John Boyd
Die Sirenen
von Flora
Deutsche Erstausgabe
Knaur
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.
München...
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John Boyd
Die Sirenen
von Flora
Deutsche Erstausgabe
Knaur
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.
München/Zürich
Copyright © 1969 by John Boyd
Titel der Originalausgabe »The Pollinators of Eden«
Aus dem Amerikanischen von Joachim Pente
Umschlagillustration Robert André
Satz Fotosatz Gerd Gaul, Saulgau
Druck und Bindung
Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany • 1 • 11 • 482
ISBN 3-426-05746-8
I. Auflage
Als der junge Forscher Hal Palino vom neuentdeckten Planeten Flora auf die Erde zurückkehrt, bringt er der Zytologin Freda Caron zwei Tulpen mit. Aber es sind keine normalen Blumen, wie die Zellforscherin schon bald herausfindet. Sie unterscheiden sich eindeutig in Aufbau und Fortpflanzung von irdischen Pflanzen jeder Art. In Freda keimt ein Verdacht. Als die eingepflanzten Tulpen sich auffallend ausbreiten und Vernichtungsversuchen widerstehen, begibt sich Freda nach Flora, und dort geschehen Dinge, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen. Der Menschheit werden plötzlich Evolutionsmöglichkeiten kosmischen Ausmaßes eröffnet… Der unter dem Pseudonym John Boyd schreibende Amerikaner Boyd Bradfield Upchurch machte zuerst mit dem Roman »Der Überläufer« von sich reden. Mit dem vorliegenden Buch knüpft er an diesen Erfolg an und legt zugleich ein Werk vor, das in bezug auf exotische außerirdische Lebensformen und deren Bedeutung für die Menschheit nur noch mit P. J. Farmers klassischem Tabu-Brecher »Die Liebenden« verglichen werden kann.
1
Generalstabsarzt der NASA, Houston, Texas
An den Direktor des Instituts für Fortgeschrittene Studien,
Santa Barbara, Kalifornien
Betr.: Psychiatrische Krankengeschichte Freda Janet Caron.
Diagnose: Humanismus mit nymphomaner Omniphilie
A)Schreiben vom 8.12. 37 von Dr. Hans Clayborg, IFS, an den
Landwirtschaftsminister.
B)Direktive 27 des Generalstaatsanwalts der Vereinigten
Staaten.
In bezug auf die unter A) und B) genannten Schreiben
übersende ich Ihnen anliegend die Krankengeschichte der
Freda Janet Caron, Alter 24 Jahre, Rasse weiß, ehemals tätig
als Zytologin in der Abteilung Exotische Pflanzen des
Landwirtschaftsministeriums zur äußermedizinischen
Weiterverwendung.
Das Trauma der o. g. Patientin ereignete sich am 16. bzw.
17.5. dieses Jahres während ihres Aufenthaltes als Teilnehmerin der wissenschaftlichen Expedition C (Charlie) auf dem Planeten Flora, auch unter dem Namen »Blumenplanet« oder »Planet der Blumen« bekannt. Eine in Tiefnarkose vorgenommene Analyse ergab jedoch, daß die Ereignisse, die zur Einlieferung der Patientin zwecks stationärer Behandlung führten, bereits im Januar dieses Jahres mit der Rückkehr der ersten Abteilung der Expedition, A
(Able), vom Planeten Flora, unmittelbar nach der Landung des Schiffes auf dem Marineflughafen in Fresno, begannen… Freda Caron stand auf der Brücke des Kontrollturms und spähte suchend durch das Fernglas, das Kommodore Minor ihr geliehen hatte, in den blauen Morgenhimmel über dem San Joaquin Valley. Ein kurzer Schwenk nach rechts in die Richtung, in die der ausgestreckte Arm des Kommodore deutete, und sie sah deutlich den in der Morgensonne silberglänzenden Rumpf der USSS Botany. Das Schiff schwenkte jetzt mit dem Heck erdwärts und begann mit dem Landemanöver. »Ahoi, Botany!« hörte sie die Stimme des Lotsen im Tower rufen, als der schimmernde Tropfen aus Vanadium 320 in die Atmosphäre eintauchte. Als die Retro-Jets seinen Fall in die dichter werdende Luft sanft abbremsten, wurde das Raumschiff zu einem dunklen Fleck am Himmel, der sich langsam südwestwärts auf den Landepunkt zubewegte. Der Fleck wurde rasch größer. Deutlich vernahm Freda jetzt das Rauschen der Retro-Jets, das zu einem schrillen Sirren anschwoll und mit sanftem Zischen abebbte, als das Schiff senkrecht über der konkaven Wölbung des Landepolsters zu stehen kam, das das Kreischen der Triebwerke wie ein Hohlspiegel auf seinen Ausgangspunkt zurückwarf und so den ohrenbetäubenden Donner zu einem kaum hörbaren Dröhnen dämpfte, das den Tower ganz leise erzittern ließ. Silbern und schlank tauchte die Botany jetzt in ihren Blickwinkel und senkte sich sanft in ihr selbstgemachtes Kissen aus komprimierter Luft. Unten rollte bereits die Dekontaminationskammer über das Rollfeld auf das Landepolster zu. Ihr Ausstiegsrüssel schob sich langsam aus dem gewaltigen Rückenpanzer. Freda hatte in diesem Moment das Gefühl, als habe sich das geballte technologische Potential
der Menschheit auf diesen einen Augenblick konzentriert, da die Erde ihre Kinder aus dem All wieder in die Arme schloß. Der Anblick des grandiosen Schauspiels ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Über ihr begann die Botany die Landestelzen auszufahren, lange, mit wulstigen Gelenken versehene Spinnenbeine, die aussahen wie die Speichen eines vom Gegenwind gebeutelten Regenschirms. Die zierliche Grazie des schlanken Tropfens verwandelte sich in die groteske Plumpheit eines unförmigen Insekts. Selbst das Silber stumpfte zu einem glanzlosen Schiefergrau ab, als das Schiff unter den Horizont der winterlich blaßgrünen Küstenlinie sank. Was eben noch als freier Gefährte der Sterne durch die Unendlichkeit des Alls geglitten war, kauerte jetzt als hilfloser Gefangener der Erde nieder. Freda wußte, daß im Bauch des Schiffes die »Fracht« – die in eiförmige Wasserblasen wie Embryos eingehüllten Passagiere – in diesem Moment automatisch in ihre jeweiligen Rutschen mit der Bezifferung 1, 2 und 3, entsprechend Deck A, B und C katapultiert wurde. Während sie durch sanft geschwungene Röhren glitten, die sich irgendwo im Heck des Schiffes zu einem großen Rohr vereinigten, würden sie erwachen und dann mit einem leisen »plop«, 1A, 2B und 3C, in Behälter am Boden der Dekontaminationskammer plumpsen, fein sortiert nach Rang, Seriennummer, akademischem Grad und Sozialversicherungsnummer; die Wissenschaftler und ihre Assistenten säuberlich getrennt von den militärischen Dienstgraden. Sie konnte förmlich das leise »plop, plop« hören, mit dem die einzelnen Stücke, die die Abteilung Able des Projekts Flora gebildet hatten, in ihre Behälter fielen. Aber diese Stücke waren Freunde und Bekannte: sie hießen Rex und Hal und Kenneth. Und unter ihnen war ein ganz besonderes Stück, eines, das sie bereits aussortiert und auserwählt hatte – ihr
zukünftiger Ehemann. Paul Theaston kehrte von Flora nach Hause zurück. Wäre nicht für Juni ihre Hochzeit geplant gewesen, dann wäre Freda im April mit der Abteilung Charlie selbst zum Planeten der Blumen aufgebrochen. Flora, der Planet der Blumen. Wenigstens er war der Numerierung entgangen! Freda rief sich noch einmal die vergangenen Monate in Erinnerung zurück, als der Kapitän der Royal Space Navy, der den Planeten entdeckt hatte, sich selbst einen Platz in der Geschichte verweigerte, indem er es abgelehnt hatte, der alten Tradition der Entdecker zu folgen und seinen Namen vor die Orbitnummer des Planeten zu setzen. Sie konnte sich noch genau an seine Worte erinnern: »Wenn sie den Grand Canyon in ›Powell’s Graben‹ umtaufen, dann erlaube ich auch, daß dieser Planet ›Ramsbotham-Twatwetham‹ getauft wird!« Während ihre Gedanken noch um die jüngste Vergangenheit kreisten, setzte die Botany so sanft auf, daß sich ihre Spinnenbeine kaum bogen. Bevor ihre Aggregate mit leisem Seufzen verstummt waren, hatte die Dekontaminationskammer angelegt und ihren Ausstiegsrüssel mit der Luftschleuse an der Rumpfunterseite gekoppelt. Neben ihr ließ der Kommodore seiner Bewunderung freien Lauf: »Barron bringt sie immer so sanft runter wie ein fallendes Rosenblatt.« Freda lächelte beipflichtend. Sie wußte, der alte Raumhaudegen folgte damit lediglich der Navy-Etikette. Kommodore Minor wußte natürlich auch, daß ein Aggregat, das kaum größer war als der Kopf eines Menschen, den gesamten Landeprozeß des Schiffes kontrolliert hatte und jeder Raumfahrtlehrling den Transporter genauso sanft auf das Landepolster setzen konnte wie Kapitän Philip Barron von der United States Space Navy. Freda bedankte sich bei dem Kommodore für die Einladung auf die Brücke und versprach ihm einen gemeinsamen Lunch
mit Paul. Danach verließ sie die Brücke und ging nach unten in den Empfangsbereich. Die Dekontamination dauerte gewöhnlich eine Stunde. Als sie in dem für das Management reservierten Abschnitt des Empfangsbereiches Platz nahm, um auf Paul zu warten, war sie im stillen dankbar, daß eine Stellung wie die ihre mit gewissen Privilegien verbunden war. Auf der anderen Seite des Empfangsbereiches befand sich ein mit Seilen abgegrenztes Quadrat. Dort drängten sich die Familien der einfachen Soldaten und nichtwissenschaftlichen Teilnehmer der Expedition zu einem Knäuel aus stoßenden Ellenbogen, eingehüllt in eine atemberaubende Wolke aus Schweißgeruch und Parfümdünsten, das ganze noch untermalt vom Geschrei einiger Babies. Ihr war fast schwindelig vor Nervosität. Offensichtlich gab es ein Gesetz, wonach sich das Anschwellen der Nervosität vor dem Wiedersehen mit einem geliebten Menschen quadratisch proportional zur Verrinnungsgeschwindigkeit der Zeit bis zu diesem Ereignis verhielt. Um sich zu beruhigen, ging Freda in Gedanken noch einmal die organisatorischen Details der Hochzeitsfeier durch, die sie noch im einzelnen mit Paul diskutieren wollte: Gästeliste, Tischkarten, die Farbe der Torte und des Brautkleids – all diese köstlichen Nebensächlichkeiten, die den Reiz einer feierlichen Hochzeit ausmachten. Was die meisten dieser Dinge betraf, so war sie dazu absolut nicht auf Pauls Meinung oder Entschlüsse angewiesen, aber sie wollte ihm das Gefühl vermitteln, er trüge mehr zu der Hochzeit bei als den Körper, den er vor den Altar stellen würde. Als sie fertig war, ging sie das Ganze noch einmal von hinten durch, aber ihre Nervosität wuchs ständig und erreichte schließlich den Höhepunkt, als die Dekontaminationskammer mit leisem Sirren die Gangway ausfuhr und sich die Ausstiegstür öffnete.
Die Reihenfolge der kleinen Prozession, die jetzt über die Gangway in die Wartehalle hinunter defilierte, richtete sich streng nach der Navy-Etikette. Der erste in der Reihe der Schiffsoffiziere war Kapitän Barron, der sichtlich Schwierigkeiten hatte, den plötzlichen Übergang vom Zustand der Schwerelosigkeit in die Erdgravitation mit dem Gebot militärischer Haltung in Einklang zu bringen. Der etwas tolpatschig anmutende Schritt, mit dem er auf den Lift zustrebte, erinnerte Freda ein wenig an einen Stelzengeher. Taumelnd, hoppelnd, schlitternd und staksend folgte ihm die restliche Schiffsbesatzung. Ein jeder war von der Sonne Floras herrlich gebräunt. Als nächstes kamen die Wissenschaftler, angeführt von Doktor Hector, dem wissenschaftlichen Leiter von Projekt Able, dessen hagere Gestalt bedenklich ins Schlingern kam, als er Freda zur Begrüßung zuwinkte. Dahinter kamen die übrigen Wissenschaftler, ausnahmslos Abteilungsleiter. Paul Theaston war nicht dabei. Paul Theaston, ihr Verlobter, war nicht von Flora zurückgekehrt! Ihr war sofort klar, daß er mit der Abteilung Baker dageblieben war; aber ihre Freunde und Bekannten hatten ihr alle freundlich lächelnd zugewinkt – passiert war ihm also nichts. Ihre Nervosität machte einem Gefühl tiefer Enttäuschung Platz. Kein Zweifel: Da er der einzige Morphologe des Projekts war, hatte er es nicht geschafft, seine selbstgesteckten Ziele innerhalb der vier Monate, die für das Projekt Able vorgesehen waren, zu erreichen. Das bedeutete, daß er erst ein paar Tage vor dem Hochzeitstermin zurückkommen würde. Und das wiederum hieß, daß ihr sämtliche Hochzeitsvorbereitungen und Laufereien zufielen – und damit doppelt soviel Zeit in Anspruch nehmen würden, wie sie eigentlich dafür eingeplant hatte. Somit war ihr anstehendes Vorhaben, nämlich marsianische Flechte mit
irdischem Moos zu kreuzen, erst einmal in weite Ferne gerückt. Sie blieb noch eine Weile stehen und sah zu, wie der sich über die Gangway wälzende Menschenstrom sich mit der unten wartenden Menge zu einer wimmelnden Flut von Leibern und Gliedmaßen vermengte, die sich rasch in kleinere Strudel aus »Huhu, Pappi!« und »Schau Liebling, was ich dir mitgebracht habe« auflöste. Mit einem Ohr glaubte sie förmlich hören zu können, wie Zungen sich schlürfend vereinigten und Lippen sich schmatzend voneinander lösten. Während sie – hin und her gerissen zwischen Ekel und Neid – wie gebannt auf das Wiedersehensspektakel starrte, sah sie plötzlich, wie Hal Polino, Pauls Assistent, sich aus der Menge löste und auf sie zukam, wobei er die beiden Tontöpfe, die er in den Händen hielt, mit oberkellnerhaft tänzerischem Geschick an den rudernden Armen der Menge fachmännisch vorbeibalancierte. Jeder der beiden Töpfe enthielt, wie sie jetzt sah, eine in voller Blüte stehende Tulpe. Gleich darauf stand er grinsend vor ihr. »Machen Sie nicht so ein Gesicht, Doktor Caron! Paul schickt mich als seinen Ersatzmann.« »Wenn Sie Spaß an öffentlichen Vorstellungen haben«, zischte sie ihn an, »dann schauen Sie besser hinter sich! Wo ist Paul?« »Der glückliche Schlawiner hat eine Verlängerung für Abteilung Baker durchgekriegt, um seine Studien über die Orchideenbefruchtung abschließen zu können.« Polino bemerkte jetzt ihre Enttäuschung, und sein Grinsen verwandelte sich in mitfühlendes Lächeln. »Nun, jedenfalls hat er Ihnen das hier mitgeschickt, ein Geschenk aus dem Märchenland für die schönste Pflanzenbiologin der Erde. Das sind übrigens seine Worte, nicht meine. Eine Botschaft von Paul finden Sie auf den Namensschildchen.«
Freda warf einen Blick auf die Blumen, die Polino im Arm hielt. Ihre Stengel waren etwa dreißig Zentimeter lang. Sie waren viel grüner als die Stengel irdischer Tulpen. Die Blüten waren von einem irisierenden Gelb. Zehn Zentimeter unterhalb der Fruchtblätter befand sich eine knollenartige Verdickung, die ringsum mit kleinen Kannelierungen gezackt war. Auf kleine Kärtchen, die er in den Lehm der Töpfe gesteckt hatte, hatte Paul geschrieben »Tulipa Caronus Sireni«. »Wenn Paul glaubt, er kann mich besänftigen, indem er eine Tulpe nach mir benennt, dann tut er besser daran, sich seinen Antrag noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.« »Das sind keine gewöhnlichen Tulpen, Doktor Caron. Hier, hören Sie mal genau hin.« Polino beugte kurz den Kopf und pfiff einen vollendeten Papagallo-Triller gegen die knollenartige Verdickung der Tulpe in seinem rechten Arm. Dann hielt er den Topf von sich, wirbelte einmal auf dem Absatz herum und hielt ihn ihr ans Ohr. Ganz leise, doch eindeutig erkennbar, gab die Tulpe eine naturgetreue Kopie von Polinos Pfiff von sich. Das Ganze wirkte in seiner Anzüglichkeit so realistisch und zugleich komisch, daß Freda unwillkürlich lachen mußte. »Der Fruchtknoten ist eine Luftkammer mit plastischem Gedächtnis«, erläuterte Polino, »deshalb hat Paul ihr die Bezeichnung ›Sirene‹ gegeben.« Freda nahm eine der Tulpen an sich und sah in die Blüte hinein. Es war eine männliche, sie hatte nur Staubgefäße, aber keine Narbe. »Diese Pflanze ist heterosexuell«, sagte sie. »Ganz recht«, bestätigte Polino. »Die weibliche trage ich hier an meinem Herzen.« Verblüfft betrachtete Freda die weibliche Tulpe. Sie hatte eine rudimentäre Narbe an der Lippe des Eileiters, aber keinen Staubfaden. Für sie war die Luftkammer nichts weiter als ein überflüssiges Relikt. Die beiden Pflanzen, die sie da vor sich
hatte, hatten sich auf eine Stufe der Heterosexualität entwickelt, mit der sie ihren irdischen Vettern um Äonen voraus waren. »Fahren Sie mit uns zur Basis zurück?« fragte Polino. »Nein. Paul und ich hatten eine Verabredung zum Lunch mit dem Kommodore, und ich habe die Absicht, sie einzuhalten.« »Ich habe in meinem Gepäck ein kleines Päckchen von Paul. Es ist für Sie. Ein Brief ist auch dabei. Paul hat mich gebeten, es bis nach dem Briefing bei mir zu behalten. Er will, daß Sie erst zum Briefing gehen. Außerdem hat er mir zwanzig Dollar gegeben, mit denen ich Sie heute abend zum Dinner einladen soll. Und noch etwas: Der Brief, den er Ihnen geschrieben hat, hat ein Postskriptum, und das soll ich Ihnen mündlich überbringen; Paul befürchtet nämlich, Sie könnten, wenn Sie den Brief unvorbereitet lesen, am Ende glauben, er wäre ausgeflippt.« »Wir sprechen darüber nach dem Briefing«, erwiderte Freda ein wenig unwirsch. »Sie bringen inzwischen die weibliche Tulpe in mein Büro in Treibhaus 5 und hängen sie dort auf. Die männliche werde ich selbst mitnehmen.« Das letzte war der Befehl eines Vorgesetzten an einen Untergebenen, den Polino auch als solchen erkannte. »Wie Sie wünschen, Doktor Caron«, erwiderte er, drehte sich um und ging zum Busbahnsteig. Es hatte sie wütend gemacht, daß Paul sich anmaßte, ihr den Befehl zu erteilen, mit einem kleinen Assistenten essen zu gehen, zumal dieser auch noch Ausdrücke gebrauchte wie »ausgeflippt« und die Frechheit besaß, seinen Vorgesetzten einen »glücklichen Schlawiner« zu nennen. Andererseits war sie wütend auf sich selbst, weil sie den Studenten so barsch hatte abblitzen lassen. Als sie auf den Lift zuging, spürte sie einen Anflug von Reue, den sie sogleich als weibliche Schwäche erkannte. Als Polino sich umgedreht hatte, hatten
seine traurigen braunen Augen sie plötzlich an den Cockerspaniel ihrer Kindheit erinnert. Er war sehr früh gestorben. Als sie im Lift angelangt war, legte sich ihr Ärger wieder, was teilweise an dem Geschenk lag, das Paul ihr geschickt hatte. Die Tulpe war wirklich wunderschön, und wenn sie Pauls Verhalten einmal nüchtern und ohne Groll beurteilte, mußte sie zugeben, daß er klug gehandelt hatte, wenn er sie von Polino zum Essen ausführen ließ. Mit zwanzig Dollar in der Tasche würde der Student gezwungen sein, sie in eines der obskuren Restaurants im Italienerviertel von Fresno zu führen, wo die Wahrscheinlichkeit, daß man sie zusammen sah, gering war. Wie Paul sehr wohl wußte, sah Doktor Gaynor, der Leiter des Amtes für Exotische Pflanzen, es gar nicht gern, wenn Mitglieder des Managements mit unteren Chargen fraternisierten, selbst wenn es sich dabei um Doktoranden handelte, die der Abteilung unterstellt waren. Und noch weniger gern würde Dr. Gaynor sehen, daß ein weiblicher Abteilungsleiter mit Hal Polino essen ging. Hal Polino war hübsch, und er war Italiener. Seine größten Minuspunkte waren sein Mangel an Methodik, seine Respektlosigkeit gegenüber Autoritätspersonen und seine etwas seltsamen Steckenpferde, insbesondere sein Interesse für Folklore des zwanzigsten Jahrhunderts. Er schwärmte für dissonante Gitarrenmusik, ein Gebiet, in dem er sich übrigens auch selbst betätigte; trug beim Autofahren eine karierte Schlägermütze, und auf seinem Bücherregal ständen, wie Paul ihr einmal erzählt hatte, statt wissenschaftlicher Publikationen hauptsächlich die philosophischen Werke von Ayn Rand, William James und Hugh Hefner. In ihrer offiziellen Funktion als Verwaltungsdirektorin der Zytologischen Abteilung des Amtes für Exotische Pflanzen, einer Unterabteilung des Landwirtschaftsministeriums, oblag Freda nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die disziplinarische
Beurteilung ihrer Mitarbeiter. Und ihr Urteil über Hal Polino war in beiden Funktionen identisch, trotz Pauls offensichtlicher Hochachtung vor dem Burschen. Mit Sicherheit würde Hal Polino nie ein höherer Beamter werden; sie zweifelte sogar stark daran, daß er jemals ein Namensschildchen an seinem Schreibtisch haben würde. Als sie aus dem Lift trat und quer durch den Rundbau auf die Offiziersmesse zuschlenderte, kam ihr plötzlich der Gedanke, daß Paul seinem Assistenten eine persönliche Botschaft an sie anvertraut haben sollte, so verdächtig und unwahrscheinlich vor, daß sie anfing, ein Komplott dahinter zu vermuten. Möglicherweise hatte sich Hal Polino die ganze Strategie nur ausgedacht, um sie zu einem Rendezvous herumzukriegen, um damit seinen Ruf als Casanova bei seinen Kommilitonen zu festigen. Jedenfalls fand sie, daß dieser Gedanke eine tiefergehende Analyse wert war. Als sie in den Korridor einbog, der zur Offiziersmesse führte, kam ihr ein Matrose entgegen, der sie ungeniert von oben bis unten musterte. Als der Luftzug, den der Matrose beim Vorübergehen in dem engen Korridor verursachte, die Luftkammer der Tulpe berührte, stieß die Pflanze einen leisen, aber deutlich hörbaren Pfiff aus. Es war, wie schon beim ersten Mal, eine naturgetreue Kopie von Polinos Papagallotriller. Freda hörte, wie der Matrose hinter ihr stehenblieb, spürte, wie er sich umdrehte, und dann hörte sie ihn deutlich vernehmbar murmeln: »Bei den Flammen des Orion!« Freda war froh, daß der Matrose nicht sehen konnte, wie sich ein breites Grinsen über ihr Gesicht legte. Bestimmt hätte er dies als weitergehende Aufforderung mißverstanden. Wenn sich die Sache erst einmal herumgesprochen hätte, hätte sie in der Zukunft alle Hände voll damit zu tun gehabt, aufdringliche Matrosen abzuwimmeln.
Kommodore Minor drückte ihr sein Mitgefühl darüber aus, daß Paul nicht mitgekommen war. Die Geschichte mit der Tulpe und dem Matrosen amüsierte ihn köstlich. Kapitän Barron, der ebenfalls an ihrem Tisch Platz genommen hatte, machte dagegen einen reichlich deprimierten Eindruck. Zwei seiner Matrosen waren ihm auf Flora von der Fahne gegangen. »Beides Zehnender mit Familie«, erläuterte er bekümmert. »Von denen hätten wir so was ganz bestimmt nicht erwartet; wenn schon, dann höchstens von ein paar Neulingen, die sich an den Navy-Psychologen vorbeigemogelt haben und sich bloß deshalb eingetragen haben, weil sie eine günstige Gelegenheit witterten, von der Erde zu verschwinden.« »Dazu bedarf es wohl eines ziemlich hohen IQ, kann ich mir vorstellen«, sagte Freda. »Die meisten Deserteure«, erklärte Kapitän Barron, »sind hochintelligente Burschen, die einfach nicht über die Ellenbogen verfügen, die man braucht, wenn man sich in einer hochtechnisierten Gesellschaft wie der unseligen durchsetzen will.« Kommodore Minor pfiff die ersten vier Töne von »My Bonnie is over the Ocean« in die Luftkammer der Tulpe und fächelte ihr dabei mit der Hand kühle Luft zu. Sofort antwortete die Tulpe mit exakt derselben Melodie. »Versuchen Sie’s noch mal, Kommodore«, rief Kapitän Barron. »Ich singe die zweite Stimme.« Mit der Tulpe im Chor zu pfeifen, munterte den Kapitän wieder ein wenig auf, aber die Sache mit den beiden Deserteuren lag ihm immer noch im Magen. »Im Grunde kann ich den Jungs keinen Vorwurf machen. Wir haben auf der Erde völlig verlernt, was Stille ist. Es ist etwas Wunderbares, wenn man nichts außer dem Seufzen des Windes in den Baumwipfeln hört, oder nachts in den Himmel schauen und die Sterne sehen kann; aber jetzt muß ich ein Such-und-Fang-Kommando für die Abteilung Charlie organisieren. Das ist alles andere als einfach. Hitzedetektoren
können wir von vornherein außer acht lassen. Die Bäume dort oben strahlen soviel Körperwärme aus wie Säugetiere. Selbst Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die auf die Charaktereigenschaften der Deserteure abgestimmt sind, fallen flach. Einer von den Burschen war nämlich Hauptcomputermaat, und so wußte er natürlich genau, wie das Gehirn funktioniert, und hat es dementsprechend manipuliert.« »Haben Sie schon einmal daran gedacht, Bluthunde einzusetzen?« fragte Freda. »Freda, das ist der erste brauchbare Vorschlag, den ich höre!« »Sie hat auch einen beeindruckenden IQ«, bestätigte der Kommodore lächelnd. »Was mich am meisten ärgert«, fuhr Kapitän Barron fort, »ist die Tatsache, daß dieser Verstoß gegen die militärische Disziplin nach sich zieht, daß man den Planeten Flora zum Sperrgebiet erklären wird. Und ich hatte mir vorgenommen, ihn als Pensionärsrefugium und Erholungsgebiet für die Navy vorzuschlagen.« »Falls Paul Theaston auch gegen die Disziplin verstoßen sollte, Freda, dann bewerbe ich mich bei Ihnen als sein Nachfolger«, sagte der Kommodore schmunzelnd. »Na, so anziehend ist Flora nun auch wieder nicht«, warf der Kapitän grinsend ein. Freda fühlte sich durch die galante Neckerei der beiden geschmeichelt, aber sie fühlte sich bemüßigt, das Gespräch wieder in etwas seichtere Bahnen zu lenken. »Meine Herren«, begann sie, wieder ganz höhere Verwaltungskraft, »wir Wissenschaftler haben eine andere Art von Disziplin als ihr Militärs. Für uns ist Flora lediglich ein Objekt, kein Subjekt. Wir stehen dem Planeten genauso indifferent gegenüber wie, sagen wir, ein Chirurg, der den Körper einer schönen Frau operiert.«
»Nun, liebe Freda«, erwiderte der Kommodore, »ich bin sicher, daß Paul bestimmt nicht erst Ihr Profil in einen Computer gegeben hat, bevor er Ihnen einen Heiratsantrag gemacht hat. Also steht er auch mit Sicherheit optischen Reizen nicht gleichgültig gegenüber. Ein weiterer Beweis für meine Vermutung, daß er sehr wohl einen Sinn für Schönheit hat, ist die Tatsache, daß er, als er Ihnen die Blume schickte, genau darauf achtete, daß sie in voller Blüte steht, wenn sie bei Ihnen ankommt.« Das Alter hatte die Auffassungsgabe des Kommodore offenbar nicht beeinträchtigt. Freda ärgerte sich, daß sie Pauls Überlegungen nicht selbst sofort durchschaut hatte. Auch sie war sicher, daß er ihr Profil nicht einem Computer eingespeist hatte. Sie hatte ihres ja auch nicht mit seinem verglichen. Sie hatte aber etwas anderes getan: Sie hatte heimlich das Profil Pauls mit dem eines anderen verglichen – und die verblüffende Ähnlichkeit, die dabei herausgekommen war, hatte den letzten Anstoß zu ihrem Jawort gegeben. Mit Erleichterung vernahm sie Kapitän Barrons Einwurf: »Aber die Blumen auf Flora stehen immer in voller Blüte, Kommodore.« Als sie dieses Gefühl der Erleichterung analysierte, ging ihr durch den Kopf, daß die Reue ein naher Verwandter der Furcht ist, und daß Furcht und Zweifel ein enges Gespann bilden. Irgendwie stellten Kapitän Barrons Worte ihren Glauben an Pauls Unempfindlichkeit wieder her, die – daher ihre Erleichterung – der sichere Garant dafür war, daß er niemals auf die Idee kommen würde, die Erde zugunsten des Planeten Flora im Stich zu lassen. Nachdem Dr. Gaynor in seiner offiziellen Funktion als Amtsleiter die Teilnehmer des Briefings willkommen geheißen und Doktor Hector mit der Vorführung der Filme, die die Expedition auf Flora gedreht hatte, begonnen hatte, dachte Freda noch immer an Kapitän Barrons letzte Bemerkung.
Wenn die Pflanzen auf Flora immer in voller Blüte standen, wurden sie dann auch befruchtet, wenn sie noch keimten? Die Befruchtung von Pflanzen geschah nach einer bestimmten Logik. Und dauerndes Blühen wich von dieser Logik so total ab wie das Fortpflanzungsverhalten von Menschen von der Logik der Arterhaltungsmuster anderer Tiere. Sie mußte sich regelrecht dazu zwingen, sich auf Dr. Hectors Stimme zu konzentrieren. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Jedesmal, wenn eine neue Szene über die Leinwand flimmerte, erhob sich ein lautes »Oh« und »Ah« aus den Reihen der Anwesenden. Hinzu kam, daß die Art und Weise, in der der Film gedreht war, einen eher hektisch machte, als daß sie die Konzentration gefördert hätte. Die Farben waren aufgrund des auf Flora herrschenden Sonnenlichts oder der mangelnden Fähigkeiten des Kameramannes viel zu übertrieben. Freda vermutete, daß das letztere der Grund war. Der Kameramann lief regelrecht Amok. Erst vollführte er einen Schwenk über den gesamten Horizont, um die parkähnliche Landschaft zu zeigen, dann riß er die Kamera hoch, um eine in seinen Augen besonders eindrucksvolle Wolkenkonstellation einzufangen, dann schwenkte er das Objektiv auf eine Baumreihe, die irgendeinen rauschenden Wildbach säumte, und dann pickte er sich einen einzelnen Baumstamm heraus und holte ihn, noch dazu mit einer Geschwindigkeit, die einen schwindlig machte, so nah heran, daß man hätte glauben können, er leite ein Seminar über die Struktur von Baumrinde. Er zeigte die Blumen nicht in ihren Details, sondern komponierte gleichsam pittoreske Stilleben üppiger Blumenarrangements, indem er ein und dasselbe Beet gleich vier- oder fünfmal aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln aufnahm. Sein hektisches Hinund Herpendeln zwischen Panoramaschwenks und statischen Pausen war dazu angetan, einem Kopfschmerzen zu bereiten, und Freda nahm sich vor, bei der nächsten Dienstbesprechung
die Arbeit der Kameraleute zur Sprache zu bringen. Es war im Grunde nicht ihre Art, sich in die Belange anderer Abteilungen einzumischen, aber sie war der Ansicht, daß die Verwaltung sich einmal überlegen sollte, ob sie auch in Zukunft für wissenschaftliche Expeditionen Kameraleute einsetzen sollte, die offensichtlich ihr Handwerk in Untergrundfilmstudios erlernt hatten. Sie war jedoch zu taktvoll, um in diesem Moment das Verhalten des Mannes, der sie am meisten verwirrte und befremdete, zur Sprache zu bringen – nämlich Dr. Hector selbst. Im Hörsaal pflegte er normalerweise mit der Geschwindigkeit eines Schnellfeuergewehrs eine solche Fülle von Daten und präzisen Informationen auf seine Studenten loszulassen, daß Freda, die noch bei ihm studiert hatte, damals eigens einen Stenographielehrgang mitgemacht hatte, um bloß jedes seiner Worte mitzubekommen. Doch jetzt waren seine Bemerkungen und Erläuterungen so leidenschaftlich und irrelevant wie die eines verliebten Gockels. Handfeste Informationen waren in seinem poetischen Liebesgesäusel so dünn gesät, daß sie sich dankbar auf jeden Fakt stürzte, mit dem sie etwas anfangen konnte. Ein Fakt folgte derart unvermittelt seinem langatmigen Lobgesang über die herrlichen Bademöglichkeiten in den Flüssen Floras, daß Freda ihn fast übersehen hätte. Um so heftiger war seine Wirkung auf sie, als er ihr in seiner vollen Tragweite zu Bewußtsein kam. »… gleichsam schwebend durch grüne Tunnel zu gleiten, durch unendliche Alleen grauer, mächtiger Stämme, die gleichwohl in ihrer grazilen Anmut an die Säulengänge griechischer Tempel erinnern, erweckt in einem wieder die Erinnerung an die Unschuld der Kindheit, ein Hochgefühl, das in seiner Augenblicklichkeit und Vergänglichkeit noch verstärkt wird durch die Erinnerung an die Düsternis all der Jahre, die seither vergangen sind. Und all das genießt man
ohne die Furcht, daß einem eine Biene in den nackten Hintern sticht. Es gibt nämlich keine Insekten auf Flora.« Diese Bemerkung traf sie wie ein Keulenschlag. Wenn es keine Insekten gab, wozu gab es dann überhaupt Blüten? Welchen Sinn hatte ein visueller Reiz auf Befruchter, die gar nicht existierten? Natürlich würde sie in den kommenden Wochen nähere Einzelheiten dazu in den Seminaren der Spezialisten erfahren, aber sie hätte gern jetzt schon, nach dem Briefing, ein paar genauere Anhaltspunkte gehabt, um präzise Fragen formulieren zu können. Hector konnte einen mit seinem Schwulst wirklich zur Verzweiflung bringen! Er lieferte nicht einmal den Ansatz irgendeiner plausiblen Erklärung. Zweifelsohne waren die Blüten visuelle Reize, aber für wen, wenn es keine Insekten gab? Offenbar für die Teilnehmer am Projekt Able, dachte sie wütend und traurig zugleich, da sie sie zu solchen poetischen und cineastischen Höhenflügen inspiriert hatten. Flora schien ja eine gehörige Portion SexAppeal zu haben. »Eine perfekt ausbalancierte Pflanzenökologie«, hörte sie Hector gerade sagen, »absolut keine Bedrohung für menschliches Leben. Selbst die Gefahr, hinzufallen und sich ein Bein zu brechen, ist so gut wie ausgeschlossen; der Erdboden ist dafür zu elastisch. Verhungern kann man auch nicht: die Beeren, Früchte und Nüsse sind ganzjährig reif. Die Säurehaltigkeit des Grases beschleunigt den Fäulnisprozeß, so daß die Wiesen Floras niemals durch die Überreste abgestorbener Pflanzen verunreinigt sind. Da die Achse des Planeten nur sehr leicht geneigt ist, ist das Klima konstant, und in den gemäßigten Zonen braucht man keine Kleider zu tragen. Es gibt keine Raubtiere, ja es gibt überhaupt keine Tiere, außer in dem kleinen tropischen Gebiet – einer Insel –, dem wir den Namen Tropica gegeben haben. Und dort werden wir jetzt unserem Kollegen Paul Theaston einen Besuch abstatten.«
Freda war froh, dem Basislager und der blumigen Poesie endlich entfliehen und sich auf die wissenschaftlich fundierten Erläuterungen ihres Verlobten konzentrieren zu können. Paul würde ihr handfeste Fakten liefern, das wußte sie. Nicht umsonst hatte sie ihm den Kosenamen »Prinz Pragmatikus« gegeben. Zunächst jedoch wurde sie erneut auf die Folter gespannt, denn der Helikopterflug nach Tropica entpuppte sich recht bald als neuer Höhepunkt kinematographischer Gestaltungskunst. Das Auftauchen der Insel am Horizont bildete den Auftakt für nicht endenwollende, schwelgerische Impressionen über den schneebedeckten, wolkenumhüllten Gipfel, der gut fünfeinhalbtausend Meter über die Insel hinausragte. Dazu erläuterte der Geologe von Projekt Able mit geradezu vor Ehrfurcht und schwärmerischer Andacht zitternder Stimme die Entstehung der terrassenartigen Formation des Bergmassivs, das die Insel bildete: Ein Korallenriff hatte sich rings um einen Vulkan gebildet, und im Verlaufe von Jahrtausenden waren durch immer neue Bodenerhebungen weitere Korallenriffe entstanden, die sich schließlich zu einem siebenstöckigen Berg aufgeschichtet hatten. Die einzelnen Schichten stützten jetzt den ursprünglichen Kegel, der achttausend Fuß über das oberste Plateau hinausragte. Freda konnte es nicht leugnen: Tropica war eine überaus imposante und farbenprächtige Insel. Mit ihren rosafarbenen, gründurchwirkten Korallenböschungen und den weißen Häubchen lag sie auf dem blauen Meer wie eine riesige Hochzeitstorte. Endlich wußte sie, wie ihre Hochzeitstorte aussehen würde! Wie sie nicht anders erwartet hatte, überließ Paul den größten Teil seiner Erläuterungen der Kamera. Die Tulpen wuchsen auf der untersten Terrasse. Paul hatte eine automatische, auf akustische und motorische Signale reagierende Kamera installiert, die die Entwicklung einer weiblichen Tulpe von der Befruchtung über das Keimen bis
zur Reifung des Samens im Zeitraffer vorführte. Die einzige einleitende Bemerkung, die er – abgesehen von ein paar rein sachlichen Informationen – dazu machte, war: »Was Sie jetzt sehen, ist das erstaunlichste Beispiel einer Symbiose zwischen Pflanze und Tier, das ich je erlebt habe.« Und selbst das war noch eine Untertreibung. Als das Tonaufnahmegerät der Kamera das Flöten, Seufzen und Glucksen wiedergab, das die Tulpe im Normalzustand von sich gab, erklärte Paul: »Sobald der Samenleiter mit Nektar verstopft wird, ändert sich die Frequenz der Töne.« Freda lauschte gebannt den seltsamen Lauten. Ihr fiel auf, daß Paul die Farbe der Tulpen bewußt unterbelichtet hatte, um zu vermeiden, daß der Betrachter vom eigentlichen Prozeß abgelenkt wurde. Jetzt hörte sie deutlich, wie die Töne sich veränderten. Sie wurden höher und melodischer, während die tieferen Töne an Stärke zunahmen. Das leise Seufzen der Tulpe steigerte sich jetzt allmählich zu einem betörenden Trillern. Die zarten Lockrufe der Pflanze nahmen einen solch bezaubernden Klang an, daß Freda unwillkürlich die Hand ans Ohr legte, sie zu einem Schalltrichter formte und sich vorbeugte, aus Angst, sie könne auch nur einen Ton verpassen. Doch im gleichen Moment stieß irgendein tölpelhafter Matrose einen zotigen Pfiff aus, und das unvermeidliche Gelächter seiner Kumpane zerstörte den Zauber. Doch ihr Ärger verflüchtigte sich augenblicklich, als ein kleines Pelztier ins Bild gehoppelt kam, ein putziges, in seiner plumpen Tapsigkeit äußerst drollig wirkendes spitzmausähnliches Wesen, dessen große, unschuldig in die Welt blickende Augen sie an einen Koalabär erinnerten. »Ich habe es ›Koala-Spitzmaus‹ getauft«, kommentierte Paul, während sich das Tier, daß kaum größer war als ein Kätzchen (aber weitaus possierlicher) auf die Hinterbeine setzte und mit
zitternden Vorderpfötchen aufgeregt dem Gesang der Tulpe lauschte. Jetzt berührte ein Windhauch die Luftkammer der Pflanze. Sie reagierte sofort mit einem betörenden Triller. Ein unbeschreibliches Drängen und Locken lag in ihrem Gesang. Erst zögernd, doch gleich darauf so geschwind, daß es sich fast überkugelte, huschte das kleine Tier an die Quelle des Geräusches. Mit einer flinken, geschickten, gleichzeitig in ihrer Behutsamkeit fast zärtlich anmutenden Bewegung griffen die winzigen Vorderpfötchen nach dem Tulpenstengel und bogen die Blüte tief nach unten. Das Gesicht des Tierchens schmiegte sich ganz dicht an die in immer zarteren Tönen werbende Blume. Plötzlich schoß die kleine rote, an der Spitze gespaltene Zunge wie ein Blitz aus seinem winzigen Maul und glitt behende in den weit geöffneten Blütenkelch hinein. Als Paul die Szene zurückspulte und den Moment der Befruchtung in Zeitlupe wiederholte, wandte Freda den Blick von der Leinwand ab. Irgendwie hatte sie das Gefühl, soeben einer Entweihung beigewohnt zu haben. Die Gesichter in der Dunkelheit um sie herum bestärkten die Empfindung noch. Die Anwesenden starrten mit weit aufgerissenen, geil flackernden Augen auf die Leinwand, wie eine Horde von Voyeuren in einer Peep-Show. Als nächstes konnte man sehen, wie die Samen reiften und schließlich in hohem Bogen aus dem Fruchtknoten herausgeschleudert wurden. Sie flogen teilweise bis zu zwölf Meter weit, wie Paul versicherte. »Sie müssen mit einer Wucht auftreffen, die groß genug ist, um sie in den weichen Boden eindringen zu lassen«, fügte er erklärend hinzu, »sonst werden sie von der Grassäure zerstört.« Freda war froh, daß sie jetzt in die höhergelegenen Terrassen kamen, wo die Orchideen wuchsen. Manche von ihnen waren bis zu zweieinhalb Meter hoch. Die schweren, gerade gewachsenen Stengel wiesen zwar nicht die Charakteristika ihrer irdischen Vettern auf, aber die
Blütenblätter und tentakelartigen Zweige waren eindeutig und unverkennbar die von Orchideen. Anfangs war Pauls Vortrag über die Orchideen schlicht, sachlich und ohne die begeisterte Verbrämung, die Dr. Hectors Vortrag ausgezeichnet hatte, aber dann wartete auch er mit einer Beobachtung auf, die prompt das verständnisinnige Gekicher einiger Anwesender hervorrief. Er hätte die Grenzen des Anstands um ein Haar überschritten. »Es handelt sich hier um eine Pflanzengesellschaft mit absoluter Geschlechtertrennung. Das weibliche Wurzelsystem beansprucht einen Wachstumsradius von mindestens einhundertzwanzig Zentimetern, vom Stengel aus gemessen, was zur Folge hat, daß die ›Männchen‹ quasi auf Distanz gehalten werden und sich mit den weniger angenehmen Wachstumszonen begnügen müssen. Das gabelförmige Wurzelsystem der Männchen benötigt weniger Platz zum Wachsen, und eine genaue Untersuchung des Systems fördert röhrenförmige Anhängsel zutage, was beweist, daß die alten Griechen wissenschaftlichen Scharfsinn an den Tag legten, als sie diese Pflanze ›Orchis‹, also ›Hoden‹ nannten.« Die nächste Szene zeigte Paul inmitten eines Hains weiblicher Orchideen. Als er die Ranken beiseite schob, sah man, daß die Pflanzenstengel in etwa einem Drittel ihrer Gesamthöhe – vom Boden aus gemessen – hüftartige Schwellungen aufwiesen. »Wie schon Boyle sagte: Es ist für einen Orchidologen schwer, der Versuchung zu widerstehen, Orchideen mit dem Tierreich zu vergleichen. Der Vergleich drängt sich geradezu auf. Was Sie hier sehen, ist eine Samenhülse, aber die Zellreifung an diesem Teil des Stengels weist eindeutig auf Muskelgewebe hin. In der Hülse reift immer nur ein einziges Samenkorn heran, und seine Geburt vollzieht sich sozusagen durch Kaiserschnitt.
Leider ist mir noch nicht gelungen, herauszufinden, auf welche Weise die Befruchtung vonstatten geht. Auf dem Festland sind samenfressende Vögel und der Wind für diese Aufgabe zuständig.« (Aha, da haben wir ja die Antwort, schoß es Freda durch den Kopf.) »Auf Tropica jedoch meiden die Vögel die Nähe der Orchideen, und Windbestäubung scheidet bei Pollennektar als Möglichkeit der Befruchtung ebenfalls aus. Ich verlängere daher meinen Forschungsaufenthalt auf Flora, damit ich genau feststellen kann, wie die Befruchtung der Orchideen funktioniert. Ich habe dieser Spezies den Namen ›Hüftorchidee‹ gegeben, aber die ›Hüften‹ sind nicht der einzige bezaubernde Aspekt dieser herrlichen Blumen. Sobald die ›Weibchen‹ zur Befruchtung bereit sind, verursacht der Pollennektar bei ihnen ein erstaunliches, gleichwohl entzückendes, Phänomen: Sie senken den Kopf und erröten vor Scham. Achten Sie mal auf Sally.« Er langte ein Stück nach oben und zog die Blüte einer wunderschönen Orchidee bis zur Höhe seines Kopfes zu sich herab. Als er sie anschaute, verwandelte sich ihr perlmuttartiger Schimmer ganz langsam in ein zartes Rosa. Als die Lichter im Saal wieder angingen, erhob sich spontaner, von »Ohs«, und »Ahs« begleiteter Beifall aus den Reihen der Zuschauer. Freda erhob sich und ging verwirrt und nachdenklich zum Ausgang. Paul hatte den Stengel und die Blüte der Blume nicht nur einfach so angefaßt, um sie zu sich herabzuziehen. Sie hatte genau beobachtet, wie seine Hand den Stengel geradezu liebkosend gestreichelt hatte. Als er die Blüte an sich gezogen hatte, hatte sich ihr unwillkürlich der Vergleich mit einem Mann aufgedrängt, der den Kopf seiner Geliebten zärtlich an seine Schulter drückte. Geistesabwesend zwang Freda sich zu einem Lächeln, als sie Hal Polino mit einem Briefumschlag in der Hand auf sich zukommen sah. »Hier sind Pauls Aufzeichnungen über die Caron-Sirenentulpe und sein Liebesbrief. Wie ich schon sagte,
hat der Brief noch ein ausführliches Postskriptum, das ich Ihnen nach Pauls Wunsch aber mündlich übermitteln soll.« »Schießen Sie los.« »Paul wünscht, daß Sie zuerst den Brief lesen. Das Postskriptum ist der Grund, warum Paul uns beiden ein Dinner spendiert hat. Er möchte nicht, daß unser Gespräch von irgendwelchen Wanzenlegern mitgeschnitten wird.« »Dann kommen Sie nachher auf einen Sprung zu mir ins Gewächshaus. Und mit dem Geld machen Sie sich meinetwegen einen schönen Abend… Übrigens«, – fügte sie rasch hinzu, um nicht gar so abweisend zu erscheinen – »möchte ich mich bei Ihnen noch dafür bedanken, daß Sie so freundlich waren, die Tulpe aufzuhängen.« »Keine Ursache. Die Temperatur im Treibhaus ist für die Tulpen fast optimal, die Pflanzen sind also bestens aufgehoben… Aber, liebes Fräulein Doktor – kein Dinner, keine Botschaft.« Ihr Blick war jetzt nicht flehend, sondern eher keck. »Na schön, Sie Valentino der Studentinnen, aber lassen Sie sich durch das Gerücht, ich hätte einem vorbeigehenden Matrosen hinterhergepfiffen, nicht auf falsche Hoffnungen bringen. Es war nämlich das Tulpenweib, das da gepfiffen hat, nicht ich.« »So ein Mist aber auch!« rief Polino mit gespielter Wut und schlug sich die Hand vor die Stirn. »Ich hätte mir gleich denken können, daß es sich da mal wieder um eine maßlose Übertreibung gehandelt hat. Ich hätte wissen müssen, daß Galatea für menschliche Gelüste nicht zugänglich ist!« »Also, ich rechne um sieben mit Ihnen«, sagte sie lachend und ließ ihn wie einen begossenen Pudel stehen. Als sie über den Rasen zum Gewächshaus ging, wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie im Zusammenhang mit der Tulpe tatsächlich den Begriff »Weib« benutzt hatte. Offenbar fing die
Verrücktheit Floras jetzt auch schon an, sich auf sie zu übertragen. Irgend etwas an Hal Polino hatte bei ihr ein ganz leises Kribbeln in der Magengegend hervorgerufen. Bevor die Sache mit dem Pfiff zur Sprache gekommen war, hatte sein Gesichtsausdruck fast dem geähnelt, den Paul beim Anblick der Orchidee namens Sally aufgesetzt hatte. Paul hatte die Blüte nicht mit dem forschenden, kühlen Blick des Wissenschaftlers betrachtet, sondern sie mit den Augen eines liebeskranken Jünglings angehimmelt.
2
Pauls Brief an Freda war keineswegs der »Liebesbrief«, als den Hal Polino ihn angekündigt hatte, aber das hatte Freda auch gar nicht erwartet. Sie hätte sicherlich keinem Mann einen Heiratsantrag entlockt, der ein Sentimentalist ohne Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle war. Schon einmal hatte sie erlebt, wie eine Ehe durch zügellose Emotionalität, die ihren Ursprung in übertriebener Sinnlichkeit hatte, in die Brüche gegangen war. Den förmlichen Ton, in dem die einleitenden Worte von Pauls Brief gehalten waren, empfand sie durchaus als angenehm. Liebe Freda! Anbei findest Du meine Aufzeichnungen über die Tulipa Caronus Sireni. Nachdem Du mittlerweile beim Briefing warst und meinen Film über die Orchideen gesehen hast, wirst Du sicher die Gründe verstehen, die mich dazu bewogen haben, meinen Aufenthalt hier um eine zweite Dienstperiode zu verlängern. Du kennst jedoch nicht alle Gründe. Hal wird Dich ausführlich über unsere Hypothese X betreffs der Befruchtung der Orchideen auf Flora informieren. Hal selbst hat sie in einem seiner verrückten Momente formuliert, aber ich habe meine eigenen Gründe, sie für richtig zu halten. Ich wage es nicht, die Hypothese schriftlich zu fixieren. Sollte der Brief nämlich aus irgendeinem Grunde verlorengehen oder gestohlen werden, wäre sein Inhalt Beweis genug, mich als Dauerpatienten nach Houston einzuliefern. Hal Polino verfügt weder über die Buchhaltermentalität, die man für methodisch-wissenschaftliches Vorgehen braucht…
»Buchhaltermentalität!« So was hörte sie gern! Wenn das alles war, was die Fähigkeit zum exakten wissenschaftlichen Arbeiten, zum akkuraten Einschätzen und Einordnen wissenschaftlicher Daten und Fakten ausmachen sollte, dann war in der Tat jede Minute, die Dr. Freda Caron nicht am Kochtopf verbrachte, reine Zeitverschwendung. … noch besitzt er die Fähigkeit zum Analysieren oder das geniale Synthetisierungsvermögen einer Freda Caron, wenn es einmal erlaubt ist, daß ein »Frechling« wie ich sich ein Urteil über eine Königin erlaubt. Doch ist er, wenn seine Grillen ausnahmsweise einmal in die richtige Richtung gehen, durchaus in der Lage, verblüffende Ideen zu entwickeln und intelligente Schlüsse zu ziehen. Jetzt wurde ihr klar, was Paul meinte: Das bloße Anhäufen von Daten konnte langweilig sein, wenn man keine Richtung sah und kein klares Ziel vor Augen hatte. Okay, das konnte sie unterschreiben. Aber ihr mißfiel, daß Paul hier und da – wenn auch nur zum Spaß – in Hals Jargon verfiel, denn das deutete daraufhin, daß der Student einen zu großen – ihrer Meinung nach unheilvollen – Einfluß auf seinen Lehrer ausübte. Aber es gibt gewisse empirische Fakten, die Hypothese X erhärten: Zum einen wachsen die Ranken bei den Hüftorchideen paarweise, und zwar jeweils in entgegengesetzter Richtung vom Stengel, und zum anderen sind die Rankenblätter von der gleichen Zellstruktur wie die an den Hüften der Weibchen – also Muskelzellen. Außerdem sind sowohl die Stengel als auch die Ranken der Männchen viel dicker als die der Weibchen. Du siehst also, das Projekt braucht unbedingt die Mitarbeit eines Zytologen. Wenn Du unsere Hochzeit verschieben und mit der Abteilung Charlie
nach Flora kommen möchtest, gebe ich Dir hiermit meinen ausdrücklichen Segen… A propos Hochzeit: Falls Du in irgendeiner Form meinen Rat betreffs Planung, Gästeliste etc. benötigen solltest, dann füttere mein Profil in den Computer und laß Dir von ihm meine Entscheidung stellvertretend übermitteln. Aber zurück zu den Orchideen. Du hast inzwischen die Tulpen untersucht und wirst dabei festgestellt haben, daß sie ihren irdischen Artgenossen um Äonen in der Entwicklung voraus sind. Wohlgemerkt, die Schönheit der Tulpen ist lediglich ein Schatten im Vergleich mit der der Orchideen! Jede der Orchideen in dem Abschnitt des Hains, den ich mir für meine Studien ausgewählt habe, besitzt ihre eigene Persönlichkeit. Sie sind so schön, man muß sie einfach liebgewinnen. Manchmal streicht der Wind mir eine Ranke in einer bestimmten Weise über das Gesicht, und ich bin ganz gefesselt von dem Gedanken, daß sie mich vielleicht lieben könnten. Kein Zweifel! Hal Polino hatte Paul dazu angestiftet, außerhalb seines Gebietes zu lesen. Vielleicht sogar Gedichte oder so etwas. Aber dieser Gedanke ist natürlich rein intuitiv und entbehrt jedes wissenschaftlichen Beweises. Vögel meiden den Hain, und die Koala-Spitzmäuse, die ich inmitten der Orchideen ausgesetzt habe, rannten quietschend vor Angst weg und stürzten sich über den Terrassenrand in den Tod. Wahrscheinlich, ging es Freda durch den Kopf, hatten die Koala-Spitzmäuse versucht, dem ungeheuren Druck zu entkommen, der auf ihren Trommelfellen lastete. Daran konnte die für sie ungewohnte Höhenluft schuld sein.
Ich hatte die Koala-Spitzmäuse für ein Experiment benutzen wollen. Ich glaube nämlich, mit meiner leider nur begrenzten Laborausrüstung Hämoglobin im Saft der Orchideen entdeckt zu haben, und das läßt nur zwei Schlüsse zu: Entweder sind sie Fleischfresser… Es wäre ein leichtes, festzustellen, ob die Pflanzen tatsächlich Fleischfresser sind – füttere sie einfach mit radioaktivem Rindfleisch und weise das Hämoglobin nach. … oder sie sind in ihrer Evolution so weit vorangeschritten, daß sie teilweise Tiere sind. Wenn das letztere der Fall sein sollte, wäre das eine weitere Untermauerung der Hypothese X. Ich muß bekennen, daß in all diesen Dingen hier eine Logik liegt, die über das menschliche Vorstellungsvermögen hinausgeht. Eine Frage, die einem auf der Erde wie ein Sakrileg erscheint, geht einem hier auf Flora ganz leicht über die Lippen: Ist der Endzweck allen Lebens der Übermensch oder die Überpflanze? Es steht geschrieben »Gott handelt ohne Ansehen der Person«, aber er handelt gewiß nicht ohne Ansehen der Art. Freda lächelte traurig. Paul hatte in der Tat einen Abstecher in fremde Gefilde gemacht. Unser Heliologe sagt, die hiesige Sonne sei viel älter als die der Erde. Flora liegt bereits im Todeskampf. Wenn ich Evolution wäre und nach einer Lebensform suchte, die es mir am ehesten ermöglichte, die Kontraktionen und Explosionen des Universums zu überleben, würde ich ohne Zweifel das Samenkorn wählen. Übrigens, das Orchideensamenkorn, das ich Dir in dem Brief mitgeschickt habe, ist das einzige, dessen
ich habhaft werden konnte. Es ist schon teilweise von der Grassäure zerfressen. Sie war sich jetzt ganz sicher. Diese ganzen Spekulationen waren mit Sicherheit nicht auf Pauls Mist gewachsen. Sie paßten einfach nicht zu ihm. Diese Flausen hatte ihm Hal Polino in den Kopf gesetzt. Paul mußte von seinem Einfluß befreit werden. Auf der morgigen Konferenz würde sie anregen, daß man die Studenten zukünftig im Vierteljahresrhythmus rotieren ließ, um ihren akademischen Background zu verbreitern. Und das laufende Quartal war mit Ablauf der nächsten Woche zu Ende. Aber das große Geheimnis war und ist noch immer: Wie werden die Orchideen befruchtet? Manchmal glaube ich fast, sie verbergen ihre Geheimnisse mit Absicht vor mir. Wie auch immer die Hypothese X aussehen mag, dachte Freda, jedenfalls reicht das, was Paul bisher von sich gegeben hat, völlig aus, um ihn in Houston einzuliefern! Ich habe Netze über weibliche Exemplare geworfen, die in der Brunft waren… Aha, das war der Freudsche Versprecher, der jeden Zweifel endgültig ausräumte. Blumen in der Brunft! … mit dem Ergebnis, daß sie sämtlich zerrissen waren. Ich habe Netze für Nachtvögel gespannt und nichts gefangen. Ich habe Fallgruben errichtet, die groß genug waren, daß selbst Kühe hineingepaßt hätten, und auch hier war der Erfolg gleich Null. Ich konnte kein Tier in ihnen finden. Wer oder was auch immer die geheimnisvollen Befruchter sein mögen, sie müssen
über Sehorgane verfügen, denn die Orchideen sind von einer Schönheit, die das menschliche Wahrnehmungsvermögen schier übersteigt. Wer immer sie auch sein mögen, sie müssen über Geruchsorgane verfügen, denn die weiblichen Orchideen sondern einen derart betörenden Duft ab, daß er, wenn ich ihn auf Flaschen ziehen und zur Erde schaffen könnte, neun Monate später das ökologische Gleichgewicht der Erde durcheinanderbringen würde. Und sie müssen über Intelligenz verfügen. Ich bin hier in einem blühenden Garten – einem wahren Eden – und habe trotz der Ausrüstung einer technologisch hochentwickelten Zivilisation, die ich mitgebracht habe, diese Frage bisher nicht beantworten können. Wer sind die Befruchter von Eden? In Liebe Dein Paul Ein interessanter Brief. Doch nur zu deutlich konnte Freda sehen, daß zwischen den Zeilen von Pauls nüchternem, angelsächsischem Gekritzel die feine italienische Dichtkunst von Harold Polino hervorlugte. Sie legte den Brief beiseite und öffnete das kleine Päckchen mit dem Tulpensamen und dem sorgfältig eingewickelten, doch leider halb zerfressenen Samenkorn der Orchidee. Es sah aus wie eine schwarze Walnuß, aus der ein Stück Schale herausgebrochen war. Freda vermutete, daß das Samenkorn ursprünglich viel größer gewesen war – vom Umfang her mindestens so groß wie ein Tennisball – und eiförmig. Trotz der Verpackung roch sie deutlich, daß es einen leichten Vanilleduft absonderte, und sie erinnerte sich, daß Orchideensamen zur Gewinnung von Vanille verwendet wurde. Vielleicht, ging es ihr durch den Kopf, wäre eine Plantage floranischer Orchideen auf der Erde von kommerziellem Wert für einen Gewürzproduzenten. Sie legte das angefressene Samenkorn in den Kühlschrank und nahm sich Pauls Notizen über die Caron-Tulpe vor. Ein
Punkt erregte besonders ihre Neugier. »Pflanze die Samen in einem Abstand von fünfzehn Zentimetern zueinander ein, und sobald Du feststellen kannst, welches Geschlecht die einzelnen Tulpen haben, pflanze die männlichen so um, daß sie mindestens einen Meter Abstand voneinander haben. Offenbar entziehen ihre Wurzeln dem Boden irgendeinen wichtigen Nährstoff, denn wenn sie zu dicht beieinander stehen, verkümmern sie. Verteile sie gleichmäßig unter den Weibchen.« In dieser Hinsicht, fiel ihr auf, unterschieden sich die Tulpen von den Orchideen. Automatisch fing sie an, seine Daten in eine Kladde einzutragen. Während sie schrieb, nahm sie plötzlich bewußt die Geräusche ihrer Umgebung wahr – das Dröhnen eines Düsenflugzeugs, das ferne Brausen des Autoverkehrs, der sich über den Paso Robles Freeway wälzte, das Summen ihrer Klimaanlage. Sie mußte daran denken, wie begeistert Kapitän Barron von der himmlischen Rühe auf Flora geschwärmt hatte. Vielleicht war sein Gefühl Ausdruck des Freudschen Wunsches nach der Rückkehr in den Mutterleib, der sich ihrer Ansicht nach auf eine Fehlinterpretation Freuds gründete – die Fehlinterpretation eines Rasseninstinktes aus prähistorischer Zeit, nämlich des Drangs des Höhlenbewohners, immer wieder in den sicheren Schutz seiner Höhle zurückzukehren. Aber der Fortschritt fand nicht in Höhlen statt, sondern außerhalb, da, wo das Sonnenlicht war und die fremden, unbekannten Geräusche. Was sie, Freda, anbetraf, so liebte sie die Geräusche der Zivilisation. Für sie war der Lärm der Welt des angenehme Summen eines Dynamos, und sie war stolz, ein Teil dieser Maschinerie zu sein. Ein leiser Luftzug strich durch den Raum, und die weibliche Tulpe hinter ihr lachte. Freda lächelte, als sie daran dachte, wie die Tulpe am Raumhafen ihr Lachen imitiert hatte. Es war ein fröhliches Lachen, und sie schrieb in ihre Kladde: »Das plastische Erinnerungsvermögen
des weiblichen Exemplars überschreitet eine Dauer von fünf Stunden.« Sie schloß die Tür – die Temperatur fiel nach Sonnenuntergang immer sehr rasch ab in diesen Breitengraden – und ging hinüber zu ihrem Schreibtisch, um den Aufkleber für die neuangefangene Kladde zu beschriften. Sie tippte »Tulipa Caronus« und verharrte einen Moment unschlüssig: Im klassischen Sinne war die Sirene eine süße, liebliche Sängerin, aber im Laufe der Jahrhunderte hatte der Inhalt des Begriffes sich gründlich verändert. Sie war kein Vamp, der die Männer verrückt machte und in den Tod lockte; wenn sie sich aus freien Stücken entschlossen, an Frustration zu sterben, dann war sie gerne bereit, ihnen dabei hilfreich zur Hand zu gehen, aber der Entschluß lag ganz allein bei ihnen. Sie beschloß, den Zusatz »Sirene« wegzulassen. Paul war offensichtlich auf Flora ein bißchen schrullig geworden. Schuld daran war sicherlich in erster Linie Polino, aber der Planet hatte immerhin die passende Umgebung geliefert. Als sie den Aufkleber auf die Kladde pappte, dankte sie im stillen der Raumfahrtbehörde dafür, daß sie niemals mehr als zwei aufeinanderfolgende Dienstperioden auf einem nichtklassifizierten Planeten zuließ. Aber sie wäre auch nicht überrascht gewesen, wenn Paul schon nach Ablauf von zwei Perioden mit langem Haar und auf einer Leier klimpernd von Flora zurückgekehrt wäre. Sie stellte die weibliche Pflanze auf den Kameratisch, tränkte die Topferde mit einem farbigen Kontrastmittel und stellte die Fluorkamera auf fünfminütige Belichtungszeiten ein. Sie hatte noch zwei Stunden, bis Hal Polino kam; Zeit genug, die Osmosegeschwindigkeit der Pflanze zu erforschen. Sie schnitt ein Blatt vom unteren Teil des Stengels ab, und die Tulpe stieß einen ganz leisen Seufzer aus.
Unter dem Elektronenmikroskop erschien ihr die Blattstruktur nicht anders als die einer irdischen Tulpe, auch wenn sie in Ermangelung einer solchen die beiden Blätter nur aus der Erinnerung her vergleichen konnte. Das netzartige Geflecht der Osmosekanäle schien sich, zumindest auf den ersten, oberflächlichen Blick nicht zu unterscheiden, jedoch fühlte sich das Blatt, wenn sie es zwischen den Fingern rieb, ein wenig anders an als das einer irdischen Tulpe. Es war irgendwie gummiartiger. Unter normalen Umständen hätte Freda es vorgezogen, rasch ein Sandwich zu essen und den Rest des Abends der weiteren Untersuchung der beiden Tulpen zu widmen, aber Hypothese X hatte ihre Neugier erregt. Sie freute sich auf das Dinner mit Polino. Es widersprach ihrem Gerechtigkeitssinn, Pauls Assistent wegen Ausübung ungebührlichen Einflusses auf seinen Lehrer zu verurteilen, ohne ihm die Chance einer Gerichtsverhandlung eingeräumt zu haben. Diese Chance wollte sie ihm heute abend geben. Sie beugte sich über die Tulpe und sagte leise: »Gute Nacht, meine Liebe.« Als sie die Tür öffnete und hinausgehen wollte, antwortete die Tulpe: »Gute Nacht, meine Liebe.« Freda lächelte, als sie die Tür hinter sich zuzog und ihr gleichzeitig einfiel, daß sie mit Polino auch noch etwas betreffs eines Namens klären wollte. »Galatea« hatte er sie genannt. Für sie klang das Wort Galatea verdächtig nach der italienischen Bezeichnung für »Qualle«. Als sie duschte, ertappte sie sich dabei, wie sie leise ein zur Zeit wieder aus allen Radiolautsprechern dudelndes uraltes Folk-Oldie vor sich hinsummte: »Sock It to Me, Baby«. Sofort hielt sie verlegen inne, mehr aus Erstaunen über sich selbst als wegen des schlüpfrigen Textes. Selten hatte sie sich so heiter und überschwenglich gefühlt wie in diesem Moment, und sie fühlte sich von ihrer eigenen Fröhlichkeit irritiert.
