle übt Spazier Kritik an dem leichtfertigen Umgang mit traditionellen Gesangbüchern, den er als „grausam“ bezeichnet.76 Der fünfte und letzte Punkt hat wieder direkten unterrichtspraktischen Wert. Spazier fordert, daß der Gesang mehr in die Erziehung integriert werden solle. Solte man auch nicht überal den Zwek erreichen, daß dadurch der Sin für Harmonie und Wohlklang, musikalisches Gefühl und folglich Verfeinerung der Seele [...] befördert wird, so kan man ihn doch zum Vergnügen, zur Aufheiterung und dazu brauchen, wozu der Arzt seinen Gold- und Silberschaum braucht, zur Einfassung gewisser Lehren, die ohne Zusatz genossen, dem Kinde nur zu bitter sein und entweder gar nicht genossen oder bald vorbeigegangen sein würden.77
Als Zwischenbilanz läßt sich feststellen, daß beide vorgestellten Erziehungsgeschichten auf einer anderen Ebene als die von Wezel verfaßte Schrift angesiedelt sind. Begab sich letzterer auf eine sehr abstrakte, theoretische Ebene, so schrieben 72
73 74 75 76 77
Spazier, Scenen, (wie Anm. 56), S. 498; Forderung, Religion nicht mit dunklen Bildern zu überladen, in: [Anonym], Ueber die Gewöhnung, in: Gedanken, Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung. Berlin und Stettin 1778, 1. Band, 3. Stück, S. 44– 108, hier S. 92. Spazier, Scenen, (wie Anm. 56), S. 498f. Ebd., S. 499. Ebd., S. 499. Ebd., S. 500. Spazier, Scenen, (wie Anm. 56), S. 500; folgend wurde eine weitere Kindheitserinnerung Spaziers abgedruckt, die aber nicht vorgestellt werden soll.
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Villaume78 und Spazier ihr im Alltag erlebtes Wissen nieder. Villaume hielt Beobachtungen aus der jüngeren Vergangenheit fest, während Spazier – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dreiundzwanzigjährig – Erinnerungen aus seiner Kindheit darstellte. Inhaltlich beschäftigten sich beide Autoren unter anderem mit der Dominanz neuer Eindrücke in der Kindheit, der Verwendung „schicklicher“ Bilder sowie der Anschaulichkeit und Versinnlichung von Unterrichtsinhalten. Aus den gewonnenen Erfahrungen wurden zum Teil Regeln für den Alltag abgeleitet. Im folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, wie die Pädagogischen Unterhandlungen und die darin veröffentlichten Beobachtungen von den Lesern beziehungsweise den Kritikern bewertet wurden. Die vom Dessauer Philanthropin herausgegebene Zeitschrift wurde vom Publikum positiv aufgenommen. Die Zuversicht, mit welcher gleichsam versichert wurde, als ob das Heil der Welt von dem Stehen und von dem Fallen der Philanthropinen abhienge, machte uns immer zittern [...]. Wir empfanden deshalb ein nicht geringes Vergnügen als diese Unterhandlungen uns in die Hände fielen und als wir so wohl Tadel, als Selbstruhm, so wohl Forderung als Versprechen weit gelinder gestimmt fanden. Wir dörfen nun Lesern von Geschmacke und von Urtheile diese Sammlung zuversichtlich empfehlen. Sie werden darinn einen Schatz von wichtigen Beobachtungen und Lehren finden und sie werden daraus sehen, daß die Anlage des dessauischen Philanthopinums sich täglich verbessere und daß es freylich nicht das einzige aber gewiß eines der besten Werkzeuge seyn werde, das Erziehungsgeschäft zu einer höhern Vollkommenheit zu bringen.79
Nicht nur die Schulverbesserung im allgemeinen, sondern auch die Vervollkommnung der Lehre in den Schulen sei – so die folgende Rezension – durch die Lektüre der Pädagogischen Unterhandlungen möglich: 78
79
Über diese am Alltagswissen orientierten Beobachtungen hinausgehend untersuchte Villaume auch die Problematik der Selbstbeobachtung, vgl. Villaume, Peter, Über die Selbsterkenntniß, in: ders., Versuche über einige Psychologische Fragen. Leipzig 1789, S. 437–467. Jedoch erreichten seine Überlegungen nicht den Rang der Wezelschen Darlegungen. Zu Villaumes Anthropologie vgl. Garber, Jörn, Von der „Geschichte des Menschen“ zur „Geschichte der Menschheit“. Anthropologie, Pädagogik und Zivilisationstheorie in der deutschen Spätaufklärung, in: Sektion Historische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (Hg.), Jahrbuch für Historische Bildungsforschung. Bad Heilbrunn / Obb 1999, 5. Bd., S. 31–54, hier S. 33–37. Inwiefern sich Spazier mit methodologischen Fragen beschäftigte, bleibt noch zu erforschen. [Anonym], Pädagogische Unterhandlungen [...], in: Ephemeriden der Menschheit oder Bibliothek der Sittenlehre, der Politik und der Gesetzgebung. Basel, Mannheim und Leipzig 1778, 6. Stück, S. 79–85, hier S. 80f. Und in einer späteren Ausgabe heißt es: „Wenn wir schon nicht glauben, daß das Heil der Welt und der ganzen Nachkömmlingschaft von der Erhaltung und der Fortdauer des Philanthropins abhange: so sind wir doch überzeugt, daß durch seine Aufrechthaltung die Masse des Guten und Nützlichen unendlich werde vermehret, und daß durch seinen Untergang unendlich viele herrliche Saamen werde ersticket werden. Die pädagogischen Unterhandlungen bestärken auch dadurch diese Hoffnung nicht wenig, weil wir daraus wahrzunehmen glauben, daß die Idee der Vorsteher des Philanthropins immer mehr sich aufheitern und sich von dem Paradoxen entfernen.“ [Anonym], Pädagogische Unterhandlungen [...], in: Ephemeriden der Menschheit oder Bibliothek der Sittenlehre, der Politik und der Gesetzgebung. Basel, Mannheim und Leipzig 1778, 10. Stück, S. 92–95, hier S. 93f.
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Einem jeden Lehrer an Schulen, dem es um die Verbesserung der Lehrmethode in denselben, um die Mittel die Schulstudien junger Leute zu erleichtern, Kurz um die stuffenweise Verbesserung des ganzen Schulwesens zu thun ist, werden diese Unterhandlungen brauchbar seyn, dafern man, wo es nöthig wäre, einzele Verbesserungen, die in die Lehrmethode eines Philanthropins einpassen, in Schulen anderer Art schicklicher anzuwenden weiß. 80
Marx konstatiert eine Verbesserung der Qualität nach der Übernahme der Redaktionsleitung durch Wolke. Dadurch würde „die Pädagogik in den Mittelpunkt [ge]rückt“81 und „methodisch-praktische Abhandlungen und Aufzeichnungen“ vermehrt.82 Betrachtet man die Vehemenz, mit der Beobachtungen von Kindern und Selbstreflexionen gefordert wurden, so verwundert die geringe Resonanz innerhalb von Zeitschriften. Obwohl zeitgenössische Periodika vorläufig ein Sammeln von Erfahrungen propagierten,83 scheinen nicht in dem zu erwartenden Umfang Beobachtungen, deren Subjektivität die Herausgeber tolerierten, den Weg in die Öffentlichkeit gefunden zu haben. Dieser Umstand wurde in nachfolgender Rezension ebenfalls bemerkt und eine Änderung eingefordert: Nun noch unser Urtheil über den Plan dieses Werks. Wir wünschten daß mehrere Stücke, die sich auf Versuche, mehr als auf bloßes Nachdenken, gründeten, in diese Blätter mögten eingerükt werden. Gründe hierzu anzuführen halten wir vor überflüssig. Man macht hier und da in dem Unterricht der Kinder oder Jünglinge einzelne richtige Bemerkungen, die zu Verbesserungen abzwecken, und aus diesen einzelnen Fällen aber gleich ein ganzes Systemchen, das nun aufs Ganze und jeden Fall paßen soll. Ob dies nun die Erfahrung bestättige, könte am besten an einem Philanthropin untersucht werden, da es einem jeden Lehrer an demselben verstattet ist, durch Nachdenken aus gefundenen Verbesserungen in seinem Unterricht durch die Erfahrung zu untersuchen, ob sich’s also verhalte? Lehrern an unbasedowischen Schulinstituten ists äu-
80
81 82 83
[S-r.], Pädagogische Unterhandlungen [...], in: Archiv für die ausübenden Erziehungskunst. Gießen 1778, 3. Teil, S. 287–295, hier S. 289f.; eine weitere Rezension befindet sich in: [Anonym], Philanthropisches Journal für die Erzieher und das Publikum [...], in: Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Teutschland. Nördlingen 1783, 10. Band, 2. Stück, S. 297–340. Marx, (wie Anm. 15), S. 91. Ebd., S. 92. So beschreibt Moritz sein Ziel ebenfalls damit, nur „einige Materialien zu einem Gebäude zusammen zu tragen, das seinen Baumeister noch sucht, und ihn wahrscheinlich einmal finden wird“. Moritz, Karl Philipp, [ohne Titel], in: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Berlin 1783, 1. Band, 1. Stück, S. 1–3, hier S. 2. Und an anderer Stelle: „Vorzüglich aber Beobachtungen aus der wirklichen Welt, deren eine einzige oft mehr praktischen Werth hat, als tausend aus Büchern geschöpfte. Alle diese Beobachtungen erstlich unter gewissen Rubriken in einem dazu bestimmten Magazin gesamlet, nicht eher Reflexionen angestelt, bis eine hinlängliche Anzahl Fakta da sind, und dann am Ende dies alles einmal zu einem zweckmäßigen Ganzen geordnet, welch ein wichtiges Werk für die Menschheit könte dieses werden! das wäre noch der einzige Weg, wie das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter werden, und sich zu einem höhern Grade der Volkommenheit empor schwingen könte, so wie ein einzelner Mensch durch Erkentniß seiner selbst volkomner wird.“ Moritz, Vorschlag, (wie Anm. 40), S. 489f.
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ßerst schwer – man weiß es ja – von des alten Lehrbahn auszubeugen, wofern man nicht des guten Erfolgs gewiß versichert ist. [...] S-r.84
Auffallend an diesem Zitat sind zwei Aussagen. Erstens wurden Versuche und damit auch Beobachtungen gefordert, deren Notwendigkeit nicht mehr zu diskutieren sei. Damit wurde diese Form der Erkenntnisgewinnung als ein Allgemeinplatz beschrieben, der scheinbar nicht weiter reflektiert werden müsse. Und als zweites fällt die Analogie zur Wezelschen Kritik der „unzeitigen Theoriesucht der Sterblichen“85 auf, wenngleich dessen hohes theoretisches Abstraktionsniveau nicht erreicht wurde. Nichtsdestotrotz kann festgestellt werden, daß durchaus Beobachtungen eingesandt wurden, wenn auch nicht in dem zu erwartenden Umfang. In den 27 Ausgaben der Pädagogischen Unterhandlungen erschienen 25 Artikel, in deren Zentrum Beobachtungen, Charakterskizzen von Kindern oder einfache Anekdoten stehen. Darüber hinaus wurde die Abhandlung von Karl Spazier auch in anderen Publikationen rezipiert bzw. erneut abgedruckt.86 Allerdings wurden die veröffentlichten Beobachtungen äußerst zwiespältig von den Kritikern aufgenommen. Ein Beispiel dafür liefern die Reaktionen auf den fragmentarisch vorgestellten Artikel „Bemerkungen über Kinder“. Dem Inhalt desselben wird in dem Nördlinger Rezensionsorgan zwar kein großer Erkenntniswert zugesprochen, jedoch könne er zur Überprüfung eigener Erfahrungen genutzt werden. Bemerkungen über Kinder. [...] Sie sind nicht alle von gleicher Wichtigkeit. Doch verdienen sie mit Aufmerksamkeit gelesen zu werden. Wenn man auch nicht allemal etwas neues dadurch lernt, so kan man doch auch durch diese fremden Erfahrungen von der Richtigkeit seiner eigenen noch mehr überführt werden.87
Damit wurde die Richtung verfolgt, bei der zunächst das Sammeln vielfältiger Beobachtungen im Mittelpunkt des Interesses stand. Aber auch kritisch reagierten die Zeitgenossen auf die veröffentlichten Beobachtungen. Dem genannten Artikel wurde in einer anderen Besprechung jegliche Exklusivität und Erkenntniswert abgesprochen. Ein „Aufsatz, für den wohl kein
84 85 86
87
[S-r.], (vgl. Anm. 80), S. 290f. Wezel, (wie Anm. 32), S. 21. Mit dem selben Titel erneut abgedruckt in: Moritz, Karl Philipp, Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Berlin 1785, 3. Band, 2. Stück, S. 105–114; Moritz ersetzt das Wort ,Mnemonevtik‘ (im Orig. S. 496) durch das Wort Gedächtnis (S. 108). Mit zum Teil abgewandelten Schlußfolgerungen und anderer Rechtschreibung in: Mauchart, David Immanuel, Ueber das Feyerliche gewisser Jahreszeiten. in: ders., Phänomene der menschlichen Seele. Eine Materialien=Sammlung zur künftigen Aufklärung der Erfahrungs=Seelenlehre. Stuttgart 1789, S. 71–90, hier S. 83–90. [Anonym], Philanthropisches Journal für die Erzieher und das Publikum [...], in: Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Teutschland. Nördlingen 1783, 10. Band, 2. Stück, S. 297–340, hier S. 305.
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Honorarium in Rechnung gebracht werden wird – wenigstens wird wohl jeder Hofmeister, dem die Natur nicht allen Kopf versagt hat, dergleichen Bemerkungen zu Ausfüllung der Bogen liefern können“.88 Eine solche Bewertung war kein Einzelfall. In einem anderen Artikel der Pädagogischen Unterhandlungen hatte Villaume die Beobachtung seiner eigenen Kinder als Grundlage für generelle Betrachtungen über Höflichkeit genutzt. Auch diesem Artikel wurde ein Wert der gemachten Beobachtungen für die Erkenntnisgewinnung abgesprochen: „Vielleicht ist es hier Hrn. V. wie manchen andern gutem Vater gegangen, denen Beobachtungen die er an seinen Kindern macht, wichtiger vorkommen, als sie es andern sind.“89 Noch schärfer wurde die Kritik, wenn der gleiche Rezensent verallgemeinernde Aussagen zu den eingesandten Erziehungsgeschichten machte: Uebrigens können wir nicht bergen, daß die Bereitwilligkeit, von Vätern und Hofmeistern dergleichen Erziehungsberichte anzunehmen, auch wohl zu beantworten, dem Journale vielen nützlichen Raum wegnimmt: denn gerade diejenigen, die in solchen Fällen etwas Gemeinnützliches liefern könnten, sind vielleicht diejenigen nicht, die von ihren Erziehungsbeschäftigungen Berichte aufsetzen und einschicken werden.90
Der Rezensent vertritt offensichtlich die Meinung, daß der „nützliche Raum“ nicht effektiv genutzt würde, wenn man ihn für private Anekdoten verwendet. Damit werden die bei Wezel angesprochenen Schwierigkeiten der Objektivität und Komplexität von wissenschaftlichen Beobachtungen durch die Praxis bestätigt. Eine von der praktischen Ebene abstrahierte, generelle Methodenkritik äußerte Johann Heinrich Gottlieb Heusinger.91 Er bewertete vor dem Hintergrund von Kants Kritik der reinen Vernunft die Bestrebungen der Pädagogen, die ihr Erziehungssystem ausschließlich mit Hilfe von Beobachtungen errichten wollten: Beobachtung war das Mittel, von welchem die deutschen Erzieher die Verbesserung des Zustandes ihrer Kunst erwarteten. Auch hierinne wurden sie von dem herrschenden Geiste des Zeitalters geleitet. Das Nachdenken über die letzten Gründe unserer Kenntnisse schien durch Wolf und einige andere Metaphysiker geschlossen zu seyn. Mit den bisher entdeckten Schätzen des Wissens gieng man nun auf das Feld der Erfahrung und gewöhnte sich so sehr an das bloße, von aller Spekulation unabhängige Beobachten, daß man endlich alles von außen lernen zu müssen glaubte. Eine Denkart, welche der Begründung einer Theorie der Erziehungskunst sehr nachtheilig war. In dem Maase, als man fortfuhr über die Kräfte des Menschen bloße Beobachtungen anzustellen, wurde die Kenntniß derselben verwirrter, ihre Natur räthselhafter,
88 89
90 91
[Anonym], Philanthropisches Journal für die Erzieher und das Publikum [...], in: Allgemeine deutsche Bibliothek. Berlin und Stettin 1782, 49. Band, 1. Stück, S. 205–213, hier S. 209. [Anonym], [...] Philanthropisches Journal für die Erzieher und das Publikum [...], in: Allgemeine deutsche Bibliothek. Berlin und Stettin 1782, 50. Band, 2. Stück, S. 566–575, hier S. 572. [Anonym], Journal, (wie Anm. 89), S. 573. Heusinger, Johann Heinrich Gottlieb (1766–1837): Theologiestudium in Jena, verschiedene Hauslehrerstellen, Lehrer am von André geleiteten Erziehungsinstitut in Eisenach, Privatgelehrter, Lehrer am Kadettencorp später an der Militärakademie, wo er eine Professur erhielt. Vgl. Fabian, (wie Anm. 56), MF 532, S. 218–237.
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und ihre Anzahl und Klaßification unbestimmter. Man kannte die Kräfte des Menschen nie weniger, als da man von nichts als von Beobachtung über den Menschen sprach und schrieb.92
Einige Seiten weiter fährt er fort: „Jeder Beobachter, der seine Mühe nicht zur Hälfte verschwenden will, muß die Erfahrung nicht anders als mit einer wohldurchdachten Theorie ausgerüstet befragen, sonst mißversteht er sie gewiß.“93 In diesem Zitat kennzeichnete Heusinger das zu Beginn des Artikels vorgestellte Dilemma der Pädagogen. Er beschrieb die Unmöglichkeit, Beobachtungen ohne Wortgerüst, ohne Theorie durchzuführen. Als Lösung dieses Problems verwies er auf Kants Triade von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Die Voraussetzung eines Begriffssystems erkannte Wezel in dieser allgemeinen Form nicht. In diesem Zusammenhang machte er lediglich auf die Notwendigkeit von psychologischen Kenntnissen und den Mangel derselben aufmerksam. Seine Problembehandlung blieb am Beobachtungsvorgang mit seinen Rahmenbedingungen stehen. Das heißt, daß er trotz der Komplexität seiner Anleitung keine Überlegungen zu einer Verallgemeinerung94 und damit zu einer späteren Theoriebildung aufgrund der gesammelten Beobachtungen anstellte. Damit existierte für ihn die Notwendigkeit eines vergleichbaren Begriffssystems95 (noch) nicht, da es ihm vorrangig auf die Erstellung eines individuellen Erziehungsplanes für den einzelnen Zögling ankam. Doch schon eher, auf der Ebene der Umsetzung dieses methodologischen Konzeptes in die Praxis, wurden Schwierigkeiten deutlich. Verwies Wezel darauf, „anfangs ganz kalter Zuschauer“ zu sein,96 forderte Trapp Ein Geist von Vorurtheilen und Partheilichkeit frei; ein geübtes Auge; ein durchdringender Blick; eine weiche Seele, die alle Eindrücke annimmt, welche die beobachteten Gegenstände auf sie machen; eine lebhafte Vorstellung von der Möglichkeit sich zu irren, die zur Behutsamkeit und zur Wiederholung der angestellten Versuche leitet.97
Daß diese Forderung bei den veröffentlichten Beobachtungen offensichtlich nicht eingehalten wurde, zeigte die Rezension, die in der Darstellungsart eher den Vater als den Forscher erkannte. Ebenfalls waren die Beobachtungen von Spazier, wie
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Heusinger, Johann Heinrich Gottlieb, Ueber die Pädagogik der deutschen Erzieher, in: Philosophisches Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl. Jena 1794, 3. Band, 3. Stück, S. 321–348, hier S. 327f. Ebd., S. 330. Diese Frage beschäftigte ihn erst in einem späteren Werk, vgl.: Wezel, Johann Karl, System der empirischen Anthropologie oder der ganzen Erfahrungsseelenkunde in zwei Haupttheilen abgefaßt. Leipzig 1803, Band 1, S. 580–585. Zur Notwendigkeit von Begriffen vgl. Kant, Immanuel, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. 1786, in: Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911, [ND 1983], 29 Bände, hier 4. Band, S. 465–565, hier S. 472. Wezel, (wie Anm. 32), S. 36; Moritz nutzt das gleiche Vokabular, wenn er als Voraussetzung fordert, daß man „ruhiger, kalter Beobachter“ sein solle: Moritz, (wie Anm. 40), S. 495. Trapp, (wie Anm. 3), S. 64.
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auch seine Schlußfolgerungen daraus, auf einer alltagspraktischen Ebene angesiedelt. Wezels Forderung nach Beobachtungen, die vorerst unabhängig von einem System nur gesammelt werden sollten, wurden von Trapp und Moritz unterstützt. Alle drei Autoren waren jedoch skeptisch, wenn es um die Umsetzung dieses Planes ging. Jedoch gestand nur Trapp ein, daß ein vollständiges System aufgrund dieser Sammlungen nicht aufzustellen sei. [...] die Zahl wird niemals voll. So lange die Welt steht, wird immer für den Arzt und Pädagogen etwas zu beobachten, etwas zu bemerken übrig bleiben und der Schatz der Erfahrung in diesen beiden Wissenschaften, [...] ist eines Wachsthums ins Unendliche fähig.98
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Ebd., S. 62; Moritz Äußerungen gehen nicht bis zum letzten Schluß: „Aber wie sol ein solches Werk jemals vollendet werden? – Dann ist es vollendet, wenn alle Ausnahmen bemerkt sind, wenn die Fakta sich immer so einfinden, daß sie keine Ausnahme mehr von der Regel machen.“ Moritz, (wie Anm. 40), S. 491.
MICHAEL NIEDERMEIER (Berlin)
Franz Heinrich Ziegenhagens konfliktreiches Intermezzo am Dessauer Philanthropin und seine Erziehungsutopie Wenn ich meinen Vortrag Ziegenhagen und dem Philanthropin widmen möchte, dann kann ich kaum darauf spekulieren, daß Sie überhaupt etwas mit dem Namen Franz Heinrich Ziegenhagen anfangen können. Denn Ziegenhagen zählt neben seinem Zeitgenossen Carl Wilhelm Frölich1 zu den wenigen deutschen Sozialutopisten im 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert vergessen, ist es nach einer kurzen Phase in den 1960er und 1970er Jahren, in denen sich ein gewisses Interesse an ihrer Erforschung bemerkbar machte, heute wieder relativ still um sie geworden. Ziegenhagens Entwurf einer, die denaturierende Arbeitsteilung und das Privateigentum überwindenden Erziehungskommune auf dem ökonomisch genutzten Landgut, den er in Billwerder bei Hamburg zu realisieren suchte, wird als einer der wenigen frühen deutschen Versuche gedeutet, die Utopie einer gerechten und „glückseligen“ Gesellschaft nicht nur zu träumen oder zu entwerfen, sondern sie tatsächlich zu verwirklichen.2 Ziegenhagen wäre somit ein Vorgänger von Robert Owen, Saint Simon oder dem „amerikanischen Pestalozzi“ Amos Bronson Alcott. Diese Menschen investierten ebenfalls ihr eigenes Vermögen in hochambitionierte Projekte, um wenigstens im genau abgezirkelten Raum soziale Schranken zu beseitigen und eine auf Gemeineigentum basierende Modellgesellschaft zu entwickeln.3 Nun sprach man in den letzten Jahren gern vom Ende der Utopie, und ein Zeitgeistritter wie Wolf Biermann tönte unlängst erst wieder, daß der Versuch, die Gesellschaft mit Utopievorstellungen zu konfrontieren, gerade die Ursache allen Übels sei.4 Demgegenüber hielten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Walter Grab, Moshe Barasch oder Julius Posener daran fest, daß angesichts der ökologischen Katastrophe, die unausweichlich durch die Wachstums-, Individualitäts- und Marktgesellschaft produziert werde, der einzig mögliche Ausweg aus der Krise in 1 2
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Frölich, Carl Wilhelm, Über den Menschen und seine Verhältnisse, hg. v. Gerhard Steiner. Berlin 1960; Steiner, Gerhard, Der Traum vom Menschenglück. Berlin 1959. Vgl. hierzu neuerdings die Aufsatzsammlung: Meißner, Joachim / Meyer-Kahrweg, Dorothee / Sarkowitz, Hans, (Hg.), Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe. Frankfurt a.M. / Leipzig 2001. Darin vom Verf. einen Aufsatz über die Gartenutopien des Fürsten Franz von AnhaltDessau und des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha, S. 82–101. Zum Einfluß des deutschen Philanthropismus, der deutschen Literatur und Philosophie auf Alcotts Pädgogik und seine Lebensreformkolonie „Fruitland“ in Massachusetts vgl. Bauschinger, Sigrid, Die Posaune der Reform. Deutsche Literatur im Neuengland des 19. Jahrhunderts. Bern / Stuttgart 1989, S. 161–190. Mangold, Ijoma, Familiengericht mit Biermann. Eine Diskussion im Literaturforum an der Berliner Chausseestraße, in: Berliner Zeitung, 17. Sept. 1999, S. 13f.
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den Gegenentwürfen von Utopien zu hoffen sei. So sagte Walter Grab bündig: „Entweder wird es eine Utopie geben, die die Welt rettet, oder wir gehen alle zugrunde.“5 Ich habe diese Bemerkungen nur eingeschoben, um zu zeigen, daß es sich bei dem Thema nicht um eine museale Kuriosität handelt: Friedrich Heinrich Ziegenhagen und sein Verhältnis zum Philanthropismus reichen thematisch in das Zentrum einer zentralen Debatte, die bis heute anhält. Franz Heinrich Ziegenhagen taucht heute meist nur noch gelegentlich in Fußnoten von Mozart-Biographien auf, ansonsten ist er vergessen. Und aus Ziegenhagens großem Buch Lehre vom richtigen Verhältnis zu den Schöpfungswerken (1792) werden nur die Kupferstiche von Daniel Chodowiecki als Beispiele der Pädagogik der Aufklärung immer wieder publiziert. Dazu kommt, daß über ihn nur relativ wenige biographische Details bekannt geworden sind. Aus seiner frühen Zeit wissen wir nur Bruchstückhaftes. Nachdem ihn 1954 die sowjetische Wissenschaftlerin Moschkowskaja wiederentdeckt hatte, ließ sich insbesondere Gerhard Steiner zur Beschäftigung mit dem vergessenen Aufklärer inspirieren. Basierend auf akribischer Archivarbeit hatte Gerhard Steiner 1962 seine umfassende Arbeit vorgelegt, die er bescheiden als eine erste Anregung für die Beschäftigung mit Ziegenhagen bezeichnete. Und Steiner ordnete Ziegenhagen, ausgehend von dessen pietistischer Herkunft und seiner Erziehung durch den berühmten Pfarrer Oberlin,6 in die sehr kleine Gruppe früher deutscher utopischer Sozialisten ein. Ziegenhagen, der mit seinem kommuneartigen, auf gemeinschaftlichem Besitz gegründeten Erziehungsunternehmen in Billwerder und seinem Engagement für die Französische Revolution eine außergewöhnlich radikale Position unter den Aufklärern seiner Zeit einnahm, ist in seiner ideologischen und pädagogischen Einordnung allerdings umstritten. Der Darmstädter Pädagogikprofessor Gernot Koneffke, der 1975 einen Nachdruck der sehr raren Schrift Ziegenhagens vorlegte und mit einer ausführlichen Einleitung versah, die er 1994 in einer Sammlung von Aufsätzen noch einmal abdruckte, unterzieht das Ziegenhagensche Werk einer grundlegenden polit-ökonomischen Analyse. Es ist dies eine noch immer lesenswerte Studie, obgleich sie den deutlichen Mangel hat, daß sie leider viel zu wenig die Kameralliteratur von Ziegenhagens Zeitgenossen würdigt und die ökonomischen Debatten der Zeit berücksichtigt. 1988 hat Regine Wittwer in einer Studie dann Ziegenhagen in die Nähe einer „grünen Aufklärung“ zu rücken versucht, weil Ziegenhagen letztlich jede Religion auf einen umfassenden Naturbegriff zurückgeführt habe, wobei die Harmonie zwischen allen Lebewesen und der natürlichen 5 6
In: Wilhelm, Karin (Hg.), Utopie heute? Ende eines menschheitsgeschichtlichen Topos? Wien 1993, S. 126. Vgl. von den neueren Arbeiten: Gutfeldt, Horand, Johann Friedrich Oberlin. Eine wissenschaftliche Untersuchung seiner Gedankenwelt, seiner Pädagogik u. seines Einflusses auf die Welt. Mit einer kurzen Biographie. Wien 1971; Kurtz, John W., John Frederic Oberlin. Boulder 1976.
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Umwelt den Ausgangspunkt seiner Glückseligkeitstheorie markierte. Zur Zeit entsteht, wie aus dem Rundbrief der Historischen Kommission der Dt. Gesellschaft für Erziehungswissenschaften zu entnehmen ist, eine Dissertation von Barbara Ritter, die nicht nur neues Archivmaterial zu Ziegenhagen aufschließen wird, sondern auch seine Einordnung in die Reihe der utopischen Sozialisten in Frage stellt, die nach der Meinung der Autorin zu „Fehlurteilen“ geführt habe.7 Ich kenne die Arbeit und ihren Stand nicht, weiß auch nicht, welches Material aus Dessau – von ihr als „Zufallsfund“ bezeichnet – sie zur Kenntnis genommen hat. Ich denke aber, daß mein Blick auf die bisher nicht ausgewerteten Archivalien nicht ganz überflüssig sein wird, da ich ja speziell zu kulturellen Fragen des Philanthropins in Dessau gearbeitet habe. Bei der Frage, angebliche Fehlurteile zu Ziegenhagen auszuräumen, bin ich übrigens etwas vorsichtiger, denn ich denke, daß jede Zeit, ausgehend vom sich ändernden Erkenntnisinteresse notwendigerweise ihre eigenen Blickwinkel und Urteile entwickelt, so daß die Geschichte, wie Goethe sagt, zwangsläufig alle fünfzig Jahre wieder umgeschrieben werden muß. Ich will mich hier also nicht in erster Linie damit beschäftigen, welche Auffassungen es waren, die den Pädagogen in die Nähe der Jakobiner oder der utopischen Sozialisten rückten, oder ob man nicht alternativ seine Reformprojekte dem pietistischen Reformismus eines Stuber oder Oberlin zurechnen sollte. Ich kann die geistige Verbindung mit den fast zeitgleichen religiös inspirierten Kommuneprojekten des württembergischen Pietisten Georg Rapp Harmony, New Harmony und Economy in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika, die etwa einen direkten Einfluß auf Goethes „Pädagogische Provinz“ in den Wanderjahren hatten, nur erwähnen. Dem Zusammenhang zwischen dem elsässischen, schweizerischen und württembergischen Philanthropismus und den Rappisten sollte man auf jeden Fall intensiver nachgehen. Schließlich korrespondierte August Rapp mit dem Straßburger „Herzensfreund“ Goethes, dem Philanthropen Johann Daniel Salzmann in Straßburg, zu dem ja auch Ziegenhagen Kontakt hatte.8 Ich möchte hier in erster Linie Ziegenhagen im Umkreis des Dessauer Philanthropins untersuchen. Gerhard Steiner meinte, daß es in erster Linie die geistigen Einflüsse von Straßburg und Hamburg gewesen seien, die auf Ziegenhagen gewirkt hätten. Steiner konnte in seiner grundlegenden Arbeit noch nicht auf die Quellen aus Dessau zurückgreifen, so daß der Vergleich Ziegenhagens mit den Philanthropen um Base-
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Richter, Barbara, Franz Heinrich Ziegenhagen. Kaufmann und engagierter Philanthrop im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Rundbrief der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 6 (1997) 1, S. 8–10. Arndt, Karl J. R., George Rapp’s Harmony Society 1785–1847. Revised Edition. Rutherford / Madison / Teaneck 1972, S. 48. Vgl. auch meinen Aufsatz: Michael Niedermeier, Moderne Zeiten. Goethe und das aufkommende Maschinenwesen, in: Stellmacher Wolfgang / Tarnói, László (Hg.), Goethe. Vorgaben. Zugänge. Wirkungen, Frankfurt/M. u.a. 2000, S. 103–125.
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dow, Feder, Campe und Stuve, die Ziegenhagen selbst in seiner Verhältnislehre namentlich nennt, durch Steiner zu wenig differenziert ausfällt. Sowohl die einschlägigen Akten im Landesarchiv in Oranienbaum als auch die in der Landesbibliothek aufbewahrten Archivalien sind erst in den letzten Jahren einer systematischeren Untersuchung unterzogen worden. Bei meinen Arbeiten in Oranienbaum, Ende der 80er Jahre, bin ich zunächst auf einen ausführlichen Brief Ziegenhagens an den Fürsten Franz gestoßen, den er im Juli 17939 geschrieben hat. Ich habe dann, in jüngster Zeit auch mit freundlicher Unterstützung von Michael Rohleder, der die Handschriften der Philanthropin-Akten, die in der Landesbibliothek in Dessau lagern, für die Publikation aufbereitet, weitere Briefe, unter anderem die von Ziegenhagen gesichtet. Diese Briefe werfen ein neues Licht auf die bisher nicht bekannten Anfänge der Ziegenhagenschen Unternehmungen und zeigen, daß sein Gesamtwerk, stärker als bisher geschehen, im Kontext der Debatten um das Philanthropin in Dessau verstanden werden muß. Denn daraus geht hervor, daß Ziegenhagen persönlich am Philanthropin in Dessau gewirkt hat, also die Philanthropen persönlich erlebt hatte und mit einigen von ihnen in Konflikt geraten ist. Aber gerade angesichts dieser Konflikte werden er und sein Werk im Kontext eines grundlegenden Richtungsstreites innerhalb des Philanthropismus selbst verstehbar. Denn ich gehe, nicht zuletzt aufgrund der neuen Quellen davon aus, daß Ziegenhagen viel enger in den Kontext des elsässischen Philanthropismus und der dort verankerten freimaurerischen Ideenvorstellungen zu rücken ist, und ein Großteil der Spezifik der Ziegenhagenschen pädagogischen, philosophischen und sozialökonomischen Vorstellungen aus dem Unterschied des elsässischen Philanthropismus zur Hauptströmung des Philanthropismus in Mitteldeutschland zu erklären ist. Friedrich Heinrich Ziegenhagen war in Straßburg als Sohn eines bekannten und wohlhabenden Wundarztes aufgewachsen. Hauslehrer in der Familie Ziegenhagen war der später so berühmte Philanthrop Johann Friedrich Oberlin gewesen, der dann im Steintal die bekannten pädagogischen, ökonomischen und sozialen Reformprojekte leitete. Oberlin hat Ziegenhagens Engagement für die notleidenden Unterschichten früh gefördert und seine Neigung ausgebildet, nach den sozialökonomischen Wurzeln von Not und Unbildung zu suchen und sich für deren Beseitigung einzusetzen. Im Gegensatz zum mitteldeutschen Philanthropismus war der elsässische dadurch gekennzeichnet, daß seine Suche nach Möglichkeiten, die Glückseligkeit der Menschen auf Erden zu befördern, entschiedener auf die ökonomischen Grundlagen orientiert war und sich nicht auf die Erziehung und Bildung einschränken ließ. Die Straßburger Société des Philanthropes, die älteste Philanthropische Gesellschaft überhaupt, um 1770 gegründet, versammelte nicht nur Pädagogen wie Johann Lorenz Blessig, Charles Auguste de Seilliere, später auch die dann in Dessau wirkenden Straßburger Johann Friedrich Simon und Johann
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Das Datum ist wegen der Bindefalz in der Akte nicht genau entzifferbar.
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Schweighäuser in ihren Reihen,10 sondern legte ihren Interessenschwerpunkt neben der Behandlung von Fragen der Bildung und Erziehung insbesondere auf die Landwirtschaft, den Handel und das Handwerk. In der Société waren so berühmte Ökonomen bzw. Physiokraten wie Nicolas Baudeau, François Rozier, Isaak Iselin, Charles Louis de Loys, der Hamburger Ökonom und Volksaufklärer Caspar Voght oder der Kasseler Staatswissenschaftler Christian Wilhelm Dohm vertreten. Über die Straßburger Philanthropische Gesellschaft schrieb Goethes Freund, der bereits genannte Aktuar Salzmann: „Sie will den Menschen aufklären und zugleich seine geistigen und körperlichen Bedürfnisse befriedigen, Ihre Hauptbeschäftigung ist gleichwohl Landbau und Erziehung.“11 So beschäftigte sich die Straßburger „philanthropisch-patriotische Gesellschaft“,12 die regen Kontakt zu den PhilanthropenGesellschaften in Colmar, Nancy, ja in ganz Frankreich unterhielt, mit Studien zur Volkswirtschaft, zu Handel und Gewerbe, aber auch zur Gesetzgebung, Moral und Erziehung, sogar mit schöngeistiger Literatur, insofern sie der Moral dienstbar sein konnte.13 An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, daß die Straßburger Mitglieder dieser Gesellschaft nicht nur oft auch Mitglieder der Deutschen Gesellschaft von Jakob Michael Reinhold Lenz in Straßburg waren, so daß man etwa Lenzens poetische Arbeiten, wie den Hofmeister, den Landprediger, aber auch seine gesellschaftspolitischen Texte Über die Soldatenehen, seine Briefe eines jungen L – von Adel an seine Mutter oder seinen Entwurf einiger Grundsätze für die Erziehung überhaupt, besonders aber für die Erziehung des Adels nur unter dem Blickwinkel des Einflusses des Straßburger Philanthropismus verstehen kann. Ich habe auch zu zeigen versucht, daß Lenzens Verzicht, als Schriftsteller ans Philanthropin nach Dessau zu gehen, mit dem Streit der Stürmer und Dränger mit den rationalen Aufklärern um Friedrich Nicolai und Joachim Heinrich Campe um die Vorherrschaft am Musterinstitut der deutschen Aufklärung zu tun hat.14 Es kam schließlich fast die ganze erste Generation der Lehrer am Philanthropin in Dessau, Johann Jakob Mochel, Johann Friedrich Simon, Johann Ehrmann und Johann Schweighäuser, ferner der „Sturm-und-Drang-Apostel“ Christoph Kaufmann, aus dem Umkreis der Straßburger Philanthropen und stand dem Straßburger Sturm und Drang nahe.
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„In Strasburg hat sie [die Philanthropische Gesellschaft, M. N.] auf Kosten, unter Begünstigung des Magistrats. die Lehrart und Erziehung in dem grosen Waysenhause verbessert und sie den beyden berühmten Dessauischen Lehrern Schweighäuser und Simon übergeben, die allgemein Beyfall erntedten.“ Vgl. [Salzmann, Friedrich Rudolf], Schrifttasche auf einer neuen Reise durch Teutschland, Frankreich, Helvetien und Italien gesammlet. Erstes Bändchen, Frankfurt und Leipzig 1780, S. 218ff. Ebd. (Hervorhebung M. N.); vgl. auch: Lefftz, Joseph, Die gelehrten und literarischen Gesellschaften im Elsaß vor 1870. Heidelberg 1931, S. 79ff. [Salzmann], Schrifttasche, (wie Anm. 10), S. 218. Vgl. ebd., S. 77f. Vgl. „Stürmer und Dränger“ und „Aufklärer im Kampf um das pädagogische Musterinstitut der Aufklärung“, in: Lenz-Jahrbuch 5 (1995): Sturm-und-Drang-Studien, S. 92–117.
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Diese Elsässer Junglehrer, die am Institut als „Straßburger Brüder“ auftraten, waren aber mit der Partei der rationalen Aufklärer in Dessau und Berlin nach kurzer Zeit in einen scharfen Konflikt geraten. Auch die Freunde in Weimar und Emmendingen, Goethe, Herder und Schlosser, waren auf Distanz zu Basedow und Campe gegangen. Aufgrund von Gerüchten, Halbwahrheiten, aber auch durch die eitlen Selbstinszenierungen Basedows, der durch die Präsentation geradezu wundertätiger Lehrmethoden die Weltöffentlichkeit zu mehr Geldspenden für das Philanthropin zu drängen hoffte, nahmen Herder und Goethe an, daß am Philanthropin keine Menschen, sondern Maschinen gedrechselt würden. Wie ungenau die Freunde der Junglehrer allerdings in Wirklichkeit über das Unternehmen informiert waren, sieht man daran, daß Schlosser ganz im Gegensatz zu Herder meinte, daß man den Zöglingen im Philanthropin eine abgeschlossene Idealwelt vorgaukele, die sie für die Härte der Konkurrenz im späteren Alltag nicht vorbereiten würde. Der Streit am Philanthropin ist als die Auseinandersetzung der Stürmer und Dränger mit den Aufklärern auf dem enorm wichtigen Praxisgebiet der Pädagogik zu verstehen. Die von den Straßburgern vertretenen Auffassungen von Gleichheit und Brüderlichkeit entsprangen der festen Verwurzelung der Sociétié in den stark philanthropisch geprägten elsässischen Freimaurerlogen. Der Streit am Philanthropin und der demonstrative Bruch mit Basedow und Campe hatte die Ursache in der Aushebelung der von den Straßburger Junglehrern eingerichteten brüderlichen und republikanischen Institutsverfassung durch eine streng hierarchisch strukturierte Konstitution, die der Aufklärer Campe mit Basedows Hilfe zur Disziplinierung der sogenannten „Partei der Empfindsamen“ durchdrücken wollte.15 Die Société des Philanthropes sah einen weiteren Schwerpunkt für ihr Wirken auf dem Gebiet der Judenemanzipation. Sie hoffte, die Judenbefreiung durch die völlige wirtschaftliche Integration und die gesetzliche Gleichstellung zu bewerkstelligen. Der Partei der rationalen Philanthropen um Basedow wurde dann auch von den Straßburger Brüdern vorgeworfen, daß sie sich nicht genug für die Veränderung der ökonomischen Grundlagen als Voraussetzung der Judenemanzipation eingesetzt habe, ja daß sie sich überhaupt viel zu wenig für die Wirtschaft als der Basis für Gesellschaftsveränderung interessiere. Vor dem Hintergrund ihrer Verwurzelung in der Freimaurerei ist auch ihr Eintreten für eine religion naturelle, eine überkonfessionelle Naturreligion, zu verstehen. Diese hier nur skizzenhaft dargestellte Vorgeschichte ist wichtig, weil sie nämlich eine Vorbedingung für das Verständnis für Ziegenhagens Interesse am Philanthropin, sein Scheitern in Dessau und sein späteres Kommuneprojekt in Hamburg ist. 15
Ein Seitenblick auf die Straßburger Deutsche Tischgesellschaft sei hier angebracht, in der Lenz und der nun in Dessau lehrende Ehrmann zusammen waren. Auch hier beschäftigte man sich u.a. mit „den Fehlern der Straßburger Kinderzucht“, also pädagogischen Fragen. Vgl. Stöber, August, Der Aktuar Salzmann und seine Freunde, in: Alsatia. Jahrbuch für elsässische Geschichte [...]. Mühlhausen 1853, S. 36ff.
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Ziegenhagen teilte also nicht nur Oberlins Interesse an dessen landwirtschaftlichen und pädagogischen Reformprojekten, Oberlin war, wie Gerhard Steiner herausarbeitete, auch ein Schweizer Propagandist des gotischen Mittelalters, der ja auch Goethe „eine Neigung zu den sogenannten Minnesängern und Heldendichtern einzuflößen“16 suchte. Die Hinwendung der Stürmer und Dränger zum Mittelalter erscheint gerade in dieser Konstellation von Ökonomik und Pädagogik in einem neuen Licht. Steiner gelang es weiterhin nachzuweisen, daß Johann Georg Stuber, der Vorgänger Oberlins in Waldersbach im Steintal, bei den Ziegenhagens ein häufiger Gast war. Ziegenhagen hatte also frühzeitig Kontakt zum Elsässischen Philanthropismus.17 Aus den siebziger Jahren hat Steiner nun spärliche, nichtsdestoweniger erhellende Zeugnisse von Ziegenhagens Werdegang ausfindig machen können. Spätestens seit 1775 wissen wir, daß Ziegenhagen Freimaurer war,18 denn seit der Zeit taucht er im Mitgliederverzeichnis der Regensburger Loge als durchreisender Freimaurer auf. Steiner fand dann noch einen Hinweis auf Ziegenhagens Tätigkeit als erfolgreicher Handelsunternehmer in einem Brief Leopold Mozarts. Aus einigen Briefen an Oberlin aus dem Jahre 1778 schälen sich zudem wenige Details einer Reise Ziegenhagens durch Südfrankreich heraus, bei der er höchstwahrscheinlich seinen Textilhandel mit einer Bildungsreise verbinden wollte. Für die folgenden Jahre 1779/80, bevor Ziegenhagen nach Hamburg ging, klaffte bisher eine Lücke. Hier nun gibt der Briefwechsel mit dem Philanthropin neue Erkenntnisse. Aus Straßburg fragte Ziegenhagen im Herbst 1779 das erste Mal bei Wolke, dem damaligen Direktor des Dessauer Philanthropins, an, ob er als junger Mann „aus guter Familie aus Straßburg, der die doppelte Buchführung und Rechnen und alle kaufmännischen Geschäfte beherrscht, französische Sprache und Schrift und im Klavier Unterricht geben kann, am Institut zu gebrauchen sei“. Da er finanziell nicht ganz unvermögend sei, könne er seine Reisekosten selbst tragen und einen Monat ohne Bezahlung in Dessau bleiben. Er bot gleichzeitig an, einen Teil seines Vermögens in das Institut zu investieren, wenn es die Verfassung des Instituts erlauben würde.19 Man kann aus diesem Brief ersehen, daß Ziegenhagen schon zu dieser Zeit aus dem Kaufmannsberuf in die philanthropische Praxis umsteigen 16 17
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Goethe, Johann Wolfgang von, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Weimarer Ausgabe, 1. Abt., Bd. 28, S. 48. Sein älterer Bruder, Daniel Gottlieb Ziegenhagen, studierte wie der Vater Medizin in Straßburg und wurde Chirurg am Waisenhaus zu Straßburg, wo er auch medizinische Lehrgänge leitete. Spezialisiert war er übrigens, wie seine Publikationen ausweisen, auf Geschlechtskrankheiten, eine für Ziegenhagen wie für den Philanthropismus ebenfalls wesentliche Frage. Steiner arbeitet schön heraus, daß auch Ziegenhagens Schwester persönliche Kontakte zu Klopstock, Lavater und Jung-Stilling pflegte. Ziegenhagen war 1775 in die Regensburger Loge „Zu den 3 Schüsseln“ aufgenommen worden. Vgl. Steiner, Gerhard, Franz Friedrich Ziegenhagen und seine Verhältnislehre. Ein Beitrag zur Geschichte des utopischen Sozialismus in Deutschland. Berlin 1962, S. 83f. Straßburg, d. 2. 8ber 1779; Landesbibliothek Dessau; Reliquiae Phil. Handschriften (im folgenden: Lb Dessau RP) III, 7, 33, Bl. 1–2.
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wollte. Schon in Dessau war er bereit, sein Vermögen diesem Zukunftsplan zu opfern. Interessant ist auch, daß er Wolke vorschlug, „ein Forte Piano von des berühmten Hrn. Silbermann20 neuester Erfindung mit sich zu nehmen“. Die Verbindung zu Mozart, der ihm ja bekanntermaßen das Bundeslied vertont und für die Klavierbegleitung arrangiert hatte, durfte sicherlich auch auf die bisher nicht so genau nachgewiesene Musikleidenschaft Ziegenhagens zurückgehen. Der im Bundeslied ausgesprochene überkonfessionelle Natur-Gottes-Begriff, der die Menschen als Brüder sah, wird Ziegenhagen und Mozart, der zeitgleich an der Zauberflöte arbeitete, durch ihre freimaurerischen Auffassungen als verbindendes Element gedient haben. Doch zurück zu Ziegenhagens Bewerbung. Unterstützen wollte Ziegenhagen seine Bewerbung ausgerechnet durch ein Empfehlungsschreiben21 Johann Friedrich Simons, der an den ehemaligen „Mitbruder“ Wolke schrieb, daß der Überbringer dieses Blattes der Sohn eines der angesehensten Wundärzte in Straßburg sei. Sein Vater sei ehedem auch sein Wohltäter gewesen, aber vor einigen Jahren gestorben. Und weiter heißt es wörtlich: Gegenwärtiger junger Mann gedenkt sich einige Zeit in Dessau aufzuhalten, und wünscht Eurem Institut nützlich zu seyn. Seine Geschicklichkeit im Französischen, in der Musik, und seine Kenntnisse in der Kaufmannschaft sind Eigenschaften, die Euren Zöglingen allerdings vortheilhaft sind.
Schließlich bittet Simon, „diesen Freund“ zu unterstützen. Unterschrieben ist der Brief an Wolke mit dein „dichherzlichliebender und ergebenster Simon“. Ob sich Wolke „herzlich“ über die Empfehlung von Simon gefreut hat, ist sehr zweifelhaft. Simon, Schweighäuser, Ehrmann und die mit ihnen verbrüderten Wilhelm Gottlieb Becker, Jahn und Schmohl hatten ja mit großem Aplomb, kurz nach Campes Flucht Ende 1777 bzw. Anfang 1778, Dessau verlassen. Ja, diese Stürmer und Dränger waren es, die mit ihrem Bestehen auf der auf Brüderlichkeit und Gleichheit gründenden Institutsverfassung den Direktor Campe zur Verzweiflung getrieben hatten. Der mit ihrem und Campes Weggang verbundene Aderlaß hatte das Philanthropin in eine tiefe, langanhaltende Krise gestützt, von der es sich nie wieder richtig erholte. 1779 war die dickleibige programmatische Erziehungsschrift der Elsässer mit dem wuchtigen Titel Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangener Lehrer Gedanken über die wichtigsten Grundsätze der Erziehung und die darauf gegründete Einrichtung einer Erziehungsansthalt erschienen, die man in Dessau ebenfalls mit Mißtrauen gelesen hatte. Auch waren 1777/78 Stimmen kolportiert worden, die behaupteten, daß Simon und Schweighäuser in Gotha schlecht vom 20 21
Johann Andreas Silbermann, der berühmte Orgelbauer, gehörte zu den Berühmtheiten in Straßburg. Simon an Wolke, Straßburg, im Anfang des Wintermonats 1779; Lb Dessau R.P. III, 7, 33, Bl. 3–4.
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Dessauer Institut gesprochen hätten. Und wenn sich auch die beiden Straßburger von den Gothaer Honoratioren, die übrigens fast ausschließlich Freimaurer waren, schriftlich ihre Unschuld bestätigen ließen,22 das Mißtrauen blieb. Schließlich wird Wolke auch nicht vergessen haben, daß der aufmüpfige und anmaßende Lehrer Schall, der den Direktor Campe öffentlich der Lüge bezichtigt hatte und so den letzten Anlaß für dessen Flucht geliefert hatte, als Leumund für seine Aufrichtigkeit ebenfalls Simon angegeben hat.23 Insbesondere Simons Charakterqualitäten wurden am Institut heftig in Zweifel gezogen. So wurden ihm Herrschsucht und die Unfähigkeit zur Unterordnung nachgesagt, ja ein freizügiger Umgang mit dem weiblichen Geschlecht als Gefahr für die Sitten der Zöglinge vorgeworfen.24 Während Simon und die Straßburger Brüder am Philanthropin gewesen sind, sei es nämlich zu „Liebeshändeln und Romanen“ gekommen. Auf den unmittelbaren Zusammenhang mit der Onaniedebatte bin ich an anderer Stelle ausführlich eingegangen.25 Wolke hatte wenige Wochen später aus Berlin die Nachricht mitgebracht, daß der Bruderbund der Elsässer und ihrer Freunde auseinandergebrochen, die Erziehungskommune, die sie zunächst in Baden, dann wohl im Elsaß begründen wollten, gescheitert sei.26 Und als wenige Wochen nach Ziegenhagens Ankunft Simon in Dessau nachfragte, ob er mit seinem Mädcheninstitut aus Straßburg nach Dessau übersiedeln und mit dem Philanthropin in Kooperation treten dürfe, wehrten die Lehrer entschieden ab. Da jedoch Fürst Franz und Hofrat Herrmann zu Simon und Schweighäuser ein gutes Verhältnis unterhalten hatten, schrieb Wolke dann im Februar 1780 einen sehr langen, freundlichen, aber mit versteckten Spitzen versehenen Brief an Simon, wonach dieser dann beleidigt Abstand von einer Übersiedlung nach Dessau nahm.27
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Vgl. W. G. Becker an Fürst Franz, 26.1.1778; Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Oranienbaum (im folgenden: LA Oranienbaum), Abt. Dessau: C 18 b, Nr. 34, I, fol. 349. An den Fürst schrieb Schall: „[S]o berufe ich mich dieserhalb auf das Zeugnis der Herren Professoren Simon und Schweighäuser, zweyer durchaus rechtschaffener u. vor meiner Ankunft allhier mir völlig unbekannt gewesene Männer“, in: Schall an Fürst Franz von Dessau, Dessau, 30. Juli 1777, LA Oranienbaum, Abt. Dessau C 18 b, Nr. 34, I, fol. 235. [DuTois über Simons Vorschlag, in Dessau ein weibliches Erziehungsinstitut aufzubauen und die Zusammenarbeit mit dem Philanthropin zu intensivieren]; LA Oranienbaum, Abt. Dessau C 18 b, Nr. 34, I, fol. 526f. Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. (DessauWörlitz Beiträge IV = Zwischen Wörlitz und Mosigkau, 44). Dessau 1995, besonders S. 43–59. „Aus Strasb. hab ich die Nachricht, daß Kaufmann nun ganz entlarvt und seine Obern so verfaßt sein, daß er mit seiner Familie bald die Schweiz räumen müsse, daß Lavater ihm das Haus verboten, Schlosser und Göthe etc. nur mit Verachtung von ihm sprechen. Zugleich hab ich denn auch erfahren, daß die ehmals so sehr vereinigte Gesellschaft nun ganz getrent sei und nirgends Zutrauen finde. Schmohl ist im Zerbstischen zurük, Jahn ist in Basel, Becker desgleichen. Simon und Schweighäuser noch ohne Einnahmen, und ihr weibliches Institut noch ohne Eleven. Und ich freute mich doch leztens so, daß es ihnen nun wol ginge.“ LA Oranienbaum, Abt. Dessau: C 18 b, Nr. 34, I, fol. 373. Vgl. etwa: Simon an Hofrat Hermann (?) 27. Hornung 1780, LA Oranienbaum, Abt. Dessau: C 18 b, Nr. 34, I, fol. 495ff.
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Vor diesem Hintergrund läßt sich leicht verstehen, daß es Ziegenhagen, als er im Dezember 1779 von Straßburg über Leipzig nach Dessau kam, als Freund der Elsässer Philanthropen nicht eben leicht hatte am Philanthopin. Ziegenhagen mußte die Bedingung eingehen, erst dann besoldet zu werden, wenn Wolke ihn genauer kennengelernt habe. Das Mißtrauen gegen die Straßburger Philanthropen, insbesondere, wenn sie von Simon empfohlen worden waren, saß offenbar tief.28 Ziegenhagen war dann mindestens ein Vierteljahr am Philanthropin. Ihm oblag offenbar eine Art Klassenaufsicht, eine Stubentätigkeit, die ihn sehr belastete, weil er vorher über Jahre ständig auf Reisen gewesen war. Sehr wahrscheinlich hat er auch Übersetzungsarbeiten übernommen.29 Mit dem Französischunterrichten war er wohl gerade in einer Klasse betraut worden.30 Ziegenhagen hat seine Zukunft schon ganz am Philanthropin gesehen, ja sich hochambitioniert schon eine Leitungsaufgabe im Philanthropin vorstellen können.31 Als er aber im März 1780 um eine feste Anstellung nachsuchte, die ihm eine finanziell gesicherte Position versprach, damit er eine Familie gründen könne, hatte er, nach eigener Darstellung, noch wenig Gelegenheit gehabt, sich um das Philanthropin verdient zu machen. In einem undatierten Brief, den Ziegenhagen an Wolke schrieb, ging er noch davon aus, daß er noch länger auf die Stelle werde warten müssen. Er wollte, so schrieb er, bis dahin in Hamburg warten, weil ihm das Geld, das er bei sich hatte, in Dessau auszugehen schien.32 Für Ziegenhagen völlig unerwartet, wurde er jedoch von Wolke auf brüske Weise zurückgewiesen. Wenn Wolke auch vielleicht nicht diese, sondern die etwas entschärftere Fassung des Briefes, die ebenfalls im Konzept vorliegt, an Ziegenhagen abgeschickt hat, so erstaunt doch die Entschiedenheit von Wolkes Ablehnung einem Mann gegenüber, der ein begeisterter Philanthrop war und der dem Philanthropin aus der finanziellen Zwangslage hätte heraushelfen können. Und das gerade zu einer Zeit, da der Markgraf von Baden dem Philanthropin die versprochene Summe von 5 000 Gulden zurückgezogen hatte und auch der gerichtliche Streit zwischen Wolke und dem ausgeschiedenen Basedow tobte, wo es ebenfalls um erhebliche Geldforderungen ging.33 Wolke schrieb an Ziegenhagen am 13. März 1780: Nach hinlänglich langer Beobachtung und Ueberlegung dessen, was Sie für unser Institut sind und thun, erfolgt das Resultat, das ich Ihnen itzt im Namen der Direction bekanntmache, nämlich, daß Sie kein Man für dasselbe sind und also kein Mitglied desselben werden können. Die Specialursachen dieses Resultats können Sie sich selbst am besten aufzählen; Sie dürfen nur an 28 29 30 31 32 33
Ziegenhagen an Wolke; Straßburg d. 2ten des Christmonats 1779; Lb Dessau R.P. III, 7, 33, Bl. 5–6. Ziegenhagen an Wolke, o.O.; ebd., III, 7, 33, Bl. 21. Ziegenhagen an (Wolke); ebd., III, 7, Bl. 23. Ziegenhagen an Wolke, o.O.; ebd., III, 7, 33, Bl. 21. Der Brief hat keine Ortsangabe und Datum, scheint aber der Chronologie nach hier eingeordnet werden zu müssen; ebd., III, 7, 33, Bl. 15–16. Nietzold, Franz Ferdinand, Wolke am Philanthropin zu Dessau. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Grimma 1890, S. 121ff.
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das denken, was ich Ihnen sagte, da Sie mir Ihre Uebelrede gegen das Institut und seine Mitglieder vorlasen und klüglich in meiner Stube zerrissen, in Hoffnung durch eine Schmeichelrede, die Sie den Tag darauf mir vorlasen, und klüglich wieder mitnahmen, alles wieder gut machen zu können. Und zu dem von mir gesagten fügen sie dennoch das hinzu, was ich über manche Ihrer nachherigen Aeußerungen sagen würde. Ich habe Sie vordem gebeten, unsre Versammlung am Sonntag und den Senat nicht zu versäumen, itzt erfuhr ich Sie eben so angelegentlich, sie weiter nicht zu besuchen, damit nicht durch Ihr Ausklatschen noch mehr Uebles angerichtet werde. Die allgemeine Ursache des Resultats ist die, daß Sie gar zu sehr mit den Personen und den Einrichtungen des Instituts disharmoniren und mit Ihrer Disharmonie andre anstekken und so die Disharmonie anrichten. Kann ich Ihnen in einem anderen Verhältnis, als das ist, was ich und Sie zwischen uns als möglich werden wird, dienen: so wird dazu mit Vergnügen bereitwille sein hochzuehrender Herr Ihr J. Wolke
In einem Brief vom 9. April, der dann schon freundlicher die Ablehnung noch einmal wiederholt, schiebt Wolke als verstärkendes Argument nach, daß er aus Straßburg Nachrichten bekommen habe, die auf Ziegenhagens charakterliche Mängel hingewiesen hätten, die sich dann ja auch in der Zwischenzeit bestätigt hätten. Ziegenhagen ist von der für ihn negativ ausgefallenen Auskunft offenbar völlig verblüfft worden. In wilder Schrift hat er eine Antwort direkt auf diesen Brief geschrieben. Er sei empört über den schlechten Leumund und meint, daß sich hinter dem Denunzianten, der sich so schäbig an ihm vergangen habe, seiner Meinung nach „nur der junge Simon“ verstecken könne. Ziegenhagen fühlt sich völlig falsch eingeschätzt: „Sie verkennen mich in einem unaussprechlich hohen Grade“, schreibt er zurück. In einem undatierten Brief erläutert er dann entschuldigend, daß er den Brief im Kreise der Kinder erhalten habe, so daß er völlig schockiert reagierte. Nun, da er den ersten Schrecken überstanden hat, deutet er an, daß er nicht mehr nach Straßburg zurückgehen könne, weil er dort eine gute Stelle verlassen habe, um eine zu suchen, die seinen Neigungen besser entspräche. Sein Freund oder Kompagnon sei zudem nach Liverpool gereist und daher nicht mehr in Hamburg. Von seinem mitgeführten erheblichen Kapital habe er bereits einen Teil in Dessau ausgegeben, bitte aber noch so lange bleiben zu dürfen, bis er genauere Pläne machen könne.34 Aus den späteren Briefen wird deutlich, daß es wohl nicht Simon gewesen ist, der Ziegenhagen angeschwärzt hat.35 Ganz offensichtlich hatte es eine Auseinandersetzung am 19. Februar gegeben, es ist die, auf die Wolke in seiner Ablehnung anspielte. Über deren Inhalt sind wir nur aus einer späteren Mitteilung Wolkes
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Ziegenhagen an Wolke, o.D, Lb Dessau R.P. III, 7, 33, Bl. 17–18. Ziegenhagen an (Wolke), o.D., ebd., III, 7, 33, Bl. 20. Hier wird der Denunziant als ein Herr P. bezeichnet. Simon hatte aber, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, gegenüber dem Mitbruder Johann Christian Schmohl, einem glühenden Aufrührer, Ökonomen und Philanthropen, öffentlich dessen Angriffe auf Basedow und das Philanthropin gerügt, um mit den Dessauern wieder auf einen besseren Fuß zu kommen. Schmohl hatte das als Verrat empfunden.
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informiert, die der aus Ungarn stammende Philanthrop und spätere Jakobiner Jakob Glatz überlieferte.36 Ich kann den ganzen Text hier nicht wiedergeben, nur so viel: Ziegenhagen übte prinzipielle Kritik am Institut und an einzelnen Lehrern. Wie die Straßburger Brüder vor ihm, beklagte auch er die mangelnde brüderliche Zusammenstimmung der Lehrer am Institut. Er bestand auf seiner persönlichen Entscheidungsfreiheit und verweigerte sich der Forderung nach strenger Unterordnung. Wie die anderen jungen Straßburger provozierte Ziegenhagen durch seine selbstbewußte und sendungsbewußte Art. Wie die Straßburger Junglehrer verstand er überhaupt nicht, daß seine Ansichten und seine Kritik als Angriff auf das Philanthropin mißverstanden werden konnten. Ziegenhagen muß während der nächsten Monate aus Dessau abgereist sein, der nächste Brief kommt aus Hamburg. Da er auf den 22. September datiert ist, hat sich Ziegenhagen Zeit gelassen, um – wieder gefaßt – an Wolke zu schreiben. In seinen, von nun an mehrheitlich Französisch abgefaßten Briefen bedauerte er, daß er sich wieder mit Handel beschäftigen müsse, was ihm nie rechten Spaß gemacht habe. Sein Herz hinge vielmehr am Philanthropin, und er bittet, daß man doch noch einmal überlegen möge, ob man ihn nicht doch gebrauchen könne. Wolke solle sich bei den Lehrern für ihn verwenden, er würde bereit sein, für weitere sechs Monate ohne Entlohnung in Dessau zu arbeiten. Und er schwört inständig, daß er nur für den Erfolg des Instituts wirken wolle. Den schon versiegelten Brief öffnet er noch einmal, um seine Bitte durch Vorschläge zu untermauern. Er bietet wiederum an, einen beachtlichen Teil seines Vermögens in das Institut zu investieren. Auch erklärt er, daß er die Zöglinge in Französisch, Arithmetik und allem, was zur Theorie und Praxis des Handels bzw. des kommerziellen Geschäftslebens gehöre, unterrichten möchte. Fast unterwürfig bittet er um eine neue Chance. Da er andernfalls einen weitreichenden Vertragsabschluß tätigen müsse, der seine Zukunft in andere Bahnen leiten würden, bittet er um möglichst schnelle und positive Entscheidung.37 Wolkes Antwortbrief ist nicht erhalten, aber er beinhaltete wieder nur eine, diesmal wohl freundlicher formulierte Ablehnung. Ziegenhagen antwortet niedergeschlagen, aber höflich. Er möchte seine Kritik, die er am Institut und an bestimmten Lehrern geäußert habe, aber doch noch einmal prinzipiell vortragen. Also erklärt er, daß die Ausbildung der Lehrlinge, die zu Geschäftsmännern ausgebildet werden sollten, insbesondere praktische Erfahrungen in einem Handelsunternehmen sammeln müßten. Die jetzige Ausbildung sei zu theoretisch. Wörtlich schreibt er: Ich finde, und zwar immer mit größerer Ueberzeugung, daß bei Ihnen zur Handlung bestimten Lehrlingen der Zweck nicht so gut erreicht wird, wie bei denen für die Studien gewidmeten. 36 37
Eintragung von J. Glatz, Dessau 27.9.1784; ebd., III, 7, 33, Bl. 24–25. Ziegenhagen an Wolke, Hamburg 22.9.1780; ebd., III, 7, 33, Bl. 11–12.
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Vielleicht, wenn Sie auch jetzt meinen Worten nicht glauben, werden Sie in der Zukunft von dieser Wahrheit besser überzeugt. Ihre jungen Kaufleute sollten benebst den Sprachen, der Geschichte und der Mathematik, meinem Erachten nach, täglich eine oder zwei Stunden ales Unterrichts eines würklichen Kaufmanne genüßen, der zu den Handlungs-Geschäften Sie vorbereitete. Herr Hürt kann seiner anderen Beschäftigungen wegen, diesen Stunden allein nicht vorstehen. Es fehlt also in Ihrem Institute ein Mann der die mannigfaltigen Kentnniße der Handlungs-Geschäfte durch eigene Erfahrungen sich erworben hat, woraus er den Stoff seines Unterrichts ziehen kann, damit er Ihren Jünglingen diejenigen Kentnniße vorläufig beylege, die ihnen beym Eintritt in ein Comptoir unentbehrlich sind, und die sie hernach weil der Lehrherr nicht alle mal zu Erläuterungen aufgelegt ist, mit unendlich größerer Mühe sich erwerben.38
Man sieht, Ziegenhagen ging es tatsächlich darum, die Dessauer Philanthropen von seinem, wie er meinte, deutlich mehr praxis- und ökonomieorientierten philanthropischen Konzept zu überzeugen. Daß er noch immer nicht aufgegeben hat, am Philanthropin eine Stelle zu finden, deuten die Schlußpassagen an. Tatsächlich haben Wolke und die anderen Lehrer im Herbst am Philanthropin, nachdem sich abzeichnete, daß Huot das Institut im Mai 1781 verlassen würde, noch einmal darüber nachgedacht, ob sie Ziegenhagen nicht dessen Stelle anbieten sollten. Wolke bat daraufhin die Lehrer um Stellungsnahme.39 Feder wandte ein, daß wenn die Funktionen des Schreibmeisters und kaufmännischen Lehrers voneinander getrennt werden sollten, Ziegenhagen wohl für letztere Position geeignet wäre. „Zum ersteren Geschäfte aber, glaube ich kaum, daß er Lust und Gabe hat“. Busse schloß sich Feder an, weil er annahm, daß Ziegenhagen „hier unmöglich vergnügt und zufrieden leben und arbeiten kan“. DuToit immerhin meinte „unmasgeblich“, daß man Ziegenhagen für ein Jahr probehalber die kaufmännische Ausbildung übertragen könne, „ohne viel dabei zu wage[n]“. Jasperson widersprach dem entschieden und schloß sich Busse und Feder an.40 Damit war die Entscheidung gegen Ziegenhagen gefallen. Steiner hat anhand der Steuerzahlungen ermittelt, daß Ziegenhagen 1781 in Hamburg ein Vermögen von 96 000 Goldmark besaß. In den nächsten Jahren, die für die übrige Wirtschaft in Hamburg gar nicht rosig waren, erweitere Ziegenhagen sein Vermögen um mehr als das Doppelte.41 Er war also ein geschickter und kenntnisreicher Geschäftsmann. In den 1780er Jahren heiratete er und kaufte ein repräsentatives Haus in Hamburg, in den nächsten Jahren wurden der Familie zwei Kinder geboren. Ziegenhagen unternahm 1786 eine ausgedehnte Reise nach Rußland. 1788/89 entschloß er sich dann in Billwerder, südöstlich von Hamburg gelegen, ein landwirtschaftliches Gut zu kaufen, um eine Mustergesellschaft auf der Basis von Gemeineigentum zu begründen. Die Landwirtschaft organisierte er nach
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Ziegenhagen an Wolke, Hamburg 27.10.1780; ebd., III, 7, 33, Bl. 13–14. Da die Briefe nicht datiert sind, ist es möglich daß diese Befragung auch schon Ende September, also vor Ziegenhagens letztem Brief nach Dessau, stattgefunden hat. Wolke zu Huots Abgang sowie Stellungsnahmen der Lehrer; [Dessau], undatiert; Lb Dessau R.P. III, 4, Bl. 17f. Steiner, Ziegenhagen, (wie Anm. 18), S. 94f.