Eine rasche Analyse verriet ihr, wo ihre plötzliche Heiterkeit herrührte: Es war der Anblick der Caron-Tulpe, der ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte. »Ein schönes Ding ist eine Freude von Dauer« hatte irgend jemand einmal gesagt, und zumindest für die letzte Viertelstunde hatte sich dieses geflügelte Wort als zutreffend erwiesen. Als sie ihre Toilette machte, wovon sie weniger als fünf Minuten für ihr Make-up verwandte, rief sie sich noch einmal das Lachen der Tulpe in Erinnerung zurück. Es stimmte sie froh. Nachdem sie in ihr grünes Cocktailkleid geschlüpft war und sich noch einmal auf dem Bett ausstreckte, um sich noch ein paar Minuten zu entspannen, erfüllte sie der Gedanke an das Lachen der Tulpe plötzlich mit Traurigkeit. Sofort unterzog sie ihren plötzlichen Gefühlsumschwung einer Analyse: Als sie Polino am Raumhafen getroffen hatte, war sie nervös, um Paul besorgt und enttäuscht darüber gewesen, daß er nicht mitgekommen war. Als sie über den Pfiff des Tulpenmännchens gelacht hatte, war ihr Lachen sowohl ein Ventil ihrer inneren Anspannung als auch ein Ausdruck ihrer Belustigung gewesen. Als die Tulpe am Nachmittag erneut gelacht hatte, da war all die Anspannung und Beklemmung buchstäblich aus ihrem Lachen herausgefiltert gewesen, und Freda hatte sich plötzlich selbst lachen hören, so wie sie als kleines Kind gelacht hatte, vor der Scheidung ihrer Eltern. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie nicht mehr mit solcher Spontaneität gelacht. Ihre plötzliche Traurigkeit war nichts anderes als die wehmütige Erinnerung an die verlorene Unbekümmertheit ihrer Kindheit. Als Hal kurz darauf bei ihr klopfte, hatte sie ihren Gefühlshaushalt in Ordnung gebracht und war schon soweit wiederhergestellt, daß sie den Ernst in seiner Stimme zu würdigen wußte, als er sagte: »Mit dem grünen Kleid und Ihrem golden schimmernden Haar sehen Sie genauso
bezaubernd aus wie eine Caron-Tulpe.« Gegen ihre Absicht lächelte sie und sagte: »Sparen Sie sich Ihre Komplimente für die Senoritas in der Altstadt auf. Hier, halten Sie mal meinen Umhang!« »Dr. Caron, sagen Sie, darf ich Freda zu Ihnen sagen? Ich hasse diese Förmlichkeiten.« Im Prinzip war Freda dagegen, daß Abteilungsleiter und Studenten sich untereinander mit Vornamen anredeten oder gar duzten, obwohl es inzwischen gängige Praxis war – aber aus einem bestimmten Grund wollte sie auch nicht, daß Hal sich in ihrer Gegenwart gehemmt fühlte. Ihr lag viel daran, daß er sich ihr gegenüber genauso verhielt wie gegenüber Paul. »Sobald wir hier weg sind, können Sie meinetwegen ›Freda‹ zu mir sagen. Ich bin froh, daß Sie heute abend nichts mit Förmlichkeiten im Sinn haben; ich habe nämlich eine schwere Arbeit für Sie. Wir gehen vorher noch rasch ins Gewächshaus und hängen die weibliche Tulpe auf. Ich fluorographiere sie gerade.« Als sie über den mit Steinplatten belegten Pfad schritten, der zu ihrem Büro führte, sagte Hal: »Ich habe einen Tisch im Napoli für uns reservieren lassen.« »Sieh da, im Napoli!« Er hatte in der Tat ein Restaurant gewählt, in dem die Chance, von Angehörigen der Station gesehen zu werden, gleich Null war – dazu war es nämlich zu teuer. »Mit den zwanzig Dollar können wir im Napoli ja nicht einmal das Trinkgeld bezahlen, Hal. Wollen Sie uns an den Bettelstab bringen?« »Nein, Freda«, sagte er mit Stolz in der Stimme. »Es war einmal eine Spardose. Die stand in einem Schränkchen im Schlafsaal eines Studentenheimes. Von Quartal zu Quartal wurde sie dicker und schwerer und wartete darauf, endlich dem zu gehören, dem es als erstem gelingen würde, einen Abend zu
zweit mit einer gewissen Dr. Freda Caron zu verbringen. Nun, ich habe den Inhalt dieser Spardose bei mir.« »Sie haben also eine Wette um mich gewonnen?« »Nicht ohne Diskussionen. Ein paar warfen mir vor, ich hätte unfaire Taktiken angewandt. Sie wußten nämlich, daß Sie über mich etwas von Paul – Dr. Theaston, meine ich – erfahren wollen. Aber schließlich konnte ich sie davon überzeugen, daß es ausschließlich mein südländischer Charme war, der Sie bewogen hat, sich mit mir zu treffen. Ich muß Sie jedoch darauf hinweisen, daß die Auszahlung mit gewissen Auflagen für den Gewinner des Topfs verbunden ist. Er mußte sich verpflichten, eine ausführliche Beschreibung seiner Nacht mit Ihnen im Motel zu liefern.« »Sie wissen sehr wohl, daß sich in der Richtung nichts abspielen wird.« »Richtig«, bestätigte er nickend. »Trotzdem kriegen sie ihre Beschreibung. Schließlich haben sie dafür bezahlt. Und da damit Ihr Ruf ohnehin ruiniert ist, können Sie den Abend ja ganz gelockert angehen und unbeschwert genießen.« Als er ihr die Tür aufhielt, sagte sie mit gespielter Entrüstung: »Glauben Sie nur nicht, Sie könnten mich mit dieser Art von Logik herumkriegen… Da, sehen Sie doch!« Hal hatte das Licht angeknipst, und das erste, was sie sah, war das tote Tulpenweibchen. Es hing schlaff mit der Blüte über dem Fluorschirm. Beim Herunterfallen hatte es seine Samenkörner ausgeworfen. Ein paar davon waren auf den Fluorschirm gefallen, der größte Teil der winzigen schwarzen Körnchen lag jedoch auf dem weißen Linoleum verstreut. »Sie hat sich zu Tode gestürzt«, sagte Hal Polino. »Sammeln Sie die Samenkörner auf, Hal, und legen Sie die tote Tulpe in den Kühlschrank. Ich will mir die Fluoroprints ansehen.« »Noch nicht einen Tag auf der Erde, und schon von einem Kontrastmittel um die Ecke gebracht«, sagte Hal traurig, als er
die Samenkörner aufhob. »Ich habe ja immer gesagt, daß unsere Welt schlecht ist.« Freda nahm die Filmrolle aus der Kamera und trug sie zu ihrem Schreibtisch. Die letzten Aufnahmen, die kurz vor dem Eingehen der Pflanze entstanden waren, zeigten ein netzartiges Kapillarsystem, das sich scharf vor dem Hintergrund des Fluorschirms abhob. Es waren keine Osmosekanäle, denn sie zeigten keine Spuren des Kontrastmittels. Das System begann an der Wurzel, verzweigte sich bis in die äußeren Ränder der Blätter und lief unterhalb der Luftkammer zu einem spaghettiartigen Knoten zusammen. Von dort aus verästelte es sich erneut und ging weiter nach oben. »Ich zähle dreißig Samenkörner«, sagte Hal und legte sie in eine Schale auf den Schreibtisch. »Es müßten zweiunddreißig sein. Aber die beiden Fehlenden werde ich morgen früh schon finden. Legen Sie die Tulpe bitte in den Kühlschrank. Ich bringe sie morgen ins Labor.« Hinter ihr hob Hal den Topf mit der toten Tulpe auf und trug ihn mit feierlichem Schritt zum Kühlschrank, wobei er leise ein Te Deum sang. »Lassen Sie bitte Ihre makabren Scherze! Ich komme mir schon fast wie eine Mörderin vor.« Hal knallte die Kühlschranktür zu und kam zu ihr zurück. »Na, Fräulein Doktor, wie lautet Ihre Theorie? Normalerweise dürfte eine Pflanze nicht an einem Kontrastmittel eingehen.« »Ich habe keine Theorie, aber wahrscheinlich finden wir die Lösung in der Zellstruktur der Tulpe. Sie hat ein Netzwerk, das an Blutgefäße erinnert.« Hal senkte den Blick. »Oder ein Nervensystem mit einem Ganglion… Kommen Sie, Freda, wir müssen jetzt gehen, sonst verfällt noch unsere Reservierung.« Als sie sich zum Gehen wandten, schaute Freda noch einen Moment nachdenklich auf das Männchen, bevor sie das Licht
löschte. »Wenn eine Möglichkeit existiert, diese Pflanze an die Erde anzupassen, werde ich sie finden. Die Caron-Tulpe wird das Erbe sein, das ich zukünftigen Theastons hinterlasse.« »Manchmal hören Sie sich eher nach einem verliebten Mädchen an als nach einer Botanikerin, Dr. Caron.« Als sie durch das Tor auf den Parkplatz gingen, sagte Hal: »So, liebe Freda, technisch gesehen befinden wir uns jetzt außerhalb der Forschungsstation.« »Ich rechne den Parkplatz noch mit. Aber schauen Sie doch, wie viele Wagen hier noch stehen! Eigentlich sollte man annehmen, daß die ganzen Junggesellen von Abteilung Able nach vier Monaten Aufenthalt auf einem anderen Planeten nichts Eiligeres zu tun hätten, als in die Altstadt zu fahren.« »Wenn ein Mann einer Frau, die er liebt, für immer Lebwohl gesagt hat, dann braucht er mindestens eine Woche Zeit, bis ihm wieder nach Anmache zumute ist.« »Was ist denn das – Anmache?« »Ein Begriff aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der soviel bedeutet wie, eine Frau kennenlernen zwecks Vollzugs – äh – sagen wir, erotischer Verrichtungen.« »Finden Sie nicht, daß es pure Zeit- und Energieverschwendung ist, sich mit solchem Kinderkram zu befassen?« »Jetzt sind Sie wieder ganz Dr. Caron… Freda würde sich statt dessen geschmeichelt fühlen, daß ihr Begleiter mit ihr ausgeht, obwohl er immerzu an Flora denken muß.« »Vielen Dank für das Kompliment, Hal«, erwiderte sie, während er ihr galant den Wagenschlag aufhielt. Nachdem sie Platz genommen und er die Tür zugeschlagen hatte, ging er um den Wagen herum und setzte sich hinter das Lenkrad. Doch bevor sie losfahren konnten, mußte er erst mal mit einigen Verrenkungen den Autoschlüssel aus der Tasche angeln. Er hätte den Schlüssel vorher aus der Tasche holen
sollen, dachte Freda, aber sie verkniff es sich, das laut zu sagen. Heute abend war sie ganz Freda. »Gewöhnlich«, sagte er, wie um sich zu entschuldigen, »wenn ich mit einer schönen Frau in ein kleines Auto steige, habe ich die Instinkte eines achtarmigen Tintenfischs, aber aus Respekt vor dem Andenken an meinen ehemaligen Freund und Mentor, ihren Verlobten Paul Theaston, habe ich die Absicht, mich anständig zu betragen. Es entspricht meiner Art, mich bei Ihnen als Ersatzmann zu bewerben, jetzt wo Paul sich nach Flora abgeseilt hat.« »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?« »Er könnte durchaus verführt werden. Er ist ein Spezialist, und die sind wie Mönche, die der Kavallerie der Weiblichkeit mit dem Kreuz der Unschuld entgegentreten. Flora ist ein weiblicher Planet. Sie haben selbst Dr. Hectors Geschwätz gehört. Was für einen unerfahrenen Mann eine Dame ist, die sich in vornehmes Schweigen hüllt, wäre für mich eine tumbe Nuß… Ich kann frei mit Ihnen reden, Freda. Ihre Intelligenz ist aktenkundig und von Computern bescheinigt.« »Vielen Dank, Bübchen.« »Als Frauenkenner landete ich auf Flora etwa so, wie ein Karatekämpfer auf die Matte kommt. Aber ganz im Ernst, ich glaube schon, daß Paul sicher ist. Er hat keine Schwächen, und außerdem hat er Sie.« »Vielen Dank, Bübchen.« Seine Stimme sank zu einem leisen, heiseren Flüstern herab, als sein Arm sich langsam um die Lehne ihres Sitzes tastete. »Fremde, unbekannte Gefahren lauern in den farbenprächtigen Gärten Floras. Ich weiß es; ich bin nämlich eine grüne Hornisse.« »Weg mit dem Arm, Freundchen«, sagte Freda und rückte ein Stück von ihm weg. »Also, Sie grüne Hornisse, nun sagen Sie mir mal, was eine Galatea ist.«
»Galatea war eine Statue von solcher Schönheit, daß ihr Schöpfer sich in sie verliebte, und seine Liebe sie zum Leben erweckte. Darauf wurde die Venus von Milo eifersüchtig und ließ Galatea steinigen – « »Ach, das ist ja griechische Mythologie. Sie sind aber doch Italiener.« »Rom eroberte Griechenland. Was immer auch ein Grieche kann, ein Italiener kann es besser.« »Eine andere Frage: Was ist diese Hypothese X, von der Paul immer spricht?« Hals Gesicht, das sie deutlich im Widerschein der Neonreklamen der Altstadt von Fresno studieren konnte, wurde plötzlich ernst. »Sie sind noch nicht reif dafür, Freda. Ich möchte Ihnen erst einmal ein paar leichtere Bälle zuspielen, sozusagen als Aufwärmübung, damit Ihr Geist locker und geschmeidig wird. Hypothese X ist ein solcher Hammer, daß selbst einem Einstein der Draht aus der Mütze gesprungen wäre.«
Freda hatte zwar nicht die Absicht, eine Vergleichsstudie über die Fähigkeiten der Griechen und Italiener durchzuführen, aber der Lorbeer auf dem Sektor der Tischreservierung in italienischen Restaurants gebührte zweifellos den letzteren. Eine Phalanx von Zenturionen eskortierte sie an einen Fenstertisch, wo ein unglaublich Öliger Maitre de Sowieso sie salbungsvoll und gestenreich in ihr Gestühl komplimentierte. Der Blick, der sich ihnen von ihrem Fenster aus bot, war schon allein das Herkommen wert: Vierzig Stockwerke unter ihnen dehnte sich der funkelnde Lichterteppich Fresnos bis zum Horizont, wo bereits die ersten Hochhäuser von Bakersfield zu sehen waren. Zunächst aber wurde ihre Aufmerksamkeit voll beschlagnahmt vom Auftritt des Weinkellners, der sein
Handwerk als Dirigent der Mailänder Scala gelernt zu haben schien. Als Freda eine Bemerkung über die Kameraderie von Paisanos machte, wehrte Hal ihre Bewunderung ab. »Sogar ein Schwede hätte es so machen können, wie ich. Wie schmeckt Ihnen der Wein?« »Ganz vorzüglich. Wie sah Paul aus, als Sie von ihm weggingen?« »Er stand splitternackt im Wind der Rotorblätter des Helikopters und winkte. Ich kam nicht dazu, auf Tropica mit ihm zusammenzuarbeiten, weil Hector mich gleich, nachdem ich Paul beim Errichten des Lagers mitgeholfen hatte, für die Arbeit auf dem Kontinent einteilte. Danach habe ich ihn nur noch zweimal gesehen; einmal, um ein paar Bodenproben abzuholen, das zweite Mal, um Ihr Packchen in Empfang zu nehmen. Der Boden ist übrigens mit seltenen Erden angereichert. Einige der Pflanzen leuchten dort noch eine Weile nach Sonnenuntergang, und bei meinem zweiten Besuch äußerte ich Paul gegenüber die Vermutung, daß möglicherweise Pflanzen, die Licht abgeben können, auch empfänglich für Licht sein könnten. Ich selbst wußte von Feldahornbäumen mit einem psychischen Reiz, aber Paul griff meinen Gedanken mit der Lichtempfänglichkeit sofort auf. Zu jenem Zeitpunkt hatte er sich schon voll in diese Befruchtungssache verbissen, und er hatte die Vermutung, daß die Blüten der Orchideen visuelle Reize für andere Orchideen sein könnten.« »Aber damit wäre der Duft nicht erklärt«, wandte Freda ein. »Es gibt gar keinen. Nur einen ganz leichten Moschusgeruch… Noch etwas Wein?« »Ja, bitte.« Während Hal nachschenkte, ließ sie sich noch einmal Pauls Zeilen durch den Kopf gehen: »… die weiblichen Orchideen sondern einen derart betörenden Duft ab, daß er, wenn ich ihn
auf Flaschen ziehen und zur Erde schaffen könnte, neun Monate später das ökologische Gleichgewicht der Erde durcheinanderbringen würde.« Wenn Hal die Wahrheit sagte – und welche Gründe hätte er haben sollen, das nicht zu tun? –, dann bedeutete seine Bemerkung von vorhin, daß er die weiblichen Orchideen noch nicht gesehen hatte. Wie beiläufig fragte sie ihn: »Wo sprachen Sie mit Paul, als Sie gelandet waren?« »Gewöhnlich direkt am Hubschrauber. Wir landeten immer auf einem Streifen aus nackten Korallen, dicht am Rand der Terrasse.« »Sind Sie jemals zusammen mit Paul in die Haine gegangen?« »Nie. Um ehrlich zu sein, warf ich ihm einmal sogar vor, er würde sich wie ein Eigenbrötler verhalten. Er sagte, sie sähen alle gleich aus. Wenn du eine gesehen hast, dann hast du sie alle gesehen, sagte er. Außerdem gefiele ihm der Blick über den Terrassenrand. Und ich muß sagen, es ist wirklich ein eindrucksvolles Bild, wenn man hinabschaut. Dreihundert Meter weiter unten liegt die nächste Terrasse, und an deren Rand, in einer Entfernung von viereinhalb Kilometern, ging es noch einmal fast senkrecht hinunter, etwa zweihundert Meter tief.« Hal hielt inne, denn der Ober stellte jetzt schwungvoll die Minestrone auf den Tisch. Während Freda den Löffel eintauchte und mit spitzen Lippen etwas von der heißen Suppe schlürfte, überlegte sie: Wenn Hal immer nur eine Stunde mit Paul zusammen war, kann er unmöglich einen derart unheilvollen Einfluß auf ihn ausgeübt haben. Hal saß über seinen Teller gebeugt und widmete sich hingebungsvoll der Minestrone, die in der Tat köstlich war. Plötzlich hob er den Kopf. »Warum wollten Sie wissen, ob Paul mich jemals in die Haine mitgenommen hat?«
»Oh, das hat mich nur ganz allgemein interessiert. Sie sagten da vorhin etwas von Ahornbäumen.« »Ach richtig!« Er grinste. »Wissen Sie, die Psychologen haben da so eine Theorie über etwas, das sie Abreaktion nennen, wo jemand seine Ängste in seinem Verhalten verarbeitet. Sie sagen, daß so einer wie ich, einer, der auf Frauen steht – « »Wie ein Karatekämpfer, der auf die Matte steigt«, unterbrach sie ihn, teils als Freda – aus purer Schelmenhaftigkeit heraus – und teils als Dr. Caron, um ihm die Ungereimtheit seiner Gedanken vor Augen zu führen. »Volltreffer!« rief er jubelnd, wobei er mit seinem Suppenlöffel in der Luft herumwedelte und impulsiv die freie Hand ausstreckte, um ihre zu ergreifen. »Aber mal ganz ohne Quatsch, ihr seid wirklich zwei verschiedene Personen – Freda, die warmherzige und lustige, und Dr. Caron, die autoritäre Perfektionistin. Lassen Sie niemals die Dr. Caron sausen, Freda, denn die wird sie eines Tages noch in die Höhen der Politik tragen, und ihr Rat wird in den Hallen der Mächtigen gebraucht, aber vergessen Sie niemals Freda, Dr. Caron, denn die ist viel lustiger.« Er zog seine Hand zurück. Was für nette, impulsive Worte, dachte sie. Wie offen und ehrlich er war. Aber rein vom Verstand her ließ sein Charme sie kalt: je anziehender Hal war, desto suspekter schien ihr Polino. »Nun, jedenfalls behauptet diese Theorie, daß ein großer Frauenheld in Wirklichkeit ein latenter Homosexueller ist. Das ist ungefähr genauso geistreich, als würde man sagen, Sie wären Botanikerin geworden, weil Sie im Unterbewußtsein einen Hang zur Tierzucht haben.« Unglaublich, dachte Dr. Caron, ein einfacher Doktorand, der es wagt, eine ganze Wissenschaft in Frage zu stellen! Irgendwie einleuchtend, was er sagt, dachte hingegen Freda.
Sie lauschte ihm aufmerksam, wobei sie jedoch störte, daß er ständig mit seinem Löffel herumfuchtelte, um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen. Schlechte Tischmanieren waren ein Zeichen mangelnder Selbstbeherrschung. »Auf dem Kontinent ging ich hin und wieder in ein Ahornwäldchen, um in Ruhe lesen zu können. All diese gelben Narzissen und Tulpen können einen auf die Dauer nämlich ganz schön ablenken und durcheinanderbringen, und das Wäldchen war mit seiner himmlischen Ruhe gerade das richtige für mich. An einem Baum gibt es nämlich nichts Erotisches. Sogar auf Flora sind sie Zwitter.« Aha, daher also stammten Pauls Blumen in der »Brunft«. »… Nach einer Woche in meinem ›Allerheiligsten‹ begann ich allmählich, eine Vorliebe für einen ganz bestimmten Baum zu entwickeln. Das ist ganz normal! Sie hatten bestimmt auch früher einmal einen Lieblingsbaum!« In der Tat hatte ich einen, dachte Freda. Nie würde sie die Ulme vergessen, zu der sie als kleines Kind immer in ihrer Verzweiflung gerannt war, um allein zu sein und in ihrem Kummer Trost zu suchen, wenn die ständigen Streitereien ihrer Eltern wieder einmal ihren hysterischen Höhepunkt erreicht hatten. Sie würde ihr Leben lang Ulmen lieben. »Anfangs dachte ich mir nichts weiter dabei. Es war bequem, sich zwischen die großen Wurzeln zu setzen und sich mit dem Rücken gegen seinen Stamm zu lehnen. Er war eben ganz einfach ein Baum.« Er hielt einen Moment inne, und etwas Träumerisches trat in seinen Blick. »Aber er war verdammt schön, wissen Sie, auf eine maskuline Art schön. Groß und kräftig. Er war die Sorte von Baum, der sogar ein Blauhäher getraut hätte. Eines Tages saß ich wieder einmal unter meinem Baum und las, als ein Matrose vorbeikam. Wir waren zwar alle nackt, aber ich wußte sofort, daß er von der Navy war, als ich die Tätowierung auf seinem Unterarm sah. Er war in den Wald
gegangen, um Eicheln und Bucheckern zu sammeln – sie sind nämlich auf Flora ziemlich groß und eßbar. Er zerknackte gerade eine zwischen den Handballen, als er zu mir herübergeschlendert kam, um zu sehen, was ich da las. Als er sich auf eine der Wurzeln setzen wollte, sagte ich ihm, er solle abhauen. Ich gab ihm mit unmißverständlichen Worten zu verstehen, was ich mit ihm machen würde, wenn ein bestimmter Teil seines Körpers meinen Baum berühren würde. Er starrte mich verdutzt an, schluckte einmal und sagte, während er sich eilig von mir entfernte: ›Schon gut, Kumpel! Ist ja alles okay!‹ – etwa so, wie ein Psychiater mit einem Irren redet.« »Wie interessant«, sagte Freda und piekste mit ihrer Gabel in die dampfende Lasagne, die ihr der Ober gerade serviert hatte. Sie war leicht und flockig wie ein Souffle, dazu ohne auch nur den leisesten Hauch von Knoblauch, und der Chianti rundete den Genuß perfekt ab. Hal vertauschte den Suppenlöffel mit der Gabel. Er kam jetzt noch mehr in Fahrt. »Als mir bewußt wurde, daß ich glatt in der Lage gewesen wäre, den Matrosen umzubringen, wenn er es gewagt hätte, sich mit seinem Hintern auf meinen Baum zu setzen, bekam ich es mit der Angst zu tun und haute aus dem Wäldchen ab. Ich hatte das Gefühl, reif für Hollywood zu sein. Später, als ich mir die Sache noch einmal in Ruhe überlegte, kam ich zu dem Schluß, daß die Seelenklempner mit ihrer Theorie noch immer falsch lagen, aber das Merkwürdige ist – sie machten mir plötzlich Angst.« Seine Gabel pochte auf die Tischplatte wie ein Metronom. »Ich hatte zugelassen, daß die Freudianer der Erde meine Seele schändeten. Ich hatte das Wäldchen mit meiner Furcht entweiht!« »Mmmmh, köstlich, die Lasagne!… Entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte Freda. »Ich will
sagen, nicht alles, was an einem Baum hängt, ist notwendigerweise Obst, und ich hatte deutlich gefühlt – « »Stimmt, Hal, Sie haben recht«, unterbrach sie ihn, teils, um ihm zuzustimmen, hauptsächlich jedoch, weil ihr das rhythmische Geklopfe mit der Gabel auf die Nerven ging. »Manchmal können auch Nüsse an Bäumen hängen.« »Was ich mit den Ahornbäumen fühlte, war eine geistige Verbindung, sonst nichts! Der nackte Matrosenhintern war drauf und dran, meinen heiligen Schrein zu entweihen! Ich hatte nämlich in einem Ritus jenseits des Ritualismus Kontakt mit dem Geist des Waldes erlangt. Freda, Sie sehen den letzten noch lebenden Druiden vor sich!« Sie sah das und noch einiges mehr. »Logik jenseits aller Logik« war auch so eine wolkige Phrase, die Paul von diesem Burschen übernommen hatte. Harold Polino war das moralische Äquivalent der flockigen Lasagne auf ihrem Teller, aber er war, wie Paul gesagt hatte, durchaus fähig, brauchbare Gesichtspunkte zu liefern. »Glauben Sie, Paul wäre genauso empfänglich für solche Reize wie Sie?« »Nein. Paul ist Morphologe. Er beschäftigt sich mit der Struktur von Pflanzen. Er ist nicht an ihren geistigen Qualitäten oder an ihrer Persönlichkeit interessiert, jedenfalls nicht vorrangig. Natürlich würde auch er eine bestimmte Orchidee in einem Hain bevorzugen. Aber das würden Sie auch. Und ich auch. Auf der Entwicklungsskala der pflanzlichen Evolution sind Orchideen geradezu Halbgötter im Vergleich mit Bäumen. Ich sage nicht, daß er Pflanzen gegenüber vollkommen indifferent ist. Aber es müßte schon eine verdammt dunkle Nacht sein, ehe der gute alte Paul versuchen würde, es mit einer Alraunenwurzel zu treiben.« »Essen Sie mal Ihre Lasagne, sie wird Ihnen sonst noch kalt!« Fast ein wenig erschrocken von der Schärfe ihres Tons zog Hal sich auf seine Lasagne zurück. Freda ließ ihn in Ruhe
essen und schaute ihm dabei nachdenklich zu. Dabei nippte sie langsam an ihrem Chianti. Sie trank mehr, viel mehr als gewöhnlich, aber das beeinträchtigte ihr Urteilsvermögen und ihren Scharfsinn keineswegs. Der Wein entspannte sie und machte sie offener, als sie es sonst war. Als Hal fast mit seiner Lasagne fertig war, sagte sie: »Wenn Sie der Ansicht sind, daß mein Geist jetzt geschmeidig genug ist, dann möchte ich Sie bitten, nun mal endlich mit der berühmten Hypothese X herauszurücken. Ich bin bereit.« »Warten Sie, ich schenke Ihnen vorsichtshalber noch etwas Wein nach. Sie werden ihn brauchen.« »Okay, Sie sind der Doktor.« »Alles startklar? Sind Sie auch fest angeschnallt?« »Alles klar. Bin fest angeschnallt.« »Also dann: Hier ist die Hypothese X.« Er schmunzelte fast, als er langsam, gewichtig jedes einzelne Wort betonend, sagte: »Ihr Paulemann glaubt, daß die Orchideen laufen können. Er ist fest davon überzeugt, daß die männlichen Orchideen kleine nächtliche Bumstouren unternehmen. Er glaubt allen Ernstes, daß sie nachts herumlaufen.«
3
Hals Grinsen vermochte nicht den Schock zu dämpfen, den seine Worte bei ihr verursacht hatten. Fredas heitere Stimmung war mit einem Schlag verflogen. Den ganzen Abend über hatte sie mit Gedanken und Ideen gespielt, hatte sie Theorien geformt und sich Erklärungen zurechtgebastelt, von denen ihr sicherlich nicht eine einzige das Verdienstabzeichen der weiblichen Pfadfinder eingebracht hätte; aber mit so einem Hammer hätte sie nicht einmal im Traum gerechnet. Kein Zweifel, ihr Verlobter war total übergeschnappt! »Haben Sie Paul das eingeredet?« »Dieses Verdienst kann ich nicht voll für mich beanspruchen.« Er war wirklich zu bescheiden. »Aber bei meinem letzten Besuch, als Paul wieder dieselbe Leier mit der Befruchtung anstimmte und mir eine gegabelte Wurzel zeigte, sagte ich ihm, wenn die Sonne lange genug am Leben bleiben würde, würden den Orchideen schließlich noch Füße wachsen. Das hat ihn vom Teppich gehoben, aber glauben Sie mir, Freda, ich hätte nie damit gerechnet, daß er mich ernst nimmt.« Sie wußte, daß Hal die Wahrheit sagte; nicht, weil es dafür irgendeinen erkennbaren Beweis gegeben hätte, sondern aus einem tieferen Wissen heraus, das genauso in den Nervenenden ihres Körpers enthalten war wie die Neuronen ihres Gehirns – einem Wissen jenseits des Wissens. Hals Motive waren ihr jetzt klar. Dieser erstaunliche Bursche hatte sie nicht hierhergebracht, um sie mit unglaublichen Geschichten zu becircen, sie zum besten zu halten und zu schockieren, sondern um ihren Verstand und ihre Gefühle
geschmeidig zu machen und sie auf diesen letzten großen Schock vorzubereiten. Paul brauchte sie auf Flora! Pauls beiläufig erwähnte Einladung, nach Tropica zu kommen, war nichts anderes als ein dringender Hilferuf. Paul braucht mich, schoß es ihr durch den Kopf. Falsch! Paul glaubt, er braucht mich. Was Paul in Wirklichkeit braucht, ist sofortige ärztliche Hilfe… Er hatte versucht, ihr in seinem Brief einen Fingerzeig zu geben, daß es, wenn sie nicht kommen würde, für ihn nur noch die Wahl zwischen Flora und Houston gab. Und jeder, der auch nur noch einen Funken Verstand im Kopf hatte, würde Flora den Vorzug vor Houston geben. Worum ängstigte sich Paul also, wenn nicht um diesen letzten Funken Verstand? Sie persönlich zog den schwefligen Gestank der Sonnenseite der Venus jedem Ort in Texas vor, aber ihr lag jetzt erst mal daran, ihre heitere Stimmung wiederzufinden. Sie hielt Hal ihr leeres Glas hin, zeigte auf die Flasche und sagte: »Austrinken!« »Wir teilen uns den Rest von dieser hier und bestellen noch eine.« »Na los, gießen Sie schon ein!« Er goß ein. Es reichte noch für zwei volle Gläser. Nach der Art der Italiener – so behauptete jedenfalls Hal – verschränkten sie quer über den Tisch die beiden Arme mit den Gläsern ineinander und prosteten sich zu, und Hal sagte »Ciao!« Immer noch an ihren Arm gehakt fügte er hinzu: »Ihre Augen sind wie zwei blaue Teiche. Am liebsten würde ich mich ausziehen und hineintauchen.« »Darauf trinke ich«, sagte sie. Dann nahm sie einen tiefen Schluck und sagte: »Chow Chow!« Verdutzt hakte er sich los. »Was, zum Henker, ist denn Chow Chow?«
»Kleingehackte grüne Tomaten. Aber wir sind nicht hier, um uns über Kochrezepte zu unterhalten. Paul braucht unsere Hilfe. Das Problem ist: Wie stellen wir es an, einen Psychiater nach Flora zu schmuggeln, ohne daß die Raumfahrtbehörde uns auf die Schliche kommt?« »Noch ist er nicht verrückt, Freda«, beruhigte sie Hal. »Er fängt gerade erst an, auszuflippen. Wenn er dieses eine verdammte Problem lösen könnte – wie die Orchideen sich fortpflanzen –, dann wäre er wahrscheinlich genauso normal wie Sie oder ich. – Es sei denn, die Orchideen können tatsächlich gehen. Aber dann sind wir verrückt, und er ist normal, und er könnte recht haben.« »Paul wollte, daß ich zu ihm nach Tropica komme und ihm helfe.« »Ich könnte mir keinen besseren Ort vorstellen!« sagte Hal. »Wenn dadurch nicht unser Hochzeitstermin platzen würde, würde ich gern nach Flora gehen. Ich denke schon, daß ich Paul das eine oder andere über Befruchtung zeigen könnte.« »Ich weiß nicht.« Hal schüttelte unschlüssig den Kopf. »Paul ist so verdammt keusch und edel. Warum gehen wir nicht beide nach Flora und zeigen ihm, wie man so was macht?« »Nein, Hal. Sie haben noch nicht Ihren Doktor, und Paul und ich sind nicht verheiratet.« »In meinen Kreisen sind das rein akademische Probleme.« »Aber Sie verstehen mich falsch, Hal. Ich bin noch Jungfrau.« »Wenn Sie damit prahlen wollen, okay, dann mache ich mit bei Ihrem kleinen Scherz. Wenn Sie sich aber darüber beklagen, dann möchte ich Ihnen gern versichern, daß zwischen Sex und Moral kein Konflikt besteht – was für die eine Defloration ist, ist für die andere das Gegenteil, nämlich Aufblühen.«
»Sie verstehen mich noch immer nicht. Es hat nichts mit Ethik zu tun. Mein Analytiker sagt, ich hätte eine tiefsitzende Phobie vor jeglichem Hautkontakt.« »Freda, ich hasse es, Dinge zu verallgemeinern, aber Sie können sicher sein, daß so ziemlich alles, was Ihnen die Psychiater erzählen, ausgemachter Schwachsinn ist. Ich kann Ihnen beweisen, daß Sie keine solche Phobie haben. Trinken Sie die Flasche aus, und dann warten Sie eine Weile.« »Nein, wir teilen uns den Rest«, protestierte sie, »und dann ist Schluß. Schließlich müssen Sie noch fahren.« Sie lehnte sich zurück und schaute zu, wie Hal erneut ihre Gläser füllte. Trotz des Weins war ihr Kopf noch immer klar, und ihr Verstand arbeitete genauso präzise wie immer. Sie erkannte zum Beispiel sofort, warum italienische Restaurants immer rotkarierte Tischtücher hatten, weil die temperamentvollen Italiener ständig ihren Wein daneben kleckerten. Wenn ich das Tulpenproblem unter diesen neuen Aspekten betrachte, überlegte sie, dann könnten die Kapillaren, die ich auf dem Fluorschirm gesehen habe, tatsächlich Blutgefäße sein. Wenn das der Fall wäre, dann handelt es sich bei den Tulpen um kleine Tiere. Kleine Tiere hatten tierische Instinkte. Paul hatte gesagt, die männlichen Tulpen mischten sich unter die weiblichen. Es mußte möglich sein, die Tulpen darauf zu konditionieren, daß sie sich direkt befruchteten – Staubgefäß auf Eileiter –, so wie die Sonne die Sonnenblumen darauf abrichtete, der Sonne zu folgen. Gewiß, ihre Gedanken bedurften noch einer gründlichen Ausarbeitung und Verfeinerung, aber sie versprühten schon Funken der Inspiration. Der Kurs, den sie einschlagen mußte, lag mit einem Mal so klar vor ihr wie die große Ringautobahn von Fresno zum Witwatersrand. Freda beugte sich vor und sagte leise: »Wir haben hier zuviel herumspekuliert, mit zu wenig Information. Ich werde die Tulpen mit der Hand befruchten,
ein Beet anlegen, und ihnen die Möglichkeit geben, sich kontrolliert zu vermehren. Wenn sie es auf Flora mit KoalaSpitzmäusen konnten, warum dann nicht auch mit Freda Caron auf der Erde? Dann werde ich ihre Lösung auf einer Sieben Fuß-Ebene in die Computer eingeben und mit einem Schlag Pauls Probleme gleich hier auf der Erde lösen. Wenn er landet, werde ich am Raumhafen stehen und ihn mit einer fertig geschriebenen und gebundenen Theorie über die Befruchtungsmethoden der Orchideen auf Flora empfangen. Damit werde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – erstens stelle ich seine geistige Gesundheit wieder her, und zweitens mache ich ihm klar, wer der Boß ist.« Sie gab Hal einen Wink mit der Gabel. Ein Zeichen, daß sie langsam aber sicher unter den Einfluß des Chianti geriet. »Das Dinner ist beendet, Polino«, sagte sie schnippisch. »Gehen wir.« Die Heimfahrt mit heruntergeklapptem Wagendach dämpfte Fredas Euphorie nicht nur, sondern stellte auch ihre Vorsicht wieder her. Als sie die Basis erreichten, Hal in einem weiten Bogen vor dem Junggesellinnenblock vorfuhr und den Wagen zum Stehen brachte, hatte sie sich bereits eine Strategie ausgedacht, mit der sie seine Operation Anakonda vereiteln würde. Als er mit einer versteckten Drohung in der Stimme fragte: »Heißt es jetzt bloß ›Gute Nacht, Dr. Caron‹, oder ist Galatea zum Leben erwacht?« erwiderte sie umgehend: »Bleiben Sie sitzen!« Sie sprang behende aus dem Wagen, schlug die Tür zu, lief um die Vorderseite des Wagens herum und beugte sich zu ihm hinunter. Das Wagenfenster war geöffnet. »Erstens sind Sie kein Grieche. Sie sind Italiener, und Italiener sind lausige Liebhaber. Ich sage das nicht aus persönlicher Erfahrung heraus – aber ich lese immer die Sprüche auf dem Damenklo und im Foyer… Nun lassen Sie Ihre Hände mal schön da, wo sie sind.«
Er starrte sie zwar verdutzt an, tat aber, wie geheißen. Sie langte durch das offene Fenster zu ihm hinein, nahm seinen Kopf ganz fest in beide Hände, küßte ihn mit einer derart saftigen Leidenschaft, daß ihm für einen Moment die Luft wegblieb. Dann ließ sie ihn ebenso unvermittelt los und sagte ganz schlicht: »Gute Nacht.« »Gute Nacht«, ächzte er verwirrt. Sie rannte die Stufen hinauf, drehte sich, oben angekommen, noch einmal ganz kurz zu dem noch immer wie versteinert dasitzenden Studenten um, winkte ihm zu und verschwand in der Eingangstür. Sie schmunzelte über seine Reaktion und war erstaunt über ihre eigene. In einem Anfall von Übermut hatte sie die Lüsterne gespielt, ohne damit zu rechnen, daß sie damit bei ihm einen Adrenalinschock auslöste. Vor allem hatte sie nicht erwartet, daß die Wellen dieses Schocks sie selbst überfluten und ihren eigenen Körper unter elektrische Spannung setzen würden. Morgen würde sie sich wahrscheinlich für ihre eigene Ausgelassenheit schämen, aber heute abend zumindest hatte sie den Psychiater Lügen gestraft, der damals zu ihr gesagt hatte: »Fräulein Caron, Sie haben eine tiefsitzende Abscheu vor körperlicher Berührung. Damit sind Sie geradezu prädestiniert für die Naturwissenschaften. Eine Ehe jedoch wird für Sie sehr schwer zu verwirklichen sein, es sei denn, Sie finden einen Partner, der genauso streng und hart gegen sich selbst ist, wie Ihr Vater.« Aber vielleicht hat er doch nicht gelogen, überlegte sie. Pauls Profil ähnelte auf frappierende Weise dem ihres Vaters, und sie mochte Paul wirklich. Über sich selbst schmunzelnd putzte sie sich die Zähne. Sie hatte während des Dinners nichts an Hal Polino entdeckt, das sie nicht schon gewußt hätte. Sie mochte den Jungen, aber er übte einen schlechten Einfluß auf Paul aus, und das nicht nur
auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodik. Weitere sechs Monate in der Gesellschaft des Studenten, und Paul würde zusammen mit dem Burschen in der Altstadt herumziehen, um anhand von Feldstudien vor Ort zu beweisen, daß zwischen Sex und Moral kein Widerspruch bestand. Hal Polino hatte seine Verhandlung bekommen, er war verurteilt worden, und ihr Gewissen war durch das Gerichtsverfahren beruhigt. Als sie in ihr Bett schlüpfte, sagte sie laut: »Ich habe nicht mal seine verfassungsmäßigen Rechte verletzt!« Nach dem Frühstück, das aus drei Tassen schwarzen Kaffees bestand, ging Freda in ihr Büro und führte zwei Suchaktionen nach den fehlenden Samenkörnern durch. Die erste basierte auf logischen Überlegungen und ging von der Flugbahn der anderen Samenkörner und der Möglichkeit, daß sie vielleicht vom Fluorschirm abgeprallt und als Querschläger durch den Raum geflogen waren, aus. Die zweite war umfassend und systematisch: Sie suchte zentimeterweise den Fußboden ab. Als Mr. Hokada, der Feldaufseher und Hausmeister, zur Tür hereinkam, um sich zum Dienst zu melden, fand er sie auf allen vieren auf dem Fußboden vor. Sie stand auf, um ihm zu sagen, daß sie die zwei Morgen zwischen dem Gewächshaus und dem Zaun umgepflügt haben wollte, und übergab ihm bei dieser Gelegenheit gleich die tote Tulpe mit der Bitte, sie für eine chemische Analyse ins Labor zu bringen. Die beiden Samenkörner, so schlußfolgerte sie, waren vermutlich an Hal Polinos Schuhsohlen klebengeblieben, als er die anderen aufgesammelt hatte. Als nächstes setzte sie sich an den Schreibtisch und formulierte sorgfältig ihre Empfehlung, studentische Mitarbeiter künftig im vierteljährlichen statt wie bisher im halbjährlichen Turnus wechseln zu lassen. Grund: »… damit sie, vom verwaltungsmäßigen Gesichtspunkt her betrachtet, einen umfassenderen, allgemeineren Überblick über die
Vielfalt der wechselseitigen Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Abteilungen des Amts für exotische Pflanzen existieren, erhalten, und, vom erzieherischen, ausbildungsmäßigen Gesichtspunkt her betrachtet, damit sie die Fähigkeit erlangen, die Botanik als ein integrales, gleichwohl eigenständiges Subphylum der gesamten Spannbreite der biologischen Wissenschaften, ihrer Methodik, ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlagen und ihres geschichtlichen Stellenwerts in der Entwicklung der technologischen Gesellschaft zu begreifen.« Damit durfte sie ihrem Verlobten Hal Polino vom Hals geschafft haben! Sie war der Star an der Vorschlagsbox, und sie war sicher, daß sie den größten Teil ihrer Erfolge der Fähigkeit verdankte, klar formulieren zu können. Dann schrieb sie noch einen zusätzlichen Vermerk, in dem sie vorschlug, die Kompressoren der Treibhaus-Klimaanlage mit Schalldämpfern zu versehen, da der Lärm störend wirkte. Dr. Gaynor führte in seinem Büro eine Strichliste, in der sowohl die Anzahl der Beiträge zur Vorschlagsbox als auch die Anzahl der Vorschläge, die aus den Reihen der Abteilungsleiter eingereicht wurden, aufgeführt waren. Freda warf für gewöhnlich bei jeder Dienstbesprechung mindestens zwei Verbesserungsvorschläge in die Schachtel. Gegenwärtig führte sie mit großem Abstand vor allen anderen, und das galt sowohl in der Anzahl der eingereichten Vorschläge als auch in der Anzahl jener, die das Vorschlagsbox-Komitee angenommen hatte. Den ganzen Vormittag über hatte sie das Kichern, Seufzen und Pfeifen der überlebenden Tulpe wachgehalten und aufgemuntert. Als der Termin der Dienstbesprechung heranrückte und sie sich auf den Weg zum Konferenzzimmer machte, war von ihrem morgendlichen Kater nicht viel mehr übriggeblieben als ein leichtes Pochen in den Schläfen.
Unterwegs machte sie einen raschen Abstecher auf ihr Zimmer, um noch schnell das maßgeschneiderte Kostüm überzuziehen, in dem Dr. Gaynor seine weiblichen Abteilungsleiter am liebsten sah: Freda hegte nämlich die begründete Hoffnung, daß dieses zusätzliche Attribut beamtenhafter Solidität der Akzeptierung ihres Vorschlags betreffs der rascheren Rotation der studentischen Hilfskräfte förderlich sein würde. Möglicherweise würde sie Suzuki Hayakawa zugewiesen bekommen, und Suzukis geschickte Hände konnte sie bei ihrem Befruchtungsprogramm, das sie für die Tulpen geplant hatte, gut gebrauchen. Es würde ein verdammt hartes Stück Arbeit werden, wenn erst alle zweiundsechzig Samenkörner aufgegangen waren, aber japanische Mädchen waren gelehrig, fröhlich und gehorsam. Ihre derzeitige studentische Hilfskraft, Mary Henderson, die gegenwärtig Semesterferien hatte, war nicht vertrauenswürdig. Mary gehörte zu der Sorte von Studentinnen, die es fertigbrachten, im Beet für außerirdische Gänseblümchen Marihuana zu ziehen, wenn man ihr nicht sorgfältig auf die Finger schaute. Für Freda war es ein Tag der Triumphe. Dr. Gaynor eröffnete die Sitzung damit, daß er den Seminarwochenplan verlas, nach dem die Spezialisten über ihre Funde auf Flora berichten sollten. Als nächstes stand die Behandlung einer Beschwerde der San-JoaquinAgrargenossenschaft über die mangelnde Kontrolle von Blütenstaub auf der Tagesordnung. Es ging konkret darum, daß man bei der letzten Ernte die Entdeckung gemacht hatte, daß Pollen einer fremden Getreideart über den Zaun auf das Kornfeld der Genossenschaft geweht waren, und die daraus entstandene Kreuzung hatte die Mühlen beschädigt. Freda machte daraufhin den Vorschlag, Glykolvergaser auf die Düsen der Berieselungsspritzen zu setzen, die den Blütenstaub der Versuchsfelder mit einem dünnen Film überzogen, was ein
Fortwehen der Pollen über den Zaun verhindern würde. Ihr Vorschlag war so genial und kam so prompt, daß er mit Applaus begrüßt und einstimmig angenommen wurde. Während der anschließenden, lebhaften Diskussion, die sich um das Aufstellen neuer Abfallcontainer drehte, sah Freda, wie Dr. Gaynors Sekretärin zum Podium ging und ihm ein Blatt Papier reichte. Er warf einen kurzen Blick darauf, räusperte sich, bat um Aufmerksamkeit und erhob sich, um zu verkünden: »Meine Sekretärin, Mrs. Weatherwax, hat mir nun endlich, nachdem ich zwei Jahre lang darauf gewartet habe, einen Vorschlag zur Neuregelung der Rotation der studentischen Hilfskräfte überbracht. Nach diesem Vorschlag sollen die Studenten künftig im vierteljährlichen statt wie bisher im halbjährlichen Turnus die einzelnen Abteilungen durchlaufen. Solange dies nicht mit den Erfordernissen des laufenden Projekts in Konflikt gerät, halte ich diese Regelung für eminent ratsam und nützlich. Der Grund, weshalb ich diese Regelung bisher noch nicht per Anordnung eingeführt habe, liegt darin, daß mir sehr daran gelegen war, diesen Vorschlag aus den Reihen meines Mitarbeiterstabes eingereicht zu bekommen, gewissermaßen als Bestätigung, daß Sie, meine Damen und Herren, sich bewußt sind, daß das Amt nicht nur die Funktion eines verlängerten Arms des Landwirtschaftsministeriums als eine Stätte der Forschung und Entwicklung hat, sondern auch die einer Bildungseinrichtung. Ich werde daher dem Vorschlagsbox-Komitee empfehlen, diesen Antrag unverzüglich anzunehmen, damit die neue Regelung gleich mit Beginn des kommenden Semesters in Kraft treten kann. Für diese lang erwartete Anregung möchte ich hiermit Dr. Freda Caron mein Lob aussprechen.« Das war Balsam für ihre Ohren. Sie badete geradezu genußvoll in den verstohlenen Blicken, die die anderen ihr zuwarfen. Ein trüber Morgen war auf dem besten Wege, in
einen süßen Nachmittag hinüberzugleiten. Und wie süß erst Dr. Gaynors Stimme klang, als er sagte: »Nach der Sitzung wünsche ich Dr. Freda Caron, die Leiterin der zytologischen Abteilung, und Dr. James Berkeley, den Leiter der psychiatrischen Abteilung, in meinem Büro zu sprechen.« Da Freda bei der Diskussion über die Abfallcontainer ohnehin überflüssig war, verließ sie den Sitzungsraum und ging auf ihr Zimmer, um ein Aspirin zu nehmen. Danach begab sie sich in Dr. Gaynors Büro. Mrs. Weatherwax, Dr. Gaynors grauhaarig unscheinbare, aber äußerst tüchtige Sekretärin, die ungeachtet ihrer Winzigkeit immer etwas Mütterliches ausstrahlte, winkte sie freundlich lächelnd ins Vorzimmer und bedeutete ihr, gleich in das Allerheiligste durchzugehen. Dr. Berkeley war bereits vor ihr eingetroffen und brütete in einem der Besuchersessel über einem Kreuzworträtsel. »Hallo, Freda!« begrüßte er sie. »Na, schon eine Entscheidung getroffen über mein Memorandum vom letzten November?« »Nein, Jim«, antwortete sie, aber er war schon wieder in sein Kreuzworträtsel versunken. Trotz eines Kurses über »Beurteilung und Einschätzung von Führungskräften« verwirrte Berkeley sie immer wieder. Er paßte einfach nicht in die Verhaltensschemata, die sie in ihrem Kurs analysiert hatten. Als Anhänger der Frommschen Schule strebte er danach, die Kunst des Liebens zu praktizieren, wie er ihr einmal gesagt hatte, aber er besaß nicht für fünf Pfennig Sex-Appeal, und keine hatte sich bisher gefunden, mit der er seine Wünsche hätte in die Tat umsetzen können. Durch die ewigen Abfuhren, die er einstecken mußte, hatte sich seine Libido so vollkommen nach innen gewandt, daß seine Frau sich wegen seelischer Entfremdung von ihm hatte scheiden lassen. Freda verdächtigte ihn des Fetischismus; zumindest hatte er eine etwas seltsame Art von Humor. Einmal war er in ihr
Gewächshaus geschlendert gekommen, um – wie er sich ausdrückte – nach dem Strumpfband einer Frau zu suchen. Als sie ihn fragte, nach dem Strumpfband welcher Frau er denn suche, hatte er geistesabwesend geantwortet: »Egal, Hauptsache Frau.« Er hatte nie versucht, sie zu berühren, weder offen noch versteckt, aber er hatte ihr ein dienstliches Memo geschickt, in dem er um die Erlaubnis bat, ihr in den Oberschenkel kneifen zu dürfen. Zuerst hatte sie sich ziemlich pikiert gefühlt und kurzzeitig erwogen, das Memo an Dr. Gaynor weiterzuleiten. Doch dann hatte sie es sich anders überlegt und das Schreiben kurzerhand zerrissen. Nicht nur, daß sie befürchtete, zum Gespött des ganzen Hauses zu werden, wenn sie die Geschichte an die große Glocke hängte; sie hatte auch Angst davor gehabt, daß Dr. Gaynor das Memo vielleicht zum Anlaß hätte nehmen können, ihre Karriere für ein Weilchen zu blockieren. Der erneut mit einer Abfuhr beschiedene Autor des besagten Memos ging momentan jedenfalls wieder völlig in seinem Kreuzworträtsel auf. Wenig später betrat Dr. Gaynor, schlank, silberhaarig und dynamisch wie immer, mit elastisch federndem Schritt sein Büro und nahm, nachdem er den Gruß der beiden mit einem sparsamen Nicken erwidert hatte, in einem Sessel hinter seinem Schreibtisch Platz. Dann betrachtete er zerstreut seine Fingernägel, zog eine Nagelfeile aus einer Schreibtischschublade und fing an, sich die Nägel zu feilen. In seiner Gegenwart war Freda immer besonders sensibel für Details. Ihr fiel auf, daß sein blaßblauer Anzug farblich genau auf das Blaßblau seiner Augen abgestimmt war, und die unregelmäßigen silbernen Fäden, mit denen das Gewebe des Anzugstoffes durchwirkt war, genau zum Silber seines Haars paßten. Sie mußte an die geheimnisvollen Worte denken, die
vor einiger Zeit einmal auf einem Zettel am Schwarzen Brett im Foyer des Frauenblocks gestanden hatten: »Wenn Charlie Gaynors Haare nicht rot sind, dann weiß ich nicht, was gefärbte Haare sind.« Als Freda die silbernen Fäden in Gaynors Anzugstoff studierte, hatte sie die plötzliche Intuition, daß die anonyme Schreiberin sich nicht geirrt hatte. Gaynor war viel jünger, als er aussah. Er hatte sich das Haar färben lassen, damit es zum Platinschimmer des Anzugstoffes paßte und seinem Amt die Würde und Autorität des Alters verlieh. In diesem Augenblick brach Dr. Gaynor ganz unvermittelt seine Maniküre ab und blickte auf. Er ließ die Nagelfeile in der Schublade verschwinden, schob diese mit einer militärisch zackigen Handbewegung ins Schloß, umspannte die Platte seines Schreibtisches mit ausgestreckten Armen, beugte sich vor und schaute Freda und Dr. Berkeley abwechselnd mit der halb stolzen, halb gütigen Miene eines Lehrers an, der seine Lieblingsschüler zu sich zitiert hat. »Ich betrachte Sie beide als zwei Spitzenkräfte meines Teams. Wenn ich demnächst zu höheren Aufgaben nach Washington berufen werde, erwarte ich, daß einer von Ihnen die Leitung dieses Amtes übernimmt. Bevor ich ins Ministerium überwechsle, möchte ich Ihnen jedoch so etwas wie ein bleibendes Andenken an mich hinterlassen…« Er legte eine dramatische Pause ein. »Heute morgen erhielt ich einen Anruf von Clayborg aus Santa Barbara.« »Wer ist Clayborg, Dr. Gaynor?« fragte Freda. Dr. Gaynor schien überrascht. »Dr. Hans Clayborg vom Institut für Fortgeschrittene Studien, Santa Barbara. Der in der Welt führende Entropie-Experte. Seine Spezialität ist der galaktische Energieschwund. Dr. Clayborg hat die ganze Nacht damit verbracht, die vorläufigen Berichte der Flora-Expedition zu lesen, und er ist buchstäblich aus dem Häuschen. Er hat mir
vorgeschlagen, auf der Stelle eine Petition beim Planetenklassifikationsausschuß des Senats einzureichen, um den Blumenplaneten zur offenen Welt zu erklären – zumindest für experimentelle Studien –, bis die Internationale Vermittlungsstelle tätig wird. Das Institut fungiert in diesem Zusammenhang zwar nur als beratende Instanz, aber Clayborg hat sich bereit erklärt, all seinen persönlichen Einfluß geltend zu machen, um die Petition durchzukriegen.« »Das würde uns einen Vorteil gegenüber den Russen verschaffen«, sagte Freda. »Richtig. Und nach allen bisherigen Schilderungen ist der Planet ein wahres botanisches Paradies. Clayborg interessiert sich besonders für die Pflanzenevolution auf einem sterbenden Planeten. Er will wissen, wie Pflanzen… äh… gewisse Probleme lösen. Er befürwortet die Einrichtung einer ständigen botanischen Forschungsstation auf Flora – das GaynorForschungsinstitut. Das war seine Idee, nicht meine.« »Vielleicht sollten wir Flora doch den Russen überlassen«, bemerkte Berkeley. Gaynor überhörte die Bemerkung. »Ich werde zwei Mitglieder meines Management-Teams mit nach Washington nehmen: Sie, Dr. Berkeley, weil Sie meinen Antrag mit der Stimme eines Mannes, der schon einmal dort war, unterstützen können; und Sie, Dr. Caron, weil Sie noch nicht da waren und meine Petition daher vorurteilslos und ungetrübt von irgendwelchen Vorlieben für bestimmte Planeten unterstützen können. Auf diese Weise wird, wie Sie sehen, einer bestmöglichen Ausgewogenheit meines Beratungsstabes Rechnung getragen, und Sie, Dr. Berkeley, könnten zusätzlich, sozusagen als I-Tüpfelchen, ein paar Theorien über die psychologische Unbedenklichkeit Floras vortragen.«
»Was für Theorien wollen Sie von mir hören, Charles?« knurrte Dr. Berkeley, und Freda bemerkte mit Entsetzen, daß er schon wieder über seinem Kreuzworträtsel hing. Gaynor schaute ihn an. Ärger blitzte in seinen Augen auf. »Sie könnten, sagen wir, der ganzen Sache sozusagen einen therapeutischen Anstrich geben – dem Senatsausschuß die Sache mit ein paar Gedanken über die psychische Heilkraft Floras schmackhaft machen.« »Ich müßte diesen Vorschlag erst einer sorgfältigen Prüfung unterziehen. Ich bin mir meiner eigenen Reaktionen in bezug auf den Aufenthalt auf Flora noch nicht sicher, und die Reaktionen, die ich von anderen bisher gekriegt habe, deuten auf ein paar Indizien hin, die ziemlich eindeutig auf eine Entfremdung von der Erde schließen lassen.« »Unsinn! Wenn von der Abteilung Able überhaupt jemand gelitten hat, dann höchstens an Übersättigung mit Honig. Sie finden in jedem Team ein paar Unzufriedene, egal in welchem… Wogegen könnten Sie möglicherweise etwas einwenden?« »Eben gegen die paar Unzufriedenen, die zuviel Honig geschleckt haben. Ich möchte keine Petition unterschreiben, die vielleicht später einmal als Fluchtklausel ausgelegt werden könnte… nämlich von der Erde. Wieviel Zeit wollen Sie uns für die Ausarbeitung unserer Stellungnahme geben?« »Zehn Tage – aber das ist auch schon das Äußerste, was ich zugestehen kann. Ich will das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist, und die Gaynor-Station schon mit der Abteilung Charlie losschicken.« »Zehn Tage müßten eigentlich reichen. Mal sehen, was sich machen läßt.« »Mal sehen, was sich machen läßt? Wollen Sie damit andeuten, Jim, daß ich nicht eindeutig mit einem positiven Gutachten seitens Ihrer Abteilung rechnen kann?«
»O doch, das können Sie haben… Egal was ich vorschlage, Dr. Youngblood schlägt mit tödlicher Sicherheit immer genau das Gegenteil vor.« »Ach ja«, sagte Dr. Gaynor leise. »Ich bin überhaupt positiv beeindruckt von Dr. Youngblood. Ich glaube, der Mann ist aus einem Holz geschnitzt, aus dem Führungskräfte sind.« Nach allem, was Freda über die Gepflogenheiten und Techniken im gehobenen Verwaltungsapparat wußte, war diese Bemerkung Gaynors gewissermaßen ein Messer an Berkeleys Kehle. Obwohl sie dem Frommianer sehr gut seine Vorbehalte nachfühlen konnte, war ihr plötzlich ein Gedanke gekommen, der die Petition in einem anderen Licht erscheinen ließ: Zur vorschriftsmäßigen personellen Ausstattung einer Forschungsstation gehörte unter anderem auch ein ausgebildeter Psychiater. Obwohl sie nicht eine Sekunde glaubte, daß Paul geistesgestört war, fand sie doch, daß jemand, der immerhin an wandelnde Orchideen glaubte, nicht ganz ungefährdet war. »Dr. Gaynor, ich betrachte es als Ehre, die Ergebnisse der Expedition auf eine zur Errichtung der Gaynor-Station hinzielende Weise zusammenzufassen.« Ohne aufgefordert worden zu sein, erhob Dr. Berkeley sich von seinem Sessel, ging zur Tür und knurrte: »Zack, schlagen wir die Russen!« Dr. Gaynor schüttelte traurig den Kopf, als der Psychiater zur Tür hinausging. »Ich hätte gedacht, er würde die Petition gutheißen. Manchmal werde ich aus Dr. Berkeley nicht schlau.« Auf diese letzte Bemerkung hauchte Freda ein leises »Amen«.
Vier Tage später löste sich das Rätsel der beiden fehlenden Samenkörner ganz von selbst. Zwei Schößlinge waren dicht neben der männlichen Tulpe aus dem Erdreich des Topfes
gesprossen, der noch immer an seinem Gestell hing. Beide hatten das unverkennbare Grün Floras. Freda war so sehr damit beschäftigt gewesen, die Saatkästen aufzustellen und fertigzumachen, daß die Schößlinge bereits drei Zoll groß waren, ehe sie sie entdeckte. Sie war so aufgeregt, daß sie Hal, als sie ihn tags darauf in der Schlange der Cafeteria entdeckte, sofort davon berichtete. Er hörte ihr mit hochgezogenen Brauen zu und sagte: »Doktor, die männliche Pflanze hing zwei Meter oder mehr über dem Boden und war etwa sieben Meter von der weiblichen entfernt.« »Ich weiß. Darum habe ich die Schößlinge ja auch erst gestern entdeckt.« »Sie verstehen mich nicht«, erwiderte er und stellte sein leeres Tablett ab. »Das Weibchen hat mit den Samenkörnern ganz gezielt nach dem Männchen geschossen. Ist Ihr Treibhaus abgeschlossen?« »Ja, aber es sind Flugsamen. Sie können fast zwanzig Meter weit durch die Luft fliegen. Es war purer Zufall, daß sie ausgerechnet in dem Topf gelandet sind.« »O nein, Fräulein Doktor«, sagte er emphatisch. »Wenn einer auf einem Platz mit zweiunddreißig Löchern zwei Asse schlägt, okay, dann ist das unglaubliches Glück. Aber man kann zumindest annehmen, daß er auf das Grün gezielt hat, oder?… Kann ich mal Ihren Schlüssel haben?« »Was wollen Sie denn mit dem Schlüssel?« »Einen Mord verhindern! Wann haben Sie die Schößlinge zum letzten Mal gesehen?« »Gestern nachmittag. Aber wenn Sie meinen, da stimmt was nicht, dann gehe ich mit Ihnen rüber.« »Alles, was Sie tun können, ist, die Tür aufschließen. Also los dann, gehen wir.«
Sie mußte sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten, als sie das Rasenstück vor dem Gewächshaus überquerten. Als sie die Tür öffnete, nahm er den Topf vom Haken und stellte ihn auf den Tisch neben dem Eingang. Zwei winzige Tulpen mit fertig ausgebildeten Blüten hatten neben der ausgewachsenen Pflanze gestanden. Jetzt stand nur noch das Weibchen da. Die männliche hing schlaff über dem Boden des Topfes. Hal starrte betreten auf den Topf und sagte leise: »Zu spät. Er hat’s schon geschafft.« »Paul schrieb mir, die Wurzel der Männchen entzöge dem Boden bestimmte Chemikalien, die für die anderen Männchen nötig seien«, sagte Freda. »Paul wollte Sie schonen, aber ich bin nicht so sensibel. Schauen Sie mal her!« Vorsichtig kratzte er mit dem Nagel des Zeigefingers ein wenig Erde von der Wurzel der toten Tulpe weg. Dann nahm er die Blüte in die zur Schale geformte Hand und zog mit der anderen den winzigen Stengel behutsam aus dem Erdreich. An der Wurzel hing ein zu einem festen Knötchen zusammengezogener Ausläufer der größeren Pflanzenwurzel. Er hatte die kleine männliche Pflanze buchstäblich zu Tode stranguliert. Mit einer Zärtlichkeit, als handele es sich um den Leichnam eines Kindes, legte Hal die kleine Tulpe auf den Tisch. Dann trat er einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Der dicke Bulle hat seinen Nebenbuhler schon in der Wiege erdrosselt.« Freda, die seine innere Anteilnahme spürte, sagte wie zu seiner Beruhigung: »Nichts weiter als eine behavioristische Reaktion auf chemische Reize in den Wurzelsystemen, Hal. Tulpen können nicht denken.« »Freda, Sie ersticken noch an Ihrer eigenen Methodik«, erwiderte er fast trotzig. »Das dicke Vieh da hat das Baby umgebracht. Natürlich war es eine behavioristische Reaktion
auf einen chemikalischen Reiz. Aber was sonst ist denn Denken?« Der bessere Teil der Klugheit ist Schweigen, dachte Freda, aber sie wußte, daß es die Enttäuschung war, die sein Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt hatte. Sie schaute auf die im Licht der Sonne glänzende Tulpe hinab und wußte, daß solche Schönheit niemals mutwillig andere Schönheit zerstören konnte. »Vielleicht bin ich übersensibel«, sagte Hal, »aber ich habe eine Schwäche für Miniaturpflanzen. Ich fahre Samstag nach Bakersfield zu einer Bonsai-Ausstellung. Die kleine Tulpe da litt nicht an Wachstumshemmung. Sie war zwar noch ein Baby, aber sie hätte Aufsehen erregt.« Seine Stimmung hatte sich wieder ein wenig aufgehellt. Freda sagte versöhnlich: »Sie hatten recht mit den seltenen Erden. Die Analyse der toten Tulpe zeigte eine ungewöhnlich hohe Konzentration von Phosphor; Fluor und sogar Kali. Natürlich geben solcherlei Analysen keinen Aufschluß über das lebenserhaltende System.« »Ja«, sagte er. »Wenn ich mich egoistisch fühle, erinnere ich mich immer daran, daß ich im wesentlichen nicht mehr bin als ein Eimer Wasser.« Er hängte den Topf mit den beiden Tulpen wieder an den Haken. Sie verließen das Gewächshaus. Als Hal für sie die Tür abschloß, sagte er: »Dr. Caron, vielleicht sind Sie auch an der Bonsai-Ausstellung interessiert. Hätten Sie Lust, mich Samstag dorthin zu begleiten? Ich hörte, Sie fliegen demnächst nach Washington… Falls Sie Dr. Gaynors Programm nicht verpflichtet sind, habe ich da noch ein paar Bedenken betreffs Flora anzumelden. Ich denke, das war der eigentliche Grund, warum ich wollte, daß Sie mit mir nach Bakersfield kommen.« »Ich bin natürlich für alle Argumente empfänglich. Aber bisher waren alle Berichte, die ich über Flora gelesen habe, positiv.«
»Ich weiß«, erwiderte er. »Die Spezialisten sehen eben nicht über die Grenzen ihres Fachgebietes hinaus… Und ich bin nur ein armer Druidenpriester.« Sie brauchte ihn nicht zu fragen, woher er von der Reise wußte, die überhaupt noch nicht offiziell angekündigt worden war. Als sie am Morgen das Schwarze Brett im Foyer des Frauenblocks überflogen hatte, war ihr schon von weitem der Zettel mit der krakeligen Schrift ins Auge gesprungen. »Charlie macht’s mit Freda ohne Liebe, wenn sie zusammen nach Washington fliegen.« »Aus irgendeinem Grund«, sagte Hal, »bin ich plötzlich auf die Idee gekommen, daß Dr. Gaynors Forschungsstation sich als ein Sibirien für Amtsangehörige entpuppen könnte, die seinen Vorstellungen in bezug auf beamtische Leistungsfähigkeit nicht entsprechen. Ich würde eher den Job sausen lassen, als wieder zurückzugehen.« Das war eine Haltung, die so gar nicht zu der Entfremdung von der Erde paßte, die Dr. Berkeley befürchtet hatte. Freda witterte sofort eine günstige Gelegenheit. »Ich würde mir gern einmal eine von der allgemeinen Euphorie abweichende Meinung anhören«, erklärte sie, »und besonders die von einem Druidenpriester. Melden Sie sich doch Freitag bitte noch einmal bei mir. Wenn ich hier weg kann, fahre ich mit Ihnen nach Bakersfield.« Wenn sich die Nachfolge Dr. Gaynors als Amtsleiter zwischen ihr und Dr. Berkeley entschied, dann fand sie, daß sie den Posten eher verdient hatte als der Psychiater. Sie hatte den Spruch an der Wand gelesen, und der besagte, daß Berkeley eine ödipale Fixierung auf alle Mädchen unter sechzehn hatte, und daß er außerdem pornographische Rorschach-Tintenkleckse sammelte.