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den modernsten Grundsätzen, die er in seinem Buch ausführlich darstellte.42 Die bekannte Abbildung von Chodowiecki stellt sein Mustergut dar, auf dem die Kinder, aber auch die Tiere wie in einem aufgeklärten Paradies in Glück, Gesundheit und Ausgelassenheit zusammenleben. Das Streben nach Glückseligkeit, das allen Lebewesen der Schöpfung innewohne, könne der Mensch erreichen, wenn er „seine Handlungen nach den nur einzig beglükkenden, aber unwandelbaren Gesezzen der Schöpfung“43 richte. In der arbeitsteiligen, städtischen Gesellschaft würden die „Leidenschaften“ den Verstand und die Freiheit überwinden. Die Städte erschienen als Krebsgeschwüre und Krankheitsherde der Gesellschaft. Umweltverschmutzung aus „Brauereien, Zukkersiedereien, Schmiedessen und aus den Schornsteinen“44 führe zu Siechtum und Verfall der menschlichen Gesundheit. Nur in der landwirtschaftlich orientierten Kommune würde sich das harmonische Verhältnis zwischen den Menschen, ihre Gleichheit, aber auch ihre Gesundheit wiederherstellen lassen. Selbst der „Fortpflanzungstrieb“ würde wieder ein natürliches Bedürfnis und nicht, durch künstlich angefachte Reize in hemmungslose Wollust verkehrt, zu „schwarzer Melancholie“ führen. Nur auf dem Lande, wo man wieder den vier Elementen, Feuer, Wasser, Erde und Luft, ausgesetzt sei, würden die Menschen wieder in den Kreislauf der Natur integriert. Selbst Nacktheit, lange Haare und Bärte der Männer, aber auch weitgehende Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau seien Ausdruck einer natürlichen Rückbindung an die Gesetze aller Lebewesen der Schöpfung, einer aufrichtigen „Naturliebe“. Das betrifft auch Ziegenhagens Kritik der Religionen, die Aberglaube seien, so daß er sie durch die „richtige Verhältnislehre“ ersetzen wolle. Ziegenhagen versuchte den Hauptmangel der Gesellschaft, den er in der Verarmung des einfachen Volkes sah, durch die Aufhebung der sozialen Unterschiede abzuschaffen. Indem er die Einführung von Gemeineigentum propagierte, wollte er den Unterschied von Stadt und Land, aber auch die Auswirkungen der Arbeitsteilung abbauen. Die demokratische Mitbestimmung, so seine Auffassung, wäre die Voraussetzung für das Gelingen des Kommuneprojekts. Auf pädagogischem Gebiet wollte Ziegenhagen die Teilnahme der Zöglinge an der Praxis vorantreiben, sogar die Mädchen sollten in allen Bereichen wie die Jungen erzogen und ausgebildet werden. Wie ich an anderer Stelle schon gezeigt habe, sind diese Forderungen, die Ziegenhagen als kuriosen sozialutopischen Einzelgänger erscheinen ließen, keineswegs neu.45 Die Freunde Mochel, Simon, Schweighäuser, Ehrmann und Schmohl hatten in ihrer oben genannten, weitgehend unbekannt gebliebenen Schrift von 1779 schon ganz ähnliche 42 43 44 45
Ziegenhagen, Franz Heinrich, Lehre vom richtigen Verhältnisse des Menschen zu den Schöpfungswerken [...]. Hamburg 1792, S. 116ff. Ziegenhagen, Franz Heinrich, Lehre vom richtigen Verhältniß zu den Schöpfungswerken. Braunschweig 1799, S. 5. Ebd., S. 18. Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. Dessau 1995, S. 66ff.
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Forderungen aufgestellt. Sie entwickelten hier ihren bereits in den Philanthropische[n] Aussichten redlicher Jünglinge (Basel 1775) skizzierten pädagogischen Ansatz weiter, der Volksaufklärung, Verbesserung der Landwirtschaft und Pädagogik miteinander verband. Tatsächlich entfällt etwa die Hälfte des fast 600 Seiten starken Buches auf die ökonomische Einrichtung eines Landgutes. Dieser Teil wurde von Mochel und sehr wahrscheinlich von Schmohl geschrieben: beide waren Bauernsöhne, der eine aus dem Elsaß, der andere aus Pülzig im Anhaltischen. Zentrum der ökonomischen Ideen bildete der Entwurf eines republikanischen Erziehungsinstitutes, das unabhängig von staatlicher Einflußnahme existieren sollte. Trotzdem hofften die philanthopischen Junglehrer auf fürstliche Unterstütztung, wie sie sie bereits in Dessau erlebt hatten. Auch in ihrer Auffassung des Philanthropismus dominiert der Versuch, die Glückseligkeit zu verwirklichen. Die Verbindung von moderner Landwirtschaft und Erziehung war für sie ebenfalls grundlegend. Die Landkommune sollte ihrer Meinung nach das Zentrum für die Erziehung der Zöglinge sowie die Bildung der Bauern und Handwerker sein. Auch ein ausgearbeitetes Konzept der gemeinschaftlichen Erziehung von Mädchen und Jungen finden wir bei ihnen bereits. Die Ehefrauen der Junglehrer sollten gleichberechtigt mitwirken dürfen. Dieses Konzept der Koedukation ging weit über das hinaus, was im Philanthropismus sonst gewagt wurde. Auch auf dem Gebiet der Sexualerziehung gab es viele Gemeinsamkeiten mit Ziegenhagen, worauf hier aber nicht im einzelnen eingegangen werden kann. Selbst der Gedanke der Gütergemeinschaft auf dem Landgut ist nicht von Ziegenhagen erfunden worden, er findet sich bereits ausgeführt bei seinen Straßburger Freunden, fast 15 Jahre früher. Dabei waren sie sich der Gefahren, die solch ein Projekt in sich barg, wohl bewußt. Ja, nachdem sie ausführlich die Probleme diskutiert, die sich bei bisherigen Versuchen, Gütergemeinschaften zu realisieren, ergeben hatten, stellten sie doch fest, daß es ihnen bei guter Vorbereitung gelingen könne. „Seht Brüder! So urtheilen wir von dem Zusammenbleiben, dem Vereinigen der Kraft und des Vermögens und dem Zusammenhausen mehrerer Familien. Und doch wollen wir etwas Aehnliches unter uns einführen.“46 Diese Gütergemeinschaft funktioniere allerdings nur durch die innige Verbrüderung der Junglehrer und ihrer Freundinnen bzw. Gattinnen, nur durch ein intensives Zusammenstimmen der Seelen und Gefühle. Die Gütergemeinschaft setzte eine ständige Kommunikation voraus, um Mißverständnisse auszuräumen.47
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Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangener Lehrer Gedanken über die wichtigsten Grundsätze über die wichtigsten Grundsätze der Erziehung und die darauf gegründete Einrichtung einer Erziehungsanstalt [...]. Leipzig 1779, S. 520. Ebd., S. 520f. Als einer der wenigen, die sich mit der Schrift befaßten, sei genannt: König, Helmut, Gedanken zur Nationalerziehung bei einigen Schülern Basedows unter dem Einfluß des Merkantilismus und Physiokratismus, in: ders., Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (Monumenta Paedagogica 1). Berlin 1960, S. 190–195. Den Kommunecharakter des Projektes hat er aber nicht herausgearbeitet.
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Selbst die Idee, daß man ein solches Projekt unter Umständen unter dem Schutz eines aufgeklärten Fürsten durchführen müsse, ist von ihnen bereits vorgedacht worden.48 Da Ziegenhagen mit Simon 1779 in engem Kontakt stand, ist es durchaus wahrscheinlich, daß er, bereits bevor er nach Dessau kam, das Buch der Elsässer gelesen hatte. Der bedeutende Unterschied der verbrüderten Junglehrer zu Ziegenhagen ist, daß dieser aufgrund seiner finanziellen Unabhängigkeit sein Projekt wirklich ausprobieren konnte. Der Versuch der Straßburger Brüder scheiterte bereits im Vorfeld, weil weder der Markgraf von Baden, auf dessen Beistand sie gehofft hatten, noch irgend ein anderer Fürst oder eine Bürgerschaft sich bereit fanden, das Projekt zu unterstützen. Mochel, der Landpfarrer, Ökonom und Vordenker der Gruppe, starb noch vor Abschluß der Arbeit am Manuskript in der Nähe von Straßburg. Christoph Kaufmann, der „Sturm-und-Drang-Apostel“, der mit Ehrmann und Lenz ein Landphilanthropin in der Schweiz, von dem wir aber kaum Einzelheiten wissen, zu verwirklichen hoffte, schloß sich später resigniert den Herrnhuter Brüdern an. Schmohl reiste durch die Schweiz, besuchte Pestalozzi, aber auch Projekte der Gütergemeinschaften, wie die Gemeinden der Wiedertäufer im Elsaß, die als beste Landwirte überhaupt galten.49 Auf die Ökonomie als die Basis aller gesellschaftlichen Veränderungen aufmerksam geworden, studierte er in Wittenberge noch einmal Jura und Kameralistik und wurde einer der radikalsten ökonomischen und politischen Denker seiner Zeit. Undiplomatisch und radikal, wurde er schnell von der Obrigkeit verfolgt und suchte sich durch Flucht nach Amerika ein neues Leben aufzubauen, wurde dabei von Persönlichkeiten wie Hamann, Herder, Reichard unterstützt, kam mit Gisbert Karl von Hogendorp, aber auch John Adams und anderen Amerikanern in Kontakt. Das hinderte ihn nicht, in seinem Buch Über Nordamerika und Demokratie (1782) die junge amerikanische Republik als noch zu undemokratisch zu kritisieren.50 Johann Friedrich Simon wurde ein führendes Mitglied der Französischen Revolution, war in Mainz und Paris als führender Jakobiner aktiv. Die verbrüderten Junglehrer von einst hielten an ihren demokratischen und teilweise sozialutopischen Vorstellungen fest oder paßten sie den gewandelten Zeitbedingungen an. Auch für Ziegenhagen blieb der Fürst Franz eine Lichtgestalt, selbst wenn er 1780 am Philanthropin nicht hatte bleiben können. Im Jahr 1793 schrieb Ziegenha-
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Einiger vom Dessauischen Philanthropin, (wie Anm. 46), S. 556ff. [Schmohl], Bemerkungen auf verschiedenen Reisen durch Elsaß, Wasgau nach Lothringen und den obern Rhein entlang. (1778–1779), in: Journal von und für Deutschland, 10. Stück. (1784) S. 237–242, hier S. 240. Vgl. auch meinen Aufsatz: Der anhaltische Philanthrop, Schriftsteller und Aufrührer Johann Christian Schmohl und seine spektakuläre Flucht aus Halle im Jahre 1781, in: Donnert, Erich (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit in Mittel- und Osteuropa. Festschrift für Günther Mühlpfordt. Bd. 4. Köln / Weimar 1997, S. 229–247.
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gen an den Fürsten Franz.51 Wie auch die Straßburger war auch er zunächst kein Revolutionär, sondern setzte seine Hoffnung auf die Nationalversammlung in Frankreich und die „guten“ Fürsten in Deutschland als die Träger einer wirklichen Aufklärung. Von heute her ist uns dies nur noch schwer vorstellbar, aber dem Zeitgenossen waren die unüberbrückbaren Widersprüche oft noch gar nicht als solche erschienen. In den aufgeklärten Fürsten sah Ziegenhagen, ähnlich wie die Illuminaten, ein wirksames Werkzeug dafür, den Aufruhr überflüssig zu machen. Unter den zwölf von Steiner noch nachweisbaren Exemplaren der Verhältnislehre befindet sich eines noch in der Forschungsbibliothek in Gotha,52 so daß man annehmen darf, daß Ziegenhagen ein Exemplar ebenfalls an den aufklärungsbegeisterten Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg geschickt hatte. Auch an den Fürsten Franz von Anhalt-Dessau schickte er die gedruckte Übersicht des Bandes.53 Hier der Wortlaut: Als helldenkender und für das Wol der Menschheit unparteiisch entbrannten Fürsten hatte ich die erwünschte Gelegenheit Ew. Durchl. kennen zu lernen, da ich die Stelle eines Lehrers an der Dessauischen Erziehungsanstalt bekleidete. Diese Kenntnis flößt mir die zutrauensvolle Dreistigkeit ein, Hochdenenselben die hier beigefügte Uebersicht der Schrift: ’Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken’ welche ich allein auf Antrieb algemeiner Menschenliebe und väterlicher Zärtlichkeit, ohne alle andern Nebenabsichten, auf eigene Kosten herausgegeben habe, untertänigst zu überschicken. Ew. Durchl. stehen in einem Würkungskreise, welcher die Ausfürung der darinnen enthaltenen menschenfreundlichen Vorschläge vorzüglich erleichtert. Nur Fürsten der aufgeklärtesten Staaten können die in denselben vorgetragenen einzigrichtigen Begriffe vom wahren Glükke, und mit demselben ein vergnügteres und zufriedeneres Lebens am algemeinsten unter ihren Untertanen verbreiten. Nur Fürsten können die Kirchen und Schulen in Hörsäle gemeinnützlicher Wissenschaften, Künste und Handwerke umwandeln, wenn sie dabei die in dieser Schrift vorgeschlagenen sanften Maasregeln beobachten lassen. Nur Fürsten können dadurch die verschiedenen, schon längst von allen verständigen und einsichtsvolle Männern als Irrtümer anerkannten Parteienlehren, welche algemeine, offene Menschenliebe und Brauchbarkeit unvermeidlich stören, da der Weg zum wahren Glükke nur einer seyn kann, berichtigen und in eine wahrhaftächte Glückseligkeitslehre verwandeln lassen. Nur Fürsten können dadurch die Unzufriedenheit der Untertanen mit ihrem Zustande und somit schädliche Neuerungssucht und Empörungslust am unfehlbarsten verhindern. Mögten doch Ew. Durchl. diese Schrift Ihrer Aufmerksamkeit würdig erachten und ihr einige Stunden Ihres stillen Nachdenkens widmen! dann würde gewiß Ihr gebildeter Geist
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Freilich erwähnt Steiner, dessen Stärke es immer war, eng an den Quellen zu argumentieren, daß Ziegenhagen nicht zuletzt auf die aufgeklärten Fürsten hoffte, die solche Kommuneprojekte unterstützen sollten, dies wird etwa in Ziegenhagens Aufruf zur allgemeinen Einführung der Verhältnislehre deutlich, die Steiner ausführlich im Anhang wiedergibt (wie Anm. 18), S. 290f., auch S. 26. Universitäts- und Forschungsbibliothek Gotha; Sign. Pilos. 8° 264. Ziegenhagen hatte 1793, wohl fast gleichzeitig mit der 2. Auflage eine 48 Seiten starke Schrift herausgebracht: Sechs Fragmente, als eine Übersicht des gemeinnüzzigen Werkes:Lehre von unserm richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken [...]). Vgl. Steiner, Ziegenhagen, (wie Anm. 18), S. 223f.
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und wohlwollendes Herz das für die Menscheit Woltätige und für den Biedermann Ehrenvolle der Ausführung des Plans wenigstens im Ganzen nicht verkennen können.54
Aus den erhaltenen Akten geht nicht hervor, ob der Fürst Ziegenhagen einer Antwort gewürdigt hat. Da sonst überwiegend Konzepte der Antwortschreiben vorliegen, darf man mit einiger Sicherheit annehmen, daß er es nicht tat.55 In den Bibliotheksverzeichnissen findet sich auch kein Beleg dafür, daß die Verhältnislehre von Fürst Franz für eine der Bibliotheken in Dessau oder Wörlitz angeschafft worden ist. Man kann spekulieren, was gewesen wäre, wenn Ziegenhagen am Philanthropin geblieben wäre, ja vielleicht Teile seiner Auffassungen hätte durchsetzen können. Wie hätte der Fürst reagiert, wenn er damals von Ziegenhagens „Pädagogischer Provinz“ auf der Basis von Gütergemeinschaft erfahren hätte. Wäre es denkbar gewesen, daß er dieses Projekt, wie bei den Herrnhutern in Barby oder Dietendorf,56 als denkbare Lebensform erachtet hätte? Um 1780 stellte er sich ja auch mit einigem Mut vor den von der Anhalt-Zerbstischen Obrigkeit verfolgten Aufrührer und Philanthropen Johann Christian Schmohl. Jetzt, 1793, auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution, dürfte ihm Ziegenhagens Projekt als offensichtlicher Angriff auf die Feudalverfassung erschienen sein. Auch die religiöse Freigeisterei, der er in den 1770er und 1780er Jahren als „Deist“ und „Naturalist“ selbst angehangen hat, schien ihm nun sicher ein gefährliches Beispiel für seine Untertanen abgegeben zu haben.57 Probst Reil zitiert ihn mit den Worten, daß er zwar „jede Gewissenstyrannei und heuchlerische und weinerliche Frömmelei hasse, so sind mir doch Leute, wie Edelmann, Bahrd und Konsorten, allezeit widerlich gewesen“.58 Die Fürstin allerdings war großzügiger gegenüber einzelnen Philanthropen, die angesichts der Verhältnisse radikale Lösungen verfolgten. Als 1795 Georg Schmohl, der jüngere Bruder des verschollenen Aufrührers Johann Christian Schmohl, aus Giebichenstein in einem Brief an die Fürstin das Bild einer gänzlich verarmten Familie zeichnete, die durch die unfähige Obrigkeit in Anhalt-Zerbst
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Franz Heinrich Ziegenhagen an Fürst Franz, Hamburg, [?] (eingefalzt) Juli 1793; LAO, Abt. Dessau, C 18 b Nr. 34 II, fol. 310. [Lindner, Heinrich] Katalog der Herzoglichen Bibliothek zu Dessau. Dessau 1829. – Hier findet sich der Band nicht. Vgl. zum Brüder-Unitäts-Gedanken und dem Urchristentum der Herrnhuter: Modrow, Irina, „Dienstgemeinde des Herrn“. Die Herrnhuter als alternative Gemeinschaftsbildung im Pietismus, in: Vogler, Günther (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrundert. Weimar 1994, S. 503–512; Fürst Franz war mit Goethe und Christoph Kaufmann 1776 in Barby gewesen. Vgl. auch Goethe, Johann Wolfgang, Tagebücher. Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrage der Stiftung Weimarer Klassik hg v. Jochen Golz unter Mitarbeit von Albrecht, Wolfgang, Döhler, Andreas und Edith Zehm. Bde. 1,1 und 1,2 (1775– 1787). Stuttgart / Weimar 1998, Bde. 1,1/1,2, S. 30; 412f. Vgl. Reil, Friedrich, Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau [...]. Dessau 1845, S. 163ff. Ebd., S. 167.
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zugrunde gerichtet worden war, schickte sie ohne viel Aufhebens 200 Reichstaler.59 Ziegenhagen bekam, als er in finanzielle Nöte geriet, keine Hilfe von den aufgeklärten Fürsten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich Ziegenhagen als ein wahrer Philanthrop zeigte, der die Dessauer Erfahrungen mit der Tradition des Elsässer Philanthropismus verschmolzen hat. Gescheitert, verarmt und gebrochen kehrte er allerdings als Mann von 50 Jahren zu seinem Lehrer Oberlin ins Steintal zurück. In der Gemeinde Rothau hat er sich am 20. August 1806 eine Kugel in den Kopf gejagt.60 Das Dessauer Philanthropin war um 1780 eine Brutstätte für viele alternative Ideen, nicht nur in der Pädagogik im engeren Sinne. Mit Ziegenhagen hatte es auch einmal einen radikalaufklärerischen Menschenfreund in ihrem Kollegium, der sein Vermögen und sein Leben seinen philanthropisch-utopischen Visionen opferte.
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Georg Schmohl an Fürstin; Giebichenstein, 7 Febr. 1795; Lb Dessau R.P. III, 7, 27, Bl. 5–6; Notiz der Fürstin; III, 7, 27, Bl. 7. Steiner, Ziegenhagen, (wie Anm. 18), S. 260f.
MICHAEL ROHLEDER (Dessau)
Die Briefe des Rigaer Kaufmanns Heinrich Schilder (Reliquiae Philanthropini V, 1, 1–85) 1. Vorbemerkung Im Nachlaß des Dessauer Philanthropinums,1 der in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau aufbewahrt wird, nehmen die Briefe der Eltern einstiger Philanthropisten einen recht ansehnlichen Platz ein. Sei es durch Zufall bedingt oder nicht – das größte erhaltene Korpus2 bilden die Briefe des sonst eher unbekannten Rigaer Kaufmanns Heinrich Schilder. Jüngst machte Arvo Tering3 allerdings wieder auf einen fast schon vergessenen Aufsatz von Otto Franke aufmerksam, der erst- und bis jetzt letztmals die Schilder-Briefe dem Publikum vorstellte.4 Nicht nur wegen ihrer stattlichen Zahl sind die erhaltenen Schilder-Briefe erwähnenswert; sie sind auch eine der wichtigsten Quellen für die Beziehungen des Philanthropinums zum Baltikum, teils auch zu Ostpreußen und Rußland. Unter diesem Aspekt hatte sie Franke auch seinerzeit gesehen. Daß von diesen Briefen hier wiederum die Rede sein wird, hat mehrere Gründe: zum einen hatte Franke, der sich sonst um die Publikation von Teilen des Philanthropinum-Nachlasses verdient gemacht hat, seinen Aufsatz nur dazu bestimmt, „zur Auffüllung dieser oder jener Lücke“5 dienlich zu sein; die populäre Darstellung weist Ungenauigkeiten auf, die soweit gehen, daß 1
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Der auch als „Reliquiae Philanthropini“ bezeichnete Nachlaß wird in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau aufbewahrt. Zitiert wird nach der im Harald Fischer Verlag Erlangen erschienenen Mikrofiche-Ausgabe von 2000. Bei den Schilder-Briefen wird nur die Nummer angegeben, sonst Rel. Phil. mit Signatur. Da die Mikrofiche-Edition vielleicht nicht überall zugänglich sein mag, der Leser aber vielleicht früher erstellte Kopien oder Aufzeichnungen zur Hand hat, werden, soweit möglich, Schreiber, Adressat und Datum angegeben. Nach Erscheinen der Mikrofiche-Edition fand ich vor einiger Zeit in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau einige Briefe, die teils schon einmal den Reliquiae zugeordnet waren, teils durch ihren Inhalt dazugehören, aber, durch welche Umstände auch immer, verlegt wurden. Diese Dokumente werden folgendermaßen zitiert: [Rel. Phil.], unsigniert. – Der Nachweis der Belegstellen ist überhaupt so ausführlich wie nur möglich geführt, wenngleich es die Lesbarkeit hier und da erschweren mag. Hingegen wurde auf den Verweis auf andere Autoren verzichtet, wenn sie den selben Sachverhalt ohne Beleg angeführt haben, ausgenommen es geht um die Richtigstellung von Sachverhalten, sofern dies den vorhandenen Quellen zu entnehmen ist. – Die Orthographie ist in den Zitaten im wesentlichen beibehalten worden. Gestrichenes wurde, wenn ohne Bedeutung, weggelasen, Verschleifungen aufgelöst, über den Zeilen Stehendes in den Text integriert. Wörter in [?] kennzeichnen eine unsichere Lesart, [...] Auslassungen. Es handelt sich um 85 Briefe (Rel. Phil. V, 1, 1, 1–85). Tering, Arvo, Est-, Liv- und Kurländer an auswärtigen Gymnasien und Pädagogien im 17. und 18. Jahrhundert, in: Donnert, Erich (Hg.), Europa in derFrühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5: Aufklärung in Europa. Köln 1998, S. 490. Franke, Otto, Beziehungen Kurlands und Livlands zum Philanthropin in Dessau, in: Baltische Monatsschrift 36 (1896), S. 111–137. Ebd., S. 114.
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sinngemäß Referiertes in Anführungsstrichen erscheint, eine Korrektur also angebracht ist. Weiterhin lag Frankes Intention die Einbeziehung des Umfeldes fern und er verzichtete weitgehend auch auf die Einbeziehung anderer Quellen. Auf der anderen Seite – und damit muß zunächst wieder der Bogen zu den erwähnten auswärtigen Beziehungen des Philanthropinums gespannt werden – geriet die baltische und russische Elternschaft in den 50er und 60er Jahren durch Erich Butzmann6 und Georg Opitz7 ins Visier. Bibliographische Entlegenheit8 war sicher die Ursache, daß Frankes Aufsatz dabei keine Rolle spielte, aber die Schilder-Briefe selbst, auf deren Bedeutung Walter Schöler9 nochmals aufmerksam machte, wurden im Grunde nicht ausgewertet. Aufgewertet wurde allerdings bei dieser Gelegenheit die genannte Elternschaft erheblich, ja ihr eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Philanthropinums ab 1783 zugesprochen. Das Fällen eines solchen Urteils bei gleichzeitigem Verzicht auf eine bekanntermaßen wichtige Quelle war freilich ein Paradoxon per se; um nichts weniger war der Gedanke, den Einfluß der Elternschaft einmal zu thematisieren, recht fruchtbar. Rein äußerlich gesehen hatten Butzmann und Opitz für ihre These im Grunde nur die Akten des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt / Abteilung Dessau (früher Oranienbaum) berücksichtigt, die in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau liegenden Quellen aber beiseite gelassen. Bei einem solchen Stand der Dinge lag es nahe, beide archivalischen Quellenbestände unvoreingenommen durchzusehen. In erster Linie ging es mir um die Briefe Schilders, deren nähere Erklärung ich mir aus der Kenntnisnahme korrespondierender, auch gedruckter, Quellen, versprach. Daß dabei thematische Verknüpfungen aller Art zur Sprache kommen müssen, versteht sich fast von selbst. Um nichts weniger sei betont, daß all diesen Fragen nicht vollständig nachgegangen werden konnte; jede dieser Fragen, sofern über Schilders persönliche Beziehungen hinausgehend (als Kapitelüberschriften formuliert) sind ein Thema für sich, das dann eine viel breitere Quellenauswertung verlangt. Unter diesem Aspekt versteht sich der folgende Beitrag nur als ein kleiner Baustein einer eben noch nicht geschriebenen Gesamtgeschichte des Dessauer Philanthropinums und der vielfältigen Beziehungen, in denen es in seiner Zeit stand. 6 7
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Butzmann, Erich, Vom Einfluß des livländischen Adels auf die Umgestaltung des Dessauer Erziehungsinstituts 1783, in: Schriften des Dessauer Philanthropinums 3 (1957), S. 7–11. Opitz, Georg, Die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Anhalt und Rußland in der Zeit von 1760 bis 1871, Diss. Halle (Saale) 1968. Vgl. auch die Arbeiten desselben Verfassers: Die Wechselbeziehungen zwischen Anhalt-Dessau und Rußland auf dem Gebiet der Pädagogik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – ein Beitrag zum 200. Gründungstag des Philanthopins in Dessau, in: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte 14 (1974), S. 131– 156; ders., Die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Anhalt und Rußland in der Zeit von 1760–1871, in: Zwischen Wörlitz und Mosigkau 33 (1991). Die seinerzeit grundlegende Bibliographie zur Geschichte von Anhalt von Reinhold Specht, Magdeburg 1930 nennt Frankes Aufsatz (siehe Anm. 4) nicht. Schöler, Walter, Der fortschrittliche Einfluß des Philanthropismus auf das niedere Schulwesen im Fürstentum Anhalt-Dessau 1785–1800, Berlin 1957 (Diskussionsbeiträge zu Fragen der Pädagogik 7), S. 145.
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Zur Person Heinrich Schilders Neuere genealogische Forschungen10 erlauben es, einiges zur Person Schilders unabhängig von den Briefen zu sagen. Heinrich Schilder (geb. 1744) entstammte einem Kaufmanngeschlecht, das sich erst in der vorhergehenden Generation, von Liebau kommend, in Riga niedergelassen hatte. Mit seiner ersten Frau Anna Martina Wewel hatte er acht Kinder, von denen im Zusammenhang mit dem Philanthropinum drei Söhne eine Rolle spielen: Michael (Michel), Joachim Eberhard und Johann Christoph (Hans). Er war Großhändler, Chef des Hauses Familie Heinrich Schilder, und bekleidete in Riga mehrere Ämter: Notar des Extraordinären Collegiums der Rigischen Stadt-Cassa und Vorsteher des Hospitals zu St. George. In zweiter Ehe war Schilder mit Carolina Barbara Rose, geb. Pritzbuer, Witwe des Propstes von Marienburg, verheiratet, die Ehe wurde im Februar 1784 geschlossen. Er kam in Verbindung zum Gouvernement Witebsk, wo er sich das Gut Simonowo kaufte. Dadurch konnte er sich den Adelstitel erwerben und lebte dort. Wie aus den Briefen hervorgeht, besuchte er das Philanthropinum Anfang 1778, um seinen Sohn Michael zu übergeben, und im Sommer / Herbst 1780, um seine anderen Söhne und den Sohn des Kaufmanns Thiringk dem Philanthropinum bzw. Wolke anzuvertrauen. Zu letztgenannter Reisegruppe gehörte auch Ludwig Heinrich Ferdinand Olivier, der dann seine Stelle als Lehrer am Institut antrat.11
2. Voraussetzungen für das Wirken von Heinrich Schilder Mit dem Weggang Campes hatte das Dessauer Philanthropinum seine erste Entwicklungsphase, die mit einer Krise12 endete, hinter sich. Vorher war mit finanziellen Zuwendungen des Fürsten und der Bereitstellung des Palais Dietrich als Schulgebäude für einen gewissen Grundstock gesorgt, der zwar nicht Basedows Ideen eines Philanthropinums entsprach, aber eine reale Basis zur Umsetzung pädagogischer Pläne war.13 Damit waren Probleme grundsätzlicher Art nicht aus dem Wege geräumt, sondern konnten erst recht ins Leben treten. Denn nun hatte das Philan10
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Hoheisel, Arthur, Das Geschlecht der Schilder in Liebau, Riga und Rußland, in: Baltische Ahnen- und Stammtafeln, Sonderheft Nr. 17, [Köln] 1996, S. 16ff.; im gleichen Heft auch der Beitrag von: Amburger, Erik / Katin-Jartzew, Michael / Schumkow, Andrej, Familie von Schilder in Rußland, S. 19ff. – In beiden Beiträgen, S. 17 und S. 21, wird der 1771 geborene Sohn Heinrich aufgeführt und das Sterbedatum offengelassen. Bereits nach dem Tod seiner ersten Frau sprach Schilder davon, er sei mit sieben Kindern zurückgeblieben, und danach ist auch nur von drei Söhnen die Rede. Somit ist anzunehmen, daß Heinrich in der Zeit bis 1778 verstorben war. Siehe Anm. 43. Vgl. Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780, in: Zwischen Wörlitz und Mosigkau 44 (Dessau-Wörlitz-Beiträge VI, 1992), S. 66. Pinloche, Auguste, Geschichte des Philanthropismus, Leipzig 1914, S. 126, spricht rechtens von Reorganisation, die dem Publikum die Unruhe nahm.
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thropinum eine Art halbstaatlicher, durch fürstliche Zuwendungen garantierte Existenz, die nach außen auch einen falschen Eindruck von Stabilität vermitteln konnte. Doch es war, um mit Aristoteles zu sprechen, für das Überleben, nicht aber das (gute) Leben gesorgt. Andererseits war das Leben eine Überlebensfrage, denn die weitere materielle Existenz hatte auch Fürst Franz dem Publikum anheimgestellt.14 Für das Philanthropinum bedeutete dies, nicht nur für Spenden zu sorgen, sondern auch für zahlungskräftige Eltern und Vormünder, die Pensionisten schickten, denn ohne diese gab es kein Bestehen. Freilich können wir nicht von einem Bildungsmarkt, der heute oft im Munde geführt wird, sprechen. Es war auf bestimmte Weise für das Institut noch komplizierter, als es heute manchmal sein mag, weil es kaum Verbindlichkeiten, wie sonst im Geschäftsleben üblich, gab, die auch den „Käufer“, die Eltern und Vormünder, in die Pflicht nehmen konnte. Die Öffentlichkeitsarbeit mußte von der Anstalt, innerhalb damaliger Verhältnisse, mit einem viel intensiveren Eingehen auf das Publikum, das ja auch einer Vielzahl von Eindrücken ausgesetzt war, bewerkstelligt werden. Die Einsetzung Wolkes, des langjährigen Mitarbeiters Basedows, als Vizekurator,15 später als Direktor16 konnte einem guten Eindruck nur dienlich sein, versprach er doch den Interessenten Kontinuität. Wolke hatte, wofür er von Kant aus der Ferne gelobt wurde, Ausdauer gezeigt17 und zeigte sie auch weiterhin. Und offenkundig hatte Wolke auch eine glückliche Hand für den Kontakt nach außen18 – alles andere als marktschreierisch, eher persönlich, mit Augenmaß für Unterstützung, die man brauchte, Eingehen aufs Persönliche19 und toleranter Haltung gegenüber anderen pädagogischen Erfahrungen.20
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So in den Pädagogischen Unterhandlungen, 5. Stück, 1778, S. 404: „Es wird daher vom Publico abhängen, es durch fortgesetzte Beyträge dieses auf die allgemeine Schulverbesserung abzielende Unternehmen unterstützen, und desselben Dauer versichern will. oder nicht. Dessau den 12. Januar 1778. Leopold FriedrichFranz, Fürst zu Anhalt.“ Siehe Pädagogische Unterhandlungen, 5. Stück, 1778, S. 406 Siehe Pädagogische Unterhandlungen, 12. Stück, 1778, S. 1159. Brief an Crichton vom 29. Juli 1778: „Und nun steht allein das Dessauische Institut; sicherlich blos deswegen, weil es den, durch keine Hindernisse abzuschreckenden bescheidenen und unbeschreiblich tätigen Wolke an seiner Spitze hat, der überdem die Gemütsart hat, seinem Plane ohne Eigensinn treu zu bleiben und unter dessen Aufsicht diese Anstalt mit der Zeit die Stammuter aller guten Schulen in der Welt werden muß“. (Kant, Immanuel, Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 9, Berlin 1922, S. 178). Verantwortlich für die Besuche und Korrespondenz war Wolke nach der Institutsverfassung, siehe Pädagogische Unterhandlungen, 5. Stück, 1778, S. 406. Den dann doch in der täglichen Arbeit zermürbenden Vorsatz hatte Wolke in seiner „Nachricht von einigen Umständen des Instituts im März 1782“ formuliert: „Es ist die Befriedigung aller aber der Zwek unsrer Bemühungen und Sorgen [...]“. Man sieht das schon aus dem veränderten Charakter des Publikationsorgans des Philanthropinums, den Pädagogischen Unterhandlungen bzw. dem Philanthropischen Journal, wo ja auch aufgefordert wurde, pädagogische Erfahrungen zur Veröffentlichung mitzuteilen, ein Charakterzug, der freilich schon unter Campes kurzer Kuratur spürbar wurde, vgl. Pinloche, S. 123.
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Die Ursache des unverminderten Interesses am Philanthropinum21 wird man indessen nicht allein in der Reorganisation der Anstalt sehen können. Praktische Gründe dafür sind schnell aufgezählt: Basedows und der anderen Philanthropen Pläne und Ideen konnten sich in ihrer schriftlichen Form erst im Laufe der Zeit verbreiten, mündliche Kunde, etwa durch Autopsie in Dessau, zu überbringen, bedurfte auch einiger Zeit. Hinzu kam der Einfluß gegenteiliger schriftlicher und mündlicher Form, der eine mögliche positive Entscheidung bei Eltern nicht gerade beschleunigte. Ein weiterer Faktor war das vom Institut bestimmte Alter der Zöglinge; auch entschlossene Eltern konnten ihre Kinder bei Gründung des Philanthropinums nicht nach Dessau schicken, weil sie noch zu jung oder später zu alt waren.22 Es gab zwar die andere Strecke der Hofmeisterausbildung, die bisweilen genutzt wurde. Doch bedeutete dies, den Hofmeister wegzuschicken und einen zweiten am Ort zu bezahlen und zu verköstigen, was für viele nicht erschwinglich war und wohl auch unsinnig erscheinen mußte. In einigen Fällen schickte man eben beide, Hofmeister oder Privatlehrer und Kinder zusammen in das Institut,23 doch war auch hier das Alter der Kinder entscheidend. Somit seien die Bedingungen, wie sie sich rein äußerlich für die Elternschaft darstellten, knapp umrissen. Bestimmteres läßt sich bei geographischer Eingrenzung sagen. In Livland, zum Russischen Reich gehörig, und in Kurland, weitgehend von russischer Politik bestimmt, kam wie auch anderswo Unzufriedenheit mit dem bestehenden Schul- und Universitätswesen auf, wovon die Briefe Schilders zeugen.24 Als eine Alternative zu heimischen Ausbildungsstätten werden die École Militaire in Stuttgart25 und eine „Anstalt bei Strasburg“26 genannt. Eine gewisse Bekanntschaft mit dem Dessauer Philanthropinum und philanthropischen Ideen hatte man in den russischen Ostseeprovinzen auch und unabhängig von dem Engagement Schilders gemacht. Der Herzog Peter von Kurland spendete
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Niedermeier, (wie Anm. 12), S. 66, stellt ein nach 1777 stark abgeflautes öffentliches Interesse fest. Dieses Urteil wird man aber eher auf tonangebende Intellektuelle beschränken müssen. Das offizielle Mindestalter für den Eintritt eines Philanthropisten war bei sechs Jahren festgelegt, wie aus dem 1. Stück des Philanthropischen Archivs, 1776, S. 38 hervorgeht. Nach oben war das Alter bei achtzehn Jahren festgesetzt. 1778 entwickelte man eine andere Vorstellung Dort aber gab es 1779 einen Einschnitt: ein Pensionist solle „nicht jünger als 6 Jar (da er selbst sich anzihen und auszihen kan) und nicht älter, als 12 Jare seyn“, heißt es im Philanthropischen Journal, 3. Quartal, 2. Jahrgang, 1779 (April), S. 455. So war das etwa Jasperson, Matthisson und Vogel jun. der Fall. Die eigentliche Ausbildung von Lehrern auf fürstliches Geheiß brachte zwar einige Reputation, war aber quantitativ fast bedeutungslos. Eine Übersicht solcher Lehrer gibt: Hirsch, Erhard, Progressive Leistungen und reaktionäre Tendenzen des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises in der Rezeption der aufgeklärten Zeitgenossen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Ideologie im Zeitalter der französischen Revolution. Diss. Halle 1969, [Bd. 2], S. 87. Siehe unten, Abschnitt 8. Brief 11 vom 5. Januar 1779, Bl. 2 r. Brief 24 vom 3. und 21. August 1779, Bl. 3 v.
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für das Philanthropinum,27 es gab Philanthropisten aus Kurland, die nach Dessau geschickt wurden, Elisa von der Recke, die von Ehrmann auf das Philanthropinum aufmerksam gemacht worden war, spendete und sammelte Subskribenten für die Pädagogischen Unterhandlungen.28 Hinzu kommt, daß ein Cand. Theol. namens Bergmann aus Livland am „Großen Examen“ im Mai 1776 teilnahm29 und eventuell für weitere Kunde sorgte. Nicht vergessen sei Immanuel Kant aus dem nicht unweiten Königsberg, der selbst Praenumeranten für die Pädagogischen Unterhandlungen warb, sich für das Philanthropinum einsetzte und als Professor eine geistige Autorität darstellen konnte.30 Im näheren Umfeld Schilders finden wir dessen Schwager, den Ratsherrn Johann Christoph Berens; er unterhielt mit seinem Bruder einen Freundeskreis, zu dem Kants Verleger Johann Friedrich Hartknoch gehörte,31 der auch die Werke Basedows vertrieb.32 Berens gehörte beizeiten zu den Förderern des Elementarwerks.33 Nicht zuletzt gab es bereits einen Zögling aus Livland, den Neffen des Barons von Sacken.34
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[Rel. Phil.], unsigniert, Briefe von Friedrich Wilhelm Raison, einem Bediensteten, vom 13. Juli und 26. November 1776. Brief vom 3. Oktober, Rel. Phil. [unsigniert], [Bl. 1 r. f.] Philanthropisches Archiv, 2. Stück, 1776, S. 72. Dieter Wartenberg hat in seinem Aufsatz Kant und Basedow Kants Einsatz für das Philanthropinum kurz umrissen, in: Zwischen Wörlitz und Mosigkau 40 (Dessau-Wörlitz-Beiträge V, 1991), S. 21–23). Kant hatte am 28. März 1776 den Sohn seines Freundes Motherby dem Institut empfohlen (Brief an Wolke, in: Immanuel Kants Werke, hg. von Ernst Cassirer, Bd. 9, Teil 1, Berlin 1922, S. 147ff.). Übrigens waren sich Motherby und Schilder spätestens seit Frühjahr 1778, vielleicht aber auch schon eher, nicht unbekannt. Schilder bat in Brief 3 vom 28. März 1778, Bl. 1 v., man möge eine Sendung über Motherby schicken. Hierzu: von Pistohlkors, Gert, Die „deutschen Ostseeprovinzen Rußlands“: äußere Einflüsse und innerer Wandel (bis 1860), in: ders. (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, Berlin 1994, S. 296. Franke, (wie Anm. 4), S. 116. Basedow, Johann Bernhard, Vierteljährige Nachrichten von Basedows Elemtentarwerke und von andern Bemühungen die Erziehung und das Schulwesen zu verbessern, 2. und 3. Stück, Leipzig 1771, S. 116. Nach Meritenbuch (Rel. Phil. I, 2) war er schon am 1. April 1777 angekommen. Sacken, der sich in Kopenhagen aufhielt, hatte großes Zutrauen zum Institut, war aber mit Empfehlungen zurückhaltender als Schilder. Ein befreundeter Etats-Rat in Petersburg (vermutlich von Krok, der auch bei Schilder und in den Spenderlisten auftaucht) fragte Sacken, ob er seinen Sohn dem Philanthropinum anvertrauern solle. Sacken richtete die Frage weiter: „und ich Ihm nicht gerne zu etwas rathen wolte, das ihm nachgehens gereuen könte, so habe ich Ihn nur von meiner vortheilhaften Meinung von dem Institute, von meiner mit demselben gepflegten Correspondenz und deßen Journal Nachricht gegeben. Nach meinen Grundsätzen habe ich nicht weiter gehen könne. Da ich aber meinem Feunde hierinn gerne den besten Rath ertheilen möchte, so traue ich es Ihnen, und Ihrer redlichen Mitarbeiter ehrlichen DenkungsArt vollkommen zu, daß Sie mir nach Ihren Gewißen und innerlichen Überzeugung auf die an mich gethane Frage antworten werden damit ich Ihm davon benachrichtigen könne.“ (Brief vom 3. Februar 1778, Rel. Phil. IV, 3, 4, Bl. 5 r. f.).
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Franke vermutet einen Privatgelehrten und Hofmeister Joh. Lebrecht Runge, der öfter von Berlin nach Riga kam und Schilder „mit Begeisterung erfüllte“,35 doch mag Runge nicht alleinigen Einfluß auf Schilder gehabt haben. Eine weitere Voraussetzung für Schilders Tätigkeit, aber nicht unwesentlich auch für das äußere Erscheinungsbild dieser Tätigkeit, liegt in den Formen der Sozialisation, des gesellschaftlichen Verkehrs und der Mentalität, auf die wir bei den Interessenten aus den Ostseeprovinzen stoßen. Es ist eine den Schilder-Briefen zu entnehmende Besonderheit, daß Eltern von Zöglingen sich nicht nur untereinander kannten, sondern auch partiell gemeinschaftlich Anteil nahmen an Fortgang und Problemen des Instituts und ihrer Kinder und insofern auch verbal, vermittelt durch Schilders Tätigkeit und Briefe, dem Institut gegenüber als geschlossene Gruppe erscheinen konnten.36 Ein nicht zu übersehender, aber bis jetzt wenig ergründeter, dennoch möglicher Faktor, der auch künftighin in die Betrachtung einzubeziehen wäre, sind die neben den Verbindungen zum Philanthropinum bestehenden oder sich herausbildenden Kontakte von Eltern zum Fürstenhaus.37 Philanthropinum und das Fürstenhaus, Anhalt-Dessau überhaupt, können in wechselseitiger Verflechtung attraktiv, bisweilen auch nützlich38 für die baltische, bisweilen auch russische, Elternschaft gewesen sein. Was den Fürsten betrifft, so schien auch er ein nicht geringes Interesse an Teilen der Elternschaft zu haben, und die Gegend Ostpreußen-BaltikumRußland mag auch für ihn nicht unwesentlich gewesen sein, besaß er doch Ländereien in und um Norkitten in Ostpreußen.39 35
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Ebd. Eventuell ist der in Brief 1 vom 27. Januar 1778, Bl. 1 v. erwähnte Freund, „aus Berlin der in Person in Dessau gewesen, alles genau gesehen und beprüft hatte“ und von dem Schilder „eine so vorteilhafte Schilderung Ihres Instituts erhalten“ hatte, jener Runge gewesen. Diese Einschätzung beruht auf den Rahmenbedingungen und charakterisiert eine Möglichkeit. Indes ist in der Forschung, von Butzmann und vor allem von Opitz, aus anderen Gründen ein Bild gezeichnet worden, das eine gewisse oder sogar straffe Organisiertheit der baltischen Elternschaft impliziert. Dazu sei weiter unten Stellung genommen. Eine recht ansehnliche, nicht aber die vollständige Korrespondenz zwischen Eltern und Fürst gibt es im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau unter Abt. Dessau C, 18 b, 341 und 342. Das folgende Beispiel des Ernst Johann von der Raab, genannt Thülen, lässt solche Deutung zu. Aus einem Brief vom 23. Dezember 1786 erfahren wir, dass das Fürstenpaar als Paten seines damals 9-jährigen Sohnes fungierte, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, A, 235, fol. 247 [v.]. Solche Altersangaben sind eher approximativ, die Patenschaft ist also um 1777 anzusetzen, 1776 trat einer seiner Söhne in das Philanthropinum ein. Thülen stand beim Institut später in der Kreide (siehe Anm. 57), dennoch bleib sein Sohn dort. Möglicherweise hatte der Fürst sich für ihn eingesetzt. – Auch nach dem Ausscheiden dieses Sohnes wusste sich Thülen an den Fürsten zu erinnern. Er entnahm „den Zeitungen“, dass Franz „bey Sr: Königlich=Preußischen Magestät, seit Höchst Deßen Gelangung zum Throne, wie eine ehrfurchts volle Wahl es vermuthen dürfte, auf das aller liebreichste und freundschaftlichste zu Potzdamm sind aufgenommen worden.“ (Ebd.). Und er bat Franz, sich beim neuen Preußenkönig für eine Anstellung für seine Söhne und sich zu verwenden. Hierzu: Polenz, Hermann, Chronik der in Ostpreußen belegenen Sr. Hoheit dem regierenden Herzoge von Anhalt gehörigen Norkittenschen Güter. Nach actenmäßigen und anderen authentischen Quellen zusammengestellt von Hermann Polenz. Abgeschlossen im Jahre 1868. Inster-
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3. Heinrich Schilders Tätigkeit für das Philanthropinum Auf die Bestätigung, daß sein Sohn angenommen werde, kündigte Schilder an, daß er, um „Ihnen meine Erkentlichkeit einiger maßen an den Tag zu legen [...] zum Besten des Instituts eine Subscription auf Ihren pädagogischem Unterhandlungen übernommen“.40 In diesem Sinne war in den Pädagogischen Unterhandlungen aufgerufen worden. Dies war als Gegenleistung für die Aufnahme des Sohnes gedacht und entsprach aber auch dem, was im Plan der Pädagogischen Unterhandlungen bekannt gegeben wurde.41 Schilder konnte später großes Interesse vermelden: „Mit Verlangen sehe ich die Ankunft der pädag: Unterhandlungen von Lubec, denn ich werde sehr von meinen prænumeranten deswegen geplagt.“42 Schilder übernahm auch den Vertrieb der „Allgemeinen synchronistischen Weltgeschichte; oder Zeitungen aus der alten Welt: von Numa bis auf Alexander den
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burg 1885. Als Neudruck in: Anhalt-Dessau in Ostpreußen. Zwei Beiträge. Von Hermann Polenz und Siegfried Hungerecker (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ostund Westpreußen e.V. 94), Hamburg, 1998, S. 1–53, wie auch den Beitrag von Hungerecker. Polenz erwähnt ebd., S. 36, dass Fürst Franz sich Sommer 1780 auf seinen dortigen Gütern aufhielt und die Verhältnisse neu ordnete. Geplant war aber eine anschließende Reise nach Rußland, die über Riga führen sollte. Jedenfalls wusste man in Riga davon, so dass Schilder am 25. Juni 1780 schrieb: „Wenn Ihr Fürst nach Rußland reiset so haben wir uns also das Vergnügen zu versprechen ihn auch hier zu sehen. (Wir?) Lievländer die jezo mit Dessau verbunden sind, freuen sich freylich auf das Glück.“ (Brief 47, Bl. 2 r.). Am 22. Juli wurde der Fürst immer noch erwartet: „wir erwarten Ihren lieben Fürsten täglich; der vater von Grave hält sich das Vergnügen vor, ihn bey sich zu logiren.“ (Brief 48, Bl. 2 r.). Brief 1 vom 27. Januar 1778, Bl. 1 r. Es soll aber diese Monatsschrift zum Besten unsers armen Instituts, theils auf Pränumeration, theils auf Subscription gedruckt werden, [...] Subscribenten werden [...] bloß unter der Bedingung angenommen, wenn an dem Orte, wo sich deren finden, ein bekannter, glaubwürdiger Mann aus Gefälligkeit gegen uns, das Geschäfft eines Collecteurs auf sich nimmt, und für die von ihm gesammelten Subsscribenten dergestalt gut sagt, daß die Herausgeber des Werks es nicht mit diesem, sondern mit ihm allein zu thun haben sollen.“ (Pädagogische Unterhandlungen, 1. Stück, 1777.). Offenkundig wollte Schilder die Rolle eines solchen Mannes übernehmen. Aber war es nun Subscription oder Pränumeration? Franke, (wie Anm. 4), S. 119 und S. 134, Anm. 8, hat beides synonym verwandt. Es spricht, weil Schilder späterhin nur Pränumeranten erwähnt, alles für Pränumeration; allein die ersten Exemplare, die Schilder aus Dessau mitnahm, mögen auf Subscription verkauft worden sein, weil im 4. Brief vom 14. und 25.April 1778, Bl. 1 r. die Rede davon ist, daß er die Zahlung dafür „mit einem Ducaten“ erhalten habe. Er wolle „einstens [...] rechnung ablegen“. – Schilder sorgte also für die Verbreitung der Kenntnis des Philanthropinums. Die Unterhandlungen waren insofern das Werbematerial. Sonst war in dieser Sache ganz Geschäftsmann, wie aus dem Brief hervorgeht: „H Hartknoch hat bereits Unterh des 3ten Jahrgangs erhalten, und ich nicht. Warum senden Sie sie mir nicht auch über Leipzig? Die Leipziger Buchhändler bekommen sie doch von Ihnen und also könnte ich sie eben so zeitig als Hartknoch erhalten; nun besorge ich daß keine Schiffe von Lubec kommen werden und ich also meine Abnehmer bis zum Frühjahr werde vertrösten müßen; das mir nicht lieb ist.“ Der Buchhändler Hartknoch schien Schilders Konkurrenz übrigens gleichmütig zu dulden. Brief 4 vom 14. und 25. April 1778, Bl. 2 r. Ähnlich am 23 Mai und 3. Juni desselben Jahres: „indeßen warte ich mit Verlangen nach den pädagogischen Unterhandlungen darum ich sehr überlaufen werde“, Brief 5, Bl. 2r.
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Großen“43 von Carl Christoph Reiche, der auch Lehrer am Philanthropinum war. Franke erwähnt noch, daß Schilder auch die Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde vertrieb, seinerzeit eventuelle Belege noch vorgelegen haben können, die er leider nicht anführt. Es muß aber so gewesen sein.44 In der lokalen Presse seiner Gegend ließ er, nach der Zulassung seines Sohnes, „um die Vorurtheile zu zernichten, die hier und da in unsern Gegenden wieder Ihr Institut herschen mögen, den Brief in unsern öffentlichen Blättern bekannt“45 machen. Auszüge aus Briefen an seine Frau ließ er ebenfalls veröffentlichen, um zu zeigen, „wie philanthropisch“ man hier denckt“.46 Er ließ, um den Ruf des Philan43
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Dieses Werk gehört in den öffentlich zugänglichen Bibliotheken inzwischen zu den rara. Es gibt einen Einblick, auf welche Weise – heute scheint sie etwas kurios – wohl überwiegend Laien, zu denen auch die Förderer des Philanthropinums und Eltern wohl gehörten, die alte Geschichte vermittelt wurde. Es ist wirklich Zeitungsstil. Wegen der Seltenheit sei ein kurzer Ausschnitt aus den 1. Teil, S. 1 zitiert: „Im Jahr 3300. Schreiben eines eifrigen Juden aus Jerusalem. Seite dem Absterben unsers gottseligen Königes Hiskias sind wir, unter der Regierung seines Sohnes Manasse, in einer beweinenswürdigen Verfassung. Des Gottes unserer Väter, und seines uns von Mose befohlnen Dienstes, wird im ganzen Lande, und bey Hofe insonderheit, fast gar nicht mehr gedacht, und unser Tempel ist entheiliget und verwüstet durch aufgestellte Gözenbilder und Altäre ohne Zahl Baal und Moloch und Astaroth und noch viel andere phönicische und syrische Gottheiten die sind gegenwärtig die Götter unsers Fürsten, und die ruchlosesten Wollüstlinge sind seine Propheten.“ Das setzt sich weiter fort mit anderen Berichten aus Ninive, Athen, Sparta etc. Solch synchronistisches Verfahren, heute geläufig in vielerlei Form (etwa Arno Peters Synchronistische Weltgeschichte oder Werner Steins Kulturfahrplan) stand durchaus in Verbindung zum Geschichtsunterricht im Philanthropinum auch in didaktischer Sicht. Friedrich Wilhelm Götze handelt davon in den internen Berichten über seinen Unterricht und nennt seine Tabellen Manuale Historicum, Rel. Phil. III, 3, 2, Bl. 20–21. Nicht zutreffend ist es, wenn Franke, (wie Anm. 4), S. 119 meint, Schilder habe den Vertrieb dieses Werks bald aufgegeben, weil, wie Schilder selbst schreibt, ihm Hartknoch „damit im Wege“ (Brief 8 vom 1. und 12. August 1778, Bl. 2 r). gewesen sei. Er fragte immer wieder danach an, so am 3. Februar 1781, Brief 59, Bl. 1: Die Zeitungen aus der alten Welt kann ich noch nicht gebunden kriegen, und also noch nicht an die Interessenten senden u die Zahlung einfodern.“ Bis zuletzt war das Interesse da, so am 15. Dezember 1782, Brief 81, Bl. 1 v.: „Werden die Zeitungen der alten Welt nicht mehr fortgesezt oder bleibt’s damit beym 6ten Theil? wünschte wohl dieses von Ihnen zu vernehmen.“ Mit dem 6. Teil wurde das Erschienen eingestellt. – Ganz reibungslos war der Vertrieb aber nicht. Der lange Postweg brachte Verzögerungen ohnehin mit sich. Darüber hinaus – das mag ein Zeichen für die Überlastung am Philanthropinum sein – trafen bisweilen der Zahl und dem Exemplar nach falsche Lieferungen in Riga ein. Schilder hatte das, entweder in besserer Kenntnis, als wir sie heute haben, einmal dem Spediteur angelastet ( Brief 27 vom 19. Oktober 1779, Bl. 2 r.). Ob dieser die Schelte an Wolkes Stelle erhalten sollte? Wer für den richtigen Versand, der sehr zeitaufwendig sein kann, zuständig war, ist nicht klar. Vielleicht wurden Schüler oder Famulanten herangezogen, die es so genau nicht nahmen oder nehmen konnten. In Brief 74 vom Mai 1782 heißt es: „Von denen Zeitungen will ich 50 exemplare für diese Gegenden zu vertheilen übernehmen, und da manche sie gerne wöchentlich lesen mögten, will ich mit dem hiesigen PostDirecteur sprechen ob sie nicht mit geringern Kosten als die gewöhnliche politische Zeitungen wöchentlich hieherbefördert haben kann. Ich melde Ihnen nächstens das resultat davon.“ Die Dessauische Zeitung für die Jugend erschien wöchentlich und eine Verwechslung mit den Zeitungen aus der alten Welt kann ausgeschlossen werden, da diese 1781 letztmalig erschienen. Brief 1 vom 27. Januar, Bl. 2 r. Brief 4 vom 14. und 25. April, Bl. 1 v.
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thropinums zu verbreiten, eine Darstellung Wolkes in der Zeitung drucken.47 Für eine Bekanntmachung über die Vollzähligkeit der Pensionistenzahl außerhalb des Philanthopischen Journals sorgte er ebenso wie für eine die Rezension der Zeitungen aus der alten Welt durch einen Gelehrten, um den Absatz zu steigern.48 Für einen Kaufmann, der sich selbst durchaus nicht als Gelehrten sah, eher ungewöhnlich war die Vermittlung von Ludwig Heinrich Ferdinand Olivier, Vater der romantischen Maler-Brüder, an das Institut.49 Soweit war das Engagement Schilders durchaus im Rahmen dessen, was andere auch taten. Schilders Besonderheit aber lag darin, daß er durchaus die materielle Bedürftigkeit des Philanthropinums erkannt hatte und, auch durch mündliche Werbung, die eher Mitteilung von Begeisterung und eines guten Eindrucks war,50 die Lage des Instituts durch Einbringung von Spenden zu verbessern suchte, wobei er ebenso bestrebt war, die Aufnahme von Zöglingen mit zusätzlicher Zuwendung zu verbinden, was ihm auch oft gelang. Damit ist nicht gesagt, daß Schilder erst in jedem Fall die Spendenbereitschaft oder den Wunsch, Kinder oder Vormünder in das Philanthropinum zu geben, geweckt hatte. Er vertraute der Beispielwirkung anderer Personen bisweilen mehr, zumal wenn sie bedeutender waren als er selbst, wie es beim Grafen Manteuffel der Fall war, dem er Plätze im Institut zusicherte. Schilders Bedeutsamkeit lag vor allem darin, daß er sich selbst zum Anlaufpunkt machte und somit in Livland und Kurland für die (persönliche) Präsenz des Philanthropinums sorgte, und sowohl diesem als auch den einheimischen Interessenten ein gutes Stück Arbeit abnahm. Franke beschreibt recht plastisch, worum es ging: „So war Schilder Haus der Mittelpunkt für den Verkehr mit dem Philanthropin, Schriftenniederlage, Anmelde- und Auskunftsstelle, dazu Speditionsgeschäft für die Sendungen nach Dessau.“51 Frankes Beschreibung ist allerdings nicht so zu
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Brief 8 vom 1. und 12. August, Bl. 1 r.: „Ihr allegorisches Schreiben über den Zustand des Instituts hat mir mir außerordentlich chamirt. Ich habe es in unserer Zeitung dem Publico mitgetheilt um deßen Empfinden fürs Institut zu erwärmen.“ Brief 27 vom 19. Oktober 1779, Bl. 2 v. Schilder war der Meinung, daß die Stelle des abgegangenen Pidoux wieder besetzt werden müsse. Er versprach in Brief 31 vom 13. November 1779, Bl. 1 v., Olivier zu kontaktieren. Seine Bemühungen hatten Erfolg. So in Brief 4 vom 14. und 25. April 1778, Bl. 1 r. f.: „Mit Freuden bemercke ich, daß in meinem Vaterlande das Vertrauen zu dem Guten des Philanthropins täglich zunimmt [...] das Befragen und Erkundigen nach diesem und jenem hat fast kein Ende, so daß ich zuweilen in den Antworten verstumme, denn ich bin wahrlich nicht geschickt die Vortrefflichkeit des Instituts im rechten Lichte vorzutragen, dem ohngeachtet finde ich doch beym unpartheiischen und vernünftigen Theile Glauben. Was mir am mehresten verlegen macht, sinddie Fragen wie weit die ältern Philanthropisten in den Wissenschaften und höhern Kenntnißen wären: frachement muß ich hierauf gestehen, daß ich davon nicht urtheilen kann, einestheils weil ich es nicht verstehe, andern Theils weil ich hauptsächlich auf die moralische Erziehung der Jugend mein Augenmerck gerichtet hatte und endlich die Zeit meines Aufenthalts zu kurz gewesen um vom ersten recht genau Kentniße zu erlangen.“ Schilder machte kein Geheimnis daraus, daß er selbst kein gelehrter Kopf war. Franke, (wie Anm. 4), S. 120.
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verstehen, daß ein Zwang bestand, über Schilder zu gehen. Sehr einschränken muß man auch Frankes Meinung, die Eltern hätten ihm die Korrespondenz mit den Eltern überlassen.52 Auszugehen ist davon, daß Schilder Briefe zur Beförderung sammelte53 und auch Briefpakete aus Dessau empfing.54 Man wird diese „Zusatztätigkeit“ Schilders nicht unter eine pauschale Bezeichnung bringen können, zumal er nicht offiziell eingesetzt war, sondern muß einzelne Handlungen oder Handlungsweisen im jeweiligen zeitlich begrenzten Zusammenhang sehen. Umreißen wir die Schilders Tätigkeit näher. Auf die Meldung der Annahme seiner beiden Söhne vermachte der General Roenne dem Institut ein Geschenk von 80 Dukaten, von dem Schilder Wolke in Kenntnis setzte.55 Ob es Schilder war, der Roenne zu dieser Spende animiert hatte, ist allerdings unsicher. Dennoch schrieb er sich den Erfolg zu und teilte Wolke wenig später im August 1778 mit: „ich habe noch einige aufm Korn die ich etwas aufm Beutel klopfen will.“56 Gleichzeitig räumte er bei dieser Gelegenheit ein, daß er auch diese und jene Abfuhr erhielt.57 Öfter stellte Schilder eine Spende auch nur in Aussicht, wenn nur andere dabei mitwirkten, so im Falle der Freimaurer. Von deren Sammlung zugunsten des Philanthropins berichtete er schon im Juni / Juli 1778.58 Nachdem er den Eifer erloschen sah, glaubte er, daß es gut sei, wenn der Sekretär Stoever seinen Sohn persönlich nach Dessau brächte: da er hier in einigem Ansehen steht so würde er bey manchen eingeschläferten Wohlthätern wieder den guten Willen zum Geben rege machen, besonders aber der hiesigen FreyMäurer Loge Apollo. Wir haben hier zwey Logen von verschiedenen Secten, die autenticité der selben, welche die echt sey, kann ich hier nicht detailliren, noch selbst bestimmen, diese hier ist von der Zinnendorfschen Secte, und von der andern Zum Schwerdt ist der Prinz Ferdinand Groß Meister.59
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Ebd. Hieraus erklärt er auch den auffallenden Mangel an Elternbriefen. Offenkundig hatte er dabei die Bestände im damaligen Staatsarchiv in Zerbst, die sich heute im Landesarchiv Oranienbaum befinden, nicht bedacht, wenngleich die Ausbeute nicht sehr hoch ist. Doch muß man auch davon ausgehen, daß die Direktion auch nicht jeden Brief aufbewahrte. Der erste, der Schriftwechsel systematisch sammelte, war offenkundig Feder. „Hiebey gehen verschiedene Briefe die ich gesamlet“, Brief 21 vom 3. und 14. Juli 1889, Bl. 1 r. So zu entnehmen Brief 18 vom 19. und 30. April 1779, Bl. 2 r.: „Es ist mir sehr lieb, daß Sie die Briefe für die Liefländer unter einem Umschlag senden, dadurch wird mir und denen andern das Porto leidlicher.“ Brief 7 vom 27. Juni und 8. Juli 1778, Bl. 1 v. Die Anmeldung Roennes ist übrigens ein Fall, der darauf aufmerksam macht, dass ein genaues Nachvollziehen des Informationsaustausches auf der Basis des vorhandenen Materials nicht immer möglich ist. Zwar setzte Schilder Wolke in Kenntnis, aber Wolke mag zu dieser Zeit schon auf der Reise nach oder gar schon in Berlin gewesen sein. Denn er setzte von dort dem am 21. Juli 1778 den Fürsten von den neuen Pensionisten und auch von Roennes Geschenk in Kenntnis, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 341, fol. 322 [r.]. Er konnte die Nachricht also auch von Roenne persönlich gehabt haben. Brief 8 vom 1. und 12. August 1778, Bl. 1 v. Ebd.: „Ich leide dabey so manche Kränkung, ja Demüthigung, wenn ich einen refus erhalte.“ Brief 7 vom 27. Juni und 8. Juli, Bl. 2 v. Brief 35 vom 27. November, Bl. 2 r. f.
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Beide Logen gehörten zu verfeindeten Richtungen,60 und Schilder versuchte, Wolke in die Beschaffung einer Spende einzubeziehen: Beyde Logen haben noch nichts fürs Philantropin gethan, könnten Sie nicht durch einen Freund es dahin bringen, daß eine der mit der Zum Schwerdt verschwestere Loge an diese schriebe und zur änlichen Wohlthätigkeit als die Logen in Hamburg auf foderte, denn würde die andere hiesige Loge aus Ehrtrieb folgen, ich würde es schon rege machen, denn ich bin neutral und halte mich noch nicht bestimmt zu dieser noch jener Loge, obgleich ich ein alter ordens Bruder bin.61
Freilich achtete Schilder darauf, daß er vermögende Personen ansprach, er informierte gern über solche Wohlhabenheit auch das Institut, wenn er um Spenden bat. Doch manchmal war der Reichtum auch nur vermeintlich und die Zahlung blieb aus.62 Kam die Spende, so wurde die Transaktion von Schilder vorgenommen, anfänglich über das Bankhaus Hager und Keßler in Berlin, dann auf Wunsch des Instituts über das Bankhaus Frege63 in Leipzig. Über gleiches Bankhaus übermittelte Schilder auch die Pensionszahlungen und Eintrittsgelder. Um die Übersendung von Sachspenden64 kümmerte sich Schilder ebenfalls. Bisweilen gab er sie Reisenden nach Dessau mit.65
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Hierzu und zu Zinnendorf: Schuster, Georg, Die geheimen Gesellschaften, Verbindungen und Orden, 2 Bde, [1905], Nachdr. Wiesbaden [2 Bde. in 1 Bd.], 1991, Bd. 2, S. 60ff. Ebd., Bl. 2 v. So im Fall des Kammerherren von Thulen. Schilder kündigte Brief 7 vom 27. Juni und 8. Juli 1778, Bl. 2 r. f. an: „Hier übermache ich Ihnen auch ein ansehnliches Geschenck von dem Herrn Cammerherrn von Thulen laut einliegender obligation von rt[...] 600- albertus. Dieses Geld kömmt aus dem Vergleich eines Processes, den beyde Theile blos darum aufgegeben um die verglichene Summa zum besten eines so weltbürgerlichen Instituts als das Philanthropin zu verwenden. [...] Wegen des großen GeldMangels der diesen Johannis in Curland war, hat das Geld nicht können baar beygebragt werden, sollte aber das Institut zu ihren Bedürfnißen dieses Geldes ehr benöthiget seyn, so bin ich bereit diese Obligation zu allen Zeiten zu discomptiren, auf welchen Fall Sie mir die Cession vom Institut darüber zu senden belieben.“ Interessanterweise zeigte das Institut die noch gar nicht eingetroffene Spende im Philanthropischen Jounal, 1. Quartal, 2. Jg., 1778 (Oktober), S. 164 schon an: „Der Herr Cammerherr und Baron von Thulen, Vater zweyer Philanthropisten, und die edle Frau von Grotthuß, in Curland, um nicht länger gerichtlich zu streiten; die streitige Forderung von 825 [Thl.]“ (Ein Grund, die gedruckten Spendenanzeigen vorsichtiger zu bewerten.) Schilder jedenfalls legte sich ins Zeug und begann danach, Erkundigungen über Thulen einzuziehen, wobei herauskam, daß Thulen zwar begütert sei, aber „aber in Darlehen und andern GeldSachen müßte man sich ohne der Frauen Unterschrift mit ihm nicht einlaßen, weil das Vermögen größtentheils von ihr käme“. (Brief 16 vom 6. und 17. April 1779, Bl. 2 r.). Schilder verlangte die Obligation zurück. Erst in Brief 20 vom 12. und 15. Juni gleichen Jahres meldete er, er habe das Geld erhalten. Offensichtlich war das Institut von Christian Gottlob Frege die „Hausbank“ des Philanthropinums. Die Berufungsurkunde für den Lehrer Pidoux, Rel. Phil. III, 7, 23, Bl. 1 r. erwähnt, obgleich gestrichen, Pidoux solle das Reisegeld von Frege empfangen. (Das Haus der Bankiers-, Kaufmann- und Gelehrtenfamilie steht übrigens noch in der Katharinenstraße in Leipzig). Die Spenden sind angezeigt in den Philanthropischen Unterhandlungen. Schilder selbst vermachte dem Philanthropinum Werke von Neufforge, Recueil Elementaire d’Architecture, Plutarch (französisch), und C. Niebuhr, Beschreibung von Arabien. – Eine andere Schenkung besitzt die Anhaltische Landesbücherei Dessau unter der Signatur HB 48 674–5 Beyträge zur Ge-
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4. Das Problem der Pensionistenzahl Fürst Franz hatte 1776 mit seiner Zusage, das Philanthropinum zu unterstützen, die nur aktenkundige Bedingung verbunden, daß niemand abgewiesen werde, „bevor nicht die Zahl von 50, die als Norm anzusehen war, erreicht wäre“.66 Auf der anderen Seite war die Kapazität des Raumes67 und der Lehrerschaft beschränkt, so daß man die Zahl von 50 nicht wesentlich überschreiten wollte, wenngleich eine höhere Pensionistenzahl sich finanziell positiv ausgewirkt hätte.68 Auch unabhängig von genannter Bedingung des Fürsten hatte das Institut eine Unterbelegung zu vermeiden und mußte andererseits der Gefahr einer Überbuchung aus dem Wege gehen. Eine Anzeige aus dem 2. Stück der Pädagogischen Unterhandlungen von 1777 illustriert die Situation: Die Zahl unserer Zöglinge ist nunmehr, wider unsern Willen, über fünfzig angewachsen. Geldmangel auf der einen Seite, und dringendes Verlangen solcher Eltern, welche uns mit einem uneingeschränkten Vertrauen beehren, haben uns gezwungen, in diese Ausdehnung zu willigen. Nunmehro aber müssen unsern Wirkungskreis nothwendig einzäunen, wenn wir unter den Lasten, die wir uns auferlegt haben, nicht erliegen wollen. Wir sehen uns daher gnöthiget, das Zusenden neuer Zöglinge so lange zu verbitten, bis wir über kurz oder lang eine neue öffentliche Einladung werden ergehen lassen.