4
Da am Samstag die ersten Blüten an ihren Sämlingen knospten, fuhr Freda nur sehr ungern zur Bonsai-Ausstellung nach Bakersfield. Allerdings hätte der Ausflug sogar richtig entzückend sein können, wenn Hal nüchtern geblieben wäre. Die Zwergbäume waren in einem japanischen Pavillon ausgestellt, der von irgendeiner früheren Weltausstellung übriggeblieben war. Freda war ganz angetan von einer Modelleisenbahn, die durch Wälder aus immergrünen Miniatureichen, vorbei an winzigen Maisund Weizenfeldern fuhr, und an Bahnhöfen hielt, die mit kleinen Rosenbeeten geschmückt waren. Beim Anblick der wunderschönen Anlage, die vor dem Hintergrund einer gemalten Phantasielandschaft aufgebaut war, fühlte sie sich fast wie irgendein gütiger Gott aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der auf die Erde hinabsah. Das Ganze war mit soviel Liebe zum Detail arrangiert, daß sie gern über kleinere Stilbrüche, wie z. B. die Tatsache, daß der Santa-Fe-Express am Fudschijama vorüberbrauste, hinwegsah. Nach der Besichtigung setzten sie sich in einen mit wunderschönen Glyzinien verzierten Teegarten, von dem aus man einen reizenden Ausblick auf eine mit Bambusrohr gesäumte Lagune hatte, über die sich eine steinerne Brücke spannte. Ein japanisches, mit Kimono und Obi bekleidetes Mädchen kam mit winzigen Schritten auf Holzschuhen herangetrippelt, verbeugte sich und stellte sich als Haki vor. In dem weichen Singsang-Englisch der Japaner verkündete sie, zum Teezeremoniell bereit zu sein. Freda fühlte sich von der Atmosphäre so verzaubert, daß sie buchstäblich Tempelglocken läuten hörte, doch wurde sie rasch wieder auf
den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als Hal auf die Geisha einkrähte: »Gießen Sie der Dame meinetwegen einen Tee ein, Haki-san, aber ich bekomme einen doppelten Martini.« »Aber Hal!« protestierte Freda. »Wir sind hier im Fernen Osten, Sie Banause!« »Ich habe nicht viel übrig für den Fernen Osten. Ich stehe mehr auf Martini, den größten Italiener seit Marconi.« »Na meinetwegen, aber liefern Sie mir Ihren Negativbericht über Flora, solange sie noch sprechen können. Dr. Berkeley hat da so ein paar Andeutungen gemacht bezüglich gewisser Nebeneffekte, die nach einer Reise nach Flora auftreten können – mentale Allergien, Heimweh, Schwermut und so was; sogar Erdentfremdung.« »Der Seelenklempner hat nicht die leiseste Ahnung, worüber ich besorgt bin.« »Hal, Sie haben manchmal eine Art an sich, die einen auf die Palme bringen kann. Sie verunglimpfen eine ganze Wissenschaft mit einer Handbewegung.« »Meines Wissens gibt es keine Wissenschaft namens Pflanzenpsychiatrie, und ich sage Ihnen eins: Die Pflanzen Floras sind zu einem Grade geistig gesund, daß sie Wesen von unserer Intelligenzstufe gefährlich werden können, so wie sie sich ja auch untereinander gefährlich sind.« »Dr. Hector hat gesagt, die Pflanzen Floras stünden nicht in Konkurrenz zueinander.« »Das sieht nur rein oberflächlich so aus. Gewiß, die Bodenbeschaffenheit, das Klima und der hohe Feuchtigkeitsgehalt verschaffen gewissen Pflanzen einen leichten Vorteil, aber um diesen Vorteil auch ausnutzen zu können, müssen sie kämpfen. Es gibt keinen Fußbreit Boden auf Flora, um den nicht erbittert gerungen würde. Die Erde des Planeten ist getränkt mit dem Lebenssaft gemordeter Pflanzen.
Als Druidenpriester sage ich Ihnen: Der Geist dieser Pflanzen –auch der meines Baumes – ist bösartig.« »Wollen Sie damit sagen, Sie hätten Ihr Urteil über den Baum, zu dem angeblich jeder Eichelhäher Vertrauen haben würde, revidiert? Wollen Sie sagen, daß Ihr erster Eindruck falsch war?« »Ja«, sagte er ernst. »Ich bin überzeugt, daß der Baum die Absicht hatte, mich zu töten.« Der gehetzte Klang seiner Stimme beunruhigte sie. Paranoia, diagnostizierte sie. Jetzt kam Haki an ihren Tisch getrippelt, um den Tee zu servieren. Freda war dankbar für die Unterbrechung. Fasziniert schaute sie dem Mädchen zu. Die flinken, zierlich anmutenden Bewegungen, mit denen es das uralte Ritual des TeeEinschenkens vollzog, interpretierten auf eine bezaubernde Art und Weise die Munterkeit und belebende Wirkung dieses Getränks. Und Haki war vielseitig. Sie kredenzte Hals Martini mit Bewegungen, in denen etwas vom Funkeln des Gin eingefangen zu sein schien. »Was denkt Paul von dieser Sache?« »Paul legt sich zwar niemals fest«, erwiderte Hal und nippte an seinem Drink, »aber er läßt sich auch nicht vom äußeren Schein trügen. Sie sind der beste Beweis dafür.« Über den Rand ihrer winzigen Teetasse hinweg fragte Freda: »Wollen Sie damit sagen, er findet mich nicht attraktiv?« »Ich wäre ein ahornliebender Florianer, wenn ich das damit sagen wollte!« Er fing schon wieder an, herumzugestikulieren. »Aber ein Mann heiratet eine Frau nicht, weil sie schöne Ohrläppchen hat. Schönheit vergeht, Leidenschaft verflüchtigt sich, und heiße Liebesglut kann schon nach einer Stunde erloschen sein. Geben Sie mir fünfzehn Minuten mit Mona Lisa, und sie würde mir mitsamt ihrem Lächeln auf den Nerv gehen.« Der Bursche war echt verstört, entschied sie. »Jeder Mann nascht gerne mal ein bißchen Butterkremtorte«,
plapperte Hal weiter, »aber heiraten tut er für Fleisch und Kartoffeln.« »War das jetzt ein Kompliment?« »Ja. Und Paul weiß, daß da auf Flora irgend etwas nicht stimmt, daß der ganze Planet etwas Gefährliches, Verderbtes an sich hat. Er sagte mir, die Blüten hätten ursprünglich den Zweck gehabt, Insekten anzulocken, aber es gibt keine Insekten auf Flora. Was ist mit den Insekten passiert? Die Blumen haben sie aufgefressen!« Er hielt inne, und seine Stimme wurde zu einem Flüstern, als er weitersprach: »Der Ahornbaum, von dem ich erzählt habe, hat mich auf meine Schwächen hin abgetastet. Er hatte meine Libido entdeckt. Ich wäre unweigerlich gestorben in jenem Wäldchen auf Flora, ich wäre eines fürchterlichen Todes gestorben, eines solch grausamen Todes, wie Sie sich ihn nicht ausmalen können – Aber Paul kriegen sie nicht! Sie haben die falsche Schwäche bei ihm entdeckt – seine nüchterne, aseptische, wissenschaftliche Neugier. Sie spüren, daß das eine Schwäche ist, gegen die sie machtlos sind, also sind sie keine Superpflanzen. Aber wie viele Paul Theastons gibt es im Vergleich zu den vielen Hal Polinos. Paul hat keine schwache Stelle.« Fasziniert hörte Freda zu. Paul hatte gesagt, die Orchideen bergen ein Geheimnis. Hals Gedanken waren voller Widersprüche, aber er tastete sich zu einer Theorie vor, die Pauls These untermauerte. Paul hatte gesagt, Hal wäre brillant, aber er wäre nicht brillant genug. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welche Art von Tod diesen halbverrückten, liebestollen Frauenhelden in dem Ahornwäldchen erwartet hätte. Er hatte bereits seinen zweiten Martini geleert und gab jetzt den dritten in Auftrag. »Oder nehmen Sie tierisches Leben«, fuhr er fort. »Auf Flora existiert die gesamte Substruktur für ein mannigfaltiges Tierreich, besonders für Pflanzenfresser;
und nach den pflanzenfressenden Tieren kommen die Fleischfresser. Was ist mit den Fleischfressern passiert?« Er ließ die Frage unbeantwortet im Raume stehen und schwenkte mit einer vielsagenden Geste sein Glas. »Da ist ein Delphin in den Ozeanen Floras, und die großen Fische fressen die kleinen… Aber ich brauche selbst hier kein großer Prophet zu sein, wenn ich die Behauptung wage, daß der Seetang den Fisch bald aufgefressen haben wird, falls die Sonne nicht schon vorher erlischt.« »Wollen Sie damit andeuten, daß die Pflanzen Fleischfresser sind?« »Nein, weil das Gras schlau ist. Es würde grasfressende Tiere vergiften. Wenn ein Samenkorn auf dieses Gras fällt, dann schmilzt es buchstäblich weg. Und das Gras hat recht! Jede Pflanze auf Flora ist gefährlich, weil sie alle ihre Evolutionskriege siegreich zu Ende gefochten hat. Jede Pflanze, die Sie auf Flora sehen, ist eine strahlende Siegerin, eine Kriegsheldin, ein mörderischer Superkiller.« Er machte eine kurze Atempause und warf einen raschen Blick über seine Schulter. »Freda, ich sage Ihnen, die Pflanzen sind wachsam. Sie warten. Die Blumen halten die Augen offen. Die Bäume lauern gespannt. Tief in irgendeinem Winkel ihres Gedächtnisses lebt die Erinnerung an ein zweibeiniges Wesen, das einst auf ihren Ästen herumkletterte, ihre Beeren und Nüsse aß und ihre Schößlinge ausriß. Die Erinnerung an den Zweibeiner, den sie einst besiegt und vernichtet haben, und der jetzt zurückgekehrt ist, steckt noch immer in ihnen. Sie werden erneut zuschlagen, sobald ihre Stunde gekommen ist.« Er hielt inne und leerte mit einem tiefen Zug sein Martiniglas. »Und da will Ihr Boß und meiner, der gute Dr. Gaynor, dieser aufgeblasene Trottel, der zu neunzig Prozent aus Wasser und zu zehn Prozent aus heißer Luft besteht, nur, um seinen völlig unbedeutenden Namen zu verewigen, Menschen auf diesem
Planeten stationieren! Dieser ausgemachte Klotzkopf! Dieser… dieser furztrockene Bürohengst!« »Hal! Was zuviel ist, ist zuviel!« sagte Freda scharf. »Ich verbiete Ihnen, in meinem Dabeisein so über den Amtsleiter zu reden!« Gerade kam Haki mit dem vierten Martini angetrippelt. »Haki-san«, schwallte Polino schwerzüngig auf sie ein, »kennst du einen wichtigtuerischen alten Dummkopf namens Doktor Charles Gaynor, der seine eigene Großmutter leimen würde, wenn er sich davon einen politischen Vorteil verspräche?« »Haki nicht verstehen, Sir. Er stleichen Leim auf Gloßmuttel?« »Du hast es erfaßt! Er ist der Großvater aller Schleimscheißer!« »Hal, jetzt reicht es aber! Lassen Sie sofort das Mädchen in Ruhe und zahlen Sie, und dann gehen wir!« Gehorsam wie ein Schuljunge erhob Hal sich wankend von seinem Stuhl, rechnete mit einem zugekniffenen Auge aus, was er zu zahlen hatte und legte einen zusammengeknüllten Geldschein auf den Tisch. Dann drehte er sich um und bot Freda seinen Arm, die ihn unterhakte und zum Parkplatz bugsierte. Als sie am Auto ankamen, setzte sie sich, nachdem sie Hal auf dem Rücksitz verstaut hatte, hinters Steuer. Bevor sie den Motor anließ und losfuhr, sagte Hal noch einen Satz, der ganz hohl in seiner Kehle klang: »Helfen Sie Dr. Gaynor nicht, Freda.«
Sie hatte nicht die Absicht, Dr. Gaynor nicht zu helfen; ebensowenig hatte sie die Absicht, Hal Polino nicht zu helfen. Gleich am Montagmorgen erschien sie im Vorzimmer bei Mrs. Weatherwax und bat um eine sofortige Unterredung mit Dr. Gaynor. Obwohl Dr. Gaynor ihr Vorgesetzter war, unterhielt
sie sich sehr gern mit ihm. Seine Art, die Hal als aufgeblasen bezeichnet hatte, empfand sie als höflich, ja würdevoll, und hinzu kam, daß Gaynor mehr als jeder andere für ihr berufliches Vorankommen verantwortlich war. Er war es, der ihre Beurteilungen schrieb. Aus dem Grunde achtete sie auch ganz bewußt darauf, daß sie ihn nicht übermäßig oft in seinem Büro aufsuchte, selbst, wenn sie eigentlich Lust dazu gehabt hätte. Manche Stellenvorsteher oder Amtsleiter faßten so etwas nämlich als Anbiederung auf, und man konnte sich damit leicht seine Karriere verscherzen. Gaynor indessen schätzte es, wenn ihn betreffende Schmeicheleien unaufdringlich in das Gespräch einflossen. Freda hatte diese Vorliebe Gaynors ziemlich rasch an der Gewohnheit erkannt, dann stets leicht mit den Augen zu blinzeln und kaum wahrnehmbar mit dem Kopf zu nicken, wenn er in einer Bemerkung seines Gesprächspartners verborgene Komplimente gewahrte. Außerdem sah er gut aus, und er schien sie zu mögen. »Nun, wie war das Wochenende?« fragte er, sozusagen als höfliche Einleitung, als sie sein Büro betrat. »In mehr als einer Hinsicht interessant«, antwortete sie. »Das ist auch der Grund, warum ich mit Ihnen sprechen möchte. Ich weiß es sehr zu schätzen, daß Sie mir trotz Ihres vollgestopften Terminkalenders einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit opfern.« Mit einem kaum sichtbaren Nicken und einem sanften Augenzwinkern antwortete er: »Meine Tür steht Ihnen jederzeit offen.« »Am Samstag war ich mit Hal Polino, Pauls studentischer Hilfskraft, auf einer Bonsai-Schau in Bakersfield.« »Ah, ja.« Sie glaubte, einen leisen Tadel aus seiner Bemerkung herauszuhören. »Sie begleiteten Mr. Polino?« »Ja. Er war sozusagen der Hauptgrund, warum ich mitgegangen bin. Ich dachte mir, daß durch spezifische
Beispiele angewandter Botanik vielleicht sein Interesse an diesem Fachgebiet erweitert werden könnte. Ich hatte also sozusagen pädagogische Hintergedanken. Darüber hinaus glaubte ich, als er mir zum ersten Mal über Pauls Fortschritte auf Flora berichtete, aus verschiedenen Bemerkungen eine Haltung gegenüber dem Planeten der Blumen herausgehört zu haben, die sich grundlegend unterschied von dem Heimweh und der beginnenden Erdentfremdung, die Dr. Berkeley in Ihrem und meinem Beisein erwähnte.« »Ah, ja, ich verstehe.« Dr. Gaynors Augen begannen zu leuchten. »Ich glaube, Dr. Berkeley war da wohl ein bißchen zu sehr beeindruckt von der vorübergehenden Nostalgie, die uns alle schon einmal befällt, wenn wir uns an ein schönes Land erinnern, das wir in unserer Jugend einmal besucht haben.« »Der Student Polino und ich diskutierten besagten Entfremdungseffekt, wie Dr. Berkeley ihn nennt, und wie Sie ihn gerade treffender und ein wenig poetischer als Nostalgie bezeichnet haben.« Freda wurde umgehend mit einem leichten Kopfnicken und einem Augenblinzeln belohnt. »Mr. Polinos Empfindungen waren jedoch das genaue Gegenteil. Er hält den Planeten nämlich für bösartig, er glaubt, daß hinter der schönen Fassade Gefahr lauert. Die Art, in Her er ihn beschrieb, lenkte mein Interesse von dem Planeten auf seine Person. Er ist so durcheinander, daß er glaubt, der Planet sei eine Bedrohung für alles menschliche Leben. Ich dachte mir, es wäre vielleicht ratsam, ihn unter heimliche psychiatrische Beobachtung zu stellen – sowohl im Interesse des Amtes als in seinem eigenen. Sollte nämlich der Senatsausschuß auf die Idee kommen, im Zusammenhang mit Ihrer Petition eine Untersuchung anzuordnen, dann bestünde die Möglichkeit, daß der junge Mann von einem Feld-Interviewer befragt wird. Stünde er aber unter psychiatrischer Beobachtung, dann wäre
natürlich jede seiner Aussagen praktisch wertlos. Was halten Sie von der Idee, ihn für eine Weile auf Sondererholungsurlaub zu schicken?« »Nein. Das wäre zu auffällig. Wenn ich ihn von der Basis wegschicke und es kommt tatsächlich zu einer Untersuchung, dann wäre er mit Sicherheit der erste, den der Feld-Interviewer befragen würde… Polino, Hal… Schauen wir mal nach.« Er schwenkte mit seinem Stuhl herum, was den silbergrauen, makellos gebügelten und gestärkten Kittel, den er häufig im Dienst trug, vernehmlich knistern ließ. Gaynor holte einen Karteikasten aus dem Schreibtisch. »Polino, Harold«, wiederholte er, als er die Karte, die er gesucht hatte, fand. »Harold Michelangelo Polino, um genau zu sein.« Er schob die Karte in einen Computer und drückte auf einen Knopf. Sofort begann die mit dem Computer gekoppelte Schreibmaschine zu summen, und ihr Kugelkopf tackerte los. Sekunden später schob sich langsam ein beschriebenes Blatt Papier aus dem Ausgabeschlitz der Maschine. Wie er so dasaß, mit seinem silbernen Haar und dem silbergrauen Arbeitskittel, den Oberkörper leicht zur Seite geneigt, mit reglosem, wachsbleichem Gesicht, die Augen starr auf das Blatt Papier mit den Lebensdaten von Harold Michelangelo Polino gerichtet, erschien Gaynor ihr für einen Moment wie eine Platinbüste. Dann schaute er ganz unvermittelt auf und lächelte sie an. »Wie Sie wissen, sind diese Berichte vertraulich, aber da ich zu Ihnen als Abteilungsleiterin besonderes Vertrauen hege, und dieser Bericht von Paul Theaston stammt, will ich Ihnen einen Auszug daraus vorlesen: ›Der besagte Student besitzt eine ausgeprägte Phantasie, die ihn befähigt, Phänomene aus den verschiedensten Gesichtswinkeln zu betrachten. In der reinen Forschung könnte diese Fähigkeit sich als vorteilhaft erweisen. Sicherlich trägt dies zu seinem intrinsischen Interesse als
Person bei, aber andererseits schmälert es seine Fähigkeit zur Detailbetrachtung. Seine spontanen Antworten und Reaktionen neigen mehr zur emotionellen als zur intellektuellen Seite seines Wesens – es sind eher künstlerische als wissenschaftliche Antworten und Reaktionen. Wenn man von gewissen Anpassungsschwierigkeiten einmal absieht, könnte man sagen, daß er als Zoologe überqualifiziert ist, obwohl er wahrscheinlich in diesem Zweig der Biologie glücklicher und beständiger wäre. In Übereinstimmung mit seinen gegenwärtigen Studien habe ich ihm empfohlen, auf einen Grad in Zytologie hinzuarbeiten – als vorbereitenden Schritt zu einer weiteren Qualifikation zum Zellbiologen. Als größtes Handikap würde ich seinen ausgeprägten Mangel an Methodik ansehen. Er bringt oft nicht die nötige Geduld für eine schrittweise aufbauende Analyse gegebener Phänomene auf, und es widerstrebt ihm, präzise Begleitprotokolle zu seinen Forschungen zu führen. Wenn es gelänge, durch gezieltes Training diese Schwächen zu eliminieren, könnten seine möglichen Beiträge zum Fortschritt der biologischen Wissenschaften sich als unschätzbar wertvoll erweisen.‹« »Ich muß gestehen, ich bin etwas verwirrt«, sagte Freda. »Zerreißt Paul ihn nun mit sanftem Lob in der Luft, oder lobt er ihn mit einem sanften Verriß?« »Im Prinzip sagt Paul nichts anderes, als daß er ein brillanter Student ist, wenn man ihm die Flausen aus dem Kopf treibt und ihn ordentlich ans Büffeln kriegt. Und darauf will er künftig sein Augenmerk ein wenig mehr richten.« Gaynor schwang herum und trommelte nachdenklich eine Weile auf der blankpolierten Platte seines Schreibtisches herum. »Wenn man ihn ans Büffeln kriegt, würde das sicherlich seine Höhenflüge ein wenig bremsen… Da ich Sie nun schon einmal so weit ins Vertrauen gezogen habe, Dr. Caron, erlauben Sie mir, noch einen Schritt weiterzugehen. Sie
haben aufgrund Ihrer Zuverlässigkeit und sorgfältigen Arbeit bei vielen Leuten Pluspunkte gesammelt. Ihre Berichte sind präzise und verständlich geschrieben.« Plötzlich hatte Freda das Gefühl, unter einer riesigen Schneewächte zu stehen, die jeden Moment abbrechen und sie unter sich begraben konnte. Das Tauwetter hatte schon eingesetzt. Und das Unheil nahm seinen Lauf: »Sie machen sich Sorgen um den Studenten, und Ihre Sorge bestätigt voll und ganz die Bedenken, die auch aus seiner offiziellen Akte hervorgehen. Ich muß Ihren Scharfblick loben… Nun sehe ich hier anhand Ihres Arbeitsplans für den Monat Februar, daß Sie vorhaben, die Caron-Tulpen per Hand zu bestäuben. Ich meine, daß sich hier eine außerordentlich günstige Gelegenheit bietet. Verstehen Sie mich recht, Dr. Caron, ich möchte mich keinesfalls in Ihre Belange als Abteilungsleiterin einmischen, aber ich kann mir keine mühsamere und kniffligere Aufgabe vorstellen als die Handbestäubung von… äh… dreiundsechzig Tulpen, bzw. zweiunddreißig zum Quadrat. Ihr Memorandum über die Rotation der studentischen Hilfskräfte ist beim VorschlagsboxKomitee auf einhellige Zustimmung gestoßen, und ich habe daher die Absicht, Ihnen den Studenten Hal Polino zuzuteilen – zum einen, damit er einer sorgfältigen und diskreten psychiatrischen Beobachtung unterliegt, zum anderen, damit Sie die Gelegenheit haben, bei einem Studenten, der einen dringenden Nachholbedarf in Methodologie hat, die Therapie der mühsamen Kleinarbeit anzuwenden.« Freda wurde von der Lawine, die ihr eigenes Memorandum ausgelöst hatte, buchstäblich zermalmt. Um Paul zu retten, hatte sie sich selbst geopfert. Jetzt hatte sie Polino auf dem Hals. Gegen eine persönliche Anweisung von Dr. Gaynor legte man keinen Widerspruch ein. Im Gegenteil, man hatte milde Begeisterung zu zeigen. »Nun, Dr. Gaynor, damit hatte ich natürlich nicht gerechnet«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Aber es ist in der Tat
eine außerordentlich günstige Gelegenheit. Die Handbestäubung der Tulpen wird ihn so in Anspruch nehmen, daß er gar keine Zeit für Höhenflüge hat.« Auch das entsprach der Wahrheit. Hal Polino würde in der Tat keine Zeit haben, seine Feindschaft auf den Planeten Flora zu konzentrieren. Er würde sie vielmehr ausschließlich auf seine neue Mentorin konzentrieren. Herrliche Aussichten! Das Orakel am Schwarzen Brett hatte sich auf unerwartete Weise schon vorzeitig erfüllt: Obwohl sie noch nicht einmal in Washington gewesen waren, hatte Charlie es bereits »mit Freda gemacht«.
Polinos Reaktion war genau die, mit der sie gerechnet hatte: Kummer und Enttäuschung. Aber sie hatte sich bereits eine entsprechende Amtsmiene zurechtgelegt, um dem finsteren Blick ihres Gegenübers gewappnet zu sein. »Mr. Polino, es handelt sich hierbei um eine offizielle Anordnung von höherer Stelle, und Sie haben keine andere Wahl, als sie zu befolgen. Ich garantiere Ihnen, es handelt sich um eine überaus mühselige und langweilige Arbeit, aber sie ist absolut notwendig, und Sie werden in den kommenden zwei Wochen ganz allein arbeiten müssen. Alle dreißig Samenkörner, die Sie vom Fußboden aufgelesen haben, plus der beiden, die Paul Ihnen mitgegeben hat, sind inzwischen aufgegangen. Und da die Tulpe, die ich aus dem Topf genommen habe, ebenfalls mit der neuen Umgebung zurechtzukommen scheint, bin ich zuversichtlich, daß Sie die Schößlinge binnen der nächsten zwei oder drei Tage nach draußen umpflanzen können. Wenn sie es schaffen, sich der veränderten Bodenbeschaffenheit und den Temperaturschwankungen anzupassen, wird Ihre Arbeit während der nächsten vierzehn Tage vom Umfang her gewaltig zunehmen, jedoch auch interessanter werden.«
»Gewaltig zunehmen ist genau der richtige Ausdruck, Dr. Caron. Ich sehe schon, ich werde geradezu überwältigt sein.« »Sie gehen mit einer völlig falschen Einstellung an die Sache heran!« sagte sie in scharfem Ton. »Vergessen Sie nicht, daß Sie einen Beitrag zur Verschönerung der irdischen Flora leisten, wenn diese Pflanzen sich hier anpassen.« »In diesem Fall, liebes Fräulein Doktor, täten Sie besser daran, meine Einstellung jetzt gleich zu korrigieren.« Seine Stimme hatte jetzt einen fast gehässigen Klang. »Wenn sich diese Viecher hier anpassen, werde ich nämlich später keine Zeit mehr dazu haben.« »Zum ersten wünsche ich ein ausführliches Protokoll, in das Sie bitte jedweden Fakt, der in irgendeiner Weise die CaronTulpen betrifft, aufnehmen wollen, wie zum Beispiel den exakten Zeitpunkt der Beobachtung, dazu Daten wie Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchtigkeit etc. sowie jede Klimaveränderung, die sich in irgendeiner Form auf die Blumen auswirkt.« Hal starrte sie zutiefst beleidigt mit seinen braunen Rehaugen an, und so fügte sie in einem etwas versöhnlicher klingenden Ton hinzu: »Und ich wünsche keine Einträge in Versform!« Er mußte über ihren witzigen Einfall grinsen. Als er, offenbar schon wieder ganz obenauf, davonhüpfte, sang er: »Er ist so fleißig wie ein Bienchen! Wer ist so fleißig wie ein Bienchen? Das kleine alte Befruchterpolinchen!« Wenn ich ihn an die Kandare kriegen will, dachte Freda mit einem inneren Seufzer, brauche ich eine gehörige Portion an Standfestigkeit und Autorität. Sie würde vor allem keinerlei Vertraulichkeiten seitens eines Studenten tolerieren, der schon zweimal in ihrer Gegenwart betrunken gewesen war.
»Und noch etwas, Mr. Polino«, rief sie ihm hinterher, und er drehte sich um. »Das Telefon hier ist ausschließlich für dienstliche Gespräche.« »Zu Befehl, Madam!«
Fredas Reise nach Washington begann unter angenehmen Vorzeichen, in erster Linie, weil Dr. Hans Clayborg in Bakersfield zu der Gruppe stieß, um gemeinsam mit ihr nach Washington weiterzufliegen. Er war ein dynamischer kleiner Mann und mit einem solchen Witz und Ideenreichtum versehen, daß die elektrische Spannung, die sein Geist erzeugte, seine Haare praktisch zu Berge stehen ließ. »Mein Schweden-Watussi-Look«, vertraute er Freda gleich, nachdem sie miteinander bekannt gemacht worden waren, lachend an, »soll von der Schönheit meiner Zähne ablenken.« Und als Freda sich, geschmeichelt von dem offensichtlichen Interesse, das er ihr entgegenbrachte, charmant über seine prachtvollen Zähne ausließ, nahm er sie heraus, damit sie sie sich aus der Nähe anschauen konnte. Sie war zugleich erleichtert und amüsiert über diese Geste: Er war nicht humorlos, und er war zu alt, um eine Gefahr für sie darzustellen. Die zweite positive Überraschung war, daß Dr. Berkeley seine ursprüngliche Position widerrufen hatte – wenn auch nur dergestalt, daß sein Gutachten über die psychologische Wirkung Floras auf Menschen in etwa neutral ausgefallen war. »Ich habe dem Planeten gegenüber Vorbehalte«, erzählte er Freda während des Fluges, »aber die sind auch kaum größer als meine Vorbehalte gegenüber der Erde. Unser junger Freund Dr. Youngblood äußerte sich derart enthusiastisch über Gaynors Projekt, daß er mich überzeugt hat. Ohne die Gefahr der Erdentfremdung, die einen möglicherweise auf Flora befallen könnte, herunterzuspielen, wies er auf den positiven
Effekt hin, den die großartige Landschaft – das sind seine Worte, nicht meine – auf die Psyche der Sternstarrer haben könnte. Er meinte, der Aufenthalt auf dieser Welt könnte durchaus bewirken, daß sich die Knoten in ihren Hälsen wieder glätten. Um es klar zu sagen, er machte den Vorschlag, Flora sozusagen als Sanatorium für Mondsüchtige auszubauen… Ich werde Ihnen sein Gutachten mal zu lesen geben.« Freda war überrascht, daß sie bereits am Flughafen in Washington von einer Reporterschar erwartet wurden und man sie sofort zum Hearingsaal des Senatsgebäudes brachte, wo sie in Gegenwart der Presse zu einem ersten Gespräch mit den Mitgliedern des Ausschusses zusammentreffen sollten. Besonders angetan war sie von Senator Heyburn, dem Vorsitzenden des Senatsausschusses für Planetenklassifizierung. »Ich würde empfehlen, daß die junge Beraterin der Athener ein wenig im Hintergrund gehalten wird«, sagte er im Beisein der Anwesenden, die größtenteils aus Pressevertretern bestanden, »weil ich in diesem Ausschuß als eine Art Advocatus Diaboli fungiere, und ich befürchte, daß ich meine Pflichten angesichts eines Engels nur unvollkommen wahrnehmen kann.« Senator Heyburn strahlte etwas Gütiges aus. Seine großen, sanften Augen, seine ruhigen Handbewegungen und sein massiger Schädel mit der mächtigen Löwenmähne bildeten den passenden Rahmen für seine Stimme. Freda konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Stimme gehört zu haben: obwohl sie sehr tief war und der Senator sehr leise sprach, füllte sie den Saal mit dem knarrenden, sonoren Dröhnen einer Baßtuba. Dr. Clayborg meinte später, er habe sich an ein Nebelhorn erinnert gefühlt, das durch einen Samtvorhang blase, während Berkeley mit der etwas ungewöhnlichen Assoziation herausrückte, die Stimme des Senators höre sich so an, als hätte er den Mund voll Maismehlbrei.
Die Reaktion der Presse irritierte Freda. Heyburns Bemerkung über die »Athener« implizierte, daß es auch irgendwo Spartaner geben mußte. Die Spartaner, so erfuhr sie aus der Zeitung, waren die Südstaatensenatoren des Ausschusses, die sich strikt gegen jede Besiedlung neuentdeckter Planeten wandten, weil der dadurch entstehende Schwund an qualifizierten Arbeitskräften ihre Region angeblich härter als die anderen Staaten traf. In Wahrheit ging es ihnen bloß darum, die Löhne ihrer Dienstboten niedrig zu halten, und Freda hielt eine solche Einstellung für egoistisch und daher unhaltbar. Aber die Presse war in dieser Frage genau in der Mitte gespalten. Ein Teil von ihnen – darunter sogar ein paar Nordstaatler – unterstützte offen die Spartaner. Freda hatte erwartet, das Hearing würde eine wohlgesittete, förmliche Zusammenkunft sein, dessen Zweck hauptsächlich darin bestand, daß Dr. Gaynor seine Petition überreichte und beide Seiten noch ein paar Nettigkeiten austauschten, bevor man rundum zufrieden und in allen Punkten einig wieder nach Hause ging. Die Berichte von Abteilung Able waren kaum in die Zeitungen gelangt, doch schon formierte sich die Opposition. Gleich am ersten Tag der Vorgespräche beantragte der Bevollmächtigte des Ausschusses eine viertägige Verschiebung des Hearings, damit man Zeit habe, die Gegenstimmen zu sammeln, die sich gegen eine ständige Forschungsstation auf Flora aussprachen. Freda fragte Dr. Clayborg, der sich in der Politik auszukennen schien, warum irgend jemand etwas gegen die Station haben könne. »Weil damit ein Präzedenzfall geschaffen wäre«, erklärte er ihr, »und gewöhnlich schließt sich die UNO einem solchen Präzedenzfall an. Das würde in diesem Falle bedeuten, daß die UNO auf den Druck der Sowjets hin auch andere Planeten öffnen würde, und damit hätten die Russen die Möglichkeit, ihre usbekischen Dissidenten, die ja bekanntlich auf ihr Recht
auf Selbstverwaltung pochen, auf irgendeinem unwirtlichen Planeten abzuladen.« Die Rede, die Heyburn anläßlich seines Placet zur Vertagung des Hearings hielt, geriet nach Fredas Dafürhalten ziemlich lang. Als Begründung gab der Senator an, daß es zu begrüßen sei, »… wenn der gegenwärtige Dialog, jenes sorgfältige Abwägen aller Für und Wider, fortgesetzt wird, ist es doch gerade diese Tradition, meine Damen und Herren, die unser Land groß gemacht hat!« »Er meint wohl ›Monolog‹«, flüsterte Clayborg ihr zu. Im Hotel hockten die Athener ziemlich deprimiert in dem kleinen Nebenraum, den man ihnen zur Diskussion ihrer weiteren Strategie reserviert hatte. Dr. Gaynor – Freda nannte ihn übrigens niemals »Charles« – war enttäuscht über die Vertagung. »Ich hatte gehofft, ich könnte meine Petition durchkriegen, bevor sich eventuelle Gegenmeinungen organisiert hätten.« »Charlie«, schnaubte Clayborg, »die Fronten waren schon abgesteckt, bevor Flora zum ersten Mal als leuchtender Punkt in Ramsbotham-Twatwethams Teleskop auftauchte.« »Vielleicht sollten wir noch ein zusätzliches Geschütz auffahren«, schlug Berkeley vor, »das nicht rein wissenschaftlich ist; etwas, das auf die Tränendrüsen des Ausschusses drückt.« »Wie wär’s mit Dr. Youngbloods Idee«, meldete sich Freda zu Wort, »Flora als Sanatorium für die Erdentfremdeten vorzuschlagen? Jedenfalls würden sie dort nicht dauernd hinfallen und sich die Kniescheiben brechen, wenn sie des Nachts herumwandern.« »Ich muß gestehen, ich persönlich bin nicht sehr davon erbaut, dem jungen Spund zu einer geschwellten Brust zu verhelfen«, sagte Dr. Berkeley, »aber Sie, Charles, erwähnten doch, daß Sie große Stücke auf ihn halten.«
»In seiner Eigenschaft als Verwaltungskraft, Jim«, erwiderte Gaynor. »Sein fachliches Know-how vermag ich nicht zu beurteilen.« »Falls ihr es auf dieser Ebene versuchen wollt«, schaltete sich Clayborg ein, »dann habe ich da noch einen echten Trumpf im Ärmel – Rosentiel. Er liegt drüben im St.-Elisabeth-Hospital auf der geschlossenen Abteilung. Rosie war Heyburns erklärter Schützling, bevor ihn die Sternsucht erwischte.« »Offen gestanden hatte ich die Absicht, die Problematik der Raumkrankheiten möglichst zu vermeiden«, antwortete Gaynor, »aber was meinen Sie dazu, Jim?« »Es hätte mit Sicherheit einen gewissen Schockeffekt. Wenn ich mich recht erinnere, war er ein ausgezeichneter Redner und stand auf gutem Fuß mit der Presse.« »Kommt darauf an, welche Presse Sie meinen«, sagte Gaynor nachdenklich. »Mit der etablierten Presse konnte er es nämlich nicht so sonderlich gut.« »Aber dafür um so besser mit der Untergrundpresse«, hielt Clayborg entgegen, »die ja bekanntlich in Washington die einzige ist, die über Einfluß verfügt.« Erst in diesem Moment fiel bei Freda der Groschen. Der Mann, um den es hier ging, war Henry Rosentiel, der ehemalige Raumfahrtminister, der seit fünf Jahren mit Raumekstase auf der geschlossenen Abteilung des St. Elisabeth-Hospitals lag! Als Minister war er einige Male aufgrund seines Hanges zum Perfektionismus und aus Pflichtgefühl im wachen Zustand auf der Kommandobrücke von Raumkreuzern mitgefahren, und dabei hatte er sich jene übersteigerte Ehrfurcht vor großen Entfernungen zugezogen, die gemeinhin als Raumwahn, Raumekstase oder Erdentfremdung bezeichnet wurde. Danach hatte er tatsächlich versucht, heimlich die Erde zu verlassen – eine Unverzeihlichkeit für einen Mann, der im Rampenlicht der
Öffentlichkeit stand –, und war geschnappt worden, als er gerade dabei war, sich auf einen Raumkreuzer als blinder Passagier einzuschleichen. Dummerweise hatte die Regierung versucht, die Affäre zu vertuschen. Am Abend desselben Tages, als der Pressesprecher des Präsidenten Rosentiels Rücktritt »aus privaten Gründen« bekanntgegeben hatte, war in der Untergrundpresse sein Bild erschienen, das ihn zeigte, wie er gerade, eingerahmt von zwei Raumpolizisten, von Bord des Schiffes geführt wurde. Er hatte den Kopf weit nach hinten geneigt und zeigte die charakteristische Haltung der »Nachtschleicher«, wie man die Raumkranken im Volksmund zu bezeichnen pflegte. Das Photo, das ihn von oben zeigte, hatte die Wehmut und den Hunger in seinen Augen mit einer derartigen Schärfe und Deutlichkeit eingefangen, daß Freda sich bis auf den heutigen Tag noch daran erinnern konnte – genau wie an die Schlagzeile, die darüber geprangt hatte: »Wie ein kranker Adler, der in den Himmel schaut.« »Schön. Und wie hast du dir das im einzelnen gedacht?« fragte Gaynor Clayborg. »Kann er denn überhaupt angesichts seiner… äh… Schrulligkeit so ohne weiteres – « »Er hat sich über längere Phasen hinweg voll und ganz unter Kontrolle«, erklärte Clayborg. »Vor allem, wenn in seiner Gegenwart niemand die Sterne oder die Nacht erwähnt. Aber Jim kann ja morgen früh mit mir zum St.-Elisabeth-Hospital fahren und sich in seiner Eigenschaft als Psychiater für Rosies Stabilität während des Ausgangs verbürgen. Wenn Rosie sich dazu bereit erklärt, Jim mitmacht und du deine Einwilligung gibst, dann ist dir deine Gaynor-Station so gut wie sicher, und ich habe meinen Entropisten auf Flora.« »Ist es überhaupt gesetzlich erlaubt, daß psychisch Kranke Aussagen vor einem Senatsausschuß machen?« wollte Freda wissen. »Es ist kein offizielles Hearing«, erklärte ihr Gaynor.
»Wir versuchen nichts weiter, als Heyburn zu überzeugen… Also meinen Segen hast du hiermit, Hans. Aber wenn Rosentiel sich zur Aussage bereit erklärt, dann muß eindeutig darauf hingewiesen werden, daß seine Meinung nicht die offizielle Haltung des Amts wiedergibt.« »Ich hätte meine Tulpe als Zeugin mitbringen sollen«, sagte Freda. »Die könnte Heyburn bestimmt überzeugen.« »Freda und ihre sprechenden Tulpen«, sagte Gaynor schmunzelnd und tätschelte ihr mit onkelhaftem Humor die Hand. Aus einem puren Willensakt heraus zog Freda sie nicht zurück, sondern ließ ihn tätscheln. Nach der Strategiebesprechung zog sie sich in ihr Zimmer zurück, um zu lesen, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Gaynors Tätscheln zurück und zu dem Ekel, den sie dabei empfunden hatte. Jeden Moment rechnete sie mit dem unvermeidlichen Pochen an der Tür oder dem Schrillen des Telefons. Fing Gaynor erst einmal damit an, seine Annäherungsversuche auf den Privatbereich auszudehnen, dann saß sie unweigerlich in der Klemme, denn es würde ihr unmöglich sein, ihre Abscheu vor jeder Art körperlicher Berührung lange zu verbergen. Sie versuchte, sich mit der Vorstellung zu beruhigen, daß er vielleicht schwul war, aber dieser Gedanke nützte ihr auch nicht viel. Nervös sprang sie auf und begann, in ihrem Zimmer auf und ab zu laufen. In dem Moment, wo seine Hand erst ihren Schenkel berührte, würde alles, worauf sie hingearbeitet hatte, der Posten als Amtsleiterin, die Berufung ins Ministerium, die eventuelle Mitgliedschaft im Kabinett, in einem einzigen lauten Entsetzensschrei, den sie nicht als einen Schrei der Wollust würde maskieren können, untergehen. Ihre Schritte wurden schneller und nervöser. War es nicht eigentlich absurd, daß sie sich durch ein dummes Gekritzel an irgendeinem Schwarzen Brett irgendeines Aufenthaltsraumes
so verrückt machen ließ? Gaynor war verheiratet, hatte drei Kinder und ließ keine Gelegenheit aus, seinen Platin-Ehering aufblitzen zu lassen – aber waren nicht gerade Männer von dieser Sorte die Schlimmsten? Na schön, dachte sie, wenn es hart auf hart kommt, dann erzähle ich ihm einfach, ich hätte mich irgendwo mit Lepra infiziert. Daß sie ausgerechnet auf Lepra als rettenden Strohhalm verfallen war, kam ihr im selben Moment so absurd vor, daß sie unwillkürlich lachen mußte, was sie vorübergehend von dem Druck befreite. Und just, als ihr Lächeln am breitesten war, schrillte das Telefon. Sie zuckte zusammen wie vom Blitz getroffen und stürzte an den Apparat. Bevor sie jedoch den Hörer abhob, ließ sie es noch ein-, zweimal klingeln. Wenigstens sollte er nicht denken, sie hätte die ganze Zeit davorgesessen und mit klopfendem Herzen auf seinen Anruf gewartet. Dann hob sie ab. Das Gurren, mit dem sie ihre Stimme unterlegen wollte, geriet jedoch eher zu einem heiseren Krächzen, als sie sagte: »Freda Caron am Apparat.« »Hi, Freda. Hier ist Hans Clayborg. Ich interessiere mich für Ihre Tulpe. Was halten Sie von der Idee, wenn wir uns noch auf einen Schlummertrunk in der Bar treffen?« »Hans! Aber klar doch! Bin schon unterwegs.« »Moment mal, was wollen Sie trinken? Der Kellner ist gerade in der Nähe.« »Egal. Das, was Sie trinken. Aber einen Doppelten, wenn ich bitten darf!« Hans erwartete sie in einer Ecknische und begrüßte sie mit den Worten: »Die haben mir erzählt, Sie hätten eine Tulpe, die nicht von dieser Welt ist.« »Jetzt ist sie’s aber. Sie ist jetzt nämlich in der Nähe von Fresno.« Gebannt hörte er zu, als sie ihm von der Tulpe erzählte. Beim zweiten Glas erzählte sie ihm bereits die ganze Geschichte von Paul und seinen Orchideen, von Hal und
seinen Bäumen, und von der Verschwörung, die sie beide auf dem Planeten vermuteten. Hans starrte sie mit großen Augen an, und als sie fertig war, stammelte er, atemlos begeistert: »Wunderbar!… Unglaublich!… Wahnsinn!« Was die Frage der Orchideenbefruchtung betraf, war Hans genauso ratlos wie Paul. »Paul hat denselben Ansatz benutzt, den auch ich benutzen würde, und die Schlußfolgerungen, die er zieht, sind die gleichen, die auch ich gezogen hätte; durch irgendeinen logischen Denkfehler lassen sich die Fakten nicht greifen. Aber Ihre Idee, das Verhalten der Tulpen hier zu beobachten und die Fakten auf einem Siebener-Level in den Computer zu geben, finde ich gut.« Als sie fertig war und der Kellner den dritten Drink serviert hatte, verriet Hans ihr übermütig drauflosplappernd, wie er dazu gekommen war, Entropie zu studieren: »Weil ich als junger Bengel beim Frauenjagen immer soviel Energie verbrauchte, begann ich mich für Energie als solche zu interessieren.« Er versuchte ihr zu erklären, was das Goldbergsche Entropiegesetz war, und warum während der vergangenen Jahrhunderte immer mehr Sterne in immer rascherer Folge explodiert waren, aber sie konnte den Schauder, der ihn angesichts des Erlöschens einiger Sterne befiel, nicht teilen. Was machte es schon für einen Unterschied, ob das Universum nun vierzig Milliarden Jahre früher oder später verglühte? Vierzig Milliarden Jahre sind eine Größe, die wir mit unserem Verstand ohnehin nicht erfassen können, würde ihr Psychiater jetzt sagen. Was machte es schon, wenn an einem Wochenende ein paar tausend Sterne erloschen, bei den zig Millionen, die übrigblieben? Weit interessanter und spannender fand sie, daß er Hals Theorie, nach der die Pflanzen Floras möglicherweise weit intelligenter waren als der Mensch, für richtig hielt. Fast vom Hocker aber fiel sie, als er mit der These herausrückte, Pauls
Orchideen entwickelten sich möglicherweise nicht zu einer beweglichen Gattung hin, sondern davon weg! »Das ist der Grund, warum ich einen Entropisten auf Flora haben möchte. Irgend jemand muß ja für den Tag X planen, an dem die Sonne ihren Geist aufgibt, und da es kein anderer tut, ist diese Aufgabe nun mal den Entropisten zugefallen. Diese Pflanzen sind sich der Tatsache, daß ihre Sonne aufgrund der schwächer werdenden Energiequantumssprünge in den letzten Zügen liegt, bei ihrem Stoffwechselprozeß voll bewußt, und es könnte durchaus sein, daß sie bereits dabei sind, ihre Spezies darauf zu konditionieren, den langen Winter des Todes und die Hitze der Wiedergeburt zu überleben.« »Sie denken schon genau wie Hal Polino«, sagte Freda. »Ja. Wir arbeiten in Santa Barbara viel mit Intuition. Der Mensch, so wie wir ihn kennen, ist nicht in der Lage, den Tod und die Wiedergeburt des Universums zu überleben. Aber wir arbeiten an dem Problem. Zur Zeit sind wir zum Beispiel dabei, Kapseln aus stabilisierter Aminosäure eintausendsiebenhundert Meter tief unter der Sahara einzugraben. Die Chance, daß vielleicht eine dieser Kapseln irgendwann an der Oberfläche eines planetaren Ozeans auftaucht, dessen Welt ein Fragment der unseren enthält, und eine Evolution in Gang setzt, die einen neuen Lebenszyklus einleitet, ist gleich Null. Aber solche Unwahrscheinlichkeiten gehören bei uns in Santa Barbara zum Geschäft.« »Jetzt wissen wir ja, wohin das Geld der Steuerzahler fließt«, meinte Freda trocken. »In ein Loch in der Sahara!« »Samenkörner könnten vielleicht überleben«, sinnierte Hans weiter. »Wenn es uns gelänge, ein menschliches Samenkorn zu konstruieren – « »Und jetzt klingen Sie genau wie Paul Theaston!« rief sie entzückt aus. Auf Hans’ Drängen hin erläuterte sie ihm die – allerdings leicht von ihr überarbeitete – Theorie Pauls über das
Überleben der Orchideen. »Zuerst hielt ich ihn für ein bißchen verrückt«, beschloß sie ihren Bericht, »aber Verrücktheit ist ein relativer Begriff. Menschliches Samenkorn, hah!« »Wo wir gerade von Korn sprechen«, sagte Hans, »kennen Sie die Geschichte von der Indianersquaw, die ihre Gunst für fünf Dollar oder einen Scheffel Korn verkaufte?« »Hört sich an wie eine dieser Geschichten, die man sich nach dem sechsten Drink erzählt«, entgegnete Freda. »Ich habe mein Quantum mit vier sowieso schon um einen überzogen… Großer Gott, es ist schon zwei Uhr! Hoffentlich macht Dr. Gaynor keinen Kontrollgang, um nachzugucken, ob wir auch alle brav im Bett sind!« »Wenn Gaynor nachts um zwei eine Bettkontrolle macht«, sagte Hans und erhob sich, »dann täte Freda Caron besser daran, unter dem Bett statt darin zu liegen.« Sie bugsierten sich gegenseitig zum und in den Aufzug. Hans mußte eine Etage höher als Freda. Als sie ausstieg, wünschte er ihr, bevor die Tür wieder zuglitt, eine gute Nacht und sagte rasch, daß sie aufgrund seines Energieverlustes ein Anrecht auf ihn erwirkt habe. Aber sie entwischte ihm mit einem vielsagenden Schmunzeln und begab sich auf ihr Zimmer. Während sie sich auszog und ins Bett legte, grübelte sie über eine seltsame Entdeckung nach, die sie an sich selbst gemacht hatte: nach vier Cocktails oder vier Glas Wein verschwand ihre Aversion gegen körperliche Berührung. Sie fragte sich verwundert, was wohl nach dem fünften Drink passieren würde. Vielleicht eine Abreaktion? Als Freda aufwachte, war es fast Mittag, und sie sprang, wütend über sich und ihre Trägheit, aus dem Bett. Doch im selben Moment fiel ihr ein, daß es in Kalifornien noch nicht einmal acht Uhr war. Trotzdem zog sie sich hastig an und fuhr mit dem Express-Aufzug hinunter ins Erdgeschoß zum Konferenzzimmer. Als sie ein wenig atemlos in die Nische
gehastet kam, die für die Athener reserviert war, waren alle drei Männer schon anwesend, aber Dr. Gaynor unterhielt sich gerade mit einem Reporter von der Washington Post Hans und Jim begrüßten sie lediglich mit einem mürrischen Nicken. Ihren Mienen nach zu urteilen hatte Rosentiel entweder einen Rückfall erlitten oder abgelehnt, vor dem Ausschuß auszusagen. Diese Befürchtung erwies sich jedoch sofort als gegenstandslos, denn sie hörte, wie Gaynor zu dem Reporter sagte, sie alle seien hocherfreut darüber, daß der ehemalige Raumfahrtminister Henry Rosentiel seine Bereitschaft erklärt habe, sich dafür zu verwenden, Flora zum offenen Planeten zu erklären. Er, Gaynor, müsse jedoch mit Nachdruck noch einmal darauf hinweisen, daß es sich hier ausschließlich um Rosentiels Privatmeinung handele, die keineswegs die offizielle Meinung des Amts für exotische Pflanzen widerspiegele. Nachdem der Reporter der Post sich bei Gaynor bedankt hatte und wieder gegangen war, zog Dr. Berkeley die neuste Ausgabe der Washington Posthole aus seiner auf dem Stuhl neben ihm liegenden Jacke hervor und drückte sie Freda in die Hand. Quer über die erste Seite des in mieser Qualität gedruckten Untergrundblattes prangte die Schlagzeile: »Jetzt setzen die Spartaner auf die Navy in ihrem Kampf gegen Flora!« Darunter war ein drei Spalten breites Foto, das Gaynor und seine drei Begleiter zeigte, wie sie gerade dem Flugzeug entstiegen – der Fotograf hatte sie im Halbprofil erwischt, nicht gerade in ihrer günstigsten Pose –, und darunter stand die Bildunterschrift: »Vier Lämmer auf dem Weg zur Schur.« Sie überflog hastig den Artikel. Kein Geringerer als Admiral Creighton, der oberste Chef der Navy-Disziplinarbehörde, war von den Spartanern als Kronzeuge gegen die Errichtung einer festen Forschungsstation auf Flora aufgeboten worden. Und dessen Berater war, wie Freda mit Erstaunen las, Philip Barron, der Kapitän des USSS Botany.
»Seltsam, Kapitän Barron war doch geradezu begeistert von Flora!« »Das macht den Fall ja gerade so schwierig«, sagte Clayborg. »Barron war dort. Selbst wenn er kein Wort sagt – womit höchstwahrscheinlich zu rechnen ist –, schadet er uns schon durch seine bloße Anwesenheit. Er befindet sich in der Position eines Mannes, der gegen seine eigene Frau aussagt. Was bedeutet, daß die Dame ein Flittchen ist.« »Wenn Rosentiel auf dem Podium so redet, wie er es mit Hans und mir getan hat«, sagte Dr. Berkeley zu Dr. Gaynor, »dann rate ich Ihnen, die psychologischen Faktoren zu unterstreichen, Charles. Treffen wir die Navy da, wo sie nicht zurückschlagen kann!« »Hans, wie stark ist die Freundschaft zwischen Rosentiel und Heyburn, von der du gesprochen hast?« fragte Gaynor unvermittelt. »Rosie hat bei Heyburn in Nord-Dakota Jura studiert. Er war Heyburns Lieblingsschüler und managte für ihn den Wahlkampf bei der Senatorenwahl. Als Gegenleistung empfahl Heyburn ihn dann als Raumfahrtminister.« »Also so eine Art Vater-Sohn-Verhältnis?« »Mehr noch, Charlie. Heyburn fühlt sich mitschuldig an Rosies Raumwahn, weil er ihn praktisch in die Sache hineingetrieben hat.« »Heyburns Loyalität erstreckt sich aber auch noch auf jemand anders, steht hier«, mischte sich Berkeley ein. »Nämlich die Navy. Ohne die Reparaturbasis am Red River und den Raumhafen von Bismarck könnte Nord-Dakota einpacken.« »Und dann ist da noch die USSS Heyburn«, sagte Freda. »Das Schiff«, wußte Berkeley, »ist nach seinem Sohn benannt worden, der im Andromedanebel verschollen ist… Hört mal, ich hab’ da eine Idee! Wie wär’s, wenn wir der spartanischen Härte die athenische Schönheit entgegensetzen würden?
Lassen wir doch einfach Freda unser Plädoyer halten! Was meinen Sie, Charles?« Gaynor stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich spiele einen gewagten Grand ohne zwei, und da kann ich nicht gleich in der ersten Runde mit meinem Herz-Buben rauskommen.« »Um bei der Metaphorik zu bleiben«, schaltete sich Hans in die Debatte ein, »ich bin dagegen, unseren Neuling in die Sturmmitte zu stellen. Versagt sie, haben wir keinen mehr auf der Reservebank, der das Spiel noch herumreißen könnte.« »Ich habe erhebliche Bedenken, Dr. Caron vor dem Ausschuß auftreten zu lassen«, bekräftigte Gaynor noch einmal. »Diese Südstaatler verlieren nämlich schnell ihr Kavaliersgehabe, wenn es um ihre Pfründe geht… Wenn wir Heyburn überzeugen können, dann wird er schon Mittel und Wege finden, wie er sie rumkriegen kann. Ich sage, suchen wir unsere Chance auf dem Feld der Botanik, der Psychiatrie und der Entropie… Bringen wir Dr. Youngbloods Idee mit dem Sanatorium… Und du, Hans, packst sie von der entropischen Flanke her. Erzähl ihnen was von der pflanzlichen Evolution auf einem sterbenden Planeten, und wie lebenswichtig es für die Menschheit ist, solche Prozesse zu studieren. Andererseits, wenn wir Freda vor einem Senatsausschuß sprechen lassen… Ich meine, die Publicity…« Freda überlegte blitzschnell und dachte Dr. Gaynors vage Andeutung zu Ende. Wenn sie vor einem Senatshearing auftrat, mit all der Publicity, die damit verbunden war, würde sie sicherlich dem Landwirtschaftsminister ins Auge fallen, der ja schon von Amts wegen ein solches Hearing mit Interesse verfolgen würde. Und angenommen, ihr Auftritt wäre von Erfolg gekrönt… »Dr. Gaynor, alles, was wert ist, daß man daran glaubt, ist auch wert, daß man dafür kämpft. Da das Amt als Behörde diese Petition einreicht, stehe ich
selbstverständlich zur Verfügung, wenn Sie, meine Herren, es für richtig halten.« »Braves Mädchen!« rief Berkeley begeistert aus. »Wir könnten ihr mit Dr. Youngbloods Sanatoriumsvorschlag Feuerschutz geben. Meine Herren, damit blasen wir die Schlachtschiffe der Navy ins All!« »Eine durchaus logische Taktik«, gab Gaynor zu, »wenn wir uns darauf versteifen wollen, Heyburn von der emotionalen Seite zu packen. Der Zweck heiligt die Mittel. Wenn Freda die Publicity nicht scheut, na gut, dann können wir es versuchen… Meine Herrschaften, wie wär’s, wenn wir das begießen? Stoßen wir an auf unsere neue Jeanne d’Arc!« »Ich nehme eine Bloody Mary – zu Ehren unserer Entscheidung«, sagte Hans. Irgendwie klang Clayborgs letzte Bemerkung unheilvoll, und Freda spürte sehr wohl die versteckte Andeutung, die sie beinhaltete. Es schien, als hielte Clayborg ihre Sache für gescheitert, weil sie sich bereit erklärt hatte, die Petition einzureichen.