Es kann nicht daran gezweifelt werden, daß das Institut, um der Gefahr der Überbuchung zu entgehen, am Ende nur selbst entscheiden konnte, wann wieviel Kandidaten aufgenommen werden konnten. Auf der anderen Seite versprach Schilders Wirken eine gewisse Kontinuität bezüglich einer potentiellen Interessentenschaft, auf die man ebenso angewiesen war, weil der Verbleib der Zöglinge unbestimmt war – sie konnten jederzeit, aus welchem Grunde auch immer zurückgeholt werden. Erst 1780 begann man sich perspektivisch und finanziell ein wenig abzusichern:
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schichte Peters des großen, hg. von Hartw. Ludw. Christ. Bacmeister, Riga, Hartknoch, 1774 mit dem Eintrag: „dem Philanthropin geschenkt durch eine Gesellschaft in Riga.“ So gab er seinem Freund Runze „2 päcklein mit naturalien“ vom Kadidaten Hofmeister mit (Brief 16 vom 6. und 17. April 1779, Bl. 4 v.) Machlitt, Ulla, Johann Bernhard Basedow und die Gründung des Dessauer Philanthropins 1774, in: Dessauer Kalender, Dessau 1774, S. 36. Eine Mindestzahl war, wie ein Schreiben, Rel. Phil. II, 5, Bl. 5 v., besagt, als Voraussetzung für die Überlassung des Palais Dietrich auch festgelegt: „darin über 3 Jahre lang nicht wenigstens 10 Pensionärs befindlich wären“. Zwar nie realisiert, doch nicht uninteressant ist der Plan zu einem größeren neuen Gebäude. In den Akten des Landeshauptarchivs sind die „Anschläge zu ienem Hause welches für das Philanthropin zu erbauen 1780“ zu finden (LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 341, fol. 438–454) zu finden. 1782 war dieses Vorhaben noch nicht vergessen. Wolke erwähnte in seiner „Nachricht von einigen Umständen des Instituts im März 1782“ „das neue zu errichtende Gebäude“, von dem er sich viel versprach. (LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 35 [v.]). Sicher hätten diese Mehreinnahmen kaum entscheidende Investitionen, vor allem in Gebäude, zugelassen. Ob der Fürst eine zunehmende Selbstständigkeit, gar Unabhängigkeit, des Philanthropinums dann noch mit Wohlwollen betrachtet hätte, sei dahingestellt.
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Wir müssen aus Umständen des Instituts und im Namen derer, welche Philanthropistenstellen verlangen, die Eltern unsrer izigen Zöglinge bitten, entweder ein halb Jahr vorher es anzuzeigen, wenn ein von ihnen gehaltener Pensionist abgehen sol, oder ein Viertheljahr Pension über die Zeit des nicht angezeigten Abganges zu bezahlen.69
Schilder hatte nun anfänglich – mehr kann man mit Sicherheit nicht sagen – die Direktion über die Pläne von Eltern, Kinder nach Dessau zu schicken, in Kenntnis gesetzt. Im Brief vom 23. Mai und 3. Juni schrieb er: „der Herr Ober Consistorial Assessor von Zimmermann kann seinen Sohn (der 7 ins 8te Jahr) dieses Jahr nicht nach Dessau bringen, er hat aber die Reise fürs künftige Jahr festgesetzt, und bittet gegen die Zeit den Platz für seinen Sohn offen zu halten.“70 Noch im gleichen Brief aber teilte er mit: Überzeugt von der Vortreflichkeit und von dem Guten des Instituts, schickt mein Schwager der Herr Raths Herr Berens seinen ältesten Sohn von 15 Jahren, in diesen Tagen über Lübec nach Dessau, und rechnet zum voraus auf die freundschaftliche Nachricht des Instituts, wenn er nicht, zufolge der im 7ten Stück enthaltenen Anzeige,71 zuvor um Genehmigung des Instituts angehalten hat. Ich habe sogar gewagt ihm dafür gutzusagen.72
Dieses Gutsagen Schilders konnte keine autorisierte Zusage gewesen sein; man veröffentlichte den Briefwechsel mit Berens. In einer Antwort an ihn heißt es: Dank Dir, längst und sehr geschätzten Freund und Thäter des Guten [...] Daß Du aber, ohne vorhergehende Meldung von Dir, und ohne Antwort von uns Deinen Sohn hiher abreisen ließest, bedarf zwar keiner Entschuldigung, da eine so angenehme Ursache für uns Dich dazu veranlaßte, aber die Nachahmung Deines Beyspiels müssen wir in der Zukunft verbitten, weil sie den Sender, den gesandten Zögling, und uns in Verlegenheit sezen könnte. Ueber 50 Pensionisten sind wir nicht Willens zu einer Zeit zu haben, und über 40 (außer den Famulanten) sind theils schon da, theils noch abwesend, aber schon angenommen.73
Veröffentlicht sind auch zwei Briefe von Berens, die wahrscheinlich dem Sohn mitgegeben oder durch Schilder weitergeschickt wurden. Daraus geht hervor, daß er schon ein Jahr eher seinen Sohn ins Philanthropinum schicken wollte und teilt mit, daß seine Söhne nach dem „vortrefflichen Elementarwerke unterrichtet“.74 Schilders Gutsagung war eventuell mit der Anregung zu einer Spende verbunden, die das Institut auch überzeugen sollte. Im ersten in den Pädagogischen Unterhandlungen gedruckten Brief von Berens ist von einem Geschenk von 50 Talern
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Philanthopisches Journal, 2. Quartal, 3. Jg., 1780 (Januar), S. 288. Brief 5 vom 23. Mai und 5. Juni 1778, Bl. 1 r. Pädagogische Unterhandlungen, 7. Stück, 1778, S. 595: „Ueber ein Dutzend Pensionisten sind aufs neue angetragen, über deren Aufnahme bey Versendung der pädagogischen Unterhandlungen unsre (bisher aufgeschobne) Antwort erfolgt. Wir nehmen aber künftig eher keine an [...] und bis dann nach gewissenhafter Ueberlegung es wahrscheinlich finden, daß wir die Wünsche und Absichten der Eltern für die unserm Institute bestimmte Kinder und Jünglinge erfüllen.“ Brief 5 vom 23. Mai und 5. Juni 1778, Bl. 1 r. f. Pädagogische Unterhandlungen, 12. Stück, 1778, S. 1165. Ebd., S. 1163.
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die Rede,75 und im zweiten Brief wird auf die Vermittlerrolle Schilders dann schon Bezug genommen: „Für die Auszahlung der jährigen Pension von 250 Rthlr. wird mein Freund Sch — r sorgen, dem ich auch die aufgetragen habe, das bestimmte Eintrittsgeld von 20 Rthlr. zu verdoppeln.“76 Das Resultat hatte Schilder offenkundig ermuntert, er wollte im Sommer 1778 wissen, wie Sie meine dem Grafen von Manteuffel geleistete garantie für die Aufnahme seiner beyden Söhne aufgenommen, um so mehr, da ich es habe nicht ausschlagen mögen noch können aufs neue für die Aufnahme zweyer Zöglinge zu garantiren, die in diesen Tagen abreisen werden. Ich habe mir aber bey der garantie ein Geschenk fürs Institut einbedungen, und wenn Sie’s mir erlauben wollten, so könnte ich es so mit allen Liefländern machen die ihre Kinder ins Institut placirt haben wollen. Daher bitte ich Sie wenn jemand aus diesen Gegenden Ihnen Zöglinge anbietet, sie nur an mich zu verweisen, damit ich ihn nach seinem Vermögen eine Contribution fürs Institut auferlegen kann. Damit Ihnen aber nicht mehr Zöglinge auf den Hals kommen, als Sie gewißenhaft zu erziehen über sich nehmen können und wollen, so bitte mir darüber besonders zu instruiren oder voraus zu avertieren wenn ich mit Aufnahme Halte machen soll.77
Schilders Tätigkeit versprach natürlich eine Zusatzfinanzierung „zum Fond“, ohne allerdings das Problem der Überbuchung zu beseitigen. Im 12. Stück der Pädagogischen Unterhandlungen wurde auf das Fehlen dieses Fonds hingewiesen78 und das Publikum zu einer Initiative angeregt, für die Schilder durchaus das Vorbild abgegeben haben kann: Aber – wo sind die Freunde, die unsre gemeinnützigen Absichten und Bemühungen zum Besten des Publikums kennen, und wenn sie dieselben auch kennen, abwesend von der vorzüglichen Wirkung desselben so überzeugt und bewegt werden, daß Sie Ueberzeugung warmen Eifer für die Ausbreitung des Guten, das unser Gegenstand ist, Andern mittheilen, und uns an ihrem Orte neue Leser und Wohlthäter schaffen? Die Anzahl derer, die schon da sind, hoffen wie bald vermehrt zu haben [...].79
Wolke hatte auch im selben Jahr eine Erhöhung der Pensionistenzahl zugunsten der Liv- und Kurländer angedeutet: „Was Sie mir von der willigen Annahme Pensionisten aus unsern Gegenden sagen, wären sie auch über die bestimmte Anzahl von 50 complet, habe ich angemerkt um davon bey Vorfällen den besten Gebrauch zu machen.“80 Im selben Brief bat Schilder noch um einen Platz für den Sohn des Landrats von Helmersen.81 Noch im selben Monat, August 1778, kündigte er den Baron von Mengden an, der seinen Sohn nach Dessau bringen wollte. Schilder 75 76
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Pädagogische Unterhandlungen, 12. Stück, S. 1163. Ebd., S. 1164. Opitz, (wie Anm. 7), S. 155 bezieht den ganzen Vorgang, den er mit Berens beginnen läßt, dann irrtümlich auf Schilder, der für seinen Sohn das Eintrittsgeld verdoppelt habe und bringt Berens mit der Aufnahme von Schilders zweiten und dritten Sohn vollkommen durcheinander. Brief 7, Bl. 1 r. Pädagogische Unterhandlungen, 12. Stück, 1778, S. 1115. Ebd., S. 1156. Brief 8 vom 1. und 12. August 1778, Bl. 2 v. Helmersen wurde laut Meritenbuch am 1. März 1779 aufgenommen (Rel. Phil., I, 2, Bl. 2). Brief 8, Bl. 2 r.
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teilte in diesem Zusammenhang die Zweifel des Barons wegen der Aufnahme an, doch „zu seiner Beruhigung habe ich ihm aus Ihrem leztern Schreiben, besonders die Stelle, da Sie sich zum Vortheil der Liefländer ausdrücken, vorgelesen“.82 Bis dahin beruhte es offensichtlich auf stillschweigender Vereinbarung, wenn Schilder Plätze zusicherte. Einen falschen Eindruck vermittelt Franke, wenn er sagt, Schilder sei als „Vertreter des Instituts für Livland und die Nachbarschaft bevollmächtigt“ gewesen, die Anmeldung von Zöglingen anzunehmen und, falls Plätze frei waren oder frei zu werden versprachen, sie oder die Anwartschaft zu vergeben.83 Schilder wurde aber nicht formell als Vertreter oder Bevollmächtigter eingesetzt. Franke hatte dies wahrscheinlich aus einem Brief vom Januar 1779 abgeleitet, aus dem hervorgeht, daß man eher Schilders Zusagen in geordnetere Bahnen bringen wollte, und der Elternschaft in den Ostseeprovinzen ein Kontingent zuwies, was man ja auch in Hinsicht auf andere Interessenten begrenzen mußte. Schilder schrieb an Wolke, er habe von sechs Plätzen, „die Sie mir zu vergeben die Vollmacht ertheilten, vier vergeben“.84 Ob solche Vollmacht auch später erteilt wurde, kann nicht mit Sicherheit gesagt sein. Ohnehin spekulierte man in Livland mit einem Bonus beim Institut. Noch im selben Brief ist die Rede von dem Geheimrat Vittinghoff, der seinen Sohn in der École militaire in Stuttgart unterbringen wollte. „Sollte es ihm aber fehlschlagen, so hofte er dennoch, daß ihm das Institut im Fall der Vollzähligkeit, in Ansehung seiner, eine Ausnahme machen würde.“85 „Zum Vortheil des Instituts“ konnte Schilder eine Zusage an den russisch-kaiserlichen General von Zoritz für dessen Neffen und späteres Sorgenkind Wassili Markov nicht verweigern.86 Schilder stellte wieder reichliche Woltätigkeit für das Philanthropinum in Aussicht87 und schickte auch gleich eine Anweisung des Generals über 100
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Brief 9 vom 15. und 26. August 1778, Bl. 1 v. Mengden wurde am 1. Oktober aufgenommen, Meritenbuch, I, 2, Bl. 3 r. Franke, (wie Anm. 4), S. 118. Brief 11, vom 5. Januar 1779, Bl. 1 r. Schilder räumte hier ein, daß er beim Vater des Kandidaten Zimmermann, „um das Ansehen der Geldschneiderei zu vermeiden [...] in Ansehung der Contribution einen Umweg nehmen“ müsse, doch versicherte, „von hieraus muß kein eleve kommen, deßen Eltern Ältern oder verwandte nicht etwas Besonders zum Fond des Instituts gegeben.“ (Ebd., Bl. 1 v. f.). Ebd., Bl. 2 r. Brief 12 vom 23. Januar und 3. Februar 1779, Bl. 1 r. Damit waren die sechs Plätze, vergeben oder in Aussicht gestellt, zahlenmäßig schon wieder überschritten. Marcov aber wurde – was wohl ein singulärer Fall war – als „Extrapensionist“ geführt, Rel. Phil. IV, 2, 14, Bl. 14 v. Marcov stand übrigens schon als Leutnant in russischen Diensten. Das konnte er auch durch die Blume ausdrücken, ebd., Bl. 1 v.: „Nur im Vertrauen und so zu sagen ins Ohr kann ich Ihnen etwas von seiner [sc. Markovs] Verwandschaft sagen, indem es durchaus unbekannt bleiben soll, daß er von so angesehener Familie ist und von wem er eigentlich dort gehalten wird. Es ist der neven des Rußisch Kaiserl. General von Zoritz (der leztere Favorite der mit Belohnung von mehr als einer Million seinen Ablaß erhielt) vielleicht bald wieder die damahlige Stelle erhält) er bestimmt diesen jungen von Marcow zu seinem künftigen Erben. Der General, deßen edles Herz zu schildern meine Feder zu schwach ist [...]“.
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Dukaten mit.88 Mit ungebremstem Optimismus schrieb er Markovs Annahme eine weitere Wirkung zu: Die Folge kann furs Institut nicht anders als seelig seyn – die glückliche Ausbildung eines jungen Rußen, (der dazu einer so angesehenen Person angehört) ohnfehlbar die Kayserin aufmerksam fürs Institut machen und dann wird ihre nöthige Unterstützung auch nicht aus bleiben. Wie vortheilhaft würde es fürs Institut seyn, wenn mehrere Rußische Herrschaften dem Beyspiel des Herrn Generals Zoritz folgten!
In der Zwischenzeit hatte das Institut wieder offiziell „die feste Zahl der Pensionisten, die es leren und erzihen sol, auf fünfzig gesezt“.89 Im Philanthropischen Journal vom Oktober 1779 erschien wieder eine Anzeige über die Vollzähligkeit und veränderte Bedingungen der Aufnahmegarantie: Es ist nicht wahrscheinlich, daß unser Erziehungs-Institut vor Ablauf eines Jahres neue Pensionsten aufnehmen könne, da die Zahl von 50 ganz complet ist, und einige Eltern für ihre Kinder sich die Anwartschaft auf die Stellen, die zunächst offen werden, schon erworben haben. Die Eltern also, denen daran gelegen ist, ihre Kinder gleich nach der Reception der schon fest angemeldeten, aufgenommen zu sehen, erhalten von nun an, gegen Vorausbezahlung des ganzen oder halben Eintritsgeldes, von dem Institute eine gedruckte Versicherung ihres Prioritätsrechtes.90
In den Ostseeprovinzen wurden den Eltern solche Versicherungsschriften „durch unsern philanthropisch thätigen Freund Schilder in Riga [...] zugesandt, daß sie die nächsten unvergebenen Stellen erhalten.“91 Das Institut behielt hier die Oberhand,92 ließ Schilder aber gewähren, vor allem, weil er zusätzliche Mittel, die über die Pensionsgelder hinausgingen, besorgte. Der Mangel an solchen wurde im gleichen Heft abermals beklagt: Auch dis muß ich voraussagen, daß, wenn der thätige Eifer einen Fond zu schaffen, der den jährlich nöthigen Zuschuß zu den Pensionsgeldern reichet, aufhören solte, die izige Funfzigzahl der Pensionisten eher kleiner als größer werden kan, aber auch dan vielleicht ein jeder mehr wie izt, jährlich zahlen mus.93 88 89 90
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Ebd., Bl. 2 v. Philanthropisches Journal, 3. Quartal, 2. Jg., 1779 (April), S. 469. Philanthropisches Journal für Erzieher und das Publikum, 1. Quartal, 3. Jg., 1779, S. 140. Im November meldete Schilder, er habe diese Anzeige drucken lassen und versprach: „Nun werde ich keine Zöglinge annehmen, als für künftig zu erledigenden Stellen gegen Zahlung des halben oder ganzen Eintrit Geldes“ (Brief 31 vom 13. November 1779, Bl. 1 v.). Was aber die Zahl der Annahmen betrifft, so hielt sich Schilder zurück. Philanthropisches Journal, 2. Quartal, 3. Jg. 1780 (Januar), S. 287. Ebd., S. 288: „Von der Zeit dieser Bezahlung wird das Recht auf eine künftig leere Philanthropistenstelle bestimt, und Seiten des Instituts noch durch eine Uebersendung einer schriftlichen Versicherung bestätigt“. In gleicher Anzeige. Schilder berichtete selbst, wie er dem Obristen Hagemeister, Vormund des kleinen Ceumern, die Versicherungsschrift übergab, wegen einer Contribution aber seinerseits vertröstet wurde und vertrösten musste. (Brief 36 vom 18. Januar 1780, Bl. 1 v. f.). Ebd., S. 281. Diese Meldung schien manche das Ende der Anstalt glauben zu machen. Schilder erwähnte im März 1780, er habe der Gräfin Sievers ihre Sorge wegen der „kurzen Beständigkeit der Anstalt“ (Brief 43, Bl. 2 r.) nehmen müssen.
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In diesem Sinne erhielt Schilder sodann ein Lob augesprochen: „Wenn das Institut das Glück genösse, sechs solche Freunde in sechs solchen Ländern zu haben, als S. in R. ist, so bedürfte es für Unterstützung und Fundirung ganz unbekümmert sein. Sie erfolgte gewiß.“94 Andererseits stieß die Mitteilung über eine mögliche Verringerung der Pensionistenzahl und Erhöhung der Pension auf Unverständnis: „Die Drohung [...] hat hier manchen geschreckt, unter andern dH. Gen: v. Roenne; ich habe ihn indeßen beruhigt damit daß es wohl nöhtig wäre zuweilen die Trommel zu rühren um die eingeschläferte Thätigkeit und Würcksamkeit fur die Gute Sache zu erwachen.“95 Man machte sogar einen entgegengesetzten Vorschlag: „Sehr wünscht man hier, daß das Institut sich noch nur um 10 Pens erweitern könnte. Berahten Sie Sich doch mit Ihren Collegen wie dieses wohl einzurichten wäre.“96 Das Ansinnen, des „Herr[n] S. mit Einigen seiner edlen Landsleute“, die Kapazität „von außen“ zu überschreiten, wurde mit Verweis auf „Raum, und das Mas unsrer Kräfte und Sorgen“ in der Märzausgabe des Philanthropischen Journals abgeschlagen.97 War eine pauschale Erhöhung der Pensionistenzahl zugunsten von Liv- und Kurländern nicht möglich, so drängte Schilder immer wieder darauf. In einem konkreten Falle sah er sogar sein Ansehen in Gefahr. Die Geschichte zog sich über lange Zeit hin. Nach dem Tod seiner ersten Frau wollte Schilder seine anderen beiden Söhne nach Dessau bringen. Er war aber auch nicht so begütert, daß er die Reisekosten tragen konnte. So versuchte er, sich anderen als Reiseführer anzuschließen, um somit die Kosten zu halbieren oder ganz einzusparen. Da kam ihm gelegen, daß der Vormund eines von Ceumern, Hagemeister, Schilder die freie Reise in Aussicht stellte.98 Mitgehen sollten auch die zwei Söhne der Gräfin Sievers aus erster Ehe, zwei von Schwengelm.99 Bereits im Juli 1779 hatte er von der Gräfin den Auftrag erhalten, nach Plätzen zu fragen.100 Nach Manipulation sieht es aus, was Schilder danach mitteilte: Von Schwengels Eltern will ich die Hofnung ihre Kinder künftiges Jahr im Institut zu placiren, noch nicht bekannt machen, weil ich diese Plätze lieber jemand anders gönne, der sich positiv
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Philanthropisches Journal, 2. Quartal, 3. Jg., 1780, S. 284. Brief 42 vom 1. und 12. März 1780, Bl. 1 v. Ebd. Philanthropisches Journal, 3. Quartal, 3. Jg. S. 434f. Brief 43 vom 11. März 1780, Bl. 2 r.: „Ceumerns Vormund wünscht auch von der Gelegenheit durch mich gebrauch machen zu können und so hätte ich freye Hin und Herreise.“ Das war übrigens nicht die einzige Möglichkeit, die Schilder in Erwägung zog, umsonst zu reisen. 99 Ebd., Bl. 1 v. 100 Brief 21 vom 3. und 7. Juni 1779, Bl. 1 r.: „Für zwey junge von Schwengels Stiefsöhne des Grafen von Sievers habe ich den Auftrag Plätze zu bitten im Institut, sie sind 6 und 8 Jahre alt und mögten innerhalb ein Jahr überkommen können, weil die Mutter künftigen Jahr ihrer schwachen Gesundheit wegen ins Bad gehen will.“
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nächstens entschließen wird, es ist nämlich H. Zuckerbecker der seine beyden ältern Söhne gerne künftiges Jahr ins Institut geben mögte.101
Nach einiger Verschiebung erhielt die Gräfin ihre Zusicherung102 gemeinsam mit dem Sekretär Stoever, dessen Sohn dann doch nicht geschickt wurde. Schilder übergab die Versicherung der Gräfin, die noch im selben Jahr ihre Kinder im Philanthropinum untergebracht sehen wollte,103 wenngleich sie für das nächste Jahr vorgesehen waren.104 Nun fragte Schilder, ob er nicht seine Kinder und einen Ceumern mitbringen könne, und darum nicht eine Ausnahme zu machen sei: „Ists nicht möglich daß das Institut ihre fest gesetzte Zahl von 50 über schreite? Sollte nicht für dieses mahl mit diesen dreyen eine Ausnahmen zu machen seyn?“105 Die Bewilligung einer schnellen Annahme der Schwengelms und von Ceumerns zog sich aber hin.106 Schilder beschwor nun Neuendorf, eine Ausnahme zu machen: „Sollte es 101
Brief 24 vom 3. und 21. August 1779, Bl. 1 v. Eine richtige Zusicherung konnte Schilder nicht geben, er hatte entweder wieder ein Kontingent bekommen oder zählte die Pensionisten eifrig mit, so daß er einen Überblick über potentielle Leerstellen hatte. 102 Philanthopisches Journal, 2. Quartal, 3. Jg., 1780 (Januar), S. 287: „Den beiden jungen Herrn von Schw — und dem Sohne des Herrn S. St — r in L. werden durch unsern philanthropisch thätigen Freund Schilder in Riga Versicherungsschriften zugesandt werden, daß sie die nächsten unvergebenen Stellen erhalten.“ – Vgl. Brief 40 vom 22. Februar 1780, Bl. 1 r.: „Seitdem habe ich der Frau Gräfin von Sievers für ihre beyden Söhne erster Ehe Jacob Eberhard von Schwengelm alt 8 Jahr und Gothard George – alt 6 1/2 Jahr eine Versicherungs Schrift für die nächsten vacancen gegeben.“ 103 Ebd., Bl. 1 r.: „Sie wünschte sehr diese Kinder balde im Institut laiirt zu wißen, und ich vereinige meine Wünsche mit den ihrigen, daß es noch in diesem Jahre geschehen mögte“. Schilder kündigte seinen „Vortheil, [...] meine Kinder franco reise Kosten zu überbringen“ an. 104 Dies geht aus einem Brief der Gräfin (Rel. Phil.III, 1, 18, Bl. 1–2) hervor, der zugleich einen Einblick gibt, wie Schilders Rolle verstanden wurde: „Wohlgebohrner Herr Hoch zu Ehrender Herr Professer Vor ungefehr acht Monathen sind ein paar junge Herrn von Schwengelms durch den Herrn Schilder unter der glücklichen Zahl Ihrer Zöglinge aufgenommen worden. Sie gehören aber zu denen die aufs kommende Jahr Prenumerirt haben. Jetzt erzeugen Ew. Wohlgebohren einer Kranken Mutter die einzige Bezeigung und zugleich die größte Freundschaft wenn Sie diese beyden Kinder als Surnummerais so lange ins Institut nehmen wollten bis sie complet werden. Der Herr Schilder hatte es mir versprochen im Fall er der Führer meiner Kinder sein würde da aber meine Gesundheit sich so weit beßerte das ich im Stande wahr die Reise hir her zu thun entschloß ich mich meine Kinder selbst den Institut zu übergeben. Ich bin hir um mit den hiesigen aerzten zu consoliren daher es mir unmöglich ist meine Kinder bey mich zu behalten; haben Sie daher die Güte und melden mir was ich von Ihrer Freundschaft Hoffen kann. Im übrigen habe die Ehre mit der Volkommensten Hochachtung zu sein Ew. Wohlgebohren ergebenste Dienerin J: Gräfin Sievers Gebohrne Gräfin Manteuffel“ Geschrieben wurde dieser Brief offenkundig im Herbst in Berlin, wo sich die Gräfin nach Schilders Zeugnis aufhielt, als er von Dessau auf dem Weg nach Riga war. 105 Brief 40 vom 22. Februar 1780, Bl. 1 v. 106 Brief 44 vom 21. März 1780 an Neuendorf, Bl. 1 r.
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nicht für unsere Lievländer, die sich so thätig für die Erhaltung des Instituts betragen haben und noch betragen werden, sollte das Institut nicht für uns ein effort thun können und drey übercomplete Pensions noch in diesem Jahr aufnehmen können?“107 Wolke hatte ihm vorher mitgeteilt, man sei „verbunden [...] nach der Gerechtigkeit 10 Supernumerairs aufzunehmen“, doch möge Neuendorf sich im Rat „wegen der Verbindlichkeit gegen die Lievländer“108 für Schilder einsetzen. Nachdem die Einwilligung kam,109 gab es wahrscheinlich finanzielle Schwierigkeiten bei den von Sievers.110 Inzwischen war Schilder mit seinen Söhnen, Ceumern, Thiringk und Olivier in Dessau gewesen.111 Vorher hatte Wolke eine Privatpension bei der Familie Steinacker ausfindig gemacht, in der Schilders jüngster Sohn untergebracht werden konnte.112 Im Oktober dachte Schilder daran, die beiden von Schwengelm und den kleinen Sievers, der hinzugekommen war, auch bei Steinackers unterzubringen und schlug obendrein noch einen Privataufseher vor,113 nachdem er in Berlin mit der Gräfin gesprochen hatte.114 Denn sie hatte das Eintrittsgeld schließlich schon an Schilder gezahlt.115 Diese Idee nahm er – entweder aus Rücksicht auf den Stand oder besserer Kenntnis116 – nun zurück und beschwor Wolke am 28. Oktober: Ich war bey der Fr. Gräfin gewesen, und fand sie nicht wenig verlegen über die Antwort die Sie ihr gegeben. Gewiß Freund aus Vertrauen zu Ihnen kömmt sie in Verlegenheit. Sie müßen sie also dienen und ihre und des Grafen Sohn annehmen. Auch um meinetwillen bitte ich Sie sich diesmahl zu überwinden. [...] aber gewiß würde ich leiden wenn diese Kinder nicht jezo angenommen würden, da sie ohnehin schon die Versicherung dazu hatten, wenn sie mit mir gekommen wären. Liebster Freund Ihr refus bey dieser Gelegenheit würde mein Ansehen, in Betracht meines Credits beym Institute, mindern bey meinen Landsleuten.117
107 108 109
Ebd., Bl. 1 v. f. Ebd., Bl. 2 v. f. Brief 45 vom 2. und 13. Mai 1780 an Neuendorf, Bl. 1 v.: „Aus des Herren Director Wolke Schreiben vom 16ten April und dem darauf folgenden habe ich mit einiger Freude vernommen, daß das Institut aus Liebe und Freundschaft für mich in mein Anliegen williget die beyden vSchwengelm und vCeumern gegen diesen Michaelis nach Dessau zu bringen.“ 110 Brief 46 vom 20. Juni 1780, Bl. 1 r.: „ich muhtmaße, daß es am Besten fehlt“. 111 So geht es aus Brief 48 vom 22. Juli 1780, Bl. 1 r. hervor. Schilder wollte mit seiner Gesellschaft schon abreisen, man blieb aber wegen seiner Amtsbewerbung noch in Riga. Brief 50 vom 26. August ist der letzte vor der Abreise. 112 Ebd. 113 Ebd., Bl. 1 v. f. 114 Die Gräfin Sievers deutete wohl aus finanziellen Gründen ihr Einverständnis an, die Kinder in einer Privatpension untergebracht zu sehen, bis Plätze frei würden. 115 Brief 51 vom 21. Oktober 1780, Bl. 1 v.: „und für die ich auch bereits das Eintritsgeld empfangen habe“. 116 Brief 52 vom 27. und 28. Oktober, Bl. 1 r.: „Ich warf in Eyl [...] meine Gedanken dahin, und machte mir nachhero selbst Einwürfe daß die Kinder der FrGräfin sich nicht wohl mit denen übrigen dH Steinacker paßen würden, daß es schwer halten müßte einen tüchtigen Lehrer und Aufseher aufzubringen u andere Einwürfe mehr [...]“ 117 Ebd., Bl. 4 v.
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Schließlich sollte der Zustimmung noch die volle Pension118 und ein Geschenk folgen.119 Schilder machte auf vermeintliche Konsequenzen nochmals aufmerksam: „Selbst finde ich bey diesem refus Gefahr fürs Institut in der Folge, ich kann und mag mich daüber nicht weitläufig schriftlich erklären.“120 Am 31. Oktober wiederholte Schilder seine Bitte nochmals,121 bis er sich am 7. November 1780 für die Einwilligung bedankte.122 Damit war Schilders Ansehen wahrscheinlich wieder gerettet und das des Instituts nicht beschädigt. Sicher ist jedoch eines: spezielle Ankündigungen neuer Pensionisten, deren Eltern er eine „Contribution auferlegte“, gibt es in den Briefen von 1781 bis 1784 nicht mehr. Eventuell war der Kreis potentieller Interessenten im wesentlichen erschöpft. Zu bedenken ist, daß Schilder mit einem Teil der Elternschaft verwandt war, einen anderen Teil unter seiner Zunft fand. Darüber hinaus wäre auch das Alter der Zöglinge im Verhältnis zur Dauer ihres Aufenthalts in Beziehung zu setzen. Denn im Philanthropischen Journal vom April 1779 wurden neue Kriterien bezüglich des Alters aufgestellt. Danach sollte ein Pensionist „nicht jünger als 6 Jar (da er selbst sich anzihen und auszihen kan) und nicht älter, als 12 Jare seyn“.123
5. Schilders Sorge um Ansehen und Bestehen des Philanthropinums Schilder äußerte seinerseits nicht geringen Stolz auf seine Vermittlertätigkeit und sagte von sich im August 1778 mit einiger Übertreibung: „Ich habe wohl meinen Landsleuten den Weg nach Dessau zuerst gezeigt“.124 Nicht zu verkennen ist, daß Schilder auch an seiner Rolle – als sozialisierendem Faktor – arbeitete. Das brachte er ganz bewußt zum Ausdruck: Gestern vernam ich daß 3 jungen H von Gavé lief. Edelknaben, mit ihrem HofMeister hier durch nach Dessau gereiset wären, in wie weit dieses gegründet, werde ich heute umständlicher
118
Wahrscheinlich dachten die Sievers, daß die Privatpension billiger ausfallen würde und machten dieses Angebot unter neuer Sachlage. 119 Ebd., Bl. 5 r f. 120 Ebd., Bl. 5 v. 121 Brief 53, Bl. 1 r. 122 Brief 54, Bl. 1 r. 123 Philanthropisches Journal, 3. Quartal, 2. Jg., 1779 (April), S. 455. Diesem Aspekt kann hier nicht detailliert nachgegangen werden. Aber wenn in der Literatur von einer starken Landsmannschaft im Jahre 1783 die Rede ist, so sollte man bedenken, daß die Anmeldungen, soweit wir eben bei Schilder sehen, weniger wurden, was perspektivisch auch die baldige Abnahme dieser Stärke bedeutete. Es spricht nichts dagegen, daß wenigstens einige Lehrer das schon erkannt hatten. 124 Brief 8 vom 1. und 12. August 1778, Bl. 2 v., wiederholt in Brief 15 vom 23. März und 3. April, Bl. 4 v.: „Was für Freude ich empfinde, meinen Landsleuten den Weg nach dem vortrefflichen Dessau zuerst gewiesen zu haben, kann ich nicht mit Worten ausdrücken.“
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zu erfahren suchen; es wundert mich daß sie sich nicht bey mir gemeldet haben, da ich im ganzen Lande für den Vertrauten des Instituts das Glück habe bekannt zu seyn.125
Vorher hatte er bei Wolke angefragt, ob ihm ein von Igelströhm aus Livland angetragen worden sei.126 Igelströhm hatte ganz unabhängig von Schilder im Juni 1779 wegen seines Sohnes angefragt.127 Bezeichnend ist, daß Schilder Igelströhms Beziehung zum Philanthropinum über sich vermittelt sehen wollte, was ihm wenigstens zum Teil auch gelang.128 In der Folge seiner Tätigkeit verknüpfte sich bei seinen Landsleuten sein Ansehen mit dem Ansehen des Philanthropinums, wie wir schon im Falle der Gräfin Sievers gesehen haben. In diesem Zusammenhang muß man die Hinweise und referierten Meinungen anderer sehen, so sachdienlich sie auch per se und für das Philanthopinum besonders waren, konnte man sich auch über das Bild der Anstalt nach außen von Schilder ins Bild gesetzt sehen. Schilder machte sich Gedanken um die generelle Perspektive des Instituts. Er griff nochmals den europäischen Gedanken aus der Gründerzeit des Philanthropins auf, um seine Realisierung dann doch in Frage zu stellen. So schrieb er im August 1778 an Wolke: Nun zweifele ich gar nicht an der Erhaltung des Instituts zum Nutzen einzelner gutdenkender Familien, aber wohl, an der Vollkommenheit um eine allgemein nützliche Sache für Europa zu werden, denn dazu wird mehr Thätigkeit vom Publico erfodert, als es noch bis hiezu gezeigt hat.129
Sodann widmete er sich gleich darauf der Frage, ob die Lehrerschaft ausreichend sei. „Wird es aber nicht nothwendig seyn noch einige Mitarbeiter und Lehrer anzuschaffen, um die durch nicht vorherzusehende Zufälle abgehende gleich zu ersetzen?“130 Dieser Gedanke beschäftigte ihn späterhin noch, als er befriedigt fest-
125
Brief 22 vom 9. Juli 1779, Bl. 2 v. Es ist übrigens möglich, daß ein Kenner anhaltischer Geschichtsquellen wie Ludwig Grote in seinem Buch über die Brüder Olivier sich an diese Stelle wörtlich anlehnte, als er Schilden „Vertrauensmann“ des Philanthropinums nannte. (Die Brüder Olivier und die deutsche Romantik, Berlin, 1999 (Neuaufl.), S. 8.). 126 Brief 21 vom 3. und 14. Juli 1779, Bl. 1 v. Igelström hatte sich unabhängig von Schilder an das Institut gewandt, Brief vom 20. Juni 1779, Rel. Phil. IV, 2, 2. 127 Rel. Phil. IV, 2, 2, Bl. 1, Brief vom 20. Juni 1779. 128 In Brief 32 vom 23. November und 4. Dezember, Bl. 2 r. schrieb er schon: „An H. v. Igelström erinnere ich mich nicht von Ihnen ein Schreiben erhalten zu haben, und ists ja gewesen, so habe ich es gewiß befördert; heute sante ich ihm Ihr neuers und bat ihn zugleich, mir zu antworten ob er sich der künftigen vacance durch avancirung des halben oder ganzen Eintrits Geldes versichern wolle, so würde ihm ein Certificat schicken.“ In Brief 34 vom 4. Dezember 1779 erwähnte er, daß Igelström um eine Versicherungsschrift bitte, die er ihm zuschicken wolle. Bemerkenswert ist, daß Igelström selbst im September beim Institut nachfrug (Rel. Phil. IV, 2, 2, Bl. 2 r.), warum er noch keine Antwort auf seine Anfrage nach einem Platz habe. Er vermutete dabei, sein Brief habe den Adressaten nicht erreicht, was man nicht ausschließen sollte. Wie die weitere Vermittlung über Schilder dann in praxi verlief, läßt sich nicht nachvollziehen. 129 Brief 8 vom 1. und 12. August 1778, Bl. 1 r. 130 Ebd.
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stellte: „So ungern ich vernehme, daß Lehrer abgehen eben so angenehm ists indeßen zu vernehmen, daß die Stellen wieder gut besezt werden.“131 Betroffenheit bei den Livländern teilte Schilder mit, als der Weggang Trapps nach Halle bekannt wurde: Trappens Abgang kränckt uns sehr, ists gewiß daß er abgeht? Sollte dem nicht zu vorzukommen seyn? Muß denn Trappe dem ruff des König unwiederstehlich folgen? Wenns aber Trappens eigener Wille ist, das Institut wegen Verbeßerung äußerlichen Vermögens zu verlaßen, so muß seine Liebe fürs Institut sehr kallt seyn. Wie sehr wünschen wir daß Trapp beym Institut bleibe. Mancher sagt, wie wenn die guten Lehrer so balde davon gehen, wie kann die Sache lange bestehen, daraus entsteht dann allmählig Kalltsinn und Gleichgültigkeit für die Erhaltung des Instituts.132
Persönlich wollte Schilder es nicht wahrhaben, als Neuendorf vorläufig abging: Sehr lieber Freund! So soll denn unser Briefwechsel bald ganz gehoben werden! – Sie verlaßen das Institut, Ihre Zöglinge! – lieber Freund wie können Sie diese Trennung über Ihr Herz bringen, so wohl in Ansehung Ihrer Selbst, als der guten Sache wegen! – Dencken Sie wie nachtheilig im Publico der Abgang solcher würdiger Männer wie Sie dem Institut seyn müßen!133
Und er fügte, was jedenfalls in Schilders Umgebung nicht nachvollziehbar ist, hinzu: „solche Fälle sind schon öfter gewesen.“134 Auch die Abgänge von Pidoux135 und Salzmann136 bedauerte er. Bei Campe, wohl weil er abgegangen war, hatte Schilder Bedenken, wenn es um den guten Ruf des Philanthropinums ging. Er teilte Wolke im August 1778 mit, daß der Baron von Mengden sich in Hamburg die Meinung des ehemaligen Kurators einholen wollte. Mit Unterton fragte er: „Sind Sie Campens Freundschaft und Aufrichtigkeit gewiß?“137 Brüskiert mußte Schilder zur Kenntnis nehmen, was ihm der für Schreiben und kaufmännisches Rechnen zuständige Huot, den er noch nach seinem zweiten Auf-
131 132 133 134
Brief 66 vom 27. November 1781, Bl. 1 v. Brief 12 vom 23. Januar und 3. Februar 1779, Bl. 5 v. f. Brief 45 vom 2. und 13. Mai, Bl. 1 r. Ebd. Unklar ist auch, weshalb sich Schilder gegen den Zeichenlehrer „Dr. Med. Samson, Israelit und geliebter Freund der kleinen Philanthropisten“ (Pädagogische Unterhandlungen, 12. Stück, 1778, S. 598) wandte. In Brief 54 vom 7. November 1780, Bl. 1 v. legte er einen besseren Lehrer nahe. Schon vier Tage später hieß es dann: „Nun haben Sie den schlechten Charakter des Juden Samson in seinem rechten Licht gesehen, wollen einen so schlechten Menschen länger beybehalten? – Nein – ich bitte Sie entledigen Sie Sich dieses elenden Menschen und ZeichenMeisters, gewiß er macht dem Institut Schande. Die Kinder profitiren ja auch nichts bey ihm, wenigstens kommen sie nicht weiter als sie sind.“ 135 Brief 31 vom 13. November 1779, Bl. 1 v. Pidoux teilte in einem lateinischen Brief Wolke mit, daß das Leben am Philanthropinum zu seiner bisherigen gewohnten zu groß sei, und auch seine Naturanlagen und die Sorge um seine Gesundheit ihn nicht länger am Institut hielten, Rel. Phil. III, 7, 23, Bl. 7 r. 136 Brief 79 vom 5. November 1782, Bl. 1 v. 137 Brief 9 vom 15. und 26. August 1778, Bl. 1 v.
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enthalt hatte freundlich grüßen lassen,138 nach seinem Abgang „sub rosa“ mitzuteilen hatte. Schilder machte voller Besorgnis, Huot werde seine Meinung auch noch anderswo mitteilen, wo man das Institut nicht selbst gesehen, einen Auszug, der hier vollständig wiedergegeben werden soll, weil auch scheinbar belanglose Dinge wichtig für den Gesamteindruck sein konnten. extracte. Sosehr ich mich Ihrem Wunsche gemäs bestrebet habe, Dero ältesten Sohn im Schreiben weiter zu bringen, so ist es doch bis hieher fast keine Möglichkeit gewesen, es wundert mich selbst, daß er noch so viel profitirt hat, ich fürchte aber, daß er daßelbe wenige wieder verlernen wird: ich habe bey dem Unterricht im Schreiben recht viel ausgestanden und obgleich ich öfters meine gründlichen Beschwerden angebracht, so hat man doch wenig darauf geachtet. Im Winter kommen mir die Kinder ganz verfroren und oft nachdem sie sich brav geschneebält haben in einem auditorio welches schlecht geheizt und oft versäumet wird, und wo, weil das Gebäude baufällig ist, alle Winde durchblasen. Klebe ich die unerträglichen Luftlöcher zu, so reißen solche die Kinder wieder los, nachdem meine Stunden vorbey sind, und wie oft habe ich nicht im Winter Thüre und Fenster offen gefunden. Das geschieht im Winter. Im Sommer kommen sie mir wieder ganz echaufirt, einige ganz naß wie ausm Waßer gezogen (worunter Zimmermann und Manteuffels starcke Maitres). Dieses rührt von den Gymnastischen Künsten her, wo sie fast ausm Athem laufen und springen müßen, Herr Dutoit läßt sie auch mit angespannten Armen Gewichte, so viel als nur die Kinder tragen können (und hiebey greifen sie sich mehr an als in der Schreibe Stunde) tragen. Die meisten Kinder haben also nicht nur von Frost dicke, sondern auch zitternde Hände, woüber noch heute ihr Sohn klagte, da ich ihm das Tadelhafte an seiner Schrift zeigte. Kurz ich bin 3 Jahr im Institute gewesen, und ich habe die Anmerckung gemacht, daß die stillen folgsamen Kinder die dahin kommen, je länger je schlimmer werden. Es sind auch so viel räudige Schafe darunter, daß es wohl nicht anders seyn kann. Ich bin also nicht allein aus dieser sondern noch aus mehrer Ursachen, die ich Ihnen mahl zu schreiben die Ehre haben werde, der Sache so satt geworden, daß ich am Ende dieses Monats nach Berlin ziehe, u daselbst mit allerhöchster Genehmigung des Königs eine Ecole de Commerce errichte.139 In dieser Schule wo stündlich nur 2 höchst 3 angenommen werden – denn der große Haufe wäre schädlich, wohl nicht in Ansehung meines profits, aber für die Jugend selbst – dergestalt, daß ein junger Mensch, ohne vorher Lehr Jahre auszustehen, im Stande gesezt wird, im Comtoir mit Vergnügen aufgenomen zu werden. Kinder die mir aus der Fremde zugesandt werden mögten, werden in Berlin in honette französische Häuser repartirt, von wo sie mir durch honette Domestigen zu gebracht und wieder abgeholt werden. Die Pension möchte etwann in allem mit Unterricht 150 rt jähr kommen ppp [Randbemerkung:] dieses bleibet sub rosa, nehml des Nachtheiligen wegens des Institut, denn ich bin nicht willens, daßelbe einen bösen Nahmen zu geben Vielleicht verbeßern sie sich auch im Philantropin, sie haben einen geschickten Lithurge erhalten. Es wäre gut wenn sie auch zu gleicher Zeit einen guten preußischen Unterofficier bekommen hätten ppp Nun empfehle ich mich Ihnen bestens u bitte nochmahls um Bewahrung des Geheimnißes. Es ist im Institut dafür gesorgt, daß meine Stelle wieder gut besezt wird, ich habe das meinige so viel ich gekonnt beygetragen. 138
Brief 51 vom 21 Oktober 1780, Bl. 1 r.: „Herrn Huot diesen braven Lehrern im kaufmännischen Fach grüßen Sie doch von mir, entschuldigen Sie mich daß ich ihm nicht ein Abschieds Compliment gemacht habe“. 139 Huot trug sehr stark auf und wohl eher seine Wünsche vor. Er trat in Berlin bei Siede in dessen Handelsschule ein. Hierzu: Gilow, Hermann, Das Berliner Handelsschulwesen des 18. Jahrhunderts im Zusammenhange mit den pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit dargestellt (Monumenta Germaniae Paedagogica 35), S. 81ff. Für die schnelle Literaturrecherche und Bereitstellung von Kopien danke ich Frau Dr. Annette Gerlach und Frau Prudellek, Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
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apropos wegen linien: die Erfahrung von einigen 15 Jahren hat mir gelehrt, daß beym Privat Unterricht es wohl angehen kann, 2 oder 3 Kinder von 8 o 9 Jahren ober ohne Linien schreiben zu lernen, nicht aber eine große Menge, besonders in einer Klage Schule, und versuchen Sie es, nehmen Sie 2 Kinder, dem einen ziehen Sie Linien, dem andern keine, alsdenn wollen wir sehen wer die Meiste Lust zum Schreiben haben wird, und alle meine Scholaren, deren ich vielleicht tausend gehabt habe, haben hernach recht schön und gerade auch beßer wie ich geschrieben.ppp Deßau der 12te May [Randbemerkung:] Seyn Sie versichert, daß ich keinen Menschen meine Gesinnungen so eröffnen werde als ich sie Ihnen zu decouviren für nöthig erachtet habe.140
Erfreut war Schilder, wenn er überwiegend positive Eindrücke anderer weitergeben konnte. Ich habe H. Doctor Schlegeln seit seiner retour gesprochen, er ist sehr mit Ihrem Institut zufrieden, von Ihren Metoden sagte er, sie wären die einzigen und besten besonders in Sprach Erlernung die mit Sachkenntnißen zugleich verbunden wären. Er meinte aber daß die Erziehung was zu frey nämlich nicht subordonnirt genug wäre, ich machte ihm Einwendungen, er erwiederte aber, daß H. Busching ihm solches auch angemerckt hätte, welcher aus denen dort hingekommenen Philantropisten die Bemerckung will gemacht haben. Alle diese Bemerckungen sollen uns hier nicht irre machen; 12 zu diesem Geschäfte, sich fast gänzlich, gewidmete Männer würden dem Mangel schon abhelfen, wenn sie einst für die ihnen anvertraute Jugend, aus der Herzen Erziehung, unglückseelige Folgen absähen. Dies besorgte H Schlegel. [...] Welche Freude ich habe, nichts als Bestätigungen des rühmlichen, so ich vom Institut von Anfang an hier verbreitet habe, zu vernehmen, kann ich Ihnen nicht beschreiben. Mein Herz hüpft für Freude. Besonders das Urtheil des ersteren, das für competent angenommen wird. H Schlegel rümte sehr die cöperl. Erziehung, die ihm aus dem Äußeren der Jugend sehr ins Auge gefallen.141
Besorgnis erregte bei Schilder und seinen Freunden Schummels „Spitzbart“, „eine feine Satyre auf Basedow, seines gleichen und wohlgar findet mancher Antiegoniste des Instituts, darinnen Anspielungen auf denen Methoden Ihres Instituts“.142 Es wirft sein eigenes, hier unkommentiertes Licht darauf, welche Literatur konsumiert und für gefährlich erachtet wurde.143 Jedenfalls gab Schilder zu verstehen: Wir Freunde des Instituts, wünschten sehr, daß das Institut darüber etwas in ihrem Journal sagen mögte, viele sind neugierig zu sehen wie das Institut sich dabey nehmen werde. Es ist witzig geschrieben, und manches ins Lächerliche tourniert, und nichts ist gefährlicher bey der Critic als wenn ihm eine lächerliche Wendung gegeben wird; ernsthaft muß das Institut sich nicht zu rechtfertigen angelegen seyn laßen, böse muß es auch nicht dabey werden; kurz das Institut
140
Brief 63 vom 12. Mai [1781] Der Brief ist bei Franke, Aus dem Nachlasse des Philanthropins, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 1893, S. 631 nur zum Teil wiedergegeben. Eine Reproduktion oder das Original der Pädagogischen Blätter von 1892 stand mir nicht zur Verfügung. 141 Brief 79 vom 5. November 1782, Bl. 1 v. f. 142 Brief 32 vom 23. November und 4. Dezember 1779, Bl. 1 v. 143 Im gleichen Brief, Bl. 3 v., ging ihm die Sache immer noch im Kopf herum: „Aber der verdammte Spitzbart – ich verlange von Ihnen sehr zu vernehmen, wie Sie daüber urtheilen und was das Institut dabey thun werde. Vor allem behutsam, nicht geeifert. Mit den Witzlingen muß man mit lachen wenn man nicht ihr Spott werden will.“
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wird sich mit Behutsamkeit vertheidigen müßen; denn ganz stillschweigen kann es nicht dazu. Sorgen Sie dafür, daß im Nächsten quartal darwider etwas erscheine.144
Wolke schrieb zunächst dazu etwas nach Livland, „so wies echte Freunde des Instituts auch hier vernommen haben. Schön wäre es indeßen, wenn, so etwas daüber im Journal erschiene“.145 Tatsächlich erschien im Philanthropischen Journal eine Besprechung des Schummelschen Buches.146 Für Verwirrung sorgte die Schrift eines gewissen Moritz, die von Schilder mit dem Prädikat „patriotisch“ versehen wurde.147 Schilder schickte sie Wolke zu und pochte auf eine Widerlegung in den Unterhandlungen,148 die aber offenkundig ausblieb149. Diese Schrift hatte anfänglich solche Wirkungen, daß Schilder, zwar übertriebene Besorgnis einräumend, anregte, die Spenden aus Livland künftig ohne Namen und Vaterland der Geber anzuzeigen. „Die Schrift des H. Moritz könne hie und da Beyfall finden, und in der Folge könne es die Regierung aufmercksam machen.“150 Doch im Gefolge von Wolkes Antwort beruhigte sich auch Schilder: „Er ist schon wieder vergeßen, und es scheint nicht, daß er proseliten gemacht habe“; der Baron von Wolff habe schon wieder Plätze beantragt.151 Daß man auch aus Briefen von Philanthropisten einen ungünstigen Eindruck gewinnen könne, veranlaßte ihn, Wolke über einen solchen zu unterrichten: Sacken schreibt seinen Eltern, die Lehrstunden: v 8–9 Lesen, 9–11 Franz 11–12 Gimnastische (soll es wohl seyn, er aber schreibt Jynastische Ubungen Donnerst: &Freyt: Tanzen. 11–12 Uhr Eßen, 1–2 frey, von 2–3 schreiben von 3–4½ franz von ½ 5–5 vesperbrod, von 5–6 frey, um 7 Eßen.152
Schilder fügte hinzu: „Liebster Freund, wenn dieses irgend ein Feind des Instituts hört, findet er nicht Stof, es zu verläumden und zu sagen: die Kinder lernen höchstens etwas Schreiben, lesen und französisch und den größten Theil des Tages gehen sie spazieren, wie denn hier und da noch so mancher seichte Kopf aus neidi144 145 146 147
Ebd., Bl. 1 v. f. Brief 36 vom 18. Januar 1780, Bl. 2 v. Philanthropisches Journal, 4. Quartal, 3. Jg., S. 555ff. Mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich dabei nicht um ein Pamphlet von Carl Philipp Moritz, wie auch Franke, (wie Anm. 4), S. 135 angenommen hatte. Vielmehr liegt es nahe, daß der Verfasser Johann Friedrich Christian Moritz (1741–1795) war. Moritz war 1766 Konrektor in Dorpat und von 1780–1789 Rektor des Lyzeums und Diakon an der Jakobskirche in Riga. 1780 erschien seine Schrift Gedanken über die Versendung der vaterländischen Jugend in auswärtige Schulanstalten, auf die sich Schilder hier wohl bezieht. Den klärenden Hinweis auf hier genannten Moritz und seine Schrift danke ich Herrn Dr. Christoph Wingertszahn, durch freundliche Vermittlung von Dr. Michael Niedermeier. 148 Brief 57 vom 28. November 1780, Bl. 2 r. f. 149 Wolke hatte allerdings dazu etwas nach Livland geschrieben, Brief 59 vom 3. Februar 1781, Bl. 1 r.: „Was sie wegen Moritzens Phantasie sagen, ist just was wir dabey gedacht haben und denken“. 150 Brief 58 vom 16. Dezember, Bl. 2 r. 151 Brief 59 vom 3. Februar 1781, Bl. 1 v. 152 Brief 20 vom 12. Juni 1779, Bl. 1 r.
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schem Herzen, öffentlich urtheilt“.153 Mit einiger zeitlicher Verzögerung reagierte das Institut im Philanthropischen Journal vom Januar 1780: „Einige Eltern unsrer Zöglinge scheinen einer Erklärung zu bedürfen, was der sehr kurze Ausdruk ihrer Kinder heiße: eine Stunde im Lesen, im Französischen oder Lateinischen haben. Diese sol im nächsten Quartale erfolgen.“154 Die Erklärung aber blieb aus. Ein an heutige Zustände erinnerndes Phänomen war die Einführung einer neuen Rechtschreibung in den Pädagogischen Unterhandlungen.155 Das wurde von Schilder bemängelt, wobei er das Ansehen des Instituts mit ins Spiel brachte: sollten Sie selbige im Institut einführen wollen, so glaube ich, daß diese Neuerung dem Institut mehr schaden als nützen würde. So gegründete Ursachen Klopstock und andere seines Gleichen in dem Punkt der jezigen orthographie auch haben mögen, selbige zu verdammen, so glaube ich ists zuviel gewagt die einmahl eingeführte Schreibart einer Nation um schaffen zu wollen. Ich bin zwar kein Gelehrter um erhebliche Einwürfe dawieder zu machen alhier mir wiedersteht diese Neuerung und ich halte es dem Institut für sehr zuträglich deralten Gewohnheit zu folgen. In der Abänderung ja sogar so weit zu gehen, daß man in der neuen rechtschreibung ganz von denen Stamwörtern (nach denen man doch die rechtschreibung gründen müßte) abweichen will, wiedersteht mir Ungelehrten alzu sehr, um derselben meinen Beyfall zu geben, jedoch der ist zwar von keiner Bedeutung, aber ums Himmelswillen bleiben Sie bey der allgemeinen Orthographie, man mögte es dem Institut leicht nachtheilig auslegen, so wie mancher sonst geschrieben hat, man wollte in demselben eine neue religions Secte stiften.156
Schilder hatte Augenmaß für die Akzeptanz der neuen Rechschreibung und den Absatz der Unterhandlungen und anderer Schriften gezeigt. Daß bereits das folgende Quartal des Philanthropischen Journals wieder in altgewohnter Weise erschien,157 quittierte er mit Beifall. Denn wäre dieser Schritt unterblieben, hätte es wo nicht dem Institut doch ihren Schriften viel Schaden gethan, mancher sagte mir: ich mags nicht mehr lesen, so unangenehm ist mir diese ihre neue Orthographie. Das Institut wäre noch zu neu um so allgemeine Reformation in der teutschen Rechtschreibung vorzunehmen.158
Es gab auch andere Kriterien, die das Ansehen des Philanthropinums schädigen konnten. Diese greifen freilich in die Anforderungen der, besonders moralischen, Erziehung über. Dabei spielt es weniger eine Rolle, was die Pädagogen ihren Zöglingen im einzelnen vermitteln wollten. Was die Eltern von ihren Kindern verlangten,
153 154 155
Ebd. Philanthropisches Journal, 2. Quartal, 3. Jg., 1780 (Januar), S. 289. Philanthropisches Journal, 2. Quartal, 2. Jg., 1779 (Januar), S. 295ff. ist der entsprechende Artikel „Neue Rechtschreibung der deutschen Sprache für die junge Mitwelt und Nachwelt“. 156 Brief 12 vom 23. Januar und 3. Februar 1779, Bl. 6 r. f. 157 Philanthropisches Journal, 3. Quartal, 2. Jg., 1779 (April) wird in der Vorrede wieder Abstand von der neuen Rechtschreibung genommen. 158 Brief 33 vom 27. November 1779, Bl. 3 r. Es gab aber später noch Änderungen an der Orthographie, zu denen sich Schilder nicht äußerte.
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dessen Umsetzung erwarteten sie nun von den Pädagogen, auf die das moralische Urteil und das Ansehen einer Schule dann zurückfiel. Schilders Befürchtungen, wie etwas ausgelegt werden könne, waren sicher nicht aus der Luft gegriffen: Noch muß ich etwas zur Nachricht melden; der H. Landraht von Campenhausen der das Institut im vorigen Jahr besucht hat, ist hier viel fältig um sein Urtheil gefragt worden, da er denn in Ansehung des Unterrichts vollkommen zufrieden gewesen, nur hat er in Ansehung der ordnung zu tadeln gehabt, unter andern soll es ihm sehr auffallend gewesen seyn, daß die Kinder mit zerrißenen Strümfen gegangen sind, er habe also schließen wollen, daß die Aufsicht zur ordnung nicht genau genug seyn müßte. Ich suchte es zu entschuldigen damit, daß es bey einem einzigen zufällig so hätte können gewesen seyn, und wie ich auch versichert bin, daß der Fall so muß gewesen seyn; allein oft werden solche Kleinigkeiten mit solchen Farben gemahlt, daß sie als der größte Fehler in die Augen fallen.159
Ähnlich bemängelte Schilder selbst bei seinem zweiten Besuch in Dessau: Meines Michels Unreinlichkeit war mir gewiß auffallend, z. E. er kam mir 2 tage nacheinander mit ungewaschenem Gesichte entgegen, denn eben dieselbe Unreinlichkeit die ich tages zuvor auf dem Gesichte bemerckte, sahe ich ihm des folgenden Tages, obgleich ich ihm deswegen repochirte.160
Ein Problem besonderer Art war, daß die Eltern oft lange und vergeblich auf Briefe von ihren Kindern warten mußten. Schilder mahnte das öfter an,161 einmal auch im Namen der Gräfin Manteuffel, die die Schuld den Lehrern zuwies: Die Gräfin von Manteuffel hatte mir eben geschrieben um Nachrichten wegen Ihren lieben Kindern von denen sie sagte, nicht in frei Monathen eine Silbe gesehen noch gehört zu haben. Liebster Freund ich habe so wiederholentlich gebeten exacter im Schreiben zu seyn, alle Monate ein mahl müßen die Liefländer gewiß schreiben, alle Ältern verlangen es; gewiß dieses Säumniß kann mit der Zeit dem Institute hier nachteilig werden, ich habe mich daüber schon in meinem Briefe an H. Sander vor kurzen weitläufiger ausgelaßen. Die Frau Gräfin scheint sehr empfindlich zu seyn, über das leztere so lange Stillschweigen, sie sagt unter andern: sie könne es nicht ihren Kindern zu lasten legen, sondern der Fehler wäre einzig allein der Lehrer Lehrer Fehler; welche sie nicht dazu anhielten. Ich bitte Sie um das Wohl des Instituts willen, einen jeden Aufseher, seiner ihm anvertrauten Untergebenen, die freundschaftliche Pflicht auf zu legen, jeden Monath einmahl gewiß zu schreiben.162
6. Voraussetzungen der Philanthropisten Die publizierte bildungstheoretische Neuorientierung der Philanthropen – ein möglichst geringer Kenntnisstand und Sittenreinheit der Zöglinge – bringt es mit sich, 159 160 161
Brief 41 vom 4 . März 1780, Bl. 2 r. f. Brief 60 vom 3. März 1781, Bl. 2 r. Schon in Brief 29 vom 2. November 1779, Bl 1 r. Schilder im Ausbleiben der Briefe eine Gefahr: „Bedenken Sie einmahl wie schädlich es dem Institut hier zu Lande seyn würde, wenn ein Liefländer vor Erziehungs Jahr von seinen Eltern zurückgeholt würde“. 162 Brief 32 vom 23. November und 4. Dezember 1779, Bl. 1 r.
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daß wir über den realen Ausgangszustand der Elternhäuser, aus denen die Philanthropisten kamen, sicher weniger wissen können, als es möglich wäre. Die geistigen und moralischen Eintrittsbedingungen waren zu eindeutig formuliert, als daß Interessenten ihre Kinder oder Mündel unter anderem Vorzeichen für empfehlenswert halten konnten. Eher scheint es, als hätten sie verbal die Vorgaben mit Bezug auf ihre Sprößlinge rezipiert, bzw. bei Kenntnis der philanthropischen Gedanken in die Tat umgesetzt, soweit es möglich war. Obwohl nur zum Umfeld gehörig, sei nochmals Kants Empfehlung des kleinen Motherby herangezogen: „Übrigens hat er noch nichts gelernet, außer lateinische Schrift kennen und, wenn ihm die Buchstaben vorgesagt werden, dieselbe (aber nur mit der Bleyfeder) zu schreiben.“163 Schilders Hinweise auf die Voraussetzungen der von ihm genannten Zöglinge sind spärlich und haben fast den gleichen Grundton. Erschwert wird die Beurteilung dadurch, daß er sich mit seinen Urteilen ganz an das anlehnt, was er gelesen hatte und Eigenständigkeit bei ihm zu bezweifeln ist. Im 1. Stück der Philanthropischen Unterhandlungen heißt es: „Die Erziehung überhaupt wird bekanntlich in die physische, moralische und wissenschaftliche, oder gelehrte eingetheilt. Die ersten beyden Theile hat man bisher fast ganz aus der Acht gelassen, und der dritte ist äußerst fehlerhaft geblieben.“ Somit ist Vorsicht geboten, wenn er den jungen Markov als „einen in dem wißenschaftlichen Theil der Erziehung vernachläßigten jungen Menschen“164 beschrieb. Über Berens sagte er, dieser sei unwissend an das Institut gekommen,165 dabei hatte der Vater ja verkündet, er und sein Bruder seien nach dem Elementarwerk unterrichtet worden.166 Von seinem ältesten Sohn schrieb er: „Dem Knaben ist bey seinen ersten Lehrern vom Lesen an, das Lernen sehr schwer gemacht worden, es kostete ihm viele Thränen und mir großen Kummer: so hat man ihm gleichsam einen Ekel zum Lernen beygebragt und seinen Geist unterdrückt.“167 Sogar der „Ekel“ am Lernen ist eine Formulierung der philanthropischen Pädagogen.168 Fragt man, welches der Elternbeitrag bis dahin gewesen sei, so ist die Ausbeute spärlich, aber bezeichnend. So heißt es über die Erziehung des jungen Berens: Wahr ists der junge Mensch ist negligirt worden, deßen hat sich freilich der Vater Vorwürfe zu machen, allein er ist einer von denen Vätern die nicht Gedult und Gelaßenheit genug zum Selbsterziehen haben, verdrüßlich und ärgerlich wenn die Kinder nicht so sind wie sie seyn sollten, jedoch nicht selbsttätig um ihre Beßerung. Kurz er kennt die Theorie der Erziehung
163 164 165 166 167 168
Brief vom 4. August an Christian Heinrich Wolke, in: Kant, Immanuel, Werke, hg. von Ernst Cassirer, Bd. 9, Berlin 1922, S. 180. Brief 12 vom 23. Januar und 3. Februar 1779, Bl. 21r. Brief 37 vom 22. Januar 1780, Bl. 2 v. Siehe oben, Abschn. 4. Brief 10 vom 3. und 4. Oktober 1778, Bl. 1 v. Philanthropisches Archiv, 1. Stück, 1776, S. 38.
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aber er flieht die Selbstausübung, und ist dabey übrigens doch ein sehr gescheiter Kopf; er ist ein sehr angenehmer Mann im Umgange.169
Das relativiert die „Erziehung nach dem Elementarwerk“ freilich sehr. Schilder selbst nun versuchte im eigenen Hause einige Grundlagen zu legen. Sein jüngster Sohn von noch nicht vier Jahren solle nach Gutmanns Grundsätzen erzogen werden.170 Im „Gespräch zwischen dem Herrn Professor Pansophus, der freyen Künste Meister, und vieler gelehrten Gesellschaften Mitglied, und Valentin Gutmann“ im 4. Stück der Pädagogischen Unterhandlungen, einem Beitrag Campes,171 wird empfohlen, die Kinder nicht beizeiten mit Wissen vollzustopfen, wovon Pansophus und sein Sohn „Christöffel“ das schlechte Beispiel geben. Es steht aber im Gegensatz dazu, wenn Schilder sich Wolkes neue Lesemaschine bestellte,172 die er vorher seinem Sohn schmackhaft gemacht hatte und der nun ständig danach fragte. Mit Astronomie wäre der Sohn wohl gänzlich überfordert gewesen. Dennoch fragte Schilder bei Wolke nach, wie er so etwas ähnliches wie eine Armillarsphäre bekommen könne: Geben Sie mir doch Anleitung liebster Freund, wie ich am bequemsten und vortheilhaftesten, an einer Himmels und Erdkugel, Ringkugel, einem Weltsystem das die Planeten mit ihren Trabanten und die Bewegung derselben um die in der Mitte stehende Sonne darstellt, kommen kann: von woher verschreibt man sie am besten und wohlfeilsten? Was mögten diese alle zusammen wohl kosten? Und könnte ich Sie wohl durch Ihre Besorgung erhalten? oder da Ihnen solches zu viele Beschwerde machen würde, so bitte mir nur die addresse, wo und von wem sie zu haben sind, aufzugeben, nur bitte mir vorläufig von den Preisen zu unterrichten. Sie rahten wohl liebster Freund wozu ich diese Werkzeuge gebrauche – ohne diesen ist Ihr Schauspiel der Welt im Lesebuch, für die Jugend unverständlich.173
Besagtes „Schauspiel der Welt“ fand Schilder im Philanthropischen Lesebuch für die Jugend und ihre Freunde, 2. Jg., 1.Vierteljahr, S. 39–47. Es war „aus des Hn. von Maupertius Essai de Cosmologie 3 me Partie“ und nicht für Kinder unter 12 Jahren bestimmt. Wir wissen nicht, ob Schilder seinen Sohn damit beschäftigen wollte. Dennoch zeugt solches Interesse davon, daß die Grundsätze der Philanthropen oft von der Elternschaft im eigenen Sinne interpretiert wurden, wobei der Widerspruch zwischen der tabula rasa, die das Kind sein sollte und doch einigen Kennt169 170
Brief 20 vom 12. und 15. Juni 1779, Bl. 2 r. Brief 7 vom 27. Juni und 8.Juli 1778, Bl. 2 v. „Gutmans“ ist an den Rand gequetscht, dennoch plausibel. 171 S. 529–565. Unterschrieben ist der Beitrag mit C., wohinter sich nur Campe verbergen kann. Interessant ist, dass in einer Fußnote bemerkt wird, dass aus dem fiktiven Gutmann Robert Motherby zu sprechen scheint. Damit konnte mancher Leser das Vorbild im näheren Umfeld finden. 172 Diese Lesemaschine stellte Wolke im 12. Stück der Pädagogischen Unterhandlungen, S. 1148ff. vor. Er berichtete vorher über andere Hilfsmittel wie einen Lesekasten, den Schilder nennt. Schilder meinte aber die etwas komplizierter aufgebaute Lesemaschine, zu der auch Schrauben gehörten. Und diese waren auf dem Weg nach Riga verlorengegangen, Brief 10 vom Oktober 1778, Bl. 2 v. Somit konnte Schilder damit „noch keinen Versuch machen“. 173 Brief 18 vom 19. und 30. April 1779.
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nissen, die man ihm vielleicht vermitteln wollte, nicht als solcher empfunden wurde. Wolke hatte aber sicher auch nicht abgeraten, worauf Schilder sicher eingegangen wäre. Eine andere Frage ist, wie die Erziehungsschriften als Rezeptionsvorgaben in all ihren Facetten wirkten. Es ist nur sehr wahrscheinlich, daß didaktisch aufbereitetes Wissen vielen Eltern erstmals auf bestimmten Gebieten ermöglichte, sich Kenntnisse anzueignen, was nicht nur auf akademisch nicht Gebildete zutreffen muß. Die Aufbereitung konnte schon per se Interesse erwecken.174
7. Anforderungen an die Fachbildung Verstreut werden in den Schilder-Briefen Forderungen an die Fachbildung der Zöglinge, die größtenteils für das Militär oder den Kaufmannsberuf vorgesehen waren, laut. Es waren zumeist Beschwerden, die einliefen, wenn die Eltern etwas verabsäumt sahen. Ein Kritikpunkt war, daß einige Zöglinge Grammatik und Orthographie nicht beherrschten. So meldete Schilder, daß Berens’ Schriftzüge zwar inzwischen zufriedenstellend seien, aber sehr auffallend ist seinem Vater die fehlerhafte orthographie die bis hiezu noch immer in seinen Briefen hervorsticht – das mir und mich ist immer falsch angebragt und so in mehrern Fällen fehlt er ganz außerordentlich wieder die ersten regeln der grammatic.175
Ähnlich beschwerte sich der General Roenne: „Gestern war ich beym General Roenne der sehr bitter klagte, daß seine Kinder noch immer so unwißend blieben und nicht einmahl, in der Zeit daß sie dort wären, gelernt hätten, ihre Gedancken in Briefen richtig vorzutragen nicht einmahl orthographisch schreiben gelernt“.176 Worauf Roenne noch anspielte, bemerkte auch Schilder; die Briefe seien „zu sehr überhin geschrieben“.177 Zur Illustration sei hier der Brief eines Zöglings aus Riga, Friedrich Dahl, angeführt, den er an Friedrich Matthisson richtete: Liebster Herr Matthison Ich hoffe daß Sie sich izt besser befinden, und der Himmel gebe, daß Sie bald wieder können zu uns kommen und ich hoffe daß es auch bald geschehen soll. Es sind hier wieder zwei neue Philantropisten angekommen welche sich nennen Wichelhausen, diese beiden sollen auf unsere Stube kommen und einer von uns wird auf den H. Magst: Göze seine Stube kommen, wer aber 174
Das ist freilich ein Thema für sich, doch wurde solche Absicht auch explizit geäußert. Ein gewisser Günther oder Gunther, der Wolke in einem langen Pamphlet über seine Arbeiten an neuen Schulbüchern in Kenntnis setzen wollte und finanzielle Unterstützung anstrebte, ließ durchblicken: „[...] ob nicht die Alten durch die Kinder wohl zur Aufklärung gebracht werden [...]“. (Brief vom 18. und 21. Januar 1783, Rel. Phil. III, 11, 29, Bl. 9 v.). 175 Brief 14 vom 30. Januar 1778, Bl. 1 r. 176 Brief 71 vom 16. März 1782, Bl. 1 v. Vgl. auch Roennes Entwurf eines wahrscheinlich an Wolke gerichteten Briefes, den er Schilder, und dieser wiederum Wolke zugeschickt haben muss, und den Brief vom 8. und 19. Mai 1782 selbst, Rel. Phil. IV, 3, 2, Bl. 1 und Bl. 2–3. 177 Brief 20 vom 12. und 15. Juni 1779, Bl. 1 v.
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dahin kommen wird wissen wir nicht noch nicht. Das hier in diesen Briefe viele Fehler sind werden Sie mir hoffe ich doch vergeben denn es hat ihn keiner korigirt. Leben Sie wohl und werden sie balde wieder Gesund. Grüssen sie Hern Keck und alle Ihre anverwandten und kommen sie balde wieder bei uns Ich Dessau bin Genossen d 21 Juny 1781 Ihr Schuler und Stubens Friedrich Dahl dem H. Mathisson zu Coswig178
Kenntnis des Französischen wurde verlangt, „weil diese Sprache besonders den Lievländern die doch am rußischen Hofe employ suchen äußerst nothwendig ist in perfection zu wißen und zu sprechen“.179 Später sollte sich der General Roenne allerdings darüber beklagen, daß die Kinder „im Französischen gar nicht vorwärts kämen“.180 Sei nun an die Mutter- oder, in der Perspektive, auch an eine Fremdsprache gedacht gewesen, Wolke unterbreitete dem General einen eigentümlichen Vorschlag, um die schriftliche Eloquenz seiner Kinder zu befördern: Es mögen aus dem Umfeld Roennes Briefe an die Kinder geschrieben werden und ihnen Materien zur Bearbeitung stellen. Roenne wies dies als Aufgabe freilich an die Lehrer entschieden zurück; er sehe den Nutzen nicht ein, und vielleicht schienen ihm auch die Briefe seiner Sprößlinge zu blamabel, er untersagte ihnen jedenfalls die Korrespondenz mit Verwandten.181 Eine schöne Schrift wurde auch verlangt, so konnte Schilder, der auch sonst mit seinem Sohn zufrieden war, einmal feststellen: „Mit meines lieben Michels NevJahrs Brief sind wir sehr zu frieden, er war zierlich und schön geschrieben, recht in den Zügen wie ich wunsche, daß er dabey bleiben möge.“182
178
Matthisson-Nachlass (Anhaltische Landesbücherei Dessau), 4,1. Franke, (wie Anm. 4), S. 125, berichtet von einem nicht mehr erhaltenen Brief Schilders vom Juli 1782, worin er die Briefe als „leer, schal, gedankenlos, ohne Eingehen auf seine Materie geschrieben“ charakterisiert, „alle seien nach derselben Schablone gearbeitet und vermuthlich im Unterricht geschrieben.“ Das Schablonenhafte bestätigt sich an den von Matthisson aufbewahrten Briefen (Dahls Brief ist einer unter mehreren) durchaus. Interessant ist natürlich Dahls Bemerkung, der Brief sei noch nicht korrigiert worden. Wahrscheinlich wurde solche Korrektur sonst von Matthisson selbst vorgenommen, wofür sich nun niemand bereit fand. Möglicherweise fehlte die Abschlusskorrektur oft und somit hinterließen die Briefe ihren ungünstigen Eindruck. 179 Brief 43 vom 11. März 1780, Bl. 2 r. 180 Brief 71 vom 16. März 1782, Bl. 1 v. 181 Entwurf und Brief Roennes an Wolke vom 8. und 19. Mai 1782, Rel. Phil. IV, 3, 2, Bl. 1 und Bl. 2–3. Ob dieser nicht glückliche Einfall auf Wolke zurückzuführen ist, bleibt allerdings offen. Vielleicht kam Crome, den Roenne als Aufseher seiner Kinder erwähnte, auf eine solche Idee, oder Wolke wollte Crome entlasten. Denn dieser war, wie er in seinen Memoiren, berichtet, gerade mit der Productenkarte von Europa beschäftigt, was ihn sehr in Anspruch nahm. Im Zuge dessen wohnte er außerhalb des Philanthropinums und gab nur noch eine Lehrstunde, siehe Selbstbiographie von Dr. August Friedr. Wilhelm Crome, Stuttgart, 1833, S. 97ff. 182 Brief 36 vom 18. Januar 1780, Bl. 2 v.
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Schilder selbst legte später, nachdem er den Musikunterricht bezahlen183 konnte, Wert auf diesen Teil der musischen Bildung, sofern seine Söhne das Talent hätten.184 Das Philanthropinum erschien auch für die physische Erziehung geeignet. So sah ein Herr von Dunten vor, daß sein bereits in russischen Diensten engagierter älterer Sohn die für das Militär nötige Konstitution mit Leibesübungen stähle.185 Direkt auf den Punkt gebracht wurden Bedürfnisse des späteren Berufs in zwei Fällen. Der Sohn des Kaufmanns Berens, ebenfalls zum Kaufmann bestimmt, zeigte erhebliche Schwächen nicht nur im Schreiben, sondern auch im Rechnen. Als es damit nicht vorwärtsging, fragte Schilder immer nach: „Wie gehts nun mit Berens besonders in Ansehung des rechnens der ihm so nothwendigen Wißenschaft?“186 Schilder und andere hatten noch ein anderes praktisches Bedürfnis für die Zukunft erkannt, das Schilder freilich mit dem allgemeinen Wohlergehen des Instituts verknüpft sah und sofort Vorschläge zur Realisierung machte: Da die Anzahl der Liefländer im Institut so sehr angewachsen ist, und wahrscheinlich noch mehr anwachsen wird, so halte ich es so wohl in Betracht der reputation des Instituts in diesen Gegenden, als auch in Betracht des großen Nutzens für meine Landsleute, für nothwendig, daß das Institut sich einen rußischen SprachMeister anschaffe. Sr. Excell: dH. Gen: von Roenne haben ihren Wunsch zur Ausführung deßen besonders geäußert. Da die mehresten Liefländer von Adel, dem Militaire und die bürgerlichen dem Kaufmanns Stande gewidmet sind, so wird beyden die rußische Sprache unentberlich, selbst auch denen gelehrten die einmahl hier oder in Petersb eine Civil Bedienung suchen mögten: denn es ist eine besondere Ukase darüber daß alle Canzelisten und Richter in denen teutschen Provinzen Rußlands die rußische Sprache, und in den rußischen Provinzen der teutsche wißen sollen. Wie leicht könnte auch nicht diese Aufmerksamkeit des Instituts zu den ohren der Monarchin kommen – vielleicht würdigte Sie das Institut einer neuern Untersuchung, und dann auch gewiß Ihrer mächtigen Protection. Kurz, liebster Freund, Sie werden Sich leicht dem gegenseitigen Nutzen, sowohl für die Zöglinge als fürs Institut überzeugen, den Sie beyde von einem geschickten rußischen SprachMeister haben würden. Freilich wären es neue Kosten fürs Institut, aber dem ist leicht abzuhelfen, man verhöhere die Pension derer die diese Sprachbelehrung wollen um 10 rt [...] jährlich, gewiß jeder Liefländer wird sie mit Freuden zulegen, selbst die Ausländer besonders die künftigen Kaufleute werden davon mit Lust gebrauch machen, da ihnen diese Sprache durch den häufigen Umgang und Verbindungen mit dieser nation, fast nothwendig wird. Vorläufig habe ich einen Freund in Petersb aufgetragen, sich nach einem jungen, ungeheirateten Mann von guten Sitten besonders, zu erkundigen, der im Institut vornehmlich als SprachMeister der rußischen Sprache dienen sollte. Ich dachte er müßte doch wohl 100 Ducaten Gehalt, freie Kost und Wohnung haben, für weniger würde keiner dahin gehen. Wäre der Mann nebenbey auch dem Institut in einem anderen Fache nützlich so wäre es um so beßer. Sollte sich nun auch ein solcher Mann bald finden, so werde ich doch nichts ehr darin beschließen, bis ich erst Ihre Meinung darüber vernommen habe. Ich halte es für nohtwendig und nützlich – Sind Sie mit mir einerley Meinung so muß dieser Entschluß in dem nächsten Heft der Unterhandlungen bekannt gemacht werden, glauben Sie mir, es wird in diesen Gegenden die Zahl der Freunde des Instituts ansehnlich vermehren. Wenn Sies beschlüßen, so geben Sie mir ohne Anstand die Bedingungen auf, unter 183
Schilder konnte den Musikunterricht, der Extrakosten verursachte, längere Zeit nicht bezahlen können. Erst mit Brief 32 vom 23. November und 4. Dezember 1779, Bl. 4 r. konnte er zahlen. Schilder wünschte Musikunterricht für alle drei Söhne, Klavier oder Violine, verlangte aber Ernsthaftigkeit, „sonst passiert man nur für einen Bierfiedler und kann bey keiner guten Music nützlich seyn“, Brief 73 vom 7. Mai 1782, Bl. 1 v. 185 Brief 15 vom 23. März und 3. April 1779, Bl. 2 r. 186 Brief 37 vom 22. Januar 1780, Bl. 2 v. 184
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welchen ich einen solchen SprachMeister engagiren kann, damit ich dann ernsthaft darin zu Werck gehen kann, denn dencke ich mich besonders auch an dH. Etatsraht von Krok zu wenden. Die reise Kosten würde ich menagent einrichten, entweder von Petersb. biß Lubec zu Waßer, oder wenn die Gelegenheit da wäre, mit einem etwaigen künftigen Philanthropisten aus diesen Gegenden z. E. dH. von Dunten deren Annahme ich mich gewärtige: so kann er gratis dahin. Mit Verlangen sehe ich hierüber Ihre Antwort entgegen.187
Doch wurde dieser Plan Schilders nie realisiert.
8. Die Anforderungen an die moralische Bildung Sonst ist es üblich, die moralische Erziehung allein nach Theorie und Praxis der Pädagogen zu beurteilen. Bezüglich der Eltern hat man dies bisher weniger getan, obwohl deren Anforderungen vom Philanthropinum nicht unberücksichtigt bleiben konnten, weil bei zu großer Diskrepanz die Kinder wären entfernt worden. Freilich wird man die Anforderungen der Eltern in „reiner“ Form, wie sie unabhängig vom Philanthropinum gewesen wären, kaum finden. Allein schon aus der an sich paradoxen Anforderung, nur unverdorbene Zöglinge zu schicken (die dann schon ihre moralische Erziehung hinter sich gehabt hätten), die man von den Eltern bestätigt wissen wollte,188 ergab sich wenigstens verbaler Konsens zwischen Elternschaft und dem Institut bei der Einschätzung der eigenen Kinder, wobei Eltern wie auch Schilder die künftigen Philanthropisten im günstigeren Licht erscheinen ließen. Ohne daß ein regelrechter Moralkatechismus aufgestellt wurde, war es die moralische Erziehung, die den sonst inkompetenten Schilder besonders Interes187
Brief 17 vom 13. und 24. April 1779, Bl. 1 r. – Bl. 2 r. Auch von anderer Seite wurde der Wunsch nach solchem Unterricht geäußert. Michael Friedrich Schulze schrieb an DuToit am 7. Juni 1783 (LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 173 [r.]), dass der Onkel des jungen von Ceumern, von Hagemeister also, darum bat; von diesem Ansinnen ist bei Schilder nicht die Rede. Opitz, (wie Anm. 7), S. 160ff. meint, es sei nicht bekannt, wie Schulze das Russische erlernt habe. Dabei gibt zitierte Urkunde, ebd., auf die sich auch Opitz bezieht, schon Auskunft, denn Schulze sagte, dass er die russische Sprache „ohne allen mündlichen Unterricht zu erlernen“ strebte. Also war er Autodidakt, was durch ein Schreiben an den „Vater Wolke“ vom Januar 1784 (Rel. Phil. III, 2, Bl. 37–38) bestätigt wird: „Ein gutgemeinter Wunsch dem Institute nüzlich dadurch werden, brachte mich zu dem Einfall die russische Sprache zu studiren. Ich that das letztere: aber der Wunsch der mich dazu bewogen hatte ward vereitelt. Gleichwohl hab’ ich seitdem nur mein Studium der russischen Sprache und Litteratur eifrig fortgesezt“, Bl. 37 r. Seine Kenntnisse schienen ihm aber noch nicht perfekt zu sein; er wolle nach Livland oder Russland gehen, „und daselbst mich zur Vollendung eines Werks zu qualifizieren, dessen Entwurf im Manuscript schon vorhanden ist, unter dem Titel Elementarbuch der russischen Sprache“. Wolke gehörte zu den Befürwortern des Russisch-Unterrichts, vielleicht neben Schulze als einziger. Mehr noch, er sammelte in Anhalt sogar Geld für eine Schule in St. Petersburg: „Meine Ankunft meldete ich Ihnen in meinem leztern Schreiben. Vorgestern erhielt ich das Ihrige, darin Sie mir die zum besten des in Petersb zu errichtenden Schulgebäudes in den dortigen Kirchen collectirte 230 rt Ld’or anzeigen.“ (Brief 58 vom 16. Dezember 1780, Bl. 1 r.). Ob man sich daran später unwillig erinnerte, ist nicht nachzuvollziehen. 188 Siehe Pädagogische Unterhandlungen, 7. Stück, 1778, S. 595. Schon im 2. Stück, 1777, S. 221 war „Reinigkeit der Sitten“ als der Vorzug des Instituts genannt.
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sierte. Seine anfängliche Mundpropaganda hatte dieses Thema zum Gegenstand: „weil ich hauptsächlich auf die moralische Erziehung der Jugend mein Augenmerck gerichtete hatte“.189 Auch von der Gräfin Sievers berichtete Schilder, sie sei an der moralischen Erziehung vor allem interessiert.190 In gleiche Richtung gehende Anforderungen der Eltern waren dergestalt, wie sie etwa, von Schilder referiert, von Dunten (dessen Sohn dann doch nicht am Institut war) äußerte. Man solle seinen Sohn „zu einen guten und vernünftigen Menschen zu bilden“.191 In diesem Sinne war es ja versprochen worden, und die für die Aufnahme verlangte Unverdorbenheit der Zöglinge schien doch wenigstens für eines zu garantieren – den guten Umgang. „Böse Gesellschaften verderben gute Sitten“,192 war die Allerweltsweisheit, auf die es Schilder einmal reduzierte. Die Ablehnung bisheriger Bildungsstätten hatte dies oft zum Grund. So schrieb Schilder: Das übelste dabey ist nur die Verlegenheit in der man sich hier in Ansehung der Knaben befindet, denn bey einiger Erleuchtung in der fehlerhaften Erziehung und Unterweisung in unsern öffentlichen Schulen, könnte ich mich nimmermehr überwinden ihn dahin zu geben, lieber mag er [sein zweiter Sohn – M. R.] im Hause herumlaufen und nichts thun, als an Leib und Geist unter einem Haufen größtentheils unartiger Knaben verdorben werden.
Der Herr von Dunten sei ein Mann, der die Gefahr voraus sieht, darin sein mit der Welt unbekantes Kind auf der université gerathen könnte, davon wir Liefländer leyder nur garzu häufige Erfahrungen haben; daß nämlich die Kinder auf der université nur Geld verzehren, im Grunde nichts wesentliches lernen ein verderbliches Herz und neue Moden mitbringen.193
Auch die Gräfin Sievers gab Wolke zu verstehen, er möge lieber ihre Kinder aus den „Händen der Natur“ annehmen, statt auf verdorbene Philanthropisten zu warten.194 Nachdem der von Schilder einst angepriesene Markov seine Moral selbst in die Hand nahm, gab es freilich Bestürzung. Schilder, der von der „unmäßigen Leidenschaft“ des jungen Herren und dessen finanzaufwendigen „wollüstigen Begierden“195 erfuhr, „welches Sie in der Nothwendigkeit sezt den jungen Mann seinem H oncle wieder zurück zu senden“, bemerkte, „ein solcher unzüchtiger räudiger Bock kann die ganze gute Herde verderben.“ Er bat um Auskunft, wie lange „Sie ihn ohne Gefahr für die übrige Jugend noch dort behalten könnten.“196 189 190 191 192 193
Brief 4 vom 14. und 25. April 1778, Bl. 1 v. Brief 52 vom 27. und 28. Oktober, Bl. 5 v. Brief 15 vom 23. März und 3. April, Bl. 2 r. Brief vom 13. und 14. April, Bl. 2 v. Brief 15 vom 23. März und 3. April 1779, Bl. 2 r. Tering, S. 490, Anm. 93, lässt diesen Brief irrtümlich an Schilders Sohn Michael gerichtet sein. 194 Brief der Gräfin Sievers vom 28. Oktober 1780, Rel. Phil. III, 1, 18, 3, Bl. 1 v. 195 Markov war 16 oder 17 Jahre alt. Was es mit den „wollüstigen Begierden“ auf sich hatte, sei dahingestellt. 196 Brief 22 vom 9. Juli 1779, Bl. 1 r.
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Zu den genauer formulierten Erfordernissen, die Eltern an ihre Kinder stellten, gehörte Lernbegierde.197 Diese Forderung war sowohl ergebnisbezogen bezüglich des weiteren Lebensweges der Kinder, hatte aber auch den nicht unbeschränkten Geldbeutel der Eltern zum Hintergrund, der eine effektive Nutzung der Ausbildungszeit verlangte. Der Kaufmann Berens machte dies seinem Sohn schriftlich klar und Schilder konsentierte bezüglich seines Sohnes: Hier ist ein Brief an Berens von seinem Vater, lesen Sie ihn, und laßen ihn von dem Sone mit Aufmercksamkeit lesen und wiederlesen um den jungen Menschen auf den rechten Weg zu bringen, [...] und in ihm Gesinnungen der Anstrengung zum Fleiße und Lernbegierde rege zu machen. Sagen Sies ihm ernsthaft von meinetwegen, daß die Erziehung alles ist was er von seinem Herrn Vater zu erwarten habe. Gelegentlich schärfen Sie dieses meinem Sohne gleichfalls ein.198
Fleiß199 und Arbeitsamkeit,200 Sparsamkeit201 und ökomisches202 Handeln waren bürgerliche Tugenden, die Eltern von ihren Kindern verlangten, so wie sie sie selbst als Norm kannten. Schilder brachte das, und was er von Erziehung erhoffte, mit Selbstbezug in einer längeren Passage zum Ausdruck: An meinen Fleiß, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit wird es nicht liegen. Ach liebster Freund, mein Vater starb mir zu früh, meine Mutter glaubte ich hätte Geld genug um glücklich zu leben, und so wurde das wesentliche bey der Erziehung mit mir verabsäumt! zeitig ein gesezter Mann zu werden, den rechten Gebrauch und Anwendung des Geld zu erlernen kurz mir einen klugen Führer bey meinem Eintrit in die große Welt mit zu geben.203
Interessant ist, daß Schilder auch nach außen Sparsamkeit demonstrieren wollte: 197 198
Brief 24 vom 3. und 21. August 1779, Bl. 1 r. Brief 24 vom 3. August 1779, Bl. 1. r. Dass er die Zeit nutze, verlange auch Ludwig Grave (Riga), als er die Rückholung seines Sohnes ankündigte: „Nun wünschte ich, daß er die noch übrige Zeit seines Daseins dazu anwenden möchte, um zu der möglichsten Fertigkeit in denen ihm nöthigen Wißenschaften zu gelangen.“ (Brief vom 6. November 1781, Rel. Phil., IV, 1, 19, Bl. 1 r.). 199 Brief 6 vom 25. Mai 1778, Bl. 1 r.; 20 vom 15.Juni 1779, Bl. 3 v.; 24 vom 3. und 21. August 1779, Bl. 1 r.; 26 vom 11. und 22. September, Bl. 2 r.; 32 vom 23. November und 4. Dezember 1779, Bl. 3 r.; 44 vom 21 März 1780, Bl. 4 r.; 73 vom 7. März 1782, Bl. 2 r. – Fleiß wurde bisweilen von den Eltern angestachelt, wobei die Pädagogen einbezogen wurden: „Hier ist ein Brief an Berens von seinem Vater, den Sie ihm eigenhändig mittheilen werden, und sich von ihm vorlesen laßen, damit die Würckung davon desto kräftiger, er muß ihn auch seinem Aufseher mittheilen, sorgen Sie doch daß es auch auch geschehe. Sie sehen aus dem Briefe wie der Vater denckt, was er wünscht. Die Uhre wird H Hofraht Stegmann aus Liebau mitbringen, befolgen Sie genau damit den Willen des Vaters; die StiefMutter hat sich selbst dieser Uhr beraubt, um damit den Fleiß des jungen Menschen zu ermuntern, aber erst muß er sich diese Uhr verdienen, nach Ihrem und des ganzen Senats Uhrteil. Daß er den Brief oft überlese, ihn abschreibe, und Ihnen eine Abschrift davon gebe, um ihm dadurch an Fleiß und Arbeitsamkeit zu erinnern, so oft er darin erschlaft.“ (Brief 20 vom 12. und 15. Juni 1779, Bl. 3 r. f.). 200 Brief 20 vom 12. und 15. Juni 1779, Bl. 3 v. 201 Brief 12 vom 23. Januar 1779, Bl. 3 r.; 24 vom 3. und 21. August 1779. 202 Brief vom 11. und 22. September 1779, Bl. 2 r. 203 Brief 24 vom 3. und 21 August 1779, Bl. 3 v.
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Und wenn ich auch würcklich die Reise auf meine eignen Kosten machen könnte und wollte, so untersagts mir doch die Klugheit, weil mans mir hier sehr verargen würde, bey meinen bisher gehabten Unfällen im Handel, so oft solche kostbare Reisen auf eigene Kosten zu machen, mein Credit würde dabey leiden.204
Ordnung205 war eine weitere Tugend, auf die Wert gelegt wurde, z.B: „Berens gute Ordnung freuet uns ungemein.“206 Unterordnung207 und Gehorsam208 gegenüber den Anweisungen der Lehrer waren freilich Mittel zu diesem Zweck.209 Doch gab es auch ganz praktische Gründe, Gehorsam zu fordern. Schilder schrieb bezüglich des Soldaten Markov: „Er wird einstens ein schlechter Soldat seyn, wenn er die Subordination sowenig achtet“.210 Hier scheint es vom Berufsbild her gegeben. Bisweilen dachte man auch an die Vermeidung eines schlimmen Ausgangs, wenn sich Halbwüchsige zu selbständig machten. Drastisch formulierte es Schilder, als er Wolke über die Flucht des jungen Berens aus Liebau211 in Kenntnis setzte. Sie wißen wohl schon, daß Berens den ich zurückbragte in Königsberg am hitzigen Fieber gestorben. Er war in Liebau mit Unzufriedenheit bey einem gewißen Immermann, von dem er schon einmahl weggegangen war, aber aufs Vaters Befehl wieder zu ihn gehen mußte; nun verließ er ihn nochmahls der Vater drohte ihn selbst nach Liebau zu kommen und ihn Kraft väterlicher autorité wieder zu ihn zurückzukehren zu heißen, da nahm er die partie ohne des Vaters Willen nach Königsberg zu flüchten, wo ohnerachtet seines Leichtsinns, zwar glücklicherweise zu guten Leuten kam, aber auch wohl durch diesen seinen Leichtsinn und Ungehorsam sich den tod zugezogen hat. Eine Gelegenheit zur Wahrnung Ihrer Zöglinge Ihren Ältern und Vorgesezten Gehorsam blinden Gehorsam zu leisten – Wollen Sie Sich deßen nicht an Ihren Zöglingen bedinen?212
Freilich spielte das „Laster der Selbstbefleckung“213 auch eine eigene Rolle. So war Zuckerbecker wegen seines Sohnes „recht sehr bekümmert wegen des an ihn entdekten Lasters“.214
204 205
Brief 44 vom 21. März, Bl. 1 r. f. Brief 16 vom 6. und 17. April 1779, Bl. 1 v.; 20 vom 12. und 15. Juni 1779, Bl. 1 r.; 41 vom 4. und 5. Mai 1780; 45 vom 2. und 13. Mai 1780; 60 vom 3. März 1781, Bl. 2 r. 206 Brief 16 vom 6. und 17. April 1779, Bl. 1 v. 207 Brief 22 vom 9. Juli, 1779, Bl. 1 v.; 79 vom 5. November 1782, Bl. 1 v. 208 Brief 12 vom 23. Januar und 3. Februar 1778, Bl. 7 r.; 22 vom 9. Juli 1779, Bl. 1 v.; 44 vom 21. März 1780, Bl. 4 r.; (Negation) 74 vom 21. Mai 1782, Bl. 1 v. 209 In neuerer Literatur scheint man gern diese Art von Gehorsam mit Untertanengeist aller Art gleichzusetzen gegenüber welchem Staat und welcher Obrigkeit auch immer. Das mag auf andere Fälle, vor allem spätere Zeiten zutreffen, in den Schilder-Briefen findet sich davon nichts. 210 Brief 22 vom 22. Juli 1779, Bl. 1 v. 211 Dorthin wurde Berens, den Schilder mit sich aus Dessau nahm, zur Kaufmannslehre geschickt. 212 Brief 74 vom 21. Mai 1782, Bl. 1 r. 213 Dazu ausführlich Niedermeier, (wie Anm. 12), S. 43ff. 214 Brief 41 vom 4. und 5. März 1780, Bl. 3 v. Deswegen wurde Zuckerbecker allerdings nicht des Instituts verwiesen, obwohl solcher Schritt allgemein öfter in den Unterhandlungen angekündigt war.
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Es sei als Beobachtung hier notiert, daß die Bündelung moralischer Ansprüche in der Zeit von 1778 bis 1780 liegt, danach blieben sie bis auf Ausnahmen weg. Innerhalb der Elternschaft herrschte großes Interesse215 an einer Beurteilung der Sprößlinge, die auch gern in Gemeinschaft besprochen wurde. Solche Beurteilung konnte kränkend sein (vielleicht auch dem Ansehen schaden), so daß Schilder einmal auf die Weitergabe verzichtete.216 Ein anderes, gedrucktes, Beispiel – das „Zeugniß des H. Sander über meinen Sohn hat allen Theilnehmenden Freunden Thränen ausgepreßt“ –, sei hier abschließend vollständig zitiert, weil es auch in seiner auf die Wünsche des Vaters eingehenden Rhetorik nicht ganz uninteressant ist: Nun etwas von Ihrem Sohne! Herr Professor W — wird Ihnen mein Urtheil über seinen Fortgang in Kenntnissen, und über sein Betragen gesendet haben: und Sie werden also wissen, daß Ihr Kleiner mir mehr Freude, als Sorge macht. Von Allen kan ich dies nicht sagen; und deswegen sage ich es in den wenigern Fällen, worin es wahr ist, mit desto lebhafterem Vergnügen. Die Natur hat ihm das weichste Herz, und diesem die geradeste Stimmung zum Lobenswürdigen gegeben. Ich freue mich über seine natürliche Stimmung zum Lobenswürdigen um destomehr da sonst ein weiches Herz ein gefährliches Gut ist, weil es den Eindruck vom Bösen eben so leicht annimt, als vom Guten. Ich darf ihm nur sagen; ,mein Lieber, dis und das wäre gut:‘ so sucht er es mit der kindlichsten Freude auszuführen: ,M — was du da gethan hast, hast du nicht überlegt, ist nicht gut,‘ so weint er, bittet um Vergebung, und hält gewiß sein Wort, es besser zu machen. Mit Absicht fehlt er niemals; und wenn es heschieht, ist es immer nur Schuld des Verstandes, nicht des Herzens. Er kan, wen er liebt, mit der unschuldigsten Offenheit und Herzlichkeit lieben: und dies Glük habe ich denn auch. Seine Ausbrüche von Zuneigung zu mir rühren mich oft zu Thränen. ,O wenn ich doch auch so gut wäre, wie Sie (hat er mir wohl hundertmal gesagt) so käm ich gewiß in den Himmel!‘ Er liebt mich also gröstentheils so sehr, weil er große Meinungen von mir hat. Daß er auf den Wink gehorsam, gefällig gegen seine Gefährten, und friedfertig ist, könne Sie selber schon aus dem Bisherigen folgern. Zum Jachzorn ist er eben seines weichen Herzens wegen, wenn er einen für fehlerhaft zu halten veranlaßt wird, leicht hingerissen. Indeß vermag ich so viel über ihn, daß ich ihn nur ansehn darf, um jede Aufwallung gleich in der Geburt zu erstikken. Schnellen, tiefen, starken Verstand, auch so viel, als etwa zu einem guten Gelehrten erfodert wird, hat er eben nicht. Aber dafür hat er einen Geist der ruhigen Beobachtung, wie man ihn selten findet, und der ihn vorzüglich im Zeichnen und Schreiben so weit gebracht hat; dafür hat er Liebe zur Ordnung, und Geduld, bei einem einmal angefangenen Geschäfte lange auszudauren. Solten dies nicht Eigenschaften sein, die ihn zu einem Kaufmanne bestimmen könten? Sie fragen mich über meine Meinung in dieser Hinsicht; und die ist freilich, so weit sich über seine noch nicht entwikkelte Seele urtheilen läßt, daß er wahrscheinlich ein guter Kaufman werden wird. Auch hat er seinen wenigen Begriffen vom Kaufmanswesen Neigung dazu. Was ich da geschrieben habe, ist freilich noch nicht das ganze Gemälde Ihres Sohnes: doch, ich muß einige Züge mir für meine künftigen Briefe aufbehalten. Fahren Sie fort, theuerster Herr S — r, so edel für das Beste unsers Instituts zu eifern, so wie ich nicht aufhören werde, für das Wohl Ihres Sohnes zu beten und zu arbeiten. Wenn Gott edele Wünsche gern erhört, so wird er auch die meinigen erhören, Ihrem Sohne, so 215
Brief 24 vom 3. und 21. August 1779, Bl. 6 r.: “Des Senats Urtheil über meinen Sohn bitte ich Sie doch von Zeit zu Zeit zu senden.“ 216 Brief 32 vom 23. November. und 4. Dezember 1779, Bl. 2 v. f. „Was Sie nur von Berens sagen kränkt mich sehr wenn Sie hinführo etwas von ihm sagen, so schrieben Sies nur auf ein besonders Papier; ich habe daher Ihren Brief für Berens Vater verhehlen müßen, weil ich nicht so unangenehme Nachricht von seinem Sohn geben dürfte, denn er ist sehr sensible über den so geringen Fortgang der Kenntniße seines Sohnes in denen ihm so unentbehrlichen Wißenschaften.“
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wie auch allen meinen Untergebenen möglichst nuzbar zu werden. Machen Sie meinen Namen mit der freundschaftlichen Empfehlung, Ihrer Gattin, Ihrem ganzen Hause, und allen Freunden unsers Instituts bekant. Ich freue mich auch in der Ferne, daß Ihre Kinder glüklich die Blattern überstanden haben, und daß nun die Zeit kömt, worin sie ihren Aeltern alle Pflege mit Freude vergönnen werden. Leben Sie wohl, und lieben Sie Ihren Dessau ergebensten Stelvertreter den 2. Dec. 1779 S — r217
Erstaunlich ist, daß in den Schilder-Briefen die Rolle der Religion bei der moralischen Bildung nie zur Sprache kommt. Im wesentlichen schien man, unabhängig von der Konfession der Zöglinge, mit den religiösen Ansichten der Philanthropen zu konsentieren. Das Beispiel Motherby könnte symptomatisch gewesen sein. Kant schrieb: „In Ansehung der Religion ist der Geist des Philanthropins ganz eigentlich mit der Denkungsart des Vaters einstimmig“.218
9. Philanthropen, Menschenfreunde, Freunde Die Verwendung des Ausdrucks „Philanthropen“ in der modernen Literatur hat ihre Wurzel in der Selbstbezeichnung der Reformpädagogen. Ob man heute noch darauf reflektiert, sei dahingestellt, weil sich durch Niethammer seit 1808 „Philanthropismus“ als ein Terminus technicus eingebürgert hat.219 Da war die philanthropische Pädagogik im Grunde nur noch ein gewesener Gegenstand der Betrachtung, zumal es keine Institution mehr gab, die durch einen Namen damit verbunden gewesen wäre. Selbst Campe hatte fünf Jahre später das Wort „Philanthropin“ schon allein aus der Basedowschen Sinngebung und für obsolet erklärt.220 217
Philanthropisches Journal, 3. Quartal, 3. Jg., 1780 (April), S. 412–414. Dass es sich um das Urteil über Michael Schilder handelt, ist eindeutig. Dieser war zum Kaufmann bestimmt (Brief 28 vom 30. Oktober 1779, Bl. 1 r.), und über die überstandenen Blattern hatte Schilder in Brief 27 vom 19. Oktober 1779 berichtet. Angesichts solcher Schriften wird klar, dass die Pädagogen mit den Eltern ebenso pädagogisch verfuhren. Langsam entwickelten sich das Verhalten der Kinder in der Schule und die Haltung der Eltern dazu selbst zu einer moralischen Komponente. Wenn die Eltern schon hier und da keine fachliche Kompetenz hatten, so doch die Kompetenz der Autorität, die sich nur in einer bestimmten Haltung äußern konnte. Je öffentlicher das pädagogische Urteil aber wurde, desto mehr wurde das Kind Vehikel in der moralischen Beurteilung der Eltern. So schlug das an die Pädagogen verwiesene Geschäft der Erziehung zurück. 218 Kant, Brief an Motherby, S. 147. 219 Blankertz, Herwig, Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar, 1982, S. 79. 220 Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unsrer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungswörterbuch zu Adelungs und Campes Wörterbüchern, Braunschweig, 1813, S. 476: Philanthropin, sollte, nach Basedow’s Meinung, nicht bloß eine menschenfreundliche, sondern vornehmlich auch eine solche Erziehungsanstalt bedeuten, „in welcher die Kinder auf eine der menschlichen Natur gemäßere Weise behandelt, und besser, als bisher, für die Bestimmung des Menschen ausgebildet würden. Man sieht, daß diese Bedeutung dem Worte Philanthropin [...] nur durch einen willkührlichen Machtspruch angezwungen werden konnte. Da es jetzt, so viel ich weiß, keine sogenannten Philanthropine mehr gibt, so be-
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Auf der Strecke blieb dabei die Verwendung von „Philanthropinum“ und Ableitungen im einstigen Sprachgebrauch, der seine eigenen Sinngebungen und Nuancen mit sich brachte. Einen Sinn hatten die Pädagogen selbst vorgegeben. Mit „Philanthropen“ bezeichneten sie nicht nur sich, sondern auch diejenigen, die das Institut unterstützten. Schilder bezeichnete so die Freunde des Philanthropinums in seiner Gegend.221 Auch die Ableitungen verwendete er, immer auf bezogen auf das Institut, das er auch „Philanthropin“222 nannte. „Philanthopische“ Denkungsart223 und „Philanthropismus“224 intendieren ein positives Verhältnis zum, auch materielle Unterstützung für das Institut. Der deutschen Entsprechung von „Philanthrop“, „Menschenfreund“, „Philanthropie“, „Menschenfreundlichkeit“, die von den Pädagogen auch gebraucht wurde, konnte je nach Rezeption einen eigener Sinn gegeben werden. Schilder sprach noch vor seiner ersten Reise nach Dessau die Pädagogen am Dessauer Institut als Menschenfreunde225 an und freute sich darauf, eine so „verehrungs wehrte Gesellschaft verbrüderter Menschenfreunde persönlich kennen zu lernen“.226 Soweit entsprach das den verbalen Vorlagen, die die Akteure in ihre Schriften einbrachten. Bei Schilder deckte „menschenfreundlich“ aber auch den Teilaspekt einer Tätigkeit für das Philanthropinum ab: „Sie werden am besten wißen wie dieser wohlthätige edele Menschenfreund benannt werden, und doch unerkannt bleiben kann.“227 Eine negative Bewertung des Markgrafen Carl Friedrich von Baden von 1782 bestätigt das. Dieser hatte schon 1781 dem Institut seine weitere Unterstützung versagt.228 „Der Markgraf von Baden bezeigt sich auch nicht noble. Ist das der so gerühmte edele WeltBürger und MenschenFreund?“229 dürfen wir auch keiner deutschen Benennung dafür. Wir können jetzt mit Erziehungs- oder Bildungshaus überall ausreichen. Man könnte sonst Menschenschule, im Gegensatz der lateinischen und der gelehrten Schulen, dafür vorschlagen.“ – Bemerkenswert ist, dass Adelungs Wörterbuch zwar den Ausdruck „Menschenfreund“ kennt, ihm aber kein eigenes Lemma zugedacht hat. 221 Brief 43 vom 11. März 1780, Bl. 2 r. 222 Basedow konnte den Selbstlauf seiner „Wortschöpfung“ natürlich nicht aufhalten. Worauf sie beruhte, ist nicht ganz klar. Die spezifische Sinngebung bei Basedow allerdings könnte auf Gellius, Attische Nächte XIII, 17 zurückgehen, wo philanthropia als menschenfreundliches Wesen der lateinischen humanitas als Ausdruck gelehrter Bildung gegenüber und die Verbindung zur Bildung hergestellt wird. (Man bedenke den Gegensatz zur lateinischen Bildung der Humanisten, den Basedow anstrebte.) Die Wortbildung könnte vom griechischen Adjektiv ΚΏĮȞЁȡȫΔȞȠȢ (philanthópinos)ausgehen. Diese Form wird zwar im Passowschen Wörterbuch als eine falsche Lesart angesehen, doch spricht das nur für ihre Verwendung. 223 Brief 4 vom 14. und 25. April 1778, Bl. 1 v.; Brief 15 vom 23.März und 3. April, Bl. 2 v. 224 Diesen erwähnte Schilder, als er die Spende eines nicht ganz achtjährigen Knaben meldete, der als „PhilantropistenFreund“ bezeichnet wird, Brief 31 vom 3. November 1778, Bl. 1 v. f. 225 Brief 1 vom 27. Januar 1778, Bl. 1 r. 226 Ebd., Bl. 1 v. 227 Brief 12 vom 23. Januar und 3. Februar 1779, Bl. 3. Hier ging es um eine Spende des General Zoritz. 228 Diese bestand aus „5000 Gulden, oder 1000 Ducaten [...] Dies Capital ist bey einem sichern Banquir in Frankfurt am Mayn deponiert, und die Zinsen davon werden schon vom Anfang des 1777. Jahres an, unserm Institut ausgezahlt werden.“ (Pädagogische Unterhandlungen, 5. Stück, 1778, S. 413, vgl auch die nochmalige Anzeige im Philanthropischen Journal,
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Wenngleich immer die Tätigkeit für das Philanthropinum ein Kriterium bleiben sollte, so griff der Sinn von „Menschenfreund“ darüber hinaus. Fürst Franz galt auch als menschenfreundlich, nachdem er einige Livländer empfangen hatte.230 Ein „Fest so Ihr menschenfreundlicher Fürst seinen Unterthanen gegeben, hat uns herzliche Freude gemacht“.231 Schilder, wie auch eine unbestimmte Zahl Livländer, die seinen Formulierungen sicher zugestimmt hätten, konnten sich über die Ferne, besonders aber beim Besuch in Dessau, im Einklang mit Geistesverwandten fühlen.232 Es nimmt daher nicht wunder, wenn Schilder nach seinem zweiten Besuch in Dessau sich nicht nur positiv beeindruckt äußerte, sondern auch während seiner Anwesenheit Kontakte knüpfte, von denen die mit Rust233 und Hofrat Herrmann234 länger nachwirkten.235 3. Quartal, 2. Jg., 1779 (April), S. 467.). Bedingung war das wenigstens zweijährige Bestehen des Instituts. Doch begründete der Markgraf seinen Rückzug damit, das Campe und nun auch Basedow das Institut nicht mehr führten. – Wenigstens im Entwurf wandte sich das Institut 1781 deswegen an den Fürsten Franz, s. Rel. Phil. II, 10, Bl. 2 und Bl. 3–4. – (Eventuell zogen sich Verhandlungen darüber bis ins Jahr 1782 oder Wolke informierte Schilder erst später. Wenn Schilder im gleichen Brief, (wie Anm. 215), klagte, „Verlaße dich nicht auf Fürsten und große Herren – das erfährt das Institut Aber wie hat der Fürst seine Gesinnungen so mit einemmahl geändert! – Da seine Einkünfte durch den Tod des alten Eugens so ansehnlich zugenommen, erwartete ich immer die Fortsezung der wohlthätigkeit des Fürsten gegen das Institut.“, so kann es seine Bemerkung, die auf Fürst Franz gemünzt war, den Sinn haben, dass dieser die ihm zufallenden Mittel nach dem Tod von Prinz Eugen von Anhalt-Dessau eventuell als Ersatz stellen sollte und / oder sich kraft fürstlicher Autorität nicht genügend beim Markgrafen einsetzte. Franke, (wie Anm. 4), S. 122, meint, Schilders Bemerkung gegen die Fürsten allgemein sei „nicht völlig begründet“, doch war sie, kennt man Schilders Motive, in der Situation emotional gefärbt und nicht so ganz aus der Luft gegriffen. 229 Brief 72 vom 30. März 1782, Bl. 1 v. 230 Sie waren nicht nur vom Institut angetan, sondern auch „gerührt von der menschenfreundlichen Aufnahme Ihres verehrungs würdigen Fürsten.“ (Brief 15 vom 23. März und 3. April 1779, Bl. 1 r.). 231 Brief 27 vom 19. Oktober 1778, Bl. 1 v. Schilder fügte gleich an: „O, dächten doch alle Fürsten wie er! Dann würde das Philantropin nicht so hülflos geblieben seyn.“ 232 Besonders bei den „philanthropischen Freunden“, Brief 46 vom 20. Juni 1780, Bl. 1 v. – Hier bestätigt sich nochmals, was Erhard Hirsch, Dessau-Wörlitz. Aufklärung und Frühklassik, Leipzig, 1985, S. 13 schreibt: „Ein ‚Weltbürgertum‘ sollte entstehen, [...] ein geläutertes Geschlecht von ‚Menschenfreunden‘ “. Die positiven Eindrücke von Reisenden im gleichen Werk. Auch Schilder war insgesamt beeindruckt. Noch aus Berlin schrieb er: „Noch ist mein Herz voll der gnädigen Begegnung Ihres Durchl Fürsten, und sehr ruhig in Ansehung meiner lieben Kinder ohngeachtet der Entfernung und noch bevorstehenden weitern Entfernung. Dancken Sie doch von meinetwegen alle die lieben Dessauer (die Sie kennen, für ihr liebreiches Betragen gegen mich, unter dieser Zahl sind denn auch alle Herren Profeßores Lehrer und Aufseher des Instituts wie auch alle Ihre lieben Zöglinge groß und klein.“ 233 Rust spielte ihm eine Komposition vor, die er auch in Druck geben wollte. Schilder paenumerierte 24 Exemplare, Brief 65 vom 6. Oktober 1781, Bl. 1 r. f. 234 Mit Hermann stand Schilder schon vorher in brieflichem Kontakt. Nach ihrer Begegnung bestellte Schilder bei ihm Aurikel- und Tannensamen. 235 Schilder ließ später über Hofrat Hermann dem Kollegium Kaviar zukommen, Brief 58 vom 16. Dezember 1780, Bl. 3 r. Auch der Fürst bekam Kaviar und Haselhühner geschenkt, wie er in Brief 82 vom 31. Dezember 1782, Bl. 1 v. f. berichtete. Opitz, S. 155, spricht auch von Kavi-
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Eine solche menschenfreundliche Haltung, die auch auf verbaler Verständigung basierte, konnte sich freilich – dazu lud sie ja ein – bis in das Private236 gehen. Hier war Schilder fast ein Sonderfall. Wenn man die Anredeformeln der Elternbriefe mit einander vergleicht, so wird man öfter einen Anklang an die „philanthropische“ Sprache finden. Doch daß ein Vater eines Zöglings die Direktionsmitglieder, vor allem Wolke, über lange Zeit und durchgehend mit „Freund“237 ansprach, kam sonst eher selten vor. Es handelte ich dabei nicht um eine stereotype Ausdrucksweise, sondern sie war untermauert von Vertraulichkeit238 und einer für das „Zeitalter der Empfindsamkeit“ nicht ungewöhnlichen Sentimentalität.239 Bald schrieb er, sehr wahrscheinlich an Wolke: „Bester Freund! So haben Sie es doch wohl gern? Die Sprache des Herzens muß Ihnen bester redlicher Mann die angenehmste seyn!“240 In der Folge äußerte Schilder öfter die Sehnsucht nach Wolkes Briefen.241 Es vertraute Wolke auch seine wirtschaftliche Situation oft detailreich mit242 und ließ ihn Anteil nehmen, als er sich um ein Amt bewarb243. Es nimmt auch nicht
arsendungen mit Verweis auf Dokumente des LHASA-AD und bringt das in die Nähe von Bestechungsversuchen. In unserem Fall kann keine Rede davon sein, da Schilder schon vorher seine Kinder unterbringen konnte. Vgl. auch Anm. 62. 236 Man muss natürlich sagen, dass die anderen Aspekte ständig hineinspielten. Eine Trennung, wie wir sie heute kennen, kann nicht vorausgesetzt werden. 237 Anreden wie „“Liebster bester Freund“, „Liebster Freund“ finden sich passim. 238 In gewissem Sinne treffen die Kennzeichen der emphatischen Freundschaftsauffassung, wie sie Wolfgang Adam beschreibt, zu: „absolute Vertraulichkeit, das Verschmelzen des eigenen Willens mit dem des Partners, die Verdoppelung der eigenen Persönlichkeit in der des Freundes“. (Adam, Wolfgang, Freundschaft und Geselligkeit im 18, Jahrhundert, in: Der Feundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Porträts des 18. Jahrhunderts. Bestandskatalog, Leipzig 2000, S. 15.). 239 Das sei keine Abwertung. Es bildete sich eben ein neuer „Gefühlshaushalt“ heraus. So geht aus den Briefen Schilders ein innigeres Verhältnis zu seinen Kindern hervor, das von einem neuen Familienverständnis kündet, so, nachdem er ersten Sohn in Dessau abgab: „Ich habe meinem Herzen großen Zwang anthun müßen, um die sanften Empfindungen der kindlichen Liebe meines Sohnes (so angenehm sie auch sonst sind) nicht noch mehr in Bewegung zu bringen – aber kaum entfernte ich mich der Stätte dieses rührenden Auftrits so gab ich meinem Herzen Luft durch einen Strohm heißer Zährte – jezo bin ich Gottlob in dem Stande, als ich nach der Trennung von meinem Sohne, vor derselben, zu seyn wünschte und hoffte.“ (Brief 2 vom 26. März 1778, Bl. 1 v.) 240 Brief 3 vom 28. März 1778, Bl. 1 r. 241 So in Brief 8 vom 1. und 12. August 1778, Bl. 2 v.: „bey der Sehnsucht die ich nach Ihren Briefen habe“. 242 So in Brief 19 vom 18.Mai 1779. Meist ging Schilder nicht so gut, wie es vielleicht Butzmann, S. 7 und S. 11 schien, als er einfach vom Großbürgertum sprach, was mehr Reichtum suggeriert, als Schilder ihn hatte. Die Charakterisierung des Philanthropinums als Anstalt für Kinder reicher Eltern gerät ohnehin in die Gefahr, mit Modernismen überfrachtet zu werden. Sicher war man an finanzkräftigen Eltern, vor allem wegen des Fonds interessiert. Doch sollte das andere nicht ausschließen. So heißt es im Philanthropischen Journal, 3. Quartal, 2, Jg., 1779 (April), S. 467: „Alsdan kan des Institut in noch höherem Grade woltätig sein, als es bei izigem Unvermögen ist, alsdan kan es unbegüterten Eltern, verwitweten Müttern hofnungsvoller Söne zur Erzihung derselben [...] noch wirksamer dinen, als izt“. 243 Brief 62 vom 21. Mai 1781, Bl. 1 r. f.
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wunder, wenn Schilder seinen Sohn am liebsten unter Wolkes Spezialaufsicht gesehen hätte.244 Man wird beides, Schilders Tätigkeit für das Philanthropinum und ein Vertrauensverhältnis zu Wolke berücksichtigen müssen, wenn Schilder bereits recht früh Sonderkonditionen für seinen zweiten Sohn eingeräumt wurden. Das Institut bot ihm an, für seinen zweiten Sohn eine Ausnahme bezüglich der Pensionistenzahl zu machen245 und den ältesten und zweiten Sohn wegen der wirtschaftlichen Situation bei Schilder zusammen für 300 Taler246 statt für 500 Taler Pension auszubilden. Doch machte Schilder davon vorerst keinen Gebrauch. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1780 ließ er sehr vertraulich über längere Zeit seinen Gefühlen freien Lauf247 und teilte Wolke auch die Pläne bezüglich seiner Kinder mit, die er, es war nicht ungewöhnlich, nicht bei sich behalten konnte.248 Nun stand für ihn der Entschluß fest, seinen zweiten Sohn unter den günstigeren Bedingungen nach Dessau zu geben.249 Sein jüngster Sohn hingegen wäre noch zu jung für das Institut gewesen. So bat er Wolke um einen ganz privaten Gefallen: Nun bleibt mir noch die Sorge für den jüngsten meiner Söhne von 5 ins 6te Jahr übrig. Würde Ihre liebe Frau da Sie doch selbst keine Kinder haben, wohl für mich und für dies arme mutterlose Weischen wohl die Liebe haben so lange Mutter Stelle an ihn zu vertreten, biß er als Pensioniste aufgenommen werden könnte? oder wüßten Sie, wenn dieses nicht geschehen könnte, nicht einen andern von ihren verheirateten Lehrern der sich seiner annehmen wollte, oder wären nicht sonst in Ihrer Stadt ein par würdige Eheleute ausfündig zu machen, die diesen kleinen so lange bey sich gegen billiges Pflege Geld verpflegen könnten? 250
Wolke solle auch „zu meinem Faveur mit [...] dem edlen menschenfreundlichen Fürsten“251 sprechen. Und Wolke fand eine Lösung des Problems für seine künftigen Philanthropisten; neben Schilders Sohn wurde der Sohn des Kaufmanns Thiringk bei der Familie des Kaufmanns und Buchhändlers Steinacker unterge-
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Brief 16 vom 6. und 17. April 1779, Bl. 1 v. Brief 24 vom 3. und 21. August 1779, Bl. 1 v. f.: „ich dancke Ihnen sehr für die freundschaftlichen Gesinnungen die Sie für mich hegen, ich bin sehr gerührt, daß Sie bloß meinetwegen eine Ausnahme in Ihrem festen Vorsatz nicht über 50 Pens: zu nehmen“. 246 Brief 19 vom 8. Mai 1779, Bl. 1 r.: „Herr Runze hat mir seit seiner retour von Dessau aus Berlin geschrieben, und mir Ihre freundschaftliche ja wohlthätige Gesinnung in Ansehung meines 2ten Sohns mitgetheilt, daß Sie nemlich beyde für 300 rt im Institut erziehen wollten. Ich bin sehr gerührt über diese Gefälligkeit und beschämt, daß meine Glücks Umstände durchaus verlangen von dieser Gefälligkeit Gebrauch zu machen“. 247 Brief 39 vom 15. Februar 1780. Auch in den folgenden Briefen gab Schilder seinem Kummer Ausdruck. 248 Ebd., Bl. 1 v. 249 Ebd., Bl. 1 v. f.: „Sie haben die Freundschaft für mich gehabt dem älteren, der schon 7 Jahre, einen Platz im Philantropin aufzuheben, davon ich aber vor kurzen Ihnen schrieb keinen Gebrauch fur die 2ersten Jahre machen zu wollen, nun aber muß ich Sie bitten mir diese Freundschaft aufs neue zuzustehen unter der Bedingung als Sie gegen den H. Runze declarirt und gegen mich bestatigt haben. Gott weiß daß ich nicht Ihrer Gefälligkeit mißbrauche“. 250 Ebd., Bl. 2 r. f. 251 Ebd., Bl. 2 v.
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bracht.252 In der Zeit des heftigen Streits mit Basedow überwies Schilder Wolke 560 Taler, um aus der Not zu helfen.253 1784 nahm Schilder seine Kinder aus Dessau zurück,254 nachdem er mit Carolina Barbara Pritzbuer eine zweite Ehe geschlossen hatte und bald darauf auf sein 252
Im Zusammenhang nun mit einer solchen Einzelheit sei auf eine nicht ganz einfache Frage verwiesen: Waren die nach Dessau gekommenen Söhne auch sogleich schon Schüler, die am Unterricht teilnahmen? Pensionisten, die gegen Geld im Palais Dietrich oder angemieteten Wohnstätten untergebracht waren, waren sie jedenfalls nicht zwangsläufig, wie in diesem Fall. Auf den Unterschied ist bis jetzt wenig geachtet worden. Opitz, (wie Anm. 7), S. 155 macht mit Bezug auf den jungen Thiringk die Bemerkung, dass Schüler interimistisch bei Steinacker untergebracht wurden. Damit setzt Opitz die Anwesenheit in Dessau mit Schüler-Sein gleich. – Franke, (wie Anm. 4), irrt auch, wenn er in seiner Übersicht, S. 132, für den jüngsten Schilder Anfang 1780 und Thiringk Anfang Oktober als Zeitpunkt des Eintritts in das Philanthropinum setzt. Das Meritenbuch gibt für beide den 1. April 1783 aus, Rel. Phil. I, 2, Bl. 110 [r.] und 129 [v.] aus. Thiringk wurde übrigens erst am 15. April 1783 dem Institut übergeben, wie aus einem Brief des Vaters vom 9. Mai hervorgeht, Rel. Phil. IV, 3, 14, Bl. 5 r. Nachgewiesenes Geld für beide floss auch erst für den Zeitraum ab 1. April 1783 an das Institut, wie das Journal über Einnahme und Ausgabe des Erziehungs-Instituts [...], Rel. Phil. II, 2, Bl. 24 [v.] – 25 [r.] Bl. 27 [v.] – 28 [r.] erkennen lässt. 253 Brief 88 vom 29. März 1783, Bl. 1 r. Ob das Geld, etwa auch ein Teilbetrag, für Wolke oder alles für das Institut bestimmt war, ist nicht geklärt. In beiden Fällen war es aber für Wolke eine Hilfe. 254 Die Vorgeschichte ist, was das Ende der Beziehung zu und des Engagements Schilders für die Erziehungsanstalt seiner Kinder angeht, momentan auf Quellenbasis nicht ganz zu klären, weil offenkundig einige Briefe verlorengegangen sind. Franke lagen sie noch vor. Was er diesen Briefen entnahm, kann hier nur wiedergegeben werden. „Im Herbste der Jahres [1783] aber faßte Schilder den Entschluss, seine drei Söhne in der Heimath durch einen Hauslehrer unterrichten zu lassen. Seine Sinnesänderung verräth schon ein Brief vom 14. Okt.; er wirft die Frage auf, ob die Fortsetzung der Pädagog. Unterhandlungen sehr glücklich sein werde, und bemerkt dagegen: ‚Die Sache ist schon zu alt, und man wird der collection für ein und dieselbe Sache überdrüssig, wenigstens die Geber.‘ Um diese Zeit erwartet er den H. von Zimmermann, den er gebeten in Dessau auch seinen ältesten Sohn zu prüfen, mit Ungeduld, zurück. Nach dessen Rückkehr zeigte er (spätestens zu Anfang des December) dem Institute jenen Entschluß an und tritt in Unterhandlungen wegen eines Hofmeisters. Die Anstalt erblickte in dem Rücktritt ihres eifrigen Agenten einen empfindlichen Verlust, alle Anstrengung jedoch, ihn zu halten, blieb erfolglos; [...]“, S. 128. Franke erwähnt, S. 129, dass Neuendorf im Auftrage des Fürsten geschrieben habe. Es war aber doch ein wenig anders, wie einige Briefe des Landeshauptarchivs zeigen. So hatte Neuendorf wohl noch vor dem Fürsten erfahren, dass Schilder und andere Livländer ihre Kinder im folgenden Frühjahr zurücknehmen wollten und versprach, Schilder von den soliden Absichten des Fürsten zu unterrichten, Brief an Fürst Franz vom 18. Dezember, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 217 [v.] f. Dafür dankte ihm der Fürst Anfang Januar und teilte mit, Schilder habe in einem nur kurzen Brief an Wolke nochmals erklärt, er könne seine Kinder nicht in Dessau lassen, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 220 [r.]. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sowohl Franz als auch Neuendorf glaubten, jede Rücknahme stünde mit dem Zustand des Instituts und den noch nicht durchgeführten Reformen in Zusammenhang. So äußerte sich der Fürst im selben Schreiben dahingehend, die Zahl von 50 Eleven werde man schon wieder erreichen, wenn das Publikum merkt, dass etwas zur Umgestaltung getan wird. So teilte dann Neuendorf – er mag überrascht gewesen sein – am 15. Januar 1784 dem Fürsten mit: „Heute habe ich von Schildern Briefe gehabt. Er schreibt sehr freundschaftlich, und erklärt sich ausdrücklich, daß er wohl seine Kinder in das väterliche Haus zurüknehme, so geschähe dies keineswegs aus Unzufriedenheit mit dem Institut, sondern aus häuslichen Absichten und Sehnsucht, seine ganze Familie wieder um sich zu versammeln.“ (LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 222 [r.].
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Gut Siminovo übersiedelte. Vorher engagierte er einen Hofmeister namens Masson, der sich im Institut mit Methoden der Erziehung vertraut machen sollte.255 Franke, dem noch mehr Briefe vorgelegen haben können, bemerkt, daß Schilder Anfang Mai die Verbindung zum Philanthropinum löste.256 Wolke reiste etwas später mit dem jungen Grafen Manteuffel nach Livland, von wo aus er nochmals an das Philanthropinum schrieb. Er traf dort auch Schilder, der „gleich verreiste, da ich hier ankam“,257 es ist anzunehmen, daß Schilder aus familiären Gründen reiste. Doch damit brach, anders als es scheinen könnte, die Verbindung zu Wolke nicht ab. Vom freundschaftlichen Verhältnis beider Männer, die o.g. Charakteristik dieses Verhältnisses wird dadurch gestützt, zeugt ein Brief, der in der Sächsischen Landesbibliothek im Wolke-Nachlaß258 aufbewahrt wird. Am 26. Januar 1790 schrieb Graf Heinrich von Schilder von seinem Gut Simonovo an seinen „liebsten Freund“259 Christian Heinrich Wolke; er teilte ihm nicht minder vertraulich seine Sorgen wirtschaftlicher Art mit und bat um Aufschub zur Bezahlung einer Schuld,260 was ganz materiell gemeint war. Er freute sich auch „herzlich des guten Fortgangs Ihrer Erziehungs Anstalt“.261 Der Kreis schließt sich hier symbolisch. Eine Freundschaft, die vermittels des Philanthropinums begann, überdauerte die Beziehung beider Männer zu dieser Schule. Doch das gehört schon in die weitere Geschichte des 18. Jahrhunderts, deren entlegene Feinheiten bisweilen ohne das Philanthropinum nicht immer denkbar sind. Exkurs: Gab es einen bestimmenden Anteil der baltischen Eltern- und Gönnerschaft an Plänen zur Reorganisation des Philanthropinums? Der sich verschärfende Streit zwischen Basedow und Wolke,262 der nun auch sichtbar in der berüchtigten Prügelei am 8. Januar vor dem „Goldenen Ring“ zwischen dem Parteigänger Wolkes, dem Magister Reiche, und Basedow kulminierte, war freilich alles andere als förderlich für den Ruf des Philanthropinums. Das in den Briefen Schilders dazu Gesagte wäre, für sich genommen, schnell referiert. Doch ist nun einmal die anregende These263 vom „Einfluß des livländischen Adels auf 255 256 257 258 259
Brief 84 vom April 1783, Bl. 1 r. f. Franke, (wie Anm. 4), S. 128. Brief von Wolke an das Philanthropinum, Rel. Phil. V, 4, 13, 2, Bl. 2 r. MSU. Dresd. e 166, Nr. 35. Ebd., [Bl. 1 r. f.]. – Es heißt dort weiter: „da Sie mein freundschaftliches Herz gegen Sie zur Gnüge durch unsere vieljährige Bekanntschaft und Verbindungen darinnen wir sonst gestanden, zur Gnüge kennen, so werden Sie Sich leicht vorstellen, was ich beym Empfang Ihres wehrten Schreibens vom 2ten Januar [...] empfunden habe [...]“. 260 Ebd., [Bl. 1 r.]. Eine Eintragung Wolkes auf [Bl. 3 r.] vermerkt: „von Hrn Schilder [?] 400 Silber Rubel schuld geblieben.“ 261 Ebd., [Bl. 2 v.]. 262 Dazu Fricke: Basedows Streit mit Wolke und Reiche, in: Unser Anhaltland 1, 226, 1901, und Pinloche, (wie Anm. 13), S. 127–129. 263 Das ist sie gerade wegen ihrer vorschnellen Lösung der damals wirklich vorhandenen Probleme.
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die Umgestaltung des Dessauer Erziehungsinstituts 1783“, wie Butzmann sie formulierte, aufgestellt worden. Opitz, der sich allerdings mit der „Umgestaltung 1783“ aus gutem Grunde zurückgehalten hat, übernahm aber dann Butzmanns These und erweiterte den genannten Adel verhängnisvoll zur „Elternschaft“,264 zu der ja auch Schilder gehörte. Diese Erweiterung hätte sich bei Kenntnisnahme schon allein der Schilder-Briefe von selbst verboten, wie noch zu sehen sein wird. Beide Autoren haben ihre Behauptungen recht kategorisch aufgestellt, andere Einflüsse zwar genannt und doch nicht berücksichtigt und schließlich die Quellen zielgerichtet selektiv, Opitz sogar teilweise falsch gelesen. Daher sei das Problem hier nochmals aufgegriffen. Fürst Franz ließ nach genannter Prügelszene am 13. Februar 1783 eine gedruckte Nachricht an das Publikum ergehen, die in ihrem Wortlaut seine Befürchtungen, Einschätzungen und Wünsche wiedergibt: Da ich öffentlich die Protektion des hier errichteten Erziehungs-Instituts übernommen habe, und ich nicht anders vermuthen kann, als daß die Streitsache zwischen den Professoren Basedow und Wolke, welche, nachdem für eine Zeitlang in der Asche Glut geglommen, nunmehro öffentlich hat ausbrechen, und zu einer gerichtlichen Untersuchung gelangen müssen, zu allerley dem Institut nachtheiligen Gerüchten Anlaß geben werde: so halte ich es meiner, dem Institut schuldigen Pflicht gemäß, dem Publico hierdurch bekannt zu machen: daß diese Streitsache Privat-Angelegenheiten zwischen Basedow und Wolke betreffe, keineswegs aber Sache des Instituts sey: daß ich zwar dem Professor Wolke, auf sein Ansuchen erlaubt habe, sich den Geschäften des Instituts, bis zur Endigung der Streitsache zu entziehen, um mehrere Muße zur Betreibung seiner Streitsache zu haben: daß aber desselben bisherige Instituts-Geschäfte unterdessen auf die übrigen Vorsteher des Instituts vertheilt worden; das Institut also seinen Fortgang vor wie nach haben werde. Auch werde ich dafür sorgen, daß die dem Institut anvertrauten Zöglinge unter diesem Streite nicht leiden sollen. Uebrigens wünsche ich, daß das Publikum über die Streitsache selbst vor geschehener Entscheidung nicht urtheilen möchte.265
Im Vorfeld schrieb der Fürst privat an den Baron von Igelströhm266 und an Schilder.267 Der Inhalt dieser Briefe besagt im Grunde dasselbe wie die Nachricht, aber verbunden mit der Bitte, daß beide Männer bei ihren Landsleuten Sorge tragen möchten, daß eventuelle Gerüchte nicht für Unruhe sorgen. Für Butzmann nun sind die Adressaten jeweils „Vertrauensmänner“, Igelströhm der des Adels, Schilder der des Großbürgertums.268 Opitz seinerseits wandelt diesen „Vertrauensmann des 264 265
Z.B. S. 157f. Eine Begründung wird nicht gegeben. LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 86. Ein übrigens recht später Entschluss, an die Öffentlichkeit zu gehen. 266 Brief vom 2. Februar 1783, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 73. Das Konzept hat das durchgestrichene Datum 29. Februar 1783. Wegen der Antwort kann man sicher sein, dass der Entwurf als Brief auch Igelströhm erreichte. 267 Brief vom 29.Januar 1783, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 74. Ob Schilder diesen Entwurf auch als Brief bekam, ist nicht sicher. Es fehlen heute nicht nur Briefe, wie aus Frankes Aufsatz zu schließen ist, und Schilder hüllte sich eine Weile in Schweigen, andererseits wäre es seiner sonstigen Gesprächigkeit zuzutrauen, dass er in den vorhandenen Briefen an Wolke Bezug darauf genommen hätte. 268 Butzmann, (wie Anm. 6), S. 7. Ob der Fürst an solche soziologische Unterscheidung überhaupt gedacht hatte, ist sehr fraglich.
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Adels“ in „Elternvertreter“269 um. Wann aber sollte Igelströhm mal Vertrauensmann des Adels, mal Elternvertreter geworden sein? Das hätte doch einiger Absprache unter den jeweiligen Gruppen bedurft270 und man hätte es, der Vollständigkeit halber, in Dessau so wissen müssen. Doch gibt es dafür keine Zeugnisse. Es ist nicht anzunehmen, daß es dem Fürsten im Kopf herumging, er müsse bestimmte Vertreter oder Vertrauensleute anschreiben. Zumal Igelströhm sich zu dieser Zeit in Berlin aufhielt, während Schilder hätte vor Ort agieren können, was auch Opitz sieht.271 Die Beweggründe272 für die fürstlichen Schreiben wird man wohl nie in ihrer Gänze ermitteln können, doch gibt es einen Umstand, der weniger auf rationale Überlegung verweist, als auf den Mechanismus des menschlichen Gedächtnisses. Es waren Igelströhm und Schilder als Eltern von Pensionisten – und in diesem Zusammenhang zufällig Livländer –, die sich kurz vor Basedows und Reiches Prügelei in das Gedächtnis des Fürsten einschreiben konnten. Der Baron von Igelströhm weilte im Dezember 1782 in Wörlitz.273 Franz nahm darauf auch Bezug: „[...] da Sie sich während der Zeit in welcher ich das Vergnügen Sie bey uns zu sehn und nachher als einen warmen Freund des Instituts und Beförderer desselben bezeugt haben.“274 Ähnlich bei Schilder: Dieser hatte dem Fürsten als Geschenk Haselhühner und Kaviar zukommen lassen275 und begann seinen Brief mit den Worten: Das angenehme Geschenk, welches Sie mir mit Haselhünern und Caviar gemacht haben, habe ich mit vielem Vergnügen durch Ihre lieben Kinder erhalten. Ich sehe es als einen Beweis Ihrer mir schätzbaren Zuneigung an, wovon Sie mir schon so viel Proben gegeben haben, und danke Ihnen dafür ergebenst. Da ich Sie ohne Schmeicheley als einen der vornehmsten Beförderer des Instituts ansehen muß [...].276
269 270 271 272
Opitz, (wie Anm. 7), S. 159. Das wird im Folgenden an den Texten näher zu sehen sein. Opitz, S. 157. Die zahlenmäßig starke Vertretung livländischer Zöglinge mag man anführen können, doch ist nicht sicher, ob der Fürst daran gedacht hat. Es wäre darüber hinaus sogar, weil das Institut ja nicht eigens für baltisches Publikum gedacht war, angebracht gewesen, mit Privatschreiben sich auch an andere Eltern, denen man einen gewissen Einfluss zutraute, zu wenden. Das hätte keine größeren technischen Problem verursacht. 273 Das Gästebuch, das von Hofmarschall Glafey angefertigt wurde, weist für den 13. Dezember Igelströhm, für den 16. dessen Frau aus, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, A 12, 19 (Fremdenliste vom März 1770 bis September 1806), S. 59. Der Sohn Glafeys trug die Daten nochmals zusammen. Ein kleiner Teil der Handschrift befindet sich in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau (unsigniert). Darin erscheint Igelströhm am 16. Dezember 1782. Es gibt Unstimmigkeiten zwischen beiden Besucherbüchern, doch man kann Igelströhms Besuch sicher sein. Dass man sich privat näher kam, wenn man sich nicht schon vorher kannte, ist möglich, denn der Brief des Fürsten wurde Igelströhm durch den „Herrn von Waldersee“, Franzens illegitimen Sohn, übergeben (LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 75 [r.]). 274 LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 73 [r.]. 275 Brief 82 vom 31. Dezember 1782, Bl. 1 v. f. Schilder gab hier noch Instruktionen, wie das Geschenk – durch seine Söhne – dem Fürsten zu überreichen sei. 276 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 74 [r.]
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Antwort277 kam am 7. Februar von Igelströhm, dem übrigens der Streit zwischen Basedow und Wolke „fast unbekannt278 war. Er wolle aber „bey meinen Landsleuten alles daßjenige bewirken, was HochDieselben zu wünschen mir gnädigst geäußert haben“ und „Briefe nach Liefland Posttäglich schreiben biß ich durch Antworten auf solche werde überzeugt sein, daß ich so glücklich bin, Höchst Deroselben Befehle ausgerichtet zu haben und darüber unterthänigsten rapport machen können“.279 Im März 1783 kam Igelströhm nun nach Anhalt-Dessau.280 Daß er dabei das Institut besichtigt hat, steht außer Frage, aber ob diese Besichtigung der Grund seines Kommens war, wie Butzmann281 und Opitz282 meinen, ist nicht sicher. Aus Igelströhms Plan vom 7. Februar 1783, Dessau aufzusuchen, spricht eher die private Beziehung zum Fürsten: Auch haben mir dieselben wiederholte Merckmahle von Eurer Fürstlichen Durchlaucht vor mich hegenden, mir höchst verehrungs würdige Gnade und Huldreichen Andenkens rührendsten Freude auf das gütigste zukommen laßen. [Danck]Begierde vor diese Wohlthaten, bin ich nicht vermögend Eurer Durchlaucht schriftlich zu bezeigen. Die Ausdrücke fehlen mir, obgleich mein Hertz [del.] sich seiner Pflicht entledigen zu können wünschet. Erlauben Sie Gnädigster Herr, daß ich dieses Frühjahr meine Reise nach Monpelier über Dessau nehme, und Höchstdenenselben [...] alsdenn persönlich respect ablegen und meinen Danck hinstammeln darf.283
Am 31. März – er hielt sich noch in Dessau auf – schrieb Igelströhm seine Vorschläge an Fürst Franz.284 Erst nun machte Igelströhm darauf aufmerksam, daß er 277 278 279
LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 75–76. Ebd., fol. 75 [v.]. Ebd., fol. 76 [r.]. Das ist freilich ein Unterschied zu dem was Opitz, S. 157 daraus macht: „[...] daß er laufend Rapport über die Meinungen und Stimmungen in den Ostseeprovinzen geben werde“. Es ist auch nicht richtig, wenn Opitz an selber Stelle davon spricht, dass seinen „laufenden Rapport“ geben werde, „wenn ihm von Dessau aus ebenfalls Mitteilung über den Stand der Auseinandersetzungen gemacht werden würden“. 280 Glafeys Gästebuch, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, A, 12 a Nr. 19, S. 60 weist, in Übereinstimmung mit dem in der Anhaltischen Landesbücherei aufbewahrten Konzept (vgl. Anm. 273) Igelströhm mit Frau und kleinem Sohn als Besucher in Wörlitz am 15. März 1783 aus. 281 Butzmann, (wie Anm. 6), S. 7. 282 Opitz, (wie Anm. 7), S. 157, lässt Igelstöhm noch viel direkter auf das Ziel zusteuern: „Igelströhm ließ sich aber nicht allein durch den Brief und die Versicherung des Fürsten [...] beruhigen, sondern kam selbst nach Dessau, um sich an Ort und Stelle über die Vorgänge zu orientieren.“ Doch Igelströhm schrieb das Gegenteil: „Eurer Durchlaucht gnädigstes Versprechen, daß ich von dem Ausgange der Streit-Sache zwischen den Herrn Professores und von denjenigen, so von HöchstDenenselben zur Verbeßerung und Erhaltung der guten Ordnungen beliebet und festgesetzt werden soll, Kenntniß zu seiner Zeit erhalten werde, stellt mich indeß vor jene Pflichten ruhig, die meinen Landsleuten und ihrer Jugend schuldig bin und die, zu meiner wermsten Freude, mit meiner Eurer Durchlauchten Heilig gewidmeten Beeiferung und Aufopferung aller meiner Kräfte, vollkommen übereinstimmen werde.“ (LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 76 [r.]) Das ist auch keine, wie Opitz glauben machen will, energische Forderung nach „Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung“. 283 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 75 [r.]. 284 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 94 und 97 (die Blätter sind in einigem Abstand geheftet).