5
Freda trug dem Ausschuß das Plädoyer für die Petition des Amtes ohne Lampenfieber vor, ja sie brachte sogar die Ruhe auf, mit Bedauern zu registrieren, daß die Pressekameras sie in ungünstiger Pose, nämlich im Halbprofil, erfaßten. Als sie ihren Vortrag beendet hatte, erschien ihr das ganze unvermeidliche Drumherum der Publicity – Scheinwerfer, Kameras, das Rascheln der Stenoblocks – weniger verwirrend als der Blick, mit dem der ehemalige Raumfahrtminister sie fixierte. Er war so eindeutig, daß sie sich fragte, ob im StElisabeth Hospital nur männliche Pfleger beschäftigt waren. Zu ihrer Überraschung hatte der Advokat des Teufels, Senator Heyburn, sie kaum vom Rednerpult entlassen und ihr im Namen des Ausschusses für ihren Vortrag gedankt, als sich der Rechtsexperte des Ausschusses erhob, um eine Frage zum betreffenden Tagesordnungspunkt zu stellen. »Dr. Caron, widerspricht Ihre Behauptung, Flora übe eine heilsame Wirkung auf Schlafwandler aus, nicht eindeutig den Ergebnissen des Stanford-Hammersmithschen Experiments über die Raumekstase?« »Was ist das Stanford-Hammersmithsche Experiment?« fragte Freda verunsichert. »Nun, Madam, wenn Sie die Antwort nicht wissen, dann… äh… ich ziehe die Frage zurück.« Seine letzten Worte waren noch nicht ganz verklungen, als in verschiedenen Ecken des Saals Gelächter zu hören war. Als er an seinen Platz zurückging und sich setzte, hatte es sich im ganzen Saal ausgebreitet. Freda nahm, während Heyburn den Saal zur Ordnung rief, auf ihrem Stuhl Platz und fragte Hans,
der neben ihr saß, mit flüsternder Stimme: »Was ist das Stanford-Hammersmithsche Experiment?« »Diese Frage hat eine Sechs-Drinks-Antwort«, flüsterte er zurück. Der Saal wurde schlagartig ruhig, als Admiral Creighton vom Sekretär des Ausschusses in den Zeugenstand gerufen wurde. Als er nach vorn zum Podium schritt, blitzten die goldenen Sterne am äußeren Saum seiner Hosenbeine – die Insignien des Raumpiloten – im Licht der Scheinwerfer auf. Er trug seine Paradeuniform: goldene Epauletten, goldene Affenschaukel, und goldener Dreifachstreifen vom Ärmelaufschlag bis zum Ellenbogen, Zeichen des Admiralsrangs. Eindrucksvoll auch war die Ansammlung von Ehrenbändern und Orden, die fast die ganze linke Hälfte seiner Uniformjacke bedeckten: vierzehn Reihen Bänder, von der Auszeichnung für gute Führung an der Raumakademie bis zum Orden des Kreuzes des Südens. Hans hatte Freda vor dem Hearing noch schnell über Creighton ins Bild gesetzt. Die Liste seiner Ehrungen und Orden war wirklich schon fast furchterregend: inzwischen zum obersten Boß der Navy-Disziplin avanciert, war er der erste Raumpilot gewesen, der »den Gürtel des Orion zugeschnallt« hatte, was ihm den Großen Verdienstorden der Israelis eingebracht hatte. Er war ebenfalls der erste gewesen, der den Schleier von der Venus gerissen hatte – wofür die Franzosen ihm den »Pour le merite« verliehen hatten. Und last, not least war er der erste Raumpilot gewesen, der es geschafft hatte, heil aus den magnetischen Stürmen herauszukommen, die zwischen den Sieben Schwestern tobten. Alles in allem war er der Prototyp des Raumadmirals. Creighton, der ohne Manuskript sprach, hielt sein Gegenplädoyer in knappen, militärisch abgehackten Sätzen. Sein Hauptargument war, daß der Transport von Zivilisten nach Flora Probleme im Bereich der Navy-Disziplin mit sich
bringen würde. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an die beiden Männer, die bei der Abteilung Able desertiert waren und wies auf die besonderen biologischen Gegebenheiten des Planeten und die dadurch bedingten Schwierigkeiten beim Einsatz von Suchkommandos hin. »Zum Glück hat Kapitän Barron beim Durchstöbern seiner Kindheitserinnerungen eine verblüffend einfache, wenngleich kostspielige Lösung für dieses Problem gefunden: nämlich den Einsatz von Bluthunden.« Das hörte Freda gern! Von wegen, Kapitän Barrons Kindheitserinnerungen! »Flora lädt geradezu zu laxer Disziplin ein«, setzte der Admiral seine Ausführungen fort. »So entledigten sich die Blaujacken, kaum daß sie sich außerhalb der Sichtweite des Achterdecks wußten, ihrer gesamten Kleidung! Und sie konnten dafür von den Offizieren, die sich ebenfalls auf Ausgang befanden, nicht einmal getadelt werden, weil diese ebenfalls völlig unbekleidet waren! Kapitän Barron sah sich gezwungen, seinen Leuten den Befehl zu erteilen, sich die Rangabzeichen auf die nackte Haut zu malen! Diese Disziplinlosigkeit, meine Damen und Herren, die eindeutig auf das Klima Floras zurückzuführen ist, hat in Marinekreisen weltweites Aufsehen erregt. So haben zum Beispiel sowohl die Royal Space Navy als auch die griechische Handelsmarine bereits offiziell erklärt, daß sie es strikt ablehnen, sich am Transport von Personal auf eine etwaige permanente Forschungsstation auf dem Planeten Flora in irgendeiner Form zu beteiligen. Bedenken Sie, meine Damen und Herren, daß die Durchführung eines solchen Unternehmens mit unabsehbaren Folgen für die Moral auch unserer eigenen Raummarine verbunden wäre.« Danach schwenkte Creighton von den reinen Marineproblemen auf die heikle Frage der Kosten/Nutzen
Relation eines derartigen Projekts um. »Flora ist ein riesiges San Diego«, leitete er seine Attacke ein und wies darauf hin, daß »die uns allen inzwischen hinreichend bekannte Sorglosigkeit, um nicht ein härteres Wort gebrauchen zu müssen« der Abteilung Able eine sorgfältige Ansammlung brauchbarer Fakten verhindert habe, »und zwar in einem solchen Ausmaß, meine Damen und Herren«, daß der Gesamtertrag an wissenschaftlich verwertbaren Fakten lediglich zehn Prozent vom Mittelwert anderer Planeten ausgemacht habe. »Somit hat ein Fakt, der auf Ramsey 7 zehn Cent gekostet hat, auf Flora sage und schreibe einen Dollar gekostet. Wir von der Navy mischen uns zwar nur ungern in Haushaltsangelegenheiten, aber wir sahen uns in diesem Fall als Patrioten gezwungen, den Finanzminister auf dieses Mißverhältnis hinzuweisen.« Admiral Creighton verbeugte sich knapp, schwenkte zackig herum und glitzerte an seinen Platz zurück, gefolgt von Kapitän Barron, der, so schwor sich Freda, von ihr einiges zu hören bekommen würde, sobald er ihr auf der Basis über den Weg lief. Gebannte Stille kehrte ein, als der Sekretär Henry Rosentiel aufforderte, als nächster Redner in den Zeugenstand zu treten. Der schlanke, äußerst konzentriert wirkende ehemalige Raumfahrtminister beeindruckte Freda durch Redegewandtheit und einen ungetrübten Verstand. Trotz der Kameras, des vollen Saals und des Raunens, das bei seinem Erscheinen am Rednerpult durch die Reihen der Anwesenden ging, hatte er sich so fest unter Kontrolle, daß man ihm auch nicht das leiseste Zeichen irgendeiner Manie anmerkte. Zwar zitterte seine Stimme leicht, aber das lag an der ungeheuren Inbrunst, mit der er sein Plädoyer zugunsten einer Öffnung des Planeten vortrug. »Wenn ein Mensch an Wehmut erkrankt, ist es dann nicht im Interesse der Menschlichkeit geboten, ihn von Kontrolle und Bewachung zu befreien? Ist es da nicht recht und billig – schon
aus der Sicht des Steuerzahlers, wenn man bedenkt, daß die Kosten seiner Aufbewahrung weit höher sind als die seines Transports –, ihm den Flug auf einen Planeten zu gewähren, der als sein einziger Wächter dienen könnte, bis er für immer der Anziehungskraft der Tiefe erliegt? Warum hält man uns dann als Gefangene auf der Erde? Sagt uns irgendein Impuls des Herzens, daß der, der die Erde ablehnt, seine Mutter verrät? Oder gibt es irgendein altes, ungeschriebenes Gesetz, welches besagt, daß der, der seiner Mutter keinen Respekt erweist, Gott entehrt? Der, dessen Augen die nackten Sterne gesehen haben, dessen Zunge das nachtschwarze All geschmeckt hat, dessen Lippen den Saum der Ewigkeit geküßt haben, verstößt seine Mutter nicht mehr und nicht weniger als jener, der vor zwei Jahrtausenden und zwei Jahrhunderten die Worte sprach: ›Weib, ich kenne dich nicht!‹« Rosentiel war reif für Flora, dachte Freda. Er sprach schon wie ein Floraner der vierten Generation. Doch je länger sie ihm zuhörte, desto mehr Mitleid und Sympathie entwickelte sie für ihn. »Nur kurz ist die Zeit, die Flora noch bleibt«, fuhr Rosentiel fort. »Wenn ihr letztes Abendrot verglüht, wenn ihre schwarze Sonne sie verschlingt und eine Nova in der Milchstraße zur Freude unserer Kindeskinder erstrahlt, dann wünsche ich mir sehnlichst, daß das, was einmal ich war, ein Teil dieses leuchtenden Fanals sein möge. Denn ich bin fertig mit einer Erde, deren Früchte Maschinen und auf der alle Miltons verstummt sind – und auf der ein Cromwell eine willkommene Abwechslung aus dieser unaussprechlichen Leere und Eintönigkeit wäre. Und so, mein alter Freund und Lehrer« – an dieser Stelle wandte er den Blick Heyburn zu –, »meine verehrten Damen und Herren Ausschußmitglieder, bitte ich Sie denn im Namen all derer, die das Morgenrot mit Trauer grüßen und das Abendrot mit Freude: Gewähren Sie
uns diese heilige Zufluchtsstätte, wo wir allein und ungestört unserer Göttin – der Nacht – huldigen können.« Zwar teilte Freda weder Rosentiels Ressentiments gegen die Gesellschaft, noch wußte sie etwas mit seinem Verweis auf Milton und Cromwell anzufangen, aber sie spürte sofort, daß das Plädoyer des ehemaligen Raumfahrtministers wirkungsvoller als Creightons Auftritt gewesen war. Der Admiral hatte an das Portemonnaie appelliert, und Rosentiel an das Herz. Er hatte den Ausschuß mit seinem bewegenden, ehrlichen Appell vor die Wahl gestellt, Geld oder Herz, Mammon oder Menschlichkeit. Senator Heyburn konnte seine Bewegung nicht verbergen. Er schneuzte sich mehrmals die Nase, als er ans Rednerpult trat, und blickte mit väterlicher Anteilnahme auf seinen früheren Studenten herab. »Ja, wir haben die Glocken um Mitternacht gehört, lieber Freund.« Er räusperte sich, wandte sich wieder dem Plenum und den Kameras zu, dankte allen Rednern und versicherte beiden Parteien, daß die anschließende Beratung, die im übrigen unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden würde, von einer Atmosphäre der Fairneß und des Wissens um die hohe Verantwortung, die der Ausschuß gegenüber der Menschheit habe, geprägt sein werde. »Wenn wir über die Sterne diskutieren, diskutieren wir über die Zukunft und das Schicksal der gesamten Menschheit. Und wir alle sind uns der hohen moralischen Verantwortung, die auf unseren Schultern ruht, bewußt, geht es doch nicht nur um uns, sondern auch und gerade um die nachfolgenden Generationen, für die unser Universum ein Erbe ist, das wir, meine Damen und Herren, ihnen überlassen, und das sie wiederum hüten und ihrerseits ihren Nachfolgern als Erbe hinterlassen müssen, bis dieses funkelnde, niemals begreifbare Lichtermeer für immer erlischt.«
Irgend etwas in seinen Worten mußte eine Erinnerung in ihm wachgerufen haben, denn sein Blick schweifte für einen Moment in die Ferne. Die Erinnerung löste einen Gedanken aus, der sich in einen Satz verwandelte, und diese Kettenreaktion ließ ihn unwillkürlich die Hände zu einer weitausholenden Rednergeste erheben. »Doch nicht in den Sternen, sondern in uns selbst liegt unser endgültiges Schicksal, denn die Lichter am Himmel sind nur Leuchtfeuer, die uns den Weg weisen, weiter und immer weiter hinaus in die unendliche Ferne, über die Sterne, über das Universum hinaus, bis wir einst die Herren über alle Sterne sind…« Freda hatte, während Heyburn sprach, Rosentiel die ganze Zeit über aus dem Augenwinkel beobachtet – nicht zuletzt, weil er sie immer noch unverwandt anstarrte. Dabei hatte sie deutlich gesehen, wie sein Kopf beim ersten Mal, als Heyburn das Wort »Sterne« ausgesprochen hatte, leicht nach hinten gezuckt war. Heyburns nochmalige Erwähnung des Wortes hatte eine noch deutlichere Ruckbewegung von Rosentiels Kopf zur Folge. Als der Senator »Lichter am Himmel« sagte, fiel Rosentiels Kopf endgültig hintüber. »… bis wir… bis wir…« Heyburns Blick fiel auf Rosentiel, und seine Stimme erstarb. Direkt neben seinem alten Freund und Mentor saß der ehemalige Raumfahrtminister auf seinem Stuhl und starrte völlig abwesend auf einen fernen himmlischen Horizont, der irgendwo weit jenseits der Decke des Sitzungssaals lag. Seine Manie hatte ihn eingeholt und vollkommen in Besitz genommen. Freda drängte sich der Vergleich mit einem stummen Kojoten auf, der dasaß und den Mond anheulte. Clayborg neben ihr flüsterte: »Rosie kriegt nichts mehr mit, und wir stehen im Hemd da.« Mit wachsbleichem, versteinertem Gesicht wandte Heyburn sich wieder seinen Zuhörern zu. »bis wir die süße Macht der Plejaden gebrochen
und den Gürtel des Orion gelöst haben. Ende der Vorlesung… äh, ich meine, Sitzung vertagt. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.« Durch das unmittelbar darauf einsetzende Stuhlgequietsche und Stimmengewirr hindurch hörte Freda Heyburns knarrende Stimme zu einem Amtsboten sagen: »Hören Sie, junger Mann, würden Sie bitte diese Person hier herausschaffen?« Während der Fahrt zum Hotel mochte sich Dr. Gaynor nicht auf eine feste Prognose über die Ergebnisse des Hearings einlassen. Zu viele Faktoren, meinte er, spielten dabei eine Rolle, und es sei fast unmöglich, die Wirkung, die Rosentiels bewegtes Plädoyer auf den Ausschuß gemacht habe und Heyburns mögliche Reaktionen auf den aufsehenerregenden Rückfall seines früheren Lieblingsschülers auch nur einigermaßen einzuschätzen. Der einzige Kommentar, den er sich zu Fredas Auftritt abrang, war gleichzeitig ein kaum verhüllter Vorwurf: »Es wäre vielleicht nicht das Schlechteste, Dr. Caron, wenn Sie sich hin und wieder auch einmal außerhalb ihres Fachgebietes ein wenig umschauten.« Sie nickte knapp, verkniff sich aber eine Antwort. Sie fühlte sich durch seine Bemerkung reichlich unfair behandelt. Wer war es denn, der sie ständig mit einem wahren Wust von ministeriellen Erlassen, amtlichen Subdirektiven, Memoranden, Laufzetteln, Verwaltungsakten, wissenschaftlichen Abhandlungen und ähnlichem staubtrockenen Papierkram eindeckte, so daß sie, obwohl sie wahrlich schnell im Lesen war, an manchen Tagen nicht mal mehr die Zeit hatte, wenigstens die Sprüche auf dem Damenklo zu lesen, geschweige denn, sich mit Veröffentlichungen aus anderen Fachgebieten zu beschäftigen! Wenigstens eilte Berkeley ihr mit gezücktem Schwert zu Hilfe. »Der Reinfall mit dieser Stanford-HammersmithGeschichte geht teilweise auf meine Kappe, Charles. Ich hätte
Freda nicht mit Dr. Youngbloods unausgegorener Theorie über Umwelttherapie argumentieren lassen sollen. Die ist so voll von logischen Brüchen, daß sogar ein Jurist mit der Nase drauf stoßen könnte.« Mit einem einzigen Hieb seiner Klinge hatte er ihr eine Kerbe in den Adamsapfel gehauen und Dr. Youngblood die Gurgel durchgeschnitten. »Was meinst du, Hans«, fragte Gaynor, »wie groß sind unsere Chancen auf eine positive Entscheidung?« »Fifty-fifty. In einer Woche, spätestens in zehn Tagen, wissen wir’s genauer.« »Heyburn sprach von vier Tagen«, erinnerte Gaynor ihn. »Ich weiß, aber Heyburn wird sich eine Verlängerung der Bedenkzeit ausbitten.«
Im Hotel fand Freda ein Telegramm vor: »Sie dürfen mir gratulieren. Bin Vater von 2016 Babies. Hoffe, falls mein kleiner Finger durchhält, in zehn Tagen 64512facher Großvater zu sein. Was dann? Ihr ergebenster Pollenträger Polino.« Das Telegramm riß Freda sofort aus ihrer tristen Stimmung. Ihr Hoch hielt bis zum Abendessen an, bei dem sie die einzige fröhliche Athenerin in der Nische war. Sie verriet den anderen den Grund für ihre gute Laune, ohne ihnen jedoch das Telegramm zu zeigen; Gaynor hätte Hals Ton für eine Dozent Student-Beziehung, wie sie seinen Vorstellungen entsprach, wohl eine Idee zu vertraut gefunden. Der Hauptgrund für die gedrückte Stimmung, die an ihrem Tisch herrschte, war ein Foto auf der Titelseite des Washington Posthole. Es zeigte Heyburn, wie er gerade in klassischer Rednerpose seine Arme beschwörend in die Luft reckte, und daneben den verloren an die Decke starrenden Rosentiel. Für den Senator, das wußte Freda sofort, war dieses Foto eine ungeheure Beleidigung, und
sobald er es sah, würde er, um es mit Hals Worten auszudrücken, »ausflippen«. Nach dem Abendessen duschte sie sich und zog das grüne Kleid an, das Hal so gut gefallen hatte. Ihrem Make-up widmete sie geschlagene fünf Minuten mehr als sonst. Sie freute sich auf das Treffen mit Hans und verspürte eine Freude, die so gar nicht mit ihrer gegenwärtigen strategischen Position in Einklang zu bringen war. Clayborg war mit seiner relativ kleinen Statur und der Flattermähne nicht gerade ein Adonis, aber er zog sie an wie ein Staubsauger, und sein sprühender Geist war wie eine Laterna magica. Als sie fasziniert zuschaute, wie die Laterna magica Schatten an die Wände warf, schienen die Wände sie auf einmal zu erdrücken. Wenn die Petition scheiterte, konnte sie sich auf ein nettes Plauderstündchen in Gaynors Büro gefaßt machen, mit Zeremonientee vielleicht, und ihre Diskussion über Freda Carons weitere Karriere würde mit dem fallbeilartig auf sie herabsausenden Vorschlag enden: »Freda, vielleicht würden Sie in der reinen Forschungsarbeit doch glücklicher.« Sie mußte an eine Zimmergenossin denken, die sie damals auf dem College gehabt hatte, ein katholisches Mädchen von unbekümmerter Natur, das ungefähr alle achtundzwanzig Tage eine neuntägige Andacht einlegte, und… Das Telefon schrillte. Es war Hans: »Stehe bereit zur Einnahme von sechs Drinks und zur Diskussion über das Stanford-Hammersmithsche Experiment.« Wenig später erschien sie in ihrer Ecknische mit den Worten: »Ich habe gestern abend übertrieben. Vier Drinks sind mein Limit.« »Woher wissen Sie das so genau?« »Ich habe eine Berührungsphobie, und die verschwindet nach vier Drinks.«
»Dann ist Ihre Kapazität noch gar nicht empirisch nachgewiesen. Faktenmäßig abgesichert ist bisher lediglich die Anzahl an Drinks, die Sie brauchen, um sich normal zu fühlen.« Er zog einen Rechenschieber aus seiner Tasche und hielt ihn unter das trübe Licht der Tischlampe. »Wenn man die Kurve verlängert, müßten Sie ihr optimales Gefühl irgendwo in der Gegend von fünfdreiviertel Drinks erreichen… Herr Ober, zwei doppelte Martini!« Es war ihr erster Martini, und ihr gefiel das metallische Prickeln. »Wenn das hier eine Glocke wäre«, sagte Freda und leckte sich die Lippen, »würde sie einen ganz klaren Ton von sich geben… Sagen Sie mir ganz ehrlich, Hans: Wie stehen unsere Chancen, die GaynorStation auf Flora bewilligt zu kriegen?« »Äußerst minimal.« »Meine Güte! Wenn es nicht klappt, dann wird Dr. Gaynor mir die Schuld in die Schuhe schieben.« »So sieht’s aus«, sagte Clayborg trocken. »Als die Navy auf den Plan trat, rechnete Gaynor damit, daß seine Petition scheitern würde, und da hat er Sie als Taube vor die Geschütze der Navy fliegen lassen. Und jetzt haben Sie den Schwarzen Peter für das Scheitern.« »Wenn Sie mein Freund sind, Hans, warum haben Sie dann dem Vorschlag zugestimmt, daß ich die Petition einbringe?« »Ich dachte mir, Sie würden die Chance sehen, daß der Landwirtschaftsminister auf Sie aufmerksam wird. Es war ja allgemein bekannt, daß er sich für die Sache interessierte. Ich rechnete mir aus, daß Rosies Überzeugungskraft im Verein mit Ihrem Charme doch noch den Ausschlag zugunsten unserer Sache geben würden. Ich habe also voll und ganz auf Sie gesetzt. Und es ließ sich ja auch ganz gut an. Rosies Zusammenbruch war der launische Finger des Schicksals.« Er nippte an seinem Drink. »Was ich jedoch nicht so ganz
verstehe, ist, wie das Thema Raumkrankheit plötzlich einen so entscheidenden Platz in unserer Strategie eingenommen hat.« »Das war James Berkeleys Idee«, antwortete Freda. »Er und ich sind die ersten Anwärter auf Gaynors Posten, und er versucht, mich auszumanövrieren.« »Machen Sie sich keine Gedanken wegen Berkeley«, sagte Hans beruhigend. »Sie verfügen über Waffen, mit denen Sie ihn leicht aus jeder Stellung pusten können, und ich werde Ihnen, bevor die Nacht um ist, zeigen, wie Sie damit umgehen müssen. Wie auch immer, was die Amtspolitik betrifft, ist der Psychiater Ihnen gegenüber im Nachteil.« »Wo wir gerade von Psychiatrie sprechen – was ist das Hammerford-Stansmithsche Experiment?« »Stanford-Hammersmith«, korrigierte er sie und warf einen Blick auf ihr Glas. »Dafür sind Sie im Moment noch nicht reif.« »Ich weiß nicht, aber nach allem, was Sie mir gerade über gewisse Methoden der Amtspolitik erzählt haben, glaube ich kaum, daß mich jetzt noch irgend etwas schockieren könnte. Ich habe das Handbuch Wie mache ich Karriere gelesen. Über Kämpfe bis aufs Messer zu lesen, ist eine Sache; eins im Rücken zu spüren, ist eine andere.« »Die Schockverzögerung zwischen Theorie und Praxis«, dozierte er. »Sie fangen jetzt an, Blut zu lecken. Früher oder später werden Sie lernen, an der Kunst des Parierens und des Zustoßens Gefallen zu finden, besonders an der des Zustoßens.« Seine Stimme war jetzt sehr ernst geworden, und seine Worte hatten etwas Suggestives an sich. Er beugte sich vor. »Regel eins der Amtsintrige ist es, sich Freunde in gehobenen Positionen zu verschaffen. In Santa Barbara haben wir deshalb alle den Status eines Kabinettsministers, um uns institutsinterne Intrigen zu
ersparen. Was natürlich nicht heißt«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »daß wir nicht institutsexterne Politik betreiben, für unsere Freunde.« »He, Hans Clayborg, Sie haben mir niemals erzählt, daß Sie einen Ministerrang bekleiden.« »Ich dachte, Sie wüßten das.« »Mir fiel zwar auf, daß Gaynor sich Ihnen gegenüber… eh, sagen wir mal… ziemlich respektvoll verhielt, aber ich dachte, das wäre wegen Ihres politischen Durchblicks. Ich hätte nie gedacht, daß Leute, die ausschließlich in der Forschung arbeiten…« Sie zögerte, nach dem passenden Ausdruck suchend. »So was Hohes werden können«, half er ihr grinsend, den Satz zu vollenden. »Herr Ober, noch mal das gleiche!« Ihr erster Martini hatte sie mutig gemacht. »Hans, warum versetzen Sie Gaynor nicht und schanzen mir seinen Posten zu?« »Gaynor ist meine Taube«, sagte er grinsend. »Ich brauche ihn, um meine Entropie-Experten nach Flora zu kriegen. Die erste Schlacht kann ich wohl als verloren abhaken, aber der Krieg geht weiter.« »Sie haben seine Eitelkeit mit dieser Charles-Gaynor-Station so sehr angestachelt, daß er… gewillt ist, mich zu opfern, um sie zu kriegen.« »Nun, wie ich sehe, ist Ihr Scharfblick ungetrübt. Sind Sie bereit für die Hammersmith-Stanford-Theorie?« »Okay, dann schieß, Wyatt«, sagte sie, einen typischen HalPolino-Spruch benutzend. Gleichzeitig ging ihr durch den Kopf, daß sie diesen kleinen Mann mit dem Drahthaar und dem Rang eines Ministers wirklich mochte. Nicht ausgeschlossen, daß er schon in Bälde ihr erster Freund in gehobener Position sein würde. Er wartete noch, bis der Kellner sie mit neuen Martinis versorgt hatte, und sagte dann:
»Hammersmith und Stanford sind zwei englische Experimentalpsychologen, die in der Nähe des Loch Ewe in Schottland eine künstliche tropische Oase errichteten. In diesen Garten, dessen warme, würzige Luft von Harfenklängen erfüllt war, postierten sie junge hübsche Mädchen in den verschiedenen Stadien der Entkleidung. Dann brachten sie junge Raumfahrer in den Garten, deren Profile ausnahmslos eine starke libidinöse Prägung zeigten, inzwischen aber alle an Raumekstase erkrankt waren. So sehr die Mädchen auch gurrten und seufzten und sich in eindeutiger Pose zeigten, sie brachten es nicht fertig, die Blicke der Raumfahrer von den Sternen auf sich zu ziehen. An einen Fall kann ich mich besonders gut erinnern. Es war ein junger Leutnant, und eines der Mädchen in dem Garten war seine Verlobte. Sie hatten vorgehabt, nach seiner Rückkehr zu heiraten, aber es hatte ihn gleich bei der ersten Reise ins All erwischt.« An dieser Stelle hielt Hans inne und drehte gedankenverloren das Glas zwischen den Fingern. Freda hätte schwören können, daß seine Augen feucht waren. »Ians Geliebte hatte sich freiwillig gemeldet, ihm zu helfen, und sie wartete schon auf ihn in dem Garten, als er hereingebracht wurde, den Blick starr auf die Sterne gerichtet. Sie war nicht hüllenlos im akademischen Sinn, aber sie trug verführerische, durchsichtige Kleider. Als Ian hereinkam, sagte sie zu ihm: ›Ian, ich bin deine Suzanne, und ich bin einsam. Komm her zu mir!‹ Sekundenlang senkte er seinen Blick und sah sie an. Nichts an ihm schien irgendwie auffällig oder anomal. Sein Blick war klar und offen, und sein Reagieren auf das Angesprochenwerden wirkte völlig normal. Doch dann ging sein Blick wieder zurück zu den Sternen, und er sagte mit einer Stimme, die vor Inbrunst bebte: ›Suzanne, Sagittarius ist heute
nacht ganz klar zu sehen, man kann richtig den Bogenschützen erkennen.‹« Hans trank in einem Zug sein Glas leer und bestellte eine weitere Runde. »Was wurde aus dem Mädchen?« fragte Freda. »Es heiratete einen Matrosen von der Handelsmarine, der besser gegen die Unbilden des Alls gefeit war und später durch die Protektion ihres Vaters – er war Admiral – in die OCS kam und Karriere machte. Er ist inzwischen Kapitän in der Royal Space Navy.« »Warum setzten sie sie nicht auf einen Ast«, dachte Freda laut nach, »und stellten Ian so unter den Baum, daß er gezwungen war, sie anzusehen, wenn er den Blick auf die Sterne richtete?« »Ich glaube nicht, daß das der Fehler war«, erwiderte Hans, »aber es gab einen Fehler, und zwar einen entscheidenden. Ich korrespondiere zur Zeit mit dem Leiter des psychiatrischen Instituts in Houston über diesen Fall. Ich glaube, daß die Hanford-Stammersmith-Theorie ihren entscheidenden Schnitzer in der Frage der Lokalisierung der Libido macht.« »Inwiefern?« »Für den Intellektuellen – und wohlgemerkt, nur hochgradig vom Verstand geprägte Menschen sind für die Raumekstase anfällig – ist die primäre erogene Zone das Gehirn. Ihre Libido wird nicht sublimiert, sondern koordiniert, um es mal so auszudrücken. Intellektuelle ›verlieben‹ sich nicht kopflos. Sie formen Werturteile. Beispiel: Ein Architekt, der gerade damit beschäftigt ist, äh… die Kathedrale von Chartres zu entwerfen, wird seinen Blick nicht einmal dann von seinem Reißbrett abwenden, wenn eine nackte Frau durch sein Büro tanzt. Ihr Knabe Polino mag vielleicht einen gewissen Reiz auf Sie ausüben, aber Ihre Libido, die stärker ausgeprägt ist als bei den meisten, ist voll auf die Botanik fixiert. Ich kreide Hammerford und Stansmith an, daß sie libidinöse Reize
anboten, ohne sie gleichzeitig mit – um es einmal lax zu formulieren – ›Werturteilsreizen‹ zu koppeln.« »Wenn ich eine ausgeprägte Libido habe, wieso habe ich dann eine solche Abneigung gegen körperliche Berührung?« »Ein Abwehrmechanismus. Ein Käfig, der das Tier in Ihnen am Ausbrechen hindern soll, oder anders ausgedrückt, ein Damm, der die Flut für gesellschaftlich nützliche Zwecke kanalisieren soll.« Er holte wieder den Rechenschieber hervor und blinzelte ihn im trüben Licht mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie hatten jetzt drei Doppelte. Nach meinen Berechnungen müßte sich Ihr Thalamus jetzt mit Ihrem Cerebrum die Waage halten. Versuchen wir mal ein kleines ›Fühlexperiment‹. Geben Sie mir mal Ihre rechte Hand.« Er nahm ihre rechte Hand in seine linke und fuhr mit dem Zeigefinger seiner freien Hand ganz sachte über Fredas nackten Oberarm. »Na, irgendeine Reaktion?« »Ja. Gäänsehaut!« »Das ist ganz normal. Sie sind ein bißchen kitzlig, das ist alles. So, und jetzt drücken Sie mal mit der linken Hand meinen rechten Arm – durch den Stoff hindurch. Wie fühlt er sich an?« »Hart. Sie sind sehr muskulös.« »Ich spiele Handball… So, Freda, und jetzt schließen Sie mal die Augen und legen die rechte Hand auf den Tisch, mit der Handfläche nach oben. Ich schiebe jetzt Zeige- und Mittelfinger meiner Rechten mit dem Zeige- und Mittelfinger meiner Linken ineinander und lege die vier Finger quer über Ihre geöffnete Handfläche. So, und jetzt umspannen Sie die Finger ganz leicht. Gut! Nun, spüren Sie irgendwelchen Widerwillen in sich?« »Nicht daß ich wüßte!« »Sehr gut! Na bitte! Wonach ist Ihnen jetzt zumute?«
»Nach einem doppelten Martini. Bestellen Sie uns was, während ich mal eben für kleine Mädchen gehe, aber lassen Sie sie auf mein Zimmer bringen. Der Barkeeper wird mir langsam ein bißchen zu neugierig!« Bei ihrem Gang zum Pillenspender – dem ersten in ihrem Leben – fühlte sie sich seltsam gelöst und locker. Sie hatte beinahe das Gefühl, als würde sie schweben. Irgendwas stimmte nicht mit der Erdanziehungskraft! Einer der Gründe für ihre Heiterkeit war die Gewißheit, in Hans Clayborg einen einflußreichen Verbündeten zu haben, wie ihn sich eine weibliche, karrierehungrige Verwaltungskraft nicht besser hätte wünschen können. Der Mann war ein echtes Genie. Er konnte ihre Gedanken lesen. Er konnte Amtsleiter sogar per Telefon manipulieren. Er konnte einem Botaniker die Goldberg-Theorie auseinanderlegen und dem Leiter einer neuro-psychiatrischen Klinik die Hammerstand-SmithfordTheorie madig machen. Er hatte versprochen, ihr beizubringen, wie man einen Gegner aus dem Schützengraben fegt. Bei ihm würde sie sich in sicheren Händen fühlen, selbst wenn die Sonne schon halb am Verglühen war. Er würde schon einen Weg finden, die Lampe wieder anzuzünden. Er hatte ihr – buchstäblich mit einem Zucken des kleinen Fingers – gezeigt, daß die fixe Idee, die ihr ganzes Leben beherrschte, nichts weiter war als eine kindische Aversion, auch wenn er nicht den wahren Grund dafür erriet. Sie hatte nicht den leisesten Zweifel daran, daß dieser Bursche früher oder später tatsächlich mit einer Handvoll menschlicher Samenkörner aufkreuzen würde. Als sie zurückkam, stand er schon am Bareingang, um sie in Empfang zu nehmen. Auch er war nicht mehr ganz standfest; offenbar hatte er ähnliche Probleme mit der Schwerkraft wie sie. »Ich habe meine Berechnungen noch einmal unter der Barlampe überprüft, und ich glaube, Sie haben Ihren optimalen
Punkt schon ein wenig überschritten. Übrigens, ich möchte nicht, daß der Kellner aufs Zimmer kommt. Meine erste Reaktion wäre, aus dem Fenster zu springen, und das gäbe mir bei sechzehn Etagen zuviel Fahrtwind.« »Na los, kleiner Mann, dann komm. Und noch was: Ich hab’ da einen wichtigen Punkt in meiner Hausordnung… Keine Zähne! Also, mein Freundchen, raus mit dem Gebiß. Wie bist du eigentlich deine zweiten losgeworden, Hans?« Ganz Gentleman, langte er in ihre Handtasche, öffnete sie und ließ das Gebiß hineingleiten. »Ich bin einmal in einer sehr eindeutigen und gleichzeitig sehr verwundbaren Position ertappt worden.« Es war ein seltsames Intermezzo, das da gleichsam wie ein Film an ihr vorüberzog – ohne Angst, ohne Spannung, ja sie spürte nicht einmal so etwas wie Neugier. Irgendwo unter der Zimmerdecke schwebte Dr. Caron und beobachtete mit klinischer Distanz den Krebs, der auf Freda zugekrabbelt kam und sich anhörte wie ein schnaubendes Walroß. Aber für Freda war es eine Schildkröte, und sie kicherte laut. »Was kicherst du?« fragte er. »Ich stelle mir gerade vor, das hier wäre ein Strand«, kicherte sie, »und du bist eine Schildkröte, die ein Loch in den Sand gräbt, um ein Ei hineinzulegen. Aber wieso klappert dein Panzer nicht?« »Wenn dir jetzt eher nach Klappern ist, könnte ich ja mit meinem Gebiß klappern, aber das hast du mir ja abgenommen.« Später, als er sie unter die Dusche schleppte, ächzte er: »Junge, Junge, du bist wirklich was Besonderes.« Galant wie er nun einmal war, drehte Hans das kalte Wasser an, als sie in der Ecke der Duschkabine hockte. Dann beugte er sich über sie, grinste sie mit seinem zahnlosen Maul an und sagte: »So, Freda, und jetzt das Ganze noch einmal, mit Gaynor. Er wird dir das Amt geben, Berkeley nach Tucson schicken und die Experimentierfarm noch als Zuschlag draufgeben.«
Plötzlich verwandelte sich seine Begeisterung in Zärtlichkeit. Er beugte sich zu ihr hinab und küßte ihr zärtlich die Tropfen von der Wange. »Gute Nacht, meine süße kleine Prinzessin, und mögen dich ganze Heerscharen von Engeln sanft in den Schlaf wiegen.« Seine Zärtlichkeit rührte sie, und als er den Duschvorhang zuzog, fing sie an zu weinen. Armer Paul! Die Defloration der einen ist das Aufblühen der anderen, hatte Polino gesagt; aber hier, in dieser Nacht, die eigentlich ihren Eintritt in die Welt der erwachsenen Frauen hätte markieren sollen, hatte sie nichts weiter gefühlt als verwunderte Belustigung, und das einzige, an was sie gedacht hatte, waren Schalentiere! Ihr Analytiker hatte recht! Sie war verdammt zu lebenslänglicher psychischer Jungfernschaft, sie war so frigide wie die Wassertropfen der Dusche, die von ihrem Körper abprallten. Caronus Sireni Pseudodos! Gefrorene Freda! Paul, ihr Geliebter, kriegte nichts weiter als eine leere Hülle. Ihre heißen Tränen vermischten sich mit dem kalten Duschwasser, und sie schlief ein. Es war fast fünf Uhr, als sie mit einem Ekelgefühl aufwachte. Sie stellte die Dusche ab, ging zur Toilette und übergab sich. Die Pille, dachte sie. Sie war allergisch gegen diese schnell wirkenden Medikamente. Aber wenn sie sich die Sache nüchtern überlegte, dann war eine kurze, rasch wieder vorübergehende Übelkeit noch immer weit besser, als mit einem dicken Bauch im weißen Hochzeitskleid vor den Altar zu treten. Sie trocknete ihren kirschrot angelaufenen Körper ab und unterdrückte das heftige Zähneklappern. Dann sah sie in ihrer Tasche nach, ob Hans auch seine Zähne nicht vergessen hatte und kroch in das zerwühlte Bett. Am Morgen setzte sie sich mit einer seltsamen inneren Ruhe und Zufriedenheit zu den übrigen Athenern an den
Frühstückstisch. Zu ihrer Verwunderung herrschte in der Nische eine fast freudige Stimmung. Hans, der sie mit der gewohnten Herzlichkeit begrüßt hatte und sich nicht das geringste anmerken ließ, informierte sie über den Grund der unerwarteten Heiterkeit. Ein Kolumnist der Posthole schrieb unter dem Pseudonym ›der Lauscher‹, daß der Ausschuß sich inzwischen in zwei Fraktionen gespalten habe. Das bedeutete: Wenn Heyburn mit seiner Partei stimmte, würde man Flora wohl dem Kolonialsystem der Erde einverleiben. »Was meinst du, Hans«, fragte Gaynor, »haben wir eine Chance?« »Jedenfalls sind unsere Aktien beträchtlich gestiegen«, erwiderte Clayborg. Gaynor strahlte Freda an. »Wenn die Sache klappt und wir die Gaynor-Station durchkriegen, dann haben wir das einzig und allein unserer Zytologie-Abteilung zu verdanken.« Während Freda mit gutem Appetit ihr Frühstück – Rührei mit Schinken, Toast, eine Fleischpastete, ein großes Glas Orangensaft und eine Bloody Mary – in sich hineinstopfte, studierte sie Clayborgs Miene. Schlagartig wurde ihr klar, daß er nicht eine Sekunde daran glaubte, daß sie die Petition durchkriegen würden. Er wollte ihr bloß noch eine letzte Möglichkeit gönnen, sich noch einmal in Gaynors Wohlwollen zu baden. Heute abend, beschloß sie, würde sie mit einer Novene beginnen. Sie konnte sie immerhin bis zu einem Drittel durchkriegen. Sie war zwar nicht besonders religiös, aber egal, alles, was auch nur ein Fünkchen Hilfe versprach, war einen Versuch wert. Wenn es sie nur davon abhielt, ihre weiblichen Geschütze auf Gaynor zu richten. Das Frühstück und die Bloody Mary halfen ihr, die Welt wieder mit etwas anderen Augen zu sehen, und so verbrachte sie fast den ganzen Tag damit, in der Kongreß-Bibliothek Lektüre zu studieren, die
außerhalb ihres Fachgebietes lag. Das gemeinsame Mittag- und Abendessen mit den Athenern ließ sie aus, aber als um elf Uhr der Anruf von der Bar kam, stürzte sie erwartungsfroh an den Apparat. »Zieh nicht wieder dieses grüne Kleid an«, spöttelte Hans’ Stimme aus dem Hörer. »Sonst lasse ich mein Gebiß drin!« Als sie in die Bar kam, trug sie ein Kleid aus blauer Serge. Nachdem Hans sie begrüßt und zwei Gin Fizz in Auftrag gegeben hatte, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Ich wußte, daß du wußtest, was ich tat, als ich heute morgen so optimistisch klang. Wir beide verstehen uns ohne Worte. Die Navy ist gerade dabei, Heyburn umzufunktionieren. A propos funktionieren – tut mir leid wegen heute nacht. Meine Berechnungen haben nicht ganz gestimmt. Als wir die Sensibilitätsphase erreichten, konnte ich die Zahlen auf dem Rechenschieber nicht mehr richtig erkennen. Ich war geblendet von dem grünen Kleid und deinem goldenen Haar. Abgesehen von ein paar etwas aus dem Rahmen fallenden Empfindlichkeiten bist du die atemberaubendste Kombination von Schönheit und Grips, die mir je untergekommen ist. Aber jede wahre Schönheit zeichnet sich ja dadurch aus, daß sie in irgendeinem Punkt von der Norm abweicht. Bitte, gnädiges Fräulein, tragt nie wieder grün! Du brauchst Santa Barbara. Santa Barbara braucht mich, und du bringst mich aus der Fassung. Bitte, trag in Zukunft bei unseren Rendezvous immer Marineblau. Das ist sicherer, weil ich allergisch bin gegen die Navy.« Seine Bitte klang scherzhaft, aber der Ernst seiner Augen und sein noch auffälliger als sonst zu Berge stehendes Haar straften seinen lustigen Ton Lügen. Sie beugte sich zu ihm hinüber und ergriff zärtlich seine Hand. »Du hast mir neue große Erkenntnisse vermittelt, und dafür bin ich dir sehr dankbar. Ich bin gerne mit dir zusammen, und ich habe weder den Wunsch noch die Absicht, dich aus der Fassung zu bringen. Ich verspreche dir, ich werde ab sofort nie mehr Grün
tragen, nie wieder mehr als vier Drinks trinken und dich nie mehr bitten, deine Zähne herauszunehmen.« Hans’ schon fast unheimlich anmutendes Talent für Stegreifprophezeiungen sollte sich wieder einmal bestätigen. Drei Tage nach der Zeitungsmeldung flog Heyburn auf Einladung der Raummarine nach Nord-Dakota – zur feierlichen Einweihung des Senator-HeyburnTrainingszentrums für Raumpilotenanwärter. Der Ausschuß vertagte sich für die Dauer seiner Abwesenheit. Freda war dieser Zeitgewinn willkommen. Sie nutzte die zusätzlichen Tage zu ausgedehnter Lektüre in der Kongreßbibliothek. Sie nahm jedoch kein Buch mit nach Hause, sondern las ausschließlich im Lesesaal. Frigidität bei Frauen war, wie sie bald feststellte, ein Schlachtfeld, das man schon seit der Ära Königin Viktorias heiß umkämpfte; ein Schlachtfeld, das übersät war mit den vergeblichen Anstrengungen von Psychologen, Psychiatern, Gynäkologen, Frauenrechtlerinnen und weiblichen französischen Romanciers. Als schnelle Leserin, die sie war, blätterte sie in sechs Tagen vierzig Bände durch. Die psychiatrischen Werke waren in der Regel juristische Schriftsätze, die auf theoretischen Annahmen basierten und von Zitaten aus anderen Werken gestützt wurden, um die Validität ihrer Annahmen zu beweisen. Die anderen Werke zitierten dann wiederum ihre eigenen Zitate aus dem ersteren Werk, um wiederum damit ihre Theorien zu untermauern. Auf diese Weise, so fand sie schnell heraus, waren ganze psychologische »Schulen« geboren worden, und jede hatte ihren eigenen Guru. Nachdem sie sich unermüdlich – immer sorgfältig die Spreu vom Weizen trennend – durch den ganzen Wust hindurchgeackert hatte, kristallisierten sich letztlich zwei wohldokumentierte Lehrmeinungen heraus: 1. Weibliche Frigidität war nicht organisch bedingt. 2. Der weibliche
Orgasmus war kein rein organisch stimulierbarer Prozeß. Am siebten Tag erholte sie sich von der aufreibenden Leserei und warf eine Münze (Krone »ja«, Adler »nein«), aber mittlerweile war ihre platonische Freundschaft mit Hans an einem Punkt angelangt, wo sie mit ihm eigentlich über alles freimütig und ungeniert diskutieren konnte. Also trug sie ihm kurzerhand das Problem vor. Hans schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Mädchen, du bist wirklich naiv. Ich sagte dir doch, es war ein Rechenfehler.« »Aber du hast doch bloß meine optimale Anzahl an Drinks ausgerechnet.« »Nein, nein, nicht dein Drinkoptimum«, korrigierte er sie, »dein Gefühlsoptimum. Ich habe versucht, den Punkt auszurechnen, an dem sich dein Bedürfnis nach Liebe und deine Berührungsangst genau die Waage halten. Und weil ich zu betrunken war, habe ich die Skala nicht richtig abgelesen und dich aus Versehen über den Punkt hinausgeführt, an dem es noch ein Zurück hätte geben können. Deine zerebralen Impulse hatten ganz korrekt und wie vorgesehen ihre Funktion eingestellt, aber leider war dein Thalamus auch schon zu sehr abgestumpft. In dem Moment, als du kichertest, wußte ich, daß ich verloren hatte. Gut, ich hätte so lange mit dir unter der Dusche warten können, bis deine Sensibilität zurückgekehrt wäre – aber offen gestanden, hatte ich keine Lust, ein oder zwei Stunden von eiskaltem Wasser berieselt zu werden.« Dann schüttelte er langsam den Kopf und sagte: »Freda, laß dir nicht dein Leben durch meine Wasserscheu zerstören. Wenn deine Hochzeitsnacht kommt, dann trink exakt viereinviertel Martinis, okay? Und sobald du sie intus hast, bete für Paul Theastons Heil.« Seine beruhigenden Worte und die Gewißheit, die er dabei ausstrahlte, trösteten sie ein wenig, doch gleichzeitig erwachte in ihr die traurige Erkenntnis, daß
er jetzt ihr Freund war. Er würde von nun an nicht mehr zögern, sie anzulügen. Und ihr Problem war so ungelöst wie eh und je. Paul lehnte den Genuß von Alkohol strikt ab. Er würde sicherlich nicht schlecht erstaunt sein und garantiert Verdacht schöpfen, wenn seine angeblich jungfräuliche Braut in der Hochzeitsnacht sorgfältig viereinviertel Martinis ausmaß (womöglich noch mit einem Meßbecher!) und dann herunterkippte, um sich für das bevorstehende Ereignis auf der Lagerstatt zu wappnen.
6
Laut Auskunft ihrer Bekannten, die sich in solcherlei Dingen besser auskannten als sie, war eine Novene eine Andacht, die sich über neun Tage erstreckte. Wenn sie mit den Gebeten gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft – also noch vor jener denkwürdigen Bums-, Dusch- und Übelkeitsnacht – begonnen hätte, wäre sie mit der Sache zwar schon gestern fertig gewesen, aber gleichzeitig hätte dies ihrem ohnehin nicht sonderlich ausgeprägten Vertrauen in die Kraft des Gebets wohl den entscheidenden Todesstoß versetzt: Heyburn schmetterte nämlich ihre Petition endgültig ab. Die Verkündung des Beschlusses war auf Samstag, 14 Uhr, angesetzt, zwei Tage nach Heyburns Rückkehr von seiner siebentägigen Schlemmerorgie an den Fleischtöpfen von Bismarck und Mandan. Draußen herrschte zwar trübes Wetter, aber Freda mußte zugeben, daß Heyburn trotz seines ausgiebigen Spesenritts immer noch einen frischen Eindruck machte. Um 14.01 Uhr östlicher Standardzeit erhob sich der Senator in dem überfüllten Saal von seinem Stuhl, rückte seine Krawatte zurecht, blickte noch einmal kurz in die Kameras der versammelten Presse, klopfte dreimal mit dem Hammer auf das Rednerpult, und verkündete: »Wir kommen nun zur Bekanntgabe des Senatsausschußbeschlusses über planetarische Fragen. Der Präsident der Vereinigten Staaten übermittelt allen Anwesenden seine Grüße. Ich gebe hiermit bekannt, daß der Ausschuß mit der einfachen Mehrheit von fünf Ja-Stimmen zu vier Nein-Stimmen den Planeten Flora, der auch unter dem Namen Blumenplanet oder Planet der Blumen bekannt ist –
Koordinaten: 121, 63 Grad horizontal, 3,187 Grad vertikal, Entfernung vom galaktischen Zentrum 14383 Parallaxensekunden – zum Paria-Planeten erklärt hat. Der Präsident setzt damit seine hochgeschätzten Wähler, alle hochangesehenen Bürger der Vereinigten Staaten, auf der Erde oder im Himmel, offiziell davon in Kenntnis, daß besagter Planet jetzt und in Zukunft nicht zur Besiedelung, gleich welcher Art, durch Bürger der Vereinigten Staaten geeignet ist. Dieser Beschluß kann nur durch einen anderslautenden Beschluß des Planetarischen Rates der Vereinten Nationen aufgehoben werden. Der Präsident weist ausdrücklich darauf hin, daß dieser Beschluß, der mit dem morgigen Tag, dem 11. Februar 2237, in Kraft tritt, nicht gilt für bereits laufende wissenschaftliche Projekte oder Expeditionen zu besagtem Planeten oder für bereits projektierte wissenschaftliche Forschungsreisen, die bis zum 3. November 2237 abgeschlossen sein werden. Trotz der zahlreichen wohldurchdachten, wohlformulierten und auch attraktiven Argumente« – an dieser Stelle schenkte er Freda ein kurzes Lächeln, woraufhin ihr fast schwindlig wurde –, »die dem Ausschuß von seiten der Antragsteller vorgetragen wurden, hat sich der Präsident nach langem Ringen und sorgfältigem Abwägen aller Faktoren dazu entschlossen, den Antrag abschlägig zu bescheiden. Verehrte Antragsteller, ich bin beauftragt, Ihnen im Namen des Präsidenten für Ihr Interesse zu danken, und Sie noch einmal seiner Hochachtung für das hohe Verantwortungsbewußtsein, das Sie mit Ihrer Petition dokumentiert haben, zu versichern. Die Anhörung ist hiermit beendet. Die Sitzung ist geschlossen.« Zum Abschluß schlug er noch einmal mit seinem Hammer auf das Pult, und der Schlag dröhnte durch den Saal wie hohler Donner. Für Freda klang es eher wie ein Schlag einer Totenglocke. In diesem Saal, an diesem Tag, endete ihre Karriere in den
Niederungen des mittleren Verwaltungsdienstes. Sie hatte sich nicht nur wie eine blutige Anfängerin von Berkeley ausmanövrieren lassen, sondern auch noch hingenommen, daß Gaynor sie schamlos für seine egoistischen Interessen opferte. Niemals würden ihre Geschütze auf Berkeley gerichtet sein, denn Gaynor würde den Abzug betätigen müssen. Aber das würde er niemals tun. Traurig wurde ihr bewußt, daß ihre Überlegung nur noch rein akademischen Wert hatte. So hatte sich denn das Orakel vom Schwarzen Brett des Aufenthaltsraumes auf symbolische Weise bewahrheitet: Charles hatte es gemacht mit Freda, ohne Liebe, in Washington. Sie erhob sich müde von ihrem Stuhl, um den Saal zu verlassen. Doch Hans hielt sie zurück. »Warte noch!« flüsterte er ihr zu. Heyburn stand noch immer hinter dem Rednerpult. Er hatte den Blick hinauf zu den Kameras gerichtet, als wolle er sich vergewissern, daß auch alle Scheinwerfer abgeschaltet waren. Er leckte sich gierig die Lippen, und die Zuschauer schienen sich hochgespannt nach vorn zu beugen. Fasziniert sah Freda, wie die engelhaft-gütigen Züge aus seinem teigigen Pfannkuchengesicht verschwanden und die Schminke runzlig wurde, als seine Wangen erschlafften. Selbst die Farbe seiner Augen schien sich von einem blassen Blau in Stahlgrau zu verwandeln, und seine Unterlippe schob sich so weit vor, daß sie die obere gut um einen Zentimeter überragte. Vor ihren Augen nahm der Advokat des Teufels die Gestalt seines Klienten an. »Okay Jungs«, knurrte er, »was ich jetzt sage, ist nicht für die Öffentlichkeit gedacht.« Die Reporter in der Nähe Fredas, die ihre Notizbücher schon zugeklappt und ihre Stifte eingesteckt hatten, zogen Stenomaschinen aus ihren Jackentaschen, und in diesem Moment wußte sie, daß das, was jetzt kommen würde, eine Untergrundpressekonferenz war. »Liebe Freunde,
hochgeschätzte Feinde«, eröffnete Heyburn seine Rede mit einer rhetorischen Phrase (aber seine Stimme hatte einen harten Klang angenommen und war jetzt bar jeden Honigs), »in dem Augenblick, als diese buntscheckige Blase aus blutenden Herzen, Ostereierköpfen und südkalifornischen Jahrmarktskünstlern samt dieses Starlets mit den Puffern eines 1960er Cadillacs in den Saal gerauscht kam, da stank es hier schon gewaltig nach ungehöriger Einflußnahme auf einen Senatsausschuß.« »Wieviel hat Ihnen die Navy für Ihre Stimme bezahlt, Heyburn?« schrie jemand aus dem Publikum. »Vielen Dank, verehrter Feind, daß Sie mich noch mehr in Rage bringen. Aber das soll das Finanzamt lieber selber herauskriegen.« Er hielt inne, nahm einen Schluck aus dem neben dem Rednerpult stehenden Glas und verbeugte sich höhnisch grinsend vor den Pfiffen und Buhrufen, die er mit seiner dreisten Antwort provoziert hatte. Aber als er die Hand hob, kehrte sofort Ruhe ein. »Und als die ehrenwerten Bittsteller ihr großäugiges Püppchen und einen emotionalen Krüppel vor uns aufmarschieren ließen – ich meine damit den jaulenden Hund, der den mittäglichen Mond anheulte –, ging mir der Wahlspruch des großen Staates Kansas durch den Kopf: Per aspera ad astra – wer zu den Sternen will, der muß den harten, den beschwerlichen Weg wählen.« Es war eine nichtöffentliche Rede, und sie würde von den lokalen Blättern auch als solche gewürdigt werden, aber nichtsdestotrotz hörte Freda deutlich im Takt von Heyburns Worten die Stenomaschinen klicken. »Per aspera ad astra«, wiederholte er und wartete, um seine Worte auch richtig wirken zu lassen. »Ein Wahlspruch auf dem Grab eines Traumes, in dem die moralische Substanz unserer Republik langsam vor sich hin west, zerstört von den vier Reitern der Zivilisation: Bequemlichkeit, Ordnung, Intellekt
und Aufklärung. Liebe Freunde und noch liebere Feinde, es gibt kein moralisches Äquivalent für den Krieg, keinen Fortschritt ohne Schmerz, keine Farbe ohne Widerstreit, kein Leben ohne Gewalt. Ich wende mich gegen alle Tahitis im All. Ich wehre mich gegen alle Blütenträume, die doch nur Sackgassen sind. Doch wenn der eherne Klang des Todes durch das Weltall hallt, werde ich meine Hand zum Segen erheben und sagen: ›Zieht hinaus. Nehmt die Herausforderung an und überwindet sie.‹ Doch immer wird mein festes, unbeugsames ›Nein‹ den Lotosessern entgegenschallen, den Genüßlingen, den Weichlingen, Schlappschwänzen und zartbesaiteten Anbetern des Schönen an sich.« »Pfui! Dreckschleuder! Aufhören!« tönte es aus den hinteren Rängen. »Im Paradies gibt es keinen Fortschritt«, fuhr der Senator unbeirrt mit seiner Haßtirade fort. »Der Mensch hätte niemals erhobenen Hauptes unter den wärmenden Strahlen der Sonne wandeln können, wäre er nicht einst aus dem Paradies verstoßen worden. Aber der Kreis des Schicksals, der beim Apfel begann, hat sich wieder geschlossen – beim Apfelmus. Als Adam Eden in östlicher Richtung verließ, begab er sich in einen Teufelskreis. Je weiter er jenseits von Eden war, desto näher kam er von Westen her wieder an Eden heran. Schon jetzt riecht meine Nase den süßlichen Duft der paradiesischen Oase, die sich als Totenbett unseres kämpferischen Geistes erweisen wird.« »Dann kratz doch ab!« »Keine Angst, hochgeschätzter Feind, sterben werde ich. Aber ich werde sterben wie ein Mann, aufrecht und ungebeugt, und im Tod noch werde ich der verglühenden Sonne meinen Fluch entgegenschleudern – und nicht wie ein Grashalm, der sich demütig und stumm dem ersten Fröstchen beugt. Und im Sterben noch werde ich den Namen Gottes verfluchen, jenen
Kreis, der sich immer und ewig an derselben Stelle schließt, mit wenig Trauer und weniger Sünde und Erbarmen die Seele der Verschwörung.« »Pfui! Gotteslästerer!« Plötzlich bemerkte Freda, daß einige der Anwesenden begonnen hatten, sich gegenseitig in der Manier von Schattenboxern zu umtänzeln, um sich mit imaginären linken Haken und rechten Geraden einzudecken, als wollten sie Heyburns Sprüche pantomimisch illustrieren. »Verehrte Athener« – wandte sich der Senator jetzt direkt an sie –, »ihr habt die Dankesworte des Präsidenten vernommen. Doch möchte auch ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und diesen Dank um meine persönlichen Grußworte bereichern. Dem Hollywood-Sternchen, das mehr Holz vor der Hütte als Grips im Schädel hat: Viel Glück und Lebewohl. Dem platinfarbenen Ostereierkopf: Viel Glück und Lebewohl. Dem Kreisklassen-Couchkletterer: Viel Glück und Lebewohl. Möge der Herrgott euch einen turbulenten Rückflug zu euren kunstvoll berieselten Geranien schenken!« Freda war so entsetzt über Heyburns ätzende und giftige, gleichwohl mit viel Treffsicherheit verspritzte Gehässigkeiten, daß ihr fast der Atem stockte, aber das Publikum blieb mucksmäuschenstill und wartete gespannt, was nun weiter passieren würde. Als der Senator erneut einen Schluck aus seinem Glas nahm, hörte sie rings um sich erregtes Atmen. Heyburn hatte nur drei der Athener namentlich angesprochen. Sie beugte sich gespannt vor und wartete. »Und du, o antennenhaariger Daedalus, du Meistererfinder, du Daniel Düsentrieb des Raumzeitalters, ich fürchte, deine Ikarusse sind unserer Sonne ein wenig zu nahe gekommen – « »Heyburn, du Minotaurus!« scholl es von hinten. Der ganze Saal kicherte.
»Die Schwingen, die du gebaut hast, hatten einen Defekt im Kühlsystem. Dein Ikarus hat wieder einmal eine Bruchlandung gebaut. Kehre, o Puppenspieler, zurück in deine Hexenküche in Santa Barbara, mitsamt deinen Marionetten und deinen Leierkastenmelodien. Du hast wieder keine Sechs gewürfelt. Du hast ausgezockt! Flora kannst du dir von der Backe putzen.« Er nahm wieder einen Schluck, ohne jedoch den Blick von Clayborg abzuwenden. Und als er wieder sprach, hörte es sich so an, als bitte er den Bittsteller um etwas: »Clayborg, ich habe dich schon einmal darum gebeten, und ich bitte dich jetzt noch einmal: Hör endlich auf, nach den Regeln zu spielen! Wenn die letzten Sterne verglüht sind und der letzte Planet fällt, wenn die großen Galaxen zusammenstürzen, dann gib uns einen neuen Anfang im nächsten Zyklus. Du kennst den Pfad, der vor dir liegt. Nimm ihn! Brich ihn, den Großen Kreis, und laß uns seine Bahn nach unseren eigenen Vorstellungen planen. Schlag Gott ein Schnippchen! Betrüge ihn, den großen Betrüger!« Seine Worte hatten etwas Ansteckendes an sich. Sofort bildeten sich Sprechchöre: »Clayborg, betrüg ihn! Clayborg, betrüg ihn!« Hans stand auf und hob beschwichtigend die Arme. Sofort kehrte Ruhe ein. »Meine Damen und Herren, ich verfüge nicht über die exzellente Rednergabe des Herrn Senators und werde daher auch keine lange Rede halten. Lassen Sie mich Ihnen daher ganz einfach sagen: Es gibt eine Gottheit, die letztendlich unser Schicksal in der Hand hält… Gewiß, es gibt kein moralisches Äquivalent für den Krieg, aber es gibt auch kein kriegerisches Äquivalent zur Moral. Gott ein Schnippchen zu schlagen, die Evolution durch einen Kurzschluß zu überbrücken, würde eine lange Reise erfordern, und wen, frage ich Sie, würden wir auf diese Reise schicken? Unseren wulstlippigen Senator aus Nord-Dakota vielleicht?« Clayborg wartete, bis die »Nein! Nein!«-Rufe wieder verhallt
waren. »Aber er würde gehen müssen, als Bestechungsgeschenk für seine Kooperation.« »Laßt uns alle sterben!« schrie jemand. Clayborg hob die Hand. »Sie sehen also, die Wahl wäre nicht einfach. Ich habe in meinem Leben nur wenige kennengelernt, die ich ans Ende der Welt und darüber hinaus senden würde. Diese Dame hier, die von unserem Gentleman aus NordDakota so übel verleumdet wurde« – er machte eine Kunstpause und legte seine Hand auf Fredas Kopf (was in ihr das Gefühl erzeugte, als empfinge sie seinen Segen, obwohl dieses Gefühl rein intuitiv war, denn bisher hatte sie mit Segnungen noch keine Erfahrungen gemacht), »ist eine der wenigen, die ich für eine solche Reise auserwählen würde. Aus persönlicher Erfahrung kann ich Ihnen versichern, daß sie – um mit den Worten des Herrn Senators zu sprechen – mehr Grips im Schädel als Holz vor der Hütte hat.« Die Bemerkung werde ich mir merken müssen, dachte Freda, als Hans ihren Kopf losließ und fortfuhr: »Aber ich habe das Gesetz der Moral akzeptiert, und daher werde ich der Evolution kein Schnippchen schlagen. Gott hat uns die Zyklen der Schöpfung gegeben, und wir werden innerhalb dieser Kreise, die er uns gesteckt hat, arbeiten. Wir werden Gott mit seinen eigenen Waffen schlagen, indem wir das Spiel nach seinen Regeln spielen, aber wir werden ihn als Menschen besiegen, damit wir uns als Menschen ihm anschließen können. Ich werde nicht den Vorschlag des Senators befolgen und mich per Akklamation zum Luzifer machen lassen. Ich werde den Teufel dazu beitragen, mich per Senatsbeschluß zum Teufel ernennen zu lassen. Und am allerwenigsten habe ich Lust, der Beelzebub jenes Satans dort drüben zu sein.« Er hielt einen Moment inne und wartete, bis der aufbrandende Beifall verebbt war.
»Wenn wir die Waffen zum offenen Krieg gegen Gott erheben, kann es keinen Sieg geben und keinen Waffenstillstand, und dieser Krieg kann niemals zu Ende gehen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Verfechter der passiven Unterwerfung unter das Schicksal. Ich bin eine Kämpfernatur. Ich werde niemals ablassen vom Kampf um Leben und Tod, und mein Schwert wird so lange nicht ruhen, bis wir unser neues Jerusalem gebaut haben; mit Gottes Gnade, meine Damen und Herren, werden wir seine Stadt mit den Händen von Sterblichen bauen… Ich danke Ihnen.« Keiner klatschte. Für einen Moment herrschte ehrfurchtsvolle Stille im Saal. Hans hatte alles gesagt, und es konnte darauf keine Erwiderung geben. Das Publikum begann aus dem Saal zu strömen. Freda bemerkte, daß die meisten mächtig ins Schwitzen geraten waren. Berkeley und Gaynor erhoben sich ebenfalls und gingen sofort hinaus. Freda hingegen blieb noch sitzen, um auf Hans zu warten, der inzwischen damit beschäftigt war, sich der ihn umringenden Gratulantenschar zu erwehren. Der andere Teil der Zuhörer begab sich zu Heyburn, um ihn zu beglückwünschen. Ihrer Meinung nach hatte Clayborg das Duell ganz klar für sich entschieden. Sie wußte zwar noch immer nicht so recht, worum es bei der Konfrontation eigentlich gegangen war, aber nichtsdestotrotz war es ganz schön aufregend gewesen. Als Hans sich endlich von seinen Anhängern losgeeist hatte und sie gemeinsam zum Taxistand schlenderten, fragte sie ihn, was eigentlich los gewesen war. »Och«, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung, »Heyburn hat ganz einfach das moralische Äquivalent eines Straßenauflaufs provoziert. Die Menge braucht eben hin und wieder ihren Zirkus – Brot und Spiele, die alte Geschichte. Heyburn wußte, daß ich hinter der Petition stand. Er hätte es auch gewußt, wenn ich während der Hearings
in Südafrika gewesen wäre… Den ›Ostereierkopf‹, mit dem er Charlie tituliert hat, fand ich übrigens äußerst gelungen… Mir tut natürlich leid, daß du in die ganze Sache mit hineingezogen worden bist. Ich hätte mir denken können, daß Gaynor etwas im Schilde führte, als ich in Bakersfield zu euch stieß, aber verdammt noch mal, ich kann mir nicht auch noch über die Intrigen anderer Leute den Kopf zerbrechen. Mir reichen schon meine eigenen.« Er hielt die Taxitür auf, und als er sich neben sie auf den Rücksitz setzte, fragte sie: »Was sollte das eigentlich bedeuten, ich meine diese Sache von wegen Gott ein Schnippchen schlagen und den Kreis mit einem Kurzschluß überbrücken?« »Das war auch so ein bißchen Schmierenkomödie. Im Prinzip eine ganz einfache Geschichte: Das Universum fällt in bestimmten Abständen in sich zusammen und dehnt sich dann explosionsartig wieder aus, etwa so.« Er drehte sich halb zu ihr herum und machte mit den Händen die Bewegung eines Akkordeonspielers. »Und er will nun, daß ich ein Raumschiff auf eine Geschwindigkeit bringe, die es aus dem All und aus der Zeit herausschießen läßt. Wenn man das schafft, dann ist man von dem Moment an nicht mehr den Gesetzen der Natur unterworfen, man ist gewissermaßen ein Nichts – jenseits von Gott, um mit Heyburns Worten zu sprechen. Es wäre ein leichtes, anhand des Goldbergschen Gesetzes von der Verminderung des Wärmegewichts auszurechnen, wann die nächste Explosion stattfindet, und dann ein Raumschiff ins Nichts zu schicken, das so programmiert ist, daß es beim nächsten Zyklus wieder zurückkommt: mit voll entwickelten menschlichen Wesen, die anhand der gesamten, auf Mikrofilm gespeicherten Technologie der Menschheit sofort mit dem Neuaufbau beginnen könnten. Damit hätte man sich dann die ganze Evolutionsphase gespart. Aber ich kann und will mich nicht darauf einlassen – außerhalb des Universums irgendwo
im Nichts zu lauern und darauf zu warten, sich irgendwann auf ein jungfräuliches Universum zu stürzen. Wir könnten damit zwar die Evolution unter Kontrolle bringen, gut, aber weiter? Was würde der nächste Zyklus hervorbringen? Neue Heyburns? Wer von uns ist dazu befähigt, die Helix zu verdrehen?« »Bestimmt gibt es ein paar geeignete Personen. Du hast in dem Zusammenhang ja sogar mich erwähnt.« »Würdest du denn gehen wollen?« fragte Hans ernsthaft. »Ich? O nein! Ich wäre ein sehr fehlerhaftes Exemplar.« »Deine Antwort qualifiziert dich geradezu für eine solche Reise, und außerdem bestätigt sie meine Erfahrungen. In Santa Barbara nennen wir es Catch 69. Die, die geeignet wären, wollen nicht. Wollen tun nur die Raffzähne, die Gierigen und die Machthungrigen. Sie würden sich wie die Aasgeier über das jungfräuliche Universum hermachen und hätten absolute Gewalt über den neuen Schöpfungszyklus. Absolute Gewalt aber korrumpiert auch absolut, und wer hätte schon gern einen total korrupten Gott? Nein, Freda, Betrüger, Fixer und Abgedröhnte kommen nicht auf mein Schiff!« Er verstummte und fügte nach kurzem Überlegen hinzu: »Und folglich werde ich überhaupt kein Schiff losschicken.« »Und was ist mit deinen Samenkörnern?« »Samenkörner? Ach so… nun, die sind mit dem Gesetz konform.« Als sie im Hotel ankamen, war ein weiteres Telegramm von Hal eingetroffen: »Bekomme Unterstützung von unerwarteter Seite. Gott segne das Gras Floras! Bald gehört den Tulpen Bakersfield, und morgen die ganze Welt! Spiele eine, heiße Klampfe in der Altstadt. Wünschte, Sie wären hier.« Seine seltsame Sprache und sein Ton belustigten und ärgerten Freda gleichzeitig. Ein kurzer Blick auf den Kopf des Telegramms verriet ihr, daß es Freitagabend aufgegeben
worden war, und zwar in Fresno. Sie gab Hans, der bereits an der Rezeption mit den Abmeldeformalitäten beschäftigt war, das Telegramm. »Hier, interpretier du das mal.« Hans überflog rasch den Inhalt des Telegramms. »Die Tulpen passen sich so schnell an, daß sie außer Kontrolle zu geraten drohen. ›Und morgen die ganze Welt‹ war einer der Slogans der Nazis aus dem zwanzigsten Jahrhundert, als sie sich anschickten, die Weltherrschaft anzutreten. Der nächste Satz heißt, daß er, da ihm irgendein nicht näher bezeichneter, unverhofft aufgetauchter Bestäuber die Fummelarbeit abgenommen hat, jetzt Zeit hat, in einem Jazzclub Gitarre zu spielen.« »Glaubst du, daß er betrunken war, als er das Telegramm aufgab?« »Nein«, sagte Hans entschieden. »Dafür klingen seine Formulierungen zu gekonnt und zu hintergründig. Der Bengel ist ganz schön in dich verknallt.« »Ach, Hans«, wehrte sie ab und wurde gleichzeitig puterrot. »Er weiß doch, daß ich verlobt bin.« »Was den Kitzel für ihn nur noch größer macht Halt mich bezüglich dieser Tulpen auf dem laufenden, Freda, aber fühle dich bitte nicht gekränkt, wenn ich deine Briefe nicht beantworte. Wenn ich unlösbare Probleme löse, neige ich zur Geistesabwesenheit.« Wegen eines heftigen Schneesturms verzögerte sich ihr Rückflug ins Land der kunstvoll berieselten Geranien erst einmal um volle zwei Stunden. Während Gaynor und Berkeley in ihren Sitzen vor sich hindösten, genossen Freda und Hans ihren letzten gemeinsamen doppelten Martini auf dem Ein Drink-Flug. Beide spürten den bittersüßen Abschiedsschmerz zweier Menschen, die, wie Freda dachte, es vielleicht doch besser gelassen hätten. Hans schien mehr zur bitteren Komponente zu tendieren. »Ich fühle mich schuldig wegen dir,
Freda«, murmelte er nachdenklich, »weil ich mich bei meinem Schachspiel verkalkuliert habe. Ich versuchte, einen Bauern zu opfern – Gaynor, aber Heyburn hat ihn einfach übersprungen, um die Dame zu schlagen – dich.« »Gaynor ist derjenige, der für das Opfer verantwortlich war.« »Ja, er hat dich ins Spiel gebracht. Aber das Spiel ist noch nicht zu Ende. Noch hat Clayborg nicht verloren.« »Aber Caron.« »Wenn das Leben nach Schachregeln gespielt würde, ja«, gab Clayborg zu. »Heyburns inoffizieller Tadel hat dir ziemlich geschadet. Wenn im Laufe der Jahre seine erlauchte Reputation wächst und seine Abneigungen sich durch Altersstarrsinn noch verhärten, könnte er dir möglicherweise den Weg in die Spitzen der Bürokratie versperren – wenn du es überhaupt schaffst, an Gaynor vorbeizukommen.« »Ich bin Realistin, Hans. Gaynor wird mich dazu verdonnern, daß ich künftig nur noch reine Forschungsarbeit mache, und wie es aussieht, werde ich wohl den Rest meines Lebens zwischen Blumentöpfen verbringen.« »Es gibt noch einen Weg nach oben – meinen. Wenn du es schaffst, mit einem bahnbrechenden Beitrag zur Botanik von dir reden zu machen, hast du die Chance, an eine der Denkfabriken berufen zu werden – Princeton, Santa Monica oder Santa Barbara –, du wärst mit einem Schlag aus dem Schneider und ranggleich mit einem Minister.« »Ich bezweifle, daß ich dazu fähig bin.« »Ich nicht! Hör zu, Freda. Ich habe da so ein Gefühl, als könnten diese Tulpen der Schlüssel sein, mit dem du aus dem Keller der Verwaltungshierarchie herauskommst. Ich rate dir deshalb, die Blumen genau und aus jedem erdenklichen Blickwinkel zu beobachten. Stell meinetwegen die These auf, sie hätten sich aus Feldmäusen entwickelt – und dann mach dich auf die Suche nach Fakten, die diese Theorie bestätigen.«
»Du hörst dich an wie ein Psychiater.« »Mag sein. Aber es genügt nicht, das Leben als etwas Stetiges und Ganzes zu sehen. Du hast die Fähigkeit, die Dinge mit zwei Augen zu sehen, und um diese Fähigkeit zu nutzen, mußt du ständig den Geist in Bewegung halten. Einer von meinen Studenten in Australien hat auf der Basis, wie ich sie dir eben angedeutet habe, eine erfolgreiche Methodologie entwickelt. Du mußt die Ausschaltung des Zweifels praktizieren, denn das Universum ist unlogisch, und du selbst bist eigentlich eine mathematische Unmöglichkeit. Du verdankst deine Existenz einem Zufallstreffer mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million – rechne mal aus, in welchem Maße diese Wahrscheinlichkeit abnimmt, wenn du diese Trefferquote auf alle dir vorausgegangenen Generationen überträgst!« Freda kniff sich in den Arm. Sie existierte also. »Mein Vorschlag ist folgender«, fuhr Hans fort. »Wenn du an den Tulpen irgendwas entdeckst, das einer Monographie wert zu sein scheint, dann setz dich hin, schreib sie und reich sie auf dem offiziellen Dienstweg ein. Der Dienstweg schützt deine Autorenschaft, selbst wenn jeder Bürokrat, der deine Arbeit liest, sich bemüßigt fühlt, seinen abweichenden Senf dazuzugeben, um zu zeigen, daß er über die Problematik noch viel tiefer nachgedacht hat. So, und jetzt das Wichtigste: Eine Kopie deiner Dissertation schickst du direkt an mich. Das Institut für Fortgeschrittene Studien wird unvoreingenommen über den Wert deiner Theorien befinden, ohne das Handikap von vierundachtzig verschiedenen negativen Kommentaren und Randbemerkungen. Dafür werde ich schon sorgen. Du weißt, daß ich ein alter Manipulator bin, also hast du keinen Grund, mir zu trauen; aber du tust es trotzdem, nicht wahr?« »Ja. Aus einem bestimmten Grund.«
»Ich könnte ihn dir nennen«, erwiderte er grinsend, »aber ich tu’s nicht.« Freda ließ ihn seinen kleinen, bequemen Triumph auskosten, aber sie wußte selbst sehr wohl, warum sie ihm vertraute. Mit oder ohne Gebiß – er liebte sie. Und sie hätte guten Gewissens behaupten können, daß sie auf eine abstrakte, unpersönliche, höchst sterile Weise seine Liebe erwiderte.
Nach einem Abschiedsessen für Clayborg in Bakersfield kehrte Gaynors Gruppe im institutseigenen Hubschrauber zur Basis zurück. Schon in der Kabine spürte Freda, nun, da ihr Freund und Beschützer Clayborg nicht mehr da war, den beginnenden Rauhreif in Gaynors Verhalten. Er hatte sich während des Essens mit Clayborg bei ihr entschuldigt, aber seine Entschuldigung war schon dort eigentlich mehr ein Vorwurf gewesen: »Tut mir leid, Freda. Vielleicht hätte ich das Plädoyer doch besser von einer erfahreneren Kraft halten lassen sollen.« »Oh, nein«, hatte sie abgewehrt. »Sie können sich keinen Fehler vorwerfen, daß Sie die Sache mir übertragen haben. Wir standen in dem Moment auf verlorenem Posten, als die Navy sich gegen uns stellte.« Und nun, während sie sich träge in ihrem Sitz zurücklehnte und durch das Fenster auf die am Horizont vorbeiziehende Küstenlandschaft schaute, spürte sie immer deutlicher die Eiseskälte, die sich zwischen Gaynor und ihr auszubreiten begann. Nach allem, was sie aus den Lehrbüchern wußte, konnte sie sich eine ziemlich konkrete Vorstellung vom weiteren Verlauf der Beziehung zwischen ihm und ihr machen. Den Anfang der beginnenden Eiszeit kündigte ein Verhalten an, das man am treffendsten mit höflicher Reserviertheit bezeichnen konnte. Die Gewißheit, aus dem Rennen zu sein, versetzte Freda in die Lage, Berkeleys
schleimige Annäherungsversuche an Gaynor mit einem Gefühl zynischer Belustigung zu beobachten. Gaynor sprach wenig, doch das Wenige, das er sagte, stieß jedesmal sofort auf den diensteifrigen Beifall des Psychiaters. Er rauchte wenig, doch sobald er die Zigarette noch nicht ganz zwischen den Lippen hatte, war Berkeley auch schon zur Stelle und ließ mit katzbuckelnder Eilfertigkeit die Flamme seines Feuerzeugs aufblitzen. Freda konnte nicht verhindern, daß sich ihr der Terminus »Arschkriecher« aufdrängte. Als der Hubschrauber auf die Garage des Amtsleiters zuschwebte, bemerkte Freda, daß der Parkplatz leer war; offenbar hatten die Erinnerungen an ihre alte Liebe die Abteilung Able verlassen. Als der Hubschrauber zur Landung ansetzte, schaute sie nach Osten. Durch die rasch zunehmende Dämmerung, die sich über das Tal von San Joaquin gesenkt hatte, konnte sie in der Ferne die Lichter von Fresno blitzen sehen. Etwas südlich von den Hochhäusern, ging ihr bei dem Anblick durch den Kopf, spielte sich jetzt das brodelnde Altstadtleben ab. Plötzlich fühlte sie sich von einer Woge von Sehnsüchten überflutet. Sie konnte förmlich das Absatzgeklapper der Senoritas auf dem Pflaster der Plaza hören, das spanische Stimmengewirr, das gedämpfte Lachen, das unter fein bestickten Mantillas hervordrang. In ihren eigenen Hüften spürte sie das Schwingen der Senoritas, die jetzt im Uhrzeigersinn um den Plaza-Brunnen herumflanierten, liebevoll beäugt von schmalhüftigen Burschen in hautengen, mit Spangen und Schnallen verzierten Hosen, die in gebührendem Abstand in entgegengesetzter Richtung um den Brunnen stolzierten. Sie sah die roh verputzten, im Licht der untergehenden Sonne rosa schimmernden Ziegelmauern und verspürte den pikanten, moschusartigen Mehlgeruch dampfender Tortillas. Sie konnte das Klimpern der Gitarren
aus den eichenen Schwingtüren der Cantinas dringen hören, als die Musiker ihre Instrumente für den samstäglichen Tanz in der Altstadt stimmten. Überwältigt von der Fülle der Bilder, die auf sie einströmten, geriet sie unversehens in eine seltsame Hochstimmung, die auch die Landung des Hubschraubers und das frostige »Gute Nacht, Dr. Caron« von Gaynor und Berkeley überdauerte. Und als sie allein den zu ihrem Quartier führenden Weg entlangschlenderte, fielen ihre Schritte unwillkürlich in die eins-zwei-DREI (1/2) –, eins-zwei-DREI (1/2)-Synkopen eines dissonanten Tangos. Sosehr Freda auch ihren analytischen Verstand bemühte: sie fand keine hinreichende Erklärung für die plötzliche Woge aus Freude und Trauer, die sie durchpulste wie der Strom einer Anode auf der Suche nach einer Kathode. Vielleicht, überlegte sie, hatte das Erlebnis in dem Hotelzimmer in Washington doch einen tieferen Eindruck bei ihr hinterlassen, als sie es sich eingestanden hatte, und dies war nun gewissermaßen eine verspätete Reaktion darauf. Vielleicht lag es auch daran, daß sie unbewußt Abschied von ihren Karriereträumen nahm. Oder war es vielleicht ganz einfach das Gefühl der Vorfreude, bald wieder bei den Tulpen zu sein?
Am Sonntagmorgen nach dem Frühstück konnte sie es kaum erwarten, wieder zu ihren Tulpen zu kommen. Auf dem Weg zum Gewächshaus kam ihr plötzlich die Idee, noch rasch einen Abstecher ins Foyer des Frauenblocks zu machen, um zu sehen, was es Neues am Schwarzen Brett gab. Was sie jedoch dort vorfand, erschütterte sie so sehr, daß sie eine Weile brauchte, um sich davon zu erholen. Denn gleich das erste, was ihr dort ins Auge sprang, war ein Zettel, auf dem in der ihr mittlerweile schon vertrauten Handschrift stand: »Charlie hat es ohne Liebe mit Freda in Washington gemacht. Hans hat es
mit Liebe nicht gekonnt. Hal macht rasch Boden gut. Wer wird Paul aus dem Feld schlagen?« Sie war so wütend über das Geschreibsel, daß sie sämtliche Ankündigungen und sonstigen Zettel für den Monat Februar vom Brett herunterfetzte, in Stücke riß und durch die Toilette spülte. Sie wußte, daß dies keine Art war. Wandkritzeleien waren in ihrer Eigenschaft als Kaffeekränzchen- und Büroklatsch-Surrogat ein wichtiges, fast unverzichtbares Mittel zum Abbau sozialer Spannungen, aber wer immer diese Sticheleien über sie schrieb, er nutzte sein Wissen auf unfaire Weise aus. Offenbar handelte es sich bei dem Verfasser oder der Verfasserin um einen Reporter, der für die Untergrundpresse arbeitete und seine Informationen brandheiß direkt vom UP-Nachrichtenservice bezog. Freda ließ sich wutschnaubend in einen der Foyersessel fallen und wartete, bis sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. Sie wollte alle negativen Gedanken aus ihrem Bewußtsein verbannen, bevor sie zu ihren Tulpen hinüberging. Nach einer Weile hatte sich ihr Ärger wieder so weit gelegt, daß sie das Gefühl hatte, an die Arbeit gehen zu können. Der kurze Spaziergang über den sonnenbeschienenen, sattgrünen Rasen zu ihrem Gewächshaus trug dazu bei, ihre gute Laune einigermaßen wiederherzustellen. Sie war kaum um die Ecke des Gewächshauses gebogen, als ein wahres Farbenmeer aus Gold und Grün ihr entgegensprang. Wie verzaubert blieb sie stehen und bestaunte die Schönheit, die sich wie ein leuchtender Teppich vor ihren Augen ausbreitete. In vierundzwanzig Beeten – vier in der Breite und sechs in der Länge – erstreckten sich die Tulpen über ein Viertel der Fläche, die zwischen dem Gewächshaus und dem Zaun lag. Die ersten zwölf Beete standen in voller Blüte. Hal hatte sie mit breiten Segeltuchstreifen voneinander abgegrenzt, um zu verhindern, daß der Samen auf die
schmalen Fußpfade zwischen den Beeten fiel, doch innerhalb der Beete war jede einzelne Tulpe mit größter Sorgfalt eingepflanzt. Sie hielten präzise den Abstand von fünfzehn Zentimetern zwischen sich ein. Was immer er auch für geistige Sünden begehen mochte, seine praktische Vorgehensweise hatte er jedenfalls mit der Sorgfalt eines 3-D-Schachmeisters geplant. Fredas Garten strahlte vor Schönheit. Langsam ging sie zur Mitte der Parzelle. Fasziniert beobachtete sie, wie die goldenen Köpfe der Tulpen ihrer Bewegung zu folgen schienen. Sie hörte das leise Murmeln, das sich in den Luftkammern erhob, als der Luftzug, den sie durch ihre Bewegung verursachte, die Tulpen in ihrer unmittelbaren Nähe berührte. Freda spürte, wie ein seltsames Glücksgefühl ihren Körper durchströmte; ihr war, als werde jede Zelle, jedes Atom ihres Körpers von der Schönheit der sie umgebenden, leise singenden, grüngoldenen Blumenpracht durchdrungen. Es klang wie ein langsam auf- und abschwellendes Schnurren, oder vielleicht eher wie eine Art Zischen. Wie das Rascheln des seidenen Gewandes einer Vestalin, dachte Freda. Plötzlich strich ein Luftzug über die Beete, und sie mußte den Blick von den Blumen losreißen, um sich ganz auf den Laut zu konzentrieren. Sie stand unbeweglich da, den Kopf leicht in die Höhe gereckt und lauschte mit gespitzten Ohren dem Gesang der Tulpen, die ihre Köpfe leise im Luftzug wiegten. Sie sangen eine Ode an die Götter milderer Klimazonen, an einen Jupiter ohne Blitze, einen Thor ohne Donner. Und erst, als ihre betörenden Harmonien verklungen waren, wagte sie es, die Augen vor ihrer Schönheit zu öffnen. Die hingebungsvolle Inbrunst, die in dem Gesang der Tulpen mitschwang, hatte Freda mit einem Gefühl tiefer Andacht, ja Ehrfurcht, erfüllt. Es war, als hätten sich ihr in diesem Moment neue, unbekannte Dimensionen – »So schön haben sie mir noch nie vorgesungen!« Es war Hal. Er stand an der Ecke des
Gewächshauses. Sein Oberkörper war nackt und sonnengebräunt. Er trug Bermudashorts, und über seiner rechten Schulter hing eine Kabelrolle. In der Hand hielt er irgendeinen Gegenstand, den Freda aus der Entfernung nicht erkennen konnte. »Hal Polino! Die Tulpen sind einfach eine Pracht!« rief sie zurück. »Bitte gehen Sie! Gehen Sie schon hinein! Lassen Sie mich allein mit ihnen kommunizieren.« »Ich gebe Ihnen fünf Minuten, um mit den Biestern zu kommunizieren, und dann werde ich ihnen mal auf meine Weise ein bißchen den Marsch blasen.« Er ging ins Gewächshaus und schloß die Tür hinter sich. Sie war wieder mit den Tulpen allein. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus fiel sie auf die Knie und sang: »Ich komm’ alleine in den Garten…« Ihre Stimme entlockte den Tulpen, die dicht vor ihr waren, ein raschelndes Echo ihrer Worte. Beide Knie auf der Segeltuchplane, die Arme in der Manier eines Chorleiters weit ausgebreitet, dirigierte sie die Tulpen. Nach jeweils drei Tönen legte sie eine kurze Pause ein, um dem Echo zu lauschen: »Und der Tau… glänzt noch an… den Rosen. Und die Stimme… die ich hör’… klinget Gott… dem Herrn zur Ehr.« Sie mußte vor Freude lachen, und ihr Lachen kam wie ein leise murmelndes Echo zurück. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß soeben eine Weltpremiere stattgefunden hatte. Sie war in der Geschichte der Menschheit der erste, der einen Blumenchor dirigiert hatte! »Versuchen Sie’s doch mal mit einem Walzer!« rief Hal, den Kopf halb aus der Türe gestreckt. »Beim Dreivierteltakt kommen sie erst so richtig ins Swingen.« »Zurück in dein Loch, Maulwurf!« schrie sie. Jedenfalls bin ich die erste, die sieht, wie ein Blumenchor eine Hymne singt, dachte sie. Noch immer auf den Knien hockend, ließ sie den Blick bis zum äußeren Rand der Beete schweifen. Durch Hin
und Herdrehen von Kopf und Oberkörper suchte sie nach dem bestmöglichen Blickwinkel, aus dem sie die Blumen betrachten konnte. Dadurch ergaben sich immer reizvollere Perspektiven. Wenn sie den Kopf ein wenig senkte und gleichzeitig nach unten schaute, konnte sie sogar die braunen Stämme der weiter hinten liegenden Eukalyptusbäume aus ihrem Sichtfeld verbannen. Und als sie mit leicht geneigtem Kopf den Blick auf die vordersten Tulpenreihen richtete, gewahrte sie plötzlich eine Unregelmäßigkeit, die ihr bei näherem Hinsehen einen fürchterlichen Schreck einjagte: Keinen Meter von ihr entfernt befand sich eine weibliche Tulpe, deren innere Blütenblätter purpurrote Sprenkel aufwiesen. Auf dem leuchtend goldenen Untergrund muteten die häßlichen Flecken wie eine ekelerregende Krebsgeschwulst an. Erschreckt ließ Freda ihren Blick über das Beet gleiten. Ein Stück weiter vorn war noch eine! Und dort war noch eine! Sollten die Tulpen tatsächlich von einer Krankheit befallen sein und Hal Polino keine Anstalten gemacht haben, etwas dagegen zu unternehmen, dann konnte er sich darauf gefaßt machen, daß er seine Klampfe demnächst in einer Cantina auf dem Mars spielen würde! Sie stand auf und stapfte wütend und mit blitzenden Augen zum Gewächshaus. In dem Moment, als sie die Tür aufreißen und ihr Donnerwetter loslassen wollte, gewahrte sie einen purpurroten Streifen auf der weißen Farbe des Türrahmens. Erleichtert atmete sie auf, aber ihre Wut entfachte sich aufs neue angesichts der Herkunft des ominösen Streifens: Jemand hatte seinen schmutzigen Befruchtungsfinger am Türrahmen abgewischt! Im selben Moment öffnete Hal die Tür. »Willkommen zu Hause, Fräulein Doktor.« »Hal Polino«, zischte sie ihn an. »Wollen Sie mir bitte erklären, was das für gräßliche rote Flecken auf den Tulpen sind?«
»Pflanzenfärber.« »Sie haben meine Tulpen mit Pflanzenfärber behandelt, obwohl Sie wußten, daß sie daran eingehen?« »Da ich mir dachte, daß der Pflanzenfärber ihnen nur gefährlich wird, wenn sie ihn mit der Wurzel aufnehmen, habe ich es einfach mal drauf ankommen lassen.« »Drauf ankommen lassen?« brüllte sie. »Worauf ankommen lassen? Was haben Sie mit meinen Tulpen gemacht?« »Nun, es hat geklappt«, sagte er und zuckte mit den Achseln. »Und wenn ich tatsächlich ein paar von ihnen vernichtet hätte, was hätte das schon ausgemacht? Wir haben Tausende von den Biestern, und wahrscheinlich müssen wir sie sowieso demnächst restlos ausrotten.« »Nur über meine Leiche! Sie warten hier! Ich werde jetzt mal einen Blick in Ihr Protokoll werfen.« »Darf ich das gnädige Fräulein Doktor daran erinnern, daß heute Sonntag ist, mein freier Tag?« sagte Hal und bückte sich, um das Kabel in die Steckdose zu stecken. »Sie bleiben hier auf dem Gelände, bis ich Ihre Protokolle durchgesehen habe!« erwiderte Freda in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Jawohl, Madam, zu Befehl«, erwiderte er patzig und bückte sich wieder, um das Kabel zu entrollen. »Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß alles, was Sie im Protokoll finden werden, reine Beobachtungen sind. Die Schlußfolgerungen sind hier drin.« Er tippte sich langsam und mit demonstrativ geheimnisvoller Miene an die Stirn und bückte sich erneut, um einen kleinen, batteriebetriebenen Ventilator aufzuheben. Dann drehte er sich um und ging langsam den schmalen Fußpfad hoch; das schwere Verlängerungskabel zog er hinter sich her. Sie schaute ihm nach. Unter dem Gewicht der Kabelrolle spannten sich seine langen, kräftigen Rückenmuskeln wie die eines Langstreckenschwimmers, während er leicht vornübergebeugt vorwärtsstapfte. Das Spiel
seiner Muskeln auf dem nackten Oberkörper erschien ihr in diesem Moment geradezu schamlos und aufreizend, und sie beschloß, auf der nächsten Dienstbesprechung anzuregen, die Mitarbeiter per Aushang aufzufordern, daß sie sich in Zukunft nur noch in ordentlich bekleidetem Zustand in den Gewächshäusern aufhielten.
7
Die ersten Eintragungen in Polinos Berichtsheft waren fast überpeinlich korrekt und präzise. Doch bei den Eintragungen nach Dienstag, dem 24. Januar, zwei Tage, nachdem sie nach Washington abgeflogen war, schien sich wieder der alte Schlendrian bei ihm eingeschlichen zu haben. Da dies, wie sie rasch rekonstruierte, der Tag war, an dem er seine erste Samenernte gemacht hatte, verzieh sie ihm die folgenden Patzer noch einmal. Schließlich war er voll und ganz mit dem Bestäuben beschäftigt gewesen. Am siebenundzwanzigsten hatte er die Eintragung gemacht: »Zucker im Nektar entdeckt. Vorher keinen Zucker festgestellt. Tulpen müssen erkannt haben, daß Bienen Bestäuber sind, und Zucker lockt Bienen an. Wie haben sie das herausgefunden?« Am 30. Januar hatte Polino eine weitere Eintragung bezüglich des Zuckergehaltes im Nektar der Tulpen gemacht: »Anteil des Zuckers am Nektar laut chemischer Analyse inzwischen auf 22%. Die Bienen kommen.« Die darauffolgenden Eintragungen wurden in vielerlei Hinsicht immer interessanter: Streng wissenschaftliche Beobachtungen vermengten sich mit puren, gewagten Mutmaßungen; immer häufiger schlichen sich anfängerhafte Schwächen in wissenschaftlicher Protokollführung, Unsicherheiten im Gebrauch der Nomenklatur und phantastische Spekulationen ein. Das Hollywoodsternchen liest sein erstes Filmdrehbuch, dachte Freda.
2. 2.: Mit Bienen klappt’s nicht! Fand vier tote Honigbienen, deren Köpfe von der Kalyptra weiblicher Tulpen zerquetscht worden waren. 4.2.: Eine Wespe hat ein Ei in einen Blütenkelch gelegt. 5.2.: Immer mehr Wespen tauchen auf. Vielleicht könnten sie als Bestäuber dienen. Vier Wespen tot aufgefunden. Habe sie identifiziert als Masaridae, oder Mexikanische Bodenwespen – die einzige Wespengattung, die ihre Larven mit Honig und Pollen füttert. 6.2.: Habe den Unterleib einer Wespe rot eingefärbt. Spuren des Färbemittels zeigten sich in den Eileitern von 68 Tulpen, bevor die Wespe an Erschöpfung einging. Caron-Tulpen bringen die Wespen so weit, daß sie glauben, sie legen Eier. 8. 2.: Heute keine toten Wespen entdeckt. Habe eine Wespe grün eingefärbt. Grüne Farbe nur in zehn Eileitern wiedergefunden. Tulpen haben mittlerweile gelernt, Wespen nicht überzubeanspruchen. 10. 2.: Immer mehr Wespen tauchen auf (aus Mexiko?). ABeete keimen. B-Beete bestäubt. C-Beete blühen. D-Beete sprießen. Bereite E- u. F-Beete für die Aussaat vor. Freda klappte das Berichtsheft mit einem dumpfen »plop« zu und ging hinaus in den Garten. Polino kniete auf der Segeltuchplane zwischen den blühenden C-Beeten und den grünen Sprossen von Reihe D. Er hatte den kleinen Ventilator eingeschaltet und so aufgestellt, daß der Luftstrom direkt über die Blüten der Tulpen in Beet C strich. Als sie näher kam, sah sie, daß er gerade ein paar Tasten an einem kleinen schwarzen
Apparat betätigte. Die Tulpen flöteten und sangen deutlich hörbar im Luftstrom des Ventilators. »Was haben Sie da für ein Ding?« fragte Freda. »Das ist ein Hi-FiStereokassettenrecorder«, antwortete er. »Ich nehme ihre Musik auf, zerhacke sie in einzelne Tonsequenzen und baue diese zu disharmonischen Klangkollagen zusammen, so lange, bis ich genau die Disharmonien habe, die mir vorschweben. Dann schreibe ich die Noten auf und spiele sie freitag und samstag abends im Mexicali-Café. Diese kleinen Pflänzchen hier haben mich inzwischen zum Top-Sologitarristen von Fresno gemacht. Letzten Samstag sind die Jazzfreaks sogar schon aus Madeira und Dinuba angerückt, um mich spielen zu hören.« »Wie interessant«, sagte sie bissig. »Ich muß mal einen Ihrer Auftritte besuchen. So, aber jetzt zu einem anderen Thema. Ich habe da einiges bezüglich der Führung Ihres Berichtsheftes mit Ihnen zu besprechen.« »Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen«, sagte Hal und stand auf, »ist das etwas, was ich wohl besser nicht auf Band aufnehme. Sonst zerreißen mir am Ende noch die Gitarrensaiten.« »Kommen Sie in mein Büro!« Sie wandte sich um und ging zurück zum Gewächshaus. Dort angekommen, nahm sie das Berichtsheft vom Schreibtisch, schlug es auf, drehte sich zu ihm um und tippte mit dem Finger auf die Eintragung vom 6. Februar. »Mein lieber Mr. Polino! Seit wann besitzen Blumen die Fähigkeit, jemanden dazu zu bringen, etwas zu glauben – noch dazu Insekten? Ein wissenschaftliches Protokoll ist kein Tummelplatz für wilde Spekulationen, merken Sie sich das. Junger Mann, Sie wurden mir vor allem zu dem Zweck zugeteilt, methodisches Arbeiten zu lernen. Was Sie mir hier präsentieren, ist nicht nur ein Beispiel schlampiger Buchführung. Ihr Protokoll offenbart
darüber hinaus auch einen bemerkenswert nachlässigen Umgang mit wissenschaftlicher Nomenklatur sowie völlige Indifferenz gegenüber Präzision und Exaktheit. Vielleicht ist Ihnen noch immer nicht klar, daß dieses Berichtsheft ein amtliches Dokument ist, das von mir unterschrieben und an das Archiv des Landwirtschaftsministeriums weitergeleitet wird. Was in dieses Buch gehört, sind ausschließlich beobachtete Fakten. Die Synthese dieser Fakten wollen Sie gefälligst den Computern überlassen, die bei weitem qualifizierter sind, Fakten in das Gesamtwissen unserer Disziplin einzuordnen. Ich möchte die betreffenden Passagen bis Montag neu vorliegen haben, und zwar ohne Spekulationen über Pflanzen, die Insekten indoktrinieren oder irgendwelche sonstigen Theorien, Hypothesen, Wunschträume oder Spekulationen. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Ja, Ma’am.« »So, und jetzt möchte ich gerne wissen, was es mit dieser Wespengeschichte auf sich hat. Setzen Sie sich.« Er folgte zögernd ihrer Aufforderung und murmelte mit unbehaglicher Miene: »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, ohne dabei wieder mit Mutmaßungen zu operieren…« »Polino, was Sie jetzt sagen, ist nicht fürs Protokoll bestimmt. Sie können frei und ungezwungen reden. Ich höre Ihnen zu und werde mir schon meinen eigenen Reim darauf machen, was Sie erzählen.« »Okay, wie Sie wünschen. An den ersten drei Tagen, nachdem ich die Schößlinge nach draußen gebracht hatte, habe ich sie instruktionsgemäß mit einem medizinischen Tupfer bestäubt. Ich stellte jedoch bald fest, daß mein kleiner Finger besser geeignet war, weil die Watte von dem Tupfer immer an den Pflanzennarben kleben blieb. Irgendwann, als ich mir einmal aus Versehen den kleinen Finger ableckte, glaubte ich,
Zucker zu schmecken. Daraufhin brachte ich eine Probe des Pollennektars ins Labor und ließ sie analysieren. Die Ergebnisse haben Sie ja in meinem Protokoll lesen können.« »Das war eine gute Beobachtung«, sagte sie anerkennend, »und auch der Labortest war eine korrekte Entscheidung.« »Da ich den ganzen Tag voll mit der Bestäubung ausgelastet war, war es nur natürlich, daß ich sie ständig im Auge behielt und beobachtete. Doktor Caron, denken Sie jetzt, was Sie wollen, halten Sie mich meinetwegen für übergeschnappt, aber ich schwöre Ihnen, nicht ich war derjenige, der experimentierte, sondern sie – die Tulpen! Eines Tages, zu einem Zeitpunkt, als der Nektar bereits süß geworden war, sah ich einen Kolibri über einer Blüte schweben. Nun, ich kann natürlich nicht etwas ins Protokoll aufnehmen, was nicht geschieht, jedenfalls berührte dieser Kolibri die Blüte nicht. Der Tulpe mißfiel offensichtlich der Anblick des nadelspitzen Speers, und schwups, flog der Kolibri wieder weg und ward nicht mehr gesehen. Und das Tolle daran ist«, fuhr er fort und machte eine Kunstpause: »Kein Kolibri wird sich jemals wieder in der Nähe der Tulpen blicken lassen.« Freda mußte sich ein Grinsen verkneifen. »Und welche Theorie haben Sie dafür?« »Die Luftkammer der Tulpe ist eine Art Helmholtzscher Resonator mit einem Hochpaß. Die Tulpe hat dem Vogel mit einem Hochfrequenzton ins Gehirn gepiekt, als sie sah, wie sich die Nadelspitze auf ihre Narbe zutastete.« »Sah?« fragte Freda erstaunt. »Spürte«, korrigierte er. »Sie senden die Schallwellen von ihrem Calyx aus, und ihre Blütenblätter könnten EchoGleichrichter sein.« Der Bursche war verrückt, entschied Freda. Er ging an die Tulpen von einem völlig irrationalen Standpunkt aus heran. Von dem gleichen Standpunkt, schoß ihr plötzlich durch den Kopf, den Hans Clayborg ihr als
Ausgangspunkt empfohlen hatte. Vielleicht konnte sich Hal Polino am Ende sogar noch als wertvoll für sie erweisen. »Es besteht die Möglichkeit«, stimmte sie zu, »daß die Tulpen einen schallrichtenden Mechanismus verwenden, aber wenn, dann nur als rein reaktives Verhalten. Sonnenblumen zum Beispiel sind Pflanzen, die sich nach den jeweiligen Lichtverhältnissen ausrichten, aber ich habe noch nie eine ›denkende‹ Sonnenblume gesehen. Was war mit den Bienen?« »Mit den Männchen kamen sie gut zurecht, aber bei den Weibchen reizten ihre Haare die Eileiter. Also verschwanden sie.« »Und an ihrer Stelle kamen die Wespen«, sagte Freda. »Ganz recht. Als ich die Wespen zum ersten Mal bemerkte, sah ich, wie eine am Stengel hochkrabbelte und sich mit dem Hinterleib in den Eileiter schob. Mir war unverständlich, wieso sie nicht dorthin geflogen war. Ich hatte nämlich ein paar andere auch schon fliegen sehen. Ich brachte sie rüber zu den ›Käfern‹ und bat sie festzustellen, was die Wespe hatte. Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatte, flog sie plötzlich von allein wieder zurück zu den Tulpenbeeten. Daraufhin färbte ich eine ein und beobachtete sie. Auf diese Weise fand ich bald heraus, daß die Tulpen sie so lange arbeiten ließen, bis sie vor Erschöpfung eingingen.« »Hal, lassen Sie endlich den Unfug, Pflanzen menschliche Verhaltensweisen zuzuschreiben! Der einzig gesicherte Fakt ist, daß die Wespen eine ideale Zelle fanden, in die sie ihre Eier legen konnten.« »Doktor Caron«, protestierte Hal. »Ich sage Ihnen, diese Tulpen sind intelligent! Sie fanden die einzige Wespengattung der Erde, die ihnen von Nutzen sein konnte. Unter Ausnutzung eines wie auch immer gearteten Wissens um die Ovulationsprozesse bei Wespen hypnotisierten sie die Insekten dahingehend, daß sie glaubten, Eier zu legen. Die Wespen
legen ihre Eier, die Tulpen lassen sie sie ausbrüten, aber die Wespen stecken weiterhin ihren Hintern in die Eileiter, obwohl sie längst mit dem Eierlegen fertig sind. Die Tulpen wissen mehr über die Wespen als ich, folglich sind sie schlauer als ich. Aber das ist noch nicht alles. Diese Wespen haben ihre Eier seit Tausenden von Jahren nie irgendwo anders gelegt als auf der Erde. Und in weniger als einer Woche kriegen die Tulpen es hin, ein Verhaltensmuster zu verändern, das Äonen brauchte, um sich zu entwickeln. Das können sie nur mit einem Trick geschafft haben, der die menschliche Intelligenz übersteigt. Ich bin kein Methodologe, das gebe ich gern zu, aber ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, daß Paul Theaston weiß, daß diese Pflanzen denken können. Und ich wette, wenn Paul zurückkommt, dann bringt er die Samen von den verdammtesten Orchideen mit, die dieser Planet je gesehen hat.« Diesmal konnte Freda sich ein Lächeln nicht verkneifen. Polino wurde ein wenig ruhiger. »Ich bin überzeugt, daß er recht hat, Ma’am. Diese Orchideen laufen des Nachts herum, um ihr Liebesspiel zu machen.« »Hal, von all den Punkten, die Sie hier berührt haben, gibt es nicht einen, den man nicht logisch erklären könnte. Haben Sie über die Tulpen schon mit jemand anders außer mir gesprochen?« »Ganz gewiß nicht, Dr. Caron.« »Warum betonen Sie das so?« »Ich habe keine Lust, nach Houston zu gehen. Und außerdem komme ich ganz groß raus mit ihren Kompositionen. Ich bin scharf auf Geld und Ruhm.« »Sie erwähnten, daß Sie befürchteten, daß diese Pflanzen ausgerottet werden müssen.« »Ich halte sie für gefährlich. Sie haben schnell gelernt, sich anzupassen, und für die Babies da draußen ist die Erde ein
leichtes Ziel – Sie könnten die Vögel vernichten, die Regenwürmer und alle Insekten, die sie nicht brauchen.« »Aber das würde Jahrhunderte dauern.« »Das würde sie nicht stören.« »Aber uns könnten sie nicht vernichten.« »Nein, Ma’am«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, daß sie das könnten… wenn nicht Paul die Orchideen mitbringt und die Orchideen mit den Tulpen ein Bündnis bilden. Und dann gnade uns Gott! Die Orchideen könnten die Menschen mit Leichtigkeit umbringen.« »Wollen Sie damit sagen, daß Pauls Leben in Gefahr ist?« »Keinesfalls, Doktor. Die Orchideen würden niemals eine Ranke gegen Paul erheben.« »Wieso sind Sie da so sicher, Hal?« »Vielen Dank für das ›Hal‹, Doktor«, sagte er grinsend. Er war jetzt sichtlich erleichtert. »Die Orchideen würden Paul deshalb nichts antun, weil er das einzige Exemplar seiner Gattung ist, das sie haben, und sie wollen ihn studieren.« Das Gespräch mit Hal war der Auftakt einer Woche, die für Freda einiges an Veränderungen mit sich brachte. Gaynors Frostigkeit ihr gegenüber wurde schnell publik. War er früher regelmäßig im Speisesaal am Abteilungsleitertisch einen Moment bei ihr stehengeblieben, um sie zu begrüßen oder ein paar Worte mit ihr zu wechseln, so nickte er ihr jetzt nur noch einen knappen Gruß zu und widmete seine Aufmerksamkeit ansonsten anderen Abteilungsleitern. Aufgrund dieser nicht zu übersehenden Abkühlung in ihrem Verhältnis sanken Fredas Aktien um mindestens zwei Punkte. Und als er sie bis Dienstag noch immer nicht an seinen Tisch in die Amtsleiternische zum Mittagessen eingeladen hatte, spätestens da hatten es auch die anderen Verwaltungskräfte gemerkt, und ihre Aktien sanken nochmals um drei Punkte. Der Donnerstag war ein besonders schlimmer Tag. Hal hatte eine zweite Samenernte aus den A
Beeten vorausgesagt, aber daraus wurde nichts. Kein Samenkorn zeigte sich. Am Freitag war er noch immer ziemlich besorgt, aber dafür erholten sich Fredas Aktien wenigstens wieder ein wenig. Kapitän Barron war soeben aus Washington zurückgekehrt und setzte sich mit Kommodore Minor zum Lunch an Fredas Tisch. Das gab mindestens vier Pluspunkte! »Kapitän Barron«, sagte Freda mit leicht schelmischem Unterton, »ich war sehr überrascht, als ich von Ihrer Jugend unter den Bluthunden von Arkansas hörte.« »Admiral Creighton läßt vielmals um Verzeihung bitten, Freda. Sein Adjutant hat ihn falsch informiert… Aber ich war ebenfalls überrascht, daß Sie die Petition vortrugen, nachdem Sie meinen Namen auf der Liste gefunden hatten.« »Doktor Gaynor dachte, der Schmuck an meinem Kostüm könnte vielleicht die goldenen Litzen der Navy überstrahlen. Wir sind sozusagen mit einem Florett gegen einen Säbel angetreten.« »Kommodore«, sagte Kapitän Barron ganz unvermittelt, »sind Sie schon einmal auf Carston 6 gewesen?« »Ah ja«, sagte der Kommodore und nickte. »Die Schnecken.« Freda machte ein verständnisloses Gesicht. »Was ist denn mit den Schnecken von Carston 6?« »Es sind riesige Exemplare ohne Haus«, erklärte der Kommodore. »Sie bewegen sich durch das dichte Blattwerk der Tropen dieses Planeten vorwärts, indem sie alles auffressen, was ihnen im Wege steht.« Obwohl keiner der beiden Offiziere einen Namen genannt hatte, verstand Freda sofort. Sie hatte Verbündete. Sie unterlag einer anderen Gerichtsbarkeit, und ihre Peer Group war dabei, sie zu verstoßen. Aber ein Mittel gegen ihren Schmerz hatte sie: die Tulpen. Die Tulpen aus den A-Beeten hatten, schwer beladen mit Samen wie sie waren, jetzt keine Zeit für Musik, aber die B-Gruppe sang noch immer munter und frisch. Nach
dem Lunch eilte sie – mit einer Luftmatratze bewaffnet – zurück zu den Tulpen, um sich neben ihnen auszustrecken und gedankenverloren ihren Melodien zu lauschen. Hal war den größten Teil der Woche damit beschäftigt gewesen, Segeltuchbahnen auszulegen, um die Samen einzufangen und die Beete der Reihen E und F umzugraben. Als er damit fertig gewesen war, war er zu den A-Beeten hinübergegangen, hatte sich über sie gebeugt, mit dem Finger auf die frisch umgegrabenen E- und F-Beete gezeigt und gerufen: »Guckt her, Mädels, das da ist euer Ziel. Schießt mir nicht daneben, klar? Ich habe keine Lust, hinter euch herzuputzen. Und achtet schön darauf, einen Abstand von fünfzehn Zentimetern zwischen den einzelnen Samenkörnern einzuhalten; nicht, daß ich hinterher alles noch mal neu pflanzen muß!« Wenn seine Berechnungen stimmten, dann war bei der A-Reihe, die dem Gewächshaus am nächsten war, der zweite Samenauswurf längst überfällig. Spätestens am Donnerstag hätten die Samen schon aus den Hülsen herausgeschossen kommen müssen. Als bis Freitag mittag noch immer nichts passierte, wollte Freda ihrer Ungeduld nachgeben und eins der hochträchtigen Weibchen pflücken, um die Eihülse zu sezieren. Aber Hal protestierte dagegen. »Nein, Ma’am, tun Sie das nicht. Ich habe sie nach einem exakten geometrischen Plan eingepflanzt, und Sie würden mir damit mein Muster zerstören. Keine Angst, die Samen werden schon kommen. Die Durchschnittstemperatur hat in dieser ganzen Woche um zirka vier Grad niedriger gelegen als letzte Woche, und die Tulpen sind sehr temperaturempfindlich.« »Was sagen Sie da? Zirka vier Grad?« hatte Freda fassungslos ausgerufen. »Ein solch wichtiges Detail darf man doch nicht einfach über den Daumen peilen… Geben Sie mir die genauen Daten.« Daraufhin hatte er reuevoll den Blick gesenkt und war zum Gewächshaus gegangen, um ein genaues
Temperaturdiagramm zu zeichnen. Es stellte sich heraus, daß die Woche, die mit Donnerstag, dem 9.2. zu Ende gegangen war, eine um genau 3,8 Grad höher liegende Durchschnittstemperatur aufgewiesen hatte als die darauffolgende. Der Freitag verstrich, ohne daß irgendwelche Samen gekommen wären. Der Samstag war Hals freier Tag, aber als sie gegen Mittag in den Garten kam, fand sie ihn zu ihrem Erstaunen bei der Tätigkeit – wie schon an den Vortagen mit nacktem Oberkörper –, die nächsten Beete für M. Hokada mit weißer Tünche vorzumarkieren, damit dieser sie gleich am Montagmorgen umgraben konnte. Sie ging ins Büro, um sich ein paar Notizen für ihre Monographie zu machen, und als sie wieder nach draußen kam, sah sie ihn langsam, mit gesenktem Kopf, den Pfad längs der A-Reihe hinaufgehen und mit zusammengekniffenen Augen auf der Segeltuchplane nach etwaigen Samenkörnern Ausschau halten. Als Freda seine gequälte Miene sah, mußte sie lächeln. »Hal Polino«, rief sie ihm zu, »Sie sind die vollkommene Verkörperung des werdenden Vaters!« »Vater! Daß ich nicht lache!« knurrte er. »Ich habe Geburtswehen. Keine Wespe kann ermessen, was ein Mann bei der Geburt seines Kindes durchmacht. Welche Temperatur haben wir gerade?« »Fünfundzwanzig.« »Na los, nun mach schon, hoch mit dir!« brüllte er die Temperatur an und stapfte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Pfad wieder hinunter, wobei er den Tulpen wütende Blicke zuwarf. »Wo sind die Wespen?« rief Freda, während sie ihre Luftmatratze aufpumpte. »Die Tulpen halten sich im Moment bloß ein paar davon auf Abruf in der Nähe, wahrscheinlich, um dem Rest des Wespengeschwaders, das irgendwo in der Gegend
herumschwirrt, zur gegebenen Zeit das Signal zur Heimkehr geben zu können. Die Tulpen brauchen sie während dieser Phase nicht. Außerdem könnten sie von herumschießenden Samenkörnern getroffen werden. Aber zur Zeit schießt da überhaupt noch nichts. Ich kann noch nicht mal eine Blüte in meiner C-Reihe entdecken.« Ein leiser Wind strich über den Garten, und die B-Reihe antwortete mit einem melodiösen Chor. »Hören Sie doch, Hal, sie versuchen, Sie aufzuheitern.« »Lügner, Faulpelze, Schwindler!« knurrte Hal die Tulpen in den A-Beeten an, die mit ihren schweren Samenhülsen langsam hin und her schwankten. Gegen zwei Uhr nachmittags sank die Temperatur um ein Grad; eine kalte, feuchte Luftfront näherte sich vom Ozean her. »Tja, Hal, heute wird wohl nichts mehr mit Entbindungen«, rief sie ihm zu, »es sei denn, ich entschließe mich zum Kaiserschnitt.« »Sie sind keine Hebamme«, rief er zurück. »Außerdem gebären sie jedesmal Achtlinge, und das in vier Reihen gleichzeitig.« »Erinnern Sie sich an die sterbende Tulpe. Sie gebar sie ohne fremde Hilfe.« Er trat auf sie zu und schaute sie einen Moment an. »Geben Sie ihnen noch einen Tag Zeit.« »Polino, Sie haben behauptet, daß sie mit den Samen nach dem Topf zielte. Das hier ist die passende Gelegenheit, pragmatischen Empirismus zu demonstrieren. Ich werde jetzt eine rausreißen. Wir können ja an ihre Stelle einen Schößling einsetzen, damit Ihre kostbare Geometrie erhalten bleibt.« »Freda, Sie sind saftrünstig. Sie würden zum Wohle der Wissenschaft kleine Mädchen umbringen.« »Kommen Sie, Hal. Ausgerechnet Sie! Haben Sie mir nicht gerade noch erzählt, wie sehr sie die ›Biester‹ hassen?«
»Ich empfinde nichts für sie als Gruppe, aber als Individuen liebe ich sie.« »Dann konzentrieren Sie sich auf Ihre Bigotterie und ziehen eine raus.« »Ziehen Sie sie doch selbst raus! Sie sind doch hier die Wissenschaftlerin, oder?« »Ach, Sie Herzchen!« neckte sie ihn mit einem seiner Kosenamen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, während sie sich bückte und eine Tulpe vom Rand des Beetes herausriß. Noch während sie sich wieder aufrichtete, hörte sie – unverkennbar diesmal – einen leisen Stoßseufzer aus der Luftkammer der Blume kommen. Es war der gleiche Laut, den sie an dem Abend gehört hatte, als sie das Blatt von der sterbenden Tulpe abgeschnitten hatte. Plötzlich war sie froh, Polino außer Hörweite zu wissen. Er war einen Schritt zurückgetreten und wandte ihr in theatralischer Pose den Rücken zu. Bestimmt hätte er sofort eine Erklärung für das Geräusch gehabt und alle möglichen Theorien und Hypothesen daraus abgeleitet, um zu beweisen, daß die Pflanzen fühlen konnten. »Es ist vollbracht«, rief sie ihm mit gespielter Theatralik zu. »Sie können jetzt gucken.« »Mord! Gemeiner, niederträchtiger Mord!« rief er, während er sich umdrehte und sich nach der Tulpe bückte, die sie auf die Segeltuchbahn gelegt hatte. Ihre dick angeschwollene Samenhülse war an einer Stelle ein wenig aufgeplatzt, und durch den feinen Riß konnte man die acht winzigen, dicht in einer Reihe nebeneinanderliegenden Samenkapseln sehen. Mit dem Daumennagel schlitzte Freda die Hülse auf. »Sie sind völlig ausgereift«, stellte sie fest, »reifer als die von der anderen Tulpe, aber diese hier sind tot, und die von der anderen lebten.« »Aber sie hat sie gar nicht in ihrem Todeskampf ausgeworfen«, rief er verdutzt.
»Die andere Tulpe ist auch ganz langsam gestorben.« »Sie haben recht«, bestätigte er. »Und sie hat gewußt, daß sie sterben würde. Diese hier hat ihren Tod nicht erwartet. Sie hat Ihnen vertraut.« »Ich bin sicher, sobald der Stengel verdorrt ist, werden die Samen herausgeschossen kommen.« Er überlegte einen Moment. »Als ich die Beete ausdünnte, habe ich die überflüssigen Schößlinge auf den Kompost geworfen, aber sie sind nicht verdorrt… Da, hören Sie!« Ein sanfter Windhauch strich mit leisem Rascheln durch die Beete, und sofort erhob sich, zunächst kaum hörbar, ein klagender Laut, der sich anhörte wie das Echo des Todesseufzers der Tulpe, die Freda herausgerissen hatte. Der Laut schwoll an zu einem lauten Stöhnen. Unendlicher Kummer schwang darin mit. Jede Tulpe schien den Laut an ihre Nachbarin weiterzugeben. Das Stöhnen steigerte sich zu einem herzzerreißenden, langgezogenen Heulen, das mit jedem Auf- und Abschwellen an Eindringlichkeit zunahm. Freda schaute bestürzt auf Hal, als dieser leise, und ohne jeden Anflug von Spott, murmelte: »Jesus!« Der Wind hatte sich wieder beruhigt, aber das Klagen der Tulpen wurde immer noch eindringlicher. Und in dem Moment, als sich der langgezogene Heulton in ein unendlich kummervolles, ersticktes Schluchzen auflöste, war es Freda plötzlich, als würde sie noch einmal die Traurigkeit ihrer Kindertage übermannen, und sie durchlebte erneut in voller Stärke jene entsetzlichen Momente unter der Ulme, spürte, so als sei die Zeit noch einmal zurückgelaufen, wieder den unbeschreiblichen, dumpfen Schmerz, das beißende Destillat aus Kummer und Gram und das unsägliche Gefühl, als hätte sich die Traurigkeit aller Kinder auf einmal in ihrer Brust zusammengeballt. Ihr war, als taumele sie durch einen engen, dunklen Gang auf einen schwarzen Abgrund zu,
in dem das Nichts lauerte, nicht Tod, nicht Leben, nicht Freude noch Schmerz, nur ewiges Nichts. Und immer heftiger wurde das Schluchzen, Klagen und Jammern, immer stechender der Schmerz, und langsam begann sich der Schlund vor ihr zu öffnen. »Hal! Sag ihnen, sie sollen aufhören.« Hal war schon auf den Knien und schrie den Tulpen zu: »Sie wußte es nicht! Hört auf! Sie wußte es nicht!« Und Sekunden später war es still. Vornübergesackt, den zitternden Oberkörper auf die Ellenbogen gestützt, die Stirn an den Boden gepreßt, kniete Freda schluchzend auf der Segeltuchbahn. Das Echo der Seelenpein hallte noch in ihrer Erinnerung nach, als Hal sich über sie beugte. »Ich hatte ein Gefühl wie in der Nacht, als meine Mutter starb«, sagte er leise. »Sie haben ihre tote Kameradin beklagt.« Er legte ihr den Arm um die Schulter. Es war eine spontane Geste der Brüderlichkeit und Menschlichkeit, und Freda nahm sie dankbar an. Eine ganze Weile kniete er schweigend neben ihr. Dann legte er den Arm um ihre Taille, sagte: »Kommen Sie, Freda«, half ihr auf und führte sie ins Büro. Sie spürte den Druck seines Arms an ihrem Körper, und die Berührung tat ihr gut. Aus den Tiefen von Raum und Zeit war eine Trauer gekommen, die sie tief berührte, eine Trauer um den Tod von Universen, und ihre eigenen kleinen Probleme verloren sich in der Unermeßlichkeit des Kummers. Er half ihr auf den Besucherstuhl, dann hörte sie ihn zu seinem eigenen Schreibtisch gehen und wußte vage, daß er jetzt eine Eintragung machte. Sie hörte das Rascheln von Papier, hörte, wie er das Heft zuklappte. Und als der Kummer langsam von ihr wich, hörte sie, wie er leise ein Trauerlied des zwanzigsten Jahrhunderts sang. Obwohl er nur ganz leise sang, verstand sie jedes einzelne Wort: Die Kammern meines Herzens Tempel,
Darin in jeder lebt dein Bild, Sind schwarz von Trauer, da du schiedest…
Sein Klagelied, so angemessen und inhaltsschwer, zog ihren Blick auf ihn. Sie sah, daß er die Tulpe hereingebracht und auf einen Bogen Seidenpapier gelegt hatte, wie es die Blumenhändler zum Einwickeln benutzen. Behutsam wickelte er die Tulpe darin ein, bis sie vollkommen umhüllt war. Dann nahm er die Blume in beide Hände und trug sie fast feierlich zur Tür hinaus, in eine Sonne, deren Strahlen nun nie mehr ihre Blüte zu goldenem Glanz erwecken würde, in eine Luft, die nie wieder von ihrem süßen Gesang vibrieren würde. Gesang und Sängerin waren nicht mehr. Allein nun an ihrem Schreibtisch sitzend, ließ Freda den Kopf auf die Tischplatte sinken und begann hemmungslos zu weinen. Sie war froh, daß Hal sie nicht gebeten hatte, an der Beerdigung teilzunehmen. Als er nach einer Viertelstunde zurückkam, hatte sie ihre Tränen getrocknet und sich einigermaßen wieder beruhigt. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen, drehte sich zu ihr herum und sagte: »Seien Sie nicht traurig, Dr. Caron. Was geschehen ist, ist geschehen, und niemand kann es rückgängig machen.« »Sag Freda zu mir, Hal«, sagte sie leise. »Sie haben zu uns gesprochen, Freda.« »Nein, Hal, nicht gesprochen – kommuniziert. Trauer ist etwas Universelles, so wie zwei mal zwei gleich vier ist, überall im Universum.« »Richtig. Aber sie haben uns etwas mitteilen wollen. Ich hätte gerne Ihre… deine Erlaubnis, ein paar meiner Bänder zum Linguistischen Institut zu schicken, um sie auf Wiederholungen oder möglicherweise wiederkehrende Klangmuster untersuchen zu lassen.«
»Um festzustellen, ob die Tulpen miteinander kommunizieren?« »Unter uns gesagt, ja. Ich habe mir gedacht, meinen Antrag etwa so lauten zu lassen: ›Ich bitte, die anliegenden Tonbänder im Hinblick auf musikalische Dissonanz zu analysieren.‹ Ich denke mir, ich kriege das hin, ohne daß wir beide nach Houston geschickt werden.« »Hal, du bist wirklich naiv. Ich habe sofort erkannt, was du damit bezweckst. Bis dein Antrag über die offiziellen Kanäle ins Landwirtschaftsministerium gelangt und von da aus auf dem Umweg über Gesundheit, Erziehung und Soziales an das Linguistische Institut weitergereicht worden ist, sind wir beide längst allgemein bekannt, und unser Amt wäre binnen kürzester Zeit die Zielscheibe des Spotts sämtlicher Ministerien. Unsere Karriere wäre ruiniert, unser guter Ruf dahin, unsere Ehre befleckt.« »Die einzige Ehre, die ich akzeptiere, ist die Achtung, die ich vor mir selbst habe«, erwiderte er. »Und die sicherste Methode, seine Selbstachtung zu verlieren, ist, sich Sorgen um seinen guten Ruf zu machen. Wenn eine Sache es wert ist, daß man an sie glaubt, dann ist sie es auch wert, daß man für sie kämpft.« »Ja, ja«, murmelte Freda bitter, »so was Ähnliches habe ich erst vor kurzem gehört. Und zum Dank durfte ich mich dann in aller Öffentlichkeit zur Schnecke machen lassen.« »Wenn du damit auf die Gaynor-Station anspielst – alles, wofür du dort gekämpft hast, war ein Denkmal für Gaynor; und wenn du daran tatsächlich glaubtest«, fügte er grimmig hinzu, »dann bist du schon ohne Selbstachtung auf die Welt gekommen.« »Hal, ich muß doch bitten!« erwiderte sie erregt. »Ich war mit der Politik der Verwaltung einverstanden und habe mich freiwillig bereit erklärt, die Petition vorzutragen. Ich wünsche
nicht, daß wir über verwaltungsinterne Angelegenheiten diskutieren!« »Das hatte ich auch gar nicht vor«, sagte er beschwichtigend. »Aber wenn unser Ziel die Wahrheit ist, dann muß es uns egal sein, ob wir nun den Segen des Apparates haben oder nicht. Wenn wir recht haben, dann haben wir recht, und wenn sich die Behörden auf den Kopf stellen. Dieser ganze Haufen von Speichelleckern kann – Entschuldigung, ich wollte ja nicht mehr davon anfangen. Verdammt noch mal, alles, was ich will, ist eine Information von der linguistischen Computerbank. Und wenn du dich hinter meinen Antrag stellst, sind sie verpflichtet, ihn ordnungsgemäß zu bearbeiten. Und sollten die Computer tatsächlich ein Lautmuster feststellen, dann besorge ich mir im Antiquariat ein Exemplar des Handbuchs über Kryptogramm-Analyse und entschlüssele das Muster selbst… Und wenn ich finde, was ich zu finden glaube, dann wird kein Bürohengst auf der Welt in der Lage sein, die Caron-PolinoTheorie über die Kommunikation von Pflanzen in Frage zu stellen, herunterzuspielen oder zu unterdrücken.« Er war in ihren Tempel eingedrungen und hatte ihre Priester als Schacherer und Geldwechsler gegeißelt. Freda konnte nicht umhin, ihm insgeheim zuzustimmen. Er hatte indirekt ihren Ehrgeiz als etwas Verachtenswertes hingestellt, und sie spürte, wie ein Gefühl der Scham in ihr hochstieg. Und er hatte ihren Namen mit seinem in eine Verbindung gebracht, die ähnlich lächerlich schien wie etwa eine Einstein-Valentino-Theorie über die Relativität der Inbrunst, und dennoch war es nicht undenkbar, daß sich seine Idee als Schlüssel zu einem Kabinettsposten für sie erweisen konnte. Doch barg seine Idee auch Gefahren in sich, und im Moment beschäftigten sich Fredas Gedanken mehr damit. So berechtigt Polinos Aversionen gegen die Machtstrukturen auch sein mochten: wegdiskutieren ließen sie sich jedenfalls nicht. Und Spott war
noch immer die wirksamste Waffe jeder Bürokratie. »Hal, ich kann dir die Erlaubnis, den Antrag zu stellen, leider nicht erteilen. Wir haben nicht den winzigsten Anhaltspunkt für die Richtigkeit einer solchen Theorie, und in einer exakten Wissenschaft ist nun mal kein Platz für Intuition. Es reicht nicht, daß man ›so eine Ahnung hat‹, daß die Tulpen sich untereinander verständigen: Man muß schon aufzeigen, wie sie das tun.« »Aber ich suche doch gerade nach einem solchen Beweis…« »Ja, auf der Basis von puren Mutmaßungen! Um den Aufwand an Arbeitskraft zu rechtfertigen, den das Linguistische Institut für die Analyse deiner Bänder bringen müßte, brauchtest du ein paar hieb- und stichfeste Anhaltspunkte. Ich jedenfalls unterschreibe deinen Antrag erst dann, wenn du ihn mit ein paar eindeutigen Fakten untermauern kannst.« »Jawohl, Ma’am.« »Hal, ich denke, dieses Auf- und Abgehen vor dem Kreißsaal hat dich ein wenig mitgenommen. Am besten gehst du jetzt in die Stadt und spielst mal ein bißchen auf deiner Gitarre.« »Du siehst auch ganz schön mitgenommen aus.« Er grinste. »Wie wär’s, wenn du heute abend mal ein Stündchen ins Mexicali reinschaust und dich bei den dissonanten Gitarrenklängen von El Toro Polino entspannst?« »Nennen dich die Senoritas so?« »Das ist mein Künstlername. Ich spiele heute abend meine neueste Komposition, den ›Caron Cancan‹. Da ich zu feige war, zuzugeben, daß eigentlich die Tulpen ihn komponiert haben, dachte ich mir, ich sollte sie wenigstens im Titel verewigen.« »Du kannst ja noch ein bißchen daran feilen«, antwortete sie. »Vielleicht kannst du mir die Komposition ja ein anderes Mal vorspielen, jedenfalls nicht in der Altstadt.«
Sie wußte nicht, um wieviel Uhr er wieder aus der Stadt zurückgekommen war; jedenfalls war er Sonntag morgen schon vor ihr wieder bei den Tulpen – und wie immer in hemdloser Ungezwungenheit. Der Sonntagmorgen hatte klaren Himmel und warme Luft mitgebracht, und als sie frühmorgens hinaus zu den Tulpen ging, sah sie schon von weitem, wie er zwischen den Beeten herumging. Des weiteren hörte sie, wie er gerade dabei war, die Tulpen mit Ausdrücken wie »ihr verdammten Biester« und »ihr verfluchten Viecher« zu liebkosen. »Ich muß gerade an heute nacht denken«, begrüßte er sie. »Ich habe im Mexicali vor vollem Haus gespielt, und die Leute waren von meinem ›Caron-Cancan‹ so aus dem Häuschen, daß sie mit ihren Olés fast die Fensterscheiben zum Zerspringen brachten. Ich hab’ sogar ein Angebot von dem Promoter einer Plattenfirma gekriegt. Er will die Nummer unbedingt rausbringen.« »Eine herrliche Vorstellung, daß vielleicht schon in naher Zukunft in allen Spelunken der Welt geschmeidige Frauenbeine zu den Klängen des ›Caron Cancan‹ fliegen.« »O nein, es ist kein französischer Cancan«, erklärte er ihr. »Es ist so eine Art spanischer Viereinhalb-Takt-Cancan mit einem Boogie-Woogie-Beat.« »Und bestimmt noch mit einer Prise Cayennepfeffer, nicht wahr?« sagte sie mit einem spöttischen Grinsen. »Freda, du hast keine Ahnung von guter Musik. Du solltest wirklich mal an einem der nächsten Samstage vorbeikommen. Dann spiel ich’s extra für dich.« »Vielleicht komme ich wirklich mal.« »Du mußt es mir nur rechtzeitig vorher sagen, damit ich uns einen Tisch reservieren lassen kann.« Du bist ein Schlitzohr, Harold Polino, dachte sie, als sie ihre Luftmatratze entrollte. Du glaubst, du könntest mich auf diese Tour rumkriegen, Freundchen, aber vertu dich da mal nicht.
Freda Caron wird diesmal nämlich keine viereinviertel Martinis zum Viereinhalb-Takt-Cancan trinken… Als sie mit dem Aufpumpen der Matratze fertig war, streckte sie sich behaglich neben den Tulpen aus und entspannte sich unter den angenehmen Klängen, die von Reihe B ausgingen. Hal hatte gesagt, daß die Tulpen am musikalischsten während der Bestäubungsperiode wären, und er hatte recht. Allmählich wuchs ihr Vertrauen in seine Protokollführung. Vielleicht konnte er ihr anhand seiner Bänder mal eine Dezibel-Kurve zeichnen. Heute morgen kamen die Töne fast ausschließlich aus Reihe B. Die A-Beete hüllten sich in geheimnisvolles Schweigen. Während sie so dalag und ihren Gedanken nachhing, hörte sie plötzlich ein leises »Plop«, wie von einem springenden Popcorn. Es schien aus der Richtung der A-Beete gekommen zu sein. Sofort schoß sie hoch und blickte, auf einen Ellenbogen aufgestützt, in die Richtung, aus der der Knall gekommen war. Vier Beete weiter in derselben Reihe stand Hal wie angewurzelt und rief: »Hast du das auch gehört?« Gleich darauf ging er in die Hocke und spähte nach links hinüber zur A-Reihe, um nach der Ursache des Geräuschs zu forschen. Im selben Moment hörte Freda wieder ein deutlich vernehmliches »Plop«, diesmal aus nächster Nähe, dann wieder eins, und noch ehe sie etwas sagen konnte, ging ein wahres Trommelfeuer los, begleitet von einem sirrenden Geräusch, das den B-Beeten postwendend ein leises Rascheln entlockte. Als Freda wieder aufblickte, sah sie, wie Hal auf allen vieren unter einem verschwommenen, rasch dunkler werdenden Torbogen aus fliegenden Samenkörnern auf sie zugekrochen kam. Sie duckte sich ebenfalls und kroch ihrerseits auf ihn zu. Rechts von ihr platzten die Samenhülsen in den A-Beeten wie Popcorn in einer Pfanne, und die B-Beete zu ihrer Linken sangen zu dem zischenden Geräusch der über sie
hinwegflitzenden Samen. Sie trafen sich auf halbem Wege. Unter dem Trommelfeuer der platzenden Samenhülsen war die Spannung der letzten Tage mit einem Schlag zerbrochen, und nun hockten sie sich Knie an Knie unter einer Brücke aus fliegenden Samenkörnern gegenüber, lachten, schrien vor Freude und klopften sich ausgelassen wie kleine Kinder auf die Schulter. »Da ist sie, unsere pflanzliche Kommunikation!« schrie Hal mit einer Stimme, die nahe an Hysterie grenzte, über das Gezische und Geknalle hinweg. »Ha! Die kleinen Biester machen genau das, was ich ihnen gesagt habe! Die A-Beete schießen auf die E- und F-Reihen. Und wie du siehst, zielen sie dabei! Wenn das nicht ein klarer Beweis ist! Jetzt hab’ ich ihn, den verdammten pragmatischen, empirischen, statistischen Beweis! Jetzt hab’ ich ihn endlich in meinem verdammten geheimen Berichtsheft!« Vor lauter Freude hieb er mit beiden Händen auf das Segeltuch. »Du hast dir geheime Notizen gemacht?« schrie sie über den Lärm hinweg. »Ganze Stöße!« schrie er zurück. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Du warst noch nicht reif dafür!« brüllte er, und Freda ließ sich vor Freude jauchzend hintüber auf die Segeltuchbahn fallen. Freudentränen schossen aus ihren Augen und liefen über ihr Gesicht bis zu den Ohrläppchen. Harold Polino hatte sich in der Tat ein Viereinviertel-Martini-Wochenende verdient! Er hatte heimlich und unbeachtet den Schlüssel zurechtgefeilt, der ihr die Tür zu den höheren Verwaltungsetagen öffnen würde! Das Caron-Polino-Experiment würde die gesamte selbstgefällige, blasierte Fachwelt wie ein Donnerschlag treffen; und der schwarze, jetzt allmählich spärlicher werdende Bogen über ihr war gleichsam der an den Himmel
geschriebene Beweis, daß die Caron-Tulpe auf der Erde weiterleben würde.