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von einigen Landsleuten gebeten worden sei, das Institut näher zu erforschen und ihnen Klarheit darüber zu verschaffen, was an den umgehenden Gerüchten wahr sei.285 Daß Igelströhm hingegen seine Vorschläge, von denen noch die Rede sein wird, nun im Auftrag anderer Eltern gemacht habe, ist nicht nachzuweisen,286 seine Vorschläge waren Produkt seiner Eindrücke und Überlegungen. Butzmann und Opitz haben aus der Berufungsurkunde Neuendorfs vom 7. Oktober 1783 den Schluß gezogen, daß Fürst Franz dem livländischen Adel, genauer: Igelströhm, entgegenkommen wollte.287 Tatsächlich haben Igelströhms Vorschläge auch eine Rolle gespielt, auf die noch eingegangen werden wird. Berücksichtigen muß man aber, daß Franz sich in einem langen Entscheiungsprozeß doch hauptsächlich mit zwei anderen Schulmännern, Neuendorf und Rochow,288 beriet. Und sehr wahrscheinlich ist in diesem Fall, daß auch Erdmanndorff einbezogen wurde.289 Mit Neuendorf, um ihn wieder für das Institut zu gewinnen, trat Fürst Franz am Kollegium vorbei in Verschwiegenheit in Verhandlungen und Diskussion über die Struktur des Instituts und Neuendorfs künftige Stelle.290 Daß sich nicht nur Franz, wie Ulla Jablonowski und Erhard Hirsch herausgearbeitet haben, auf Rochows Erfahrungen stützen wollte, sondern auch Neuendorf dies anstrebte, macht eine Bemerkung des letzteren deutlich. Man versuchte über längere Zeit, auf Bitte Neu-
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Ebd., fol. 94 [r.]. Es spricht alles dafür, dass solches Ansinnen an Igelströhm auch erst nach seinem Vorsatz, nach Dessau zu reisen, herangetragen wurde, denn er ja war Anfang Februar noch nicht richtig informiert; darüber hinaus sind auch die Postwege zu berücksichtigen. Wer (sie werden Freunde genannt) aber mit seinen Bitten an Igelströhm herangetreten war, muss zur Zeit offen bleiben. Bemerkenswert ist aber, dass in Schilders Briefen nichts davon erwähnt wird. – Butzmann und Opitz haben übrigens den einzigen Beleg dafür, dass Igelströhm im Interesse auch von Eltern das Institut besichtigte, nicht herangezogen, siehe folgende Fußnote. 286 Opitz, (wie Anm. 7), S. 158 meint, Igelströhm habe seine Vorschläge unterbreitet, „[...] wobei er sich auf die Unterstützung der Eltern berief, in deren Namen er sprechen mußte“. Für diese Behauptung gibt es keine Stütze in den Quellen. Freilich spricht Igelströhm in seinen Briefen von seiner Sorge für die Livländer, das geht von seiner Person aus und man kann das weitläufig interpretieren, von echter Sorge bis zum rhetorischen Effekt, dessen sich zwei andere Briefschreiber, Fritze und Wiesel, bedient haben. 287 Butzmann, (wie Anm. 6), S. 9f.; Opitz, (wie Anm. 7), S. 159f. 288 Hierzu Jablonowski, Ulla, Dessau und Reckahn, in: Reckahner Heft 02/1996, S. [1] – 8 und S. 13–18 und Hirsch, Erhard, Rochow, Basedow und Franz von Dessau als Wegbereiter ‚neuer Pädagogik‘, in: Schmitt, Hanno / Stosch, Frank (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734–1805 im Aufbruch Preußens, Berlin 2001, S. 107–117. 289 Busse teilte einige seiner Gedanken in dieser Phase am 16. Juni 1783 dem Fürsten mit und war bereit, „dem Herrn Erdmannsdorf oder Hofrath Herrmann meine Ueberzeugungen auseinander zu setzen“. (LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, fol. 183 v.). 290 Ersichtlich etwa im Brief von Fürst Franz an Neuendorf vom 7. Juni 1783, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 59 [r.]: „[...] weil ich auf alle Fälle auf Ihre Verschwiegenheit rechnen kann [...] Hier weiß niemand von der Sache etwas als der Schreiber dieses Briefs dessen Hand Sie kennen “. Auch vorher schrieb Neuendorf an Franz: „Niemand, ohne Ausnahme [am Rand:] auch meine Brüder nicht, als meine nächsten Blutsfreunde, sollen den Gegenstand und Inhalt dieses Briefes und Dero Anfrage wißen.“ (Brief vom 24 Mai 1783, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 166 [v.]). Allein den nüchtern kalkulierenden Busse hielt Neuendorf der Einbeziehung für würdig, ebd., fol. 167 [r.].
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endorfs291 eine persönlich Aussprache zu führen, und Neuendorf hielt es für angebracht, Rochow zu Rate zu ziehen.292 Es gab auch Vorschläge aus der Lehrerschaft selbst, was auch Butzmann und Opitz anführen. Es hätte dann auch gezeigt werden müssen, daß der Einfluß letztgenannter Personen ohne – sei es verstärkenden oder abschwächenden – Einfluß war im Vergleich zu den Igelströhmschen Gedanken. Und Igelströhm bemängelte, daß ihm die Lehrerschaft „wie eine Gesellschaft privater Personen“ vorkomme, die „doch nur eine zufällige und zeitweilige Verbindung geben können“,293 und er schlug vor, dem Direktorium einen Praeses vorzusetzen.294 Daran war nichts Neues. Denn formaliter war, trotz der Einführung des dirigierenden Kollegiums 1779, Wolke deren Praeses und, nach dem Wortlaut, auch Direktor.295 Das Verständnis von Wolkes Rolle war allerdings nicht überall dasselbe. Im Philanthropischen Journal, 3. Viertel, 4. Jg., 1781 (Oktober) wurde dazu angezeigt: [...] machen also die 6 Professoren Wolke, Feder, Neuendorf, Du Toit, Busse und Jasperson ein eignes Kollegium aus, von welchem die algemeinen Angelegenheiten des Instituts überlegt und entschiden, alte Anordnungen aufgehoben, neue wieder festgesezt, die nötigen Mitarbeiter gewält und bestallet etc. und nach einer von unserm Durchl. Protector, Fürst Franz, bestätigten Konstitution, alle Direktionsgeschäfte betriben werden, obgleich Wolke, der von den vorigen Direktoren allein übrig gebliben war, disen Namen auch nur allein öffentlich fortfürte. Stat des abgegangenen Prof. Neuendorf hat das Kollegium den Prof. Salzman [...] wieder unter seine Mitglieder aufgenommen. Wolke ist in demselben blos Präses, welches er deswegen anzeigt, damit, wegen seines bisher gebrauchten Prädikats: Direktor, nicht Jemand glaube, daß die ganze Direktion des Instituts von ihm allein abhange.
Offenbar war man sich bewußt, wie weit man sich vom Verständnis des Publikums von einem Direktor entfernt hatte. Und das Publikum ging, jedenfalls partiell, auf diese Anzeige nicht ein, sondern betrachtete Wolke weiterhin als Direktor. Schilder adressierte etwa seine Briefe auf jeden Fall bis in das Jahr 1782 an den „Professor und Director Wolke“296 und für Fritze und Wiesel in Berlin galt Wolke als der ausgemachte Direktor und auch am Institut schien die Meinung nicht durchgängig
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Ebd., fol. 166 [r.]. „Auch muß ich hier meinen unterthänigsten Dank abstatten für die abermals gemachte Hofnung zu einer persönlichen Unterredung, worin Ew. Hochfürstl. Durchl. mir den vom Institut zu entwerfenden Plaan gnädigst mittheilen wollen. Wie wichtig und lehrreich würde es für mich, und nützlich fürs Institut seyn, wenn dieses in Gegenwart des H. v. Rochow geschehen könte!“ (Brief vom 18. Juni 1783, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 186 [v.] f.). Inwiefern nun Rochow und die Reckahner Schule inhaltlich auf Dessau wirkten, müsste noch näher zu untersuchen sein. 293 Brief vom 31. März, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 94 [r.]. 294 Ebd., fol. 94 [r.]. 295 Wie es in der „Gesetzmäßigen und rechtskräftigen Konstitution für die Lehrer des Instituts“ vom 18. September 1779 heißt: „1. Die Direktion des Instituts wird verwaltet durch ein, von unserm hohen Protector dazu bevollmächtigtes Kollegium von sechs Personen; der Präses in diesem Kollegium ist der jedesmalige Direktor.“ (LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 341, fol. 356 [r.]). 296 Brief 80 vom 26. November 1782, Bl. 2 v.
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konträr zu sein.297 Igelströhm fand nun, als er nach Dessau kam, eine besondere Situation vor. Wolke war beurlaubt, um sich um seine Streitsache zu kümmern, und fungierte nicht als Praeses oder Direktor. Es ist offen, ob Igelströhm sich auf diesen Zustand bezog und deshalb die Einsetzung eines Praeses vorschlug. Er ließ es auch beim Direktorium, dem dieser Praeses vorzusetzen sei. Bedeutet dieser Vorschlag nun, das Institut unter Einzelleitung, die Neues bringt, zu stellen? Das wäre für das Institut nichts generell Neues, weil schon früher einmal vorhanden, gewesen. Ein Vergleich der früher dem Direktor zugewiesenen Funktionen mit denen in Neuendorfs Berufungsurkunde ist insofern angebracht. Dazu kann man nur die Funktionen, die Wolke nach Basedows endgültigem Rücktritt von der Leitung,298 als alleiniger Direktor formell hatte, heranziehen und muß auf ältere Konstitutionen des Instituts zurückgreifen.299 Im Vergleich zu diesen war nun so viel nicht neu an Neuendorfs Berufung. Die auch schon früher genannte Oberaufsicht ist eben ein Punkt, unter dem sich viel und alles unterbringen läßt, ohne daß man Weggelassenes als fehlend charakterisieren muß, weil es sich auch wieder aufzählen ließe. Doch, in den Einzelheiten, sind neu formuliert, daß Neuendorf – für „Nahrung und die Reinlichkeit der Kinder – für das gesetzmäßige Betragen der Lehrer untereinander und gegenüber den Zöglingen, – für die Untersuchung und Beilegung entstandner Mishelligkeiten und Streitigkeiten zwischen Personen des Instituts“, – und den alleinigen „Vortrag von allem, was sowohl Lehrer als das Institut sonst betrift“300 zuständig sein soll. Die meisten dieser Punkte, sie entspringen den Erfahrungen am Philanthropinum, vor allem aus der kritischen Zeit, sind von Igelströhm nicht erwähnt, der dafür anderes anführt. Allein der Vorschlag Igelströhms, daß der Praeses „Executor der Gesetze des Instituts zu sein“ habe, klingt in der Berufung an, es besteht aber kein Zwang, dies auf Igelströhm zurückzuführen, weil die Erfahrungen, die der Fürst gemacht hatte, solchen Punkt von sich aus nahelegten und darüber hinaus dieser Punkt unter den Begriff der Oberaufsicht durchaus fällt. Allein verbaliter hat man einen Anschluß an Igelströhm. Butzmann spricht von „dieser Abgrenzung der Amtsgeschäfte“,301 ohne die einzelnen Punkte zu analysieren. Opitz sieht den „[...] Einfluß Igelströhms unverkennbar, denn ihm kam
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So schrieb Sander 1783 bezüglich Wolke: „Er ist nicht im Stande, eine Stundelang seine Direktorenwürde zu behaupten“. (Zitiert bei: Hirsch, Erhard, Halberstadt und Gleim, in: Gleimhaus Halberstadt (Hg.), Festschrift zur 250. Wiederkehr der Geburtstage von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Magnus Gottfried Lichtwer, Halberstadt 1969, S. 148). 298 Siehe Pinloche, (wie Anm. 13), S. 125. Öffentlich bekannt gemacht wurde der Vorgang in den Pädagogischen Unterhandlungen 1778, 12. Stück, S. 1158f. 299 Pädagogische Unterhandlungen, 1778, 5. Stück, S. 405f. und 12. Stück, S. 1158f. 300 Kopie der Berufung Neuendorfs LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 207 [r.]. 301 Butzmann, (wie Anm. 6), S. 10. So habe Franz „[...] in erster Linie die Wünsche des Barons Igelströhm und des livländischen Adels erfüllen wollte und erfüllt [...]“. Aber abgegrenzt waren die Geschäfte des Direktors auch vorher.
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es vor allem auf eine straffe Leitung der Anstalt an [...]“.302 Die Intentionen sind sicher unverkennbar, doch bleibt es offen, wie denn das Ziel erreicht werden soll. Da ist zunächst der von Igelströhm genannte, auf das Charisma des Direktors gerichtete Punkt, daß der Praeses zwar privat lehren könne, aber „[...] keinen öffentlichen Lehrstuhl im Institute habe [...]“, weil ihm das nicht Gelegenheit „[...] geben könnte selber in Gesetzwidrige Fehler sich zu befinden, die ihm sein Ansehn bey Lehrer und Zöglinge schwächen und ihn dahero untauglich machen würden“.303 Nun darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß die Idee, den Direktor aus der offiziellen Lehre herauszuhalten, nicht zuerst und jedenfalls nicht allein von Igelströhm geäußert wurde. Bereits 1779 machte Johann Friedrich Reichardt nach einer längerer Autopsie des Philanthopinums in einer recht kritisch gehaltenen Rückschau vom 10. September 1779 gegenüber Wolke den Vorschlag: Suchen Sie für Ihr Institut einen bestimmt rechtschaffenen selbständigen Mann, der wahren Eifer für Gute, Blick fürs Ganze hat der ein gründlicher Schulmann, Menschenkenner und Weltkenner ist und theilen Sie mit dem die Direktion. Ueberlaßen Sie ihm die genaue Anordnung des Innern Wesens und die genaue ganze Aufsicht auf Ordnung im Ganzen und Einzeln, unter Lehrern und Schülern, er selbst muß frey vom Schulamte Lehramte blieben!304
Diese Überlegung findet in der Berufungsurkunde aber auch keinen Nachklang. Es verbleiben im Grunde nur die Gedanken Igelströhms, daß der Praeses „[...] mit dem Ansehen Eurer fürstlichen Durchlaucht [...]“ oder „[...] mit der LandesHerrlichen autorität augerüstet [..]“305 sein müsse. Der Fürst stattete Neuendorf nicht mit fürstlicher Autorität aus, sondern versprach ihm fürstlichem Schutz bei seinen Geschäften.306 Aber auch das ist, bezogen auf die Verhältnisse in Dessau nicht neu, sondern eher redundant. Denn als Protektor, der die Konstitution(en) des Instituts absegnete, hatte Franz formaliter auch diesen Punkt erfüllt. Es bleibt von den Igelströhmschen Vorschlägen also, inhaltlich betrachtet, nichts übrig, was sich in Neuendorfs Berufungsurkunde hätte niederschlagen können. Aber diese Vorschläge überhaupt können ihre Wirkung gehabt haben. Dazu ist weiter auszuholen:
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Opitz, (wie Anm. 7), S. 159. Auch Opitz verzichtet auf eine Analyse; so kann man die Frage stellen, ob mit der schon früher vorhandenen Oberaufsicht nicht schon alles festgelegt worden wäre. 303 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 94 [v.]. 304 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 341, fol. 385 [v.]. Bei seinen Unterredungen mit dem Fürsten dürfte Reichardt diese Idee wohl kaum verschwiegen haben. Sicher ist, dass er den Fürsten eigens auf das an Wolke gerichtetete Pamphlet aufmerksam machte im Brief von 09. Oktober 1779, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 341, fol. 375 [r.]. – Gestreift werden kann hier nur die Frage, die sich einfach daraus ergibt, dass Reichardt und Igelströhm entweder aktive oder passive Erfahrung mit preußischer Verwaltungstechnik hatten, worin vielleicht der Ursprung dieses Vorschlags zu sehen ist. 305 Ebd. Wie aber solche Ausrüstung mit Landesherrlicher Autorität auszusehen habe, ließ Igelströhm auch offen. 306 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 207 [v.].
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Wenn Opitz meint, „[...] daß sich andere Eltern nicht um eine Reorganisation der Anstalt kümmerten“, so ist das eingeengt auf Igelströhms Vorschläge und im Grunde nicht richtig. Es gab unter der Elternschaft Stimmungen, die eine Verbesserung, eigentlich die Beseitigung aller Schwierigkeiten, in der Entfernung Basedows aus Dessau überhaupt und der Weiterführung des Instituts durch Wolke sahen. So auch in Livland selbst, wie aus den Schilder-Briefen hervorgeht.307 Allerdings hatte Schilder seine und anderer Meinung nicht nachweisbar an den Fürsten selbst gerichtet.308 Aus einer anderen Richtung, nämlich von Berlin aus, wandten sich die Herren Fritze und Wiesel an den Fürsten Franz direkt in einem recht intriganten Brief und verlangten Basedows Entfernung aus Dessau309 und „[...] dem Institut den würdigsten und verdientesten Professor Wolke als Direktor zu erhalten“.310 307
Schilder selbst war schon lange über die Auseinandersetzungen Wolkes mit Basedow informiert und freute sich, als er den Streit für beigelegt hielt, Brief 75 vom 2. Juli 1782, Bl. 1 v: „Es freut mich sehr daß Ihr Zwist mit Based: im Stillen beygelegt wird, es ist die beste partie die Sie genommen dem Rahte des würdigen Zollikofer gefolgt zu haben.“ Später schlug die Stimmung gänzlich gegen Basedow um. Am 29. März, Brief 83, Bl. 1 r. schrieb Schilder an Wolke: „H. ouvriers Relation habe ich mit Freuden gelesen, weil Ihre Rechtschaffenheit darin in ein helles Licht gesezt wird, aber gegen Basedow konnte ich meinen Verdruß nicht bergen, so daß ich auf der Stelle deßen portrait, das in meinem Zimmer obenan in einem schon vergoldeten Rahmen hing, abnahm und auf immer in einen entfernten Winckel relegirte.“ So war Schilders persönliche Reaktion. Aber auch andere waren ähnlicher Meinung. So fand Reiches Schrift (Getreue Beschreibung der Umstände, unter welchen Herr J. B. Basedow Schläge bekommen und seinen Rock verloren, auch mit Direktor Wolke einen schändlichen Prozeß angehoben hat, Dessau 1783) Anklang: „der lustige Ton [...] hat besonders unsern Berens gefallen.“ Und weiter: „Über die Schläge die Basedow erhalten, sind wir sehr erfreut, die hat er längst um Sie verdient.“ (ebd., Bl. 1 v.). Ein weiterer, nicht datierter, an die „Hochzuehrenden Herren“ gerichteter Brief spricht ein eindeutiges Urteil: „Wir Lievländer insgesamt nehmen recht herzlichen Antheil an dem Kummer den der Herr Director Wolcke von Basedow’s Verfahren den nunmehr entlarvten Heuchler, gelitten und auch noch leidet. Wir sehen zum voraus daß Wolcke triumphiren werde, aber wir wünschen sehnlich, zur Erhaltung des guten ruf’s des Instituts 1. das Basedow’s Urtheil mit der relegation von Dessau verbunden seyn möge und 2tens daß unter autoritè Ihres hohen Protectors des durchl. Fürsten das Urtheil zur Satisfaction des guten Wolcke öffentlich möge gedruckt werden.“ In einem Fall scheint der Streit zwischen Basedow und Wolke Wirkung im Baltikum gezeigt zu haben. Der Kaufmann Thieringk nahm seinen Sohn zurück. Der mögliche Grund dafür ist aber nur referiert in einem Brief des schon erwähnten Bankiers Frege vom 7. Juni 1783 an das Institut: „Ich sehe keine Ursache den jungen Thiringk so schnell zurückzunehmen, der bedauernswürdige Streit ist ja geendigt, und gieng zwey der Erzieher an [...].“ (Rel. Phil. IV, 3, 14, Bl. 7–8, Bl. 7 r. f.). Ungewiss bleibt, ob damit auch die Meinung Thiringks wiedergegeben war. 308 Schilder bemerkt aber in Brief 83 vom 29. März 1783, Bl. 2 r., er wolle an dem Hofrat Hermann seine und anderer Eltern „Gedancken und Wünsche in Betracht Ihrer [sc. Wolkes] mittheilen.“ Worum es ging, ließ sich bis jetzt nicht nachvollziehen. 309 Brief vom 5. April 1783, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 95–96. Dort ist unter anderem fol. 95 [v.] zu lesen: „Unsre Kenntnis und Meynung vom Professor Basedow ist kein Werk einiger Wochen oder Monate. Wir haben uns Jahre lang mit diesem Gegenstand beschäftigt, und die Gewissenhaftigkeit, die wir uns, unsern dem Institut anvertauten Kindern und Eltern, die solches ebenfalls gethan, oder noch thun wollen, schuldig sind, dabey nicht aus den Augen gesetzet. Wir haben unsre und andrer Erfahrungen und Bemerkungen gesammlet, kaltblütig geprüft, mit öffentlichen und geheimen Nachrichten von diesem berüchtigten und
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Wenngleich nun das Ansinnen von Fritze und Wiesel und Igelströhms Vorschläge verschieden sind, so haben sie gemeinsam, daß sie das Versprechen des Fürsten Franz, sich um die Institutsangelegenheiten zu kümmern, sehr begeistert aufgriffen und ihn nicht nur als den Landesherren, sondern auch Dienstherren des Instituts verstanden, ja versuchten, in diese Rolle hineinzudrängen.311 Franz reagierte darauf sehr zögerlich, wie ein Briefentwurf an Igelströhm zeigt: Gewiß niemand kann es so sehr wünschen als ich, daß jedes Mitglied des hiesigen Instituts um seine eigentlichen Bestimmung für dasselbe auf das genaueste unterrichtet werde, und zwar um so mehr, da ich vernehme, daß durch den vom Institut mir beygesetzten Nahmen eines Protectors die innige Meinung entstanden, als ob ich dadurch zugleich die Besorgung der Direction des Instituts übernommen habe blos von mir abhinge. Dieses ist nie geschehen, vielmehr habe ich habe ich nun das Institut bey seiner von ihm selbst entworfenen Constitution zu schützen und bey etwan entstehenden Klagen jedem zu seinem Rechte zu verhelfen versprochen, übrigens gegen das Institut und in dem Verhältnisse eines Privat Mannes gestanden, der etwas für dasselbe gethan hat. [...] so werde ich sehen, was für neue Einrichtungen und Bestimmungen zum Besten des Instituts getroffen werden können und so bald solche festgesetzt [solche?] öffentl. bekannt machen damit die Eltern genau wissen kennen, was und wie viel sie vom Institut zu erwarten haben, und ich welchem Verhältniß ich befinde[s?] künftig gegen dasselbe stehen werde. Ich wünsche u. hoffe daß [solche?] den Eltern angenehm seyn werde.312
abentheuerlichen Mann genau verglichen, und endlich die Meynung bewährt gefunden, der Professor Basedow sey von der Seite des Herzens nie der Mann gewesen, und werde es auch nie werden, unter dessen Leitung, Verbindung und Einfluß eine Erziehungs Anstalt einen dauerhaften Flor erreichen kan.“ Es spricht heute noch sehr für Fürst Franz, dass er, bei allen Problemen, solche Invektiven nicht zur Richtschnur seines Handelns gemacht hat. 310 Ebd., fol. 95 [r.]. 311 Vgl. Igelströhms Brief Anm. 274. Fritze und Wiesel schrieben: „ [...] sind Ewr. Hochfürstl. Durchl. wir um so mehr den untertänigsten Dank für diese gnädigste Versicherung schuldig, weil Höchstdieselbe dadurch nicht nur die Sache des Instituts zu Dero HöchstEigenen Angelegenheit zu machen geruhet [...]“ (LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 95 [r.]). Das war wahrscheinlich durch die sparsame Bemerkung in der „Nachricht an das Publikum“, die Franz gemacht hatte (er wolle dafür sorgen, dass die Zöglinge nicht unter dem Streit leiden), hervorgerufen. – Bemerkenswert ist, dass die von Schilder und andere es beim Landesherren und Protektor beließen. 312 LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C 18 b, 342, fol. 129 [r.] – 129 [v.]. Der optische Eindruck sollte hier nachgeahmt werden. Nicht so detailliert, aber in gleiche Richtung gehend, fällt der Entwurf einer Antwort an Fritze und Wiesel aus, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 130. Der Fürst definierte seine Rolle übrigens auch späterhin recht schwankend zwischen Landesherr und Privatmann, wie folgender Vorgang aus dem Jahr 1793 zeigt: Über Friedrich August Wieland machte Franz einem Hauptmann von Troxel ein Stellenangebot, in dem er ganz landesherrlich auf das Institut zurückgriff: „Da ich fest entschlossen bin, dem hiesigen Erziehungs=Institut, und vormaligen Philanthropin, eine neue Gestalt zu geben, und es so einzurichten, daß die Zöglingen ihren Unterricht in der hiesigen Hauptschule erhalten, übrigens aber, nach eines jeden besonderer Bestimmung, in besondere Pensions=Anstalten vertheilt werden: So frage ich bei Ew. Wohlg. hiedurch an, ob der H. von Troxel, dessen Sie in einem Briefe an meinen Bruder Hans Jürge erwähnt haben, noch nicht placirt ist? und ob er wohl vielleicht Lust habe, eine dieser Pensions-Anstalten, die militärische, zu über sich zu nehmen? Es kommt dabei, unabhängig von allem Unterricht, blos auf die moralische Aufsicht auf die Pensionaires, und auf die Verwaltung der Oeconomie an.“ (Brief vom 3. Juli, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 316 [r.]). Troxel lehnte ab und Franz erklärte in undatierter
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Fürst Franz hatte freilich die wirklichen Strukturen schon verkannt, als er den Streit zwischen Basedow und Wolke zur Privatsache313 erklärte und sich selbst für einen Privatmann gegenüber dem Institut.314 Und diese Situation mußte er, gleich welches Verständnis er von sich selbst hatte, ändern. Und er änderte sie auch, wenngleich recht zögerlich und inkonsequent. In diesem Zusammenhang muß man nun auf die vorhandene Situation das Augenmerk haben. Das Hauptproblem, vor dem er stand, war nicht so sehr die Frage eines Direktors, sondern die sich einer Dienstautorität am Institut entgegenstellenden Direktionsmitglieder. Wolke, und er kann und muß in diesem Zusammenhang als Praeses nach der Konstitution, also auch formaliter als Direktor bezeichnet werden,315 war nicht anwesend. Weder konnte Franz Wolke heranzitieren, noch konnten die übrigen Direktionsmitglieder, die ihn sonst nach Kräften ausgebootet hatten,316 Wolke vorschieben. Damit fiel auch das Mittelglied zwischen Direktion und Fürsten und es gab offenen Zugang von beiden Seiten. Und in diesem Zusammenhang ist auf Igelströhm zurückzukommen, mit dessen Vorstellungen sich die Direktion auch auseinandersetzte. Eine Belegstelle, die Butzmann und Opitz entgangen ist, zeugt davon. Und die Direktion, sicher verstärkt durch einigen Druck, den der Fürst machte, faßte auch den für sie entscheidenden Kern auf: Da wir uns indessen eine Einrichtung vorzustellen wusten, für die wir uns Ew. Hochfürstl. Durchlaucht ganzen Beifall versprechen, weil sie, ohne die nun einmal, auch durch ihr Alter befestigte Konstitution aufzuheben, 1) den Hauptwünschen des H. v. Igelströhm, in so ferne sie Ew. Hochfürstl. Durchlaucht wichtig scheinen könten, genüge thun kan [...]317
Ob „Ew. Hochfürstl. Durchlaucht durch die Einführung eines Oberaufsehers die bisherige Konstitution des Instituts aufheben oder daneben noch beibehalten wissen wollen?“,318 war eine für Mitglieder der Direktion insofern wichtige Frage, weil das „daneben“ eben hieß, daß sie weiterhin eben eine Direktion bilden wollAntwort: „Die erwähnte Pensions=Anstalt nemlich, ist eine ganz von mir unabhängige Privat=Anstalt.“ (LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 319 [r.]). Denn der Streit hatte ja Institutsangelegenheiten, eine vorgeworfene Geldunterschlagung, zum Anlass. 314 Das war nun schon wegen des Inspektors Hermann, einem fürstlichen Beamten nicht möglich. 315 Eine Einzelheit aus der Berufungsurkunde Neuendorfs sei in diesem Zusammenhang erwähnt, sie schien auch Butzmann und Opitz eine neue Qualität zu bedeuten: der alleinige Vortrag der Institutsangelegenheiten vor dem Fürsten. (LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, fol. 207 [r.]). Das hatte Wolke bis dahin wahrgenommen und beschwerte sich, dass ihm während seiner Abwesenheit die Kollegen dieses Recht gedrittelt haben, Brief an den Fürsten Franz vom 11. Juli 1783, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, fol. 198 [r.]. 316 Sie legten Wolke nahe, seine Amtsgeschäfte niederzulegen, in seinem und des Instituts Interesse, dessen Ansehen nun mal Schaden erleiden konnte. Es ist eine Überlegung wert, ob hinter der Prügelei am Gasthof und den darauf folgenden Schriften nicht eine lenkende Hand stand, die dann ein solches „Angebot“ nahe legen konnte. Jedenfalls standen die Direktionsmitglieder nicht hinter Wolke, sonst hätten sie den Schaden nach außen zu begrenzen versucht, statt ihn auszunutzen. 317 LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 180 [v.] 318 Ebd., fol. 180 [r.]. 313
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ten, denn in „letzten Falle wären zum Beispiele die Verhältnisse der Lehrer gegen die Direktion bestimt, wie sie bisher beobachtet sind“.319 Mag ein über ihnen stehender Oberaufseher aus welchen Gründen auch immer nicht genehm gewesen sein, so konnten die Direktionsmitglieder – als Professoren – für sich die Gefahr320 vermuten, mit den übrigen Lehrern gleichgestellt zu werden, was nicht eine Frage der Leitungstätigkeit, für die sie sich als unentbehrlich darstellen wollten, sondern eine Frage der Privilegien und des Standes war. Somit stand der Fürst vor den Ergebnissen der von ihm einst genehmigten Konstitution. Und er bewältigte das Kernproblem nicht, weil die Direktion nicht abgesetzt wurde, sondern – übrigens im Einklang mit Igelströhm, der daran auch nicht dachte – sie weiter bestehen ließ. Und für das Weiterbestehen der Direktion gibt es nicht nur Zeugnisse für das Jahr 1783 und 1784, wo doch alle Probleme mit Neuendorf gelöst sein sollten! Nach seiner Ankunft 1784 in Dessau wurde Neuendorf ohnehin auf Reisen geschickt, um sich auch anderswo über das Schulwesen zu informieren, während die Direktion weiterhin die Geschicke des Philanthropinums lenkte.321 Die Macht der Direktion war auch unter Neuendorfs Anwesenheit, soweit erkennbar, vorerst nicht gebrochen. Nicht der Fürst, sondern Neuendorf selbst unternahm einen zaghaften Versuch des Einlenkens: Nach Allem, was wir bisher über die Lage des Instituts und der Direktion deßelben, sowohl schriftlich als mündlich gesprochen haben, wiederhole ich Ihnen den Gedanken nochmals: daß Sie ja keinen Schrit anders thun, als aus der völligen Ueberzeugung, daß er wirklich der beste sey. Ich rathe zwar, daß das Kollegium dem Fürsten die ihm übertragenen Rechte in Ansehung der Direktionsform, mit gewissen Vorbehalt, zurük gibt, – aus dem ganz simpeln Grunde: weil ich mich für überzeugt halte, daß Mehrere eine zusammengesezte Anstalt, die noch ohne eigentlichen Plan ist, weniger glüklich dirigiren können, als Einer, wenn er sonst Eifer hat und nicht ganz mittelmässig ist. Ist oder wird das Kolegium nicht davon überzeugt, so muß es auch diesen Schrit nicht thun. Nehmen Sie dabei auf mich schlechterdings keine Rüksicht, weder aus irgend einer Besorglichkeit noch aus zu gütigem Vertrauen; blos die Sache selbst muß Ihren Entschluß bestimmen. Auch die Frage muß in Betrachtung kommen: Ob das Kollegium, wenn sich das Inst. unter einer andern Direktionsform zulezt nicht erhalten könte, misvergnügter seyn würde, als wenn es lieber die gegenwärtige Form beibehalten würde? [...]
319 320
Ebd., fol. 180 [v.]. Es ist bisweilen schon am Rande des Zweideutigen, was sich in den Quellen bietet. Im noch geheimen Breifwechsel zwischen Franz und Neuendorf betonte letzterer, dass der Fürst mit Busse über die Angelegenheiten des Instituts vertraulich reden könne, Brief vom 24. Mai 1783, LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 167 [r.]. Bereits am 16. Juni 1783 schrieb Busse an Franz, dass er vermutete, wer für den Direktorposten auserkoren sei, ließ auch keine Zweifel an dessen Qualitäten und fuhr fort: „daß er daher binnen kurzer Zeit hier so unglücklich und misvergnügt als jemand leben, oder dringend um die Veränderung seiner Lage ansuchen wird.“ (LHA/Abt. Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 182 [v.]). War das ein Freundschaftsdienst oder sollte ein neuer Direktor verhindert werden? 321 So die von Fürst Franz ergangene Nachricht an das Publikum vom 4. Juni 1784, LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 245.
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Für mich selbst muß ich noch hinzu setzen, daß ich, wenn Sie den erwähnten Schrit thun, mich so lange von dem Institut gänzlich zurükzuhalten suchen werde, bis ich aus den Umständen überzeugt werde, daß das Gegenteil besser sey. [...]322
Es ist eine recht unbedeutende Frage, daß eine Umgestaltung des Instituts, schon weil Neuendorf noch nicht anwesend war, im Sinne Butzmanns nicht stattfand, wenn man nicht anders den Sachverhalt ins Auge faßt, den nicht nur Butzmann und Opitz übersehen haben: Mit der Berufung eines Direktors durch den Fürsten hatte dieser sich die größte Einmischung in das Philanthropinum erlaubt und es als Institution, an der Konstitution und den Lehrern vorbei, tatsächlich entmachtet oder wenigstens seiner relativen Selbstständigkeit beraubt, welche guten Absichten in der Hinsicht Bildung auch damit verbunden waren, und setzte einen ihm genehmen Verwalter, den talentierten Direktor Neuendorf, ein. Innerbetrieblich aber ließ er ihn mit dem Problem der Direktion auf sich gestellt. Alle Formulierungen, von „ausgestattet mit fürstlicher Autorität“ bis „fürstlicher Beistand“ (hätte es durch Händeauflegen geschehen sollen?), die ein strafferes Regime hätten bewirken sollen, sind da (wie jeder Papiertiger) fehl am Platze. Es fehlte an einer gesetzlichen Regulierung der disziplinarischen Gewalt des Direktors gegenüber vor allem diesem Gremium.323 Und hier steht man vor einem weiteren Problem, dem der Verankerung der Institution Philanthropinum in der Gesetzlichkeit des Anhalt-Dessauischen Staates überhaupt. Auch eine solche gab es nicht. Erst die Einführung der Schulpflicht, die auf die eigenen Landeskinder im Wortsinne auch zugriff, schuf eine gesetzliche Untermauerung überhaupt.324
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Brief an Busse vom 21. Januar 1785, Rel. Phil. III, 2, Bl. 12 r. Im Jahre 1887 wurde Christian Ludwig Lenz entlassen. Das Kündigungsschreiben vom 14. Juli unterschrieb Neuendorf. Lenzens widersprechende Antwort vom Folgetag richtete sich aber an den Direktor Neuendorf und die Herren Professoren. Offensichtlich war Lenz durchaus klar, dass Neuendorf nicht allein entschieden hatte, s. LHA/Abt.Dessau, Abteilung Dessau, C, 18 b, 342, fol. 268–269. 324 In deren Folge das Schulwesen in den sich aufbauenden bürokratischen Apparat integriert wurde.
CHRISTOPHE LOSFELD (Halle)
Georges Cuvier als gescheiterter Vermittler des Philanthropismus Die von Basedow hervorgerufenen Reformen auf dem Gebiete der Erziehung und des öffentlichen Unterrichtes sollten Deutschland nicht allein zu Gute kommen; fast allen Staaten Europas war es vergönnt, die Früchte derselben unmittelbar zu genießen,
so Auguste Pinloche in seiner bereits 1914 publizierten und weiterhin grundlegenden Geschichte des Philanthropinismus.1 Den Einfluß des Philanthropismus in Frankreich sieht er hauptsächlich in der Gründung einer Töchterschule in Straßburg durch Jean Schweighäuser und Johann Friedrich Simon, zwei ehemalige Lehrer des Philanthropin von Dessau. Ist diese These durch neue Ergebnisse der Forschung bestätigt worden – es sei hier auf die Arbeiten von Hanno Schmitt und Michael Niedermeier verwiesen,2 so ist Pinloches Behauptung, ein Einfluß lasse sich auch durch die Forderung nach Lehrerseminaren nachweisen, fragwürdig. Seit 1750 wurden in Deutschland zahlreiche Lehrerseminare gegründet. Als Modell galten wahrscheinlich eher die von Felbiger gegründeten Normalschulen, denen die Ecole Normale von 1795 ihren Namen verdankt. Ebenso sollte die These Pinloches in Zweifel gezogen werden, der Philanthropismus habe einen Einfluß auf die Debatten der konstituierenden Nationalversammlung oder des Konvents ausgeübt. Zwar traf sich Campe während seiner Reise nach Paris im August 1789 mit Mirabeau und Mercier, der später Mitglied des Ausschusses des Nationalkonvents für Erziehungsfragen werden sollte. Dennoch lassen sich die während der Revolution gemachten Vorschläge über die Erziehung in einer Diskussion verorten, die weit im Ancien Régime verwurzelt ist, so daß eine bestimmende Wirkung des Philanthropismus hier in Frage zu stellen ist. Ebenso ließe sich zeigen, daß alle Reformprojekte des Philanthropismus in Frankreich bereits formuliert worden waren, wenn auch nicht systematisch, sondern vereinzelt innerhalb der „philanthropischen“ Bewegung (die abgesehen von ihrem elsässischen Zweig wenig mit dem deutschen Philanthropismus gemeinsam hat) oder der Debatte über Nationalerzie-
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Pinloche, Auguste, Geschichte des Philanthropinismus. Leipzig 21914, S. 453f. Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. Dessau 1995 (Dessau-Wörlitz Beiträge 6/1992); ders., „Mitteldeutsche Aufklärer und elsässische ‚Genies‘ im Kampf um das pädagogische Musterinstitut in Dessau“, in: Lenz Jahrbuch 5 (1995), S. 92–117; Schmitt, Hanno, Politische Reaktionen auf die Französische Revolution in der philanthropischen Erziehungsbewegung in Deutschland, in: Herrmann, Ulrich / Oelkers, Jürgen (Hg.), Revolution und Pädagogik der Moderne, Weinheim / Basel 1990, S. 172–175.
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hung.3 Der Grund der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Campe im Jahre 1792 liegt folglich wahrscheinlich eher in der Veröffentlichung seiner Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, einem Zeugnis schwärmerischer Begeisterung für die Staatsumwälzung, als in der Bedeutung der pädagogischen Reformbewegung für Frankreich. Wenn also deren Einfluß auch die revolutionäre Gesetzgebung das Erziehungswesen betreffend nicht überschätzt werden darf, so weist Campe in seinen Schriften ausdrücklich darauf hin, daß die Grundsätze der philanthropischen Reformbewegung in Frankreich 1802 zur Grundlage einer Reform der Erziehung hätten werden können. Zu dieser Zeit fährt Campe zum ersten Mal seit 1789 wieder nach Frankreich. Er beabsichtigt, sich bei der Regierung mit seinem 80bändigen Gesamtwerk für die ihm 1792 erwiesene Ehre zu bedanken. Dieses Vorhaben drohte zu scheitern: Der Innenminister Chaptal weigerte sich, ihn zu empfangen und verwies ihn an den Direktor der Nationalbibliothek, der ihn jedoch auch nicht vorließ. Enttäuscht schenkte Campe seine Werke Cuvier. Dieser war der Sekretär des Institut National, einer 1795 gegründeten Institution, welche die 1793 abgeschaffte Akademie ersetzen sollte. Kurz darauf schreibt Cuvier an Campe: Ich habe meinen Kollegen mitgeteilt, daß Sie mir ein schönes Geschenk für sie überreicht haben; während unserer nächsten Versammlung werden sie sich gemeinsam feierlich bedanken.4
Dies vergaßen Cuviers Kollegen offensichtlich, denn in den Sitzungsberichten des Nationalinstituts findet sich keine Spur eines feierlichen Dankesworts.5 In seinem Brief fährt Cuvier fort: In deren und in meinem Namen möchte ich Sie um die Erlaubnis bitten, gelegentlich auf Ihre Erfahrung und Ihre Ratschläge zurückzugreifen. Sollte Ihnen dies manchmal Mühe bereiten, so werden Sie, dessen Herz die Menschheit und vor allem die Jugend liebt, durch den Gedanken entlohnt werden, daß Sie der Erziehung eines solchen Landes wie Frankreich einen nützlichen Dienst erweisen; im übrigen lese ich bereits Ihre Bücher mit großer Aufmerksamkeit, und von mir wird es nicht abhängen, daß unser öffentliches Unterrichtswesen von den kostbaren Lehren nicht profitiert, die sich darin befinden.6
Danach sollte Campe nicht nur, wie es in einer französischen Zeitung im August 1802 stand, ein Modell für die Schriftsteller sein, die für die Jugend schreiben,7 3 4 5 6 7
Duprat, Catherine, Le temps des philanthropes: la philanthropie parisienne des Lumières à la monarchie de Juillet. Paris 1993. Leyser, Jakob, Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Braunschweig, 1877, Bd. 2, S. 77. Procès verbaux des séances générales. Pour les années ix et x de la République française, Archives de l’Institut National de France, Ms. 3 A 4. Leyser, (wie Anm. 4), S. 77. Siehe Brief an Dorothea Campe vom 6. August 1802: „Sie [seine Bücher, C. L.] verdienen, daß man sie allen Eltern empfiehlt, und sollten ein Beispiel für alle Schriftsteller sein, die sich der Jugendliteratur verschreiben möchten (es wäre im übrigen zu wünschen, daß viele in diese Laufbahn eintreten“, ebd., S. 72.
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sondern ein Ratgeber für die Verantwortlichen des Erziehungswesens. Tatsächlich trifft Campe zu einer Zeit in Frankreich ein, als sich eine radikale Reform des Erziehungswesens abzeichnet.8 Die Nationalversammlung und ab 1792 der Nationalkonvent hatten ihr Augenmerk auf das Erziehungswesen gerichtet. Sind die Pläne zur Reform der Erziehung in den ersten Jahren der Revolution als gemäßigt zu kennzeichnen, intendierten sie in keiner Weise eine gesellschaftliche Nivellierung, so hatte das am 19. Dezember 1793 verabschiedete Gesetz (von 29 Frimaire an II) das Ziel, das Erziehungswesen zu demokratisieren: die Bezahlung der Lehrer wurde vom Staat übernommen, und Gebäude standen kostenlos zur Verfügung, der Staat übernahm die Organisation des gesamten Erziehungswesens. Nicht zuletzt wurde der Besuch der Elementarschule Pflicht, während die Volkserziehung vor der Revolution aus Angst vor einer gesellschaftlichen Instabilität nicht prinzipiell als notwendig betrachtet worden war: Es sei hier nur an Caradeuc de la Chalotais erinnert, einer der Befürworter einer Erziehungsreform vor 1789, der eine Zeit lang irrtümlicherweise als einer der geistigen Väter des Philanthropismus galt. 1762 schreibt er in seinem Essai d’Education nationale ou plan d’études pour la jeunesse: Le bien de la société demande que les connaissances du peuple ne s’étendent jamais plus loin que ses occupations. Tout homme qui voit au-delà de son triste métier ne s’en acquittera jamais avec courage et avec patience. Parmi les gens du peuple, il n’est presque nécessaire de savoir lire et écrire qu’à ceux qui vivent par ces arts, ou à ceux que ces arts aident à vivre.9
Dennoch waren die Ergebnisse des anspruchsvollen Gesetzes von 1793 eher miserabel, da dem Staat, der in einen bürgerlichen und ausländischen Krieg involviert war, die zur Verbesserung der Erziehung notwendigen Ressourcen fehlten. Darüber hinaus verlangte man von den Lehrern keine Fachkenntnisse. Einzig und allein Führungszeugnis und die Bestätigung, ein guter Bürger zu sein, galten als Lehrbefähigung. Nach dem Sturz der Jakobiner verbesserte sich die Lage der Schulen in keiner Weise. Der neuen Regierung war bewußt, wie bedrohlich eine Volkserziehung für die soziale Ordnung sein konnte, und sie begann mit einer Rücknahme der Demokratisierung, die mit einem Rückzug des Staates aus dem Erziehungswesen einherging. So wurde am 25. Oktober 1795 (3. Brumaire an IV) ein neues Gesetz verabschiedet (Loi Daunou). Die Schulpflicht wurde aufgehoben, der Unterricht wurde wieder kostenpflichtig und die Gemeinden nicht mehr gezwungen, eine 8
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Zur Schulpolitik in Frankreich um 1802 siehe Harten, Hans Christian, Das niedere Schulwesen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Albrecht, Peter / Hinrichs, Ernst (Hg.), Kultur und Gesellschaft in Norddeutschland zur Zeit der Aufklärung, Tübingen, 1995 (Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung 20), S. 25–47; Mayeur, Françoise, De la Révolution à l’école républicaine, in: Parias, Louis-Henri (Hg.), Histoire générale de l’enseignement et de l’éducation en France. T. 3, Paris 1981; Mialaret, Gaston / Vial, Jean, Histoire mondiale de l’éducation, T. 2: De 1515 à 1815, Paris 1981. La Chalotais, Louis-René de Caradeuc de, Essai d'éducation nationale, ou plan d’etudes pour la jeunesse, hg. v. Bernard Jolivet. Paris, 1996, S. 45.
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Schule zu unterhalten. Der Staat intervenierte nur dadurch, daß er ein Schulgebäude zur Verfügung stellte und eine begrenzte Zahl von Stipendien gewährte. Er verzichtete auf eine Kontrolle des Schulpersonals und gewährte Lehrfreiheit,10 so daß die Geistlichkeit sich in der Volkserziehung erneut engagieren konnte. Diese Einschränkung der Bildung auf die republikanische Elite kommt auch in der Errichtung der Ecoles Centrales zum Tragen, die ein anspruchsvolles und komplexes Wissen vermitteln sollten, das die Schüler jedoch bald überforderte und sich deshalb als wenig fruchtbringend erwies. Acht Jahre nach der Verabschiedung dieses Gesetzes war die Schullandschaft in Frankreich in einem desolaten Zustand. Dazu schreibt Campe nach seiner Rückkehr in seiner Neuen Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen: In Frankreich ist die Erziehung in ganzen genommen so schlecht und erbärmlich, daß wir in Deutschland, ohne an Ort und Stelle gewesen zu sein, uns gottlob! gar keinen Begriff davon machen können. In vielen Gemeinden durchs ganze Land gibt es noch gar keine öffentliche Schulanstalten wieder; in andern sind diejenigen, welche man wieder eröffnet hat, in einer, wo möglich, noch kläglicheren Verfassung, als sie vor der Umwälzung waren. [... ] Ganz besonders kläglich ist der Zustand der untern Volksschulen. [...] Die meisten Schul= und Erziehungsanstalten, die es jetzt hier und in andern Städten Frankreichs gibt, sind Privatunternehmen, um welche der Staat sich nicht kümmert. Dis würde an sich kein Unglück sein; sondern vielmehr in Gegentheil dazu dienen können, das Erziehungswesen durch Wetteifer schnell emporzuheben und zu vervollkommnen [...]; wenn der Staat nur erst für eine und die andere Musterschule gesorgt hätte, welche zum Vorbild dienen könnte.11
Allerdings fügt Campe bald hinzu, daß die Regierung sich momentan ernsthaft mit der Erziehungsproblematik auseinandersetze und beschlossen habe, die Jugend nicht weiter „ohne alle Hinsicht auf ihre künftige Bestimmung“ und „mit gänzlicher Vernachlässigung aller andern gemeinnützige[n] Kenntnisse“ erziehen wolle.12 Diese Absichten lobt Campe nicht nur, weil sie dem für den Philanthropismus so charakteristischen Utilitarismus entsprechen, sondern auch weil die Regierung Fachleute mit der Reform des Schulwesens betraut hat: Sie hat drei des Schul= und Erziehungswesen kundige Männer [...], welche sämtlich schon ehemals großen Erziehungshäusern vorgestanden haben, zu Vorstehern des öffentlichen Unterrichts ernannt; ihnen drei sehr einsichtsvolle Mitglieder des allgemeinen Gelehrtenvereins (Institut National) [...] zu Rathgebern und Gehülften zugordnet.13
Unter letzteren befand sich Cuvier, ein Mann, den Campe sehr lobend beschreibt: Cuvier habe „für alles Gute, es finde sich wo es wolle, in Frankreich oder im Auslande, Herz [...]“. Weiter heißt es:
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Bereits ab Frimaire an II erlaubt, jedoch praktisch nicht verwirklicht. Campe, Joachim Heinrich, Sämmtliche Kinder- und Jugendschriften. Neue Gesammtausgabe der letzten Hand, Bd. 33: Neue Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen, Theil 5, Braunschweig 1830, S. 209–213. Ebd., S. 218. Ebd.
Georges Cuvier als gescheiterter Vermittler des Philanthropismus
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Von seiner weltbürgerlichen Denkart und von seinem warmen Eifer für das Gute bin ich vollkommen überzeugt, daß er Alles, was ihm beyfallswürdig bei uns und in Deutschen Erziehungsschriften vorgekommen ist, in sein Vaterland, so weit die Umstände es erlauben wollen, zu verpflanzen sich bemühen wird.14
Die Hoffnung Campes, Cuvier würde in Frankreich die Grundsätze des Philanthropismus verbreiten können, war angesichts dessen „weltbürgerlichen Denkart“ legitim. Georges Cuvier, 1769 im protestantischen Montbeliard – damals zum Herzogtum Württemberg gehörend – geboren, zeichnete sich sehr früh durch sein Auffassungsvermögen und sein Gedächtnis aus. Dank der Großzügigkeit des Herzogs v. Württemberg konnte er in Stuttgart Cameralwissenschaften studieren und sich somit auf eine Laufbahn in der Verwaltung vorbereiten. Während seines Studiums setzte er jedoch seine privaten Studien der Naturwissenschaften fort. Zu jung, um sofort nach Abschluß seines Studiums den höheren Beamtendienst einzutreten, wurde er Hofmeister (i.e. Privaterzieher) in Frankreich. Dort unternommene Analysen der Flora überzeugten ihn davon, wie mangelhaft die Konzeption des großen Naturwissenschaftlers Linné war. Bald wuchs sein Ruf, und Cuvier wurde 1795 Professor am Pariser Muséum d’Histoire Naturelle und ein Jahr später Mitglied des Institut National. Seine Tätigkeit dort mußte er jedoch 1802 ruhen lassen, da er am 22. Prairial an X (d.h. 11. Juni 1802)15 zum Mitglied der jüngst gegründeten Inspection générale de l’Education nationale ernannt wurde. Die Gründung der Generalinspektion der Schulen Frankreichs hatte Bonaparte selbst angeregt, denn er war von der Bedeutung einer niveauvollen Schule durchdrungen: „Wenn der Staat nicht unterrichtet, so muß er Schrecken einflößen. Unterdrückt die Schule, so wird uns als Mittel der Ordnung nur das Gefängnis und das Schafott übrig bleiben“.16 Die Inspection générale hatte eine dreifache Aufgabe: die Prüfung der Lehramtsanwärter, die Auswahl der Schüler, die ein Stipendium bekommen sollten, sowie die Kontrolle des Zustandes der Schulgebäude. Diese Gründung stellt nur einen Aspekt der großen von Bonaparte initiierten Reform des Schulwesens dar. Wenige Wochen vor der Ernennung Cuviers war nach einer heftigen Debatte die Loi Générale sur l’instruction publique am 11. Floréal an X (1. Mai 1802) verabschiedet worden. Dieses Gesetz organisierte ein dreistufiges Schulwesen, bestehend aus einer Primar- und einer Sekundarschule sowie den Lycées. Im Anschluß an die Politik des Directoires blieb die Primarschule im Ressort der Gemeinden, die auch für die Ecoles Secondaires zu sorgen hatten, wobei private Primar- und Sekundarschulen weiterhin erlaubt waren. Auch wenn der Staat diese beiden ersten Stufen durch die „Préfets“ kontrollieren sollte, so war doch sein Einfluß auf das Schulwesen viel stärker bei der dritten Stufe, den 14 15 16
Ebd., S. 220f. Vgl. Caplat, Guy, Les Inspecteurs généraux de l’instruction publique: dictionnaire biographique 1802–1914. Paris 1986, S. 15ff. Zit. nach Hinz, Maximilian, Die Université impériale de Napoléon I., Phil. Diss., Erlangen 1928, S. 26.
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neu gegründeten Lycées, über deren Zahl und deren Organisation er zu bestimmen hatte.17 Gerade um sie so zweckmäßig wie möglich gestalten zu können,18 wurde Cuvier im September 1802 nach Marseille 19 und im November nach Bordeaux20 geschickt. Wegen Cuviers Funktion, seiner Herkunft, seiner erfolgreichen Tätigkeit als Professor und Forscher und nicht zuletzt wegen seines außergewöhnlich organisatorischen Talents könnte es als sehr plausibel erscheinen, daß er eine Vermittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland gespielt und einen Einfluß der philanthropischen Lehren auf die Reorganisation des Erziehungswesens ermöglicht hat. Die Archivbestände in Marseille und Bordeaux zur Gründung der Lycées wirken indes ernüchternd, denn es lassen sich dort keine Spuren einer eigenständigen Rolle Cuviers belegen. Seine gesamte Tätigkeit besteht in diesen beiden Städten darin, die Schüler zu prüfen, um zu entscheiden, welche zum Lycée versetzt werden sollen. Darüber hinaus kümmerte er sich um Unterkünfte und Betten für sie.21 Im Grunde genommen erfüllt er dort die Aufgaben eines „Inspecteur général“, und zwar so penibel wie ungern. So schreibt er im November 1802 in einem Brief an Augustin Pyramus de Candolle: Ich vergesse beinahe, daß ich damals der edlen Kaste derjenigen angehörte, die zur Erweiterung des Geistes beitrug. Wenn ich nun zu dieser schönen Tätigkeit zurückkehre, so hoffe ich, daß meine Freunde mich nicht mit der Begründung verstoßen werden, ich hätte zu lange im materiellen Sumpf der mittelmäßigen sozialen Beschäftigungen verweilt.
Anfang März 1803 ist seine Stimmung keineswegs besser: Nein lieber Kollege, ich befinde mich nicht auf dem Weg nach Paris [...] sondern nach Montde-Marsan, Dax, Saint-Sever Cap de Gascogne und weiteren abscheulichen Orten, von denen Sie, wie ich hoffe, noch nie etwas gehört haben.22
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Siehe Beauchamp, Arthur Marais de, Recueil des lois et règlements sur l’enseignement supérieur comprenant les décisions de la jurisprudence et les avis des conseils de l’instruction publique et du conseil d’état. T. 1: 1789–1847, Paris 1880, S. 82ff. Vgl. Loi de Floréal an X, art. 17, in: ebd., S. 83. Arrêté consulaire du 24 Vendémiaire an XI, zit. nach Gontard, M.: Quelques scènes de la vie du Lycée de Marseille dans la première moitié du XIXe siècle, in: Provincia. Revue mensuelle d’Histoire et d’archéologie provençale. Bd. 6, n°27, S. 239. Vgl. Brief Fourcroys vom 19. Brumaire an XI an den Préfet de la Gironde, in: Archives Départementales de la Gironde, T 1., S. 504: „Le Citoyen Despeaux, Inspecteur général et Cuvier membre de l’Institut Nal sont chargés de se rendre incessamment dans votre département et dans quelques-uns de ceux qui l’environnent à l’effet de procéder à l’organisation de ce lycée. [...]“. Siehe Courtault, Paul: Les origines du Lycée de Bordeaux. Le Lycée de l’An XI, in: Le Centenaire du Lycée de Bordeaux (1802–1902), hg. v. L’Association des anciens élèves du Lycée de Bordeaux. Bordeaux 1905, S. 9–13. Candolle, Augustin Pyramus de, Mémoires et souvenirs de Augustin-Pyramus de Candolle écrits par lui-même et publiés par son fils. Paris Genève 1862, Briefe vom 24. Frimaire und 15. Germinal, S. 541–543.
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Cuvier war es letzten Endes in seiner Funktion nicht möglich, einen Einfluß auf die Gestaltung der Gymnasien auszuüben, denn das Gesetz, was diese in allen Einzelheiten organisierte, wurde in seiner Abwesenheit verabschiedet. Am 19. Frimaire wurde das Reglement für die Organisation der öffentlichen Schulen bekanntgegeben. Dazu schreibt Johann Friedrich Reichardt in seinen Vertrauten Briefen aus Paris 1802–1803: Jedes Lyzeum, aus höchstens zweihundert Zöglingen bestehend, wird drei Lehrer der lateinischen Sprache und drei Lehrer der Mathematik haben. Diese beiden Sachen sollen darinnen essentiellement gelehrt werden. [...] Die lateinischen Lehrer sind besonders dazu angewiesen, in den sechs Klassen, die in drei Jahren durchgemacht werden sollen, den Zöglingen die schönsten Stellen aus klassischen, lateinischen und französischen Autoren auswendig lernen und solche aus dem Lateinischen ins Französische und wieder umgekehrt übersetzen zu lassen. [...] Zwei von der Regierung ernannte Kommissionen werden für den lateinischen und mathematischen Unterricht eine ganz bestimme Instruktion aufsetzen, welche die Lehrer genau befolgen müssen, und werden auch für die Ausgaben der Lehrbücher sorgen, die jeder Klasse zukommen, und zwar so, daß jede Klasse nur einen Band erhält, in welchem alles ihr Nötige enthalten ist. Unter keinem Vorwande dürfen die Lehrer andere Lehrbücher in ihren Klassen einführen. [...] Ein Exerziermeister wird alle Schüler über zwölf Jahre in den Militärexerzitien unterrichten und muß in allen Stunden der Schüler gegenwärtig sein, um den Marsch der Eleven bei all ihren Bewegungen des ganzen Tags zu kommandieren. Endlich wird jedes Lyzeum einen Beichtvater haben. [...] Jedes Lyzeum wird eine Bibliothek von funfzehnhundert Bänden haben; alle Bibliotheken werden aber aus den nämlichen funfzehnhundert Bänden bestehen. Kein anderes Werk darf ohne die ausdrückliche Bewilligung des Ministers des Innern weiter da hineinkommen.23
Abgesehen von der von Campe kritisierten und hier behaupteten Bedeutung der grammatikalischen Methode und des Studiums der lateinischen Sprache, ist angesichts dieses Programms ein Einfluß Campes auf die Reorganisation des Erziehungswesens zu verneinen. Vergleicht man die Organisation des Schulwesens mit Campes Grundsätzen der Gesetzgebung die öffentliche Religion und die National=erziehung betreffend von 1793, die er Frankreich gewidmet hatte, so stellt sie ein Gegenbild der darin aufgestellten Prinzipien. Dort heißt es, daß die Erziehung kein Gegenstand der Gesetzgebung sei, daß der Staat keine Befugnis habe, „dem Staatsbürger [...] die Erziehung oder den Unterricht, die er seinen Kindern geben [...] soll“, vorzuschreiben.24 Allerdings hält es Campe für unmöglich, daß der Staat der Erziehung gegenüber vollkommen gleichgültig bleibt, denn sie sei ein wichtiges Fundament der Sittlichkeit. Darüber hinaus brauche der Staat gut ausgebildete Diener, er müsse auch für die Erziehung derjenigen sorgen, die sie selbst nicht bezahlen können.25 Aus der Überlegung heraus, daß ein staatliches Monopol der
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Reichardt, Johann Friedrich, Vertraute Briefe aus Paris 1802–1803, hg. und eingel. v. Rolf Weber, Berlin 1981, S. 117–119. Schleswigsches ehemals Braunschweigisches Journal 2 (1793), 2. Heft, hg. v. August v. Hennings, S. 132. Ebd., S. 142–144.
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Konkurrenz und somit der Verbesserung der Lehrmethoden schade,26 plädiert Campe für eine vollkommene Lehrfreiheit. Gerade diese Lehrfreiheit wird durch die in Frankreich beschlossene Kontrolle der Lehre (die im übrigen auch für die privaten Schulen gilt) nicht mehr gewährleistet. Ebenso sieht das Gesetz von 1802 die Bezahlung der Lehrer an Lycées vor, während Campe dies entschieden ablehnt.27 Es ließe sich zwar einwenden, daß es sich bei den Grundsätzen der Gesetzgebung um einen späteren Text handele, den Campe als Reaktion auf die gegenaufklärerische Politik Friedrich Wilhelms II. schrieb, doch das von Bonaparte angeregte Gesetz von 1802 entspricht ebensowenig den früheren Richtungen des Philanthropismus. Ursprünglich glaubten die Philanthropen, ihr Reformprogramm mit Hilfe des Staats durchsetzen zu können und so mit seiner Hilfe eine Volkserziehung etablieren zu können, auf deren Bedeutung für eine größere Effizienz des Bürgertums hier nicht näher eingegangen werden kann. Jedoch läßt sich im entsprechenden Gesetz von 1802 keinerlei Interesse für eine solche Volkserziehung konstatieren, da diese der Privatinitiative überlassen blieb. Hierbei handelt es sich um eine folgenreiche Entscheidung, wie eine von Cuvier gegen Ende des Kaiserreiches aufgezeichnete Notiz verrät. Zwar vermehrten sich die Primarschulen: „Aber durch diese Vermehrung sind die Schulen an den letzten Grad der Verarmung gelangt“. Und er fährt fort: Unter den Lehrern hat sich eine Rivalität entwickelt, die sie vernichtet hat: da sie zum Richter diejenige Volksklasse haben, die am wenigsten geeignet ist, das Verdienst eines guten Lehrers und die Nützlichkeit eines guten Unterrichts zu würdigen, sind die schlechten Schulmeister den guten vorgezogen worden, weil sie für ihre Mühe keinen so bedeutenden Entgelt forderten, und bald ist der Volksunterricht das Erbe der erbärmlichsten und am wenigsten unterrichteten Klasse geworden.28
Es ist also wahrscheinlicher, daß Cuvier sich eher für Campes liberale Ansichten interessierte als für seine früheren Pläne. Ein Beleg dafür wäre die kritische Bemerkung Reichardts, das Reglement vom Dezember 1802 sei von Roederer verfaßt worden, um die von Cuvier und Fourcroy ausgearbeiteten Pläne zu ersetzen, in denen „jene Männer mit großer Sorgfalt alles benutzt hatten, was bisher in den kultiviertesten Ländern für den Schulunterricht und die Erweiterung liberaler Ansichten in den Wissenschaften geschehen ist“.29 Statt dessen mußte Cuvier die Errichtung eines staatsorientierten Erziehungswesens erleben, das zudem nach dem Konkordat den Katholizismus zur offiziellen Religion erhob. 26 27 28 29
Ebd., S. 136. Ebd., S. 83. Zit. nach Hinz, (wie Anm. 16), S. 31. Reichard, (wie Anm. 23), S. 119. Einen Beleg für die Intervention Röderers liefert Vitrac, Maurice, Autour de Bonaparte. Journal du Comte P.-L. Roederer. Notes intimes et politiques d’un familier des Tuileries. Paris 1909, S. 112–119. Zu Roederers Tätigkeit zu dieser Zeit, siehe Lentz, Thierry, Roederer. Paris 1989, S. 131–146.
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Dazu kam, daß Cuviers Bewußtsein, aufgrund seiner Herkunft und Religion gewissermaßen ein Außenseiter zu sein, und seine daraus resultierende „weltbürgerliche Denkart“ sich schlecht mit der aggressiven Außenpolitik Bonapartes vertrugen. Darüber hinaus mußte er feststellen, daß viele seiner Freunde aus dem Kreis der „Idéologues“, nach dem Konkordat „gleichgeschaltet“ wurden.30 Cuviers privat geäußerte Zufriedenheit vermag zu erklären, warum er bereits ein Jahr nach seiner Ernennung aus seiner Funktion als Inspecteur général entlassen wurde.31 Damit verschwand ein Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich und somit die Möglichheit, die Lehren der philanthropischen Erziehungsreform nach Frankreich zu transferieren. Campe hat dies verstanden. 1804, also zwei Jahre nach seiner Frankreichreise, veröffentlicht er seine Rückreise von Paris nach Braunschweig. Ein Nachtrag zu der Reise durch England und Frankreich. Darin wird die Erziehungspolitik des Französischen Staats nicht mehr thematisiert, und der Name Cuviers wird so wenig erwähnt wie ein potentieller Einfluß der deutschen Erziehungsschriften auf das französische Schulwesen. Campe belegt die Resonanz seines eigenen Werkes in Frankreich nur noch mit folgender Anekdote: Aus einem Haus kommend sieht er, wie sein Diener Mailly dem Diener einer Herzogin begeistert die Hände schüttelt, nachdem letzterer erklärt hat, Campe habe „ihm den Kopf umgedreht, in allem Gute“. Weiterhin berichtet Mailly über den Bekehrten: Er gestand mir, er wäre ehemals ein lockerer Bursche, ein Taugenichts, wie jedermann gewesen; da wäre ihm aber in Deutschland, wo er die Herzogin begleitet hätte, ein gewisses Buch [den Theophron], welches Ihr geschrieben haben sollt [..] in die Hände gefallen; das hätte ihm die Augen geöffnet, und von Stunde an wäre er ein so rechtlicher Bursche als Einer geworden, und hoffe, so Gott wollte, es nun auch Zeitlebens zu bleiben.32
Campe kommentiert diese Anekdote folgendermaßen: Du kannst denken, daß mir dieses Lob aus dem Munde eines Bedienten zu einem Bedienten gesprochen, hundertmahl mehr Vergnügen machte, als eine lobpreisende Beurtheilung meiner Schriftstellerischen Siebensachen in irgend einem gelehrten Tagebuche mir jemahls verursachen würde,33
vielleicht eine Art, die enttäuschten Erwartungen zu überwinden, die er in die Reform der Erziehung gesetzt hatte, ohne zu sehen, daß die Napoleonische Auffassung der Schule letzten Endes mit dem Reformprogramm des Philanthropismus nicht kompatibel war. Cuvier seinerseits zog sich ab 1803 aus der Schulpolitik zurück. Erst 1808 trat er wieder seinen Posten als „Inspecteur général“ an. In dieser Funktion nach Holland abgeordnet, um das Schulwesen zu reorganisieren, gelang 30 31 32 33
Vgl. Outram, Dorinda, Georges Cuvier: Vocation, science and authority in post-revolutionary France. Manchester 1984, S. 72. Vgl. Caprat, (wie Anm. 15), S. 15. Campe, Joachim Heinrich: Rückreise von Paris nach Braunschweig: ein Nachtrag zu der Reise durch England und Frankreich. Braunschweig 1804, S. 94f. Ebd., S. 95.
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es ihm zwar, die Errungenschaften des vom Philanthropismus beeinflußten holländischen Erziehungswesens zu bewahren.34 Ein Transfer der Grundsätze des Philanthropismus ist auch zu diesem Zeitpunkt nicht zu dokumentieren. Vielmehr zeigt sich Cuvier in dieser Periode als ergebener Untertan des Kaisers. Vielleicht waren die politischen und kulturellen Unterschiede nicht zu überwinden, wie auch das Scheitern des Experiments Simons und Schweighäusers, in Straßburg eine Mädchenschule zu gründen, zeigt. Nach der u.a. durch gesundheitliche bzw. wirtschaftliche Probleme erzwungenen Schließung dieser Schule unternahmen sie mit der Gründung eines reformatorischen Erziehungsinstitut einen weiteren Versuch, der ebenso scheiterte. Danach bemühten sie sich nicht mehr um eine Verbesserung des Schulwesens und paßten sich vielmehr der politischen Entwicklung an: 1802 waren beide Lehrer an einem der durch Bonaparte neugegründeten Lycées.
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Vgl. dazu Schama, Simon: „Schools and politics in the Netherlands, 1796–1814“, in: The Historical Journal 13 (1970) 4, S. 589–610.
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Johann Peter Hundeiker (1751–1836): Autodidakt, Volksaufklärer, philanthropischer Schulgründer und ein Pädagoge in Zeiten geistesgeschichtlicher Umbrüche 1. Einleitung Lange Zeit befand sich der Pädagoge Johann Peter Hundeiker unbemerkt im Windschatten der bildungshistorischen Forschung. Seine Bearbeitung wurde dabei der Heimatforschung überlassen, deren Verdienst es ist, daß Hundeiker nicht vollends in Vergessenheit geriet.1 Allerdings griff die Heimatgeschichtsschreibung mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer weniger auf zeitgenössische Zeugnisse2 zurück. Dies hatte zur Folge, daß Hundeiker als „Schloßpädagoge“ im braunschweigischen Vechelde verklärt und durch die heimatgeschichtliche Überlieferungstradition einem wissenschaftlichen Zugriff nach und nach entrückt wurde.3 Dabei macht ein Blick auf seine Vita schnell deutlich, daß mit seiner Bearbeitung philanthropische Erziehungstheorie und -praxis ertragreich weiter erforscht werden können, denn die Zahl erfolgreicher philanthropischer Schulgründungen ist
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Vgl. Baumgarten, Wilhelm, Johann Peter Hundeikers Philanthropin in Groß Lafferde, in: Peiner Heimatkalender 3 (1973), S. 82–85 und ders., Von Loferdi bis Groß Lafferde 825– 1975, Peine 1975; Heinemann, A., J. P. Hundeiker, in: Aus der braunschweigischen Schulgeschichte. Festschrift zum 75jährigen Bestehen des Braunschweigischen Landes-Lehrervereins, 2. Oktober 1925. Braunschweig 1925, S. 81–96; Zechel, Artur, Die Geschichte der Stadt Peine, 2 Bde. Hannover 1975, hier Bd. 2. All diese Arbeiten fußen auf dem frühen Beitrag zu Hundeiker von Friedrich Bosse, der als einziger Quellenmaterialien benutzte, ohne dies jedoch in vielen Fällen deutlich zu machen. Vgl. Bosse, Friedrich, Der Edukationsrat Dr. Johann Peter Hundeiker und die Erziehungsanstalt zu Vechelde, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde (1890), S. 429–469. Daneben finden sich noch gelegentlich Erinnerungsartikel in der Braunschweiger, Peiner und Hildesheimer Lokalpresse. Wichtige Quellen sind u.a. folgende zeitgenössische Veröffentlichungen: Becker, Ferdinand G., Die Erziehungsanstalt in Vechelde oder Nachricht von der Entstehung dem Fortgange und der gegenwärtigen Verfassung dieser Anstalt. Gotha 1806; Becker, Rudolph Zacharias, Erziehungs-Anstalten, in: National-Zeitung der Teutschen 27 (1805), Sp. 517–525; Cludius, Hermann Heimart, Von der bey den Niederdeutschen freyen Bauern möglichen und nützlichen Bildung und von den Mitteln sie zu befördern gezeigt an einem Beyspiele des Dorfs Große-Laffer im Fürstenthum Hildesheim. Magdeburg 1805. Zum „Schloßpädagogen“ Hundeiker vgl. Heinemann, (wie Anm. 1), S. 89 und Bornstedt, Wilhelm, Chronik von Vechelde 973–1973. Stöckheim bei Braunschweig 1972, S. 175. Erst Rudolf W. Keck stellte Hundeiker anläßlich des Derneburger Kolloquiums zum 150. Todestag des Grafen Münster im Jahre 1989 wieder in einen bildungshistorischen Kontext, vgl. Keck, Rudolf W., Der Philanthropismus als Hintergrund im Bildungsweg des Grafen Münster, in: Nolte, Joseph (Hg.), Ernst Friedrich Herbert Graf zu Münster. Staatsmann und Kunstfreund 1760–1839, ein Kolloquim aus Anlaß seines 150. Todestages in der ehemaligen Orangerie zu Derneburg am 8. Dezember 1989. Hildesheim u.a. 1991, S. 66.
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nicht sehr groß,4 und der Bearbeitungsstand läßt durchaus noch Wünsche offen. Lediglich Dessau (1774–1790), Schnepfenthal (seit 1784) und teilweise Marschlins (1775–1776) sind näher untersucht,5 darüber hinaus sind die philanthropischen Reformbestrebungen in den Fürstentümern Anhalt-Dessau (1785–1800) und Braunschweig (1785–1790) für die Forschung gesichert,6 von anderen Schulen oder Reformvorhaben der Philanthropen ist wenig oder gar nichts bekannt. Hundeiker und seine Schulgründungen in Groß Lafferde und Vechelde – beide Ortschaften liegen an der heutigen B 1 auf halbem Wege zwischen Hildesheim und Braunschweig – versprachen demnach die Aussicht auf substantiellen Erkenntnisgewinn, besonders in Hinblick auf eine philanthropisch geprägte Schulpraxis.
2. Johann Peter Hundeikers Biographie im Überblick Johann Peter Hundeiker (1751–1836) wuchs als Sohn eines Dorfkrämers in Groß Lafferde im Fürstentum Hildesheim auf. Durch autodidaktische Studien – nach seinem Aufenthalt in der pietistisch geprägten Waisenhausschule in Braunschweig – erschloß er sich zeitgenössische neologische und pädagogische Literatur. Dabei rezipierte er vor allem Schriften von Geistlichen, die die Orthodoxie zum Teil heftig kritisierten. So beeinflußten ihn die theologischen Arbeiten von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Johann Joachim Spalding (1714–1804), Johann Friedrich Jerusalem (1709–1789) und Wilhelm Abraham Teller (1734–1804). Pädagogische Zurüstung verschaffte er sich durch die Lektüre der Schriften von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und John Locke (1632–1704). Nachhaltig prägten ihn die Schriften von Johann Bernhard Basedow (1724–1790). Diesen lernte er durch die Vermittlung des Braunschweiger Mediziners und Aufklärers Carl Gottlieb Wagler (1731–1778) bald näher kennen. Wagler wiederum wurde auf 4
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Vgl. Roloff, Ernst M., Philanthropismus, in: ders. (Hg.), Lexikon der Pädagogik, 5 Bde. Freiburg i. Br. 1913–1917, hier Bd. 3 [1914], Sp. 1209. Roloff nennt dort die Zahl von etwa 60 solcher Schulen. Die Zahl 60 wird später in der Literatur immer wieder genannt, beispielsweise bei Blankertz, Herwig, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S. 80. Von diesen hatten die meisten nur eine kurze Lebensdauer oder können aufgrund mangelnder Seriosität als „Winkelphilanthropine“ bezeichnet werden. Es ist daher für die Philanthropismusforschung von großer Relevanz, mehr über eine gelungene Praxis in philanthropischen Schulgründungen zu erfahren. Hier seien beispielsweise nachstehende Beiträge genannt: Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. Dessau 1995; Kemper, Herwart / Seidelmann, Ulrich, Menschenbild und Bildungsverständnis bei Christian Gotthilf Salzmann. Weinheim / München 1995; Garber, Jörn / Schmitt, Hanno, Affektkontrolle und Sozialdisziplinierung, Protestantische Wirtschaftsethik und Philanthropismus bei Carl Friedrich Bahrdt, in: Sauder, Gerhard / Weiß, Chistoph (Hg.), Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792). St. Ingbert 1992, S. 127–156. Vgl. Schöler, Walter, Der fortschrittliche Einfluß des Philanthropismus auf das niedere Schulwesen im Fürstentum Anhalt-Dessau 1785–1800. Berlin 1957; Schmitt, Hanno, Schulreform im aufgeklärten Absolutismus. Weinheim / Basel 1979.
Johann Peter Hundeiker (1751–1836)
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Hundeiker aufmerksam, als dieser bei ihm Basedows Elementarwerk (1774) vorbestellen wollte. Wagler knüpfte Hundeiker in die Aufklärungsbewegung in und um Braunschweig mit ein und machte ihn mit Basedow bekannt. Auf Einladung des Philanthropins in Dessau besuchte Hundeiker Basedow im Frühjahr 1778. Obwohl Basedow versuchte, Hundeiker in die Arbeit der Schule fest einzubinden, lehnte dieser ab und kehrte nach einem sechswöchigen Aufenthalt in sein Heimatdorf zurück. Hier entfaltete Hundeiker umfassende volksaufklärerische Aktivitäten. Dabei fand er zusprechende Unterstützung von seinem adligen Freund Herzog Ferdinand von Braunschweig (1721–1792) und von dem Hildesheimer Superintendenten Hermann Heimart Cludius (1754–1835). Generell wandte sich Hundeiker nach dem Tod seines Mentors Carl Gottlieb Wagler († 1778) stärker dem Hildesheimer Raum zu. So verfaßte er zeitgleich mit dem Hildesheimer Domherrn Moritz von Brabeck (1742–1814) eine Werbeschrift für das Dessauer Philanthropin und arbeitete von 1778 bis 1782 bei der Hildesheimischen Aufklärungszeitschrift Hildesheimisches Wochenblatt mit. Auch seine erste Buchveröffentlichung Häusliche Gottesverehrung (1784) ließ er in Hildesheim drucken. Ihren Höhepunkt erreichten seine volksaufklärerischen Anstrengungen aber in der Gründung einer Reformvolksschule in seinem eigenen Hause. Schon früh hatte sich Hundeiker um die Alphabetisierung der Landbevölkerung gekümmert und bereits 1773 einen sogenannten Lesekasten entwickelt und eingesetzt. 1791 publizierte er eine Fibel, die in Campes Schulbuchverlag erschien. Ein Jahr später eröffnete er eine eigene private „Volksschule“ in seinem Dorf, um Reformdruck auf die öffentliche Gemeindeschule auszuüben. Tatsächlich wurde Hundeikers „Bauernschule“ ein Erfolg und fand immer mehr Zulauf. Konzeptionell orientierte sich Hundeiker an den Reformschulen von Friedrich Eberhard von Rochow (1743–1805). Parallel zu seinem Volksschulprojekt, das er nach erfolgter Verbesserung der Gemeindeschule 1796 wieder einstellte, entwickelte sich ebenfalls in seinem Hause ein Privatinternat mit gymnasialem Zuschnitt. Von 1791 an nahm Hundeiker Zöglinge auf, deren Zahl bis zum Ende des Jahrhunderts auf etwa 30 anstieg. Hundeiker stellte Lehrer ein und fand in Ferdinand G. Becker (geb. in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts) seine größte Stütze. Lehrer vermittelte ihm häufig der Helmstedter Theologe Heinrich Philipp Conrad Henke (1752–1809), Schüler hingegen erhielt er oft auf Empfehlung von Joachim Heinrich Campe (1746–1818). Realien, neue Sprachen und Mathematik waren die Hauptinhalte des Unterrichts, aber auch Latein wurde gelehrt. Neben diesem Angebot einer höheren philanthropischen Allgemeinbildung beschulte er angehende Kaufleute mit Hilfe eines auf sie zugeschnittenen Curriculums. Der Erfolg der Schule machte sie bei Zeitgenossen weithin bekannt. Auch der regierende Braunschweiger Herzog Karl Wilhelm Ferdinand (1735–1806) wurde auf Hundeiker aufmerksam. Er bewegte ihn schließlich dazu, seine Schule nach
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Vechelde ins dortige Sommerschloß zu verlegen. Die Napoleonische Zeit hinterließ unklare Besitzverhältnisse, und es kam zu einem Prozeß zwischen Hundeiker und der Braunschweiger Kabinettsregierung. Dieser endete 1819 mit einem Vergleich, der Hundeiker zwar eine auskömmliche Rente einbrachte, aber gleichzeitig das Ende seiner philanthropischen Schulgründung bedeutete. Zusammen mit seiner Frau siedelte Hundeiker noch im selben Jahr zu seinen Töchtern ins Königreich Sachsen über und verfaßte noch mehrere Andachtsbücher. Dort starb er 1836. Noch acht Jahre zuvor wurde ihm eine große Ehrung zuteil, denn 1828 verlieh ihm die Universität Jena in Anerkennung seiner pädagogischen Leistungen die Ehrendoktorwürde. Auch die Vechelder Schule war – mit vielen Schwierigkeiten kämpfend – pädagogisch erfolgreich. 1807 nahm Hundeikers zweiter Sohn, Wilhelm Theodor (1786–1828), die Arbeit als Lehrer bei Hundeiker auf. Der Halle-Absolvent und Schüler von Friedrich August Wolf (1759–1824) brachte neuhumanistisches Gedankengut in die Schule mit ein, das in Vechelde bald an Einfluß gewann.
3. Fragestellungen Wie aus dem Lebenslauf Hundeikers ersichtlich wird, lassen sich an ihm exemplarisch grundlegende Fragen zur Philanthropismusforschung klären. Darüber hinaus verweisen seine internen Lebensumstände auf spezielle Aspekte, die stärker auf seine individuelle Genese bezogen bleiben. Die erste der vier folgenden Fragen gehört in diese Kategorie, die anderen drei Fragestellungen betreffen in einem umfassenderen Sinne den Forschungskontext zum Philanthropismus. Hundeiker war in pädagogischen und theologischen Fragen Autodidakt. Für einen philanthropischen Pädagogen und Schulgründer ist dies gleich in zweifacher Weise untypisch. Während andere führende Vertreter des Philanthropismus meist von Hause aus studiert hatten, z.B. Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792), Basedow, Campe, Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811), Ernst Christian Trapp (1745– 1818), Peter Villeaume (1746–1826), hat Hundeiker nie eine Universität als Student von innen gesehen. Damit zusammenhängend kommt zweitens als untypisch hinzu: Fast alle philanthropischen Schulgründer waren studierte Theologen, NichtTheologen – wie etwa Friedrich Eberhard von Rochow, der eine Militärlaufbahn absolvierte – waren die Ausnahme. Als Dorfkrämer gehörte Hundeiker zu jenen Ausnahmen, wobei er sowohl materiell – Rochow z.B. war Dom- und Gutsherr – als auch bildungsmäßig gegenüber dem üblichen Schulgründerkreis unterprivilegiert war. Es ist demnach zu fragen, mit welchen Inhalten er sich in seinen Selbststudien auseinandersetzte und welchen Beitrag zu seiner erfolgreichen Aufklärungs- und Schulpraxis und zu seinem zeitgenössisch unüblichen gesellschaftlichen Aufstieg sie leisteten.
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Als Mann der Praxis blieb Hundeiker nicht bei seinen Studien stehen, vielmehr drängte sein selbstaufgeklärter Geist nach konkreten Handlungsfeldern. Es ist folglich zu fragen, welche Aufklärungsarbeit er vor Ort leistete, und welchen Stellenwert und didaktische Gestaltung dabei seine Volksschulgründung erfuhr und wie weit sie in Bezug auf andere zeitgenössische Volksbildungskonzepte einzuordnen ist – z.B. in Hinblick auf die Industriepädagogik. Schulleben ist für internatsförmig geführte Schulen eine zentrale pädagogische Gestaltungsaufgabe. Mit ihr steht und fällt nicht selten der Erfolg einer solchen Schule – wie die Beispiele Dessau und Marschlins zeigen. Welchen pädagogischen Grundsätzen folgte Hundeiker bei der Ausgestaltung des Schullebens bei seinen zwei Philanthropingründungen in Groß Lafferde (1791–1804) und Vechelde (1804–1819)? Das Vechelder Institut bestand bis in die Hochzeit der neuhumanistischen Bildungsdiskussion hinein. Wirkte sich das in dem pädagogisch-didaktischen Konzept der Vechelder Schule aus und lassen sich neuhumanistische Einflüsse auffinden? Was geschieht mit den ursprünglich philanthropischen Positionen? Werden sie aufgegeben, oder modifiziert und der Zeit angepasst? Mit diesen schwerpunktartigen Akzentuierungen muß es im vorliegenden Kontext sein Bewenden haben, facettenreicher und ausführlicher ist die Pädagogik Hundeikers an anderer Stelle dargestellt worden.7
4. Hundeiker als Autodidakt: theologische und pädagogische Selbstaufklärung Hundeiker ist als Autodidakt und Dorfkrämer im Kreise der erfolgreichen philanthropischen Schulgründer ein Einzelfall.8 Sein Aufstieg zu einem bei seinen Zeitgenossen renommierten Schulmann verbunden mit entsprechenden gesellschaftlichen Kontakten, die bis in höfische Gefilde reichten, entspricht nicht den Mustern der Zeit,9 die Aufstiegschiffre ‚Bildung‘ hingegen ist in hohem Maße zeittypisch, denn Bildung war zumindest in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Emanzipationsschiene schlechthin.10 Für Hundeiker seinerseits war Bildung die Eintrittskarte zu eben dieser Bürgerlichkeit.
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Vgl. Feige, Bernd, Philanthropische Reformpraxis in Niedersachsen. Johann Peter Hundeikers pädagogisches Wirken um 1800. Köln / Weimar / Wien 1997. Vgl. Knoke, Karl, Niederdeutsches Schulwesen zur Zeit der französisch-westfälischen Herr– schaft. Berlin 1915, S. 243. Vgl. Saalfeld, Dietrich, Stellung und Differenzierung der ländlichen Bevölkerung in der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Hinrichs, Ernst / Wiegelmann, Günter (Hg.), Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts. Wolfenbüttel 1982, S. 229. Vgl. Nieser, Bruno, Aufklärung und Bildung. Weinheim 1992, S. 181f.
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Nach etwas mehr als sechs Jahren Schulbesuch – vier Jahre in der Groß Lafferder Dorfschule, zwei Jahre in der pietistisch geprägten Braunschweiger Waisenhausschule und einige Monate in der Peiner Lateinschule – begann er eine „Lehre“ bei seinem Vater als Dorfkrämer. Sein Bildungsappetit indes war nachhaltig angeregt, so daß er sich in jeder freien Minute mit der Lektüre bedeutsamer zeitgenössischer Bücher beschäftigte, wodurch er unweigerlich den Spuren der deutschen Aufklärung folgte. Hundeiker rezipierte vor allem die Genese der Neologie, die sich gleichermaßen gegen einen radikal-aufgeklärten Atheismus einerseits und andererseits gegen die überkommene lutherische Orthodoxie zur Wehr setzte. Der junge Groß Lafferder erarbeitete sich die neologische Theologie anhand der Lektüre von Reimarus, der noch als ein Wegbereiter und Vorläufer der Neologie bezeichnet werden kann, Spalding, Jerusalem und Teller.11 Durch die ihn in seinem Heimatort umgebende Orthodoxie12 zeitweise in atheistische Religionszweifel getrieben,13 suchte er in der Rezeption der theologischen Aufklärer neue Glaubensgewißheit. Er machte sich dabei grundlegende neologische Auffassungen zueigen und setzte sich in der Folgezeit für einen vernunftgemäßen Zugang zur Religion ein. So lehnte er jeglichen theologischen Dogmatismus ab und gründete seine Glaubensüberzeugung auf die „aufklärerische Trias Gott, Tugend (Rechtschaffenheit) und Unsterblichkeit“.14 Ganz im Geiste der Aufklärung bemühte er sich um eine naturzugewandte Erkenntnis des Willens Gottes und auf pädagogischem Gebiet um eine christlich-sittliche Moralerziehung.15 Bei aller neologischen Aufklärung, die in volksaufklärerisches und pädagogisches Engagement einmündete, versuchte Hundeiker, wie vormals auch sein Mentor Wagler, dem durch die Neologie beförderten Emotionsdefizit zu entkommen, indem er – Teller folgend – eine häusliche, und damit zumindest tendenziell kirchenferne Andachtspraxis entwickelte, an der er sein Leben lang festhielt. Er verfaßte dafür entsprechende Erbauungsbücher, um diese Art der Glaubenspflege zu propagieren.16 11 12
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Vgl. Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 30ff. Vgl. Privatarchiv der Familie Schindewolf / Hannover, Nachlaß Hundeiker: Hundeikers letzter Wille trägt den Titel: Anordnungen, Nachrichten und Wünsche p. p. auf den Fall meines Übergangs in die Ewigkeit am 29. Juli und 29. September 1835, S. 10, in der Folge zit. als „Hundeikers Anordnungen“. Vgl. Hundeiker an Basedow, 15. August 1776 in: Landesbibliothek Dessau, Bestand Reliquiae philanthropini, Mappe 5, Kasten IV, Brief 18. Gericke, Wolfgang, Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1989, S. 96. Vgl. Hundeiker, Johann Peter, Joh. Pet. Hundeikers Geschichte, Einrichtung, Lehrmethode und Ertrag seiner Bauernschule zu Großen Laffer im Hochstifte Hildesheim, in: Henke, Heinrich Philipp Conrad (Hg.), Eusebia. Helmstedt 1798, Bd. II, S. 368–417. Dem Beitrag von Hundeiker wird eine kurze Einleitung des Herausgebers Henke vorangestellt, so daß der Titel des dann folgenden Hundeiker-Aufsatzes nicht vom Verfasser stammt, sondern vom Herausgeber Henke, was die Namensnennung Hundeikers in der Überschrift erklärt. Vgl. z.B. Hundeiker, Johann Peter, Häusliche Gottesverehrung für gebildete christliche Familien. Hildesheim 1784. Dieses erste Erbauungsbuch, das Hundeiker verfaßte, war recht erfolg-
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Pädagogische Aufklärung verschaffte sich der Autodidakt Hundeiker durch das Lesen der Schriften von Locke, Rousseau und Basedow. Lockes Ansichten besonders zur körperlichen Erziehung und zur Straf- und Belohnungspraxis fanden in Hundeikers Erziehungstätigkeit deutliche Rezeption. Körperliche Ertüchtigung – ob durch Schwimmen, Gartenarbeit oder Schlittschuhlaufen im Winter17 – war immer fester Bestandteil der Hundeikerschen Erziehungsarbeit, artifizielle Belohnungs- und Strafriten wie sie in Dessau oder auch Schnepfenthal praktiziert wurden, führte Hundeiker nie ein18 und folgte dabei – neben Locke – dem theoretischen Kopf der Philanthropen, Joachim Heinrich Campe, der sich ebenfalls dezidiert gegen übertriebene Straf- und Belohnungspraktiken aussprach.19 Durch Basedows vergleichsweise prosaische theologische Ansichten20 fand Hundeiker endgültig zur Glaubensgewißheit zurück, wofür er sich überschwenglich bei dem Dessauer Schulreformer bedankte.21 Aber auch der Autodidakt Hundeiker begegnete auf seiner Selbstbildungsrobinsonade Menschen, die Einfluß auf ihn und seinen Bildungsgang gewannen. Die Hauptfigur war dabei der Braunschweiger Mediziner Wagler, den Hundeiker anläßlich der Pränumeration des Basedowschen Elementarwerkes im Januar 1774 kennenlernte.22 Dieser motivierte ihn zu seinen sich dann entfaltenden Vor-Ort-Aufklärungsaktivitäten, ferner vermittelte er ihm grundlegende medizinische Kenntnisse und beeinflußte ihn nachhaltig aufklärungstheologisch durch seine neologischen Anschauungen und durch seine gemäßigte häusliche Andachtspraxis.23 Wagler machte Hundeiker mit Basedow bekannt, der ihn im Jahre 1778 zu sich nach Dessau einlud. Basedow wollte Hundeiker gerne an sich binden, dieser aber lehnte alle Angebote einer Mitarbeit
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reich, und es erlebte bis 1797 drei Auflagen und eine Übersetzung ins Niederländische. In den Jahren zwischen 1821 und 1830 legte Hundeiker als Alterswerk vier weitere, teilweise zweibändige Erbauungsbücher vor, denen aber nur geringer Erfolg beschieden war. Vgl. Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 115 und S. 139. Vgl. Feige, (wie Anm. 7), S. 253–256. Vgl. Campe, Johann Heinrich, Ueber das Zweckmäßige und Unzweckmäßige in Belohnungen und Strafen, in: ders. (Hg.), Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Vaduz 1979 [ND der Ausg. Wien und Braunschweig 1788, Bd. 10] S. 445–568. Zu Campe vgl. auch: Schmitt, Hanno (Hg.), Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Briefe 1766–1788. Wiesbaden 1996; ders., Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit 1746–1818. Ausstellungskatalog der HerzogAugust-Bibliothek Wolfenbüttel Nr. 74. Wiesbaden 1996. Vgl. Meiers, Kurt, Der Religionsunterricht bei Johann Bernhard Basedow. Bad Heilbrunn 1971. Vgl. Hundeiker an Basedow, 15. August 1776, (wie Anm. 13). Vgl. Hundeikers Anordnungen, (wie Anm. 12), S. 4. Vgl. Feddersen, Jacob Friedrich, Moralischer Karakter desselben [gemeint ist Wagler, B. F.], in: Fritze, Johann Gottlieb, Medizinische Annalen für Aerzte und Gesundheitsliebende, vom Herbstmonat 1779 bis dahin 1780. Leipzig 1781, S. 12–20.
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am Dessauer Philanthropin ab und kehrte nach einem sechswöchigen Aufenthalt bei Basedow in seine Unabhängigkeit nach Groß Lafferde zurück.24 Doch nicht nur mit Basedow wurde Hundeiker bekannt, auch zu dem Braunschweiger Hof fand er Zugang. Eine langjährige Freundschaft verband ihn mit dem nichtregierenden Braunschweiger Herzog Ferdinand,25 der ihn – wie dies auch Wagler immer wieder unternahm – stets ermutigte, sich in seiner Gemeinde nützlich zu machen und seine Volksaufklärungsbemühungen ideell und materiell unterstützte.26 Durch seine Reformbestrebungen machte sich Hundeiker in seiner Heimatregion schon früh einen Namen und erlangte auch darüber hinaus im philanthropischen „Mekka“ Dessau Anerkennung. Bei alldem verdankte er seinen intellektuellen und sozialen Aufstieg im Kern seinen autodidaktischen Bildungsanstrengungen. Er gehört mithin zu den wenigen autodidaktischen Aufsteigern seiner Epoche, wie beispielsweise Moses Mendelssohn (1729–1786), Friedrich Nicolai (1733– 1811) oder Johann Michael Affsprung (1748–1808). Indes steht außer Frage, daß ihn der Philosoph Mendelssohn und der Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Bibliothek Nicolai an geistesgeschichtlicher Bedeutung überragen, auf der anderen Seite jedoch war der Philanthrop und Schulgründer Hundeiker wesentlich erfolgreicher als der ebenfalls von Basedow beeinflußte Aufklärer Affsprung, dessen eigene philanthropische Schulgründung in Heidelberg nur ephemeren Charakter hatte.27 Die Wirksamkeit des Groß Lafferder Pädagogen hingegen lag eindeutig auf praktischem Gebiet.
5. Hundeiker als Volksaufklärer: Gemeindereform und Alphabetisierung durch die Volksschulgründung Mit seinen volksaufklärerischen Anstrengungen folgte Hundeiker dem allgemeinen Trend des Philanthropismus im ausgehenden 18. Jahrhundert, der sich mit gleichsam sozialpädagogischem Impetus verstärkt um die einfache Bevölkerung bemühte und seine pädagogischen Anstrengungen auf diesen Adressatenkreis hin ausrichtete. Für den städtischen Bereich seien hier nur die Göttinger Industrieschulgründer 24
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Vgl. Hundeiker, J. P., Rede anläßlich der offiziellen Einweihungsfeier der Vechelder Er–ziehungsanstalt am 10. Juni 1805, in: Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 89–106, hier bes. S. 101. Vgl. Privatarchiv Schindewolf, (wie Anm. 12): Freudenlied am Feste der Menschenfreunde 1781. Dieses Gedicht textete und vertonte Hundeiker zum 60. Geburtstag des Herzogs. Vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel, Bestand 298 N 546 Band 4, darin: 17 Briefe von Herzog Ferdinand an Hundeiker von 1781–1789. Zu Mendelssohn vgl. Neue Deutsche Biographie. Berlin 1994, hier Bd. 17, S. 46–49. Zu Nicolai vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. Berlin 1970, hier Bd. 23 [Neudruck der Ausg. von 1886), S. 580–590. Zu Affsprung vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. Berlin 1967, hier Bd. 1 [ND 1875], S. 136f.
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und -pädagogen Arnold Wagemann (1756–1834) und dessen Bruder Ludwig Gerhard († 1804) sowie Heinrich Philipp Sextro (1746–1836) genannt. Den Musterfall für die ländliche Schulreform lieferten die Volksschulgründungen des schon erwähnten Friedrich Eberhard von Rochow auf seinen märkischen Gütern. Auch Hundeiker schloß sich diesem Paradigmenwechsel des Philanthropismus28 an und entwickelte mannigfaltige gemeindereformerische Bemühungen: er beförderte landwirtschaftliche Verbesserungsmaßnahmen wie Klee- und Leguminosenanbau, Stallhaltung des Viehs, Fruchtwechselwirtschaft und Meliorationen sowie Flurbereinigungsmaßnahmen. Durch dörfliche Lesezirkel und Andachtskreise, die Hundeiker bei sich im Hause oder bei befreundeten Dorfbewohnern veranstaltete, gelang es ihm, die Schar Gleichgesinnter nach und nach zu erweitern und seine reformerischen Ansichten im Ort zu verbreiten. Antidogmatische, neologisch-aufgeklärte und natürliche Religion, die auf moralisch-sittliche Erziehung und Lebensführung abzielte, war ihm dabei das Hauptanliegen. Er kämpfte gegen Quacksalberei und Aberglauben und wurde – nicht ohne Gegnerschaft des Dorfpfarrers und einiger Bauern – zum Meinungsführer der Mehrheit der Dorfes, die es bei der Neubesetzung der Pfarrstelle schließlich sogar schaffte, ihren Kandidaten, den neologisch ausgerichteten Geistlichen Johann Andreas Bahrs, durchzusetzen.29 Nicht End- aber Höhepunkt der Hundeikerschen Dorfaufklärung war zweifelsohne seine Gründung einer privaten „Volksschule“ und zwar in bewußter Konkurrenz zur bestehenden Gemeindeschule, um auf diesem Wege eine Verbesserung derselben zu bewirken. 1792 eröffnete Hundeiker in seinem Hause eine Dorfschule, die mit fünf Kindern ihren Unterricht aufnahm. Die Zahl der Kinder stieg schnell auf etwa 60 an.30 Wichtiger aber als die quantitativen Aspekte sind konzeptionelle Fragen nach dem Curriculum, dem Erziehungszuschnitt und dem Bildungsparadigma der Schule. Das Curriculum der „Bauernschule“ Hundeikers – er selbst nannte sie so, denn auch die erwachsenen Dorfbewohner erhielten durch seine Schule einen nachhaltigen Alphabetisierungsimpuls31 – bestand aus einer soliden Grundlegung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sowie einer religiös fundierten Moralerziehung, ergänzt durch gelegentliche Gesangsstunden, und hin und wieder wurden die Mädchen in Handarbeit unterwiesen. Wie besonders am Schreiben und Rechnen deutlich wird, überbot Hundeikers Dorfschule selbst mit diesem aus heu-
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Vgl. Keck, Rudolf W., Die Armeleutebildung in den Bildungsvorstellungen und Schulplänen der Philanthropen, in: Albrecht, Peter / Hinrichs, Ernst (Hg.), Das niedere Schulwesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Tübingen 1995, S. 49–74, hier bes. S. 50ff. Vgl. Cludius, (wie Anm. 2), S. 69f. und S. 81f. Vgl. Hundeiker, (wie Anm. 15), S. 370ff. Cludius und Becker wiederholen diese Angaben etwas später, vgl. Cludius, (wie Anm. 2), S. 79 und Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 59. Vgl. Cludius, (wie Anm. 2), S. 80.
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tiger Sicht bescheidenen Lehrangebot den zeitgenössischen Standard im Elementarschulbereich bei weitem.32 Vor allem auf dem Gebiet des Leseunterrichts profilierte sich Hundeiker nachhaltig und trieb damit die Alphabetisierung in seiner Gemeinde wirksam voran, womit er seine grundlegende Aufgabe der Landaufklärung erfolgreich bewältigte. Bereits 1773 erfand er einen sogenannten Lesekasten mit Buchstabenbrettchen, die gemäß dem synthetischen Prinzip nach Belieben lautorientiert zu Silben oder Wörtern zu kombinieren waren. Mit Hilfe dieses Arbeitsmittels begann er schon früh, Kinder und Jugendliche das Lesen zu lehren.33 In einem Beitrag für das Hildesheimische Wochenblatt plädierte Hundeiker schon 1782 für eine lautorientierte Vorgehensweise im Erstleseunterricht.34 Vollends entwickelt und bis zur methodischen Pedanterie getrieben hat Hundeiker seinen lautorientierten Ansatz in seiner 1791 vorgelegten Privatfibel.35 Kompromißlos verzichtete er hier zugunsten eines lautorientierten Leseunterrichts auf eine normgerechte Schreibweise der Wörter und verwendet zunächst nur eine lautbezogene Schreibung (z.B. „fon“ statt „von“ oder „ku“ statt „Kuh“). Groß- und Kleinschreibung ließ er gleichfalls außeracht, und in der ersten Hälfte der Fibel kommen nur einsilbige Wörter vor, um das lautgerechte Zusammenlesen zu erleichtern. Der insgesamt recht angestrengt wirkende methodische Purismus, der schon zu Lebzeiten Hundeikers wohlwollend kritisch kommentiert wurde,36 ist aus der Zeit heraus gleichwohl sehr gut zu verstehen, denn zu Hundeikers Zeiten bestand der Erstleseunterricht aus dem unsäglichen Buchstabieren, das es den Kindern fast unmöglich machte, vom Buchstabennamen aus auf die durch ihn bezeichneten Laute zu gelangen. Vor allem bei Diphthongen ist dies nicht zu leisten. So wetterten denn auch die frühen Promotoren des lautorientierten Leseunterrichts sehr heftig gegen das seinerzeit flächendeckend verbreitete Übel des Buchstabierens, neben Hundeiker z.B. auch der Dessauer Philanthrop
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Vgl. aus zeitgenössischer Sicht: [Anonym], Ueber die Verfassung der hisigen Landschulen, und über die Aufklärung des Landmanns. Ein Schulbesuch in B*, im Januar 1782, in: Pädagogische Unterhandlungen (1782) 1, S. 85–112. Aus heutiger Perspektive z.B. Keck, Rudolf W., Das Lehrerbild im Wandel der Geschichte. Zur Professionsgeschichte des Lehrers, vornehmlich aus der Sicht der norddeutschen Region, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart. Jahrbuch des Vereins für Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim. Hildesheim 1988, hier Bd. 56, S. 39–62. Vgl. Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 33f. Vgl. Hundeiker, J. P., [erschien anonym, Anm. B. G.], Von den Fibeln, oder ABC Büchern, in: Hildesheimisches Wochenblatt 13 (1782), S. 193–205. Standort: Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 500. Vgl. Hundeiker, J. P., Privatfibel oder einsilbige angenehme und nützliche Uebungen im Lesen und Denken für Buchstabirschüler aus gesitteten Ständen. Braunschweig 1791. Zu Hundeikers Leseunterricht vgl. auch, Feige, Bernd, Johann Peter Hundeiker. Volksaufklärer, Landschulreformer und Philanthrop. Ein Pädagoge unserer Region um 1800, in: Kreisheimatbund Peine (Hg.), Peiner Persönlichkeiten. Peine 1999, S. 95–100. Vgl. Allgemeine Schulzeitung 51 (1828), Sp. 401–407.
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und – wenn auch mit etlichen Verwerfungen – Basedow-Mitstreiter Heinrich Christian Wolke (1741–1825).37 Die endgültige Durchsetzung dieser bis heute gängigen Vorgehensweise des Lautierens erreichte der bayerische Schul- und Kirchenrat Heinrich Stephani (1761–1850),38 der sich seinerseits auf Vorarbeiten von Valentin Ickelsamer (16. Jahrhundert) stützte. Hundeiker wiederum berief sich auf den Lesemethodiker und Taubstummenlehrer Samuel Heinicke (1729–1790).39 Hundeikers frühe neologische Selbstaufklärung fand besonders in seinem Religionsunterricht ihren Niederschlag, der seiner „Volksschule“ ihren spezifischen Erziehungszuschnitt verlieh. Religion war ihm dabei mehr als nur ein Unterrichtsfach, denn sie war allen Erziehungsbemühungen in seiner „Volksschule“ im Gewand einer Moralerziehung übergestülpt. Dabei stilisierte Hundeiker ein Pflichterfüllungsethos40 und richtete seinen Religionsunterricht auf eine höchst diesseitige Sittlichkeitserziehung aus. Konkrete manuelle Arbeit oder gar Arbeitsdrill, wie ihn die vorerwähnten Industriepädagogen predigten und durchführten,41 spielten bei Hundeiker indes nie eine Rolle, und der gelegentliche Handarbeitsunterricht ist nur ein kleiner Tribut an die industriepädagogische Diskussion seiner Zeit. Auch hier folgte er seinem Vorbild Rochow, der selbst den Begriff „Industrie“ nur sehr halbherzig in den Mund nahm, weil er eben „schon kurant ist“.42 Hundeikers Bildungsvorstellungen für die einfache Landjugend weichen demnach von denen der industriepädagogischen Hardliner ab. Hauptanliegen seiner Bildungsbemühungen sind die methodisch redliche Vermittlung der Kulturtechniken und seine mild-religiöse Moralerziehung verbunden mit einer kindzugewandten Erziehungspraxis. Hundeiker betrieb seine „Volksschule“ bis zum Jahre 1796, dann zeigte sich die Gemeinde bereit, die Dorfschule zu verbessern und einen seminaristisch gebildeten Lehrer mit einem Gehalt anzustellen, das den Lebensunterhalt auch tatsächlich sicherte. Für die durch seine Konkurrenzvolksschule bewirkte Hebung der Groß Lafferder Dorfschule erntete er Zuspruch von namhafter
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Vgl. Wolke, Christian Heinrich, Von einer Lesemaschine, in: Pädagogische Unterhandlungen 12 (1778), S. 1144–1153, hier bes. 1151. Vgl. z.B. Heuser, Otto, Der Erstleseunterricht in Geschichte, Theorie und Praxis. Wuppertal 1971, S. 27ff. Vgl. Hundeiker, (wie Anm. 35), S. XV. Vgl. Hundeiker, (wie Anm. 15), S. 382f. Vgl. z.B. Sextro, Heinrich Philipp, Über die Bildung der Jugend zur Industrie. Frankfurt/M. 1968 [ND der Ausg. Göttingen 1785], S. 79. Rochow, Friedrich Eberhard von, Über die Notwendigkeit einer zweckmäßigern Einrichtung der niederen Stadt- und Landschulen in Rücksicht auf die Armenanstalten (1795), in: Jonas, Fritz / Wienecke, Friedrich (Hg.), Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogischen Schriften, Band III, Berlin 1909, S. 65. Zu Rochow vgl. auch: Schmitt, Hanno / Tosch, Frank (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Berlin / Leipzig 2001.
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Seite: Rochow lobte besonders seinen Leseunterricht,43 der Hildesheimer Superintendent Cludius stellte sein gesamtes Groß Lafferder Reformwerk als Vorbild heraus,44 und der weltgewandte Preußische Diplomat Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820), Mitglied des bekannten Aufklärungskreises „Berliner Mittwochsgesellschaft“, rühmte Hundeikers Volksschulreform in einem persönlichen Brief an ihn.45 In demselben Schreiben aber lobte Dohm nicht nur die Volksschulinitiative, darüber hinaus würdigte er Hundeikers im Aufblühen befindliches Privat-Philanthropin, das auch mit Blick auf das Schulleben besonders im Vergleich mit der späteren Vechelder Schulgründung von Interesse ist – auf eine Darstellung anderer Aspekte wie Curriculum, einzelner Lehrer und Schüler oder der materielle Ausbau des Groß Lafferder Philanthropins kann hier jedoch nicht näher eingegangen werden.46
6. Das Schulleben in Hundeikers Privatschulen: Standesüberschreitende Gemeindeoffenheit in Groß Lafferde und verinselte Hausfamilie in Vechelde Parallel zu seiner Volksschulgründung nahm Hundeiker ebenfalls ab dem Jahre 1791 Zöglinge zur Privatbeschulung zu sich in Pension. Zunächst hatte er nicht mehr als sechs Privatschüler bei sich, ab 1798 erfolgte jedoch ein allmählicher Anstieg auf etwa 30 zur Jahrhundertwende hin. Die Schüler entstammten gutbürgerlichen Familien, darunter Kaufmannsfamilien aus der Hildesheimer und Braunschweiger Region, aber auch Zöglinge aus dem Ausland – aus Spanien, Schottland, Rußland etwa – und aus dem Adel beschulte Hundeiker entweder berufsbezogen auf den Kaufmannsstand hin oder allgemeinbildend in Hinblick auf den Besuch des Braunschweigischen Collegium Carolinum oder in bezug auf das Absolvieren der oberen Klassen eines Gymnasiums.47 1803 erreichte die Groß Lafferder Privatschule eine Blüte, die ihr entsprechendes Ansehen einbrachte.48 Das Werben des Braunschweiger Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand durch seinen Unterhändler Friedrich Ludwig Christian Henneberg (1748–1812) begann49 und gipfelte schließlich in dem Besuch der Groß Lafferder Schulgründung durch den Herzog persön-
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Vgl. Rochow, Friedrich Eberhard von, Berichtigungen. Erster Versuch. Braunschweig 1792, S. 211f. Vgl. Cludius, (wie Anm. 2). Dohm an Hundeiker, 19. Oktober 1798, (wie Anm. 12). Vgl. dazu ausführlich Feige, (wie Anm. 7), S. 207–232. Vgl. ebd., S. 222–231. Vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel, Bestand 50 Neu A I / 6, darin: Pro Memoria Hundeikers vom 6. September 1814, Blatt 2.; vgl. auch Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), Becker R. Z., (wie Anm. 2), und Cludius (wie Anm. 2). Pro Memoria Hundeikers vom 6. September 1814, Blatt 2f., in: ebd.
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lich, dem es endlich gelang, Hundeiker ins Herzogtum Braunschweig zu ziehen.50 Das Schulleben in Hundeikers Privatinternat hatte nicht unerheblichen Anteil an dem pädagogischen Erfolg seiner Erziehungsgründung. Eine internatsmäßig geführte Schule mit einer bunt zusammengesetzten Klientel, die aus den verschiedensten Gegenden Europas, aber auch aus der unmittelbaren Nachbarschaft stammte, benötigte ein pädagogisch rückgebundenes Schulleben in einem erhöhten Maße. Verstärkt legte der Groß Lafferder Pädagoge dabei auf die Entfaltung einer Familienatmosphäre wert, was sich in seiner Vechelder Schule noch deutlicher ausprägte. In Groß Lafferde öffnete sich seine Schule in doppelter Weise nach außen: die Zöglinge wurden aufgefordert und ermuntert, am Leben im Dorf teilzunehmen. So gehörten die jugendlichen Internatsschüler zum Dorfbild in Groß Lafferde in jenen Jahren. Auch geschah das nicht ohne erzieherische Intention, denn Hundeiker wollte explizit erreichen, daß seine Schüler, die ja größtenteils aus dem städtischen Bereich kamen und bürgerlichen oder adligen Familien angehörten, Respekt, Achtung und Empathie für die schlichte, arbeitende Landbevölkerung entwickelten.51 Auf der anderen Seite öffnete Hundeiker seine Schule für die Dorfbewohner, die speziell anläßlich der dafür von Hundeiker ins Leben gerufenen sonntäglichen Andachtsstunden bei ihm ein- und ausgingen. Damit wollte er natürlich auch seine volksaufklärerisch motivierte religiöse und moralische Erwachsenenbildung fortsetzen und weiterhin seinen Reformeinfluß geltend machen, was ihm mit Erfolg gelang. Während die Schule in Groß Lafferde allmählich organisch wuchs und Zeit hatte, sich dem Dorfleben anzupassen, ebenso wie die Dorfbewohner sich nach und nach auf die steigende Zahl der Zöglinge einstellen konnten, tauchte die Nachfolgegründung in Vechelde quasi über Nacht auf. Eine der Folgen war: Hundeikers Schule blieb in Vechelde weitgehend ein Fremdkörper, zumal die Bauern der Umgebung das lange Zeit (seit 1792) leerstehende Schloßgrundstück für ihre Zwecke in Gebrauch hatten und sich vor allem am Baumbestand gütlich taten und darüber hinaus auch die teilweise abbruchreifen Nebengebäude als „Steinbrüche“ nutzten.52 Im Inneren der Schule rückte die Gemeinschaft noch näher zusammen. Hundeiker verfolgte dabei ausdrücklich ein bürgerliches Familienideal, das nach individuellem Glück, Intimität und gefühlsmäßig intensiver Beziehung insbesondere zwischen der Mutter und den Kindern strebte.53 Dementsprechend ließen sich Hundei50 51 52 53
Vgl. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand G Z 1 1804, darin: Hildesheimische Zeitung (1804) 120, Titelseite. Vgl. Privatarchiv Schindewolf, (wie Anm. 12): Zeitungsfragment aus dem Jahre 1800; vgl. auch Staatsarchiv Wolfenbüttel, Bestand 299 N 288. Vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel, Bestand 50 Neu A / 6: Pro Memoria Hundeikers vom 19. Dezember 1815, Blatt 24. Vgl. Mollenhauer, Klaus, Familie – Familienerziehung, in: Lenzen, Dieter / Mollenhauer, Klaus (Hg.), Theorien und Grundbegriffe der Erziehung und Bildung. Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, 12 Bde. Stuttgart 1983, hier Bd. 1, S. 414.
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ker und seine Frau von den Zöglingen auch mit Vater und Mutter anreden.54 Während das bürgerliche Familienideal auf den Typus der Gattenfamilie, bestehend aus zwei Generationen – Eltern und deren Kinder – abzielt, wurde aus der Vechelder Privatschule mit ihren Zöglingen, Bediensteten, Lehrern und dem Ehepaar Hundeiker an der Spitze, die alle unter einem Dach lebten, vom Phänotyp her gesehen eher eine Art vorbürgerliche Hausfamilie.55 Im vorliegenden Falle dann allerdings – anders als in der vorbürgerlichen Hausfamilie – mit einem dezidierten Erziehungsanspruch.56 Das Streben nach vertrauensvoller Intimität und das ständige Auf-der-Hut-sein vor vermeintlich schädlichen Einflüssen aus dem äußeren Umfeld, die den Erziehungsabsichten zuwiderlaufen könnten,57 machten aus der Vechelder Schule ein pädagogisches Reservat mit wenig Außenkontakten. Der Schloßgarten war mit einem eisernen Zaun umgeben, und das Verlassen des Geländes war den Zöglingen nur mit einer eigens dafür einzuholenden Erlaubnis möglich, wie aus dem Bericht eines Schülers hervorgeht.58 Auch daß die materielle Lage der Schule seit dem Prozeßbeginn (1814) um das Schloßgrundstück schlechter wurde und sich auf die Gestaltung des Schullebens auswirkte, geht aus diesen Mitteilungen hervor. Das gemeinsame Essen fiel karg aus, und außerschulische Aktivitäten wie Exkursionen fanden nicht mehr statt. Abwechslung wurde nur noch auf dem Schloßgrundstück selbst gesucht. Die Schüler trieben vielerlei Leibesübungen, hielten sich oft im Freien auf, gingen der Gartenarbeit nach und badeten im Sommer in dem breiten Schloßgraben, den sie im Winter zum Schlittschuhlaufen nutzten.59 Als Feste wurden gefeiert: die Geburtstage der Landesherrn und der Eheleute Hundeiker (Christiane Juliane Hundeiker [1761–1840] am 29. März und am 29. November Hundeiker), die Geburtstage der Lehrer und ein Tag als symbolischer Geburtstag für alle Zöglinge, der Hochzeitstag des Ehepaares Hundeiker (29. Juli), die Geburtstage von Luther (10. November) und Basedow (14. März) und der Einzug des Instituts in Vechelde (29. Oktober). Auch die Neueinführungen von Zöglingen oder Lehrern wurden als Festtage gestaltet.60 Trotz mancher Eintönigkeit und materieller Engpässe gelang es Hundeiker über weite Strecken, ein pädagogisch zuträgliches Schulleben zu stiften, denn seine Zöglinge waren gern bei ihm in
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Vgl. Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 127. Vgl. Mitterauer, Michael, Die Familie als historische Sozialform. in: Mitterauer, Michael / Sieder, Reinhard (Hg.), Vom Patriarchat zur Partnerschaft. München 41991, S. 28ff. Vgl. Schlumbohm, Jürgen, Familiale Sozialisation im gehobenen Bürgertum um 1800, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), „Die Bildung des Bürgers“. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert. Weinheim / Basel 1989, S. 230. Vgl. Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2), S. 126. Vgl. Staatsarchiv Bremen, Bestand 7,62; 3,2 und 2,2; darin: Aus Theodor Dräsekes Schülerjahren. Abschrift aus einem Autographen, 1827, n. pag. Vgl. ebd. Vgl. Becker, Erziehungsanstalt, (wie Anm. 2) , S. 138.
Johann Peter Hundeiker (1751–1836)
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der Vechelder Schule,61 so daß mehrere von ihnen – wie ein Zeitzeuge berichtet – nicht davon abzubringen waren, „[...] oft viele Meilen weit nach Vechelde zurück[zu]eilen, um wenigstens auf eine kurze Zeit in dem Kreise zu verweilen, dem sie so viele frohe Stunden verdankten!“.62
7. Hundeiker als Pädagoge in Zeiten geistesgeschichtlicher Umbrüche: philanthropische Wurzeln und ein neuhumanistisch beeinflußter Lehrplan Geistesgeschichtlich vollzog sich in den Vechelder Jahren der Hundeikerschen Schule – also in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – der Übergang von der philanthropischen zur neuhumanistischen Pädagogik, der vor allem auf schulprogrammatischer Ebene mit den Namen Johann Wilhelm Süvern (1775– 1829) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) verbunden wird.63 Veranlaßt durch die polemische Kampfschrift von Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848), der sowohl die schulhumanistische als auch die philanthropische Pädagogik als obsolet geworden gegenüberstellt,64 kommt es seitdem in der schulpädagogischen Historiographie immer wieder zu Darstellungen dieser Übergangsperiode nach dem Muster eines „Vorher-Nachher-Schemas“. Auf diese Weise werden einzelne Aspekte des Übergangs überdeckt oder werden zu sehr aus einer ideengeschichtlichprogrammatischen Perspektive beleuchtet, wodurch die schulpragmatische Ebene vernachlässigt wird.65 Die Bearbeitung Hundeikers erwies sich auch unter dieser Rücksicht als ertragreich. Allerdings bezieht sich dies schon mehr auf seinen Sohn Wilhelm Theodor als auf Hundeiker selbst, denn mit dessen Wirken am väterlichen Institut kehrte dort gleichsam der neuhumanistische Geist ein, der in Vechelde auf eine zwar philanthropisch verankerte, aber nicht ideologisch bornierte Pädagogik traf. In der Folgezeit entwickelte sich Vechelde in mehrfacher Hinsicht zu einer Bildungsstätte, die angestammte philanthropische Positionen erfolgreich mit Elementen des aufkeimenden Neuhumanismus in Einklang zu bringen vermochte. Der Halle-Ab61 62
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Vgl. wie Anm. 58. Willerding, H. W., Ein merkwürdiges pädagogisches Ereigniß, nebst einigen Bemerkungen über die Erziehung, besonders in Instituten, in: Sonntagsblatt 8 (1817), Sp. 60, in: Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 500 Nr. 81 Z 1817 / 1818. Vgl. Michael, Berthold / Schepp, Heinz-Hermann, Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen / Zürich 1993, S. 102–113. Vgl. Niethammer, Friedrich Immanuel, Der Streit des Philanthropismus und des Humanismus, hg. v. Werner Hillebrecht, Weinheim / München 1969 [ND d. Ausg. Jena 1808], S. 77ff. Vgl. Herrlitz, Hans-Georg / Hopf, Wulf / Titze, Hartmut, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Weinheim / München 21993, S. 31.
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solvent und Friedrich August Wolf-Schüler Wilhelm Theodor Hundeiker spielte bei der Gestaltung dieses Übergangsprozesses an der Vechelder Schule die wesentliche Rolle. Während sich sein Vater – bedingt durch den sich fast fünf Jahre hinziehenden Rechtsstreit – mehr und mehr um die äußeren Angelegenheiten kümmern mußte, nahm sich Theodor Wilhelm zunehmend der pädagogisch-konzeptionellen Fragen an, bis er schließlich allein für den Lehrplan der Schule verantwortlich zeichnete – mit wohlwollender Zustimmung durch den Vater, der bis zum Ende der Vechelder Schule pädagogisch aktiv blieb und in persona weiterhin den auf Moralerziehung abgestellten Religionsunterricht erteilte.66 Ansonsten fanden Schwerpunktverlagerungen zugunsten neuhumanistischer Akzentuierungen statt. Die alten Sprachen erhielten ein stärkeres Gewicht, wobei Griechisch zumindest nominell gegenüber dem Latein der erste Platz eingeräumt wurde. Auch hier wird die Handschrift von Theodor Wilhelm deutlich, der schon in frühen Jahren Griechisch lernte und später seine ausgezeichneten Kenntnisse hierin anläßlich einer Bewerbung geltend machte.67 Desgleichen wirft dieser Umstand ein klares Licht auf die pädagogischen Ansichten von Johann Peter Hundeiker, der sich nie an den philanthropischen Grabenkämpfen gegen die klassischen Sprachen beteiligte und das Studium derselben schon früh seinen eigenen Kindern ermöglichte. Im Geschichtsunterricht wurde nun stärker die Historie der Antike behandelt, der Umfang der Naturwissenschaften wurde etwas verringert. Hingegen wurden die neuen Sprachen nicht gekürzt, und – ganz im Sinne philanthropischer Teleologie – die Berufsvorbereitung für spätere Kaufleute blieb immer ein wichtiges Standbein für Hundeikers Privatschulen. Utraquistische Pädagogik entfaltet sich hier also in vielfältiger Weise: alte und neue Sprachen stehen gleichberechtigt nebeneinander, die Naturwissenschaften werden zwar etwas zurückgenommen, behalten aber ihren festen Stellenwert. Allgemeinbildung und frühe Spezialisierung haben bei Hundeiker beide Platz unter einem Dach, denn die Vorbereitung zum Studium und die Berufsvorbereitung künftiger Gewerbetreibender sind immer selbstverständlicher Bestandteil auch der Hundeikerschen Schule in Vechelde. Was theoretisch-analytisch getrennt werden kann, zeigt sich hier unter realgeschichtlicher Rücksicht als Gemengelage, in der sowohl philanthropische als auch neuhumanistische Einflüsse sichtbar werden und ineinander fließen. Auch ein zum Vergleich herangezogener Lehrplan eines zeitgenössischen Braunschweiger Gym66
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Vgl. Hundeiker, Wilhelm Theodor, Nützliche Anstalten und Vorschläge. Die Erziehungsanstalt in Vechelde, bey Braunschweig, in: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (1817) 152 und 153, Sp. 1669–1682 und 1685–1691; ders., Einladung zur Prüfung der Zöglinge der Erziehungsanstalt in Vechelde, Sonnabends, den 29. November [das ist Johann Peter Hundeikers Geburtstag!, B. F.]. Braunschweig 1817, [Staatsarchiv Bremen, Bestand 2–T.5.b.3.b.1.f.3.b.]. Vgl. Bewerbungsschreiben W. T. Hundeikers an den Bremer Magistrat vom 18. Oktober 1818. [Staatsarchiv Bremen, ebd.].
Johann Peter Hundeiker (1751–1836)
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nasiums weist – bis auf die berufsbezogenen Anteile – ähnlich utraquistische curriculare Strukturen auf.68 Diese Zeit des Übergangs ist bisher von der bildungshistorischen Forschung noch wenig in den Blick genommen worden, und das Beispiel Hundeiker führt exemplarisch vor Augen, daß der Ablösungsprozeß vom Philanthropismus zum Neuhumanismus realgeschichtlich wesentlich differenzierter verlaufen ist, als eine überwiegend ideengeschichtliche Sicht vermitteln kann. Der Braunschweiger Schulhistoriker Friedrich Koldewey (1839–1909) nennt Vechelde „das braunschweigische Schnepfenthal“.69 In der Tat ist Hundeikers Schulpraxis in Groß Lafferde und in Vechelde erfolgreich. Sie kann aufgrund oft schwieriger Umstände – seien es nun die ungünstige Ausgangsposition Hundeikers als Nichtstudierter, materielle Probleme, Kriegswirren oder das endlose Gerangel um das Vechelder Schloß – die großen Muster Schnepfenthal oder auf die Volksschule bezogen Reckahn nicht ganz erreichen, aber letztlich nur an diesen gemessen und mit nicht weniger als diesen verglichen werden.
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Vgl. Stadtarchiv Braunschweig, Bestand C III 5, Nr. 35, darin: Lehrplan des Katharineums in Braunschweig, 1822. Koldewey, Friedrich, Geschichte des Schulwesens im Herzogtum Braunschweig. Wolfenbüttel 1891, S. 215.
RITA CASALE (Zürich)
J. H. Campe und die tugendhafte zweite Natur1
Könnten wir, sagt Plato, die Tugend nackt erblicken: so würden wir so viel Reiz an ihr entdecken, daß wir außer ihr nichts auf der Welt mehr lieben wollten. Aber zum Unglück setzt ein neuer Schriftsteller hinzu, ist sie ein keusches Mädchen, das sich eher nicht entkleidet sehen läßt, bis man sich mit ihm vermählet hat. Joachim Heinrich Campe, Philosophischer Commentar Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux, Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux. D'un pinceau delicat l’artifice agreable Du plus affreux objet fait un objet aimable Nicolas Boileau, L’art poétique
1. Einleitung Anhand der Analyse von zwei frühen Schriften von Joachim Heinrich Campe, seine Dissertation Nonnulla de vi consuetudinis. Quaestionibus hominianis addita (1768) und Philosophischer Commentar über die Worte des Plutarch: Die Tugend ist eine lange Gewohnheit (1774) möchte ich die Bedeutung des Zusammenhangs der sich herausbildenden Ästhetik mit der Ethik für die Pädagogik im ausgehenden 18. Jahrhundert untersuchen.2 Die Ästhetik als Wissenschaft von der Wahrnehmung und der Empfindung mußte, gerade wo sie sich auf die Analyse letzterer konzentrierte, auf die Theorie von Lust und Unlust stoßen. Zugleich spielten genau Lust und Unlust in der gesamten ethischen Tradition, welche die Glückseligkeit 1 2
Für die interessante Diskussion, für die strenge Kritik und für die hilfreichen Bemerkungen zu diesem Aufsatz bedanke ich mich herzlich bei Christian Oswald. In bezug auf Campe und ferner auf die Philanthropisten versuche ich im Unterschied zu Christa Kersting (Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992), die Rolle der ersten Schriften für die späteren Erziehungskonzepte hervorzuheben. Ausgehend von den Schriften der Allgemeinen Revision (1785–1792) sieht Kersting in der Anthropologie das Fundament der philanthropistischen Theoriebildung. Trotz einer sehr differenzierten Analyse des wissenschaftlichen Kontextes der Allgemeinen Revision reduziert Kersting den philanthropistischen Ansatz auf eine experimentelle und beobachtende Methode, die auf den Naturwissenschaften, insbesondere der Medizin, beruhen soll. Eine Ausnahme sei Johann Stuve, dem eine Revision der Allgemeinen Revision in der Perspektive einer neuhumanistischen Bildungstheorie zuzuschreiben sei. Erst bei Stuve lasse sich die Resonanz der damaligen ästhetischen Diskussion registrieren lassen. Aber auch im Fall von Stuve begrenze sich der Einfluß der Ästhetik auf die Bedeutung des Anschauungskonzepts für die Unterrichtsmethode.
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zum höchsten Gut machte, eine entscheidende Rolle. Meine Hypothese ist, daß die Ästhetik das Erkenntnismaterial lieferte, das die moralische Gestaltung der Individuen durch Erziehung ermöglichte. Die so entstehende moralische Erziehungslehre ersetzte ihrerseits das aus der rhetorischen Tradition3 kommende ästhetische Prinzip der Nachahmung der Natur durch die Ausbildung einer Theorie der Gewohnheit. Diese Verbindung von Ästhetik, Ethik und Pädagogik in den ersten Schriften von Campe ist am Beispiel des Begriffs der Tugend zu erläutern. Es handelt sich um eine Fassung dieses Begriffes, die sich auf eine ‚praktische Subjektivitätstheorie‘ bezieht. Tugend wird von Campe nicht mit dem Hinweis auf das Bewußtsein oder auf ein innerliches Gefühl der Sittlichkeit erklärt, sondern die Moralität wird definiert mit Hilfe der Begriffe der Gewohnheit, der Übung, der Wiederholung und der Nachahmung. Ausgehend von der ästhetischen Theorie von Henry Home (Lord Kames) und von einem durch Cicero gefilterten Aristotelismus bieten Campes erste Schriften eine Tugendtheorie, die durch ihre überraschende Aktualität eine interessante Perspektive auf die heutige Renaissance der Tugenddebatte eröffnet.4
2. Campes Dissertation: Die Macht der Gewohnheit Die rhetorische Erläuterung der Tugend, wie sie Campe in seiner Dissertation gibt, bestimmt die Bedeutung der Macht der Gewohnheit. Er schrieb seine Dissertation 1768 in Halle bei Christian Adolph Klotz.5 Klotz war Autor von Abhandlungen über Ästhetik, Kritik und guten Geschmack, die Resonanz bei der akademischen Jugend fanden.6 Auch die Zeitschriften, die von ihm herausgegeben wurden,7 hatten einen großen Leserkreis.
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Zu der allgemeinen Bedeutung der Rhetorik für die Pädagogik vgl. Pleines, Jürgen-Eckart, Pädagogik und Rhetorik, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik (2001) 2, S. 97–108. Vgl. u.a. Foucault, Michel, Histoire de la sexualité. 3 Bde., Vol. III, Paris 1976–1984. Nussbaum, Martha C., Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt/M. 1999; MacIntyre, Alasdair, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/M. 1987; Prinsching, Manfred, Postmoderne Tugenden? Ihre Verortung im kulturellen Leben der Gegenwart. Wien 2001. Klotz war der in der Universitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigsten Professoren der „Beredsamkeit und Weltweisheit“. Während in den biographischen Rekonstruktionen von Campes Universitätsjahren die Figur des Vertreters der theologischen Neologie Wilhelm Abraham Teller (dem Campes Dissertation gewidmet ist) oft betont wird (vgl. u.a. Leyser, Jakob, Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Braunschweig 1896; Schmitt, Hanno, Einleitung, in: Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Briefe von 1766–1788, hg. v. Hanno Schmitt. Bd. 1, Wiesbaden 1996, S. 28), wird der Einfluß von Klotz auf den jungen Campe von den Biographen kaum erwähnt. Vgl. Hausen, Carl Renatus, Leben und Charakter des Herrn Christian Adolph Klotens. Halle 1772.
J. H. Campe und die tugendhafte zweite Natur
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Ich vermute, daß der zentrale Hinweis auf Henry Home in der Dissertation Campes sich auf den Einfluß von Klotz zurückführen läßt. Die bis jetzt in der historischen pädagogischen Forschung ignorierte Rolle des Schotten Henry Home darf nicht unterschätzt werden.8 Campes Dissertation kündigt sich mit ihrem Untertitel („Quaestionibus homianis addita“) als Kommentar zu dem ersten Traktat der Ästhetik an, der in Großbritannien publiziert worden ist.9 Homes Elements of Criticism ist die Hauptquelle der Dissertation, in der sich weiterhin vor allem Hinweise auf Schriften von Cicero, von Nicolas Boileau, von Moses Mendelssohn und von Friedrich Justus Riedel finden. Campes Interpretation von Home ist m.E. der aristotelischen Tradition verpflichtet, die die Frage nach der Tugend mit der Frage nach der Macht der Gewohnheit aufs engste verknüpft. In Nonnulla de vi consuetudinis geschieht dies nur noch nicht auf explizite Art und Weise. Es handelt sich um eine rhetorische Untersuchung der menschlichen Handlungen, deren Bedeutung für das menschliche Glück von Campe nachhaltig betont wird. 2.1 Henry Home: Gewohnheit innerhalb der „Ökonomie der menschlichen Leidenschaften“ Mit den Elements of Criticism legt Home eine empirische Ästhetik vor. Diese empirische Ästhetik versteht sich als eine physiologische Analyse der menschlichen Empfindungen, die die Basis der ‚Kultivierung‘ derselben vermittels der schönen Künste bilden soll. Homes ästhetisches Projekt ist zugleich ein moralisches Programm. 7
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Es handelt sich um die Zeitschriften Acta litteraria (1764–1772); Neue Hallische gelehrte Zeitungen (1766–1771) und Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaft (1761–1771), deren Stil an ein Gegenprogramm zu der aufklärerischen Allgemeinen Deutschen Bibliothek Nicolais denken läßt. Außerdem war der Name Klotz wegen seines Streites mit Lessing für die Öffentlichkeit explizit mit der ästhetischen Debatte verbunden. Dieser Streit wurde erst ein Jahr vor der Dissertation von Campe geführt (vgl. Klotz, Christian Adolph, Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine, Altenburg 1768, in dem der Autor gegen Lessings Laokoon polemisiert, und Lessings Antwort in den Briefen antiquarischen Inhalts, 1769). Um die Rolle von Klotz für den ästhetischen Hintergrund der späteren Bildungstheorie Campes genauer zu ermitteln, wäre eine Analyse der von der Forschung bisher nicht benutzten Vorlesungsmitschriften aus den Jahren 1776–1778 sehr hilfreich. Eine solche Analyse überschritte die Grenzen dieser Schrift. Die Vorlesungsmitschriften (782 Seiten in Quart-Format) von Campes Hand befinden sich im Vieweg Verlagsarchiv Wiesbaden. Eine weitere Mitschrift der literaturgeschichtlichen Vorlesung von Klotz („Historia Literatura“) aus der Zeit von Campes Dissertation ist im Besitz der Familie Himstedt, die das Manuskript der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel als Dauerleihgabe übergeben hat, vgl. Schmitt, (wie Anm. 5). Der Hinweis auf Henry Home (Lord Kames) wird von Hans-Michael Elzer mit einem auf Hume verwechselt, vgl. Elzer, Hans-Michael, Gewohnheit und Charakter nach Joachim Heinrich Campes „Philosophischer Commentar“ von 1774, in: Paedagogica Historica IX (1969), H. 2, S. 40–66. Henry Home (Lord Kames), 1762.
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Da die Natur des „empfindenden Wesens“ (sensitive being) Home zufolge extrem kompliziert ist,10 bedarf dessen Erkenntnis der kritischen Zergliederung. Diese Analyse beruht auf der empiristischen Überzeugung, daß das Objekt der menschlichen Erkenntnis nur Eindrücke der Sinne sein können. Aber im Gegensatz zu den bekannten Strömungen des Empirismus konzentriert sich Homes Untersuchung tatsächlich auf die Empfindung und nicht auf die Repräsentation.11 Die Unterschiede der Eindrücke hängen von den verschiedenen Sinnen ab. Ausgehend von der Art, wie die Sinne dem Menschen die Eindrücke übertragen, kann man von höheren und niederen Sinnen sprechen. Beim Schmecken, Fühlen und Riechen, den niederen Sinnen, sei der Ort der Empfindung das Organ selbst, beim Sehen und Hören, den höheren Sinnen, hingegen die Seele. Keine körperliche Berührung findet bei ihnen statt.12 Das Vergnügen, das Sehen und Hören erregen, hat einen „Mittelplatz“13 zwischen ‚körperlicher Lust‘ und ‚intellektueller Lust‘ (bzw. „Ergötzung des Verstandes“). Dank dieser „vermischten Natur“ können diese Empfindungen zugleich Einfluß auf die Seele und auf den Körper haben. Diese besondere Stellung von Auge und Ohr erlaubt den schönen Künsten gerade vermittels sinnlicher Tätigkeiten, nämlich Hören und Sehen, auf die Empfindungen und Leidenschaften des Menschen zu wirken. Deshalb können sie eine moralische Wirkung ausüben.14 Die sinnlichen Tätigkeiten des Auges und des Ohrs sind aber auch selbst als „Gemütsbewegungen“ und „Leidenschaften“ wahrzunehmen. Die Leidenschaften sind wiederum Gemütsbewegungen, die mit einem Verlangen verbunden sind und im Unterschied zu denselben eine Dauer haben.15 Das Verlangen allein reicht nicht aus, die Leidenschaften zu charakterisieren, da es abnehmen kann. Die Dauer allein reicht nicht zu, da dann der Gemütsbewegung die Intensität mangelt, die sie erst zu einer Leidenschaft macht. Auch die Tugend wird als Bewegung der Seele gefaßt. Sie ist eine Neigung, die nach dem Guten strebt. Dadurch, daß sie das Gute begehrt, unterscheidet sie sich von den Leidenschaften, die auf das Angenehme zie10
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Home, Henry, Elements of Criticism, 3 Vol. Edinburgh 1967, [ND von 1763; 1766], hier Vol. II, S. 80: „Human nature, diversified with many and various springs of action, is wonderfully, and, indulging the expression, intricately constructed“; dt.: „Die menschliche Natur, in der so viele und so verschiedene Triebfedern der Handlungen abwechseln, ist nach einer wunderbaren, und wenn ich den Ausdruck brauchen darf, verwickelten Art eingerichtet“, zit. nach.: Home, Henry, Grundsätze der Critik, von Heinrich Home, [Lord Kames], übers. v. Johann Nikolaus Meinhard, 2 Bde. Leipzig 31790, hier Bd. 2, S. 89. Locke unterscheidet die in den Körpern vorhandenen Qualitäten und die durch „letztere im Geiste erzeugten Ideen“, vgl. Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand [1690]. 2 Bde. Hamburg 1998, hier Bd. 1, S. 154. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Nach d. Übers. von Eugen Rolfes, bearb. von Günther Bien. Hamburg 1995, X, 5, 1175b 30f. Vgl. Zimmermann, Robert, Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft. Wien 1858–1865. 2 Bde., hier Bd. 1 [1858], S. 224. Bezüglich dieser moralischen Funktion der Künste spricht Cassirer von „Humanisierung der Sinnlichkeit“, vgl. Cassirer, Ernst, Grundprobleme der Ästhetik. Berlin 1989. Vgl. Home, Grundsätze, (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 52, 69–70.