8
Sie brauchten vier Tage, um Hals Notizen zu ordnen, aber den ersten Entwurf seines Antrages schrieb er ganz allein. Als er fertig war, las er ihn Freda laut und mit gestenreicher Untermalung im Büro vor: Der Direktor der zytologischen Abteilung, Amt für exotische Pflanzen, Landwirtschaftsministerium. An den Leiter des Linguistischen Instituts, Ministerium für Gesundheit, Erziehung und Soziales. Betr.: Ersuchen um kryptographische Lautanalyse. Antragsteller Student Harold Polino. Weitergereicht ohne Stellungnahme seitens der Abteilungsleitung. Gemäß den Richtlinien der Verwaltungsdirektive 38753-42 des Büros des Präsidenten der Vereinigten Staaten ersuche ich hiermit um Analyse der anliegenden Tonträger bzw. der darauf enthaltenen Laute der exotischen Pflanze Tulipa Caronus, Heimat Flora, im Hinblick auf Phrasenwiederholungen, Dissonanzmuster oder kohärente Frequenzwechsel. Ziel dieser Untersuchung ist der Nachweis der Validität zwischenpflanzlicher Kommunikation. Für die Existenz einer solchen spricht a) die empirisch erhärtete Tatsache der zielgerichteten Ejektion von Samen aus den Samenkapseln der Pflanze, b) die Kontrolle der Pflanzen über den Bestäubungsträger. Die Kopien der dazugehörigen Seiten aus dem Wissenschaft!. Begleitprotokoll befinden sich in der Anlage.
»Nun, was meinst du?« fragte Polino, als er mit dem Vorlesen fertig war. »Hat es das Donnerrollen, das eine bahnbrechende Entdeckung ankündigt, oder klingt es, was hier wahrscheinlich besser wäre, ausreichend unsensationell?« Freda schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Wenn du mitten in einem Damenkaffeekränzchen einen Feuerwerkskörper hochgehen läßt, dann spielt es keine große Rolle, ob du ihn nun wirfst oder ganz vorsichtig auf den Tisch legst. Explodieren tut er auf jeden Fall… Aber schreib lieber ›selektive Kontrolle‹ statt einfach ›Kontrolle‹. Schließlich bringen die Tulpen die Wespen nicht zum Tanzen.« »Stimmt, du hast recht.« Er machte sich eine entsprechende Notiz auf dem Blatt. »Aber da ist noch ein Widerspruch – eine zielgerichtete Ejektion von Samen setzt eine visuelle Kontrolle voraus. Oder willst du etwa behaupten, daß die Tulpen sehen können?« »Warum nicht? Statistisch betrachtet deutet einiges darauf hin. Aber ich hoffe, daß sie über den Punkt hinweglesen.« »Das werden sie bestimmt nicht tun«, sagte sie mit Nachdruck. »Hier hast du den Fluorprint des Adersystems. Leg ihn mit bei, zusammen mit diesem Blatt hier. Die weißen Stränge, die du dort siehst, sind Nervenfasern. Schreib also folgendes noch mit dazu: ›Die knotenförmig unterhalb der Luftkammer zusammenlaufenden Nervenstränge deuten auf ein rudimentäres Kontrollsystem für die Luftkammer und das Ovarium hin. Von dieser knotenartigen Verdickung aus laufen die Stränge in einem fächerartigen System bis in die Spitzen der Außenblätter und Stellen die Verbindung zu mit Fluorid und phosphiden Verbindungen seltener Erden angereicherten Zonen her.‹« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Du warst also schon die ganze Zeit meiner Ansicht.«
»Nicht unbedingt. Als ich in Washington war, habe ich eine Reihe von Büchern gelesen, die von Psychiatern geschrieben waren, und irgendwie hat mich das fasziniert: Sie stellen zuerst die Theorie auf, und dann suchen sie nach Fakten, die die Theorie bestätigen.« »Freda, dieser Nervenknoten da könnte ein Gehirn sein, und die Punkte dort Augen. Bist du sicher, daß du das so abschicken willst?« »Ja«, sagte sie fest, »aber ich möchte, daß du vorher noch einen Punkt änderst. Streich den Satz ›weitergereicht ohne Stellungnahme seitens der Abteilungsleitung‹, und schreib statt dessen ›von der Abteilungsleitung genehmigt und mit einem Zusatz versehen‹.« »Das habe ich wirklich nicht verlangt, Freda«, protestierte er. »Ich bin gern bereit, meine Zukunft aufs Spiel zu setzen, aber ich habe ja auch nichts zu verlieren. Ich kann nicht verantworten, daß du einen beruflichen Selbstmord begehst.« Sie schaute ihn an und lächelte mit gespielter Traurigkeit. »Hal, du setzt eine glänzende Karriere aufs Spiel.« Sie stand auf, ging zur Tür und sah hinaus. Die ersten drei Reihen standen in voller Blüte, und die C-Reihe sang bereits Kinderlieder. Mr. Hokada und zwei Helfer waren dabei, die Gund H-Beete umzugraben, und die Wespen summten über den A-und C-Beeten. Die bereits bestäubten B-Beete ignorierten sie völlig. »Als Dr. Caron«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen, »würde ich dir immer noch raten, den Brief besser nicht abzuschicken. Gleichzeitig schickst du dich nämlich selbst mit ab, und zwar in ein Labyrinth hinein, das verzweigter ist, als du dir je ausmalen könntest. Jeder kleine Amtsuntersekretär und jeder kleine Ministerialrat wird sich bemüßigt fühlen, seinen Kommentar hinzuzufügen und dich erbarmungslos zu zerfetzen, um seinen eigenen Witz und Wert ins rechte Licht zu rücken.«
»Darüber bin ich mir im klaren.« »Dr. Caron würde zwar nein sagen«, fuhr sie fort, »aber Freda wird mit dir zusammen in das Labyrinth gehen, um dich mit ihrem Körper vor den Messern zu schützen. Damit ist die Chance, daß du heil durchkommst, größer. Oder wir verbluten beide. So, und jetzt bring den Brief schnell rüber zum Tippen, bevor ich vielleicht schwach werde und es mir doch noch anders überlege. Und laß drei Extrakopien machen, davon eine auf Durchschlagpapier, für meine Kartei.« Bevor er zur Tür hinausging, drehte er sich noch einmal kurz um und sagte: »Du mußt unbedingt kommen und dir den ›Caron-Cancan‹ anhören. In Wirklichkeit hat er seinen Namen nämlich gar nicht von den Tulpen.« Wenig Aussichten, dachte sie und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Sie war fürs erste bedient mit Tacos und Tangos, Flamencos und Frijoles, Rumbas und »Carambas«. Aus dem hintersten Winkel ihrer untersten Schublade kramte sie den kleinen Karton mit ihrem persönlichen Briefpapier hervor. Es war lavendelfarben und mit einem leichten Hauch von Eau de Chat Chateau versehen, das ihr einmal irgendein Verehrer auf dem College geschenkt hatte. Dann begann sie zu schreiben: Lieber Hans! Wir haben zwar Graffiti-Bretter für skurrilen Klatsch und eine Untergrundpresse für alle Nachrichten, die nicht zum Druck geeignet sind, aber mit diesem Brief lege ich den Grundstein für eine Infrastruktur der Wissenschaft. Mein ungestümer junger Student, Hal Polino, dein geistiger Patensohn, falls du je einen hattest, hat den Brief einschließlich Kopie an das Linguistische Institut geschickt, und ich hielt es für meine Pflicht, ihn zu genehmigen und mit einem Zusatz zu versehen. Wenn seine Hypothese sich als richtig herausstellt – und meine eigenen Experimente sprechen bisher dafür –, ist sie
in der Tat von unschätzbarem Wert für meine Dissertation über die Möglichkeit der Existenz intelligent handelnder Pflanzen, an der ich gerade schreibe: »Eine Untersuchung über das Kommunikationsverhalten von Pflanzen.« Mein Po tut mir immer noch ein bißchen weh von der ikarianischen Bruchlandung in Washington, aber ich spüre den Schmerz nur noch, wenn ich Rumba tanze oder Gaynor mit einer Nadel in die Voodoo-Puppe piekst, die er sich nach meinem Abbild hat anfertigen lassen. Wenn dieser Brief auf dem Dienstweg in die offiziellen Kanäle gelangt ist, bin ich eine Leiche mit wundem Hintern. Ich schicke dir den Durchschlag von Hals Brief in meinem am abscheulichsten nach Parfüm riechenden Lavendelbriefumschlag, damit er möglichst unauffällig im Stapel deiner täglich eingehenden Post auf deinen Tisch flattert. (Fast) Deine Freda Sie hatte den Brief kaum zu Ende geschrieben und die Briefmappe wieder in der Schublade versteckt, als Hal auch schon wieder da war und ihr den fertig getippten Brief zum Unterschreiben vorlegte. »Freda«, sagte er feierlich und legte ihr die Hand auf die Schulter (was sie sich gefallen ließ), »unterschreib das, und du wirst zum Pionier der Wissenschaft. Und dein Name wird noch dann mit meinem in einem Atemzug genannt werden, wenn du ihn schon längst an Paul Theaston verloren hast.« »Wenn es die Klangmuster gibt, die du vermutest«, sagte sie mit mahnender Stimme. »Ich spüre es in den Knochen, daß es sie gibt«, erwiderte er. »Ja, doch du bist musterwild und findest Grund, dich dissonanten Rhythmen hinzugeben«, konterte sie mit einem leicht abgewandelten Shakespeare-Zitat, um ihn zu verblüffen. »Und nun geh zu den Tulpenbeeten.«
Er verschwand, doch das Gefühl seiner auf ihrer Schulter liegenden Hand blieb noch eine Weile haften, wie ein zarter Duft. Er war ein seltsamer Junge. Wenn er geahnt hätte, daß sie seinetwegen die ganze letzte Nacht wachgeblieben war, um im Schnellverfahren ein paar Bände Shakespeare zu lesen. Sie würde sich in Zukunft etwas ferner von ihm halten müssen. Ohne daß er es wußte, hing seine Person eng mit ihrem Urtrauma zusammen, auch wenn das Problem natürlich ausschließlich ihr ureigenstes war. Hal Polino würde niemals erfahren, warum er eine derart starke Anziehungskraft auf sie ausübte, denn sie würde ihm niemals sagen, daß er nach Ulmen roch. Sie nahm einen der grünen Schößlinge, die Hal beim Ausdünnen des neuangelegten Beets herausgerissen hatte, legte ihn unter das Elektronenmikroskop und strahlte ihn von unten an. Wie schnell die Pflanzen kommen, dachte sie, und dabei fiel ihr der jüngste Sibyllinenspruch ein, den sie heute morgen auf dem Schwarzen Brett gelesen hatte: »Beim Einbiegen auf die Zielgerade hat Hal eine Nasenlänge Vorsprung vor Paul, und der Abstand vergrößert sich noch.« Sie lächelte in sich hinein. Die Untergrundpresse mochte zwar ihre Drähte nach Washington haben, aber es gab keine Drähte in die Zukunft. Donnerstag nachmittag gab sie den Brief in die »Kanäle«. Am Tag darauf blieb Gaynor zum ersten Mal seit über einer Woche wieder an ihrem Tisch stehen. »Dr. Caron, ich habe Ihren Antrag ohne Kommentar an das Ministerium weitergeleitet.« Ein Lächeln trat auf Fredas Gesicht. »Vielen Dank, Dr. Gaynor. Ich bin froh, daß Sie es getan haben. Es wäre mir unangenehm, wenn durch meinem Antrag die Arbeit Ihres Teams in ein schiefes Licht geriete.« Aus einem Reflex heraus lächelte er ebenfalls, nickte kurz und ging weiter, eine ganze Reihe ratlos bis verwirrt dreinschauender Gesichter zurücklassend, wie Freda zu ihrem
Vergnügen registrierte. Sie hatten die beiden lächeln sehen, jedoch das Gespräch nicht hören können, und sicherlich würden an diesem Freitag die neuen Gerüchte den Aktienmarkt wieder ganz schön in Aufruhr bringen. Die Ereignisse überschlugen sich in der darauffolgenden Woche. Sie begann damit, daß die C-Beete ihre Samen auf die frisch umgegrabenen G- und H-Beete schossen und erreichte ihren Höhepunkt, als am Donnerstag die ältesten Beete, die A-Beete, eine volle Breitseite auf die inzwischen in aller Eile angelegten J-, K- und L-Beete abfeuerten, wobei sie siebzig Prozent ihrer Ladung über eine Entfernung von immerhin vierzig Metern ins Ziel brachten. »Hurra!« rief Hal, als er die Samenkörner, deren Flugbahn zu kurz gewesen war, von der Segeltuchbahn auflas. »Noch einen Monat, und wir können damit anfangen, Segeltuchplanen vor den Genossenschaftszaun zu spannen, sonst kommt es womöglich noch so weit, daß sie im August sprechende Baumwolle pflücken.« Der Dienstag der darauffolgenden Woche brachte eine neue Überraschung. Hal trat mit einem höchst verblüfften Gesicht in ihr Büro. »Freda, die neuen Sprößlinge sind rausgekommen. Und das tollste daran ist: Nicht ein einziges Samenkorn ist in einem der EBeete gelandet! Ich habe genau nachgesehen, aber ich konnte nicht einen neuen Sprößling in ihnen entdecken. Ihre Geometrie ist nach wie vor perfekt!« »Vielleicht sind die, die nicht bis ins Ziel gelangt sind, alle auf dem Fußpfad gelandet«, schlug Freda als Erklärung vor. »Schon möglich, aber ich traue den Biestern inzwischen alles mögliche zu. Zwar hat Beet A erst einen günstigen Wind abgewartet, bevor es die Breitseite abschoß, aber trotzdem, eine derartige Zielgenauigkeit bedeutet, daß entweder jede einzelne Tulpe ein mathematischer Hexer ist, oder daß sich irgendwo in dem Beet eine zentrale Feuerleitstelle befindet.
Ich weiß, es klingt unglaublich, aber die andere Möglichkeit erscheint mir noch viel beklemmender. Wenn jede Tulpe beim Abschießen des Samens ihre eigene Flugbahn berechnet, dann bedeutet das, daß ihre durchschnittliche Intelligenz höher ist als meine. Ich habe zwar nichts dagegen, mich vor einem Genie zu verbeugen, wenn es mir nicht allzu häufig begegnet, aber mir schaudert bei dem Gedanken, daß sie alle mehr auf dem Kasten haben könnten als ich… Und sie können sogar die Männchen in ihrem Harem von den Weibchen unterscheiden, wenn sie ihre Samen abschießen.« »Das dürfte eher Zufall sein«, sagte Freda. »Vergiß nicht, daß das Verhältnis Weibchen/Männchen zweiunddreißig zu zwei ist. Da ist die Wahrscheinlichkeit, ein Männchen zu treffen, nicht sehr groß.« »Okay, du hast mich überzeugt«, erwiderte Hal. »Trotzdem habe ich langsam das Gefühl, daß da irgendwas in der Luft liegt. Schau mal, Freda, hast du das hier schon gesehen?« Er hatte, während sie sich unterhielten, neben dem Schreibtisch gestanden und geistesabwesend in ihrer Post herumgeblättert; dabei war ihm plötzlich eine Versandtasche in die Hand gefallen. Sofort ritzte Freda sie auf. Gaynor hatte den Brief bereits gelesen und per Hauspost an sie weitergeleitet. Das war eine Abweichung vom üblichen Verfahren und bedeutete entweder mangelnde Dringlichkeit oder Verachtung. Im Innern der Versandtasche befanden sich die vier Tonbänder sowie ein Brief vom Leiter des Linguistischen Instituts, der, wenn man ihn von seinem behördensprachlichen Beiwerk befreite, im Kern folgendes aussagte: »Sehr geehrte Dr. Caron: Die eingehende Analyse der beigefügten Tonbänder ließ keine signifikanten Wiederholungen von Lautmustern erkennen.« Sie reichte den Brief Hal, der ihn las und sich daraufhin erst einmal hinsetzen mußte. Seine Haltung drückte eine solch tiefe Niedergeschlagenheit aus, daß sie zu ihm ging und ihm
tröstend die Hand auf die Schulter legte. Hal hob den Kopf, zwang sich zu einem matten Lächeln, schlang die Arme um ihre Taille, drückte sie einmal kurz und heftig, schlug dann die Hände zusammen und stand auf. Während er langsam zur Tür ging, sagte er: »Mach dir keine Gedanken, Freda. Auch wenn man die Wahrheit mit Füßen tritt – man kann sie nicht auf Dauer unterdrücken. Sie wird sich immer wieder aufs neue aufrichten wie ein ungleichseitiges Polyeder.« Wie um zu demonstrieren, daß die Sache mit dem Brief damit für ihn erledigt war, öffnete er die Tür und schaute hinaus auf die Beete. »Irgendwas ist da draußen im Gange. Dieses Beet ist ein Gehirn, und jede einzelne Tulpe eine dazugehörige Zelle. Je größer es wird, desto klüger wird es auch – eine große, amoralische Bestie, die eines Tages noch Katz und Maus mit uns spielen wird.« Seine Worte deuteten auf Ideen hin, über die sie hätte nachdenken sollen, aber seine Umarmung hatte Gefühlsbereiche in ihr angerührt, die sie niemals zuvor gefühlt hatte. Ein warmer, feuchter Scirocco kam aus den Saharas ihres Seins hereingeweht und schickte lautlose, sanft vibrierende Pizzikati über ihren Rücken, die tiefen Töne zuletzt anschlagend. Sie hörte sich mit einem eigenartigen, fremden Klang in der Stimme sagen: »Hal, haben die Mädchen in der Altstadt dir den Namen ›E1 Toro‹ gegeben?« Er hob – augenscheinlich ein wenig verdutzt über ihren plötzlichen Themawechsel – den Kopf und nickte dann. »Aus Verachtung. Seit du mich geküßt hast, habe ich keine mehr angeguckt.« »Hab’ ich so einen Eindruck auf dich gemacht?« »Aus deinem Kuß wurde der ›Caron-Cancan‹ geboren.« »Ich dachte, die Tulpen hätten ihn komponiert.« »Ach wo. Der Blumencomputer hat bloß vier Töne beigesteuert, eines Morgens, als du an ihm vorbeigingst. Dein Lied ist ganz von mir, und du hast es noch nie gehört.«
Ihre Stimme umschmeichelte ihn wie ein süßer Hauch und zog ihn mit sanften Verlockungen zu ihr hin, als sie leise sagte: »Verzeih mir, daß ich so rücksichtslos war, Hal.« Sie schwieg einen Augenblick, und dann fügte sie leise hinzu: »Spiel es, mein Freund, und ich werde zu dir kommen, wenn das Licht der untergehenden Sonne die Ziegelmauern rosa färbt. Und ist dein Lied nur halb so schön wie du, dann tanz ich darauf einen Caron-Cancan. Also, Samstag im Mexicali.« »Ausgerechnet diesen Samstag!« Er war echt am Boden zerstört. »Ich fliege Freitag nach Los Angeles wegen der Plattenaufnahme, deswegen habe ich meinen Auftritt in der Cantina abgesagt. Mein Daddy braucht zwar das Geld dringend, aber wenn es nicht anders geht, löse ich den Vertrag eben wieder.« »Das wirst du nicht tun! Dann verschieben wir die Sache eben auf nächsten Samstag, den achtzehnten. So, schon im Kalender angestrichen. Und jetzt raus mit dir!« Als er draußen war, setzte sich Freda wieder an den Schreibtisch, um über das soeben Erlebte nachzudenken. Einen Moment lang hatten sie sich gleichsam nackt gegenübergestanden, bar jeder Maske, beide der Mitgliedschaft des anderen in irgendeinem geheimen Orden der Verworfenheit gewahr, und ihre Augen hatten eine stumme Übereinkunft ausgedrückt. Beim Gedanken an das sich anbahnende Stelldichein mit viereinviertel Martinis fing sie unwillkürlich an, sich in ihrem Stuhl zu winden. Gleichzeitig spürte sie, wie ein warmes, süßes Prickeln durch ihre Oberschenkel rieselte und ihr ein Schauer den Rücken hinauf jagte. Doch genauso schnell, wie sie gekommen war, verebbte die Woge auch wieder und ließ sie mit dem Gefühl zurück, auf trockenem Land gestrandet zu sein. Es hatte kein stilles Einvernehmen, keinen unausgesprochenen Kontrakt zwischen
ihnen gegeben; das, was sie bei dem Jungen als Ausdruck der intuitiven Erkenntnis ihres seelischen Hungers gedeutet hatte, war, wenn überhaupt, nichts weiter als die rein animalische Wahrnehmung ihrer Weiblichkeit. Nein, sie durfte sich nicht in einem Gefühl der Nutzlosigkeit und Schande verlieren. Sie hatte Polino als Ersatz für Paul genommen, und es würde Wahnsinn sein, sich von einem Stab aus dissonanter Musik aufspießen zu lassen. Sie war fest entschlossen, sich dagegen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu wehren. Das Leben bestand aus mehr als einem bißchen Tanzen, und die Gewißheit, daß dazu immer noch mindestens zwei gehörten, beruhigte sie und verstärkte ihre Entschlossenheit. Am Montag, dem 6. März, Punkt zwölf Uhr, dem Datum, das sie später als »den Morgen des ersten Tages« in Erinnerung haben würde, kam der erste Rückfall in Gestalt einer erneuten Scirocco-Attacke. Am Dienstagmorgen ging sie in gewohnter Weise ihrer Arbeit im Labor nach, und ihre Reaktionen auf Hal waren ganz normal. Sie gab ihm kurze, präzise Anweisungen, die er auch prompt und zu ihrer Zufriedenheit ausführte. Sein Verhalten war nicht vertraulicher oder intimer als sonst, und auch sein Lächeln unterschied sich vom Liebäugeln eines schmachtenden Liebhabers in dem Maße wie Dunst von einem Regenschauer. Bis zum Mittag hatte ihr geplanter Besuch im Mexicali-Café in ihren Gedanken auch schon wieder die richtigen Proportionen angenommen: Sie hatte lediglich zu verstehen gegeben, daß sie bereit war, seinem Auftritt beizuwohnen, und er hatte das Ganze zu einer Einladung erweitert. Als sie nach dem Lunch zu den Tulpenbeeten zurückeilte, um sich dem zu widmen, was Hal und sie scherzhaft als ihre »Plauderstunde mit den Tulpen« bezeichneten, ging sie vorher noch ins Gewächshaus, um die Luftmatratze zu holen. Hal, der wieder einmal ganz vertieft in das Radar-Handbuch war, das er zur Zeit in der Hoffnung
studierte, daraus irgendwelche neuen Aufschlüsse über das Kommunikationsverhalten von Tulpen zu erlangen, bemerkte ihr Hereinkommen nicht. Tief in seine Lektüre versunken, war er gerade dabei, geistesabwesend ein altes Lied vor sich hin zu singen: »Ein Apfel für meine Lehrerin«. Aber in Abwandlung des Originaltextes sang er das Wort »Apfel« im Plural, und das Objekt hatte er kurzerhand in ein Genetivattribut umgewandelt. Verärgert über diese eindeutigen Anspielungen, die sie auf unangenehme Weise an Senator Heyburn und seine beleidigenden Äußerungen erinnerten, schlug Freda mit lautem Knall die Spindtür zu, um ihre Anwesenheit zu verdeutlichen. Dann rauschte sie, die aufgerollte Luftmatratze unter dem Arm, unter vernehmlichem Gebrummel wieder hinaus. Das Entrollen und Aufpumpen ihrer Luftmatratze half ihr, den Zorn wieder ein wenig zu vergessen, doch als sie sich lang ausstreckte, das rechte Ohr direkt neben den Tulpen der DReihe, begann sofort der Scirocco wieder zu blasen, und erneut begann sie wie ein Schilfrohr im Wind ihrer Lust zu schwanken. Doch selbst in diesem Zustand gelang es ihr, das methodische Denken zu bewahren. So vergaß sie es nicht, einen Blick auf die Uhr zu werfen und sorgfältig zu registrieren, daß die Attacke genau um Viertel nach eins begonnen hatte. Hiermit war der eindeutige empirische Beweis erbracht, daß Hal weder von ihrem Verlangen wußte, noch es teilte. Er war im Gewächshaus, und sie war draußen bei den Tulpen. Während sie dem Seufzen, Summen und Flöten der Tulpen lauschte, ließen die Stiche langsam wieder nach, und in ihren Gedanken konnte sie Hal Polino jetzt aus einer größeren Distanz betrachten. Im Grunde gab es an dem Jungen – abgesehen von seiner Herkunft – nichts auszusetzen. Die ihm angeborene südländische Sorglosigkeit und Flatterhaftigkeit machten es ihm schwer, sich mit Ernst und Ausdauer auf sein
gewähltes Fachgebiet zu konzentrieren. Gesellschaftlich gesehen hatte seine Schwäche durchaus ihre angenehmen Seiten, denn die Vielseitigkeit seiner Interessen machte ihn zu einem interessanten und charmanten Gesprächspartner. (Charme war ebenfalls einer seiner Fehler.) So konnte er mühelos von byzantinischer Kunst zur Mathematik der Musik überwechseln und zehn Minuten später die Berührungspunkte zwischen der Malerei Rubens’ und der Poesie John Drydens aufzeigen. In gewisser Hinsicht konnte man ihn als einen verspäteten Leonardo da Vinci bezeichnen. Jedoch war in der modernen Welt der Spezialisten kein Platz mehr für einen Generalisten wie ihn. Und genau diese Eigenschaft war es, die Freda – wenn sie ehrlich zu sich selbst war – am meisten ärgerte und ihr am meisten zu schaffen machte. Eines ihrer wichtigsten Prinzipien als Lehrerin bestand darin, den Studenten wissensmäßig immer eine Nasenlänge voraus zu sein. (Schließlich, so fand sie, mußte man jederzeit in der Lage sein, plötzlich auftauchende Fragen eines Studenten unverzüglich und präzise zu beantworten.) So hatte sie sich, um Hals häufig auftauchenden Shakespeare-Zitaten gegenüber gewappnet zu sein, eigens eine ganze Nacht mit Shakespeare um die Ohren geschlagen, aber immerhin hatte sie ihn noch als durchaus reizvoll empfunden. Hefner, McLuhan und Leary hingegen widerten sie regelrecht an. Hal um eine Nasenlänge voraus sein zu wollen, erforderte geradezu übermenschliche Fähigkeiten: Zuerst mußte man wissen, welche Richtung er einzuschlagen gedachte, was bei ihm eigentlich schon hellseherische Fähigkeiten verlangte. Um ihn dann zu erwischen oder gar einzuholen, bedurfte es der Spurtkraft eines Kurzstrecken- und der Ausdauer eines Langstreckenlesers. Er verschlang Bücher, wie die Schnecken auf Carston 6 Blätter, und er stürzte sich auf neue Ideen wie ein Erotomane auf Frauen.
Am Mittwoch schlug der Scirocco um halb drei zu und Freda floh, um Hals Einfluß zu entrinnen, in die Bibliothek. Als sich die Wogen wieder geglättet hatten, nahm sie einen Bogen Millimeterpapier und machte sich daran, anhand der bisherigen Daten eine Kurve ihrer Emotionen zu zeichnen. Zu ihrem großen Schreck stellte sich heraus, daß am 19. März, dem Tag ihres geplanten Besuchs im Mexicali-Café, der Scirocco um genau ein Uhr fünfundvierzig in der Frühe losbrechen würde! Sie überlegte fieberhaft. Die Bars schlossen in Südkalifornien um ein Uhr. Rechnete man für das Einpacken der Instrumente eine halbe Stunde, dann würden Hal und sie das Mexicali gegen halb zwei verlassen – also eine Viertelstunde vor dem Höhepunkt der Attacke. Ab zwei Uhr galt in den Motels von Fresno der verbilligte Nachzüglertarif. Das bedeutete, daß Hal sie, ohne es zu wissen, genau in der Phase ihrer größten Empfänglichkeit, eingeklemmt zwischen Lokalschluß und Motel-Zeit, buchstäblich in der Falle sitzen hatte. Als sie erneut auf das Millimeterpapier sah, fühlte sie sich plötzlich hilflos und einsam. Vor kurzem noch hatte sie gedacht, Paul würde sie auf Flora brauchen; jetzt wußte sie, daß sie Paul auf der Erde brauchte. Es gab niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Ihr Vater war tot und ihre Mutter weit weg, in Tijuana. Der einzige, der ihr vielleicht hätte helfen können, war Hans Clayborg. Aber der saß in Santa Barbara und war zu sehr damit beschäftigt, Gottes Probleme zu lösen, als daß er sich auch noch mit ihren hätte befassen können. Außer ihm gab es nur noch einen Mann, auf dessen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft sie bauen und der ihr über eine solche Krise hinweghelfen konnte – aber der hieß Hal Polino und war der Auslöser eben dieser Krise. Seit den Tagen ihrer Kindheit war Freda bewußt gewesen – und die diversen Analytiker, die sie in dieser Zeit aufgesucht hatte, hatten dieses Bewußtsein immer wieder aufs neue
verstärkt –, daß sie emotional labil und eine Frau war, die gewissermaßen am Rande eines Vulkans lebte. Hal Polino war weniger die Ursache als der Katalysator des Kataklysmus, der sie bedrohte, aber auch als solcher konnte er immer noch jederzeit eine Katastrophe auslösen. Mit einem Paul Theaston als Stabilisator an ihrer Seite konnte sie auf diesem schmalen Grat ein ganzes Leben lang weiterwandeln, ohne daß etwas passierte. Aber ein spanischer Cancan-Tanz auf dem Vulkan mit einem Partner wie Hal Polino konnte leicht zum Auslöser eines verheerenden Ausbruchs der Naturgewalten werden. Aber sie konnte Polino auch nicht ständig herumschieben wie einen Bauern auf dem Schachbrett. Immerhin hatte sie seinen Brief an das Linguistische Institut mitunterzeichnet, was Beweis genug dafür war, daß sie seiner Urteilskraft traute und seine Arbeit ernst nahm. Die einzige Alternative, die ihr blieb, war, sich selbst in Bewegung zu setzen. Und da, ganz plötzlich, mit der Klarheit einer religiösen Offenbarung, kam die Lösung des Problems. Anfang April gingen die Teilnehmer der Charlie-Expedition in Quarantäne, um sich bis zum Start im Mai auf die Hibernation während des Fluges nach Flora vorzubereiten. Paul hatte sie gebeten, ihn bei seiner Arbeit auf Tropica zu unterstützen. Sie brauchte bloß ihren Namen auf die Liste zu setzen. Da sie Abteilungsleiterin war, würde man ihrem Gesuch automatisch stattgeben. Ihr blieb dafür noch Zeit bis zum Morgen des neunzehnten, dem Tag ihrer schweren Prüfung mit Hal. Wenn sie durchfiel, überlegte sie, dann würde sie das, was sie von Polino gelernt hatte, an Paul weitergeben. Die Tatsache, daß dieser Gedanke sie mit Abscheu erfüllte, signalisierte ihr, daß der Wind jetzt wieder aus dem Norden blies, und sie ging zurück zum Gewächshaus. Dr. Gaynor hatte Donnerstag vormittag keine Zeit, sie zu empfangen, aber seine Sekretärin schaffte es, Freda für eine
sechsminütige Unterredung nachmittags genau zwischen 15.38 Uhr und 15.44 Uhr in seinen Terminplan einzuschieben. Mrs. Weatherwax war ihr gegenüber so kurz angebunden, daß Freda sagte, drei Minuten würden auch reichen, und ihretwegen könne Dr. Gaynor die restlichen drei Minuten gerne zurückhaben. Sie ließ es sich nicht nehmen, um Punkt 15.37 Uhr und dreißig Sekunden in Gaynors Büro zu erscheinen. Es wurmte sie, daß sie für eine Routinesache wie ihr geplantes Gesuch überhaupt bei Gaynor vorstellig werden mußte. Sie hatte Polino methodisches Arbeiten gelehrt, aber er hatte ihr eine Vorstellung davon gegeben, was Haltung bedeutete. Seine herablassenden, gleichwohl treffenden Bezeichnungen für Bürokraten hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt. Er war subversiv. Hätte sie ihn mit Paul eine Weile alleingelassen, hätte er ihren Verlobten mit Sicherheit dazu verführt, mit ihm in der Altstadt herumzustreunen. Als sie eintrat, erhob sich Gaynor mit leutselig-aufgeräumter Miene, begrüßte sie ausgesucht höflich und forderte sie mit einer Handbewegung auf, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen – auf einem harten Stuhl ohne Armlehnen. Die gepolsterten Stühle waren in eine Ecke des Raumes verbannt. Genauso kurz und präzise, wie sie schon die Petition vor dem Senatsausschuß vorgetragen hatte, trug sie jetzt ihr Gesuch bezüglich einer Teilnahme an der Charlie-Expedition vor. Sie verwies dabei auf Pauls ausdrückliche Bitte um einen Zytologen und gab als weitere Gründe das Vorhandensein von Hämoglobin im Orchideensaft sowie das Geheimnis der unsichtbaren Bestäuber an. »Paul hat mir die Tulpen schicken lassen«, fuhr sie fort, »damit ich auf der Erde die nötigen Versuchsexemplare habe, um eine vorläufige Hypothese über die Befruchtungsmethoden der Orchideen auf Tropica formulieren zu können.«
»Ah, ich verstehe. Dann war das also der Grund für Ihre – äh – etwas ungewöhnliche Korrespondenz mit den Linguisten. Ach, übrigens, wie bekommt denn eigentlich dem jungen Polino die psychiatrische Überwachung? Irgendwelche Besserungen? Oder ist es etwa schlimmer mit ihm geworden?« Sie hatte völlig vergessen, daß er sie damit betraut hatte, aber sie fing sich sofort und erwiderte dienstbeflissen: »Ich habe die Beobachtung vorläufig unterbrochen, weil er so hervorragende Arbeit leistete, als wir wegen Ihrer Petition in Washington waren. Seine Methodik hat sich mittlerweile so enorm verbessert, daß er die Tulpenkultur während meiner Abwesenheit problemlos allein betreuen kann.« »Ich habe Ärger mit dem Finanzministerium«, sagte Gaynor. »Ihre Petition für die Botanikstation hat ziemliche Wellen geschlagen. Die Navy hat ihre berühmte Kosten/NutzeffektAnalyse – Sie erinnern sich ja an Creightons Bemerkung, jeder Fakt hätte einen Dollar gekostet – an das Finanzministerium weitergegeben, und daraufhin mußte sich der Landwirtschaftsminister einen herben Rüffel gefallen lassen. Er hat mir daraufhin sofort unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß ich mir in dieser Sache finanziell keine großen Sprünge mehr erlauben darf, und aus diesem Grund werde ich Tropica im Zuge meiner Sparmaßnahmen von der CharlieExpedition streichen. Ich habe Berechnungen über die Relation zwischen finanziellem Aufwand und Faktenertrag von Pauls Arbeit anfertigen lassen, und dabei kam heraus, daß sich die Kosten pro Einheit für den Abschnitt Able auf drei Dollar belaufen. Natürlich wissen wir, daß Paul ein exzellenter Wissenschaftler ist, und ich erwarte, daß er beim Abschnitt Baker auf günstigere Werte kommt.« »Dr. Gaynor, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß manche Fakten wertvoller als andere sind? Im übrigen wäre meine Forschungsarbeit nicht auf Tropica beschränkt. Sollte
ich Hämoglobin oder ein Äquivalent dazu im Pflanzensaft entdecken, wäre diese Entdeckung von größter Bedeutung für Dr. Clayborg.« »Sieh an. Ich dachte immer, er beschäftigt sich mehr mit der Frage der Energiereserven im Gesamtuniversum.« »Hämoglobin ist eine Form dieser Reserven, Dr. Gaynor«, erwiderte Freda, während ihr gleichzeitig durch den Kopf ging, daß Gaynor, betrachtete man ihn einmal objektiv, im Grunde ein ausgemachter Idiot war. Als ob es so etwas wie ein »spezielles« Universum gäbe! »Oh gewiß, natürlich… Dr. Caron, wenn Sie nach Flora gehen, könnte das Finanzministerium das als eine Herausforderung seitens meiner Person auffassen. Der Senat wiederum würde vielleicht denken, ich wolle Sie nach Sibirien verbannen, weil Ihre Petition gescheitert ist, und ein solches Vorgehen seitens eines Amtsleiters würde als das indirekte Eingeständnis interpretiert, daß er mit seinen Untergebenen nicht zu Rande kommt.« »Dr. Gaynor, darf ich Sie noch einmal daran erinnern, daß es sich hier um ein Forschungsprojekt handelt!« »Das ist richtig.« Gaynor nickte weise. »Persönlich habe ich vollstes Vertrauen in Ihre beruflichen Fähigkeiten, Dr. Caron, insbesondere, was Ihre Forschungsarbeit anbetrifft, aber, offen gesagt« – er lächelte –, »Sie sind ein wenig in die Schußlinie geraten. Wir warten besser, bis sich die Wogen wieder geglättet haben und probieren unsere Surfbretter in ruhigeren Gewässern aus.« »Wenn ich in die Schußlinie geraten bin, Dr. Gaynor, dann Sie und Dr. Berkeley ebenso. Schließlich bin ich nicht allein vor dem Senatsausschuß erschienen.« Er lehnte sich weit in seinen Stuhl zurück, neigte den Kopf demonstrativ nach hinten, faltete die Hände über der Brust, blinzelte dreimal mit den Augen und sagte: »Ich dachte dabei
eher an Ihre etwas eigentümliche Bitte an das Linguistische Institut, Dr. Caron.« »Ach, dummes Zeug!« explodierte Freda. »Das war schlicht und einfach eine Bitte zum Zweck der Überprüfung bestimmter wissenschaftlicher Hypothesen.« »Wie dem auch sei – es kam mir jedenfalls so vor, als hätten Sie in letzter Zeit eine gewisse – sagen wir mal – emotionale Affinität zu den Blumen entwickelt, und sich vielleicht ein wenig zu sehr in die Arbeit gestürzt. Vielleicht hat Sie das nervlich ein wenig überanstrengt.« »Absolut nicht! Im Gegenteil…« Ein heimlicher Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es 15.44 Uhr war, noch eine Minute bis zum Scirocco. Freda spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Selbst wenn sie den platinschimmernden Stutzer einigermaßen unbeschadet überstehen würde, dies war weder der Ort noch die Zeit für eine unethische Art der Überzeugung. » – die Gespräche mit den Tulpen wirken geradezu beruhigend auf mich.« Gaynors Augenbrauen schienen mindestens zwei Zentimeter vorzuspringen. »Dr. Caron, ich glaube, Sie brauchen in der Tat ganz dringend eine Ruhepause.« Sie erhob sich, und gleichzeitig erhob sich der heiße Wind. »Oh, nehmen Sie mich nicht wörtlich, verstehen Sie mich im übertragenen Sinne. Guten Morgen, Dr. Gaynor.« »Guten Tag, Dr. Caron.« Freda spurtete buchstäblich in den Frauen-Aufenthaltsraum und ließ sich in einen Sessel sinken, um in männerloser Abgeschiedenheit ihre fünf Sinne zu sammeln und abzuwarten, bis der Sturm vor über war. Sie hatte das Gesuch nach allen Regeln der Kunst verpatzt. Als der Scirocco sich wieder gelegt hatte, erhob sie sich aus dem Sessel und studierte das Schwarze Brett. »Wenn Francine nicht abhauen würde, würde sie von einem Auto überfahren – Dr. Hector hat Suzuki so
geschickt durch die Abschlußprüfung geschleust, daß sie ihre Vorurteile gegen Weiße völlig verloren hat.« Der übliche Klatsch, witzig, voller Anspielungen und höchst informativ. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als ihr Blick auf einen kleinen, mit der unverkennbaren Schrift vollgekritzelten Zettel am unteren Rand des Brettes fiel. Die Buchstaben waren so winzig, daß sie sich zum Lesen bücken mußte. »Freda, hüte dich vor den Iden des März… Einer, der es gut mit dir meint.« Diesmal hatte sich das Orakel mit seiner Prophezeiung geirrt! Sibyl le hatte es zu genau wissen wollen. Es war nicht der fünfzehnte März, vor dem Freda sich fürchtete, es war Sonntag, der 19. März, 1.45 Uhr! Am Freitag war sie Hal gegenüber bewußt so zickig und griesgrämig, daß er beizeiten die Flucht ergriff und zu seinem Aufnahmetermin nach Los Angeles fuhr. Kurz vor fünf verschwand er aus dem Gewächshaus, gerade noch rechtzeitig, bevor der Scirocco loslegte. Der Samstag war klar und heiß. Hal und die Gärtner waren nicht da, und so konnte Freda es sich in aller Ruhe auf ihrer Luftmatratze gemütlich machen. Gleich nach dem Lunch schlüpfte sie in ihren Bikini, rieb sich mit Sonnenöl ein und streckte sich in der Mittagssonne neben den Beeten auf der Matratze aus. Behaglich lag sie da und lauschte versonnen dem Seufzen und Flöten der Tulpen. Ein Gefühl der Heiterkeit breitete sich um sie herum aus. Auch innerlich fühlte sie sich jetzt ganz ruhig und friedlich. Sie hatte sich mittlerweile mit ihrem Schicksal abgefunden. Dennoch schien irgend etwas zu fehlen. Ohne einen Hal Polino, der hektisch zwischen den Beeten herumrannte und seine Schimpfkanonaden auf die »kleinen Biester«, den »Blumencomputer« oder die »gelbe Gefahr« losließ, fehlte dem Frieden irgendwie die rechte Würze. Vielleicht, überlegte sie, resultierte ihre seltsame Drüsenreaktion aus der Zuneigung, die sie für den Burschen
empfand, und nicht umgekehrt, daß ihre Zuneigung von der Drüsenreaktion herrührte. Hinsichtlich gedanklicher Präzision und emotionaler Trennschärfe konnte er Paul zwar nicht das Wasser reichen – sie hatte Paul niemals auch nur ein Weihnachtslied singen hören –, aber sie brauchte auch Polino nicht etwas wegzunehmen, um Paul zu loben. Die beiden Männer waren, so verschieden sie auf den ersten Blick auch sein mochten, einander auf gewisse Weise doch ebenbürtig – wenn man einmal von Hals niedrigerer Position absah. Paul war der Typ, der auf der Brücke des Schlachtschiffes stand. Hal war der Typ, der im Heck des Kanus hockte. Paul war der richtige Mann für den langen Törn, für die konstante Leistung; Hal hingegen war der geeignete Mann für die Kurzstrecke, die explosive Höchstleistung. Es war schwerer, sich zu dem Mann im Kanu auf Distanz zu halten. Ihre Stellung und ihr Alter kümmerten Hal wenig. Der Status, den jemand hatte, beeindruckte ihn nicht, und soviel jünger als sie war er auch nicht. In bezug auf Weltklugheit und Welterfahrenheit war er im Vergleich mit Paul und ihr eher ein Achtzigjähriger. Wahrscheinlich war er erfahren, rücksichtsvoll und reif genug, um behutsam und sanft mit seiner Kraft umzugehen. Italiener standen in dem Ruf, in derlei Dingen sehr feinfühlig zu sein. Der Spruch auf der Toilettenwand »Südländer sind miserable Liebhaber« war wahrscheinlich nichts anderes als ein weiblicher Trick gewesen, die anderen Mädchen von einem kostbaren Fund abzulenken. Freda schob sich den Augenschirm ein Stück tiefer in die Stirn, drehte sich vom Bauch auf den Rücken und schob sich mit den Ellenbogen ein Stück zur Seite, von der durch die Sonne aufgeheizten Hälfte der Matratze weg, um sich behaglich auf derselben kühlen Stelle auszustrecken, die sie vorher mit ihrem Körper bedeckt hatte. Sie rekelte sich wohlig hin und her und genoß das angenehme Ziehen in den Muskeln, als sie die Beine weit von
sich streckte und die Innenseiten ihrer Oberschenkel den wärmenden Sonnenstrahlen darbot. Die Tulpen neben ihr kicherten mißbilligend, und sie lächelte über ihre Sittsamkeit. Sie war gestern wenig nett zu Hal gewesen. Ab sofort, beschloß sie, würde sie sich ihm gegenüber nicht mehr so kratzbürstig verhalten. Es war ungerecht, für die Sünden der eigenen Mutter die Söhne anderer Mütter büßen zu lassen. Es war mehr als kratzbürstig, es war gemein, einen jungen, netten Burschen unausgesetzt zu bestrafen, weil einst ein kleines Mädchen, an das Freda sich kaum noch erinnern konnte, gehört hatte, wie sein Vater zu seiner Mutter sagte: »Du mexikanische Hure!«
9
»Dr. Caron, darf ich Ihnen Peter Henley vorstellen?« Freda klappte den Augenschirm hoch, preßte erschreckt die Beine zusammen und fuhr hoch, alles im Bruchteil einer Sekunde. Vor ihr stand Hal. Er war in Begleitung eines fremden Mannes. Bestimmt waren sie schon eine Weile dagestanden und hatten zugesehen, wie sie sich in der Sonne rekelte. »Ich dachte, du wärst in Los Angeles!« »War ich auch. Wir waren schon heute früh mit den Aufnahmen fertig. Mr. Henley kommt aus Australien – er hat zur Zeit ein Stipendium für das Linguistische Institut.« »Steh nicht so da rum! Bring mir lieber meinen Kittel!« »Aber, aber! Du würdest, so wie du aussiehst, an jedem Strand der Welt eine gute Figur abgeben.« »Wir sind aber hier nicht am Strand. Jetzt geh schon endlich und hol meinen Kittel!« Hal drehte sich grinsend um und trabte zum Gewächshaus, so daß Freda für einen Moment allein mit dem jungen Mann war, der sie unverhohlen begaffte. Peter Henley sah in der Tat wie jemand aus dem hintersten Australien aus, dachte sie. Er war hochgewachsen und schlank, und sein blondes Haar stand an den Seiten ab. Das spitze Kinn verlieh im Verein mit der flachen Schädeldecke seinem Kopf die Form eines V, dessen kantige Strenge lediglich von einem Paar lustig abstehender Ohren gemildert wurde. Seine spitze, schiefe Adlernase wurzelte zwischen einem Augenpaar von solcher Bläue, daß man hätte glauben können, sie stammten von irgendeinem antipodischen Beuteltier, das irgendwann einmal vom Hauptstrom der Evolution abgeschnitten worden war. Sein
Adamsapfel hüpfte unverwandt auf und ab, während er sie mit seinen Blicken verschlang, und Freda hatte für einen Moment das Gefühl, daß er sie sogar mit seinem Hals beäugte. »Entschuldigen Sie, Mr. Henley, aber ich dachte, ich wäre allein hier im Garten. Tut mir leid, wenn ich Sie verwirrt haben sollte.« »Bestimmt nicht, Ma’am. In Schweden tragen die Mädchen am Strand überhaupt nichts. Trotzdem wage ich zu behaupten, daß sie den Mädchen von Fresno nicht das Wasser reichen können.« »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie barsch. Irgendwie schien seine Erscheinung ihrer Frage etwas Suggestives zu verleihen. »Ich komme vom Linguistischen Institut, wenn auch nicht in offizieller Eigenschaft. Ich habe gerade Ferien.« Mittlerweile war Hal wieder zurück und half ihr in den Kittel. Sie schlüpfte rasch hinein und knöpfte ihn zu, bemüht, unterdessen die höfliche Konversation aufrechtzuerhalten. »Fresno ist im März ein etwas ungewöhnlicher Urlaubsort. Es ist wie Dubuque im August.« »Dr. Caron, Peter hat etwas Interessantes herausgefunden.« »Bei den Bändern, Ma’am. Die Sie und Hal eingeschickt haben.« »Was ist denn mit den Bändern?« »Sie sind lediglich einer Vier-B-Analyse unterzogen worden, Ma’am.« Sein »Ma’am« hörte sich wie »Mama« an. »Die 4-B ist so was wie eine Gefälligkeitsanalyse, um einem offiziellen Antrag Genüge zu tun. Ich will damit nicht behaupten, daß sie nicht sorgfältig wäre, aber ich hatte so das Gefühl, als ob – Also, Ma’am, um es genau zu sagen, ich hatte das Gefühl, als wäre mit den Bändern nicht korrekt verfahren worden. Da waren Flecken auf dem Spektrogramm – «
»Und? Ich nehme an, Sie haben Ihren Vorgesetzten sofort auf diesen Widerspruch hingewiesen.« »Nun, Ma’am, Sie wissen ja sicher, wie das so ist, ich meine, mit Abteilungsleitern. Sie entschuldigen, Ma’am. Wenn sich ein Vorschlag als gut erweist, dann war es ihr eigener; stellt er sich als Niete heraus, dann sind Sie der Gelackmeierte.« Ja, und ob ich solche Abteilungsleiter kenne, dachte sie. Aber nicht minder gut kannte sie auch Assistenten vom Schlage eines Peter Henley, die Karriere machten, indem sie sich insgeheim Informationen verschafften, die sie dann im taktisch richtigen Moment ihren Vorgesetzten unter die Nase rieben – am besten in Gegenwart des Vorgesetzten ihres Vorgesetzten. Peter Henley war inzwischen bei einigen Leuten über die Grenzen seiner Abteilung hinaus als Intrigant und Informationserschleicher berüchtigt. »Reden Sie nur weiter«, sagte Freda. »Also, Ma’am, ich dachte, weil nämlich die Flecken ziemlich regelmäßig auftauchen, daß sie vielleicht die unteren Schwingungsknoten der höheren Töne sein könnten, die Hals Gerät nicht mit draufgekriegt hat.« »Sie meinen, daß die Tulpen Laute in einer Frequenz abgeben, die wir nicht hören können?« »Nein, Ma’am«, antwortete Henley. »Das meine ich nicht, weil ich keinen Beweis dafür habe – offiziell jedenfalls nicht. Inoffiziell jedoch habe ich hier ein Stück Tonband, das ich aus dem Abfalleimer meines Chefs fischte.« Ein echter Schakal, dachte sie. »Dürfte ich Ihren Besucherpaß sehen, Mr. Henley?« Sein Paß war in Ordnung. Hal hatte ihn schon überprüft. »Kommen Sie, wir setzen das Gespräch im Büro fort«, sagte Freda. Hal sammelte rasch ihre Sonnenbadutensilien ein und schloß auf, als sie hinüber zum Gewächshaus gingen. »Peter ist
von der Universität Sydney. Er hat zur Zeit ein Stipendium in den Staaten und ist Schüler von Professor Grant.« Aus Hals Tonfall hörte sie heraus, daß sie eigentlich genauestens über Professor Grant hätte Bescheid wissen müssen, aber sie hatte noch nie von ihm gehört. »Wer ist Professor Grant?« fragte sie. »Er ist der Verfechter einer ziemlich einzigartigen Methodik. Erzähl ihr mal davon, Peter.« »Dr. Grant vertritt die Theorie, daß man in der wissenschaftlichen Forschung niemals nach logischen Gesichtspunkten vorgehen dürfe, weil die Grundelemente des Universums irrational sind. Dr. Grant sagt, man solle das verdammte Standardverfahren nehmen und es in den Mülleimer schmeißen.« »Er erinnert mich stark an einen Bekannten«, sagte Freda. »Hans Clayborg.« »Grant hat doch bei diesem Clayborg studiert«, erwiderte der Australier. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder«, entgegnete Freda, »Hans hält große Stücke auf ihn.« »So, Dr. Caron, also das hier ist mein Beweisstück, wofür immer Sie es auch brauchen können.« Henley zog eine Rolle Spektrographband aus der Tasche, löste das Gummiband, das er darumgeschlungen hatte, und legte es auf den Tisch. »Das ist der Laut, den Sie wahrnehmen«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf ein Gewirr wellenförmig verlaufender Linien. »Und dort oben, sehen Sie, da sind kleine Flecke auf dem Band.« Sie hätte die Flecke gar nicht bemerkt, wenn er sie ihr nicht gezeigt hätte. Sie waren so schwach und winzig, daß sie sie eher für zufällige Verfärbungen des Papiers gehalten hätte. »Ich weiß zwar nur sehr wenig über Laute, Mr. Henley, aber könnten das nicht Schatten eines Obertons sein?«
»Logisch gesehen ja, jedenfalls auf den ersten Blick. Das Standardverfahren schließt eine Überprüfung der Obertonschatten mit ein, und es existieren in der Tat auch solche Schatten. Aber diese Flecke hier sehen links ziemlich ausgeprägt aus und schwingen dann über zu einer stärkeren Ausprägung auf der rechten Seite, was eigentlich darauf hindeutet, daß es sich um die Untertonschatten höherer Töne handelt, die etwas aus der Synchronisation fallen.« »Könnten diese Flecke nicht von einer verschmutzten Aufzeichnungsnadel an der Spektra-Maschine herrühren?« Methodisch gesprochen war das, was sie machte, ein Scheinangriff mit der Rechten, während sie mit der Linken zuschlug. Peter Henley blockte ihre linke Gerade souverän ab. »Ich pflege die Maschine mit einer Tetrachlorkohlenstofflösung, die verdünntes Anilin enthält, zu reinigen. Meine Flecke sind blau.« »Na schön, Mr. Henley«, seufzte Freda resignierend. »Wir stellen also fest, daß auf dem Band verdächtige Flecke sind. Und was wäre nun nach Ihrer verdammten Grant-ClayborgMethode der nächste Schritt?« »Weg mit den alten Bändern, und das Ganze noch einmal von vorn, diesmal aber mit einem empfindlicheren Detektor mit höherer Frequenzbreite. Warum höher und nicht niedriger? Weil, wenn die verdammten Tulpen versuchen, uns reinzulegen, dann werden sie logischerweise ganz leise flüstern.« Sie überlegte blitzschnell. Dr. Gaynor würde niemals zulassen – mit Recht, wie sie fand –, daß sich Unbefugte auf der Basis aufhielten, erst recht nicht, wenn die Bitte dazu von ihr kam. Die Sicherheitsmaßnahmen mußten eingehalten werden. Hinzu kam, daß Peter Henley sie quasi nackt gesehen hatte und wußte, was sie unter dem Kittel trug. Einen Scirocco
mochte sie ja gerade noch verkraften, aber ein zusätzlicher heißer Wind aus dem hintersten Australien würde zuviel für sie sein. »Ich kann Ihnen den Aufenthalt auf der Basis nicht gestatten, Mr. Henley.« »Das brauche ich gar nicht für meine Zwecke, und außerdem wünsche ich es auch nicht. Wenn es nach mir geht, erfährt Gaynor am besten erst gar nicht, daß ich überhaupt in Fresno bin. Hal kann die Bänder heute nachmittag für mich aufnehmen, sie dann zu mir bringen, und ich kann sie in meiner Höhle in Fresno analysieren.« »Ausgezeichnet«, sagte Freda erleichtert. »Sie haben meinen inoffiziellen Segen. Zeige Mr. Henley unsere Tulpen, Hal, aber mache es kurz.« »Als erstes zeige ich dir die A-Reihe, Peter«, sagte Hal und zog den Australier am Ärmel zur Tür hinaus. »Für Montag rechnen wir mit dem nächsten Samenausstoß, und ich habe mit Freda gewettet, daß die Tulpen locker über fünfzig Meter kommen…« Als die beiden außer Hörweite waren, packte Freda ihre Sachen zusammen und verstaute sie im Spind. Dabei dachte sie verwundert darüber nach, warum alle Männer aus der englischen Konföderation Peter hießen. Fredas Kollisionskurs zwischen Samstagnacht und Sonntagmorgen nahm schon Montagmorgen vor dem Frühstück unter unheilvollen Vorzeichen seinen Anfang. Sie hatte noch nicht ganz ihren Orangensaft ausgetrunken, als die Kellnerin in der Kantine ihr einen geheimnisvollen Zettel mit Hals Handschrift zusteckte: »Komm ganz schnell zu den Beeten. Hier ist was schiefgelaufen!« Freda sprang auf, stürzte den Kaffee herunter, schnappte sich ihren Mantel und hetzte, vorbei an der verdutzten Kellnerin, die gerade mit Rührei und Schinken nahte, zur Tür hinaus. Hal war, wohl der neuen Bänder wegen, schon sehr zeitig zu den Beeten gegangen, und als sie um die Ecke des Gewächshauses bog, bemerkte sie, daß
über den A-Beeten Wespen schwärmten. »Was ist passiert?« rief sie ihm schon von weitem zu. »Schau dir mal die A-Beete an!« rief er zurück. Das tat sie. Die Samenkapseln waren aufgeplatzt. »Warst du Sonntag bei den Tulpen?« fragte er. »Nein. Ich war bei einem Konzert in Bakersfield.« »Ich war mit Peter in Fresno, aber es sieht so aus, als hätte ich unsere Wette gewonnen. Aber offenbar haben sie sich mit fünfzig Metern nicht zufriedengegeben. Sie scheinen ihre Samenkörner wohl gleich in die Erdumlaufbahn geschossen zu haben.« »Sind denn keine auf dem Segeltuch?« »Nicht eins. Ich habe überall herumgesucht.« Sie trat einen Schritt zurück und schaute zum Dach des Gewächshauses hinauf. »Könnten sie sie nicht nach Westen geschossen haben, über das Dach hinweg?« »Ich bin zwar erst seit zehn Minuten hier, aber die Möglichkeit habe ich schon nachgeprüft. Drüben auf der anderen Seite habe ich auch keine Samen gefunden.« Er stand jetzt ganz dicht bei ihr, und sie konnte deutlich den Ausdruck von Sorge in seinem Gesicht erkennen. »Das könnte sich zu einer ernsten Sache auswachsen, Freda. Wenn meine Berechnungen stimmen, liegen jetzt irgendwo zweiundsiebzigtausend Samenkörner frei herum, über die wir keine Kontrolle haben. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß ein paar davon nicht geplatzt sind, ist das noch immer eine stattliche Zahl, über die wir keinerlei Nachweis haben. Wenn uns die Sache hier außer Kontrolle gerät und wir plötzlich wilde Samenmassenproduktion haben, sind wir erledigt.« »Vielleicht ist die dritte Ernte ja auch taub. Wir wissen ja noch gar nichts über den Lebenszyklus dieser Pflanzen.« »Tja«, sagte Hal und kratzte sich am Kopf, »möglich wär’s ja, aber es ist eigentlich zu unlogisch, als daß wir diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen sollten. Aber warte,
das haben wir sofort raus. Haltet euch die Ohren zu, Mädels, jetzt kommt wieder dieser Laut.« Er ging langsam durch die Blumen und hielt sorgfältig Ausschau. Kurz darauf hatte er auch schon eine weibliche Tulpe entdeckt, deren Samenhülse unversehrt war. Als er sie aus dem Erdreich zog, zuckte Freda in Erwartung des nun einsetzenden Klageliedes zusammen. Doch nichts war zu hören. Die Tulpen blieben stumm. »Vielleicht hat diese hier keiner gemocht«, sagte Hal, während er den schlaffen Stiel über seine geöffnete Handfläche legte und mit dem Daumennagel der anderen geschickt die Samenhülse der Länge nach aufschlitzte. Noch bevor sie ganz geöffnet war, sah Freda schon die Reihe mit den acht winzigen Samenkörnern. »Sie hätte die Samen ausgestoßen«, sagte sie, »sobald die Temperatur wieder angestiegen wäre.« »Deshalb haben sie auch ihr Totenlied nicht gesungen«, sagte Hal. »Es ist zu kalt. Hast du in deinem Gerätefach eine MAKamera?« »Nein. Ich muß sie bei der Foto-Abteilung anfordern, aber da ist jetzt zu.« »Dann besorge ich sie eben mit einer unbürokratischen Beschaffungsaktion«, erwiderte er und suchte zwischen den Tulpen nach weiteren ungeöffneten Samenhülsen. »Behalte unser Fräulein hier gut im Auge, Freda. Ich gehe jetzt die Kamera holen.« Er war schneller zurück, als es gedauert hätte, die Kamera auf ordnungsgemäßem Weg anzufordern. »Ich habe meine Kennkarte als Türöffner benutzt«, erklärte Hal der staunenden Freda. »Ein alter Einbrechertrick. Hat sich was bewegt?« »Nein.« Er baute die Kamera so auf, daß er eine der ungeöffneten Samenhülsen genau im Mittelpunkt des Suchers hatte und schaltete das Zusatzgerät mit dem MA-Sensor und dem ZoomObjektiv ein. Sobald sich jetzt etwas im Sucher bewegte,
würde sich die Kamera sofort selbsttätig auslösen. Als er damit fertig war, bückte er sich nach der toten Tulpe und hielt sie Freda hin. »Guck mal, da sind gar keine Samenkörner.« »Die Wespen!« rief Freda. »Du hast recht.« Zu ihrer Überraschung lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck höchster Erleichterung. »Und ich wette, in spätestens fünf Tagen finden wir Sprosse in den H- und IBeeten, und zwar exakt fünfzehn Zentimeter auseinander.« Mit diesen Worten ritzte er auch die andere Seite der Hülse auf und legte die Tulpe so auf den Boden, daß die Wespen die Samenkörner erreichen konnten. »Ich habe nichts dagegen, bei einem Kaiserschnitt zu assistieren«, sagte er, »aber ich bin kein Abtreiber. Da ich jetzt überzeugt bin, daß du deine Wette gewonnen hast, Freda, gebe ich dir in der Kantine einen Kaffee und Pfannkuchen aus.« Sie wußte, daß Gaynor jegliches Fraternisieren zwischen Lehrkörper und Studenten schärfstens mißbilligte, da es in seinen Augen dem Ansehen der Lehrer schadete. Aber da sie gleichzeitig auch mit absoluter Sicherheit wußte, daß sie bei Gaynor über kein solches Ansehen mehr verfügte, waren derlei Überlegungen ohnehin nur noch rein akademischer Natur. Erfreut nahm sie daher Hals Einladung an und schlenderte gemeinsam mit ihm zur Kantine. »Was macht dich so zuversichtlich, daß die Samenkörner in die richtigen Beete gelangen?« »Die Tulpen wissen, daß der Boden mit seltenen Erden angereichert ist. Sie sind noch nicht bereit, ihre Schwingen zu gebrauchen. Aber ich glaube, ich täte gut daran, nächsten Montag als erste Vorsichtsmaßnahme einen zwanzig Fuß hohen Segeltuchschirm aufzustellen. Überhaupt sollten wir uns jetzt langsam mal eine langfristige Strategie ausdenken. Wenn uns die Biester außer Kontrolle geraten, sehe ich nämlich schwarz.«
»Aber Hal! Sie sind doch so zart, klein, zerbrechlich und schön.« »Das bist du auch, Freda, aber es sind Frauen; und wie du können auch sie gefährlich sein. Wenn Old Pete es schafft, ihre Sprache zu lernen, können wir vielleicht ein vernünftiges Wort mit den Männchen reden und uns auf ein friedliches Miteinander einigen.« Nachdem Fredas seltsame Anwandlungen sich programmgemäß in die Freizeit verlagert hatten, machte ihr auch die Arbeit in den Beeten endlich wieder richtig Spaß. Die Filmaufnahmen, die die Samen zu den H- und I-Beeten tragenden Wespen zeigten, erwiesen sich als außerordentlich gelungen, was nicht nur zu ihrer Erleichterung beitrug – weil es ihre Befürchtung, die Tulpen könnten sich wahl- und planlos vermehren, mit einem Schlag zerstreute –, sondern Freda und Hal gleichzeitig die Genugtuung verschaffte, ihre Monographie mit wertvollem Anschauungsmaterial unterlegen zu können. Daß eine Bodenwespe ein Ei in eine Blume legte, die einer Wespenzelle ähnelte, stellte allein schon ein interessantes Phänomen dar, auch wenn es im Grunde lediglich die verblüffende Anpassungsfähigkeit dieses Insekts bewies. Daß dieselbe Wespe jedoch Tulpensamen transportierte und im Boden vergrub – und das auch noch so, daß sie dabei eine für die Tulpen lebenswichtige räumliche Anordnung exakt befolgte –, würde bei jedem Wissenschaftler eine Menge von Fragen aufwerfen. Wenn die Caron-Polino-Theorie veröffentlicht wurde, mußte sie in Fachkreisen ein großes Echo hervorrufen. Die Entomologen und behavioristisch ausgerichteten Psychologen würden natürlich über sie herfallen und ihre Theorie in Stücke reißen, wenn es darum ging, ihre eigenen Theorien vom veränderten Verhalten sozialer Insekten zu verteidigen – aber sie und Hal würden mit der Unterstützung der Botaniker und Free-Will-Psychologen
rechnen können. Die Ökologen würden sich wahrscheinlich in zwei gleich große Fraktionen spalten, aber beide Seiten würden von der Symbiose fasziniert sein. »Und weißt du, wer mit Sicherheit ebenfalls auf unserer Seite sein wird?« sagte Hal grinsend, als sie gemeinsam die Liste potentieller Mitstreiter durchgingen. »Die Floristenlobby! Ich sehe in Gedanken schon ihren Slogan vor mir: ›Verschönern auch Sie Ihr Heim mit einer sprechenden Blume. – Kaufen Sie sich eine Caron-Tulpe.‹« Bei allem Spaß, den sie miteinander hatten: Ging es an die Arbeit, war Hal ein Muster an Disziplin. Er befolgte ohne Murren ihre Anweisungen, stellte niemals ihre Entscheidungen in Frage, und hielt sich sogar mit seinen Flüchen bewundernswert zurück. Nur einmal widersprach er ihrem Urteil. Unmittelbar nachdem sie sich die Aufnahmen mit den Wespen angeschaut hatten, machte Freda die Bemerkung: »Jetzt kannst du sehen, wie du dich getäuscht hast! Die Tulpen kooperieren mit mir, weil sie wissen, daß ich sie liebe. Sie wollen mir ihre Zuneigung beweisen, indem sie gehorsam sind.« »Falsch«, knurrte er. »Sie wissen genau, wenn sie nicht brav sind und aus der Reihe tanzen, dann kriegen sie mächtig Zunder von mir.« Im Dunkel des Vorführraums kicherte sie leise. Sie und Hal benahmen sich wie ein Elternpaar, das über Kindererziehung streitet. Über allem Ulk – und in nicht unerheblichem Maße verantwortlich für denselben – schwebte, unsichtbar für sie, die schon fast gottähnliche Züge annehmende Gestalt des Peter Henley; und Hal entwickelte sich rasch zum ersten Stellvertreter Gottes im Gewächshaus. Offiziell oder nicht, Henley repräsentierte das Linguistische Institut, das sie hatte abblitzen lassen. Er stellte gewissermaßen einen trüben Fleck auf dem blitzblanken Veto dar, mit dem man ihren Antrag beschieden hatte. Wenn Hal und Freda in der Kantine über, ihn sprachen, war er immer nur Old Pete. Ein
idealer Deckname, weil kein Mensch beim Anblick des echten Peter Henley je auf diesen Kosenamen verfallen wäre. Hal war von dem Australier derart begeistert, daß Freda langsam aber sicher einen wachsenden Widerwillen gegen die Glorifizierung der irrationalen Herangehensweise verspürte. »Dieser Mann ist ein echtes Genie«, schwärmte Hal ihr leuchtenden Auges vor. »Neulich abends waren wir zusammen einen trinken, da hat der Bursche eine Sondersitzung des UNSicherheitsrats persifliert. So was hast du noch nicht gehört, sage ich dir. In zwölf verschiedenen Sprachen – sogar Suaheli war dabei – und das Ganze dann noch simultan in Englisch übersetzt. Und am Schluß, als alle wie wild durcheinanderbrüllen, kriegt der arme Dolmetscher fast einen Nervenzusammenbruch. Wahnsinn, sag ich dir! Die Leute bei uns am Tisch haben mit offenem Maul dagesessen und mit den Ohren geschlackert!« »Wer hat denn bei euch am Tisch gesessen?« Ihre Stimme hatte plötzlich einen scharfen, argwöhnischen Klang. »Oh, keiner von der Basis«, erwiderte er, ihre Angst mißdeutend. »Bloß so ein paar LKW-Fahrer von der L. A.-Frisco-Route.« Trotzdem hatte sie das Gefühl, besser schlafen zu können, wenn Peter Henley erst wieder aus der Stadt verschwunden und Hal seinem unmittelbaren Einfluß entzogen war. Als ungebundener Junggeselle mit australischem Akzent, der schon an schwedischen Nacktstränden herumgelegen hatte, war er mit Sicherheit nicht ganz harmlos. Hal neigte ohnehin dazu, Frauen gegenüber allzu leicht schwach zu werden, und auf diesen Peter Henley war kein Verlaß. Sie erinnerte sich noch gut daran, daß sein Adamsapfel auf und ab gehüpft war, als er sie im Bikini gesehen hatte. »Wie lange wird Old Pete für die Analyse der Bänder brauchen?«
»Er schätzt, daß er sie am Wochenende fertig hat und dann nach Dubuque weiterfährt. Er möchte sich noch ein wenig in den Kornfeldern von Iowa umsehen.« »Oh, wie ich sehe, ist dein Freund ein echter Witzbold. Lädst du ihn für Samstagabend mit ein?« »Kommt gar nicht in Frage«, erwiderte Hal in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Er ist ein Witzbold, ein charmanter Unterhalter und ein Genie, aber am Samstagabend wird Harold Polino Freda Caron unterhalten und sonst niemand.« In Freda war die plötzliche Hoffnung aufgekeimt, daß der Mann vom Linguistischen Institut vielleicht ihre Rettung sein könnte, und für einen Moment war sie über Hals kompromißlose Antwort enttäuscht. Später, am Abend, als sie sich zum Entspannen ausgestreckt hatte, blies der Scirocco mit Sturmstärke, und sie fühlte wieder anders. Sie würde dem Abend mit Hal ins Auge schauen und wollte keine Hilfe im Kampf gegen die dunklen Engel ihrer Natur haben. Sie würde ihren Kampf gegen den Fürsten der Finsternis allein ausfechten, und ihm, indem sie sich widersetzte, den entscheidenden Stoß versetzen. Ungeachtet der düsteren Prophezeiungen des Orakels vergingen die Iden des März voller angenehmer Überraschungen: Die erste Ladung aus den D-Beeten landete exakt in den K- und L-Beeten. Die Tulpen waren jetzt schon die Hälfte der Strecke bis zum Zaun vorgerückt, und am Montag würde Hal die Vorkehrungen für die Aufstellung der Segeltuchbarriere treffen, die verhindern sollte, daß die Samen auf den frisch gepflügten Acker der San-JoaquinGenossenschaft vordrangen. Donnerstag morgen – Freda hakte jetzt schon die einzelnen Tage bis zur entscheidenden Konfrontation ab – erschien Hal mit einem großen Tragekoffer auf der Arbeit. »Peter tritt heute in die Endphase seines
Experiments. Scheint ein guter Tag zu werden. Laut Wetterbericht soll es klar und warm werden, bis zu achtundzwanzig Grad um halb zwei… Was steht auf dem Programm?« »Ich möchte, daß du heute ein paar Wespenlarven für mich sammelst. Ich will eine vergleichende Studie zwischen tulpen und zellgeborenen Wespen machen, um zu sehen, ob sich schon eine Mutation eingestellt hat.« »Peter hat da eine interessante Theorie bezüglich der Wespen, falls du kein Vertrauen in unsere Goldene Horde hast. Er meint, unsere kleinen Hunnen dirigieren die Wespen über Hochfrequenz-Schallkegel, innerhalb derer sie sich bewegen müssen. Verlassen sie diese Kegel, müssen sie sofort unter den Folgen leiden. Ich würde gerne mal mit Paul über diesen Punkt sprechen.« »Wieso?« fragte sie bissig. »Reicht dir meine Kompetenz nicht?« Er spürte die Gekränktheit in ihrer Stimme, und da er gerade hinter ihr stand, legte er ihr versöhnlich die Hand auf den Kopf und streichelte ihr Haar. »So ein Unsinn. Natürlich bist du kompetent. Aber ich bräuchte für meine Frage einen Morphologen. Ich möchte nämlich gerne wissen, ob sie ihre Schallwellen dirigieren und konzentrieren können, ohne den Kopf zu beugen. Wir haben ja noch immer unsere Kamera auf die Blüten gerichtet. Wenn sich nur ein einziges Blütenblatt öffnet, und sei es auch fast unmerklich, dann könnte das bedeuten – « »Du verbeißt dich so sehr in deine Schalltheorien«, warf Freda ein, während sie gleichzeitig in ihre Schublade langte, »daß du alles andere darüber vergißt. Hier hast du deine Fotos.« Das erste Foto zeigte eine vollkommen geschlossene Blüte. Auf dem nächsten, das dieselbe Tulpe fünf Minuten später zeigte, sah man deutlich, daß sich eines der Blütenblätter ganz leicht geöffnet hatte. Freda war dieser
Unterschied schon eine Woche zuvor aufgefallen, als sie sich Abzüge für ihr Privatalbum herausgesucht hatte, ihm aber bis zu dem Zeitpunkt keine besondere Bedeutung beigemessen. Der fast ehrfürchtige Blick, mit dem Hal sie jetzt anstarrte, war den kleinen Betrug wert. »Das würde darauf hindeuten, daß sie es können und auch tun«, sagte er, nachdem er die Bilder eingehend betrachtet hatte. »Nach dem Lunch werde ich Old Pete den letzten Beweis für seine Theorie liefern, und ich möchte dich bitten, währenddessen die Tulpenbeete nicht zu betreten, bis ich damit fertig bin. Pete meint, er kriegt irreguläre Ergebnisse, wenn du in den Beeten herumläufst, weil die Tulpen glauben, du seist ihre Mutter.« »Dann hat er also tatsächlich ein Muster entdeckt?« »Sieht ganz so aus. Er hat mir dieses Ding hier mitgegeben« – er deutete auf den Tragekoffer –, »ein Hochfrequenzheuler. Ich soll damit ihre Frequenz stören, damit wir sehen, welche Wirkung das auf ihr Gesinge hat. Meine Mikrofone nehmen gleichzeitig ihre Reaktion auf die Störung auf. Aus welchem Beet willst du die Larven haben?« »Aus Beet C.« »Könntest du vielleicht noch so lange damit warten, bis ich ein paar Noten aufgeschrieben habe?« »Natürlich.« Bei dem anschließenden gemeinsamen Hamburger-und Kaffee-Lunch in der Kantine – Freda hatte schon seit Anfang der Woche nicht mehr am Abteilungsleitertisch gegessen – rückte Hal mit einer seiner seltenen sentimentalen Beichten heraus. »Ich kriege langsam ambivalente Gefühle gegenüber den Tulpen. Sie scheinen gewillt, mit uns zu kooperieren. Vielleicht können wir tatsächlich zu einem friedlichen Miteinander gelangen. Die erste Reaktion des Menschen auf
etwas Fremdes, Neues, ist immer Feindseligkeit, aber die Tulpen scheinen mir irgendwie immer vertrauter zu werden.« »Vielleicht brauchen wir den Schirm gar nicht aufzustellen«, sagte Freda zwischen zwei Schlucken Kaffee, »wenn du nur einmal kräftig auf den Tisch haust und ihnen zeigst, wer der Herr im Haus ist. Du bist die Vaterfigur. Wenn du nur streng genug bist, werden dir die Kinder auch gehorchen.« »Einer muß ja die übergroße Nachsicht der Mutter ausgleichen«, kommentierte Hal grinsend. Hal und sie waren Kinder, die Mama und Papa spielten, dachte sie, und Hal hatte nie stärker nach Ulmen gerochen als jetzt. Nach dem Lunch ging sie mit ihm zu dem kleinen Hügel an der Südostecke der Parzelle und sah ihm zu, wie er den Heulapparat aufbaute. Seine Hände bewegten sich mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines Chirurgen, und seine wohlgeformten Muskeln glänzten im Sonnenlicht. Sie erinnerte sich, daß sein zweiter Vorname Michelangelo lautete, und wie er so dastand, erhobenen Hauptes, den Blick auf den blühenden Garten gerichtet, erinnerte er sie an die berühmte Statue, die sein Namensvetter einst geschaffen hatte. Sein dunkles Haar fiel ihm in kleinen Ringellöckchen in Stirn und Nacken, und wenn er die dunkle Brille abgenommen und sich mit einem Feigenblatt drapiert hätte, wäre er glatt das Modell von Michelangelos David gewesen. »Leg dich ins Gras«, rief er Freda zu. »Entspanne dich und genieße den Blick. Aber behalte den Heuler im Auge, hörst du? Die Kinder könnten böse werden und zurückhauen.« Er entrollte eine Fernbedienungsleine, legte sich, das Ende der Leine in der Hand, neben ihr ins Gras, drehte sich auf die Seite, schmiegte die Wange in die Armbeuge und schaute auf die Tulpen hinab. »Ich habe den Apparat so eingestellt, daß er die Beete dreimal kurz hintereinander in einem 30-Grad-Bogen bestreicht.«
»Es wird den Tulpen doch hoffentlich nicht schaden, oder sind sie anderer Meinung?« »Nein, schaden nicht, aber es könnte schon ein bißchen schmerzhaft für sie werden. Wenn du ein Hund wärst, der im Einfallsbereich der Schallwellen liegt, würdest du wahrscheinlich aufheulen und weglaufen. Das einzige, was die Kleinen wahrnehmen werden, wird allenfalls ein störendes Geräusch auf ihrer Frequenz sein, mit dem sie nichts anzufangen wissen. Old Pete möchte gerne hören, wie sie auf eine fremde Stimme reagieren. Wie auch immer ihre Reaktion ausfallen mag, die Mikros werden sie registrieren. Wenn wir die Laute entziffern können, können wir vielleicht sogar mit ihnen auf ihrer Frequenz sprechen.« »Oh Hal, jetzt hat’s dich wohl vollends erwischt! Jetzt bist du endgültig übergeschnappt!« »Ich schalte jetzt den Heuler ein.« »Sie beachten ihn gar nicht.« »Das sieht nur so aus. Vielleicht ist’s ein Anmachpfiff. Und den haben sie ja schon mal gehört. Siehst du nicht, wie sie strahlen? Von hier oben aus scheinen sie richtig zu glitzern.« »Ja, sie sind wirklich wunderschön«, pflichtete Freda ihm bei. Auf die Schallwellen schienen sie in der Tat nicht zu reagieren, dafür aber um so mehr auf die Sonnenstrahlen, die die Beete in ein einziges wogendes Farbenmeer verwandelten. »Weißt du, Hal, ich glaube, du hattest recht, als du sagtest, daß wir Menschen uns manchmal irren, wenn wir alles Fremde von vornherein als feindselig betrachten. Errichten wir unsere Verteidigungswälle nicht manchmal grundlos, wie Höhlenmenschen, die ständig in der Angst leben, überfallen zu werden? Wahrscheinlich ist das Universum weder feindlich noch freundlich, und wir täten uns vielleicht einen größeren Gefallen damit, wenn wir einfach davon ausgehen, daß es freundlich ist, meinst du nicht auch?«
Sie warf einen Blick in seine Richtung, aber er war völlig in die Betrachtung seiner Tulpen versunken. Ein teuflisches Grinsen spielte über seine Züge. »Ich finde, wir beide sollten einen beiderseitigen Vertrag unterzeichnen, daß wir uns getäuscht haben und uns verpflichten, künftig bei allen Dingen so lange davon auszugehen, daß sie freundlich sind, bis das Gegenteil bewiesen ist. Papa hat immer gesagt, er hätte alle Frauen als Damen behandelt, bis er verheiratet war. Natürlich hat er das im Scherz gesagt… Hal!« Sein Gesicht widerspiegelte noch immer dieselbe höhnische Versunkenheit. Sie beugte sich über ihn und nahm ihm die dunkle Brille ab. Seine Augen hinter den Brillengläsern starrten weder auf den Garten, noch auf sonst irgend etwas. Sie starrten ins Leere. Freda hatte die ganze Zeit über fröhlich mit einem Toten geschwätzt. Sie nahm ihm die Schnur aus der Hand, wickelte sie auf und hängte sie am Heuler an einen Haken. Sie würde den Apparat irgendwie heimlich zu Peter zurückschmuggeln müssen, denn es handelte sich ohne Zweifel um ein wertvolles Stück aus seiner Ausrüstung. Historisch gesehen war der Heuler sogar zum wertvollsten wissenschaftlichen Gerät seiner Art auf der ganzen Welt geworden, denn er hatte den unanfechtbaren Beweis dafür erbracht, daß die Tulpen miteinander kommunizierten. Sein historischer Wert jedoch würde niemals erkannt werden, weil Hals plötzlicher Tod alles noch komplizierter gemacht hatte. Wenn sich herausstellen sollte, daß die Tulpen die Schuld an seinem Tod trugen, würden sie mit der Begründung ausgemerzt werden, daß sie dem Menschen und seiner Welt gegenüber feindlich gesonnen waren. Bei den Kreuzzügen des Mittelalters war um religiöse Reliquien gekämpft worden. Seit alters hatten immer wieder Menschen für Skulpturen, Gemälde und andere schöne Dinge ihr Leben geopfert, und Hal Polino
entstammte einer Nation, die vielleicht mehr als alle anderen für die Verteidigung des Schönen hatte leiden müssen. Sie würde ihm einen Ehrenplatz in der Tradition seines Volkes nicht verwehren. Freda klappte das Stativ um den Heulapparat zusammen und strich mit der Zehenspitze dort das Gras zurecht, wo die drei Beine sich in den Boden gebohrt hatten. Dann warf sie einen letzten Blick auf den jungen Mann, der noch immer so dalag, als starre er auf die Blumen, die er so geliebt hatte, und ging mit dem Apparat unter dem Arm den kleinen Hügel hinunter. Als sie den Blick über die Tulpenfelder schweifen ließ, erschienen sie ihr schöner denn je. Im gleichen Moment wußte sie, daß sie es niemals zulassen konnte, daß man die Blumen zu Feinden des Menschen erklärte. Welcher Mensch auf dieser Erde würde fähig sein, eine Hochfrequenz-Schallwelle durch diese wunderschönen, zarten Blüten zu jagen? Wer sollte einen Grund dafür haben? Und niemand würde je von ihr erfahren, daß Hal das getan hatte. Sie konnte nicht zulassen, daß man die Caron-Tulpen hinrichtete, ohne sich überhaupt erst die Mühe einer fairen Verhandlung zu machen. In ihrem Büro wählte sie die Nummer des Leichenbeschauers und sagte dem diensthabenden Beamten: »Dr. Caron am Apparat. Ich habe einen Toten in Gewächshaus fünf, Hal Polino, einen Studenten.« »Wir kommen sofort rüber.« Sie legte den Heuler in den Tragekoffer zurück, und als sie den Deckel zuklappte, fiel ihr Blick auf die Vertiefungen für die Bänder. Als sie sich anschickte, den Koffer auf Hals Schreibtisch zu stellen, sah sie plötzlich, daß dort ein Brief lag: »An Freda – Vertraulich.« Hastig riß sie den Umschlag auf und las:
Liebe Freda!