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len. Diese Ablenkung der Leidenschaft, die die Tugend auch sein kann, bedarf der Gewöhnung, die durch erzieherische Mittel unterstützt werden muß.16 Und um die Sache der Tugend von allen Seiten zu unterstützen, ist, durch eine bewundernswürdige Einrichtung, den guten Beyspielen eine solche Gewalt über das menschliche Herz gegeben worden, daß durch sie die Tugend eine Gewohnheit werden kann […] Und jede Uebung, sie mag innerlich oder äußerlich seyn, führt zu einer Fertigkeit, denn eine Neigung oder ein Hang der Seele wird, wie ein Glied unseres Körpers, durch Uebung stärker.17
Auch Fabeln stellen wirksame Beispiele dar, die tugendhafte Bewegungen in den Jugendlichen hervorrufen.18 Sie können für die Erregung einer Neigung zur Tugend dieselbe Funktion haben wie wahre Geschichten: „Es offenbaret sich daher eine große Weisheit, die uns also eingerichtet hat, daß wir eben derselben Besserung durch die Fabel als durch wahre Geschichten fähig sind“.19 Kann das Beispiel auch als Ausgangspunkt der Bewegung auf die Tugend hin dienen, genügt das noch nicht, damit die Tugend eine Fertigkeit wird. Dazu bedarf es der Übung. Damit aber die Übung didaktisch wirkt, ist eine ständige Wiederholung notwendig. Die Wiederholung ist geeignet, sowohl eventuelle Unvollkommenheiten des Übenden als auch Mängel der Übung selbst zu korrigieren: Da zu gleicher Zeit immer geschickte Mittel vorhanden sind, diese sympathetische Bewegung [der Tugend] zu erregen, so kann die öftere Wiederholung derselben großentheils bey Mangel einer vollständigern Übung ersetzen. Auf diese Weise kann sich jeder durch gehörige Uebung eine dauerhafte Fertigkeit in der Tugend erwerben.20
Das Schema Neigung – Übung – Wiederholung – Fertigkeit – Tugend ist somit bei Home als ein Erziehungsprozeß zu deuten, an dessen Ende der tugendhaft handelnde Mensch stehen soll. Dieser Mensch handelt tugendhaft aus Gewohnheit. Der Analyse des Begriffs der Gewohnheit widmet Home das 14. Kapitel seiner Elements of Criticism („Custom and habit“). Diese Untersuchung will als eine philanthropische Studie verstanden sein. Es geht um eine Menschenkenntnis, die versucht, die menschlichen Handlungen vorherzusehen, um sie zu regieren, und nicht mehr um ein pädagogisches Modell. Daß jede menschliche Handlung von den Leidenschaften verursacht wird, ist der Ausgangspunkt der Untersuchung. Nur die Gewohnheit erlaubt es dem Menschen, seine Leidenschaften zu gebrauchen. Die glückliche Macht der Gewohnheit besteht darin, daß die tugendhafte Handlung eine „Praktik“21 bzw. Fertigkeit wird, die den Menschen von der Mühe eines ständigen Anfangs befreit: „Daß die Macht der Gewohnheit eine glückliche Anstalt 16 17 18 19 20 21
Vgl. ebd., Bd. 2, S. 81. Home, Grundsätze, (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 81. Vgl. ebd., S. 82. Ebd., Bd. 2, S. 137. Ebd., Bd. 2, S. 82. Mit Foucault könnte man diese Fertigkeiten auch „Technologien des Selbst“ nennen: Ders., „Technologien des Selbst“, in: Martin, Luther H. u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt/M. 1993, S. 24–62.
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zu unserm Besten sey, muß jeder einräumen, der bedenkt, daß unsre eigentliche Bestimmung die Arbeit, und das Vergnügen nur unsre Erholung ist“.22 Die einmal gewonnene Gewohnheit ist für Home die Wiederholung derselben Haltung. Die Festigung dieser Haltung ist die Wirkung, welche die Gewohnheit auf die Seele oder den Körper hat. Diese Wirkung kann aktiv sein, wie bei Leibesübungen oder passiv, wie in den Fällen, wo man durch Gewohnheit Geschmack an gewissen Dinge findet, an denen man anfänglich keinen fand. In einigen Fällen resultiert aus Gewohnheiten aber auch Langeweile (Ekel oder Sättigung), in anderen Fällen dämpfen sie die Schärfe von Schmerz und Leiden. Häufige Wiederholung über eine längere Dauer kann diese Festigkeit verschaffen: „die Länge der Zeit ist dazu nothwendig“.23 Die Prozedur, durch die der Mensch eine gewisse Festigkeit des Charakters gewinnt, wird von Home mit minutiöser Präzision beschrieben: Weder der schnellste Fortgang der Handlungen in einer kurzen Zeit, noch ein langsamer Fortgang in der längsten Zeit, ist allein für sich dazu hinreichend. Diese Wirkung muß durch gemäßigste, gelinde Beschäftigung, und durch eine lange Reihe zwangfreyer Bemühungen, die durch kurze Zwischenräume getrennt sind, hervorgebracht werden. Ja, ohne Ordnung in Rücksicht auf Zeit, Ort und ander[e] Umstände der Handlung, sind auch diese nicht einmahl zureichend. Je einförmiger die Art zu handeln ist, desto eher wird sie zur Fertigkeit.24
Es ist diese langsame und wiederholte Tätigkeit, die dem Menschen die Lust des mäßigen Vergnügens gönnt. In Homes Fassung der Tugend als einer Neigung, die der Gewohnheit und der Übung bedürftig ist, kann man das theoretische Konzept finden, das Campe als Basis seiner Dissertation und seines späteren Philosophischen Commentars dienen sollte. Allerdings versucht Campe, die Unklarheit von Homes Konzeption zu beseitigen, die darin bestehe, dass Home zwar beschreibe, wie man von der Neigung zur Tugend komme, aber deren inneren Zusammenhang nicht bestimme. Dazu bedient er sich der Überlegungen Moses Mendelssohns. 2.2 Mendelssohn: Die Lust am Gewohnten Bei Mendelssohn wird wie bei Home die Tugend als das Streben nach dem Guten verstanden. Was bei Home ungeklärt blieb, der Zusammenhang zwischen dem Angenehmen und dem Guten, findet bei Mendelssohn, in der Wiederaufnahme der platonischen Tugendlehre seine Lösung. Auf dieser Basis meint Mendelssohn die epikureische Tradition widerlegen und eine Brücke zwischen Lust und Moral bauen zu können. Platon zufolge ist die Frage nach der Tugend nur vermittels einer Idee des Guten zu beantworten. In den beiden Dialogen Menon und Protagoras wird der Be22 23 24
Vgl. Home, Grundsätze, (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 113. Ebd., Bd. 2, S. 94. Ebd., Bd. 2, S. 94f.
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griff der Tugend ausgehend von der Frage ihrer Lehrbarkeit diskutiert. Die Tugend kann nur gelehrt werden, wenn sie Wissenschaft ist. Und eine Wissenschaft ist sie, weil ihr die wahre Erkenntnis dessen zugrunde liegt, was Lust verspricht. Die platonische Lehre ist nicht gegen die Lust gerichtet, sondern zielt vielmehr auf ihre Erfüllung. Die wissenschaftliche Tätigkeit realisiert sich als Meßkunst, die in der Lage ist, den unmittelbaren Lustgewinn und das durch Vernunft ersichtliche Angenehme gegeneinander abzuwägen und das scheinbar Angenehme vom wirklich Angenehmen zu unterscheiden. Mendelssohn wie auch später Campe folgen genau dem platonischen Modell, das: 1. das schlechterdings Angenehme; 2. das schlechterdings Unangenehme; 3. das Angenehme, welches in der Folge unangenehm wird; 4. das Unangenehme, welches in der Folge angenehm wird, unterscheidet.25 Der Mensch tue das Unangenehme, erkennend, daß es Unangenehmes sei, überwunden aber von dem Angenehmen.26 Die unmittelbare Lust, die man bei der Ausführung einer Tätigkeit fühlen kann, ist kein zuverlässiges Urteilskriterium. Nur im Laufe der Zeit kann sich die Art der Empfindungen zeigen. Dadurch, daß in die Lust die Überlegung und die Abwägung einbezogen wird, denen eine gewisse Dauer eignet, wird die Dimension des Augenblicks überwunden. Das so gefaßte Angenehme bzw. die Lust sei das Ziel jeder Handlung und beruhe auf Wissen.27 Es sei das höchste Gut. Nach der Lust zu leben, bedeute zugleich, entsprechend den Tugenden sich zu verhalten. Die grundlegende Struktur des Naturverhältnisses, wonach die Neigung oder das Verlangen durch die Vorstellung des Angenehmen hervorgerufen wird, wird beibehalten. Durch die Erkenntnis aber des Guten als dem, was in Wahrheit Lust verspricht, werden die Handlungen auf das Gute ausgerichtet. Das Angenehme wird zum Antrieb für gute Taten. Mendelssohn modifiziert seine platonische Grundlage, die er weitgehend übernimmt, in zweierlei Hinsicht. Beide Veränderungen gegenüber Platon sind für Campe von besonderer Bedeutung und erlauben es ihm, Platons Philosophie mit den Reflexionen Homes zu verbinden. Zum einen hebt Mendelssohn die moralische Bedeutung der Schönheit hervor, die neben der Vollkommenheit und der Sinnlichkeit die dritte Quelle der angenehmen Empfindung sein soll. Ein Drittes ist die Schönheit insofern, als in ihr Sinnlichkeit und Vollkommenheit verknüpft sind. Die von ihr hervorgerufene ange25
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Campe, Joachim Heinrich, Nonnulla de vi consuetudinis. Quaestionibus homianis addita. Halae 1768, S. 12ff.; Mendelssohn, Moses, Philosophische Schriften. I, Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. Berlin 1761, S. 45. Platon, Protagoras. Werke [griech.-dt.], hg. v. Gunther Eigler. 8 Bde. Darmstadt 1977, hier Bd. 1, 355b. Auf die Frage von Protagoras, ob der Unterschied zwischen dem augenblicklich Angenehmen und dem erst für die künftige Zeit Angenehmen und Unangenehmen in etwas anderem als in der Lust oder Unlust liege, antwortet Sokrates, daß das einzige Kriterium die Lust sei und fordert Protagoras auf: „Wie ein des Abwägens Kundiger lege das Angenehme und das Unangenehme zusammen und auf der Waage das Entfernte und das Nahe abschätzend sage dann, welches das größere ist“, ebd., 356 a. Ebd., 356 d.
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nehme Empfindung wird in rationalistischer Manier als das klare, aber undeutliche Bewußtsein der Vollkommenheit definiert.28 Sie ist als die sinnliche Wahrnehmung der Vollkommenheit zu denken. Dies begründet nun bei Mendelssohn wie bei Platon die Überlegung, daß der zeitliche Faktor bei der Erkenntnis des Angenehmen eine große Rolle spielt. Zum anderen behauptet Mendelssohn, ohne auf die platonische Identifikation von Tugend und Wissenschaft zu verzichten, daß die Lehre der Tugend, um erfolgreich zu sein, auch der Übung bedarf. Die Tugend sei nur durch Übung vollständig erlernbar: „Die Tugend ist freilich eine Wissenschaft, wie Plato sagt, und kann erlernt werden, aber wenn sie in Ausübung gebracht werden soll, erfordert sie nicht blos wissenschaftliche Ueberzeugung, sondern auch kunstmässige Übung und Fertigkeit“.29 Diese ,künstliche‘ Korrektur der platonischen Tugendlehre wird von Mendelssohn durch den Begriff der Gewohnheit durchgeführt: „Die Gewohnheit und die Uebung verwandeln eine jede Fähigkeit der Seele in eine Fertigkeit, und verursachen, daß eine Handlung geschwind verrichtet werden kann, zu welcher Anfangs Weile erfordert wurde.“30 Unter Gewohnheit wird die Wiederholung ein und derselben Handlung verstanden. Auch die Übung ist nichts anderes als Wiederholung, aber im Sinne einer Handlung, die mit Fleiß und Absicht wiederholt wird. Erst durch Mendelssohns moderne Ergänzungen, die Erweiterung des platonischen Kontextes um das Schöne und die Übung, kann die Bestimmung der angenehmen Empfindung als Motor der Formation von Gewohnheiten, Eingang in Campes Rezeption von Home finden. 2.3 J. H. Campe: Gewohnheit als sinnliche Vernunft In der Dissertation nimmt Campe die Thematik der Gewohnheit so auf, wie Home sie in den Elements of Criticism ausgearbeitet hatte. Campe setzt aber dabei den Akzent auf die Macht der Gewohnheit und auf die Art dieser Macht. In der Tat sind es zwei Fragen, die im Zentrum von Campes Dissertation stehen. Die erste stellt die Frage nach der Macht der Gewohnheit allgemein: „Woran liegt es, daß die Gewohnheit im allgemeinen großen Einfluß auf uns hat?“.31 Die zweite Frage betrifft die Art und Weise, in der die Gewohnheit ihren Einfluß zeigt: „Welches ist der Grund dafür, daß unsere Seele infolge häufigen Gebrauchs einer Sache und
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Mendelssohn, (wie Anm. 25), S. 27. Die Aufnahme der Argumentation von Mendelssohn sollte von Campe später im Philosophischen Commentar begrenzt werden. Mendelssohns Konzept der Vollkommenheit sollte nicht ohne bedeutende Folgen mit Cochius’ Begriff der Vergnügung korrigiert werden. Ebd., S. 60f. Ebd., S. 53. „Qui fit, ut generatim tantum in nos valeat consuetudo?“, Campe, Nonnulla, (wie Anm. 25), S. 7.
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nachdem sie sich an sie gewöhnt hat, sich einmal ihr stark zu- und einander mal sich vehementer von derselben abwendet?“.32 Die Erläuterung des Was und des Wie der Macht der Gewohnheit setzt für Campe eine ausführliche Untersuchung ihrer Prinzipien voraus. Die Natur der Gewohnheit zu definieren, bedeutet zuerst, daß ihr dreifaches Verhältnis zu Körper und Seele expliziert wird: „Jede Gewohnheit ist entweder eine Gewohnheit des Körpers oder der Seele oder von beiden“.33 Der Bezug der Gewohnheiten zu Körper und Seele präzisiert ihre Natur, aber er bietet noch keine Erklärung über die Prozesse ihrer Entstehung. Erst der Hinweis auf die Empfindungen kann deutlich machen, wie Gewohnheiten sich bilden. Empfindungen können angenehm oder unangenehm sein. So wie eine unangenehme Empfindung, die sich aus einer gewissen Handlung ergibt, dazu führt, daß die Tätigkeit, die Unwohlsein hervorgebracht hat, vermieden wird, bewirkt eine angenehme Empfindung umgekehrt, dieselbe Handlung zu wiederholen. Das legt die Möglichkeit nahe, wie Mendelssohn unter Berufung auf Platon angedeutet hat, die angenehme Empfindung in der Erziehung zur Tugend als Instrument einzusetzen. Eine Übung, die eine angenehme Empfindung verspricht, motiviert zur Wiederholung. Campes Konzeption geht darüber noch hinaus. Bei Platon war der Zusammenhang von Angenehmem und Gutem an die Erkenntnis gebunden, daß das Gute zugleich das Angenehme sei. In der Moderne wird hingegen der Hiatus zwischen Angenehmem und Gutem durch die Übung und die Wiederholung überbrückt. Das ist dadurch möglich, daß die Wiederholung selbst als angenehm empfunden wird und damit zu einem eigenen Element der Erziehung verselbständigt wird. Die erste Übung zur Erwerbung von Gewohnheiten ist darum die Übung zur Wiederholung. Diese ist das konstitutive bzw. pädagogische Element, das die Sedimentierung der Ergebnisse der Übungen erlaubt. Campe verschärft Mendelssohns Ergänzungen zu Platon hinsichtlich der wirkenden Kraft von Übung und Wiederholung so weit, daß deren Mechanik an die Stelle der Erkenntnis treten kann, die für Platon noch die entscheidende Bedeutung hatte. Deren Rolle reduziert sich darauf, dem Pädagogen die richtige Anleitung seiner Schüler zu ermöglichen. Daß Platons Bezug auf die Erkenntnis faktisch negiert wird, obwohl die darauf basierenden Gedanken über das Angenehme und das Gute, wie erläutert, via Mendelssohn den Hintergrund für Campes Überlegungen bilden, erklärt, warum er von ihm nicht mehr explizit in Betracht gezogen wird. Die Übungen sollen nicht nur oberflächliche Veränderungen verursachen. Außen und Innen scheinen bei Campe nicht mehr getrennt zu sein. Der Begriff ,Übung‘ darf nicht etwa bloß auf die äußerlichen Handlungen bezogen werden,
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„quae est ratio, cur, frequenti usu atque consuetudine alicuius rei intercedente, anima nostra nunc magis versus eam se inclinet, nunc vehementius eamdem aversetur?“ , ebd. „Omnis igitur consuetudo aut est corporis, aut animae, aut, ego addo, utriusque“, Campe, Nonnulla, (wie Anm. 25), S. 9.
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denn sie umfaßt auch alle innerlichen Wirkungen auf unsere denkende Seelenkraft. Man muß so lange wiederholen, bis man sich im Laufe der Übung ihrer Regeln nicht mehr bewußt ist, bis „[...] sich seine Grundsätze in Neigungen verwandelt haben, und seine Tugend mehr Naturtrieb, als Vernunft zu sein scheinet“.34 Die Naturalisierung der Gewohnheit beinhaltet hier die Naturalisierung der Tugend. Dieser Schritt ist in der Dissertation nur angedeutet und wird von Campe in seinem Philosophischen Commentar ausführlicher thematisiert. Diese Schrift von 1774 ist ein Kommentar zu Plutarchs Motto: „Die Tugend ist eine lange Gewohnheit“. Dort werden Gewohnheit und Tugend ausgehend von einem ‚lateinischen Aristotelismus‘ miteinander identifiziert. Auf der Basis von Ciceros stoischem Aristotelismus35 und von Plutarchs Tugendlehre entwickelt Campe den Begriff der Tugend als einer „Praktik“, die aus wiederholten Übungen entsteht,36 und zieht damit die Konsequenz aus seiner impliziten Negation des Platonismus in seiner Dissertation.
3. Campes Philosophischer Commentar: Die Tugend ist eine lange Gewohnheit 3.1 Aristoteles: Tugend als Habitus In der Nikomachischen Ethik werden die Überlegungen Platons hinsichtlich der Tugend vielfach kritisiert. Im Kontext dieser Untersuchung sind nur zwei Aspekte dieser Kritik zu erwähnen: Aristoteles bestreitet sowohl, daß die Ethik eine strenge Wissenschaft sein könne, als auch, daß es einen unmittelbaren Nexus zwischen richtiger Erkenntnis und richtigem Handeln gebe. Gegenstand der Wissenschaft ist das Notwendige, das sich nicht anders verhalten kann.37 Der Gegenstand der Ethik ist das Handeln, das im Gegensatz zum Notwendigen sich so oder anders verhalten kann. Die Ethik ist eher als Überlegung über die Tugend denn als Wissenschaft von ihr zu charakterisieren. Die tugend-
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Mendelssohn, (wie Anm. 25), S. S. 61. Schon in der Dissertation von Campe finden sich häufig Hinweise auf Cicero, insbesondere auf De amicitia und auf De finibus. Für die Bedeutung von Cicero und Aristoteles für die Popularphilosophie der Aufklärung vgl. Bachmann-Medick, Doris, Die ästhetische Ordnung des Handelns (Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts), Stuttgart 1990. Ich finde sehr interessant, daß MacIntryre (wie Anm. 4, S. 301–323) im Unterschied zu meiner Rekonstruktion eine Alternative zwischen Aristoteles und der christlichen Tradition einerseits und Ciceros Ethik andererseits sieht. Wenn die aufklärerische Ethik mit ihrem Begriff der Tugend als „Disposition“, der an Ciceros Formulierungen erinnert, gescheitert sei, sei die Möglichkeit der Ethik nur in der Wiederaufnahme einer prämodernen Moral, die für MacIntyre in der Kontinuität des Aristotelismus in der christlichen Tradition besteht, begründet. Aristoteles, Nikomachische Ethik, (wie Anm. 12), 1139b, 15–35.
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haften Handlungen lassen sich darum auch nicht wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse durch die Lehre tradieren. Sie entstehen vielmehr aus Gewohnheiten. Die sittliche [Tugend. R. C.] […] wird uns zuteil durch Gewöhnung, davon hat sie auch den Namen erhalten, der nur wenig von dem Wort Gewohnheit verschieden ist. Daraus ersteht auch, daß keine von den sittlichen Tugenden uns von Natur zuteil wird. Denn nichts Natürliches kann durch Gewöhnung geändert werden.38
Die Tugenden sind, setzt Aristoteles fort, weder etwas von Natur noch etwas gegen die Natur. Die Anlage zu den Tugenden gehört zu dem Menschen per natura. Aber damit die Anlage zur Wirklichkeit wird und zwar zur Tugend, ist die Gewöhnung notwendig.39 In dem vierten Kapitel des zweiten Buchs der Nikomachischen Ethik weist Aristoteles auf drei psychische Phänomene hin, um zu erklären, was die Tugend ist: Affekte, Vermögen und Habitus. Unter Affekten wird alles verstanden, was mit Lust oder Unlust verbunden ist; unter Vermögen wird gefaßt, was die Menschen für die Affekte empfänglich macht; der Habitus ist das, was erlaubt, daß der Mensch sich mit einer gewissen Festigkeit in bezug auf die Affekte verhält. Gerade, daß das Handeln etwas Veränderliches ist und nichts Natürliches, ermöglicht die Ausbildung eines bestimmten Habitus als Grundlage der Tugend durch Übungen: „Aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus. Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus“.40 Die Tugend ist ein Habitus, der dem Menschen ein ‚mittleres‘ Verhalten in bezug auf seine Affekte erlaubt: Die Tugend liegt, „wo das Übermaß verfehlt ist und der Mangel Tadel erfährt“.41 3.2 Plutarch: Tugend ist lehrbar Plutarch nimmt das aristotelische Erklärungsmodell der Tugend auf und akzentuiert in dessen Konstruktion die Rolle der Übung im Entstehungsprozeß der tugendhaften Tätigkeiten. Daß die Ethik nicht als strenge Wissenschaft gelten kann, schließt die Lehrbarkeit der Tugend nicht mehr aus. Wenn Tugenden aus Gewohnheiten bestehen, können sie vermittels Übung für Plutarch nicht nur gebildet, sondern auch gelehrt werden. Wie für die Künste und Wissenschaften gehören die folgenden Elemente zur vollkommenen Erwerbung der Tugenden: Naturanlage, Verständnis und Gewohnheit. Der Unterricht ermöglicht es, die Tugend zu verstehen, und die praktische Übung gestattet es, daß sie eine Gewohnheit wird. „Der 38 39
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Ebd., 1103a, 17–22. Es scheint mir sehr überraschend, daß die heutige Renaissance der Tugenden bei einigen der wichtigsten Vertreter mit einer Rehabilitierung der „menschlichen Natur“ auf der Basis von Aristoteles zu tun haben soll, vgl. Nussbaum, (wie Anm. 4), S. 227–263. Aristoteles, Nikomachische Ethik, (wie Anm. 12), 1103a, 20–25. Aristoteles, Nikomachische Ethik, (wie Anm. 12), 1106a, 24–27.
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Anfang ist die Naturanlage, der Fortschritt ist das Lernen, die Praxis ist die Übung“.42 Der Übung kommt sowohl die Funktion der Festigung der Tugenden als auch die ihrer Tradierung zu. Wird der Übung so viel zugetraut, dann wird die Bedeutung der Naturanlage im Verhältnis der oben genannten Elemente zwangsläufig eingeschränkt. Obwohl sie notwendig zu sein scheint, kann die Übung einen „Mangel an natürlichen Anlagen“ kompensieren: Meint aber Jemand, man könne mit gehöriger Unterweisung und Tugendübungen einem Mangel an natürlichen Anlagen auf keine Weise abhelfen, der wisse, daß er ganz und gar irrt. Trägheit verdirbt die beste natürliche Anlage, während der Fleiß ersetzt, was der Natur abgeht. Wenn die Nachlässigkeit außerstande ist, das Leichteste zu vollbringen, so kann der Eifer die schwierigsten Dinge ins Werk setzen.43
Die Gewohnheit tritt dort ein, wo es an der Naturanlage fehlt. Ihre Macht erweist sich darin, daß sie diesen Mangel beheben kann. 3.3 Cicero: Tugend als zweite Natur Auch für Cicero wie für Aristoteles ist die Tugendfrage mit der Glückseligkeit verbunden44. Glückseligkeit ist für ihn das höchste Gut und als solches Ziel jeder menschlichen Handlung. Unter Tugend versteht Cicero in De finibus45 die Bedingung der Glückseligkeit. Die Diskussion um die Ziele menschlicher Handlungen wird von ihm in Auseinandersetzung mit den Epikureern, mit den Stoikern und mit den Peripatetikern entwickelt. In allen drei Doktrinen spielt die Definition des Begriffs der Natur eine große Rolle. Sie unterscheiden sich darin, was für ein Gegenstand ihnen die Natur ist: Den Epikureern ist sie Körper, den Stoikern der Kosmos und den Peripatetikern Anlage. Gemeinsam ist ihnen, daß sie die Natur als bewegendes Prinzip in bezug auf die Tugend als Selbstliebe interpretieren. Die Koordinaten, von denen ausgehend das Thema diskutiert wird, sind: Lust, Seele und Körper. Cicero zufolge existiert für die Epikureer nichts als Körper, und die Lust sei das höchste Gut.46 Glückseligkeit bedeute ihnen, ein Leben in der Lust zu führen, die 42 43 44
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Plutarch, Über Kindererziehung, in: ders., Von der Ruhe des Gemütes und andere philosophische Schriften. Übertr. u. eingel. v. Bruno Snell. Zürich 1948, S. 109. Ebd. Das gilt auch für die ganze Aufklärung mit Ausnahme von Kant. So Frank Grunert: „[...] in der revidierten Tradition antiker – aristotelischer wie epikureischer und stoischer – Ethiken definierte die Aufklärung Glück als „Endziel des uns möglichen Handelns“ (Aristoteles) und machte es damit zu einem Schlüsselbegriff des Zeitalters“, Grunert, Frank, Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung, in: ders. / Vollhard, Friedrich (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 351–375, hier S. 352. Nach der Aussage von Cicero war die Schrift De finibus bonorum et malorum als ein Handbuch der griechischen Philosophie insbesondere der Ethik für die Römer konzipiert, vgl. folgende Anm. Cicero, De finibus bonorum et malorum. [Lat.-dt.], hg. u. komm. v. Olof Gigon u. Laila Straume-Zimmermann. München / Zürich 1988, S. 30f.
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als Erfahrung des Angenehmen gefaßt wird. Auch die Lust der Seele sei eine Folge des körperlichen Genießens: Lust wird aber nach der Gewohnheit aller, die Latein sprechen, dort angenommen, wo etwas Angenehmes erfahren wird, das irgendeines der Sinnesorgane in Bewegung setzt. Übertrage dieses Angenehme, wenn du willst, auf die Seele, denn in beiden Fällen ist ein ,iuvare‘ gemeint, von dem ,iucundus‘ abgeleitet ist.47
Im Gegensatz zu den Epikureern setzen die Stoiker die Glückseligkeit kaum in Verbindung zum Körper und seiner Lust. Das höchste Gut sei die Übereinstimmung mit der Natur.48 Gilt für Menschen wie für Tiere gleichermaßen, daß ihr Tun von der Selbstliebe bestimmt wird, so zeichnen sich erstere dadurch aus, daß sie sich dabei der Vernunft bedienen. Sie sind in der Lage, viele Dinge gleichzeitig zu behandeln, Ursachen und Folgen der Erscheinungen zu erkennen, Ähnlichkeiten herzustellen und Getrenntes zu verbinden. Außerdem erlaubt der Besitz der Vernunft dem Menschen, das eigene Leben als ein Ganzes zu verstehen, wodurch er Gegenwart und Zukunft verknüpfen kann. Auch der soziale Charakter des Menschen ist ein Ergebnis seiner Vernunft. Die Übereinstimmung mit seiner sozialen Natur drückt sich zuerst in der Liebe zur Familie, danach zu seinen Mitbürgern und zuletzt zu allen Sterblichen aus.49 Die stoische Tugend ist die vollkommene Entwicklung der Vernunft,50 durch die der erstrebte Einklang mit der Natur erreicht wird. Die Tugend ist die Art, in der die Menschen der Natur entsprechen und darum etwas an sich Lobenswertes. Diese Vollendung der Natur vermittels der Vernunft braucht Künste, die die Anlagen der Natur unterstützen und zur Vollkommenheit entwickeln.51 Die Stoiker nennen die Vollendung der Natur explizit als Prinzip, die Epikureer formulieren sie implizit als solches, wenn sie den Körper als Natur und seine Lust als höchstes Gut fassen. Aus der Auseinandersetzung mit den beiden Positionen ergibt sich deshalb für Cicero, daß der Wert der Vollendung der Natur allgemein 47 48 49 50 51
Im Dialog spricht diese Sätze ein Epikureer vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 271. Cicero, De finibus, (wie Anm. 46), S. 255. Nach Hans Blumenberg ist die besondere Bedeutung von Kunst (techne) Aristoteles zuzuschreiben. Bei diesem wird unter ,techne‘ zugleich das Künstliche und das Künstlerische verstanden. ,Techne‘ steht für alle Fertigkeiten des Menschen. „ ,Kunst‘ besteht nach Aristoteles darin, einerseits zu vollenden, was die Natur nicht zu Ende zu bringen vermag, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen“ (vgl. Blumenberg, Hans, „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte des Schöpferischen Menschen [1957], in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt /M. 2001, S. 9–46, hier S. 9. Diese Doppelbestimmung hängt für Blumenberg mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Natur als produzierendem Prinzip (natura naturans) und produzierter Gestalt (natura naturata) eng zusammen. Deshalb sind Natur und Kunst strukturgleich. Dieses metaphysische Fundament habe die Stoa eindeutig verstärkt „Zwischen Natur und Technik gibt es keine definierbare Grenze mehr, eine einzige energeia ist am Werke: ‚Kunst‘ ist die Natur mit anderen Mitteln“, ebd., S. 28.
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anerkannt ist. Gleiches gilt für die Feststellung, daß erst die Bildung des Menschen sie realisieren kann. Die Grenze der oben dargestellten Positionen zeigt sich dort, wo sie einander entgegengesetzt sind, nämlich in dem, worauf sich die Bildung beziehen soll: Es ist allgemein anerkannt, daß die gesamte Aufgabe und das Geschäft der Weisheit in der Bildung des Menschen besteht. Die einen […] tragen Thesen vor, aus denen sich ergibt, daß sie das höchste Gut in den Bereich verlegen, der unserer Macht entzogen ist; sie sprechen von ihm wie von einem seelenlosen Körper. Andere dagegen kümmern sich um nichts anderes als um die Seele, als ob der Mensch keinen Körper hätte.52
An den Epikureern kritisiert er die ausschließliche Reduktion der Lust auf ein körperliches Phänomen und den Vorrang der Lust bezüglich der Bestimmung des Körpers: „Gibt es nicht am Körper selbst viele Dinge, die der Lust vorzuziehen sind, wie Kraft, Gesundheit, Schnelligkeit und Schönheit?“.53 Von den Stoikern weist er sowohl die Ausschließung des Körpers als auch die Definition des Verhältnisses zur Natur zurück. Sehr widersprüchlich findet er die stoische Bestimmung der Natur zugleich als zu erreichendes Ideal und als unvollkommenen Ausgangspunkt: „Was ist widerspruchsvoller als die Erklärung der Stoiker, man kehre zur Natur zurück, nachdem man das höchste Gut erkannt habe, um die Prinzipien des Handelns, also der Pflicht, bei der Natur zu holen?“.54 Denn die Tugend, sofern sie mit der Natur übereinstimmt, soll zugleich auch Kunst sein. Im letzten Buch von De finibus bietet Cicero eine Alternative zu den zwei oben skizzierten Positionen an. Laut Cicero enthält dieses Buch die Darstellung der aristotelischen Ethik. Tatsächlich gibt er eine Version des Aristotelismus, die die stoische Tugendlehre integriert, aber auch ihre Grenze überschreitet. Wie für die Stoiker ist die Glückseligkeit auch für die Aristoteliker das höchste Gut. Aber die Aristoteliker fragen sich nicht, was Glückseligkeit ist, sondern woraus sie entsteht.55 Für sie besteht der Mensch aus Seele und Körper. Da der Mensch Vernunft besitzt, hat die Seele als Sitz der Vernunft den ersten Rang. Aber trotz der Tatsache, daß die Tugend die Vollendung der Vernunft ist, kann sie nicht ohne die Erziehung ausgeübt werden. Die Natur des Menschen enthält die Möglichkeit, nicht bereits die Realität der Tugend: Der Mensch hat […] von Natur die angeborene Fähigkeit für alle Tugenden […] aufnahmebereit zu sein. Darum werden die Kinder, ohne Belehrung erhalten zu haben, durch Abbildungen der Tugenden, deren Keime sie in sich besitzen in Bewegung versetzt. Dies sind nämlich die Grundlagen der Natur, durch deren Entwicklung gewissermaßen der Keim der Tugend erzeugt wird.56
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Cicero, De finibus, (wie Anm. 46), S. S. 272f. Ebd., S. 168f. Ebd., S. 282f. Cicero, De finibus, (wie Anm. 46), S. 330f. Ebd., S. 348f.
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Durch die Belehrung, durch die Gewohnheit entsteht eine zweite Natur, die erst die Vollendung der ersten ermöglicht.57 3.4 J. H. Campe: Tugend durch Übung Der einseitige Bezug der Tugend entweder auf den Körper oder auf die Seele, der schon von Cicero kritisiert wurde, mußte sich Campe im Kontext einer von ihm beabsichtigten moralphilosophischen Interpretation der rationalistischen Metaphysik erneut stellen. Leibniz’ Begriff der Seele bietet ihm eine Lösung der vom Rationalismus aufgeworfenen Leib-Seele-Problematik, auf der er seine Sittentheorie aufbauen zu können glaubt. Petersen58 zufolge ermöglicht die Ausdehnung des Lebensbegriffs bei Leibniz die Überwindung von Descartes’ Dualismus von Leib und Seele und die Koexistenz der Einheit und Mannigfaltigkeit in allen seelischen Zuständen. Das Verhältnis zwischen Leib und Seele ist als Verhältnis zwischen Körper und Kraft zu verstehen. Statt entgegengesetzt zu sein, sei die Seele das Prinzip der Tätigkeit des Körpers. Die Auffassung der Seele als Kraft bzw. als Prinzip des Lebens erklärt die Mannigfaltigkeit ihrer Zustände, ohne auf ihre Einheit zu verzichten, weil Leibniz, wie Cochius in seiner Untersuchung über die Neigungen formuliert,59 mit Kraft nicht nur dynamispotentia nuda, sondern auch entelechie meint.60 57
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Ebd., S. 382f. Die Bedeutung der Macht der Gewohnheit für die Entstehung der Tugend wird von Cicero auch in De amicitia explizit formuliert. Dort ist ein tugendhaftes Leben die Bedingung der Freundschaft, die dieselbe Form wie die Tugend hat: sie ist eine lange Gewohnheit. „Je älter eine Freundschaft ist, um so mehr soll man sie schätzen – wie die Weine – die eine lange Lagerung hinter sich haben“ [veterrima quaeque, ut ea vina, quae vetustatem ferunt, esse debeat suavissima“], Cicero, Laelius de amicitia. / Laelius über die Freundschaft. [Lat.-dt.], hg. v. Max Faltner. Düsseldorf / Zürich ³1993, S. 183f. Die Parallelität zwischen Tugend und Freundschaft hinsichtlich der Macht der Gewohnheit ergibt sich aus Stellung des Charakters zu beiden. Freunde sind diejenigen, die Charakter haben. Der Charakter besteht in Tugenden, die eine bestimmte Wiederholung der eigenen Gewohnheiten voraussetzen: Treue (fides), Unbescholtenheit (integritas) und Gerechtigkeitssinn (aegalitas). Die Bedeutung der Studien von Petersen über die aristotelische Philosophie im protestantischen Deutschland (Petersen, Peter, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig, 1921) für die Lektüre Campes von Plutarch hat schon Hans-Michael Elzer betont, vgl. ders., Bildungsgeschichte als Kulturgeschichte. Bd. II. Düsseldorf 1967. S. 180f. – Die zentralen Hinweise von Campe auf die schottische Ästhetik (Henry Home) und auf den französischen Klassizismus (Nicolas Boileau) in seiner Dissertation stellen den Gebrauch, den Elzer von Petersens Hinweisen auf einen deutschen protestantischen Aristotelismus macht, zweifelsohne in Frage. Wie ich versucht habe zu zeigen, ist Campes Lektüre von Plutarch in dem Philosophischen Commentar vor allem durch Cicero vermittelt. Trotz dieser Einschränkungen gibt es in der Rekonstruktion des protestantischen Aristotelismus von Petersen einige Elemente, die für Campes Tugendlehre wichtig sind. Es handelt sich erstens um die Fassung des Begriffs der Seele, der im Philosophischen Commentar auf Leonhard Cochius zurückgeführt wird, und zweitens um Thomasius’ Kritik an der aristotelischen Sittenlehre. Es handelt sich um Leonhard Cochius’ Untersuchung über die Neigungen, welche den von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1767 ausgesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1769. Petersen, (wie Anm. 58), S. 356–374.
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Für Campe beinhaltet Leibniz’ Fassung der Seele als einer Vorstellungskraft entsprechend dem physischen Begriff von Kraft zugleich die Möglichkeit einer moralischen Bestimmung ihres Objekts. Sie strebt nach Wirksamkeit, und alles was diesem Bestreben ein Hindernis in den Weg legt, ist ihrer Natur zuwider: Ein Objekt, dessen Begriff unsere Vorstellungskraft erweitert, nennen wir (physisch oder moralisch) gut; ein Objekt hingegen dessen Begriff unsere Vorstellungskraft einschränkt nennen wir (physisch oder moralisch) böse.61
Und die Vorstellung des Guten ist mit einer angenehmen, die des Bösen mit einer unangenehmen Empfindung verbunden: Jede neue Vorstellung, welche der Seele eine Erweiterung ihrer Vorstellungskraft zu versprechen scheint, macht ihr Vergnügen; jede neue Vorstellung hingegen, welche der Seele eine Einschränkung ihrer Vorstellungskraft zu drohen scheint, macht ihr Mißvergnügen. Im ersten Fall liebt sie das Neue, im andern das Gewöhnliche.62
Indem Campe Gutes und Angenehmes durch die Vorstellungskraft (Seele) verknüpft sieht, kann er die Tugend als eine Fertigkeit derselben bestimmen, die auf der Neigung beruht. Unter Neigung versteht man gewöhnlicherweise eine nur vorübergehende Ausrichtung des menschlichen „Begehrungsvermögens“ auf eine gewisse Art von Gegenständen, für Campe hat sie hingegen immer bleibenden Charakter: „Bey jeder Neigung liegt ein Verlangen zum Grunde“.63 Entsprechend der von ihm übernommenen Lehre ist die „Urkraft der Seele“ „das einzige formelle Principium aller ihrer Neigungen, so wie die verschiedenen äußern Objekte derselben das materielle Principium sind, wodurch die Verschiedenheit dieser Neigungen bestimmt wird“.64 Er akzeptiert daher weder die Hypothese, der zufolge jeder Neigung ein „wesentlicher Grundtrieb“ entspreche, noch jene, der gemäß jeder Neigung eine „verborgene Eigenschaft“ (die scholastische qualitas occulta) zugrunde liege. Er distanziert sich auch sehr deutlich von der Hypothese „eines gewißen angebohrnen dunklen Gefühls des moralischen Guten und Bösen“.65 61
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Campe, Joachim Heinrich, Philosophischer Commentar über die Worte des Plutarchs: die Tugend ist eine lange Gewohnheit; oder über die Entstehungsart der tugendhaften Neigungen. Berlin 1774, S. 45. Ebd., S. 84. Ebd., S. 25. Campe, Commentar, (wie Anm. 61), S. 32. Campe bezieht sich auf Shaftesbury („Die Tugend ist tief im Gemüte begründet“, vgl. Shaftesbury, Antony Ashley Cooper, Untersuchung über die Tugend [1699–1711]. Ins Dt. übertr. u. eingel. v. Paul Ziertmann. Leipzig 1905, S. 22) und auf Francis Hutcheson. Das Verhältnis von Campe zur schottischen Ästhetik ist sehr differenziert. Wie seine ersten Schriften zeigen, kannte Campe die verschiedenen Positionen ihrer Vertreter sehr gut. Man kann im Fall von Campe von einer zustimmenden Rezeption der aristotelischen Rhetorik von Home und von einer sehr deutlichen Ablehnung der „Ästhetik der Intuition“ von Shaftesbury und Hutcheson sprechen. Shaftesburys und Hutchesons „Moralsinn“ der Tugend konnte den Rhetor der Macht der Gewohnheit bzw. der Erziehung kaum zufriedenstellen. Die Universalität des Moralsinnes
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Ausgehend von der Seele als ihrer Quelle entstehen eine Reihe von unterschiedlichen Neigungen, je nach dem Objekt, auf das sie sich beziehen. Die Neigungen, die einen sehr allgemeinen Gegenstand haben, werden „natürliche Triebe“ genannt. Die mit einem besonderem Objekt werden als „erlangte Triebe“ oder „Fertigkeiten und Gewohnheiten“ definiert. Die ersteren sind bei jedem Menschen, wenn auch in verschiedenen Graden, vorhanden. Die zweiten sind „nur bey denen, in welchen Uebung und Gewohnheit sie erzeugt haben“.66 Die Tugenden beruhen auf dieser zweiten Gruppe von Neigungen, und dürfen deshalb nicht nur gelehrt, sondern müssen durch Übung erlangt werden. Der bloße trockene Unterricht reicht für die Erwerbung der Tugend nicht aus. Gegen die platonische Identifikation von Tugend und Wissenschaft wendet Campe ein, daß zwischen Wissen und Ausüben eine große Kluft bestehe. Sicher erlaubt nach Campe der Unterricht, „eine deutliche Erkenntnis dessen, was in jedem Falle recht und unrecht ist“67 zu erlangen, aber erst die Übung ermöglicht die Praktik der Tugenden. Obwohl und weil im Philosophischen Commentar die Bedeutung der Übung für die Entstehung der Tugend gegenüber der ihrer Erkenntnis hervorgehoben ist, wird die Tugendlehre zur Grundlage einer umfassenden moralischen Erziehungslehre.68
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setze eine Unabhängigkeit von der Ausbildung voraus (vgl. Hutcheson, Francis, Über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend. Über moralisch Gutes und Schlechtes [1725]. Übers. u. eingel. v. Wolfgang Leidhold. Hamburg 1986. S. 97, 135), die der gute Leser von Plutarch nicht akzeptieren konnte. Campe, Commentar, (wie Anm. 61), S. 41. Ebd., S. 52. Ebd., S. 5. Der thomasische Akzent auf der Erziehung bezüglich der Tugend ist deutlich zu spüren. Die Bedeutung von Christian Thomasius für Campe bzw. für den deutschen Philanthropismus ist schon von Lempa hervorgehoben worden: Lempa, Heikki., Bildung der Triebe. Der deutsche Philanthropismus (1768–1788). Turku 1993. Im Gegensatz zu Lempa denke ich, daß Campes Tugendtheorie sich nicht eindeutig aus Thomasius’ Affektenlehre ableiten läßt. Bei Campe fehlt Augustinus’ Identifikation von Liebe und Wille, die bei Thomasius sehr entscheidend ist. Maßgebend ist in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen der positiven Rolle der Gewohnheit bei Campe und dem theologischen Verdacht bei Augustinus gegen die Gewohnheit des Fleisches (Confessiones, VIII, 5). Bezüglich des Einflusses von Thomasius’ Aristotelesrezeption auf Campe kann man eher solche Aspekte wie die Vereinfachung des Tugendkatalogs und eine starke Veränderung der Affektenlehre in Campes ersten Schriften wiederfinden. Die Vereinfachung der aristotelischen Tugendlehre hat bei Thomasius u.a. die Erziehung der Jugend zum Zweck, wozu ihm zufolge ihre ursprüngliche Fassung wenig geeignet sei (Petersen, [wie Anm. 58], S. 387). Thomasius’ Absicht war es, eine Ethik zu schreiben, die sich nicht mehr nach dem Katalog der aristotelischen Tugenden richtete, sondern sich als eine Kunst verstand, die dazu bringen sollte, vernünftig und tugendhaft zu lieben, und dadurch zu einem „glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen“: Thomasius, Christian., Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben als dem einzigen Mittel, zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen; oder: Einleitung der Sitten-Lehre, Halle 1692. – Die Affektenlehre als Basis der Ethik wurde von Christian Thomasius, wie auch später von Henry Home und von Campe durch die Untersuchung der Gemütsbewegungen ersetzt. Die Neigungen des Gemüts sind für Thomasius weder gut noch böse, sie sollen nur gemäßigt werden. Die Affekte sind nicht im Verstand, sondern im Willen und die Neigung und der Trieb des Willens ist ihm eine viel edlere Kraft der menschlichen Seele als das Denken des Verstandes.
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Auch in der Schrift Philosophischer Commentar geht es Campe wie schon in seiner Dissertation darum, zu erklären und zu begreifen, wieso die Menschen sowohl von dem Neuen als auch von dem Gewohnten angezogen sind. Die Folge der Argumentation und die Beispiele des Kommentars zu Plutarch ähneln oft im Stil seiner Dissertation. Und obwohl er sich auch hier genauso wie in der Dissertation explizit der Überlegungen Mendelssohns bedient, wird das Verhältnis der Macht der Gewohnheit zum Angenehmen auf der Basis der dargestellten Seelentheorie, die sich insbesondere auf Cochius’ Schrift „Untersuchung über die Neigung“ stützt, umgekehrt. Campe unterscheidet drei Klassen von Gewohnheiten hinsichtlich der angenehmen Empfindung, die sie begleitet: Gewohnheiten, die von Anfang an Vergnügen machen; Gewohnheiten, die von immer wachsendem Vergnügen begleitet werden; Gewohnheiten, die nur mit der Zeit angenehm werden.69 Deutlich wird, daß Campe nicht mehr wie Mendelssohn vom Angenehmen ausgehend die Entstehung der Tugend erörtert, sondern der Gewohnheit die Macht zuschreibt, uns eine Handlung angenehm werden zu lassen. Möglich wird diese Umkehrung, weil das Angenehme nicht mehr als sinnliche Wahrnehmung der Vollkommenheit bestimmt wird, was seine Empfindung immer noch vom Objekt abhängig sein läßt, sondern die Quelle des tugendhaften Handelns im Trieb zur subjektiven Vollkommenheit, zur Erweiterung der eigenen Kraft, gesehen wird. Ist Campe zufolge angenehm, was die Vorstellungskraft erweitert, unangenehm, was sie beschränkt, gestattet die Gewohnheit dort noch den Bereich unserer Vorstellungen auszuweiten, wo die Natur ihm eine Grenze gesetzt hat. Die Gewohnheit, einmal aus Übung und Wiederholung hervorgegangen, verselbständigt sich in diesem Kontext zu einer Kraft eigener Art. Ihre Macht besteht darin, daß sie uns Gefallen finden läßt an dem, was zunächst Abscheu erregen kann: Die Neuigkeit erweckt die Aufmerksamkeit, die Gewohnheit schwächt den Abscheu.70 Es scheint, daß die Macht der Gewohnheit keinen Widerstand kennt, der nicht überwunden werden kann: Keine Sache, sie mag noch so schlimm seyn, keine Lebensart, sie mag uns so beschwerlich scheinen, keine Arbeit, sie mag uns anfangs noch so sauer werden; ist nach einer glücklichen Einrichtung der Dinge, durchaus unvollkommen, durchaus beschwerlich, durchaus unerträglich. Jede, noch so schlimme Sache, hat auch ihre gute Seite, jeder noch so beschwerliche Zustand, hat seine Annehmlichkeiten. Diese Bemerkung macht es uns begreiflich, wie eine unangenehme Sache durch Uebung und Gewohnheit uns bald erträglich, bald sogar angenehm werden könne.71
Die Betonung der Kraft der Übung impliziert eine deutliche Anerkennung der Macht der Erziehung. Sie besteht in der Schöpfung einer zweiten Natur, die fähig
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Thomasius‘ Schrift (Ausübung der Sitten-Lehre. Halle 1696) besteht aus Ratschlägen, wie man durch Übungen zu einem tugendhaften Leben erziehen kann. Campe, Commentar, (wie Anm. 61), S. 107f. Vgl. Cochius, (wie Anm. 59), S. 29f. Campe, Commentar, (wie Anm. 61), S. 111.
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ist, die stoische Vollendung der Natur vermittels der Gewohnheiten zu realisieren. Campe hat damit das Programm von Cicero konkretisiert.
4. Die Nachahmung und die schöne zweite Natur Der stoischen Definition zufolge ist die Tugend die Vollendung der Natur. Schon bei Cicero beinhaltet diese Vollendung der Natur vermittels der Gewohnheit aber die Entfaltung einer zweiten Natur.72 Der Ausdruck „zweite Natur“ taucht in der Schrift Philosophischer Commentar in einem Zitat aus Philosophische Schriften von Mendelssohn auf, mit dem Campe de facto sein Buch schließt. Mit einer leichten Variation von der wolffischen Terminologie unterscheidet Mendelssohn die unteren und oberen Seelenkräfte. Eine Harmonie zwischen den beiden sei dadurch zu erreichen, daß man sich zu den Gesetzen der Natur verhalte wie der Künstler zu den Regeln seiner Kunst: Wer nach der höchsten Stufe der sittlichen Vollkommenheit ringet; wer nach der Seeligkeit strebt, seine untern Seelenkräfte mit den obern in eine vollkommene Harmonie zu bringen, der muß es mit den Gesetzen der Natur, wie der Künstler mit den Regeln seiner Kunst machen. Er muß so lange mit der Übung fortfahren, bis er sich in währender Ausübung, seiner Regeln nicht mehr bewußt ist, bis sich seine Grundsätze in Neigungen verwandelt haben, und seine Tugend mehr Naturtrieb, als Vernunft zu sein scheinet. Alsdenn hat er die heroische Größe erreicht, die über den Kampf gemeiner Leidenschaften hinweg ist, und ohne Eitelkeit die bewunderwürdigsten Tugenden ausübt. Wer bey jeder guten Handlung seine Grundsätze im Munde führet, bey dem ist die Tugend noch nicht zur zwoten Natur geworden, dem fehlt noch ein wichtiger Schritt zur sittlichen Vollkommenheit.73
Der Vergleich von Tugenderziehung und Ästhetik ist in diesem Zitat nicht nur äußerlich. Es geht nicht nur darum, daß die tugendhafte Handlung der schöpferischen Tätigkeit des Künstlers ähnlich ist. Es handelt sich auch nicht einfach darum, wie auch Home behauptet hat, „den unschätzbaren und unentbehrlichen Nutzen der schönen Wissenschaften in der Sittenlehre“74 zu zeigen, sondern die enge Verknüpfung zwischen Menschenkenntnis und Schönheit zu erfassen. In der Erkenntnis jeder Regel, mit der die schöne Natur der Kunst geschaffen wird, besteht ein weiterer Schritt zum Verständnis der menschlichen Seele: „Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre“.75 Schönheit ist für Mendelssohn die ideale Natur, die allein in der Lage ist, unsere Empfindungen zu beherrschen, Empfindungen und Verstand zu harmonisieren. Die Schönheit der Künste besteht wie die der Tugenden in der Tatsache, daß sie erst die Vollkommenheit der Natur er-
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Cicero, De amicitia, (wie Anm. 57), 183f. Mendelssohn, (wie Anm. 25), S. 61. Ebd., S. 4. Ebd., S. 69.
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möglicht.76 Wie bei der Tätigkeit des Künstlers so auch bei der Erwerbung der Tugend führt die Nachahmung der Natur zu einer zweiten Natur, die wesentlich schöner als die erste ist.77 Mendelssohn denkt die Tugendlehre von der Ästhetik aus. Im Kontext von Campes moralischer Erziehungslehre nimmt sich Mendelssohns Beschreibung wie die Darstellung dessen aus, was das Resultat des Erziehungsprozesses sein soll. Der formelle Vergleich von ästhetischer Tätigkeit und tugendhaftem Verhalten läßt aber ihren Unterschied deutlich hervortreten. Dem Künstler sind seine Regeln Mittel der Nachahmung der Natur, dem Tugendlehrer ist die Nachahmung der Natur im tugendhaften Handeln der Zweck der Übung. Innerhalb von Campes Überlegungen, die, wie gezeigt, in der zweiten Schrift stark von Cicero beeinflußt sind, können die Regeln der Tugend nicht mehr als Gesetze der Natur verstanden werden. Campe zitiert hier Mendelssohn, weil er auf der Grundlage des Vergleichs die Kunst an die Stelle dessen treten lassen will, was bei Mendelssohn die Gesetze der Natur sind. Das Produkt der moralischen Erziehung soll sich so verhalten wie der Künstler in seiner Produktion. Die moralische Erziehung selbst gewinnt damit die Bedeutung einer Kunst. Doch die Erziehungskunst ist eine andere als die sich herausbildende ästhetische. Die Schönheit in den Künsten wird von Mendelssohn anhand des Begriffs der Nachahmung erklärt. Die Künste seien schön, weil sie die Natur nachahmen. Mendelssohn weist auf Batteux hin,78 und wie Batteaux sieht er die Einheit der Künste im Prinzip der Imitation.79 Auch wenn mit verschiedenen Akzenten galt für die 76
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Ebd., S. 77: „Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in einer künstlichen sinnlich vollkommenen Vorstellung, oder in einer durch die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit“. Von einer anthropologischen Fragestellung ausgehend hat Christoph Wulf thematisiert, wie mimetische Prozesse in der Genese und in der Erziehung des Menschen eine zentrale Rolle spielen: Wulf, Christoph, Ästhetische Wege zur Welt. Über das Verhältnis von Mimesis und Erziehung, in: Lenzen, Dieter (Hg.), Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik. Darmstadt 1990, S. 156f. Batteux, Charles, Les beaux arts réduits à un même principe. Paris 1747. Sehr wahrscheinlich sind die direkten Quellen für Campe für den Begriff der Nachahmung eher L’art poétique von Nicolas Boileau (L’art poétique [1674], neu hg. v. August Buck. München 1970) und die Theorie der schönen Künste und Wissenschaften: Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. [Jena 1767] von Friedrich Just Riedel als die Schrift von Batteux. Boileau wurde im 18. Jahrhundert sehr stark rezipiert. In bezug auf Campe vermute ich, daß die Quelle wie im Fall von Home Klotz war. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß von Riedel, der sein Buch u.a. Klotz widmet. Ferner läßt sich die Rolle von Boileau im 18. Jahrhundert anhand des Urteils von d’Alembert anschaulich machen, dem zufolge der Art poétique „le code du bon goût“ war. Das Buch von Riedel ist ein Kompendium, das zum Ziel hat, die Jugend mit den schönen Wissenschaften bekannter zu machen und ihrem Geschmack eine erste Richtung zu geben. Riedels Abhandlung ist für die Campe-Forschung sehr interessant, weil es darin zahlreiche Hinweise auf die deutsche Rezeption von Home gibt. Er selbst definiert sich als Homianer. Dazu kommt, daß dieses Kompendium eine bestimmte ästhetische Tradition (aristotelische) Campe zur Verfügung stellt. Riedel bietet mit seiner Abhandlung einen Überblick über die Ästhetik u.a. von Aristoteles, Horaz, Quintilian, Longin, Boileau, Dubos, Batteaux, Home, Bodmer, Breitinger, Baumgarten, Ramler, Lessing, Winckelmann und Klotz.
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italienische Renaissance und später für den französischen Klassizismus ein Prinzip der Nachahmung, das nach Aristoteles80 und Horaz81 formuliert wurde. In der Poetik von Aristoteles war die Nachahmung zugleich das Prinzip der Erwerbung jeder Art von Erkenntnis für den Menschen seit der Kindheit und Prinzip jeder Form von Kunst. Ohne Nachahmung der Natur wäre es nicht möglich, die Natur zu kennen und die Kunst zu produzieren. Unter dem aristotelischen Begriff der Nachahmung wird aber keine reine Imitation gefaßt. Der mimetische Prozeß enthält in sich eine Idealisierung, die dem Menschen die Betrachtung und das Umgehen mit jedem Gegenstand, auch mit dem schrecklichsten ermöglicht. Der Künstler kopiert von der Natur nur, was schön ist: „Der Nachahmer der Schönen Natur liefert alles häßliche und unanständige ab und mahlt das Schöne allein. Er verschönert seine Gegenstände nicht, als dadurch, daß er sie weniger häßlich macht“.82 Was in der ästhetischen Produktion ein Charakteristikum des mimetischen Prozesses ist, wird in der moralischen Erziehung durch die Ausbildung der Gewohnheit erreicht. Sie nimmt uns den Abscheu vor dem Unangenehmen. Die Kunst produziert einen schönen Gegenstand, der auch die Empfindung des Angenehmen hervorrufen kann. Die Erziehung produziert, oder vielmehr modelliert hingegen die Empfindung. Die Gewohnheit selbst ist auch nicht als ein mimetischer Prozeß zu denken, höchstens ihre Gestaltung durch die Übung. In der Gewohnheit hat sich das vermeintliche Subjekt der Handlung gelöst von seiner ersten Natur. Die Gewohnheit stellt nur in dem Sinne eine Imitation der ersten Natur dar, als sich die Handlungen in einer der Notwendigkeit ähnlichen Selbstverständlichkeit vollziehen sollen. Unterscheidet sich aber die Tugendlehre von der Kunst, indem sie sich von der ersten Natur als dem Objekt der Nachahmung entfernt und soll sie zugleich als Kunst auch ein mimetisches Moment enthalten, fragt sich, was ihr Objekt ist. Bei Horaz und bei Boileau wird die Nachahmung zur doppelten Imitation der Natur und der rhetorischen Regeln der Antiken.83 Die Nachahmung ist als eine schöpferische Anverwandlung des antiken Vorbildes und als Verschönerung der Natur zu verstehen. Für die Tugendlehre bleibt nur das antike Vorbild als Gegenstand der Nachahmung übrig. Dieser Begriff der Nachahmung löst die Widersprüchlichkeit auf, die Cicero in der stoischen Formulierung der Tugend entdeckt hatte. Die Übereinstimmung mit der Natur ist tugendhaft, in dem Maße, in dem man sich dem historischen Ideal annähert. Die Realisierung dieses Ideals ist Aufgabe der Erziehung. 80 81 82 83
Aristoteles, Poetik, [griech.-dt.], übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1984, Buch IV. Horaz, Epistula ad Pisones, in: Horati Flacci Q., Opera, hg. v. D. R. Shackleton Bailey. Stuttgart 31995. Riedel, (wie Anm. 79), S. 146. In diesem Kontext kann ich nur andeuten, daß die Diskussion um das Prinzip der Nachahmung bei Boileau in Verbindung mit dem Streit mit Charles Perrault, Autor der großen Programmschrift der „Moderne“, Parallèle des anciens et des modernes, 1688, zu sehen ist.
JÖRN GARBER (Kassel)
„Die Bildung des bürgerlichen Karakters“ im Spannungsfeld von Sozial- und Selbstdisziplinierung I. Neue Wissenschaftssysteme zur Zeit der französischen Revolution Im Jahre 1789 widmet der Theologe und Erziehungstheoretiker Carl Friedrich Bahrdt sein Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Tübingen 1789) der „Bürgerschaft zu Halle“. Bahrdt ist nicht nur Gastwirt, sondern auch Dozent an der Universität Halle, die im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Reformprozessen durchläuft. Es kommt zu einem Umbau der Wissenschaftssysteme und zur Gründung neuer Lehrstühle, die bislang als Fachdisziplinen nicht an deutschen Universitäten existierten. Im Vorfeld dieses Reformprozesses kommt es zur Begründung der Ästhetik durch Baumgarten und Meier, die beide noch unter dem beherrschenden Einfluß der Wolffschen Philosophie stehen.1 Seit den 40er Jahren verändert sich die Tradition der ‚psychologia rationalis et empirica‘ (Christian Wolff) unter dem Einfluß der ‚philosophischen Ärzte‘, die eine Psychomedizin entfalten, welche die ‚anthropologische Wende‘ in Deutschland vorbereitet.2 Die halleschen Psychomediziner begründen eine psychoanalytische Krankheitserforschung, die dann von der Romantik aufgenommen und von Freud und seiner Schule zur Universitätswissenschaft ausgebaut wird. Es dürfte kein Zufall sein, daß in Halle um 1780 drei große Wissenschaftsrevolutionen vorbereitet werden, die einen neuen Naturbegriff konstituieren: Die Biologie, die Naturgeschichte und die Ethnologie sind drei Wissenschaftsbereiche, die aufs engste zusammenhängen. Exemplarisch genannt seien die halleschen Professoren Kurt Sprengel (Biologie)3
1
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Vgl. zu Meiers Ästhetik die Textedition: Meier, Georg Friedrich, Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen. Mit Textkommentar, Zeittafel und einem Nachwort, hg. v. Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk, Halle 1999–2002 (= Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente, hg. v. Günter Schenk und Manfred Schwarz). Vgl. hierzu Zelle, Carsten (Hg.), „Vernünftige Ärzte“: Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19); Geyer-Kordesch, Johanna, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 13); Helm, Jürgen, Hallesche Medizin zwischen Pietismus und Frühaufklärung, in: Hammerstein, Nottker (Hg.), Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995 (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa 3), S. 63–96. Vgl. Kümmel, Fritz (Hg.), 16981998. 300 Jahre Botanischer Garten der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Halle-Wittenberg 1998, S. 44ff. (Kurt Sprengel), S. 125ff. (Johann Reinhold Forster).
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und Johann Reinhold Forster (Naturgeschichte, Ethnologie, Sprachforschung).4 Forster hat durch seine ethnologischen Feldforschungen auch die Biologie sowie die Anthropologie revolutioniert. Halle liegt im unmittelbaren Einflußbereich der Neukonstitution der Aufklärungspädagogik, die in der Gründung des Dessauer Philanthropinums (1774) kulminiert.5 Die Hermeneutisierung der Theologie, wie sie von Semler und seiner Schule betrieben wurde,6 prägte die erste Generation der hallesch-dessauischen Pädagogik. Auf der Grundlage einer radikalen Anthropologisierung des Erziehungskonzepts wird die Beobachtung des jungen Menschen als pädagogische Forschungsstrategie entworfen. 1779 wird der erste deutsche Lehrstuhl für Pädagogik in Halle eingerichtet und mit dem Philanthropen Trapp besetzt.7 Hier werden Psychomedizin, empirische Anthropologie und die neue Pädagogik zu einer Theorie des sinnlichen und sittlichen Menschen vereint. Diese neue Erziehungswissenschaft hat die deutsche Pädagogik bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts geprägt. Campe, der Herausgeber des ‚Zentralorgans‘ dieser neuen philanthropischen Erziehungsbewegung und Schüler Semlers,8 gibt die Allgemeine Revision heraus, in der auch Carl Friedrich Bahrdt seine Erziehungsgrundsätze publiziert. Bahrdts Werk, das wegen der skandalgeprägten Lebensweise seines Verfassers unzureichend beachtet wurde, ist der bedeutendste Beitrag der deutschen Spätaufklärung zur individualistischen Sozialdisziplinierungstheorie. Bahrdt transformiert die biblische zu einer eudämonistischen Anthropologie, die eine spezifisch bürgerliche Produktivitätstheorie begründet. Das Spätwerk Bahrdts gehört nur bedingt zur liberalen bzw. radikalen (demokratischen) Spätaufklärung Halles, die vielmehr von dem Kantianer Beck, dem Smithianer Jakob und dem Schlözer-Schüler Christian Daniel Voss in Halle vertreten wird.9 4
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Vgl. zu Forster die grundlegende Arbeit von Hoare, Michael E., The Tactless Philosopher. Johann Reinhold Forster 1729–1798. Melbourne 1975. Forster hat den Beginn der Altphilologie in Halle dadurch gefördert, daß er Friedrich August Wolff bei dessen philologischen Studien unterstützte. Vgl. Walther, Gerrit, Friedrich August Wolf und die Hallenser Philologie – ein aufklärerisches Phänomen? in: Hammerstein, Nottker (Hg.), Universitäten und Aufklärung (wie Anm. 2), S. 125–136. Vgl. hierzu Kersting, Christa, Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes ‚Allgemeine Revision‘ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992. Vgl. zu Semler zusammenfassend: Hornig, Gottfried, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologe. Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 2). Vgl. hierzu Trapp, Ernst Christian, Versuch einer Pädagogik (1780). Nachdruck besorgt von Ulrich Herrmann, Paderborn 1977 (mit biographisch-bibliographischem Anhang). Vgl. zu Campe den Ausstellungskatalog: Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit (1746–1818). Wiesbaden 1996. Zu Jacob Sigismund Beck, den überragenden Kommentator Kants, gibt es bislang keine Monographie. Vgl. ders.: Commentar über Kants Metaphysik der Sitten. Halle 1798; zu Jacob vgl. Fleckenstein, Christa, Ludwig-Heinrich Jacob als Vermittler sprachphilosophischer Ideen der Aufklärung, in: Aufklärung und Erneuerung (wie Anm. 1), S. 218–225 (Biographie ebd. S. 218). Jacob, der philosophische Gegner des Leibniz-Anhängers Johann August Eberhard, ist bedeutsam für die Smith- und Kantrezeption an der Universität Halle. Die politische, radikale Spätaufklärung in Halle ist bislang nicht zusammenhängend gewürdigt worden. Zu den bedeu-
Die innere Ökonomie des Bürgers
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II. Die Theorie der ,Sozialdisziplinierung‘ 1962 entwarf der Frühneuzeithistoriker Gerhard Oestreich seinen Forschungsansatz der ‚Sozialdisziplinierung‘10 als „Leitkonzept der frühneuzeitlichen Geschichte Europas“.11 Dieser Begriff bezeichnet jenen Prozeß der Ausbildung einer ‚okzidentalen Rationalität‘ (Max Weber), der nunmehr angewandt wird zur Analyse der Armenfürsorge, der Zucht- und Arbeitshäuser, der Kirchenzucht, der staatlichen Neutralisierung der Konfessionen, der Kriminalitätseindämmung sowie der ‚Policey‘ im frühneuzeitlichen Europa. Dieser Begriff fand gleichermaßen Eingang in die Geschichtswissenschaft, die Rechtsgeschichte und in die historische Soziologie.12
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tendsten liberalen Staatstheoretikern in Deutschland zählt Christian Daniel Voss. Vgl. Garber, Jörn, Spätaufklärerischer Konstitutionnalismus und ökonomischer Frühliberalismus. Das Staats- und Industriebürgerkonzept der spätabsolutistischen Staats-, Kameral- und Polizeiwissenschaft (Chr. D. Voss), in: ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaftstheorie im Übergang zur Moderne. Frankfurt / M. 1992, S. 77–118. Dieser Begriff wurde von Gerhard Oestreich geprägt in seinem grundlegenden Aufsatz: Strukturprobleme des europäische Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 179–197. Vgl. ders., Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Brigitta Oestreich. Berlin 1980, S. 367–379. Der Prozeß der Sozialdisziplinierung basiert auf dem Schrifttum des europäischen Neustoizismus. Vgl. dazu Oestreich, Gerhard, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, hg. und eingeleitet von Nicolette Mout. Göttingen 1989 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 39). Neuerdings wird diese Forschungsrichtung verallgemeinernd als „Disziplinierungsforschung“ bezeichnet, die nicht nur auf die Kernbereiche Staat, Kirche, Justiz und Verwaltung bezogen wird, sondern auch und gerade auf gesellschaftliche Teilbereiche wie Ehe, Familie, Nachbarschaft, Zünfte bzw. Bruderschaften, aber auch auf Ehre, Geschlecht bzw. Erziehung. Es findet eine Begriffsdifferenzierung statt: Sozialdisziplinierung, soziale Kontrolle, Sozialregulierung, Zucht, Strafe, Policey etc. werden als ergänzende Termini der Forschung zu Texten von Politik, Recht, Philosophie, Theologie, Pädagogik, Bürokratie oder Militär benutzt. In England bezeichnet man diesen Forschungsgegenstand als „Regulation of Personal Morality“. Die ältere Forschung hat sich insbesondere mit der städtischen und staatlichen Armenfürsorge sowie der Schul- und Kirchenzucht beschäftigt. Insofern ist die Begriffsbildung von Oestreich zunehmend verallgemeinert worden, so daß sie nicht mehr nur im Rahmen der engeren Absolutismusforschung benutzt wird. Schulze, Winfried, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S. 265–302, Zitatnachweis ebd. S. 298. Krüger, Kersten, Policey zwischen Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, Reaktion und Aktion: Begriffsbildung durch Gerhard Oestreich 1972–1974, in: Härter, Karl (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. Frankfurt / M. 2000, S. 107–119. Inzwischen gibt es eine riesige Kontroversliteratur zum Konzept der Sozialdisziplinierung als Forschungsmethode der Frühe-Neuzeit-Historie. Genannt seien folgende Abhandlungen: Richter, Johannes, Armenfürsorge als Disziplinierung: Zur sozialpädagogischen Bedeutung eines Perspektivenwechsels, Frankfurt / M. (u.a.) 2001; Knefelkamp, Ulrich,: Sozialdisziplierung oder Armenfürsorge? Untersuchung normativer Quellen in Bamberg und Nürnberg vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, in: Bräuer, Helmut (Hg.), Die Stadt als Kommunikationsraum: Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag. Leipzig 2001, S. 515–533; Johann, Anja, Kontrolle mit Konsens: Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2001; Freitag,
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Der Erfolg dieses Forschungskonzepts wurde flankiert von den Forschungen von Norbert Elias und Michel Foucault.13 Sozialdisziplinierung bezeichnet Prozesse der Verstaatlichung, Systematisierung, Konzentration bzw. Vereinfachung von Herrschaft, die die gesellschaftliche Modernisierung vorbereiten durch eine neue mora-
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Winfrid: Mißverständnis eines ,Konzeptes‘: Zu Gerhard Oestreichs ,Fundamentalprozeß‘ der Sozialdisziplinierung, in: Zeitschrift für historische Forschung 28 (2001), S. 513–538; Stolleis, Michael,: Was bedeutet „Normdurchsetzung“ bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit? in: Helmholz, Richard (Hg.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag. Paderborn (u.a.) 2000, S. 739–757; Ehrenpreis, Stefan, Sozialdisziplinierung durch Schulzucht? Bildungsnachfrage, konkurrierende Bildungssysteme und der „deutsche Schulstaat“ des siebzehnten Jahrhunderts, in: Schilling, Heinz (Hg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa / Institutions, instruments and agents of social control and discipline in early modern Europe. Frankfurt / M. 1999, S. 167–185; Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationaler Kongreß, Krems an der Donau, 8. bis 11. Oktober 1996, Wien 1999; Reinhard, Wolfgang, Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Modernisierung: Ein historiographischer Diskurs, in: Boškovska Leimgruber, Nada (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft: Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn (u.a.) 1997, S. 39–55; Vogel, Sabine, Sozialdisziplinierung als Forschungsbegriff? in: Frühneuzeit-Info 8 (1997), S. 190– 193; Schilling, Heinz, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 675–692; Prodi, Paolo unter Mitarbeit von Müller-Luckner, Elisabeth (Hg.): Glaube und Eid: Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit. München-Oldenbourg 1993; Lottes, Günther, Disziplin und Emanzipation: Das Sozialdisziplinierungskonzept und die Interpretation der frühneuzeitlichen Geschichte, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 63–74; Hsia, R. Pochia, Social discipline in the Reformation: Central Europe 15501750. London u.a. 1992; Aulinger, Rosemarie, Reichsstädtischer Alltag und obrigkeitliche Disziplinierung: Zur Analyse der Reichstagsordnungen im 16. Jahrhundert, in: Kohler, Alfred (Hg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten. Wien 1987, S. 258–290; Nitschke, Peter, Die Polizierung aller Lebensbereiche: Sozialdisziplinierung und ihre polizeilichen Implikationen in der Prämoderne, in: ders. (Hg.), Die deutsche Polizei und ihre Geschichte. Beiträge zu einem distanzierten Verhältnis. Hilden/Rhld. 1996, S. 27–45; Behrens, Ulrich, „Sozialdisziplinierung“ als Konzeption der Frühneuzeitforschung: Genese, Weiterentwicklung und Kritik; Eine Zwischenbilanz, in: Historische Mitteilungen 11 (1999), S. 35–68; Müller, Christa, Arbeiten zur Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit. Ein Forschungsprojekt für die Jahre 1980–1994, 2, in: Frühneuzeit–Info 7 (1996), S. 240–252; Rödel, Walter G., Religio vinculum societatis: Konfessionalisierung, Sozialdisziplinierung und der Alltag, in: Ebernburg-Hefte 29 (1995), S. 157–172; Schuck, Gerhard, Theorien moderner Vergesellschaftung in den historischen Wissenschaften um 1900. Zum Entstehungszusammenhang des Sozialdisziplinierungskonzeptes im Kontext der Krisenerfahrungen der Moderne, in: Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 35–59; Schilling, Heinz (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Mit einer Auswahlbibliographie. Berlin 1994; Schmidt, Gerhard (Hg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich. Stuttgart-Wiesbaden 1989; Schmidt, Heinrich Richard, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639–682; Prinz, Michael, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung. Neuere Fragestellungen in der Sozialgeschichte der frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 1–25; Blickle, Peter, Gute Polizei oder Sozialdisziplinierung, in: Stammen, Theo (Hg.), Politik, Bildung, Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn (u.a.) 1996, S. 97–107. Breuer, Stefan, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei M. Weber, G. Oestreich und M. Foucault, in: Sachße, Christian / Tennstedt, Florian (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Frankfurt / M. 1986, S. 45–69.