Sollte ich nicht mehr heil von dem Hügel herunterkommen,
dann hole bitte die Bänder aus dem Garten, lege sie zusammen
mit dem Heuler in den Tragekoffer und wähle die Nummer der
Versandabteilung. Verlange Fred und sage ihm, er könne das
Paket abholen.
Mache den Tulpen keine allzu harten Vorwürfe. Der Heuler hat sie zwar nicht verletzt, aber er hat ihnen fürchterliche Schmerzen bereitet. Übrigens, ich verdanke den Tulpen sehr viel. Sie waren das goldene Band, das meinen Geist mit dem deinen vereinigte. Du siehst, ich habe dich geliebt. Tief im Innern deiner rauhen, nüchternen Schale verbirgt sich eine warme, katholische Frau. Und noch tiefer darunter fand ich ein kleines Mädchen, einsam und ziellos umherwandernd, das in mir den sehnsüchtigen Wunsch erweckte, es bei der Hand zu nehmen und zurück in seinen Ulmenhain zu führen. Wenn du diese Zeilen liest, haben mir vielleicht schon Steine und Erdreich die Knochen zerbrochen, ohne mir wehzutun, und so nehme ich mir denn die Freiheit, dir meine Liebe zu gestehen, ohne Angst haben zu müssen, daß du mich ausschimpfst. Meine geliebte Freda, gebe der Herrgott, daß du immer Ulmen um dich hast. Hal Sie faltete den Brief zärtlich zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und steckte ihn in die Tasche ihres Kittels. Danach stand sie auf, ging hinaus in den Garten und holte die Bänder. Dann ging sie zurück in das Büro, legte die Bänder in den Tragekoffer, rief die Versandabteilung an und verlangte Fred. Fred war noch vor dem Leichenbeschauer da und nahm das Paket in Empfang. Als die Träger hinausgingen, um Hals
Leiche abzuholen, stellte ihr der Leichenbeschauer noch ein paar Fragen über den genauen Zeitpunkt seines Todes, und ob ihr vielleicht kurz vor seinem Tod irgend etwas Ungewöhnliches in seinem Verhalten aufgefallen wäre. Sie beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß, gab jedoch von sich aus keine weitere Erklärung ab. Nach zwanzig Minuten war Freda wieder allein. Sie trat zur Tür und schaute hinaus. Sie hatte das Gefühl, als wollten die Tulpen sie zu sich winken. Sie ging zu ihnen, beugte sich über sie und sagte leise: »Er liebte euch.« Ein leises Rascheln ging durch das Beet, als die winzigen Stimmchen antworteten: »Er liebte euch.« »Er liebte uns«, flüsterte sie und sank auf die Knie. »Er liebte uns.« »Wir liebten ihn.« »Wir liebten ihn… liebten ihn… ihn.« »Ich werde euch niemals verraten.« »Ich werde euch niemals verraten… euch niemals verraten… niemals verraten.« »Ich liebte ihn!« »Ich liebte ihn… liebte ihn… liebte ihn… ihn.« Nur zwei Menschen auf der Erde hatten die Tulpen lieben gelernt, und, bewußt und unbewußt, hatten sie auch einander geliebt, bis der Tod sie geschieden hatte. Die Tulpen hatten das goldene Band geschmiedet, und niemand würde es zerbrechen, auch wenn es jetzt auf der Erde zwei Menschen gab, die wußten, daß die Tulpen töten konnten. Freda war der eine. Der andere war Peter Henley, aber sein Wissen würde von eben jenen bürokratischen Mechanismen unterdrückt werden, die er hatte unterlaufen wollen, und die Tulpen würden für immer weiterleben, als ihr geheimer Tribut an den Jungen, den sie insgeheim geliebt hatte.
»Meine geliebte Freda, gebe der Herrgott, daß du immer Ulmen um dich hast«, murmelte sie, und im selben Moment war es mit ihrer eisernen Selbstbeherrschung zu Ende. Sie warf sich vornüber auf die Segeltuchbahn, verbarg den Kopf in den Armen und weinte so hemmungslos, wie sie als kleines Kind unter den Ulmen geweint hatte. Und um sie herum begannen die Tulpen ebenfalls zu weinen.
10
Auch wenn Freda klar war, daß der Dynamo weiterschnurren mußte, hätte sie es lieber gesehen, wenn sein gleichmäßiger Pulsschlag ein wenig aus dem Takt geraten wäre, wenn eine heilige Karte wie Hal Polino in den Müllschlucker fiel. Auf dem Weg zu ihrer freitäglichen Zytologievorlesung blieb sie vor dem Schwarzen Brett im Verwaltungsgebäude stehen, um die neuesten Verlautbarungen zu überfliegen. Offenbar hatte Gaynors Sparfimmel jetzt einen ersten Höhepunkt erreicht. Mit der für ihn charakteristischen Originalität hatte er ein übergroßes Flugblatt anbringen lassen, auf dem in großen, sofort ins Auge springenden Lettern stand: Achtung – An alle Mitarbeiter – Nutzen Sie jede Möglichkeit zum Sparen. Schon ein einziges eingespartes Blatt Kohlepapier bedeutet eine Ersparnis von zehn Cent. Jede Hast zieht Verschwendung nach sich. Die Amtsleitung.
Ganz am äußeren Rand des Brettes, fast untergehend in dem Wust von Bekanntmachungen, Ankündigungen und sonstigem Papierkram, hing eine kleine, mit einer Heftzwecke befestigte Karte mit dünnem schwarzem Rand. Wir betrauern den Tod von
HAROLD MICHELANGELO POLINO
Geb. am 22. 3. 2216 Heimgegangen am 16. 3. 2237
Er bleibt in unserer steten Erinnerung.
Die Exequien werden am Samstag, dem 18. März, in der
Kathedrale vom Hl. Herzen, Fresno, gehalten. Die Beisetzung
findet anschließend in aller Stille statt.
Die Bestattung wird ausgerichtet von Hanarihan-Bestattungen,
470 Sutter Street, Fresno. Pietätvolle Bestattungen seit 2218.
Sie war überrascht, festzustellen, daß Hal Polino religiös gewesen war. Nicht daß sie das etwa mißbilligt hätte. Sie selbst besuchte hin und wieder die nichtkonfessionellen Gottesdienste, die jeden Sonntag in der kleinen Kapelle der Basis abgehalten wurden – aber weniger aus Überzeugung als um die gesellschaftliche Form zu wahren. Religion war etwas, das außerhalb ihres Fachgebietes lag. Jetzt war sie dankbar dafür, daß Hal Katholik gewesen war, denn Angehörige seiner Konfession genossen das Privileg einer Erdbestattung in einem Sarg aus schnell zerfallendem Material. Irgendwie fand sie es tröstlich, zu wissen, daß Hals aufrecht stehendes Skelett noch eine Weile im Schoß der Erde ruhen würde. Seine Gebeine würden sein Denkmal sein, und solange wie Freda Caron lebte, würde auch ein Stück von seiner Seele weiterleben. Die winterlichen Hügel würden ein wenig grüner für sie sein, die Berge majestätischer und ihre Tulpen ein wenig goldener, weil Hal Polino einmal auf dieser Erde gewandelt war. Dieser plötzliche Anflug von Poesie brachte ihr den Verlust Hals wieder schmerzlich zu Bewußtsein, und ein Gefühl tiefer Traurigkeit schnürte ihr fast die Kehle zu. Sie wandte den Blick von der Todesanzeige und begann, leise und versonnen einen von Hals eigenen Versen vor sich hinzumurmeln, dessen Worte ihr im Gedächtnis geblieben waren: »Nun rühme dich, Tod, denn in deiner Hand liegt ein Jüngling, der seinesgleichen sucht.« Als sie weitereilte, schoß ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Die Prophezeiung am Schwarzen Brett des
Frauen-Aufenthaltsraums hatte die Iden des März als Tage des Unglücks vorausgesagt. Und genau an dem Tag waren die Weichen für die Ereignisse gestellt worden, die letztlich zu Hals Tod geführt hatten. Das Orakel hatte sich doch nicht geirrt!
Am Samstagmorgen war es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Ein Santa Ana blies aus der Mojave herüber, und Freda entschloß sich, für die Beerdigung leichte Kleidung anzuziehen. Sie wählte einen schwarzen Rock und die weiße Bluse, deren weiter Kragen über den schwarzen, mit weißen Bändern besetzten Schulterumhang fiel, der vorn von zwei großen weißen Knöpfen zusammengehalten wurde. Dazu trug sie einen weißen Pillenschachtelhut, dessen schwarzer Spitzenbesatz eine Art Schleier vortäuschte, und dazu passende weiße Netzhandschuhe. Als sie sich vor dem Spiegel drehte, konnte sie Hal förmlich sagen hören: »Bezaubernd, Freda. Wirklich ganz bezaubernd.« Sicherlich hätte sie ihm als Trauernde sehr gefallen. Sie erschien bewußt als eine der letzten in der Kathedrale. Trauerfeiern waren ein Tummelplatz für Emotionen, und jede Art von Gefühlsseligkeit deprimierte sie, erst recht, wenn jemand beerdigt wurde, der jung gestorben war. Einmal im Innern der Kathedrale, fühlte sie sich peinlich blond und deplaziert unter all den tränenschwer die Nase rümpfenden Trauergästen. Ihr größter Trost war, daß Platinkopf, der in offizieller Funktion der Trauerfeier beiwohnte, sich wahrscheinlich noch unbehaglicher fühlte als sie. Begreiflicherweise – wenn auch nicht für sie – wurde die Zeremonie in lateinischer Sprache abgehalten und hielt sich, was ihren Umfang betraf, erfreulich in Grenzen.
Fredas Ohren hatten sich kaum an den unverständlichen Wortschwall gewöhnt, als der in einer prachtvollen Robe steckende Priester auch schon seinen Weihwasserstab über dem Sarg schwenkte und diesen, für Freda ein wenig verblüffend, mit Sand besprenkelte. Wohl, wie sie sofort schloß, aus Rücksicht auf die hohe Löslichkeit des gepreßten Sodanitrats, aus dem der Sarg bestand. Sodann knieten die Trauernden nieder, sprachen ein Gebet, nestelten noch einen Augenblick stumm an ihren Rosenkranzperlen, und die Trauerandacht war zu Ende. Sie wartete, bis Dr. Gaynor die Kathedrale verlassen hatte. Dann ging sie ebenfalls hinaus. Draußen blieb sie noch einen Moment auf der obersten Stufe des Hauptportals stehen und schaute hinaus auf das Gras und die Bäume mit ihrem jungen, zarten Frühlingslaub. Heute wäre der Tag ihrer Verabredung im Mexicali-Café gewesen, vor der sie sich so gefürchtet hatte, aber daß sie dieser Sorge nun auf so tragische Weise enthoben war… Das einzig »Positive« an Hals Tod war, daß sie nun bei der Hochzeit mit Paul guten Gewissens ein weißes Kleid tragen durfte. Schön, da war diese Sache mit Clayborg gewesen, aber das konnte sie eigentlich nicht mitrechnen. Sie war zwar juristisch in solchen Dingen nicht sonderlich bewandert, aber sie fand, daß man eine Frau eigentlich nicht für eine Liaison zur Rechenschaft ziehen konnte, bei der sie überhaupt nichts gefühlt hatte. Und wenn sie es genau überlegte, war sie ja nicht einmal sicher, ob es bei ihrer Begegnung mit Hans überhaupt zum Letzten gekommen war. Sie war viel zu betrunken gewesen, um sich an mehr erinnern zu können, als daß er sie sehr zärtlich unter die Dusche gestellt hatte – und zu einem echten Stelldichein gehörte doch wohl etwas mehr als bloß Zärtlichkeit, falls diese Französin in der Kongreßbücherei recht gehabt hatte. »Ganz entzückend, Dr. Caron«, sagte eine
Stimme direkt hinter ihr. »Schwarz steht Ihnen ganz hervorragend.« Sie drehte sich um und schaute direkt in das Gesicht Peter Henleys, der mit hüpfendem Adamsapfel und glutroten Ohren dastand und sie angrinste. Sicher hatte er sich, als sie gedankenverloren dagestanden hatte, auf Zehenspitzen an sie herangepirscht. »Guten Morgen, Mr. Henley.« »Zu traurig, die Sache mit Hal.« »Früher oder später trifft es jeden von uns«, tröstete sie ihn. »Bei neunundneunzig von hundert Toten mag einen dieser Gedanke ja trösten«, erwiderte Henley, »aber nicht bei dem Hals. Hal hatte etwas zu geben.« »Darauf können Sie Gift nehmen«, antwortete Freda. »Und etwas zu bekommen!« Der Australier musterte die Bäume und schüttelte den Kopf. »Er wollte es unbedingt probieren, gegen meinen Rat. Ich hatte das Gefühl, daß er die Experimente so schnell wie möglich durchziehen wollte, um mich aus der Stadt zu kriegen, aber die verdammten kleinen Biester haben ihn erledigt. Es bringt eben nichts, wenn man zu hastig ist.« »Der Leichenbeschauer sprach von einer natürlichen Todesursache. Er sagte, Hal sei an einer Gehirnblutung gestorben.« »Er starb an einer Gehirnblutung. Die Ursache waren Hochfrequenzschallwellen, die gebündelt auf seinen Thalamus trafen«, erklärte Peter. »Wollen Sie etwa die Tulpen des Mordes bezichtigen?« tat Freda überrascht. »Aber nicht doch!« Henley starrte sie verblüfft an. »Wie sollte ich Mordanklage gegen ein verdammtes Tulpenbeet erheben können?«
»Da haben Sie recht«, pflichtete sie ihm bei, »besonders, wenn Sie unbefugt eine Untersuchung in einem Forschungszentrum der Regierung durchführen.« »Glücklicherweise bin ich nicht hierhergeschickt worden, um etwas vor Gericht zu beweisen«, erwiderte er. »Mein Auftrag lautete, es lediglich Ihnen zu beweisen.« »Sie sind beauftragt worden? Von wem?« »Clayborg.« »Hans?« »Ja.« »Woher diese plötzliche Aufmerksamkeit seitens eines Mannes, der es nicht einmal für nötig hält, meine Korrespondenz zu beantworten?« »Clayborg ist ein Denker… kein Schreiber.« »Sie sagen, Sie hätten einen Beweis?« »In meiner Höhle, fünf Blocks nördlich von hier. Aber ich bin zu Fuß.« »Ist das auch wieder so ein Grant-Clayborg-Verfahren, eine Frau in Ihre Wohnung zu locken?« fragte sie zickig. »Nichts dergleichen!« versetzte Henley bissig. »Sie brauchen sich dort um die Sicherheit Ihrer Tugend keine Sorgen zu machen.« Seine Seitenruder hatten, wie sie jetzt bemerkte, wieder ihre normale Farbe angenommen. Sein Adamsapfel hatte sich auch wieder beruhigt. Entweder hatte Henley sich tatsächlich wieder entspannt, oder das Ganze war ein Teil der berüchtigten unlogischen Vorgehensweise. Noch vor zwei Monaten wäre sie ihm bedenkenlos in seine Wohnung gefolgt, aber Hal hatte ihr gesagt, daß tief in ihrem Innern eine Frau steckte – von dem kleinen Mädchen, das ebenfalls in ihr steckte, hatte sie bereits vorher gewußt –, und nun, wo er nicht mehr war, wollte sie diese Frau ganz gerne für Paul aufsparen. Andererseits, wenn Clayborg mit der Sache zu tun hatte, mußte sie sich etwaiges Beweismaterial gegen die Tulpen sichern, bevor er es
zu sehen bekam. »Na schön«, sagte sie entschlossen, »ich fahre Sie hin.« Er hatte kaum neben ihr im Beifahrersitz Platz genommen, als er auch schon anfing, Süßholz zu raspeln. Zumindest faßte Freda es als solches auf. »Hal war ganz schön verknallt in Sie, aber da sage ich Ihnen sicher nichts Neues.« »Ganz recht. Ich schloß es freilich weniger aus seinen Worten als aus seinen Gesten.« »Er sagte, Sie hätten einen außergewöhnlichen Sinn für Humor.« »Ist das alles, was er außergewöhnlich an mir fand?« »Jedenfalls alles, worüber ich in gemischter Gesellschaft rede.« »Mein Sinn für Humor ist ein Schutzschild«, sagte sie, »und mein Witz ist mein Degen. Lassen Sie uns also besser nicht über Persönliches diskutieren, Mr. Henley. Sie sind verwundbar.« Er hat noch andere verwundbare Zonen, dachte sie, während sie den Wagen in die angezeigte Richtung steuerte. Seine Ohren standen viel zu weit ab. Sollte er es mit einem Direktangriff versuchen, würde sie sie ihm langziehen. Henleys Wohnung befand sich im zehnten Stock eines Apartmenthochhauses, dessen Foyer neben einem Sofa eine plastikgerahmte Lithographie mit einer Wüstenszene zierte. Neben dem Eingang stand eine künstliche Zierstaude in einem Styroporkübel, dessen Anstrich die Illusion von Terrakotta erwecken sollte. Henley führte sie durch das Foyer und drückte auf den Aufzugsknopf. Gleich darauf näherte sich der Fahrstuhl mit vernehmlichem Seufzen, und die Tür glitt sirrend auf. Den starken Desinfektionsgeruch, der ihnen beim Betreten des Fahrkorbs entgegenschlug, kommentierte Henley mit einem achselzuckend gebrummten »Wermutbrüder.« Die Fahrt endete vor einem tunnelartigen Korridor, an dessen Ende ein dreiräumiges Apartment lag, dessen Lage den Australier nach Fredas grober Schätzung mindestens fünfzig Cent pro Monat
extra kostete. In allen drei Zimmern bot sich ihr das gleiche Bild genialer Unordnung. Henley hatte über dem Kaffeetisch noch einen Kartentisch aufgestellt, um seine elektronischen Gerätschaften unterbringen zu können. Doch offenbar hatte auch die Miteinbeziehung des Fußbodens seinen Kampf um Stauraum nicht zum erhofften Sieg führen können, wie die mit Röhren vollgepackten Stühle und Kabelrollen auf dem Sofa verrieten. Sämtliche Anschlüsse an den zahllosen Geräten mündeten in einem medusengleichen Wirrwarr von Drähten, Verbindungs- und Doppelsteckern unter dem Schirm der einzigen Stehlampe. Trotzdem nahm sie an, daß er sehr sparsam mit Strom umging, denn beim Eintreten hatte er als einzige Beleuchtung eine trübe Vierzig-Watt-Deckenlampe angeknipst. Sie wartete, bis ihr Gastgeber den einzigen Sessel von den Einzelteilen eines auseinandermontierten Lautsprechers befreit und die Sitzfläche in weltmännischer Manier mit seinem Taschentuch abgestaubt hatte. Dann nahm sie die Hand, die er ihr bot, um sie bei ihrem Hindernislauf zum Sessel über die am Boden liegenden Drähte zu unterstützen. Als sie sich umdrehte und in den Sessel sinken ließ, konnte sie in Henleys Schlafzimmer sehen. Auf dem Bett stapelten sich diverse Lattenkisten. Sie atmete auf. Er hatte recht gehabt: In diesem Apartment brauchte sie bestimmt keinen Angriff auf ihre Tugend zu befürchten, es sei denn, er hängte sie an einen Wandhaken. »Jetzt weiß ich auch, warum Sie das hier Ihre Höhle nennen«, sagte sie. »Sie müssen sich jedesmal erst wie ein Maulwurf vorwärtsgraben, wenn Sie raus oder rein wollen.« »Ein schönes Chaos, ich weiß, aber Montag ziehe ich ja wieder aus.« »Im wahrsten Sinne des Wortes«, pflichtete sie ihm bei, »wenn man an all die Stecker denkt. So, Sie behaupten also,
Sie hätten den unumstößlichen Beweis dafür gefunden, daß die Tulpen miteinander sprechen können?« »Kein Beweis ist unumstößlich, Ma’am. Wenn jemand morgens um vier mit einem Ziegelstein das Schaufenster eines Juweliers einschmeißt, muß er nicht unbedingt ein Einbrecher sein. Er könnte ebenso ein Handballspieler sein, der sich für das kommende Match aufwärmen will.« Während er sprach, stelzte er über die diversen Gerätschaften hinweg zum Fenster und 20g die Rollos herunter, so daß der Raum jetzt lediglich von der trüben Funzel erhellt wurde. »Ich habe die Bänder, die Sie jetzt hören werden, überarbeitet und zusammengeschnitten. Der Kasten da neben dem Fernseher verwandelt die Bildröhre in ein Spektrogramm. Auf diese Weise können Sie die Bänder gleichzeitig betrachten, während Sie sie über den Lautsprecher des Fernsehers anhören. Die Formeln und Daten dazu schicke ich Ihnen Montag, damit Sie sie zu Ihren Unterlagen legen können. Dann kann Ihre Akustikabteilung sie ja auswerten… Achtung, es geht los!« Henley schaltete den Fernseher ein. Der Bildschirm leuchtete auf, während gleichzeitig das Tonbandgerät zu laufen begann. Ein leises, auf- und abschwellendes Summen drang aus dem Lautsprecher, und eine schwarze Linie lief zickzackförmig über den Bildschirm. »Ich habe die Tonhöhe verringert und die Frequenz so weit verlangsamt, daß Sie den Ton gleichzeitig sehen und hören können.« Sowohl das Bild als auch der Ton wiederholten sich regelmäßig. Es hörte sich an, als ob jemand rhythmisch das Blatt einer Handsäge hin- und herbiege. »Klingt irgendwie nach Griechisch«, sagte Freda. »Mehr nach Chinesisch«, korrigierte er sie. »Die grammatische Struktur ähnelt dem Chinesischen. Aber hören Sie weiter.« Plötzlich veränderten die Linien auf dem Bildschirm ihr Muster. Laut und vernehmlich hörte sie, wie ihre eigene Stimme »Hal Polino« sagte.
»Die Mikros haben meine Stimme aufgenommen!« »Nicht auf diesen Frequenzen, Ma’am.« Im selben Moment hörte sie ein Knackgeräusch, und das »Chinesisch« aus dem Lautsprecher verwandelte sich in ein aufgeregtes Schnattern, das in ihren Ohren fast wie Suaheli klang. Als das Suaheli kurz darauf wieder in säuselndem Chinesisch verebbte, erläuterte Henley: »Die Tulpen benutzten Ihren Namen für Hal, sogar Ihre Stimme. Als er in den Garten kam, gab eine Tulpe ein Warnsignal. Die erhöhte Frequenz, das ›Schnattern‹, bedeutet soviel wie Furcht oder Alarmbereitschaft, selbst in der Sprache der Karnickel. Aber hören Sie, was jetzt kommt!« Das Stakkato hatte sich jetzt wieder vollkommen gelegt. Erneut veränderte sich das Muster, und plötzlich hörte sie, wie klar und deutlich das Wort »Freda« aus dem Lautsprecher drang. Es war eindeutig Hals Stimme, jedoch in einer weiblichen Version. Ihr Name löste jedoch im Gegensatz zu dem Hals kein ängstliches Geschnatter aus. Im Gegenteil, der Singsang der Tulpen wurde ruhiger und rhythmischer. »Ihre Anwesenheit beruhigt sie«, erklärte Peter. »Sie sind ihre Mutterfigur. Sie konnten zwar ihre Laute nicht hören, aber dafür konnten Sie ihre Liebesbekundungen als angenehme Vibrationen an den empfindlichen Stellen Ihres Körpers wahrnehmen.« Während sie noch gebannt lauschten, schaltete sich das Band mit einem leisen »Klick« ab. Der Bildschirm erlosch. »Dieses Band wurde Dienstag aufgenommen, am Anfang des Experiments«, erläuterte Henley, während er die Spulen austauschte. »Bis letzten Dienstag waren die Tulpen allmählich so weit, daß Hals Anwesenheit sie beruhigte. Sie hatten ihn als Vaterfigur akzeptiert. Von da an begann er sich sicher zu fühlen. Aber er war nicht sicher«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, während er eine neue Spule einlegte. »Die nächsten Aufnahmen stammen von einzelnen Tulpen. – Sie
werden die männlichen deutlich von den weiblichen unterscheiden können. Bedenken Sie, Doktor, was beim Abspielen Sekunden dauert, sind in Wirklichkeit Tausendstelsekunden… Dieses Band hier habe ich aus denen zusammengeschnitten, die Sie mir Donnerstagmorgen geschickt haben und die vom Linguistischen her gesehen das Interessanteste sind, weil sie unmittelbar vor Hals Tod aufgenommen wurden.« Er stellte das Tonband an, und sofort kam der nun schon vertraute Singsang aus dem Lautsprecher, begleitet von den zuckenden Linien auf dem Bildschirm. Nach wenigen Augenblicken schwoll das rhythmisch pulsierende Summen plötzlich zu einem grellen Wimmern an. Als es seinen Höhepunkt erreichte, verengten sich die Zickzacklinien auf dem Bildschirm zu einem schmalen Strich, kaum breiter als der eines Bleistifts, um gleich darauf, als das Wimmern erstarb, wieder in die gewohnte Breite auszuschwingen. »Die erste Breitseite aus dem Heuler«, kommentierte Peter. »Achten Sie jetzt genau auf die Reaktion der Tulpen.« Als seien sie bestrebt, es mit dem Heuler aufzunehmen, kreischten die Tulpen wild schnatternd auf, was sich auf dem Bildschirm sofort in einer deutlichen Verengung der Frequenzlinie niederschlug. Mehrmals hintereinander hörte sie, verschwommen zwar, doch unverkennbar, »Hal Polino… Freda« aus dem aufgeregten Stimmengewirr der Tulpen heraus. Danach verebbte das Geschrei zu einem Wimmern, das erneut zu einem Höhepunkt anschwoll und schlagartig verstummte. »Ich spiele Ihnen jetzt die Reaktion einer einzelnen männlichen Tulpe auf den zweiten Heulton vor«, sagte Henley rasch. Klar und deutlich, und überraschenderweise in einem Bariton, sagte ihre eigene Stimme: »Hal Polino.« Die Endgültigkeit, die in dieser Stimme lag, ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen, und es half wenig, daß
Henley mit australischer Kaltblütigkeit kommentierte: »Er trifft eine Wahl. Hätte er gesagt ›Freda‹, dann würde ich statt mit Ihnen jetzt mit Hal hier sitzen und dieses Band anhören… Achtung, jetzt fängt der dritte Heulton an.« Erneut schwoll das Wimmern an, erreichte seinen Höhepunkt, und erstarb. »Ich spiele jetzt alle Spuren gleichzeitig ab. Hören Sie gut hin.« Zuerst war völlige Stille. Dann hörte sie aus dem rechten Lautsprecher eine Stimme sagen: »Hal Polino«, und sofort darauf aus dem linken, wie ein Echo, die Stimme eines anderen Männchens: »Hal Polino.« Danach erneut tiefe Stille. Sie kam Freda vor wie die unheimliche Stille nach dem ersten Türenquietschen in der Nacht, und sie fühlte sich wie eine zu Tode erschrockene Schläferin, die aufrecht im Bett sitzt, auf die Tür starrt und spürt, wie die Angst den Schrei in ihrer Brust erstickt. Der Bildschirm war leer. Sie wartete. Ganz plötzlich, mit einem Geräusch, als risse jemand ein Streichholz an, zuckte ein schwarzer Strich quer über den Bildschirm. Danach wieder Totenstille. Der Bildschirm war weiß und leer. Freda saß totenblaß da, am ganzen Leibe zitternd, tief getroffen von dieser fast unterbewußten Vision eines plötzlichen Todes. »In einem ironischen Sinn«, sagte Peter Henley, während er das Band abschaltete und zum Fenster ging, um die Rollos wieder hochzuziehen, »sind Sie gerade Zeuge geworden, wie ein Strauß Blumen einen Menschen pflückt. Hal wäre nichts passiert, wenn er nach dem zweiten Mal aufgehört hätte. Als er das Ding aber zum dritten Mal laufen ließ, wußten die Tulpen nicht, wann es aufhören würde. Zwei Männchen am äußeren Rand des Schallkegels konzentrierten sich auf ihn und orteten ihn – ob visuell, mit irgendwelchen Röntgenstrahlen oder Wärmesensoren, können wir nicht genau sagen – und dann bliesen ihm die anderen mit geballter Kraft das Lebenslicht aus.«
Er ließ die Rollos hochschnellen, drehte sich auf dem Absatz herum und stelzte über den Plunder zu ihr zurück. »Die Stille, bevor sie ihm den Todesstoß versetzten, ist dadurch zu erklären, daß sie Kraft sammelten. Die Stille danach, daß sie sich von der Anstrengung erholten. Besonders interessant – vom linguistischen Standpunkt her – war ihre Aufregung und der Streit unmittelbar nach dem ersten Heulton. Da ich weiß, was sie vorhaben, kann ich jetzt ziemlich genau ihre Sprache analysieren und ausrechnen – wenn auch vorerst nur rein mathematisch. – Aber das reicht ja schon für Ihre These. Wenn ich Ihnen Montag die Formeln schicke, lege ich Hals Gesuch, die Tulpen auszumerzen, gleich mit dazu.« »Aber Hal liebte die Tulpen!« »Ich weiß. Aber ich hätte ihm den Heuler nicht gegeben, wenn er nicht vorher ein entsprechendes Empfehlungsschreiben unterzeichnet hätte. Die Tulpen waren dabei, ihn völlig einzuwickeln, indem sie seine Vatergefühle aktivierten, genau wie sie Sie bei Ihren Muttergefühlen kriegten. Noch eine Woche, und sie hätten Sie und ihn soweit gehabt, daß Sie zusammen Mutter und Kind gespielt hätten. Hal sah das nicht, er war einfach nicht die Sorte von Denker, die so was erkennt. Aber ich bin sicher, daß Sie es gespürt haben.« Das habe ich in der Tat, dachte sie. Mit Regelmäßigkeit und wachsender Begeisterung. Aber sie sagte: »Wann wollen Sie es Clayborg erzählen?« »Ich erstatte Ihnen Bericht, Doktor Caron. Niemand erzählt Hans Clayborg irgend etwas. Die hören bloß zu. Und lassen Sie sich nicht täuschen wegen seines Reinfalls im Senat. Er kriegt seine Leute nach Flora, und wenn er sie mit der jordanischen Raummarine dahinschmuggeln muß.« Er steckte die beiden Bänder in einen Versandbehälter, den er unter einem Lautsprecher hervorzog und gab sie ihr. »Schicken Sie die Bänder ganz offiziell auf dem Dienstweg zurück, mit
der Bitte um nochmalige Auswertung. Linguistik wird sich fügen, und Gesundheit, Erziehung und Soziales wird ein paar Fragen stellen, wie: Warum wurden die verdammten Bänder nicht schon beim ersten Mal richtig ausgewertet? Und dann krieg’ ich mächtig eins drüber.« »Wird das Ihre Karriere nicht beeinträchtigen?« »Was bedeutet schon meine verdammte Karriere, wenn die Ökologie der Erde auf der Kippe steht? Jedenfalls, wenn der Boß mich runtermacht, dann wird er sich noch umgucken, wenn er plötzlich einen Känguruhtritt verpaßt kriegt, wie wir bei uns in Australien sagen.« »Was ist denn das, ein Känguruhtritt?« »Ein Tritt auf die Birne, den man einem früheren Vorgesetzten verpaßt, wenn man ihn in der Hierarchie um eine Stufe überspringt… So, Doktor, jetzt lassen Sie mich Ihnen wieder aus dem Gewurstel hier heraushelfen. Ich will Sie ja nicht drängen, aber die Beerdigung hat mich einen Tag gekostet, und ich habe noch eine Menge zu tun.« »Werden Sie den Mord an Hal melden?« Henley schien über ihre Frage verblüfft. »Mein Gebiet ist die Linguistik, nicht die Aufklärung von Morden. Ich habe alle Hände voll damit zu tun, ihren Kode zu entziffern. Wenn Sie vorhaben, die Bänder als Beweismaterial für eine Mordanklage zu verwenden, können Sie es gleich wieder vergessen. Zusammengeschnittene Bänder werden als Beweismittel bei Kapitalverbrechen nicht zugelassen. Aber vielleicht könnten sie Hals Eltern ein nettes Sümmchen einbringen, wenn sie in einem Zivilverfahren auf Schadenersatz klagen. Außerdem«, fuhr er fort, als sie aus dem Kabelgewirr heraus war und vor der Eingangstür stand, »war es kein Mord. Wie Hal richtig vermutete, sind die Tulpen intelligente Individuen, die als Einheit operieren. Und sie können nicht eine ganze Armee für den Tod eines einzelnen Feindes zur Verantwortung
ziehen, besonders dann nicht, wenn die Armee nicht aus purer Mordlust angreift, sondern gereizt wurde… Ich bringe Sie noch runter auf die Straße. Heutzutage sind Frauen in Häusern ja nicht mehr sicher.« Auf dem Weg nach unten fragte sie: »Glauben Sie, daß Hal ein Genie war?« Er überlegte einen Moment. »Nein. Dazu war seine Methodik zu schwach. Sie könnten ein Genie sein. Ich könnte auch eins sein. Hans Clayborg ist ohne Zweifel eins.« Als sie durch das Foyer gingen, fügte Henley seinen Gedanken noch ein Postskriptum hinzu: »Hal war was Besseres. Er war der letzte Vertreter der Renaissance.« Freda aß in Fresno zu Mittag. Eine brütende Hitze lag über der Stadt, und sie stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Das vielstimmige Geplapper einiger Hausfrauen am Nebentisch ließ langsam ihren Sinn für die Wirklichkeit wiederkehren. Der Gedanke an die Geräusche aus dem Lautsprecher ließ ihr noch nachträglich Hitzewellen über den Rücken laufen, und sie fröstelte gleich darauf wieder bei dem Gedanken an die Eiseskälte eines Australiers, der das Leben eines Jungen weniger wichtig fand als die linguistischen Hinweise, die sein Tod zum Vorschein brachte. Sie erstickte am empirischen Pragmatismus.
Als sie das Restaurant verließ, stand das Thermometer auf sechsunddreißig Grad, und die Temperatur stieg immer noch. Es sei der heißeste 18. März, seit man die Temperatur regelmäßig aufzeichne, sagte der Nachrichtensprecher in ihrem Autoradio, als sie auf den Parkplatz der Basis einbog. Sie floh zum Gewächshaus, um Hals letzte Notizen zur Untersuchung über pflanzliche Kommunikation zusammenzustellen. Freda war gerade dabei, die Monographie in den Bürosafe zu legen, als eine Explosion das Gewächshaus erschütterte. Im
ersten Moment glaubte sie, die Tulpen hätten angegriffen, aber ein heißer Luftstrom aus der Ecke des Gewächshauses lenkte ihren Blick auf ein riesiges Loch im Dach. Das Summen der Klimaanlage, die vergeblich gegen den übermächtigen Schwall heißer Luft ankämpfte, stellte ihren Glauben an die Normalität wieder her. Ein plötzlicher Schreck durchfuhr sie. Das Summen war vorher nicht dagewesen! Böses ahnend, sah sie sich erneut die Klimaanlage an. Der Schalldämpfer über dem Kondensator war verschwunden! Er war durch das Dach geflogen! Freda reagierte auf diese Krise mit derselben Ruhe, mit der sie auch auf Hals Tod reagiert hatte. Sie ging zum Telefon und rief den technischen Dienst an. »Hier spricht Dr. Caron, Gewächshaus fünf. Der Schalldämpfer meiner Klimaanlage ist durch das Dach geflogen.« »Scheiße«, klang es müde vom anderen Ende der Leitung. »Gut, Dr. Caron. Ich schicke Ihnen ein paar Leute rüber, die das Dach reparieren, aber ich weigere mich, den Schalldämpfer wieder auf den Kondensator zu setzen. Irgendein Depp ist im Januar mit dieser Schnapsidee gekommen… Gut, Dr. Caron, ich schicke Ihnen die Leute rüber, aber bleiben Sie bloß von den anderen Gewächshäusern weg.« Mit einem tiefen Seufzer erinnerte sich Freda an ihren doppelten Triumph an der Vorschlagsbox im Januar. Sie zuckte müde die Achseln und ging zur Tür hinaus. Ganz unten am Ende des Hügels hörte sie das Dach von Gewächshaus zehn in die Luft fliegen. Oder war es neun? Schwer zu sagen, aber es spielte auch keine Rolle mehr, denn Sekunden später donnerte es wie ein rollendes Sperrfeuer den Hügel hinauf und hinunter, als ein Dach nach dem andern zerbarst. Vor ihren Augen ging in diesem Augenblick das Dach von Nummer sechs hoch. Der schwere, mit Asbest ausgekleidete Kasten segelte mit lautem Klirren durch das Dach, flog zehn Meter in
die Höhe und krachte an einer anderen Stelle wieder hinein. Freda drehte sich um und ging langsam wieder zu ihrem Gewächshaus zurück. Rechnete man 228 Dollar pro Scheibe, und ging man davon aus, daß pro Gewächshaus durchschnittlich eineinhalb Scheiben zu Bruch gegangen waren, dann kostete das Ganze 5010 Dollar, die Arbeitszeit nicht mitgerechnet. Ihre beiden Vorschläge hatten das Amt somit 5010 Dollar an Reparaturen und einen vielversprechenden, graduierten Studenten gekostet. Vielleicht hatte Gaynor mit seiner Vermutung, daß sie sich nicht zur Verwaltungskraft eignete, doch recht gehabt. Ihre Zukunft sah jedenfalls alles andere als rosig aus. Sie lächelte grimmig. Humor war eine wunderbare Waffe gegen Unglück, aber es strengte einen auf die Dauer an, dieses Lächeln auf dem Schleudersitz.
Im Gewächshaus war es wegen der Hitze nicht auszuhalten, auch wenn zum Glück keine der Pflanzen in Gefahr war. Also ging denn Freda gleich auf ihr Zimmer zurück, um an ihrem Teil der Monographie weiterzuarbeiten. Bis auf die Daten, die sie noch von Henley bekommen würde, stellte sie die Untersuchung über pflanzliche Kommunikation noch am selben Abend fertig. Sie schloß die Arbeit mit dem Satz: »Ich möchte hiermit meinem tiefen Bedauern über den plötzlichen Tod des Ko-Autors dieser Abhandlung, Harold Michelangelo Polino, graduierter Student der zoologischen Botanik, Ausdruck verleihen. Er starb am Vorabend ihrer Publikation.« Sie war fast besessen von dem Drang, die Zeile »gemordet in Ausübung seiner Pflicht« hinzuzusetzen. Sie gönnte Papa Polino ja von ganzem Herzen einen angenehmen, materiell gut abgesicherten Lebensabend, aber nicht um den Preis der Ausrottung der Caron-Tulpen.
Menschliche Bedürfnisse waren vergänglich. Schönheit aber war von ewiger Dauer. Als sie am Montagmorgen beim Frühstück saß, blieb Dr. Gaynor zum ersten Mal nach zwei Wochen wieder an Fredas Tisch stehen, um ihr einen guten Morgen zu wünschen. »Nun, Dr. Caron, es sieht so aus, als hätten unsere Schalldämpfer wohl doch nicht ganz die Erwartungen erfüllt, die wir in sie gesetzt haben. Allein der Glasschaden hat mit über zehntausend Dollar zu Buche geschlagen, und das ausgerechnet auf dem Höhepunkt meiner Sparwelle… Nun ja, man lernt eben nie aus.« Er entfernte sich kichernd. Die Genüßlichkeit, mit der er diese abgedroschene Phrase auf seiner Zunge hatte zergehen lassen, erfüllte sie mit Unbehagen. Diese unverhohlene Schadenfreude war etwas Neues an ihm; er hatte es sogar fertiggebracht, seinem Kichern noch etwas Drohendes zu verleihen. Sie kam an diesem Morgen erst ziemlich spät ins Gewächshaus. Sie mußte erst noch ins Sekretariat, um sich für die Zeit, bis ihr eine neue studentische Hilfskraft zugeteilt würde, eine vorübergehende Bürohilfe auszusuchen. Von den vieren, die ihr vorgestellt wurden, wählte sie ein dunkelhaariges Mädchen namens Jacqueline Manetti aus, dessen braune Augen sie irgendwie an Hal erinnerten. Sie sollte, wie der Sekretariatsvorsteher ihr versicherte, »phantastisch schnell« beim Aufnehmen eines Diktats sein. Getrieben von dem unergründlichen Lächeln auf dem Gesicht Dr. Charles Gaynors, machte Freda gleich darauf einen zweiten Abstecher – in den Frauenaufenthaltsraum. Und ihre Sibylle hatte sie nicht enttäuscht. Quer über dem Schwarzen Brett prangte in unübersehbaren, staksigen Lettern: »Freda, jenseits dieser Stätte des Zorns und der Furcht lauern nur noch
die drohenden Schrecken von Big H… Einer, der es gut mit dir meint.« Big H war das Slangkürzel für Houston, Texas, und die drohenden Schrecken waren das neuropsychiatrische Institut für seelische Leiden. Nominell war das Institut zwar für die Behandlung von Krankheiten reserviert, die auf unmittelbare Weltraumeinflüsse zurückzuführen waren, aber die NASA ließ entgegenkommenderweise auch jene Personen in den Genuß ihrer medizinischen Einrichtungen kommen, die – obzwar nicht direkt der Raumbehörde unterstellt – im weitesten Sinne an extraterrestrischen Projekten mitwirkten. Gaynor plante also, sie auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen und – oh, was für ein hinterhältiger Trick. Wenn er sie fristlos entließ, gestand er damit ein, einen Fehler begangen zu haben, als er ihr eine Leitungsfunktion übertragen hatte. Und die erste Regel eines Verwaltungsbeamten bestand darin, anderen die Schuld an eigenen Fehlern in die Schuhe zu schieben. Gaynor versuchte also nun, eine Störung in Fredas Psyche für den Fehler verantwortlich zu machen. Endlich im Gewächshaus angekommen, stellte sie fest, daß das Dach wieder repariert war und die Klimaanlage schamlos und nackt gegen den Santa Ana ansummte. Sie ging in das Tulpenfeld, um das B-Beet zu inspizieren. Ein Blick genügte, um festzustellen, daß die Tulpen vorzeitig ihre Ladung abgefeuert hatten – zweifellos wegen der Wochenendhitze. Aber wieso schwärmten die Wespen über den D- und EBeeten? Neugierig ging sie näher heran, um dem Phänomen auf den Grund zu gehen. D und E hatten ebenfalls abgeschossen, und Auffangbeete waren bisher nur für B angelegt worden. Die Hitze hatte den Keimungsprozeß der Pflanzen offenbar erheblich beschleunigt, aber wohin waren die Samen geflogen? Eine rasche Untersuchung der mit K und L bezeichneten und zur Aufnahme der B-Samenkörner
angelegten Beete ergab, daß die Wespen den Samen nicht nur in geometrischer Ordnung eingepflanzt hatten, sondern daß er inzwischen auch aufgegangen war und eine Höhe von zweieinhalb Zentimetern erreicht hatte. Nicht nur der Keimungsprozeß war durch die Hitze beschleunigt worden, sondern auch die Wachstumsgeschwindigkeit. Sie begann sich Sorgen um die Samen von D und E zu machen. Ohne Zweifel hatten die Wespen sie irgendwohin ins Gras befördert, wo der Boden noch nicht aufnahmebereit war. Sie ging hinaus auf die Wiese und sah schon von weitem die grün leuchtenden Sprosse Floras zwischen den gelbbraunen Grasbüscheln der Erde hervorschimmern. Und als sie den Blick über das frisch gepflügte Feld der San-Joaquin-Genossenschaft schweifen ließ, gewahrte sie sofort den hellgrünen Schimmer, der sich jenseits des Zaunes in Form eines Alluvialdeltas über den grauen Lehmboden ausdehnte. Die Caron-Tulpen waren auf das Land der Genossenschaft vorgedrungen! Sie lief sofort ins Büro zurück, wählte die Nummer der Gärtnerei und verlangte Mr. Hokada. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie ihn endlich an der Strippe hatte; offensichtlich war in seiner Bude mal wieder ein lustiges Spielchen im Gange. »Mr. Hokada, bringen Sie so schnell Sie können eine Scheibenegge hinter den Zaun und fahren Sie damit bis auf die Höhe von Nummer fünf vor! Die Tulpen sind über das Wochenende explodiert und auf das Genossenschaftsfeld vorgedrungen. Die haben doch hoffentlich noch nicht gesät, oder?« »Nein, Ma’am.« »Gott sei Dank!…Jetzt aber los, Mr. Hokada, und pflügen Sie mir das Zeug unter. Eine Beschwerde von der Genossenschaft ist das letzte, was ich jetzt brauchen kann.« Sie ging zum Schreibtisch und sah Hals Papiere in der Hoffnung durch, irgendwo eine Skizze seiner geplanten Segeltuchwand zu entdecken. Aber sie fand nichts. Jetzt
verfolgt mich Hals mangelnde Methodik sogar noch über seinen Tod hinaus, dachte sie, als sie sich an den Schreibtisch setzte und anfing, die Materialkosten zu überschlagen, die sie für den Zaun brauchte. Als sich die einzelnen Posten langsam herauskristallisierten, verspürte sie fast schon Mitleid, wenn sie sich in Gaynors Haut versetzte. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Sparwelle, wo er sich schon ernsthafte Gedanken über eine mögliche Rationierung des Toilettenpapiers zu machen begann, gingen fünfzehn Gewächshausdächer zu Bruch, und das einstige Paradepferd seines Teams stellte einen Antrag auf zweitausend Quadratmeter Segeltuch, acht mal achtundzwanzig Holzpfähle von mindestens neun Meter Länge, wenn man, wie sie rasch ausrechnete, drei Meter Rammtiefe veranschlagte, vierzig Sack Zement und zweihundert siebenzöllige Nägel. Während sie noch rechnete und den Antrag in die vorgeschriebene Form brachte, damit Miß Manetti ihn abtippen konnte, sobald sie zurückkam, hörte sie schon das tuckernde Motorengeräusch von Mr. Hokadas Scheibenegge, die langsam vom Nordtor her den Hügel heraufkam. Freda legte einen Zettel auf den Antrag, mit der Bitte an Miß Manetti, ihn unverzüglich abzutippen und an das Magazin zu schicken. Durch den Türeingang konnte sie jetzt den Japaner erkennen. Dürr, mit nacktem Oberkörper, den Kopf mit einem breitkrempigen Strohhut bedeckt, saß er auf dem Fahrersitz und steuerte die Maschine hügelan, auf die grünschimmernde Halbinsel zu, die sich jenseits des Zauns erstreckte. Da sie glaubte, er könne aus seinem Blickwinkel nicht die gesamte grüne Fläche überblicken, die sie untergepflügt haben wollte, ging sie hinaus, um ihn zu dirigieren. Zuerst sollte er sich den Streifen unmittelbar hinter dem Zaun vornehmen, sozusagen um die Spuren zu verwischen; den Rest konnte er dann später
bei passender Gelegenheit entfernen, sofern der Santa Ana nicht unvermindert weiterblies – in dem Fall war Eile geboten. Doch offensichtlich konnte er auch so gut genug sehen. Er hielt unmittelbar vor dem östlichen, äußeren Rand der Fläche an und senkte die Scheibenrolle. Freda dachte, daß es für ihn schrecklich heiß sein mußte, oben auf dem stählernen Ungetüm, und als hätte er ihre Gedanken aus der Ferne gelesen, nahm er den Hut vom Kopf und fing an, sich mit der linken Hand frische Luft zuzufächeln. Mit der rechten steuerte er die Egge. Ihr fiel auf, daß Hokada eine etwas eigenartige Art hatte, sich Luft zuzufächeln: Statt in seine Richtung zu schlagen, schien er bemüht, die Luft von sich wegzuschaufeln. Amüsiert schaute Freda ihm einen Moment zu. Doch als sein Arm sich immer schneller bewegte und er den Strohhut in immer größerem Bogen schwenkte, schoß ihr plötzlich ein furchtbarer Verdacht durch den Kopf. Sie rannte zum Zaun und schrie aus Leibeskräften: »Mr. Hokada, kehren Sie um, schnell! Zurück, zurück!« Er schien sie nicht zu hören. Er sprang vom Sitz herunter auf die Erde und schlug wie wild um sich, während die Egge steuerlos auf die grünen Schößlinge zufuhr. In dem grellen Sonnenlicht wurden die Umrisse seines Körpers, je dichter der ihn umwabernde graue Nebel wurde, immer verschwommener. »Laufen Sie weg, Mr. Hokada, nach Norden! Versuchen Sie nicht, sich gegen sie zu wehren! Laufen Sie!« Er hörte sie nicht. Als sie am Zaun ankam, sah sie, wie der graue Nebel sich von seinem leblos daliegenden Körper löste. Es war sehr unwahrscheinlich, daß er sie durch den wütend summenden Wespenschwarm, der ihn zu Tode gestochen hatte, hatte hören können. Die Hände um den Zaunrand geklammert, stand sie wie erstarrt da und sah zu, wie die Maschine nach Süden weiterfuhr, oben auf der Hügelkuppe aufgrund der Schrägneigung langsam nach rechts schwenkte
und mit immer größer werdender Geschwindigkeit den Abhang hinunter auf einen betonierten Entwässerungsgraben zurollte. Freda sah, wie sie über den Grabenrand kippte und hörte aus zweihundert Metern Entfernung das ohrenbetäubende Krachen, mit dem sie auf dem Grund zerschellte. Nur nebelhaft streifte sie der Gedanke, daß eine Maschine dieser Art um die siebzehntausend Dollar kostete, plus-minus zweitausend vielleicht. Ihr Interesse galt in diesem Moment einem anderen Phänomen: Nicht eine Wespe hatte sich der Maschine, die eine Schneise durch den östlichen Rand der Fläche gezogen hatte, genähert. Die Tulpen hatten vorher keine Bekanntschaft mit Mr. Hokada gemacht. Theoretisch hätten sie ihn also nicht von einer Egge unterscheiden können – es sei denn, sie hatten ihn gesehen. Offensichtlich verfügten die Tulpen über die Fähigkeit, ihren Feind visuell wahrzunehmen, und ihr Feind war der Mensch. Freda gab sich einen Ruck und schlenderte zum Büro zurück. Von weitem sah sie Miß Manetti um die Ecke kommen und ins Büro gehen. Als sie auf der Höhe der B-Beete war, blieb sie stehen und warf einen versonnenen Blick auf die sich leise im Sonnenlicht bewegenden Blüten. Die Blumen waren Mütter, die nichts anderes getan hatten, als ihre Kinder zu beschützen, wie es jede Mutter auf der Welt getan hätte. Aber die Muttergefühle, die sie in Freda erweckt hatten, ließen künftige Interessenkonflikte ahnen. Mr. Hokadas Tod hatte den ersten schon heraufbeschworen. Wenn die NASA entdeckte, daß sie exotische Pflanzen schützte, die dem Menschen feindlich gegenüberstanden, dann würde man sie ohne Zweifel unter Mordanklage stellen. Sie konnte den Tod Mr. Hokadas nicht vertuschen. Bevor sie weiterging, ließ sie noch einmal zärtlich ihre Hand über die Blüten gleiten. Sie spürte die Traurigkeit des Abschiednehmens. Alles, was sie jetzt noch für die Blumen tun
konnte, würde sie tun: Sie würde dafür sorgen, daß sie einen friedlichen Tod bekamen. Miß Manetti war noch mit dem Abtippen des Antrags beschäftigt, als Freda eintrat und zum Telefon ging, um den Leichenbeschauer in Kenntnis zu setzen. »Dr. Caron am Apparat. Ich habe hier einen Toten in der Nähe vom Gewächshaus fünf, Ralph Hokada, einen Gärtner.« »Haben wir nicht erst letzten Donnerstag einen Toten bei Ihnen abgeholt, Dr. Caron?« »Ja. Bringen Sie eine Bahre mit. Er liegt vor dem Zaun.« Danach wählte sie die Nummer der Fuhrparkverwaltung, um sie zu informieren, wo sie die demolierte Scheibenegge finden würde, und gleich darauf rief sie den Sicherheitsdienst an und verlangte Kommodore Minor. »Was verschafft mir die seltene Ehre, Freda?« »Verheerung und Verwüstung, Kommodore. Meine Tulpen laufen Amok. Wenn Sie und Kapitän Barron sich die Zeit nehmen könnten, mit mir zusammen Mittag zu essen, erzähle ich Ihnen in Ruhe die Einzelheiten.« »Abgemacht.« »Moment, ich habe noch was auf dem Herzen. Ich bräuchte so schnell wie möglich ein Sprühflugzeug mit zweitausend Litern Formel 256, das meinen Garten und eine kleine Fläche hinter dem Zaun besprüht. Und wie gesagt, ich bräuchte es auf dem schnellsten Wege, Kommodore.« »Im allgemeinen dauert es zwei bis drei Stunden, bis wir eine Maschine hier haben. Sie werden von Zivilisten geflogen, die bei der Navy unter Vertrag stehen. Aber ich denke schon, daß ich es schaffe, bis – sagen wir mal – halb drei eine Maschine zu kriegen. Von Nordwesten her rückt eine Kaltfront an. Sie müßte gegen zwei hier sein, und die zu erwartende Turbulenz könnte vielleicht helfen, dem Piloten das Blei aus der Hose zu schütteln. Ich nehme die Sache sofort in die Hand, aber
vergessen Sie nicht, die Antragsformulare rüberzuschicken, Freda.« Formel 256, erinnerte sich Freda, als sie den Hörer auf die Gabel legte, kostete vierundsiebzig Cent pro Liter. Für vierzehnhundert Dollar konnte man eine Menge Kohlepapier kaufen. Sie konnte nur hoffen, daß Gaynors Sparfimmel Früchte trug, denn wie es aussah, würde sie jeden Cent brauchen, den er einsparte. Während sie den Antrag für die Stenotypistin aufsetzte, fiel ihr wieder ein, daß Peter Henley gesagt hatte, die Tulpen hätten sie über ihren Mutterinstinkt manipuliert und ihre Mama-und-Papa-Spielchen mit Hal seien ein Resultat dieser Manipulation gewesen. Hokadas Tod bestätigte, daß die Pflanzen längs einer Germinal-MaternalAchse polarisiert waren. Aber ihr Plan hatte sich als Bumerang erwiesen. Nur indem sie die Wahrheit über die Tulpen preisgab, konnte sie nach Flora gelangen und Paul Theaston vor den Orchideen retten. Hal hatte gesagt, die Orchideen könnten Paul deshalb nicht an seinem Schwachpunkt angreifen, weil er keinen habe. Das war ein Irrtum. Die Orchideen würden Paul an seinem schwächsten Punkt angreifen – seiner schlummernden Libido. In ihrem Innern war es zu einer Synthese aus Intuition und Analysis gekommen. Freda wußte mit hundertprozentiger Sicherheit folgendes: Wenn sie nicht nach Flora ging und dafür sorgte, daß Paul einer entgegengesetzten Anziehungskraft ausgesetzt wurde, würde er für immer auf dem Planeten verschwinden, genau wie die beiden Marine-Deserteure. Paul hatte Hal Polino deshalb nicht noch einmal in die Orchideenhaine eingeladen, weil er nicht wollte, daß ein anderer Mann seinen Frauen zu nahe kam. Die Orchideen hatten seine libidinösen Triebe wachgerufen. Er würde zwischen ihnen herumwandern, liebestrunken wie ein von Hormonstößen heimgesuchter Sechzehnjähriger – bis seine
Hände eines Tages an Alterszittern litten, wenn er die Blüten zu sich herunterzog und mit der gleichen Inbrunst anschmachtete, die er schon in dem Film gezeigt hatte. Es war Freda ziemlich egal, wie die Orchideen einander bestäubten. Ihre wissenschaftliche Neugier war aufgesogen worden von der erwachten Weiblichkeit einer Frau, deren Muttertrieb bedroht wurde. Pauls Libido gehörte ihr und nur ihr allein, und sie lief Gefahr, ihren Geliebten an Blumen zu verlieren, die längs einer Fleischeslust-Liebestaumel-Achse polarisiert waren. Gaynor hatte ihr die Reise nach Flora aus Sparsamkeitsgründen abgeschlagen. Er bedrohte sie mit dem Knüppel einer psychiatrischen Untersuchung, die zu verhindern sie bereits die ersten Schritte unternommen hatte. Gerüstet mit der Grant-Clayborg-Methode würde sie ihn mit einem Känguruhsatz überspringen und ihm dabei mit den Hinterbeinen seine Platinbirne eintreten. Quarantäne hin, Quarantäne her – sie würde mit der Abteilung Charlie nach Flora fahren. Sie würde den Manipulator manipulieren. Sie drehte sich um und reichte Miß Manetti den fertig aufgesetzten Antrag. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, heute abend länger zu arbeiten, wenn ich Ihnen dafür für den Rest der Woche frei gebe?« »Gern, Dr. Caron!«
11
Mit alten Raumhasen zusammen Mittag zu essen würde jedem, der eine Hungerkur machte, das Herz höher schlagen lassen, entschied Freda, als sie zusammen bei Tisch saßen. Ihr Appetit war ruiniert. Kommodore Minor und Kapitän Barron reagierten recht blasiert auf ihre Untersuchung über pflanzliche Kommunikation. »Ich habe noch nie etwas von sprechenden Pflanzen gehört«, sagte Minor, »aber von denkenden… Sag mal, Phil, warst du jemals auf Gorki 3?« »Ach ja«, sagte Kapitän Barron und nickte. »Die Schlingreben, ich erinnere mich. Bemerkenswert.« »Was hat es mit diesen Schlingpflanzen auf sich?« fragte Freda. »Eine Baumliane«, erklärte Minor. »Mit blutsaugenden Hohldornen. Wenn unter ihnen eine Reihe Männer vorbeiging, ließen sie sie unbehelligt passieren, aber wehe, es war auch nur ein Chinese darunter! Sie pickten ihn sofort heraus, umwickelten ihn, zogen ihn zu sich hoch in die Baumkrone und saugten ihm sämtliche Körpersäfte aus. An der zweiten Expedition nahmen deshalb keine Chinesen mehr teil. Trotzdem fanden die Schlingreben wieder ein Opfer, diesmal einen Weißen. Beim Durchchecken seiner Kennkarte fanden wir heraus, daß er Vegetarier war und sich fast ausschließlich von Reis ernährt hatte. Irgendein Vitaminmangel, hervorgerufen durch den übermäßigen Verzehr von poliertem Reis, hatte die Schlingreben offenbar unwiderstehlich angezogen.« An seinem und Barrons Grinsen erkannte sie, daß es sich mal wieder um typisches Navylatein handelte, aber die Ereignisse der letzten Tage hatten ihren Sinn für Humor zu sehr abgestumpft, als daß sie darüber hätte lachen können.