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lische Verhaltensdisposition der Mitglieder der älteren Ständegesellschaft. Dieser Prozeß betrifft nicht nur die herrschenden, planenden und verwaltenden Eliten des Staates bzw. des Militärs, sondern auch den „gemeinen Mann“, der radikalen Disziplinierungsstrategien unterworfen wird. Die Sozialdisziplinierung garantiert die Unterwerfung der Landesbewohner unter die Interessen des Gemeinwesens. Insofern ersetzt und erweitert der Begriff Sozialdisziplinierung den älteren Begriff der Staatsbildung („Absolutismus“). Die politische Deutung des Sozialdisziplinierungskonzepts durch Oestreich wird von der jüngeren „Disziplinierungsforschung“ umgangen, wenn generell individuelle, gruppen- und gesellschaftsbezogene Verhaltensdispositionen untersucht werden.14 Zugleich kommt es zu einer Neubestimmung des Zwangsbegriffs, der im Aufklärungszeitalter von einer herrschaftsbezogenen Fremdzwangkonzeption zu einer psychologischen Selbstdisziplinierungskonzeption wird. Herrschaft wird nicht mehr nur durch staatlichen Fremdzwang gegen Personen ausgeübt, sondern gleichsam von den zu disziplinierenden Subjekten selbst erzeugt. Individuelles Handeln garantiert im Prozeß des Selbstzwangs den Abbau von Fremdzwang, ohne den Gesellschaftsbezug von Individualhandlungen aufzuheben.15 Insofern ist die Sozialdisziplinierung keineswegs nur auf politische Staatsbildungsprozesse zu beziehen, sondern bezeichnet einen Fundamentalvorgang der Ausbildung moderner Gesellschaftsstrukturen und ihrer mentalen Voraussetzungen, die ohne disziplinarische Selbstverfügung der Gesellschaftsglieder nicht durchzusetzen sind. Oestreich deutet die Entstehung des Sozialdisziplinierungskonzepts als Antwort auf die grundlegenden Krisen und Strukturveränderungen in der frühen Neuzeit (Bevölkerungsanstieg, Seuchen, Kriege, Hungerkrisen, Religionsstreitigkeiten), die durch eine neue Mentalitätsausbildung überwunden werden sollen. In der frühen Neuzeit orientiert man sich zunächst an römischen Rechts- und Staatskonzeptionen, deren Begründung verbunden wird mit stoizistischen Theorien der Selbstdisziplinierung des Menschen. Für den Bereich der Städte verwendet Oestreich den 14
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Auffällig ist, daß die neuere Forschung die Verbindung von Sozialdisziplinierung und Staatsbildungsprozeß, die Oestreich noch betont hatte, lockert und den Sozialdisziplinierungsprozeß im weitesten Sinne auf Vergesellschaftungsformen moderner und vormoderner Gesellschaften, auf Herrschaftsbeziehungen, auf korporative Strukturen sowie auf individuelle Verhaltensdispositionen anwendet. Insbesondere die neueren Forschungen zur „Policey“ benutzen den umfassenden Forschungsansatz der Sozialdisziplinierung. Vgl. zuletzt hierzu Wüst, Wolfgang, Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches. Bd. 1: Die „gute“ Policey im Schwäbischen Reichskreis, unter besonderer Berücksichtigung Bayerisch-Schwabens. Berlin 2002; Holenstein, André (Hg.), Policey in lokalen Räumen: Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt / M. 2002. Die Konjunkturen der pädagogischen Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert verdanken sich u.a. diesem Wechsel vom Fremdzwang- zum Selbstzwangkonzept. Vgl. hierzu Garber, Jörn, Von der nützlichen zur harmonischen Gesellschaft. Norddeutscher Philanthropismus (J. H. Campe) und frühliberaler Ökonomismus (A. Hennings) im Vor- und Einflußfeld der Französischen Revolution, in: Herzig, Arno (Hg.), „Sie und nicht wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland. Bd. 1, Hamburg 1989, S. 245–287.
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komplementären Terminus „Sozialregulierung“. Die „gute Policey“ in Stadt und Staat ist der Ausgangspunkt einer neuen Regulierungswelle der europäischen Gesellschaften zu Beginn der frühen Neuzeit. Beteiligt sind im deutschsprachigen Raum nicht nur Reich und Territorien, Städte und Kirchen, sondern auch und gerade Institutionen des Erziehungswesens.16 Die politisch-konfessionellen Ursprünge der Sozialdisziplinierung werden ausgeweitet zur Steuerung der täglichen Arbeits- und Lebensprozesse. „Christliche Zucht und Ehrbarkeit“ werden ergänzt durch weltliche „Zucht und Correction“. Oestreich geht davon aus, daß die modernen Funktionseliten diese Disziplinierungsprozesse durch Gesetzgebung, Verwaltung, durch Strafjustiz, durch Militär, durch Kirchenzucht, durch Schulen und durch polizeiliche Wirtschaftsregulierungsmaßnahmen durchsetzen. Dieses Disziplinierungskonzept der Frühneuzeitforschung wird man auch für die Deutung von mentalen und sozialen Prozessen der ‚Sattelzeit‘ (1750–1850) verwenden können. Nunmehr ist nicht mehr der Staat, sondern der moderne ‚Bürger‘ der Adressat dieser Regulierungstheorien.17 Die Selbstdisziplinierung ersetzt zunehmend die Fremddisziplinierung, das politische Konzept wird durch das Programm einer ‚protestantischen Wirtschaftsethik‘ (Max Weber) erweitert bzw. verdrängt.18
III. Staatlicher Eudämonismus und bürgerliche Moralkonzepte Man hat Carl Friedrich Bahrdt als Präjakobiner, als Frühkommunisten und als Radikaldemokraten bezeichnet – eine Klassifikation, welche die älteren Schichten seines Sozietäts- und Menschenrechtskonzept übersieht.19 Bahrdt orientiert sich an der Rechts- und Perfektibilitätstheorie Christian Wolffs, diese soll aber nicht mehr durch den Staat, sondern durch die Bürger verwirklicht werden. Es handelt sich um das Programm eines individualistischen Eudämonismus, der sich einerseits auf die epikureische und stoische Philosophie bezieht, der andererseits die materiale Na-
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Vgl. hierzu Bruning, Jens, Das niedere Schulwesen in den brandenburg-preußischen Ländern im 17. und 18. Jahrhundert: Ein zwischenterritorialer Vergleich, in: Schilling, Heinz (Hg.), Im Spannungsfeld von Staat und Kirche: „Minderheiten“ und „Erziehung“ im deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich. Berlin 2003, S. 247–270. Mit dem Begriff Sozialdisziplinierung läßt sich die neue Gesellschaftskonzeption von Bürgern in gleicher Weise erfassen wie die Normierungen der traditionalen Ständegesellschaft. Gleichwohl ist der Terminus „Bürger“ auch im späten 18. Jahrhundert keinesfalls gleichzusetzen mit dem aus dem Staatseinfluß entlassenen „bourgeois“ bzw. „citoyen“. Die folgenden Ausführungen sollen diesen Mischtypus von traditionalem und modernem Bürgerbegriff am Beispiel des Spätwerkes von C. F. Bahrdt verdeutlichen. Wir gebrauchen diesen Begriff im Sinne von Max Weber, Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, hg. v. JohannesWinckelmann, 2 Bde., München / Hamburg 1969. Vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von Günter Mühlpfordt, z.B. den Aufsatz: Bahrdt als radikaler Aufklärer, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 1 (1977), S. 401–440.
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turrechtstradition der deutschen Schulphilosophie rezipiert.20 Verbindungsglied beider ist die Sozialdisziplinierungskonzeption als Bürgertheorie. Bislang hat man die Theoriekonzeption Bahrdts vom Standpunkt des liberalen Rechtsindividualismus oder aber von einer Frühkommunismustheorie21 abgeleitet und dabei übersehen, daß Bahrdt das Wohlfahrtstaatskonzept von Christian Wolff transponiert zu einer Menschenrechtskonzeption, die neben individuellen Freiheitsrechten zugleich soziale Anspruchsrechte kodifiziert.22 Christian Wolff deutet den Sozial- und Herrschaftsvertrag als Instrument zur Vervollkommnung der Vertragspartner. Die Perfektibilität des Einzelnen kann nur im Zustand einer rechtlich gesicherten Gesellschaft erreicht werden, die die allgemeine Wohlfahrt garantiert.23 Die Einzelnen verpflichten sich vertraglich, das gemeine Wohl aller zu realisieren. Der Staat ist jene Instanz, welche die Vollkommenheit ihrer Mitglieder sichert. Um dieses Ziel zu erreichen, darf der Staat alle zweckdienlichen Mittel anwenden. Der Staat absorbiert alle Rechte, um das Gemeinwohl zu befördern, das Gemeinwohl ist identisch mit der Perfektibilität seiner Mitglieder. Insofern muß bei der Kollision zwischen Einzel- und Gesamtzweck immer das Gemeinwohl durchgesetzt werden. Iura connata und Staatszweck fallen zusammen, eine Konstruktion, die vom Standpunkt des jüngeren protoliberalen Naturrechts als ‚Despotismus‘ gedeutet wird. Das liberale Naturrecht reduziert den Staatszweck auf den Schutz individueller (Freiheits-)Rechte, der Staat ist hier keine Gestaltungsinstanz der Perfektibilität seiner Mitglieder. Diese verwirklichen ihre materialen Zwecke selbsttätig im Rahmen des Privatrechts. Nach Wolff gibt es keinen Bereich zwischen ‚Mensch‘ und ‚Bürger‘, in den der Staat nicht eingreifen 20
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Vgl. hierzu Kimmich, Dorothee, Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993. Vgl. insbesondere die Ausführungen ebd. S. 22ff. zur Eudaimonie. Dies gilt insbesondere für die überaus verdienstvollen Arbeiten von Günter Mühlpfordt. Eine Zusammenfassung der älteren Forschung findet man bei Garber, Jörn / Schmitt, Hanno, Utilitarismus als Jakobinismus? Anmerkungen zur neueren Bahrdt-Forschung, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte Tel Aviv 12 (1983), S. 437–449. Vgl. hierzu Garber, Jörn / Schmitt, Hanno, Affektkontrolle und Sozialdisziplinierung: Protestantische Wirtschaftsethik und Philanthropismus bei Carl Friedrich Bahrdt, in: Sauder, Gerhard / Weiß, Christoph (Hg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792). St. Ingbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 34), S. 127–156. Vgl. hierzu Lutterbeck, Klaus: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung: Abt. 2, Monographien 16), S. 172f. Lutterbeck folgt einem Interpretationsvorschlag von Garber, Jörn, Vom „ius connatum“ zum „Menschenrecht“. Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung, in: Garber, Jörn, Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft, (wie Anm. 9), S. 158–191. Vgl. zum eudämonistischen Kontext: Engelhardt, Ulrich, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. v. Justi), in: Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 37–79. Zum Glücksbegriffs Wolffs vgl. Schwaiger, Clemens, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen- , begriffs-, und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung: Abt. 2, Monographien 10).
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dürfte. Der Staat ist der Repräsentant der materialen Perfektibilität aller Gesellschaftsglieder. Er soll an der Durchsetzung der Perfektibilität von niemandem gehindert werden. Es gibt mithin keine Vorbehaltsrechte (Reservatrechte) der Individuen gegen den Staat.24 Der Vorwurf, Wolff vertrete die Theorie einer „Erziehungsdiktatur“, verfehlt die Argumentation Wolffs, der Staat und Allgemeininteresse gleichsetzt, so daß im Falle der Kollision von öffentlichen und privaten Zwecken immer der öffentliche Zweck Vorrang genießt. Man kann diese Position Wolffs nur dann angemessen interpretieren, wenn man diese säkularisierte Perfektibilitätstheorie deutet im Konkurrenzfeld des religiösen Vollkommenheitsbegriffs. In einer anachronistischen, dualistischen Untersuchungsmatrix von „absolutistisch“ und „liberal“ wird die Mediatisierung der Menschenrechte durch den Staatszweckbegriff bei Wolff nicht erkannt. Der Rechtsindividualismus der kontraktuellen Staatsbegründung endet bei Wolff nicht in einem grundrechtlich geschützten Rechtsindividualismus, sondern in einer Staatskonstruktion mit eudämonistischer Zielsetzung. Die Perfektibilitätstheorie Wolffs ebnet den vermeintlichen Dualismus von Mensch und Bürger dadurch ein, daß kein Gegensatz zwischen der Perfektibilität aller und der Perfektibilität der Einzelnen im Konstrukt des vertraglichen Eudämonismus möglich ist. Die höchste Form der Gesetzlichkeit und Rationalität sichert der Staat durch die materielle und ideelle Perfektibilisierung seiner Mitglieder. Gegenstaatliche Freiheitsrechte erscheinen als Partikularinteressen, die nicht mit dem Allgemeininteresse übereinstimmen. Diese Konstruktion Wolffs sollte nicht aus der Perspektive von Kants Metaphysik der Sitten kritisiert werden.25 Wolff spricht dem Menschen folgende Grundrechte zu, die aus der Pflicht „zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit“ resultieren: das Recht auf Speise und Trank, auf Arzneien, auf Kleidung, auf Wohnung, auf „künstliche Schönheit des Körpers“ sowie auf alles, was das „commode vivere“ ermöglicht. Hinzu kommen die Rechte auf Arbeit und Ehre. Diese Rechte garantieren dem Einzelnen „Notdurft“, „Bequemlichkeit“, „Vergnügen“, „Glückseligkeit“.26 Der Einzelne kann diese Rechte nur durch den Staat erlangen. Sie gehören zu seiner materiellen Perfektibilität. Im jüngeren Naturrecht werden diese materialen Rechte des älteren 24
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Dieses Interpretationskonzept der Auflösung der individuellen Freiheitsrechte des Naturzustandes im Prozeß der kontraktuellen Staatsbildung ist für das ältere Naturrecht vertreten worden von Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 23), S. 35ff., S. 75ff. So Lutterbeck, (wie Anm. 23), S. 201. Die Kritik Lutterbecks an dem wohlfahrtsstaatlichen Programm Wolffs beruft sich auf die Kantische Moral- und Rechtslehre: „Die Wolffsche Politik ist daher ohne Abstriche der Kritik Kants am Patriarchalismus ausgesetzt“ (S. 201). Diese Kritik Wolffs vom Standpunkt einer Naturrechtslehre des Liberalismus (Kant) scheint mir die spezifische Korrespondenz von Menschenrechten und Staatszweck bei Wolff zu verfehlen. Man kann nicht ein Strukturprinzip der materialen Gerechtigkeitskonzeption des Wohlfahrtsstaates im Normenfeld eines modernen liberalen Rechtsindividualismus kritisieren. Die Einzelbestimmung der Menschenrechtskonstruktion von Wolff wurden analysiert von Garber, (wie Anm. 23), S. 159ff.
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Naturrechts nicht mehr vom Staat als Repräsentanten der Allgemeinheit der Rechtsmaterien garantiert, sie werden vielmehr als Rechte des Individuums konzipiert, die als soziale Anspruchsrechte an den Staat gestellt werden. Die Trennung der Rechte des Menschen in einen vom Staat zu schützenden Freiheitsbereich und in einen vom Staat zu gewährenden Sozialbereich (Rechte der materiellen Lebenssicherung) ist Ausdruck der gegenstaatlichen Bestrebungen innerhalb des jüngeren Naturrechts, zugleich aber auch der Versuch, bestimmte materielle Ansprüche in Gestalt individueller Menschenrechte (Recht auf Leben, Notdurft und Bequemlichkeit) durch den Staat garantieren zu lassen.27 Bahrdt hat die Trennung folgender Rechtsbereiche in seinem Spätwerk vorgeschlagen.28 Die Pflichten des Menschen gegenüber der Gesellschaft sind zu unterscheiden von den Pflichten der Gesellschaft gegenüber den Individuen. Es handelt sich um die Kombination von individuellen Freiheitsrechten mit sozialen Grundrechten. Die materiale staatszentrierte Gerechtigkeitskonzeption mutiert zu einem individuellen Anspruchsrecht, das der Staat zu gewähren hat. Bahrdt folgt Wolff, wenn er dem Menschen das Recht zuspricht, sich zu sättigen, sich zu kleiden, angemessen zu wohnen, die Gemeingüter wie Luft und Wasser zu genießen. Dem Menschen steht das Recht zu, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, mit anderen Menschen öffentlich und privat zu kommunizieren, seine Ehre zu verteidigen etc. Neben die Freiheitsrechte treten die Sozialrechte auf Dasein und Wohlstand. Der Staat schützt die Individuen als Rechtssubjekte. Diese Rechtsfähigkeit des Bürgers als Mensch macht es z.B. möglich, daß der Bürger nach eigenem Ermessen Verträge mit anderen Bürgern eingeht. Der Staat ist Garant innergesellschaftlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte, so daß die ‚Vollkommenheit‘ nicht wie bei Wolff aus der Korrespondenz von angeborenen Rechten und Staatszweckbestimmung abgeleitet wird, sondern aus der Verfügungs- und Handlungsfreiheit der Individuen. Bahrdt übernimmt die eudämonistische Rechtskonstruktion Wolffs, wenn er die Perfektibilität der Individuen auf das ‚Recht auf Leben‘ bezieht. Er zerstört die inhaltliche Gleichsetzung von Menschenrechts- und Staatszweckkonstruktion, wenn er die Rechte und Pflichten der Individuen verbindet mit materiellen Anspruchsrechten der Einzelnen an den Staat. Diese im späten Naturrecht selten anzutreffende Kombination von individuell-gegenstaatlichen Freiheitsrechten und 27
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Diese Veränderung der Wolffschen Sozialrechtstheorie im jüngeren Naturrecht, d.h. die Bildung eines doppelten Rechtekanons (gegenstaatliche Freiheitsrechte / soziale Anspruchsrechte an den Staat) übersieht Hoeren, Thomas, Carl Friedrich Bahrdt und Christian Wolff zu den rechtsphilosophischen Grundlagen des europäischen Präjakobinismus, in: Donnert, Erich (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Weimar (u.a.) 1997, S. 393–405. Die Festschrift für Günter Mühlpfordt enthält zahlreiche Beiträge zu Bahrdt, den Mühlpfordt als politischen Denker wieder entdeckt hat. Vgl. Bahrdt, Carl Friedrich, Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Unterthanen in Beziehung auf Staat und Religion. Riga 1792 (= System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker. Allen Christen und Nichtchristen lesbar. Dritter Theil), S. 3–16.
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einem Sozialrechtskatalog29 ergänzt Bahrdt durch ein Pädagogikkonzept, das die Brauchbarkeit mit der Vollkommenheit des Menschen gleichsetzt. Bahrdt spricht von einer „innerlichen Oekonomie“ des Bürgers, die weitgehend identisch ist mit Edward Thomsons „moral economy“.30 Der staatliche Außenzwang wird verlagert in den inneren Selbstzwang der Bürger. Der vertragsautonome Bürger kann seine Freiheitsrechte nur dann im Sinne eines individuellen Eudämonismus praktizieren, wenn er spezifisch soziale und ökonomische Tugenden ausbildet, die staatlichen Zwang überflüssig machen. Diese soziale Pädagogisierung des Bürgers kann erst dann erfolgen, wenn zuvor eine Moralisierung des Menschen stattgefunden hat. Bahrdt erklärt den Bürger zum ‚Mittelstand‘, der ausschließlich auf produktive Zwecke ausgerichtet werden soll. Das „Handbuch der Moral für den Bürgerstand“ ist der „wohllöblichen Bürgerschaft zu Halle“31 gewidmet. Obwohl es im Revolutionsjahr 1789 erschien, gehört es der älteren Aufklärungsschicht des reformerischen Sozialeudämonismus an. Das „Handbuch“ ist Ausdruck einer psychologisierenden Sozialdisziplinierungstheorie für die „mittlere Classe“. Das Bürgertum wird definiert als Funktionsstand, der nicht am Regiment des Gemeinwesens beteiligt ist, sondern ausschließlich produktive und ökonomische Zwecke verfolgt, und zwar durch Arbeit.
IV. Die „Moral für den Bürgerstand“ Bahrdt beschreibt die Rechte und die Pflichten eines Standes nicht mehr aus den „allgemeinen Wahrheiten der Religion“, sondern aus der Bestimmung eines „besonderen Zustandes“ des Bürgers (S. 4).32 Jeder Stand muß seine „besondere Mo29
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Vgl. zum Kontext von Bahrdts Sozialrechtstheorie Garber, Jörn, Freiheit ohne Eigentum? Solidarrechtstheorien, in: ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft, (wie Anm. 9), S. 192–242. Thompson, Edward Palmer, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt / M. (u.a.) 1980. Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Bahrdt, Carl Friedrich, Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen 1789 (Ndr.: Frankfurt / M. 1972). Zitate aus dem Handbuch werden im Text durch in Klammern gesetzte Seitenangaben nachgewiesen. Zum Handbuch vgl. Herrmann, Ulrich, Die Kodifizierung bürgerlichen Bewußtseins in der deutschen Spätaufklärung. Carl Friedrich Bahrdts „Handbuch der Moral für den Bürgerstand“ aus dem Jahre 1789, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981, S. 32ff. Vgl. auch die umfassende Einleitung zum „Handbuch“ von Gernot Koneffke, das als Reprint 1977 in Vaduz / Lichtenstein erschienen ist. Beide Interpretationen orientieren sich an einem modernen Bürgerbegriff und vernachlässigen die traditionalen Semantikschichten des ständischen Bürgerbegriffs bei Bahrdt. Bahrdt folgt in seiner bürgerlichen Normenlehre jenen Bestimmungen von „innerer Mission“ und „Sozialdisziplinierung“, die instruktiv herausgearbeitet worden sind von Kittsteiner, Heinz D., Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt / M. 1991, S. 293ff. Die beste Zusammenfassung zu dem Aufklärer und Theologen Bahrdt vermittelt jetzt der Aufsatz von Kuhn, Thomas K., Carl Friedrich Bahrdt: provokativer Aufklärer und philanthropischer Pädagoge, in: Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts: konfessionelles Zeitalter – Pie-
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ral“ ausbilden (S. 9). Die „innere Beschaffenheit“ des Menschen entspringt aus dessen „Vorstellungen, Urtheilen, Gesinnungen“ (S. 10). Der Bürgerstand ist der „erwerbende Theil der Nation“, er schafft die „Quellen des Reichthums und der Stärke einer Nation“ (S. 10). Bahrdt bezeichnet die Bürger als die hervorbringenden und verarbeitenden Stände der Nation, die sich aus Bauern und Stadtbürgern zusammensetzen (S 11). Es handelt sich um eine ökonomische „Zwekklasse“. Die Bürger sind von der politischen Partizipation ausgeschlossen: „Gesetzgeber, Richter, Obrigkeiten, Lehrer, Sachwalter“ (S. 13) sind für den Bürgerstand tätig, sie werden aber nicht vom Bürgerstand gewählt. Die Bürger müssen sich den Regulativen der gelehrten, der richterlichen und politischen Stände unterwerfen. Der Bürger versichert sich seiner Moralität durch „Selbstbeschauung“ (S. 17) und „Hoffnungstrieb“ (S. 19). In der „Selbstbeschauung“ wird sich der Mensch seiner Gottesebenbildlichkeit bewußt. Er erblickt im Mitmenschen ein Gesellschaftsglied, mit dem er einvernehmlich interagieren soll. Der Mensch ist Geistund Sinnenwesen. Die niederen Stände folgen durchweg ihren sinnlichen Veranlagungen, die höheren Stände folgen der Vernunft. Der Bürgerstand benutzt „Trieb, Kraft“ als „Werkzeuge“, diese garantieren die „Zufriedenheit des Menschen mit seinem Zustande“ (S. 31). Der Bürger bekämpft seine „tobenden Begierden“ (S. 31) durch „Wiederholung“ und „vernünftige Selbstliebe“ (S. 39). Er soll durch direkte Gegenstandserfahrung zu einer eigenständigen Urteilsbildung kommen. Die „innerliche Ökonomie“ ist die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Menschen in „Wirthschaft“ und „Metier“ (S. 47). Wahrheit, Vernunft, begründete Überzeugung und Kenntnisse sind die vier Basiselemente der bürgerlichen Selbsterziehung. Der Religionsunterricht soll ergänzend die Planmäßigkeit und Regelhaftigkeit der Schöpfung darstellen (S. 97). Gott ist, so Bahrdt, die Ursache aller Ordnung. Der Mensch erfährt die Harmonie der Schöpfung über die Wahrnehmung der Natur. Die Theologen sollen nach Bahrdt das System der Moralität im Sinne einer Theorie der naturgemäßen Schöpfung beschreiben. Der Mensch hat alle „Stöhrungen seiner Glückseeligkeit“ zu unterbinden und seine „Vervollkommnung“ selbsttätig zu befördern (S. 104). Erst dann kann er jenen „ökonomischen und bürgerlichen Zustand“ erreichen, der es ihm erlaubt, seine beruflichen Pflichten zu erfüllen. Der Bürgerstand differenziert seine Mentatismus-Aufklärung [...]. Darmstadt 2003, S. 204–225. Heranzuziehen ist das Schriftenverzeichnis von Bahrdt: Jacob, Otto / Majewski, Ingrid, Karl Friedrich Bahrdt: radikaler deutscher Aufklärer (25.8.1740–23.4.1792). Bibliographie, Halle 1992. Die These, Bahrdt sei ein Präjakobiner gewesen, vertritt im Unterschied zum vorliegenden Aufsatz Hoeren, Thomas, Präjakobiner in Deutschland Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792), in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 55–72. Eine gute Information zu Personen und Werk bietet der Sammelband von Sauder, Gerhard / Weiß, Christoph (Hg.), Carl Friedrich Bahrdt, (wie Anm. 22); vgl. auch Mühlpfordt, Günter, Außenseitertum: Typologie und Sonderfall; Carl Friedrich Bahrdt, Stimme der schweigenden Mehrheit, in: Hartung, Günter: Außenseiter der Aufklärung: Internationales Kolloquium Halle a. d. Saale 26.–28. Juni 1992, Frankfurt / M. (u.a.) 1995, S. 75–107.
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litäten nach den jeweiligen ‚Umständen‘: „Erziehung, Klima, jugendlicher Unterricht, Lebensart, Gesellschaft, Beispiele, Autoritäten – diese und tausend andere Dinge sind es, die ihre Gesinnungen und Handlungen bestimmen [...]“ (S. 105). Aus Gewohnheiten entstehen Sitten, aus der Mentalität eines Standes erwachsen Vorurteile, die ihrerseits die Handlungsabsichten, die Kommunikationskompetenz und letztlich die Arbeitsfähigkeit sowie Rechts- und Ordnungsbewußtsein prägen. „Denn dieser specielle Karakter, diese besonderen Neigungen, Grundsätze, Gewohnheiten, Launen, sind äußerst unterschieden“ (S. 107). Normerfüllung und Normabweichung hängen von örtlichen Sonderkonstellationen ab. Bahrdt definiert den Bürger nach dessen spezifischen Kenntnissen und Berufserfahrungen.33 Neben den Sinnes- und Verstandeskräften werden die Pflichten und Rechte innerhalb der Familie, der Gesellschaft, des Staates und des jeweiligen Standes gesondert vorgestellt. Die Familie ist identisch mit dem älteren Sozialmodell des ‚Hauses‘, innerhalb dessen der ‚Hausvater‘ und die ‚Hausmutter‘ die Kinder erziehen.34 Hier erfolgt die spezielle Bildung des Bürgers zur Landwirtschaft, zum Handwerk, zur Manufaktur, zur Fabrik bzw. zum Handel. Alle Kinder werden gleichermaßen eingeführt in die Gesundheitserziehung. Ziel ist die „gemeinschaftliche Glückseligkeit“ im Rahmen des „geschäftigen und geselligen Lebens“ (S. 117). Auch für den Bürgerstand gelten die allgemeinen Menschenrechte, die die spezifischen („bürgerlichen“) Gesellschaftsrechte begründen. Mit Wolff fordert Bahrdt „das Recht des Lebens“ für jeden Einwohner des Staates.35 Dies umfaßt das Recht auf „Tageslicht“, „gesunde Luft“, freien Wandel „auf öffentlicher Straße und an allen Orten“ sowie „Genuß der Nahrungsmittel, Schutz vor Wind und Wetter“ (S. 134f.). Dies sind die „Gemeingüter der Menschheit“ (S. 135). Hieran schließt sich das „Recht des freyen Gebrauchs der natürlichen Kräfte“ an (S. 135). Es folgt das Recht des Eigentums. Jeder Mensch hat Anspruch darauf, in „ordentlichen Staaten“ zu leben, die die „gemeine Wolfarth“ (S. 139) sichern. Der Regent garantiert den Schutz von Leben und Eigentum der Untertanen, von Vervollkommnung, Reichtum, Industrie, Kunst und Wissenschaften, guten Sitten, Erziehung und Wohlstand (S. 142). Er übt das Strafrecht aus, er schützt die Religionsausübung sowie die natürlichen und bürgerlichen Rechte. Im Rahmen dieser obrigkeitlichen Ordnung erfolgt die „Bildung des bürgerlichen Karakters“ (S. 151). Der Bürger unterwirft sich der „göttlichen Providenz“ (S. 155) sowie den Regulativen der Obrigkeit bzw. den Anweisungen der höheren und gelehrten Stände. Bahrdt faßt die Analyse des Bürgerbegriffs so zusammen: 33
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Zum historischen Sozialisationsfeld dieser Bürgertheorie vgl. Schlumbohm, Jürgen, Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden. 1700–1850. München 1983, S. 213ff. („Kleine Leute in der Stadt – häusliche Zucht und Straßenkinderleben“). Bahrdt folgt Wolff, insbesondere dessen „Politik“, wenn er seine Erziehungstheorie in die Beschreibung des „Hauses“ einfügt. Vgl. im „Handbuch“ den Abschnitt „Heilighaltung der wechselseitigen Rechte der Menschheit“, ebd. S. 130ff.
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Ich betrachte nun den Bürger als Bürger in seinen Verhältnissen gegen Gott, gegen den Staat, gegen die Obrigkeit des Orts, gegen seine Oekonomie, gegen sein Metier, gegen seine bürgerlichen Gerechtsamen, gegen die Menschen, mit denen er Umgang hält, gegen seine Ergötzlichkeiten, gegen den Ehestand und endlich gegen seine Kinder, die er zu erziehen hat (S. 163).
Ziel der Erziehung ist die innere Disposition des Menschen zu „Mäßigkeit, Reinlichkeit, Geselligkeit, Vertragssamkeit, Hülfleistung, Liebe, Treue“ (S. 177). Durch diese Tugenden kann der Mensch seinen Wohlstand vermehren, sofern er sich zuvor die Talente der „erwerbenden Klasse der Nation“ angeeignet hat. Der Mensch muß sein Triebleben beherrschen, er muß den Luxus meiden, er muß ‚Industriosität‘ ausbilden und sich als idealer Verwalter der häuslichen Angelegenheiten erweisen. Die klassischen Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Ordnung und Sparsamkeit, aber auch Friedfertigkeit, bezeichnet Bahrdt als „innerliche Ökonomie des Bürgers“ (S. 210).36 Die innerliche Ökonomie des Bürgers ist eine Psychologie der Selbstregulierung des Menschen zum Zweck der Erzeugung produktiver Verhaltensdispositionen: „Fleiß und Arbeitssamkeit“ sorgen für „Nahrung und Unterhalt“ (S. 210). Bahrdt benutzt Begriffe der älteren Haushaltungslehre, diese werden auf den produktiven Stand des Bürgertums bezogen („erwerbende Volksklasse“), die ihrerseits in einen übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt wird, wobei die schöpfungsbezogenen Eigenschaften Gottes die kosmische Ordnung, Harmonie und „Oekonomie“ garantieren. Ganz im Sinne der älteren Wirtschaftslehre werden Fragen des gerechten Preises und Lohns, des ‚ehrlichen Kaufmanns‘, der Zeitökonomie und der Rechenhaftigkeit, der ständischen ‚Ehre‘ vorgestellt. Die Verhaltensnormen der produktiven bürgerlichen Klasse werden in eine reformierte Ständegesellschaft eingepasst. Die „Moral des Bürgers“ soll einen störungsfreien menschlichen Umgang durch gleichförmiges Betragen ermöglichen. Die Erziehung des Bürgers erfolgt wie bei Wolff zunächst ausschließlich im „ganzen Haus“. Letztendlich unterwirft sich der künftige Bürger zunächst dem Hausvater und der Hausmutter, sodann der lokalen Obrigkeit und zuletzt dem Regenten bzw. dem Staat. Die Denkkräfte sollen im Einklang mit dem sinnlichen Vermögen der Bürger soweit gefördert werden, bis der Selbstzwang des Bürgers den äußeren Zwang der Obrigkeit erübrigt.
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Vgl. zu dieser produktiven Ausrichtung des Menschen Burkhardt, Johannes, Das Verhaltensbild „Produktivität“ und seine historisch-anthropologische Voraussetzung, in: Saeculum 25 (1974), S. 277ff. Bahrdt folgt einer älteren sozialen Tugendlehre des Bürgers. Vgl. hierzu Münch, Paul (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“. München 1984. Die institutionellen Voraussetzungen der schulischen Tugendvermittlung im 18. Jahrhundert sind dargestellt worden von Leschinsky, Achim / Roeder, Peter Martin, Schule im historischen Prozeß. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung. Stuttgart 1976. Die Bewußtseinsgeschichte pädagogischen Denkens im 18. Jahrhundert rekonstruiert Dreßen, Wolfgang, Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen / Deutschland, Frankfurt / M. (u.a.) 1982, S. 50ff.
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Bahrdt will den Bürger in lokale und regionale Verhaltenspraktiken einführen. Die Lebensgestaltung wird gleichermaßen als Praktik und als Norm gedeutet. Die Kontinuität individueller und gesellschaftlicher Handlungsformen erscheint als psychische Disposition, der eine gesellschaftliche Lebenspraxis entspricht. Jede Norm ist eine Handlungsvorgabe, die auf einen konkreten beruflichen und gesellschaftlichen Handlungszweck zu beziehen ist.37 Die „innerliche Oekonomie“ sichert die Kontinuität der berufspraktischen Ausübung. Bahrdt integriert in das Ökonomiemodell des Bürgers die materielle (naturrechtliche) Gerechtigkeitstheorie Wolffs. Er beschreibt diese wie ein Anwendungsprogramm von Norm und Praxis. Das Selbstdisziplinierungsprogramm benennt jenen psychischen Verhaltenskodex, der den Standesverpflichtungen des Bürgers entspricht. Die körperlichen, die sinnlichen und die seelischen Bestrebungen des Menschen bilden die anthropologische Voraussetzung für ein normatives Gesellschaftskonzept ‚nützlicher‘ Zwecke. Anders als bei Kant, der den Antagonismus der Leidenschaften als einen selbsttätigen Prozeß der sozialen Kommunikation deutet,38 will Bahrdt die an der gesellschaftlichen Kommunikation beteiligten Individuen durch Erziehung und Selbstaufklärung auf diesen Prozeß vorbereiten. Bahrdt formuliert einen Mischtypus von materialem Naturrecht, individueller Handlungsanweisung und sozialen Praktiken. Sein Handbuch kennt keine abstrakten Lehrsätze der Anthropologie, des Naturrechts, der formalen Ethik, sondern ordnet die Praktiken der Ökonomie, des Familienlebens, des Berufslebens und der gesellschaftlichen Kommunikation zu einer „innerlichen“ Standeskonzeption des Bürgers. Dieser Ökonomie- und Produktionsstand bildet bestimmte anthropologische und psychische Dispositionen aus, über die der Bürger durch die Theorie des ethischen Utilitarismus aufgeklärt werden soll. Indem der Mensch seine Eigenschaften auf nützliche Zwecke ausrichtet, erfüllt er zugleich die Gebote Gottes. Er verhält sich mitfühlend, mitgestaltend, produktiv und sozial. Die „innerliche Oekonomie“ bezeichnet die Selbstregulierungsnormen des Bürgers. Fremdzwang wird durch Selbstzwang ersetzt.39 Man kann Bahrdts spätes Werk nicht umstandslos in die Geschichte der Gattung Naturrecht einordnen, weil er eine umfassende Theorie der Lebensführung entwirft, die den Rahmen einer Rechtsbegründung bei weitem überschreitet. Bahrdt kombiniert die Anthropologie mit einer biblizistischen Schöpfungstheorie sowie mit einer Standestheorie des Bürgers. Dieser soll die Eigenperfektibilität mit den Gesetzen der Gesellschaftsperfektibilität verbinden. Im Sinne der älteren philosophia practica-Theorie entwirft er ein Konzept des „guten Lebens“. Die Standes37
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Bahrdt folgt pädagogischen Normierungstheorien, die von der Aufklärungspädagogik für das niedere Schulwesen entworfen wurden. Vgl. Bruning, Jens: Das niedere Schulwesen in den brandenburg-preußischen Ländern im 17. und 18. Jahrhundert, (wie Anm. 16), S. 257ff. Zu dieser Antagonismustheorie Kants vgl. Kittsteiner, Heinz-Dieter, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik geschichtsphilosophischen Denkens. Berlin 1980. Vgl. zu diesem Wechsel des Disziplinierungskonzepts Taureck, Bernhard H. F., Michel Foucault. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 108ff.
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theorie wird wie eine Theorie für eine „societas perfecta“ gestaltet. Bahrdt integriert das Bürgerkonzept in eine Lebensführungsliteratur, die wiederum mit den Wolffschen Bestimmungen des materialen Naturrechts verschmolzen wird. Das Handbuch der Moral orientiert sich an den Standeslehren und der Lebensführungsliteratur, wie sie in den älteren „conduite“-Lehren bereits vorlag.40 Diese bezogen sich zunächst auf den Adel bzw. auf den Hof und wurden später auf den Gelehrtenstand angewendet. Die conduite-Literatur wird verschmolzen mit der Hausväterliteratur, die ab 1760 sukzessive durch das Naturrecht, durch die kameralistischen Staatswirtschaftslehren und durch die moderne politische Ökonomie verdrängt wird.41 Es kommt mithin zur Formulierung einer neuen sozialen bzw. materialen Moralistik, in die die Rechtstheorie des Eudämonismus (Wolff), die Wirtschaftsethiken von Hausväterliteratur und Kameralistik sowie eine reformierte Moralphilosophie integriert werden.42 Die Theologie wird reduziert auf eine kosmische Ordnungstheorie. Unverkennbar kombiniert Bahrdt Elemente der stoizistischen mit der epikureischen Tradition. Die Norm soll aus dem Sein abgeleitet werden, zugleich wird das Sein normierend gedacht für die Verhaltensformen des Bürgers. Anthropologische Argumentationsmuster werden benutzt, um den Bürger im Kategoriensystem von Sinnes- und Vernunftqualitäten so zu definieren, dass er seine Eigenschaften nach Maßgabe ökonomischer Produktivität gestaltet. Bahrdt schließt sich der Deutungsweise des „decorum“, der Theorie des Angemessenen an, wenn er die Parallelität von Norm und Sein betont. Die „Wohlanständigkeit“ im sozialen Verhalten erlaubt es, nützliche Zwecke friedlich im Gesellschaftsverband zu erreichen. Das „decorum naturale“ ist eine Kategorie der Anthropologie im gesellschaftlichen Bezugsfeld ‚bürgerlicher‘ Zwecke.43 Der Mensch richtet seine Verhaltensdispositionen nach den Normen der Vollkommenheit und der Glückseligkeit aus. Er lebt nach den Regulativen der vernünftigen Moral, folgt einer sozialkompatiblen Affektstruktur, die wiederum Voraussetzung für ökonomische Handlungsformen ist. Die innere Willensneigung des Menschen öffnet sich sozialen Zwecksetzungen, die sowohl dem Individuum wie der Gesellschaft zugute kommen.
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Vielleicht bezieht sich Bahrdt auf die „decorum“-Theorie, wie sie von Thomasius und seiner Schule in Halle gelehrt wurde. Vgl. hierzu Lutterbeck, Klaus-Gert, Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers, in: Beetz, Manfred / Jaumann, Herbert (Hg.), Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20), S. 77–101. Diese Theorie der Einheit von Ethik, Politik und Ökonomie wird im 18. Jahrhundert dargestellt in der Metapher des organischen „politischen Körpers“. Vgl. hierzu Frühsorge, Gotthardt, Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974. Vgl. hierzu Richarz, Irmintraut, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik. Göttingen 1991, S. 137ff. Vgl. hierzu Beetz, Manfred, Frühmoderne Höflichkeit. ‚Complimentir-Kunst‘ und verbale Interaktionsrituale. Stuttgart 1989.
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V. Die Kritik des moralischen Bürgerkonzepts durch den anthropologischen Universalismus Bahrdt hat in seinem erziehungstheoretischen Werk die bürgerliche Standeskonzeption des „Handbuchs“ überschritten in Richtung eines anthropologischen Universalismus. Nunmehr wird die anthropologische Kombination von Sinnlichkeit und Vernunft so gedeutet, als verwirkliche sich der Mensch zunächst als Bürger und sodann als Kosmopolit. In einer Mischung von epikureischer Philosophie und Lockeschem Sensualismus hatte Bahrdt die Lenkung des Menschen durch „angenehme Empfindungen“ (S. 10) propagiert.44 Antriebsmoment ist das „Vergnügen“, das durch „Bewegung“ und „Handlung“ ausgelöst wird. Durch die Amplifikation von „Körpergefühlen“ sollen „Ideen mit Bewußtseyn“ hervorgebracht werden: „Thätigkeit, oder Leben im wahren Sinn, ist – Freude [...]“ (S. 14). Der Tätigkeitsbegriff wird angeschlossen an eine Ideenassoziationspsychologie, die alle Bewußtseinsformen in hierarchischer Sukzession beschreibt. Bahrdt unterscheidet „Körpergefühl“, Halbkörpergefühl“ und das „Geistige“. Die jeweils niedrigere Entwicklungsstufe geht der nächsthöheren voraus. Kontinuierlich steigen die psychischen Vermögenskräfte auf zu den geistigen „Ideen“. Diese Konstruktion des Menschen basiert auf Lockes Unterscheidung zwischen „sensations“ und „reflections“. Der Mensch übt folgende Tätigkeiten aus: „Vegetative Thätigkeiten. Animalische. Ideensammlung durch die Sinne. Reflexion über Handlungen. Kontemplation“ (S. 37). Der selbsttätige Mensch wird durch „Freude“ angestoßen zu „Wollen, Empfinden, Handeln“. Zwei Bezugspunkte normieren den „allgemeinen Zweck“ der Erziehung: die „Einrichtung der menschlichen Natur“ und die „allgemeinen Verhältnisse“ des Menschen „gegen die Gesellschaft“ (S. 63). Erst im Zustand der Kultur verengt sich die Eigenschaftsvielfalt des Menschen durch „besondere Modifikation“, die bestimmt wird von den Zwecken einer „bestimmten Gesellschaft“ (S. 62). Nunmehr lassen sich die Normen des Verhaltens nicht mehr ausschließlich aus der Natur des Menschen ableiten, sondern werden aus den Zweckbestimmungen der gesellschaftlichen Nützlichkeit deduziert. Der Mensch vermag nicht mehr in Freiheit über seine Natur zu disponieren, er muß konkrete 44
Die folgende Darstellung basiert auf der Abhandlung von Carl Friedrich Bahrdt, Über den Zweck der Erziehung, in: Campe, Joachim Heinrich (Hg.), Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens, Bd. 1 (1785), S. 3–232. Zu Bahrdts Verhältnis zum Philanthropismus vgl. Kegler, Frank, Der radikale Aufklärer Carl Friedrich Bahrdt und sein „Philanthropischer Erziehungsplan“, in: Mitzenheim, Paul (Hg.), Studien zum Philanthropismus: Beiträge von Lehrerstudenten. Jena 1984, S. 53–66; Lößl, Hans-Helmut, Carl Friedrich Bahrdt an den philanthropischen Anstalten zu Marschlins und Heidesheim (1775–1779). Berlin 1998; Mühlpfordt, Günter, Für „eine beßre und glücklichere Welt“: Erfurt als vorgesehenes Zentrum des Philanthropismus, in: Weiß, Ulman (Hg.), Erfurt 742–1992: Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte. Weimar 1992, S. 461–493; zum funktionanlistischen Erziehungskonzept des Philanthropismus, vgl. Dreßen, Wolfgang, Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Deutschland. Frankfurt / M. (u.a.) 1982, S. 115ff.
Die innere Ökonomie des Bürgers
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gesellschaftliche Aufgaben erfüllen, die vom Staat festgesetzt werden. Seine Berufsarbeiten sind nach „Art, Menge und Zeit“ (S. 63), nach Maßgabe der „Verschiedenheit der Stände“ geregelt (S. 71). Die lediglich körperliche Arbeit verrichtenden niederen Stände betreiben ausschließlich die „Versinnlichung des Menschen“ (S. 76), ohne daß sie dafür „Ideen“ entwickeln müßten. Der kultivierte Mensch entfaltet seine Verhaltensdispositionen gemäß der Entwicklungsstufe der jeweiligen Gesellschaft. Im Zustand der „Horden“ aktualisiert er zunächst seine physischen Kräfte, während er in der Gesellschaft der „Kosmopoliten“ dazu gezwungen ist, das Gesamtinventar seiner physischen und geistigen Kräfte auszubilden, da nur so, gleichsam im Konkurrenzfeld mit der ganzen Menschheit, sein Überleben gesichert werden kann (S. 115).45 Der Entwicklungsstatus der gesellschaftlichen Handlungsfelder des Menschen entscheidet darüber, welche Anlagemasse durch Erziehung entfaltet werden muß, damit die Selbstbehauptung von Individuen, Ständen und Nationen gewährleistet ist. Der „Weltbürger“ repräsentiert die Endstufe des vergesellschafteten Menschen. Nunmehr gibt es keinen „einseitigen Bürger“ mehr, da die Totalität der Menschheit identisch ist mit der Entwicklung aller menschlichen Kräfte (S. 119). Die Natur des Menschen hat alle Stadien ihrer Kultivierung durchlaufen, ihre Universalisierung mediatisiert die Zwischenstufe der „Spezialbildung“ des Bürgers. Dennoch befürwortet Bahrdt die Einschränkung der menschlichen Vermögen zur Erreichung nützlicher Zwecke. Diese utilitaristische „Modifikation“ hebt sich aber dadurch auf, daß die Spezialisierung des Menschen im Endstadium der Geschichte umschlägt in den Kosmopolitismus. Damit verwandelt sich die „Moral für den Bürgerstand“ zu einer solchen des „Weltbürgers“. Das kosmopolitisch konstruierte Kulturprogressionsmodell Bahrdts kompensiert die berufsbezogene „Modifikation“ der menschlichen Anlagen, wie sie durch den Arbeitsteilungsprozeß erzwungen wird. Bahrdt vertritt in seiner Erziehungstheorie dennoch keine Gleichgewichtskonstruktion zwischen Spezial-, Berufs- und Allgemeinerziehung, weil er für seine Gegenwart eine Berufsständegesellschaft bevorzugt, deren Funktionsfähigkeit nur durch die Spezialerziehung des Bürgers gesichert werden kann. Insofern bleibt Bahrdt letztlich dem pädagogischen Utilitarismus verhaftet, der die „Vollkommenheit“ des Menschen der „Brauchbarkeit“ des Bürgers opfert.
VI. Zusammenfassung Bahrdts „Moral für den Bürgerstand“ gehört in den Umbau der Wissenschaftsstrukturen im Einflußfeld der anthropologischen Wende, die auch ein neues Psychologisierungsprogramm sozioökonomischer Verhaltensdispositionen einschließt. Der Bürger soll motiviert werden zur Produktivität, diese dient der Subsistenzsicherung der Bürger eines Staates. Bahrdt definiert den Bürgerbegriff vom Stand45
Vgl. Laursen, John Christian, Publicity and cosmopolitanism in late eigtheenth-century Germany, in: History of European Ideas 16 (1993), S. 117–122.
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punkt der Produktion und der Reproduktion, wie sie bereits in der „Politik“ von Christian Wolff vorgegeben war. Staatszwecke werden umformuliert zu individuellen Vermögensformen, die nunmehr in der empirischen Psychologie analysiert werden. Die personale Autonomie tritt zurück hinter Produktivitätszwecke. Dieses Konzept geht nicht aus von der Gleichheit innerhalb des Bürgerstandes, von der politischen Partizipation des Bürgers, weil es keinen emanzipativen Bürgerbegriff im Handbuch gibt. Im Rahmen einer städtischen Subsistenzwirtschaft soll der Bürger seine Arbeitskraft einbringen, der Bürgerbegriff wird aber nicht zum Drittstandsbegriff ausgeweitet. Er wird bei Bahrdt zum Gegenbegriff zu den Ständen der Gelehrsamkeit (dem späteren Bildungsbürgertum) und des Reichtums (dem späteren Besitzbürgertum), er ist nach Bahrdt ein Arbeitsstand ohne rechtliche Autonomie, ohne universelle Bürgerrechte, d.h. er ist keine moderne bürgerliche Klasse, sondern lediglich ein produktiver Stand. Bahrdt kennt keine Trennung zwischen Staat und moderner bürgerlicher Wirtschaftsgesellschaft, er vollendet die spezifisch deutsche Tradition der „anthropologischen Ethik“, die ab 1650 verstärkt nachweisbar ist. Aber erst um 1770 findet eine Anthropologisierung und Individualisierung dieser protestantischen Arbeitsethik statt, sie soll die „innerliche Ökonomie“ in Haushalt und Betrieb ermöglichen. Dieses moderate Modernisierungskonzept hat ein Janusgesicht: Einerseits wird die Individualisierung von Leistungswissen gefordert, zum anderen bleiben die Standesschranken mit ihren ungleichen Rechts-, Sozial- und Erwerbsstrukturen erhalten, diese sollen aber als Funktionsstände und nicht als Geburtsstände organisiert sein. Hinter der Individualisierung der anthropologischen Ethik steht die Anthropologisierung sozialer Zwecksetzungen. Die Wirtschaftsethik ermöglicht eine ökonomische Handlungsweise in den korporativen Systemen von Stadt und Land. Hier wird kein Weg in die moderne Rechts-, Wirtschafts- und Bildungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts betreten, weil nur eine sektorale Modernisierung des Bürgerstandes gemäß seinen produktiven Aufgaben erfolgt. Die ältere Zivilsozietät wird erst Jahrzehnte später durch die staatlichen Reformprozesse aufgehoben in einer fundamentalen Modernisierung der Gesellschaft. Allerdings werden die individuellen Tugenden wie Arbeitsamkeit, Fleiß und Pünktlichkeit durchaus auch in der modernen Privatrechtsgesellschaft proklamiert. Der Begriff „Moral“ wandelt sich zu „Gesellschaft“, wie dies bereits von der schottischen Moralphilosophie proklamiert worden war. Die gesellschaftlichen Handlungsbedingungen sind Bestandteil der Moralphilosophie, die die rechtlichen Strukturen in gleicher Weise abbildet wie die individuellen Verhaltensdispositionen. Bahrdt fragt danach, wie die Zwecke der Gesellschaft durch die inneren Verhaltensformen des Menschen realisiert werden. Er proklamiert Produktivitätssteigerung durch Mentalitätswandel. Bahrdt denkt funktionalistisch, wenn er die ältere Ständegesellschaft als Berufsformation analysiert. Diese Modernisierung führt zur Gleichsetzung von Bürgerlichkeit und Arbeitsethik, nicht aber zur Formulierung eines modernen Bürgerbegriffs des Bildungsbürgertums und des Besitzbürgertums.
Personenregister
Aufgenommen wurden nur die im Haupttext vorkommenden geschichtlichen Personen. Ackermann, Johann Christian Gottlieb 194, 196 Affsprung, Johann Michael 324 Alberti, Julius Gustav 42 Alcott, Amos Bronson 229 Alexander der Große 256f. André, Simon 54 Aristoteles 139, 252, 336f., 344ff., 348, 355 Bahrdt, Carl Friedrich 2, 36, 246, 320, 357f., 362f., 365–374 Bahrs, Johann Andreas 325 Basedow, Johann Bernhard 2, 10, 16, 19f., 23–36, 39–56, 58–64, 67, 72f., 83–99, 103, 105–114, 116–122, 125–141, 143, 145–155, 157–161, 163f., 166f., 170, 173, 190ff., 211f., 231f., 234, 238, 251ff., 273, 287, 292–296, 299, 301, 303, 307, 318ff., 323f., 327, 330 Basedow, Ludwig 58 Batteux, Charles 354 Baudeau, Nicolas 233 Baumgarten, Alexander Gottlieb 6, 122, 357 Baumgarten, Siegmund Jacob 120, 122– 125, 129, 141, 143 Baumeister, Friedrich Christian 112 Beck, Jacob Sigismund 358 Becker, Ferdinand G. 319 Becker, Rudolph Zacharias 13, 39 Becker, Wilhelm Gottlieb 236 Behrisch, Ernst Wolfgang 39 Benzler, Friedrich August 46 Berenhorst, Georg Heinrich 58 Berens, Johann Christoph 254, 262, 284 Bergmann 254 Bernstorf, Johann Hartwig Ernst, Graf von 40f. Bertuch, Friedrich Justin 52
Bilfinger, Georg Bernhard 143 Blessig, Johann Lorenz 232 Blücher, Gebhard Leberecht von 30, 53, 57f. Boie, Heinrich Christian 42 Boileau, Nicolas 335, 337, 355 Bolingbroke, Henry Saint John 144 Bollinger, Friedrich Wilhelm 69 Bonaparte (siehe Napoléon I.) Brabeck, Moritz von 38, 319 Brechter, Johann Jacob 191f., 199 Büsching, Anton Friedrich 25 Buffon, Georges Louis Leclerc de 189 Burgsdorf, Wilhelm von 57 Busching 273 Busse, Friedrich Gottlieb 48, 70, 241, 298 Butler, Joseph 144 Cabanis, Pierre Jean Georges 196 Campe, Joachim Heinrich 2, 8, 11, 16, 19f., 32, 34, 44, 55f., 58, 60, 67f., 96, 162f., 187ff., 192–201, 203–206, 211, 213, 232ff., 236f., 251, 271, 278, 287, 307–311, 313ff., 319f., 323, 335ff., 340–344, 349–354, 358 Campenhausen, von 276 Candolle, Augustin Pyramus de 312 Canz, Israel Gottlieb 143 Carl August von Weimar 36 Carl Friedrich, Markgraf von Baden 244, 288 Carus, Friedrich August 206 Ceumern, von 266ff. Chaptal, Jean Antoine Claude 308 Cherbury, Herbert von 102, 144 Chodowiecki, Daniel 51, 53f., 62, 73, 172, 230, 242 Christian VII. von Dänemark 55 Cicero 134, 336f., 344, 346–349, 353ff.
376 Clarke, Samuel 144 Cludius, Hermann Heimart 319, 328 Cochius, Leonhard 349, 352 Collins, Anthony 144, 148 Comenius, Johann Amos 27, 30ff., 42, 50f., 60 Condillac, Etienne Bonnot de 5, 21 Condorcet, Jean Antoine Nicolas de 34 Cramer, Johann Andreas 40, 130 Cranach, Lukas 49 Crome, August Friedrich Wilhelm 48 Crusius, Christian August 85, 105,107, 120f., 129, 143 Cullen, William 10 Cuvier, Georges 307f., 310–316 Dahl, Friedrich 279 Dahlen 57 Darjes, Joachim Georg 141, 143 Dedel, Salomon (v.) 58 Descartes, René 139, 349 Diderot, Denis 125f., 134 Dieterich, Johann Christian 25 Dietrich, Fürst zu Anhalt-Dessau 169 Dohm, Christian Conrad Wilhelm von 43, 46, 233, 328 Dürer, Albrecht 49 Dunten, von 281ff. DuToit, Johann Jakob 55f., 241, 272, 298 Eberhard, Friedrich 319 Eberhard, Johann August 109, 122 Edelmann, Johann Christian 246 Eggers, Christian Ulrich Detlev 27 Ehrmann, Johann 233, 236, 242, 244, 254 Erdmannsdorf, Friedrich Wilhelm 297 Ernesti, Johann August 112, 131, 134f. Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg 245 Ersch, Johann Samuel 105f. Feder, Johann Georg Heinrich 232, 241, 298 Felbiger, Johann Ignaz von 38, 307 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 192
Ferdinand (Karl Wilhelm) von Braunschweig 59, 259, 319, 324, 328 Fichte, Johann Gottlieb 108, 133 Fischer, Gottlob Nathanael 58 Forster, Johann Reinhold 358 Foster, Jacob 144 Fourcroy, Antoine-François de 314 Francke, August Hermann 32, 42, 60 Franz (Leopold III. Friedrich) von AnhaltDessau 15, 24, 33, 37–40, 45–48, 53, 65, 232, 237, 244ff., 252, 261, 289, 291, 294–298, 300–303 Frege, Christian Gottlob 260 Freud, Sigmund 357 Friedrich II. von Preußen 125 Friedrich V. von Dänemark 87 Friedrich, Erbprinz von Anhalt-Dessau 44, 47, 49 Friedrich Wilhelm I. 5 Friedrich Wilhelm II. 163, 314 Fritze 298, 301f. Frölich, Carl Wilhelm 229 Funke, Carl Philipp 40, 52 Garve, Christian 26 Gatterer, Magdalene Philippine 207 Gavé 269 Gellert, Christian Fürchtegott 97, 121, 125f., 129, 130 Gibert, Ludwig Wilhelm 48, 58 Gillet 25 Glatz, Jakob 240 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 24, 42f., 46 Goethe, Johann Wolfgang von 23, 25, 32, 39f., 43f., 49, 51, 54, 56, 231, 233ff. Goeze, Melchior 24, 33, 41f., 106, 122, 279 Golz, Karl Heinrich Friedrich von 57, 58 Gottsched, Johann Christoph 112 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 207 Grotius, Hugo 90, 115f., 122 Gruber, Johann Gottfried 105f. GuthsMuths, Johann Christian Friedrich 46, 55f., 58, 78
377 Hagemeister 266 Hager 260 Haller, Albrecht von 10 Hamann, Johann Georg 244 Hammer 41 Hedemann 49 Heinicke, Samuel 327 Henke, Heinrich Philipp Conrad 319 Henneberg, Friedrich Ludwig Christian 328 Herder, Johann Gottfried 234, 244 Herrmann, Leopold 237, 289 Heusinger, Heinrich Gottlieb 226f. Hippel, Theodor Gottlieb 200, 203, 207 Hobbes, Thomas 115f., 144 Hogarth, William 51 Hogendorp, Gisbert Karl von 244 Holst, Amalie 200, 203, 207 Home, Henry (Lord Kames) 336–342, 353 Horaz 355 Humboldt, Alexander von 44 Humboldt, Wilhelm von 331 Hume, David 144, 148 Hundeiker, Christiane Juliane 330 Hundeiker, Johann Peter 317–333 Hundeiker, Wilhelm Theodor 320, 331f. Huot, David 241, 271f. Hutcheson, Francis 114, 116, 121, 129, 156, 158 Ickelsamer, Valentin 327 Igelström, Carl Gustav von 270, 294–304 Immermann 285 Iselin, Isaak 233 Jacob, Ludwig-Heinrich 358 Jahn, Friedrich Heinrich Wilhelm 58, 236 Jasperson, Johann 241, 298 Jean Paul 47, 54, 59f. Jerusalem, Johann Friedrich 318, 322 Joseph II., Kaiser (1765–1790) 33, 55 Kant, Immanuel 23f., 26, 34, 46, 60, 102, 107, 108f., 133, 137, 161, 226f., 252, 254, 277, 287, 364, 370 Karl Eugen, Fürst von Württemberg, 311
Katharina II. von Rußland 33, 55, 265, 281 Karsch, Anna Luise 207 Kaufmann, Christoph 233, 244 Keck 280 Keßler 260 Klopstock, Friedrich Gottlieb 24, 40, 130, 275 Klotz, Christian Adolph 32, 336f. Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus 54 Koldewey, Friedrich 333 Krebsius (Krebs, Johann Philipp) 32 Krok, von 282 Krüger, Johann Gottlob 6 Krünitz, Johann Georg 204 Kutusow, Michail Ilarionoviþ 30, 53 La Chalotais, Louis René de 41, 309 La Flue 38 La Mettrie, Julien Offray de 125f. Lavater, Johann Caspar 23, 44 Leibniz, Wilhelm 6, 117, 133, 139, 141, 143, 349f. Lenz, Christian Ludwig 28, 55f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 233, 244 Leopold von Lippe-Detmold, 47 Lessing, Gotthold Ephraim 24f., 33, 99, 106 Liesiewski, Reinhold 65 Linné, Carl von 311 Locke, John 5, 7, 18, 42, 50, 139, 177, 187, 318, 323, 372 Lucius, Caroline 97 Ludwig, Fürst von Anhalt-Köthen 31 Luther, Martin 31, 106, 148, 330 Mailly 315 Manteuffel, Graf von 258, 263 Manteuffel, Gräfin von 276 Marées, Simon Ludwig Eberhard de 38, 44 Markov, Wassili 264f., 277, 283, 285 Marschoff 57 Marx, Karl 60 Masson 293 Matthias, Kaiser (1612–1619) 31
378 Matthisson, Friedrich 49, 279 Mauchart, David Immanuel 209 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 278 Mauvillon, Jakob 130 Meier, Georg Friedrich 6, 122, 141, 143, 357 Meier, Johann Christian 39f. Meister, Leonhard 207f. Melanchthon, Philipp 31 Mendelssohn, Moses 25, 37, 54, 109, 324, 337, 340–343, 352ff. Mengden, Carl Gustav Baron von 263, 271 Mercier, Louis Sébastien 307 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti 307 Mochel, Johann Jakob 233, 242ff. Moltke, Adam Gottlob von 86f. Montesquieu, Charles Louis de Secondat 121, 125, 132 Moritz, Carl Philipp 228 Moritz, Johann Friedrich Christian 274 Mosheim, Johann Lorenz von 122ff., 129, 144 Motherby 277, 287 Mozart, Amadeus 230, 236 Mozart, Leopold 235 Münster, Ernst Friedrich Herbert, Graf von 58 Napoléon I. 30, 311, 314ff., 320 Neuendorf, Carl Gottfried 20, 33, 48, 55, 58, 66, 267f., 271, 297–300, 304f. Nicolai, Friedrich 211, 233, 324 Niemeyer, August Hermann 60, 106 Niethammer, Friedrich Immanuel 287, 331 Nostiz, Ferdinand von 58 Numa 256 Oberlin, Johann Friedrich 230ff., 235, 247 Olivier, Ludwig Heinrich Ferdinand 55, 251, 258, 268 Oschatz, Heinrich Ludwig Philanthropus 48 Owen, Robert 229 Perschke, Christian Gottlieb 49
Pestalozzi, Johann Heinrich 21, 244 Peter, Herzog von Kurland 253 Peters, Johann Matthias 55 Pidoux 271 Pinloche, Auguste 2, 41, 43, 54, 307 Plato 139, 335, 340, 342ff. Plutarch 344f., 352 Pufendorf, Samuel von 90, 115f., 122 Pythagoras 134, 152 Radischtschew, Alexander Nikolajewitsch 59 Rapp, August 231 Rapp, Georg 231 Ratichius (Ratke, Wolfgang) 27, 31f., 50, 59f. Recke, Elisa von der 254 Reichard, Heinrich August Ottokar 244 Reichardt, Johann Friedrich 300, 313, 314 Reiche, Carl Christoph 257, 293, 295 Reimarus, Hermann Samuel 24, 32f., 135, 142, 150ff., 318, 322 Reinhard, Franz Volkmar 38 Rhode, Johann Gottlieb 162 Riedel, Friedrich Justus 337 Ritusch 70 Robespierre, Maximilien de 40 Rochow, Friedrich Eberhard von 13, 53, 297f., 319f., 325, 327f. Roederer, Pierre-Louis 314 Roenne, Wilhelm 57, 259, 266, 279ff. Rosenkranz 89f. Rothe, Thyge Jesper 40 Rousseau, Jean-Jacques 6f., 9, 18, 21, 42, 47, 54, 59, 138, 160, 177, 180–200, 203–206, 208, 318, 323 Roussel, Pierre 196 Rozier, François 233 Rudolphi, Karoline Christiane Louise 207 Runge, Johann Lebrecht 255 Rust, Friedrich Wilhelm 289 Sack, Johann August 25, 144 Sacken, Baron von 254 Sacken (Neffe des Vorgen.) 254, 274 Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy 229
379 Salzmann, Christian Gotthilf 2, 13, 19f., 58, 69, 199, 202f., 231, 233, 271, 298, 320 Sander, Christian Friedrich Levin 45, 276, 286 Sappho 207 Schall, Johann Eberhard Friedrich 237 Schilder, Carolina Barbara 251, 292 Schilder, Heinrich 249ff., 253–295, 298, 301 Schilder, Joachim Eberhard 251 Schilder, Johann Christoph 251 Schilder, Michael 251, 276, 280 Schlegel, August Wilhelm 40 Schlegel 273 Schlözer, August Ludwig von 358 Schlosser, Johann Georg 13, 40, 162f., 234 Schmohl, Georg 246 Schmohl, Johann Christian 236, 242ff., 246 Schönfeld, Johanna Erdmuth von 97 Schröder, Baron von 58 Schröder, Johann Heinrich 68 Schryder, Abbé 38 Schulz(e), Johann Michael Friedrich 39 Schütz, Christian Gottfried 12 Schummel, Johann Gottlieb 273f. Schwager, Johann Moritz 203–207 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian 203, 205–207 Schweighäuser, Johann 232f., 236f., 242, 307, 316 Schwengel, von 266f., 268 Seillière, Charles Auguste de 232 Semler, Johann Salomo 12, 358 Sextro, Heinrich Philipp 325 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 116, 144 Sievers, Gräfin von 266ff., 270, 283 Silbermann, Johann Andreas 236 Simon, Johann Friedrich 34, 55, 57, 232f., 236–239, 242, 244, 307, 316 Sneedorf, Jens Schelderup 40f., 96 Snell, Christian Wilhelm 105, 108 Snell, Friedrich Wilhelm Daniel 105 Sokrates 134, 152
Spalding, Johann Joachim 25, 318, 322 Spazier, Carl 37, 45, 219–223, 225, 227 Sprengel, Kurt 357 Stephan, Heinrich 327 Stein, Fritz von 56 Steinacker, Gabriel Wilhelm 268, 291 Stoever 259, 267 Stuber, Johann Georg 231, 235 Sturm, Johannes 31 Stuve, Johann 2, 11, 188f., 197, 232 Süvern, Johann Wilhelm 331 Sulzer, Johann Georg 25, 109 Teller, Wilhelm Abraham 25, 318, 322 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 106, 108 Tetens, Johann Nicolaus 109 Thiringk, Leonhard 251, 268, 291 Thiringk (Vater des Vorgen.) 251, 291 Thomson, James 54 Tindal, Metthew 144, 148 Tissot, Clément Joseph 54 Toussaint, François Vincent 125–128, 132 Trapp, Ernst Christian 2, 8, 11f., 32, 50, 58, 195, 197, 227f., 271, 320, 358 Unzer 10f., 130, 194f. Vieth, Gerhard Ulrich Anton 58, 60 Villaume, Peter 11, 56, 219f., 223, 226, 320 Vittinghoff 264 Vogel, Friedrich Erdmann 55 Voght, Caspar 233 Voltaire, François-Marie Arouet de 148 Voss, Christian Daniel 358 Wagemann, Arnold 325 Wagemann, Ludwig Gerhard 325 Wagler, Carl Gottlieb 318f., 322ff. Waldersee, Franz Graf von 47 Weikart, Melchior Adam 11 Weißenborn, Georg Friedrich Christian 199, 202f., 207 Werner, Adolf 58 Wewel, Anna Martina 251
380 Wezel, Johann Karl 11, 213–219, 222, 225–228 Wieland, Christoph Martin 26, 49 Wiesel 298, 301f. Winkelmann, Johann Joachim 15 Wittgenstein, Peter Ludwig von 57 Wöllner, Johann Christoph von 122, 163 Wolf, Friedrich August 12, 320, 332 Wolf, Hieronymus 31 Wolff, Baron von 274 Wolff, Christian 40, 107, 112, 115f., 121f., 125, 131–134, 141, 143, 151f., 163f., 226, 357, 362–365, 368–371, 374 Wolke, Christian Heinrich 20, 23, 32, 43, 46ff., 50, 55, 67, 81f., 169f., 172f., 212, 224, 235–241, 251f., 258ff., 263, 268, 270f., 274, 278ff., 283, 285f., 290–294, 296, 298–301, 303, 327
Wolke, Philanthropia 48 Wolstonecraft, Mary 199, 202f. Woronzow, Alexander 59 Zedlitz, Karl Abraham von 12, 32 Ziegenhagen, Franz Heinrich 229–232, 234–247 Zimmermann, Johann Georg 11 Zimmermann, von 262 Zimmermann, Bernhard von (Sohn des Vorgen.) 272 Zinnendorf, Baron (Johann Wilhelm Ellenberg) 259 Zoritz, von 264f.