Jedenfalls hatten sie nichts dagegen, ihr die gewünschte Zeugenaussage zu geben. Minor schob seinen Teller zur Seite, zückte seinen Füllhalter und schrieb: »Hiermit bestätige ich, daß ich am 17. Januar 2237 etwa um 12 Uhr im Beisein von Dr. Freda Caron und Kapitän Philip Barron, USSN, im Duett mit einer Caron-Tulpe das Lied ›My Bonnie is over the Ocean‹ gesungen habe! John A. Minor, Kommodore der USSN.« »Hiermit bestätige ich, daß ich Kommodore Minor und die Caron-Tulpe dabei mit der zweiten Stimme begleitet habe. Philip R. Barron, Kapitän der USSN.« »Das wird helfen, Sie zu entlasten«, bemerkte der Kommodore. »Es ist gut, entlastet zu werden, wenn man verhört wird. Am besten ist es jedoch, niemals verhört worden zu sein. Der ganze Zweck dieser Farce ist natürlich, eine Eintragung in Ihre Akte zu kriegen.« Freda wußte, welchen Zweck die Untersuchung hatte, aber sie war zuversichtlich, daß sie niemals in ihre Akte kommen würde. Punkt eins war der Kommodore mit einem Matrosen in einem Funkjeep zur Stelle. Freda erklärte ihm kurz, wie sie sich den Ablauf der Sprühaktion vorstellte und schlug vor, den Jeep unter dem Vordach des Geräteschuppens zu parken, damit er nicht vollgesprüht werde. »Das Gewächshaus kann ich später mit einem Schlauch wieder abspritzen, wenn er fertig ist.« Als nächstes nahm Minor Kontakt mit dem Piloten des Flugzeugs auf, der bereits abflugbereit auf seiner Basis wartete. Freda empfand es geradezu als wohltuend, seine knappen, präzisen, mit ruhiger Stimme durch das Mikrofon gesprochenen Befehle zu hören. Minors kühle Sachlichkeit lenkte sie von den Tulpen ab, die sich in den heißen Luftströmen des mit unverminderter Stärke von Osten her blasenden Santa Ana bogen. »Hallo, Engel, hier ist die Basis. Können Sie mich verstehen? Over.«
»Hallo, Basis, hier spricht Engel. Ich verstehe Sie hervorragend. Over.« »Okay, hören Sie zu. Ich stelle ein rotes Signalfeuer auf. Sobald Sie es sehen, fliegen Sie es auf einem rechtweisenden Zweihundert-dreiundsiebzig-Grad-Kurs an, in einer Höhe von einhundert Fuß. Beginnen Sie mit dem Sprühen einhundert Meter östlich des Drahtzauns und hören Sie auf, sobald das Gewächshaus im toten Winkel unter Ihnen liegt. Dann fliegen Sie eine Schleife nach Süden und nehmen Nordkurs am östlichen Rand des Drahtzauns entlang. Fangen Sie fünfzig Meter südlich der ersten Sprühlinie wieder an zu sprühen, sobald der Wasserturm querab liegt, und stellen Sie den Sprüher fünfzig Meter nördlich der Sprühlinie wieder ab. Over.« »Roger. Ich starte jetzt. Ende.« »Es dauert etwa zehn Minuten, bis er hier ist, Freda«, sagte der Kommodore und ging zu dem Matrosen, um ihm Anweisungen zu geben, wo er das Signalfeuer aufstellen sollte. Freda hörte ihn kaum; versunken wie eine Nonne beim Gebet hielt sie ihr letztes stummes Zwiegespräch mit den Tulpen. Sie wußte, daß man sie über ihre Mutterinstinkte manipuliert hatte, aber kämpften nicht menschliche Kinder mit denselben Waffen? Wer konnte den Tulpen einen Strick daraus drehen? Für Mutterliebe war allein die Mutter verantwortlich. Kinder waren Kinder, überall im Universum. Und diese Tulpen waren besonders entzückende Kinder. Wären sie in der Lage gewesen, ihre Mordimpulse unter Kontrolle zu bekommen, sie hätten über kurz oder lang bei jeder alten Jungfer den Schoßhund als Liebesobjekt Nummer eins abgelöst. Wenn Hal sich damit zufriedengegeben hätte, ein strenger aber liebevoller Vater zu sein, hätten diese liebreizenden Wesen nicht von der Erde getilgt werden müssen. Aber er hatte ja sein Experiment um jeden Preis durchziehen müssen, nur,
um Peter vor Samstagabend aus der Stadt zu kriegen und ihr ohne die Anwesenheit eines störenden Dritten ein Lied vorspielen zu können, das er in einem mexikanischen Bordell komponiert hatte. Und obwohl er nun tot war und in Fresno unter der Erde lag, war er der lebende Beweis dafür, daß die Altstadt kein Ort war, an dem man sich seine Samstagabende um die Ohren schlug. Bezeichnenderweise hatte seine Todesanzeige auf dem Schwarzen Brett unter einem Zettel gehangen, auf dem gestanden hatte »Hast bringt Verschwendung mit sich.« Als sie ein letztes Mal den Blick über ihre Tulpen schweifen ließ, fühlte sie sich wie eine kindermordende Medea; es fehlte nur noch, daß sie sich auf die Brust schlug und sich die Haare raufte. Nicht nur, daß diese strahlende Schönheit vernichtet wurde, auch das goldene Band, das ihre Seele mit der Hals vermählt hatte, würde für immer zerrissen werden. Während sie versunken auf die wogende Pracht starrte, wurde ihr plötzlich bewußt, daß die Ehe selbst ihr eigentlich weniger bedeutet hatte als der Ehering. Aber das Brummen eines Flugzeugs riß sie aus ihren Blütenträumen und in die Realität zurück, und sie hob den Blick zum Himmel. Aus dem Wirrwarr aus verwelktem Grün und Gold würde eine neue Freda hervorgehen; eine Freda, die nicht länger Karrierefrau war, sondern hingebungsvolle Ehefrau und Mutter. Sie hoffte nur, daß Paul Theaston ihr Opfer zu würdigen wußte. Das Flugzeug, das sich rasch von Osten her näherte, ging jetzt in die Schräglage und nahm Kurs auf das Gewächshaus. Über den Außenlautsprecher meldete der Pilot, daß er das Signalfeuer gesehen hatte, und Freda sah zu, wie er die Maschine herunterzog. Trotz ihres Entschlusses warf sie noch einmal einen letzten verstohlenen Blick auf die sich sanft im Wind biegenden Tulpen… Aber nein! Sie bogen sich gegen den Wind! Starr vor Entsetzen sah sie, wie die schlanken
Stengel sich oberhalb der Luftkammer nach vorn neigten und die Blüten nach Osten richteten, genau in die Richtung, aus der sich das Flugzeug näherte. »Kommodore!« schrie sie. »Die Tulpen!« »Sie liegen genau auf Kurs, fangen Sie jetzt mit dem Sprühen an… « sagte der Kommodore gerade ins Mikrofon, als Fredas entsetzter Schrei seine Aufmerksamkeit auf die Beete lenkte. Ohne seine Stimme zu verändern, rief er: »Engel, Aktion sofort abbrechen! Sie sind in Lebensgefahr! Ich wiederhole, Aktion sofort abbrechen!« Aus tausend Metern Entfernung kam die Stimme des Piloten: »Roger, Basis. Breche ab.« Er ging erneut in Schräglage und drehte in einem weiten Bogen nach Süden ab. Freda stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der sich in einen erstickten Aufschrei verwandelte, als der erdwärts geneigte Flügel der Maschine sich plötzlich in seine Bestandteile auflöste und abbrach. Zum Aussteigen war es für den Piloten zu spät, dazu reichte die Flughöhe nicht. Wie im Zeitlupentempo kam die Maschine herunter, bohrte sich mit der Nase in den Boden, überschlug sich drei-, viermal und krachte mit ohrenbetäubendem Donnern, eine riesige Fontäne Pflanzenvernichtungsmittel in die Luft jagend, in denselben Graben, in dem schon die Egge lag. Immer noch mit derselben Gefaßtheit und Ruhe schaltete der Kommodore auf einen anderen Kanal um und sagte in das Mikrofon: »Feuer- und Rettungsdienst, sofort ausrücken! Feuer- und Rettungsdienst, sofort ausrücken! Engel abgestürzt, Planquadrat D, Koordinaten L-21. Ich wiederhole: Planquadrat D, Koordinaten L – Strich – zwo – eins. Feuer- und Rettungsdienst, sofort ausrücken!« Freda, die schon auf dem Weg zum Büro und außer Hörweite Minors war, hörte das Heulen der Sirenen vom Sicherheitszentrum herüberschallen, als sie in die Tür des Büros trat. Miß Manetti, die inzwischen
von Gewächshaus fünf einiges gewohnt war, hatte in Seelenruhe die Annullierung des Segeltuchantrags zu Ende getippt. Freda ging zum Telefon und wählte die Nummer des Leichenbeschauers. »Hier spricht Dr. Caron. Ich habe einen Toten in – « »Ich weiß, Doktor«, kam die Stimme des diensthabenden Beamten. »Mit oder ohne Bahre?« »Mit Bahre«, antwortete sie, »und mit einer Zehn-FußLeiter.« »Nun, ich denke mir, daß hiermit die Caron-Polino-Theorie erledigt ist«, bemerkte Kommodore Minor trocken, als er hinter ihr in das Büro trat. »Kommodore, Sie müssen über diesen Vorfall einen Bericht an die Navy schreiben, nicht wahr?« »Selbstverständlich muß ich das. Schließlich ist dabei ein Zivilist ums Leben gekommen. Außerdem brauche ich Ihre Aussage als Augenzeugin des Unfalls. Ich brauche die Beschreibung des Unfallhergangs in zehnfacher Ausfertigung.« »Darf ich Ihnen die Dienste Miß Manettis anbieten? Wir machen den Bericht am besten jetzt gleich, solange wir den Unfall noch frisch in Erinnerung haben. Und ich hätte gern einen elften Durchschlag für meine Monographie.« »Selbstverständlich, Freda. Während ich den Bericht aufsetze, sind Sie so freundlich und rufen den Fuhrpark an und fordern mündlich einen ferngesteuerten Bulldozer mit TVSucher an, ja? Und sagen Sie ihnen, sie sollen den Vergaser und die Zündanlage mit Sandsäcken abdecken. Wir werden den Zaun niederwalzen und die ganze Fläche von den Tulpen freikratzen müssen. Wenn morgen auch nur noch eins von diesen Biestern auf der Erde ist, haue ich ab auf den Mars.« Während der Kommodore Miß Manetti das Todesurteil für die Untersuchung über pflanzliche Kommunikation in die
Maschine diktierte, gab Freda dem Fuhrpark telefonisch ihr Gesuch durch. Zum ersten Mal in ihrer Karriere war es ihr dabei vergönnt, zu erleben, wie Gaynors angeblich so perfekt durchorganisierter Verwaltungsapparat ins Schleudern geriet. »Dr. Caron«, jammerte die Stimme des Fuhrparkverwalters aus dem Hörer, »wo soll ich denn die Leute hernehmen? Drei Mannschaften sind noch immer dabei, die Gewächshäuser zu reparieren. Eine weitere ist mit der Bergung einer Scheibenegge beschäftigt, und vor ein paar Minuten kriege ich auch noch einen Anruf vom Sicherheitsdienst, ich soll ein Flugzeug aus dem Entwässerungsgraben ziehen. Das ist meine letzte Mannschaft.« »Sir, es ist zwar nicht meine Aufgabe, Ihnen Ratschläge über die Handhabung Ihrer Pflichten zu erteilen«, gab Freda bissig zurück, »aber dieselbe Mannschaft, die Sie für die Egge rausgeschickt haben, kann auch das Flugzeug rausholen. Das liegt nicht einmal zehn Meter daneben!« »Oh«, kam es kleinlaut aus dem Hörer, »das ist natürlich was anderes. In diesem Fall kann ich Ihnen den Bulldozer fertig ausgerüstet binnen einer Stunde rüberschicken. Aber ich werde natürlich einige Zeit brauchen, um den Zaun wieder zu reparieren. Ich denke, ich kann es noch vor Sonnenuntergang schaffen.« »Das hoffe ich auch für Sie«, zischte Freda und knallte den Hörer auf die Gabel. Charles Gaynor sollte ihr nur noch einmal mit seinen Vorträgen von wegen Nutzeffekt und Leistungsfähigkeit kommen! Die erste Regel auf der ersten Seite der Grundfibel der Verwaltungstechnik lautete: Sei jederzeit auf alle Eventualitäten vorbereitet. Und man konnte doch wohl erwarten, daß Probleme wie dieses im Planspiel durchgetestet, analysiert und in allen Lösungsmöglichkeiten für den Ernstfall auf Computer gespeichert waren! Und so ein Mann besaß die
Unverfrorenheit, sie einer Untersuchung auf ihren Geisteszustand zu unterziehen! Hätte sie nicht ohnehin schon seinen Abschuß beschlossen, sie hätte glatt ihrem Kongreßabgeordneten geschrieben, aber so wie die Dinge lagen, würde Gaynor schon ein toter Mann sein, bevor der Brief ankam. Mitten in diese wütenden Gedanken platzte der Amtsbote mit einem Brief für sie. »Eilsache« und »Dringend« stand auf dem Umschlag. Sie riß ihn auf und las: Sehr geehrte Frau Dr. Caron! Ich bitte Sie hiermit, am Dienstag, d. 21. 3. 2237, in der Zeit von 16.58 Uhr bis 17.24 Uhr zwecks einer Anhörung betreffs Ihres geistigen bzw. seelischen Gesundheitszustandes in meinem Büro vorstellig zu werden. Die Anhörung wird im Beisein des Amtsmediziners stattfinden. Sollte sich der dringende Verdacht einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit bestätigen, sehe ich mich gezwungen, Sie unverzüglich von Ihren Pflichten zu entbinden. Hochachtungsvoll Dr. Charles Gaynor Hauptleiter des Amts für Exotische Pflanzen, Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten Sie hatte das Orakel also richtig gedeutet. Sie schob den Brief in Ihre Schreibmappe und bat Miß Manetti, ihre Zeugenaussage über den Flugzeugabsturz und den Tod des Piloten zu tippen. Nachdem das Mädchen mit dem Schreiben begonnen hatte, berichtete Freda dem Kommodore vom traurigen Zustand der Fuhrparkverwaltung. Er teilte ihre Entrüstung. »Eine solche Schlamperei würde es bei der Navy niemals geben.« Sie begleitete den Kommodore zu seinem Jeep, und sie standen einen Moment schweigend da und schauten zu, wie die
Sanitäter mit der Bahre über den Zaun stiegen. Kommodore Minor versicherte ihr noch einmal, daß er im Büro der Fuhrparkverwaltung vorbeischauen und ein Auge darauf werfen würde, daß sie mit dem Bulldozer alles richtig machten und ihr nicht noch das Gewächshaus niederwalzten. Bevor er auf Wiedersehen sagte, streckte er schnüffelnd die Nase in die Luft. »Sieht so aus, als wäre die Kaltfront angekommen. Der Santa Ana ist abgeblockt.« Sie dankte ihm für seine Bemühungen und verabschiedete sich. Auf dem Rückweg zum Büro dachte sie über die merkwürdigen Methoden der Navy nach. Kommodore Minor hatte die Nase in die Luft gehalten, um festzustellen, ob der Santa Ana noch wehte, während vom Ozean her schon ein kalter Wind blies, die Sonne sich zusehends verschleierte und die Temperatur sank wie ein Soufflé Marke Freda Caron.
Zeit war jetzt die Essenz des Sieges, und sie stürzte sich mit Elan auf die Vollendung der Untersuchung über pflanzliche Kommunikation. Die Arbeit wirkte auf Freda wie ein schmerzstillendes Mittel, und sie war dankbar für das bißchen Ablenkung, das sie ihr schenkte. Doch nur wenig später ließ das Gerassel eines Bulldozers sie aufhorchen, und kurz darauf vernahm sie über das Summen von Miß Manettis Schreibmaschine hinweg das metallische Knirschen, mit dem eine Schaufel den Zaun zerfetzte. Die schweren Kettenräder, die sich durch den Lehm wühlten, zerwalzten ein Abbild der Schönheit, das in Gold aus ihrem Herzen gesprossen war. Freda schloß die Augen und versuchte jeden Gedanken an das, was dort draußen vor sich ging, zu vermeiden. Aber als Miß Manetti sie um eine wohlverdiente Pause bat, die sie auch erhielt, wurde Freda mit den Ereignissen draußen auf besonders schreckliche Weise
konfrontiert: die Stenotypistin trat vor die Tür, um dem Bulldozer zuzuschauen, und kehrte zurück, den Arm voller Caron-Tulpen. »Sie waren so schön, Doktor, da habe ich ein paar aufgehoben. Doch sehen Sie nur, wie sie die Köpfchen hängen lassen!« Freda schaute hinab auf die toten Tulpen, und ihr Traum von Schönheit starb. Einzeln hatte ihr Tod etwas Rührendes, Mitleiderregendes, ja Pathetisches. In der Masse jedoch riefen ihre Leichen nur ein Gefühl des Ekels hervor. Ihre vormals saftiggrünen, prallen Stengel schimmerten jetzt in einem kränklichen, fahlen Gelb, und ihre Köpfe hingen schlaff über den Arm des Mädchens. »Oh, werfen Sie diese scheußlichen Dinger fort, Miß Manetti! In einer Stunde fangen sie an zu riechen.« Achselzuckend gehorchte sie. Als sie ungestraft an den unversehrten A-Beeten vorbei zum Müllcontainer ging, fiel Freda ein, daß niemand die Stenotypistin vor der Gefahr gewarnt hatte, und offensichtlich bestand für sie auch keine. Durch die Glasscheibe der Tür warf Freda einen Blick auf das Außenthermometer. Es zeigte zwanzig Grad, und sie unterdrückte nur mit Mühe einen Schrei des Entsetzens. Der Pilot hatte sterben müssen, weil er sich beeilt hatte, einer Kaltluftfront zuvorzukommen, die seinen Einsatz erübrigt hätte! Der draußen im Lehm herumwühlende Bulldozer hätte ohne Gefahr durch drei japanische Gärtner ersetzt werden können – bei zwanzig Grad Celsius hätten sie per Hand jäten können, ohne daß ihnen auch nur das geringste zugestoßen wäre! Und Mr. Hokada könnte noch am Leben sein, wenn sie ihm erlaubt hätte, sein Kartenspiel zu beenden! Die Hast hatte in der Tat Verschwendung gebracht! Ihre Gedanken kreisten um den toten Piloten und Mr. Hokada. Etwas von ihnen würde übrigbleiben, tröstete sie sich, zumindest in den Akten der Zivilgerichte. Die beiden Toten, Hal Polino nicht mitgerechnet, bedeuteten zusätzliche zwei
Millionen an Schadenersatzklagen, die auf das Amt zurollen würden, sobald die Caron-Polino-Theorie veröffentlicht war. Und mindestens dieselbe Summe würde allein Mr. Harold Polino senior fordern, falls er dem mit Schreibmaschine geschriebenen und mit »Ein Freund« unterzeichneten Ratschlag folgen sollte, den er an einem der nächsten Tage in seinem Briefkasten finden würde.
Nach einer einstündigen Abendbrotpause machten sich Freda und die Stenotypistin wieder an die Arbeit. Um zehn lag die Monographie mit vier Kopien gebunden vor ihr auf dem Schreibtisch: das Original für das Amtsarchiv, eine Kopie für die NASA, eine für das Landwirtschaftsministerium, eine für die Bundesdruckerei und eine für Doktor Hans Clayborg. Vier davon packte sie sich unter den Arm, brachte sie in Begleitung von Miß Manetti zum Verwaltungsgebäude und übergab sie dem Nachtportier mit der Bitte, sie in Dr. Gaynors Fach zu legen. Darauf ging sie, diesmal allein, zur Postabteilung und warf die für Hans bestimmte Kopie in den Schlitz mit der Aufschrift »Eilsachen«. Es war bereits nach elf, als sie schließlich ins Bett kroch. Fünf ereignisreiche Tage lagen hinter ihr, und der kommende sechste würde der ereignisreichste sein.
Wie es sich für einen Amtsleiter gehörte, hatte Dr. Gaynor es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen eine gute Stunde vor dem eigentlichen Dienstbeginn in seinem Büro zu erscheinen – in erster Linie, um vor dem Frühstück Zeit zu haben, die Eingaben und Publikationen seines wissenschaftlichen Personals durchzugehen. An letzteren war er besonders interessiert. Er erwartete, daß jedes Mitglied
seines »Teams« mindestens einmal im Jahr irgend etwas veröffentliche; war dies nicht der Fall, konnte der Betreffende mit einem gutmütigen Rüffel rechnen, denn das Prestige eines Amtes hing zu einem nicht unerheblichen Anteil von der Anzahl der Publikationen ab, die es der Bundesdruckerei vorlegte. Freda ging schon früh zum Frühstück und wartete darauf, Gaynor zu begrüßen, aber der ließ sich nicht blicken. Auch zum Lunch tauchte er nicht auf. Irgendwo in der Heiligen Schrift der Verwaltungsfachleute stand geschrieben: »Was nützt es einem geschäftsführenden Beamten, wenn er eine Abteilung gewinnt und dadurch einen Kabinettsposten verliert?« Auf dem Weg vom Frauenaufenthaltsraum zu ihrer Anhörung bei Gaynor dachte Freda über diesen Spruch nach, und je mehr sie darüber nachdachte, desto fragwürdiger kam er ihr vor. Der Spruch war im Grunde eine Ermahnung, immer schön behutsam zu sein und sich alles zu Herzen zu nehmen; ihre eigenen Gefühle bewiesen, daß die Bibel sich hier irrte. Sich nichts draus zu machen setzte Energien frei, nahm einem die Hemmungen und verschaffte einem eine bessere moralische Fernsicht. Der beste Verwalter war der, dessen Autoritätssymbol der erhobene Zeigefinger war. Den Mantel der Gottlosigkeit enger über ihre Schultern ziehend, federte Freda mit ihren grünen Wildlederschuhen leichtfüßig die Stufen zur Amtsleitersuite hinauf, zusätzlich beflügelt durch eine Botschaft, die die Sibylle am Schwarzen Brett hinterlassen hatte: »Liebe Freda, ein Buch, zu tiefgründig zum Lesen, bringt den Platinkopf zu Fall. Ein Freund.« Unnahbarkeit von solcher Eiseskälte umwehte Mrs. Weatherwax, daß Freda für einen Moment befürchtete, das Nicken, das die spröde, aber effiziente Sekretärin ihr beim Betreten des Vorzimmers gewährte, würde dazu führen, daß sie sich den Hals bräche. »Wie der Herr, so’s Gescherr«, ging
es Freda durch den Kopf. Mit einer Stimme wie aus der Kühltruhe sagte die Chefsekretärin: »Dr. Caron, Dr. Gaynor ist einstweilen noch in seinem Privatzimmer und hat zu tun. Dr. Berkeley ist jedoch schon zu Ihrer Anhörung erschienen, und ich soll Sie hereinführen.« Als sie Freda zur Tür begleitete, sagte sie aus dem Mundwinkel und ohne die Lippen zu bewegen: »Sie hatten vor, ein Scheibenschießen zu veranstalten, mit Ihnen als Zielscheibe, aber Sie haben eine Granate losgelassen. Der Blechkopf ist schon seit Mitternacht hier.« Sie hielt ihr die Tür auf. Mrs. Weatherwax’ Züge waren ein Muster an Förmlichkeit, und Freda glaubte im ersten Moment, die Stimme eines Bauchredners zu hören, als sie sagte: »Machen Sie die verdammten Bastarde fertig, Freda!« Der Psychiater saß im Lehnstuhl und war damit beschäftigt, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und saß dem Sitzmöbel zugewandt, das vor dem Schreibtisch stand und für Freda reserviert war: ein schwarzledernes Sofa, das so sehr an eine Psychiatercouch erinnerte, daß sie innerlich fast platzte vor Wut. Psychologische Kriegführung! Einen plumperen Versuch, sie einzuschüchtern, hätte sie sich kaum vorstellen können! Statt sich züchtig auf den Rand des Sofas zu setzen und mit jung fernhaft-zickig zusammengepreßten Knien in Positur zu rutschen, ließ sie sich mit einem lässig aufreizenden Beinschwung, der Berkeley für einen Sekundenbruchteil Einblick auf die Innenseite ihres Oberschenkels gewährte, in die Polster gleiten. Während sie lasziv die Beine übereinanderschlug und sich behaglich rekelte, fragte sie ohne das geringste Beben in der Stimme: »Na, wie geht’s denn unserem schmachtenden Liebeskranken?« »So la-la«, erwiderte Berkeley ein wenig heiser. Beim Anblick ihrer Schenkel war ein nervöser Ruck durch seinen
Körper gegangen. Er zwang sich, ihr in die Augen zu schauen, als er mit bemühter Gleichgültigkeit fragte: »Hast du dich entschlossen, positiv auf mein Memo zu reagieren?« »Nein, aber ich lasse mich gern überzeugen. Es gibt da ein reizendes Café in der Altstadt, das Mexicali, wo man oben ungestört zusammen essen kann. Magst du mexikanische Musik?« »Ich könnte im Augenblick gut welche gebrauchen!« rief er kaum gedämpft aus. »Am besten, ich rufe dich direkt nach der Anhörung an.« »Keine schlechte Idee, vorausgesetzt, ich bekomme keinen Jagdschein. Du weißt ja, was mit Psychiatern passiert, die sich mit Patienten einlassen.« »Unter uns – und Gaynors Mikrofonen – gesagt, ich glaube nicht, daß der Alte was gegen dich in der Hand hat. Und ich werde mir in dieser Vermutung immer sicherer… Aber warum dieser plötzliche Gesinnungswandel betreffs meines Memos?« »Oh, Jim«, antwortete sie, »ich habe in dieser Woche so viel Tod und Zerstörung gesehen – drei Menschen und fünfzigtausend Tulpen –, daß ich beschlossen habe, das Leben mal unter Frommschen Maßstäben zu betrachten. Wenn ich irgendwas dazu beitragen kann, ein bißchen Glück in diese Welt zu bringen, möchte ich das in meinem kleinen, bescheidenen Rahmen tun… Ich habe heute morgen beim Anziehen an dich gedacht, Jim, an deine Liebesphilosophie. Ich weiß, daß du Schwierigkeiten hattest, dein Programm durchzukriegen, und ich dachte mir, jeder kommt mit seinen Problemen zum Psychiater, aber keiner denkt mal einen Moment darüber nach, daß der Psychiater vielleicht auch seine Probleme hat. Also beschloß ich, meine eigene kleine Seid nett-zu-Psychiatern-Woche zu machen und Dr. Berkeley bei seinem Problem zu helfen.«
»Freda«, – er beugte sich weit vor, und trotz der Klimaanlage traten Schweißperlen auf seine Stirn – »eine der ersten Regeln der Analyse heißt, sei ehrlich zu deinem Psychiater. Ich will es dir also ganz offen sagen: Ich habe dich seit dem fünfzehnten März unter psychiatrischer Beobachtung« – (Aha, dachte Freda, die Iden des März!) –, »und ich muß ganz offen gestehen, einige deiner Verhaltensweisen und Handlungen waren schon ein bißchen merkwürdig. Nicht unbedingt aus meiner Sicht – ich habe schließlich tagtäglich mit merkwürdigen Verhaltensweisen zu tun –, aber aus verwaltungsmäßiger Sicht. Und das ist das eigentlich Problematische, weil der Schwerpunkt der Analyse sich immer mehr auf verwaltungsmäßiges Fehlverhalten verlagert, und einige deiner Anträge waren echte Hämmer. Entschuldige, aber mir fällt wirklich kein besserer Ausdruck dafür ein. Sie waren echte Hämmer, aber unter uns – und Charlies Mikrofonen – gesagt, ich bin Mitglied des A. M. V. und habe diesen griechischen Eid abgelegt, diesen… Hippi… Hippo… « »Hippokrateseid«, half Freda ihm aus. »Richtig, den meine ich. Und ich habe weder vor, den hypokritischen Eid, noch den A. M. V.-Kodex zu brechen. Nicht für Charlie! Ohne mich, sage ich dir! Nun, bei dir ist das was anderes. In medizinischer Hinsicht bist du normal, Freda… du bist nicht durchschnittlich, sondern normal, ganz einfach normal… Um ganz ehrlich zu sein, Freda, ich habe in meiner zwanzigjährigen Praxis noch keine Frau gesehen, die so normal ist wie du. Aber um wieder auf diese mexikanische Musik zurückzukommen… Ich muß erst Cha-Cha-Cha tanzen, bevor ich Rumba tanzen kann, und ich muß erst Rumba tanzen, bevor ich Tango tanzen kann, aber wenn ich erst Tango getanzt habe, dann lege ich dir den aalglattesten Bolero hin, den du je gesehen hast, glaub mir! Es ist so eine Art Kreuzung zwischen Walzer und Flamenco und hat einen Rhythmus, sage ich dir –
«. Jetzt hat es ihn erwischt, dachte sie. Berkeley leckte sich gerade die Lippen im Takt seiner bereits rhythmisch zu imaginären Boleroklängen zuckenden Hüften, als die Tür des Allerheiligsten aufging und Dr. Gaynor hereintrat. Es war ein Dr. Gaynor, wie Freda ihn noch nie gesehen hatte. Seine beamtenhafte Förmlichkeit war zu einer unsichtbaren Maske erstarrt, die seine Züge in Schach hielt, aber die Augen in der Maske schauderten wie vor einem tiefen Abgrund, und unter der Maske schimmerten rötlich Bartstoppeln. Die Latrinenparole stimmte: Gaynor war rothaarig. Bei sich trug er eine Kopie der Untersuchung über pflanzliche Kommunikation. Behutsam, fast zimperlich, hielt er sie mit spitzen Fingern vor sich, legte sie auf den Schreibtisch und rückte sie umständlich gerade, bis ihre Kanten mit denen seiner Schreibunterlage abschlossen. Als das Buch zu seiner Zufriedenheit lag, hob er den Blick und sagte: »Guten Morgen, Dr. Caron.« »Guten Tag, Dr. Gaynor.« Immer noch stehend warf Gaynor einen Blick auf Dr. Berkeley und sagte: »James, ich weiß, daß deine Aussage für mich nur von geringem Wert sein wird. Die ganze Untersuchung ist sowieso zu einem reinen Verwaltungsproblem geworden, und in dem Fall kann ich sie auch ohne Hilfe durchführen. Du kannst jetzt gehen.« »Vielen Dank, Charles«, sagte Dr. Berkeley und erhob sich. »Wir sehen uns dann später, Freda.« Beim Hinausgehen summte er leise die »Mexicali Rose« vor sich hin. Als die Tür ins Schloß gefallen war, setzte Gaynor sich hin, schaute sie einen Moment an und sagte: »Dr. Caron, Sie werden einsehen, daß mir schon allein Ihre seltsamen Anträge der letzten Tage Grund genug liefern, Sie für unfähig zu erklären. Sagen Sie mir doch mal, wo in aller Welt soll ich zweitausend Quadratmeter Segeltuch und
achtundzwanzigtausend überdimensionale Telegrafenmasten auftreiben, zu allem Überfluß auch noch viereckige?« »Der Widerruf für diesen Antrag ist schon unterwegs.« »Na schön, lassen wir diese Sache einmal weg! Kommen wir zu den Schäden, die Sie angerichtet haben: fünfzehn Gewächshausdächer, ein Zaun, eine mechanische Egge, zweitausend Liter Natriumzitrat und ein Flugzeug! Ich wage zu behaupten, liebe Frau Dr. Caron, daß wir Schadenskosten von solchen Ausmaßen nicht mehr hatten, seit der Atommeiler von San Pedro in die Luft gegangen ist.« Er beugte sich vor und tippte mit dem abgekauten Fingernagel seines Zeigefingers auf ihre Monographie. »Aber das hier stellt alles in den Schatten! Diese Abhandlung läßt Schadenersatzforderungen von grob gerechnet mindestens vier Millionen Dollar auf das Amt zurollen!« »Das ist eine reine Verwaltungsangelegenheit, Dr. Gaynor«, stellte Freda klar. »Das Ganze mag zwar sehr bedauerlich sein, aber es ändert nicht das geringste an der Validität der Caron Polino-Theorie.« »Zugegeben, Dr. Caron… Zugegeben! Aber es bringt mich in eine verdammte Zwickmühle. Wenn ich diese Monographie mit offizieller Genehmigung weiterleite, gestehe ich damit gleichzeitig die Urheberschaft des Amtes ein. Mit diesem Ding in der Hand könnten die Anspruchsteller sofort vor Gericht ziehen.« »In diesem Fall, Dr. Gaynor, ziehe ich es vor, die Monographie ohne Ihre amtliche Genehmigung zu veröffentlichen. Der Beifall eines Laien verleiht wissenschaftlichen Arbeiten ohnehin nur allzu leicht das Odium des Populärwissenschaftlichen und bringt sie in den Ruch des Sensationslüsternen. Ich schlage daher vor, Sie leiten sie kommentarlos und ohne Ihren Segen weiter.« Freda hatte das Gefühl, nicht zu ihm durchzudringen. Gaynors Augen
waren zwar auf sie gerichtet, schienen aber durch sie hindurch ins Leere zu blicken. Katatonie, dachte sie, und als er sprach, hatte seine Stimme den hohlen Klang der Schizophrenie. »Wenn ich meinen Segen nicht gebe, und die Arbeit erfährt öffentliche Anerkennung – was sie, wie Dr. Hector mir versichert, ohne Zweifel wird –, und die Theorie erweist sich als hieb- und stichfest – was sie, wie die Akustik mir versichert, ebenfalls ohne Zweifel wird –, werden sich von gewisser Seite her Fragen erheben, die meine Eignung zum Leiter eines wissenschaftlichen Amtes betreffen, und damit ist der Regierung genausowenig gedient… Tja, Freda, Sie und dieser junge Mann – Peter Henley – haben mich ganz schön in die Klemme gebracht.« »Sie wußten von Mr. Henley?« »Aber sicher. Schließlich standen Sie unter psychiatrischer Beobachtung. Es gibt auf dieser Basis nur sehr wenig, was dem aufmerksamen Auge eines Chefs entgeht… Ich rechne fest mit einem Widerruf des Vetos von Linguistik. In einer Woche oder zehn Tagen… Doch um auf den psychiatrischen Bereich zurückzukommen, Sie müssen doch zugeben, daß Ihr Verhalten in der letzten Zeit bisweilen etwas eigenartig war, auch wenn Jim Berkeley sich fast überschlägt, zu betonen, wie normal Sie seien. Sie haben sich da ja wirklich ein paar komische Dinger geleistet.« »Als da wären?« »Nun, Sie haben zum Beispiel mit den Tulpen geredet. Sie haben sie sogar mit Koseworten bedacht. In dieser Monographie hier« – er tippte erneut mit dem Finger darauf – »steht an keiner Stelle etwas darüber, daß Sie ihre Sprache sprechen können. Wohl, daß sie sich miteinander unterhalten haben, aber nicht, daß sie mit Ihnen gesprochen haben! Selbst ein unbefangener Beobachter würde es mehr als merkwürdig finden, daß eine Frau zwischen Blumen herumläuft und mit
ihnen redet. Bedenken Sie, zu welchen Vermutungen so was führen könnte.« »Diese Vermutungen müßten sich dann allerdings auch auf diese beiden Herren erstrecken.« Sie holte die Aussage von Minor und Barron aus der Brieftasche und reichte sie ihm. »Es dürfte außerordentlich schwer sein, mir geistige Verwirrung zu unterstellen, weil ich mit Tulpen geredet habe, wenn zwei so bedeutende Herren bezeugen, daß sie mit ihnen sogar ›My Bonnie‹ im Trio gesungen haben.« »Oh, die Navy!« Gaynor schob das Blatt angewidert von sich. Freda beugte sich vor, um es wieder an sich zu nehmen, stand auf und nahm auf dem Stuhl Platz, wobei sie ihn noch ein Stück näher an Gaynors Schreibtisch zog. Offensichtlich brauchte Dr. Gaynor das Sofa jetzt nötiger als sie. »Aber Sie erwähnten mit keinem Wort den kleinen schwarzen Kasten, den Sie und Polino auf dem Hügel bei sich hatten, als der Leichenbeschauer nach seiner Todesursache fragte«, schoß er verzweifelt seinen letzten Pfeil ab. »Es gibt meines Wissens keine Vorschrift, die besagt, daß man Leichenbeschauern bei Untersuchungen Fragen beantworten muß, die sie nicht gestellt haben. Es gab überhaupt keine förmliche Untersuchung. Für ihn lag der Fall völlig klar: Polino war eines natürlichen Todes gestorben. Und daß ich den kleinen schwarzen Kasten nicht erwähnte, können Sie mir nicht vorwerfen. Er ist ausführlich und in allen Einzelheiten in der Monographie beschrieben.« »Ja, ja. Ich weiß.« Gaynor schaute sich um, als wolle er sich vergewissern, daß kein Lauscher hinter ihm stand, und sagte leise, fast im Flüsterton: »Dr. Caron, lassen Sie uns doch vernünftig sein. Ich lasse alle Klagepunkte gegen Sie fallen – «.
»Was für Klagepunkte? Ich denke, ich bin hier, um meinen Gesundheitszustand überprüfen zu lassen!« »So habe ich es nun auch wieder nicht gemeint… Sehen Sie, Freda, ich bin auch nur ein Mensch. Ein Mensch wie jeder andere, mit Hoffnungen, Ängsten und, ja, auch Ambitionen, wie jeder andere auch. Als ich anfing, war ich nicht besonders begabt oder intelligent. Aber eins war ich! Ich war schlau! Ich arbeitete mich in der Verwaltungshierarchie geschickt nach oben. Leute wie Sie, Hector und Polino…Ja, selbst Polino. Auch er redete hinter meinem Rücken. Ihr habt mir ständig im Nacken gesessen… Und dieser Berkeley mit seinen lateinischen Kreuzworträtseln, die er mir immer vor der Nase herumschwenkt… Was macht einer, der von der Pike auf angefangen hat, wenn er sich in einem solch illustren Kreis durchsetzen will? Ich habe dieses System zwar nicht gemacht, Dr. Caron, aber ich hatte immer ein Auge dafür, wo die Macht sitzt, und für die Schaltstellen, an denen die Entscheidungen zusammenlaufen. Ich wähle die Entscheidungen aus. Wenn sie richtig sind, gewinne ich, wenn sie falsch sind, verliert der, der sie getroffen hat – «. »Dr. Gaynor«, unterbrach ihn Freda, »das ist alles sehr interessant, aber was hat das mit meiner Anhörung zu tun?« »Ich habe versucht, an Ihre menschlichen Gefühle zu appellieren, Dr. Caron. Ich brauche Ihre Hilfe. Egal, welche Entscheidung ich in diesem Fall treffe, sie ist auf jeden Fall falsch. Ich flehe Sie an, veröffentlichen Sie diese Monographie nicht!« So, jetzt war es heraus. Jetzt näherten sie sich dem Punkt, wo man miteinander ins Geschäft kommen konnte. Fredas Antwort war nachdrücklich und unmißverständlich. »Dr. Gaynor, ich denke nicht daran, eine revolutionäre Entdeckung auf dem Gebiete der Botanik der Öffentlichkeit vorzuenthalten,
nur um möglichen Schadenersatzprozessen aus dem Weg zu gehen.« »Dr. Caron, ich mache Sie zu meinem Nachfolger! Wenn Sie wollen, schreibe ich auf der Stelle, in Ihrer Gegenwart, an – «. »Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Dr. Gaynor«, unterbrach ihn Freda und hob abwehrend die Hand. »Aber ich bin fest entschlossen, meinen Posten als Amtsleiterin der wissenschaftlichen Wahrheit zu opfern. Warum sind Sie nicht bereit, ein Opfer zu bringen?« »Dr. Caron, das einzige, was ich kann, ist verwalten. Ich habe nicht mehr als meinen Job, eine Frau und drei Kinder, die ich ernähren muß. Dr. Caron, ich bitte Sie, denken Sie an meine Familie.« Freda überlegte einen Moment. Mrs. Gaynor tat ihr leid, weil sie mit Gaynor verheiratet war, und die Kinder bedauerte sie wegen ihrer genealogischen Handikaps. »Wie Sie schon sagten, Dr. Gaynor, wir sind beide vernünftige Leute, auch wenn der eigentliche Grund meines Hierseins ist, daß Sie das bezweifeln. Vielleicht können wir eine Lösung finden.« »Denken Sie nach, Dr. Caron«, rief er mit flehendem Unterton. »Sie sind doch clever.« »Vielleicht«, sagte Freda langsam, »könnte ich die Monographie mit der Zusatzklausel vorlegen, daß die Entscheidung über ihre Freigabe allein dem Amtsleiter anheimgestellt ist… Ich selbst würde ihre Veröffentlichung keinen Augenblick verhindern. Es wäre unmoralisch. Was halten Sie von diesem Vorschlag?« Gaynor richtete sich ein wenig auf. Neue Hoffnung leuchtete in seinen Augen. »Wenn Sie sie mit der Zusatzklausel vorlegen, daß Sie die Freigabe in das Ermessen des Amtsleiters stellen, dann garantiere ich Ihnen, daß Sie sie veröffentlichen, sobald ich ins Ministerium aufgerückt bin.« »Ich weiß«, sagte Freda mit einem Kopfnicken. »Die Caron Polino-Monographie wäre mein Garantieschein. Aber da sind
noch ein paar Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde, Dr. Gaynor. Wenn Sie es vorziehen sollten, sie nicht zu beantworten, können wir die Diskussion natürlich hier und jetzt beenden und die Untersuchung über pflanzliche Kommunikation ihren vorgeschriebenen Gang gehen lassen.« »Fragen Sie. Fragen Sie alles, was Sie wollen.« »Warum haben Sie mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mit nach Washington genommen und mir den Schwarzen Peter zugeschoben, die Petition vorzubringen?« »Als ich an dem Morgen den Anruf von Clayborg bekam, da wußte ich sofort, daß er irgendeinen Trick im Ärmel hatte. Er hat kein Interesse daran, daß der Name Gaynor verewigt wird. Aber ich. Also ließ ich Miß Weatherwax mit dem Auftrag an der Vorschlagsbox Wache schieben, mir sofort jedweden Vorschlag zu bringen, der von Ihnen stammte.« »Aber wieso ausgerechnet ich?« »Clayborg mag hübsche Frauen. Er wußte, daß Sie mein Faustpfand dafür waren, daß er alles ihm Mögliche tun würde, die Petition durchzukriegen. Und ich wußte, daß er jede seiner grauen Zellen auf Hochtouren arbeiten lassen würde, um Sie davor zu bewahren, geopfert zu werden. Ich wettete mit Ihnen als Spieleinsatz, daß er es nicht schaffen würde. Er zog mit und verlor. Vielleicht ist er gar nicht so wahnsinnig clever, wie er tut.« Du irrst dich, dachte Freda. Das Spiel war immer noch im Gange, wie Clayborg sehr wohl wußte. Hans hielt immer noch einen heißen Trumpf in der Hand. »Zweite Frage: Warum färben Sie Ihre Haare platinfarben?« Die Frage verwirrte ihn. Er versuchte zu lächeln und schüttelte den Kopf. »Aha, jetzt kommen sie, die Clayborgschen Fragen…« Er beugte sich vor, und sie bemerkte, daß er den Tränen nahe war. »Okay, wenn Sie’s denn unbedingt wissen müssen!« Er fuhr sich mit der Hand
über den Kopf und legte eine Perücke auf die Tischplatte. »Ich bin seit meinem achten Lebensjahr kahlköpfig. Scharlach. In der Schule liefen die Kinder mir immer bis zur Haustür nach und riefen ›Glatzkopf‹ hinter mir her. Keiner mag glatzköpfige Jungen…« »Beruhigen Sie sich, Dr. Gaynor.« Gaynor rang einen Augenblick mit den Tränen, dann faßte er sich wieder soweit, daß er weitersprechen konnte. »Da ich keine Haare hatte, konnte ich mir die Farbe meiner Perücke aussuchen. Aufgrund meines Jobs entschied ich mich für eine ausgefallene Farbe. Ein Beamter muß auffallen, sonst übersieht man ihn bei Beförderungen. Die meisten versuchen, sich einen Spitznamen zuzulegen… oder unterschreiben ihre Akten mit roter Tinte… Hauptsache, es… es fällt… auf.« Er verlor erneut die Kontrolle. Freda lag die Bemerkung auf der Zunge, daß er als Glatzkopf doch viel stärker auffallen müsse und dazu noch gleich einen eingebauten Spitznamen hatte – aber sie wußte selbst nur zu gut, was es hieß, an einem Kindheitstrauma zu leiden. Außerdem konnte sie verstehen, warum er sich eine Perücke gekauft hatte, statt sich für einen Glatzkopf zu entscheiden: sein Schädel glänzte zu stark; er schien das Sonnenlicht, das durch die gläsernen Wandziegel hinter dem Schreibtisch fiel, geradezu aufzufangen und zu bündeln. »Setzen Sie Ihr Haar wieder auf, Dr. Gaynor«, herrschte sie ihn an. »Der Glanz blendet mich.« Während Gaynor bedächtig sein Haarteil justierte, wich die Spannung von Freda. Ihre Schlachten auf der Erde waren fast geschlagen. »Dr. Gaynor, ich setze den Stempel ›Nicht freigegeben‹ sofort auf die Monographie, wenn Sie mich als Entlastung für Dr. Theaston auf Flora der Abteilung Charlie zuweisen.«
»Aber die Abteilung Charlie ist schon in Quarantäne. Sie geht bereits nächste Woche in Hibernation. Wie stellen Sie sich das vor?« »Kein Problem. Geben Sie mir ein Crash-Programm.« »Dr. Caron, so einfach geht das nicht. Man wird Fragen stellen. Sie strapazieren damit das Budget um zusätzliche dreißigtausend Dollar.« »Ein gewiefter Amtsleiter hat keine Probleme, dreißigtausend Dollar unterzubringen«, erwiderte sie ungerührt. »Einen Vier Millionen-Dollar-Irrtum zu vertuschen, würde schon ein Genie erfordern.« Gaynor zuckte geschlagen die Achseln und drückte auf die Taste der Sprechanlage. »Mrs. Weatherwax, stellen Sie bitte einen Quarantäne-Notpaß auf Dr. Freda Caron aus. Sie fährt als Zytologin mit der Abteilung Charlie nach Flora, um Dr. Paul Theaston auf der Insel Tropica zu unterstützen. Und bringen Sie ihn, sobald Sie ihn fertig haben.« »Jawohl, Sir.« Er drückte auf einen anderen Knopf. »Hallo, Medizin, hier spricht der Amtsleiter. Wer ist der diensthabende Beamte?« »Dr. Youngblood, Sir. Am Apparat.« »Dr. Youngblood, ich muß Sie leider bitten, ein paar Überstunden zu machen, um Dr. Freda Caron auf den Transport mit Abteilung Charlie vorzubereiten. Wäre das zu machen?« »Dr. Gaynor, dafür würde ich sogar die ganze Nacht opfern!« Freda mußte über die spontane Begeisterung Dr. Youngbloods lachen. Ihr Lachen trillerte so hell wie das Gelächter der Tulpen. Dr. Gaynor, ganz rot im Gesicht, schaltete die Sprechanlage aus und suchte mit viel Aufhebens nach dem Stempel. Er war gerade damit beschäftigt, das Stempelkissen zu suchen, als Mrs. Weatherwax hereinkam und den Quarantänepaß vor ihm auf den Schreibtisch legte. Er warf nur
einen kurzen Blick darauf und reichte ihn an Freda weiter. Während sie das Formular im Hinblick auf etwaige Fehler überflog, klappte Gaynor das Deckblatt der Caron-PolinoMonographie auf und drückte seinen Stempel auf die Titelseite. Moralisch betrachtet, dachte Freda, verstoße ich wahrscheinlich gegen irgendein Prinzip, aber Gaynor hat ja selbst gesagt, daß jede Lösung recht sei, wenn sie nur funktioniert. Sie konnte damit rechnen, daß Clayborg etwa drei Wochen Stillschweigen bewahrte. Das war Zeit genug, um von diesem ungesunden Planeten wegzukommen. Danach würde sich das Rad der Untergrundwissenschaft mit unwiderstehlicher Gewalt in Bewegung setzen, und wenn sie von Flora zurückkehrte, würde Doktor Charles Gaynor wahrscheinlich Oberaufseher der Parkwächter in der Gedenkstätte von Arlington sein, verantwortlich für die Pflege der Blumen auf dem Grabmal des Unbekannten Soldaten. Er reichte ihr die Untersuchung über pflanzliche Kommunikation. Quer über die Titelseite prangte der Stempel »Freigabe im Ermessen des Amtsleiters.« »Unterzeichnen Sie hier«, sagte er und tippte mit dem Finger auf die betreffende Stelle. Sie schob ihm den Quarantänepaß hin. »Nach Ihnen.« Gaynor tat amüsiert. »Sie mißtrauen doch nicht Ihrem Amtsleiter, oder?« sagte er mit gespieltem Tadel und unterzeichnete. Er gewann langsam seine überlegene Haltung zurück. »Nicht ohne Grund, oder?« Freda hatte ihre Untergebenenhaltung noch nicht zurückgewonnen. Sie setzte ihre Unterschrift unter den Stempel, nahm den Paß und erhob sich. Gaynor erhob sich ebenfalls, streckte automatisch die Hand zum förmlichen Abschiedsgruß aus und murmelte: »Viel Glück, Freda, und möge der Himmel Ihnen einen schlechten Flug ersparen.«
Sie revanchierte sich mit gleicher Münze. »Und ich wünsche Ihnen Gottes Segen auf der Erde – Charlie.« Als sie die Tür hinter sich schloß, fühlte sie sich müde und verbraucht, als würden ihre Nerven durchhängen. Sie hatte gerade einmal die erste Hürde übersprungen – einen Erdenmenschen. Vor ihr lag eine Schlacht mit Titanen um die Kontrolle über die gefühlserzeugenden Eigenschaften des Mannes, den sie zu heiraten beabsichtigte. Doch was sie am meisten erschreckte, war ihre eigene Vermessenheit. Hans Clayborg hatte gesagt, Intellektuelle verliebten sich nicht, und sie steuerte ihre weibliche Intuition auf einen Kollisionskurs mit der Logik von Hans Clayborg. Sie glaubte, daß der männliche Intellektuelle fähig war zu keimdrüsenbedingten fixen Ideen. Auf dem Weg durch das Vorzimmer nickte sie Mrs. Weatherwax ein freundliches Auf Wiedersehen zu, und Mrs. Weatherwax hob beim Zurücknicken die Hand und spreizte die Finger zum V-Zeichen. Freda fühlte sich angesichts dieser Geste von einem warmen Schauer des Optimismus durchrieselt, erblickte sie in ihr doch die abschließende Prophezeiung einer Sibylle, die sich niemals geirrt hatte. Die staksige Schrift, in der ihr Quarantänepaß ausgefüllt worden war, hatte Dr. Gaynors Sekretärin als das Orakel des Frauenaufenthaltsraums identifiziert.
12
Freda erwachte, als sie die Rutsche hinunterglitt und sanft auf dem weichen Gras landete. Sie rollte sich zur Seite, um den Ausgang freizumachen. Auf dem Rücken liegend, den Oberkörper auf die Ellenbogen gestützt, blickte sie auf eine grüne, von einem Buchenhain gesäumte Anhöhe und fand, daß die Kameras die Farben Floras noch untertrieben hatten. Niemand hatte ihr gesagt, daß das Gras nach Klee duftete und alle Wolken sanft auf einem Blau, das die Mutter allen Blaus war, dahintreibende Nimbuswolken waren. Die grausilbernen Baumstämme schienen wie mit einem Palettenmesser auf den Horizont gemalt, ihre Blätter mit einem Pinsel aufgetupft, und der Granitvorsprung auf dem Kamm zu ihrer Rechten war rings um seinen Fuß mit gelben Rosen umrahmt. Irgendwo in den Buchen trällerte ein Vogel sechs Töne. Die Stille, die einkehrte, als er verstummte, summte ihr noch süßer als vorher in den Ohren. Dichter und Maler sollten solche Expeditionen begleiten, dachte sie, und Komponisten, ja selbst muffige Zeitungsreporter. Die NASA beging einen großen Fehler, daß sie die Flüge auf Scouts beschränkte, deren Wortschatz sich in »Jawoll, Sir« und »Alle Systeme laufen« erschöpfte. Freda drehte den Kopf und blinzelte auf das Gewirr von Landestreben hinter ihrem Rücken. Langsam glitt ihr Blick an dem schlanken, glänzenden Leib des Raumschiffs hoch. Die USSS Botany war auf einer Wiese auf dem Abhang eines Hügels niedergegangen. Zur Talseite hin mündeten weitere Rutschen aus dem Bauch des Schiffes, aber auf ihrer Seite war sie ganz allein. Freda trug eine Uniform aus grauem Permalon. Sie zog die Jacke aus und schlug einen Purzelbaum auf dem
Gras. Als sie gerade zu einem zweiten ansetzen wollte, hörte sie eine Stimme sagen: »Sie ist schon vom Florafieber gepackt, Doktor.« Kapitän Barron half gerade Dr. Youngblood neben der Rutsche auf die Beine. Platt auf dem Gras liegend, alle viere von sich gestreckt, fragte Freda: »Wo ist denn der Rest der Abteilung?« »Sie sind auf der Talseite ausgestiegen und schon unterwegs zum Lager, damit die Mannschaft vom Hauptquartier sich was anzieht, bevor Sie runterkommen«, antwortete Barron. »Ich habe schon über Funk mit Paul gesprochen. Er möchte, daß Sie gleich nach dem Lunch zu ihm rüberfliegen, damit Sie nicht den Lüstlingen auf dem Kontinent in die Hände fallen.« »Er ist also eifersüchtig.« »Ihr Flug dauert eine Stunde. Dr. Youngblood wird Sie begleiten, um Paul zu untersuchen. Paul hat gesagt, er würde vierundzwanzig Stunden mit Ihnen verbringen. Er will seine ganzen Aufzeichnungen mit Ihnen besprechen, und ein Lager aufzuschlagen braucht auch seine Zeit.« »Kapitän Barron, könnten Sie veranlassen, daß ich eine Wanze in die Uniformjacke eingenäht kriege, die rund um die Uhr abgehört wird?« »Haben Sie Angst vor Paul?« wollte Dr. Youngblood wissen. »Nicht vor ihm, aber um ihn«, erwiderte Freda. »Ich werde ihm Suggestivfragen stellen, und ein Psychiater soll die Antworten analysieren.« »Sie haben schon eine«, eröffnete ihr Dr. Youngblood. »Sie steckt in einem der Knöpfe an Ihrer Uniform.« »Sind Sie mißtrauisch?« »Nein. Das gehört seit neuestem zur Standardausrüstung der Expeditionsteilnehmer auf diesem Planeten.« Paul stand winkend auf dem Korallenband, von dem Hal erzählt hatte, und wies den Helikopter ein. Im
nachmittäglichen Sonnenlicht sah er mit seinem blonden Rauschebart, dem langen Haar und seinem Lendenschurz, in dessen Gürtel eine Machete steckte, von oben aus wie ein junger Moses. Aus vierzig Meter Höhe konnte sie erkennen, daß seine Haut von der Sonne Floras gebräunt war, und sich dort Muskeln kräuselten, wo sie sich nicht erinnern konnte, früher welche gesehen zu haben. Er hob sie aus der Hubschrauberkanzel, und es dauerte eine volle Minute, bis ihre Füße den Boden berührten. Die Restspuren ihrer Berührungsphobie wurden weggewischt von der Euphorie der Umarmung. Freda hätte wahrlich nichts dagegen gehabt, wenn Paul sich an einem Ausdauerrekord versucht hätte, hätte nicht Dr. Youngbloods Quengelei über die Verzögerung ihn schließlich dazu bewogen, sie herunterzulassen. »Ich soll einen physischen und psychischen Check mit Ihnen machen«, sagte der Doktor zu Paul. »Wie viele Finger sind das hier?« »Zwei«, sagte Paul. »Aber was ist mit der Erdenfrau? Sie sieht ein bißchen blaß um die Nase aus.« »Setzen Sie sich auf den Felsen«, befahl der Arzt und schwang einen Gummihammer. »Und legen Sie die Beine über Kreuz.« »Gehen Sie auf Abstand, wenn Sie klopfen, Doktor, sonst schubse ich Sie noch den Felsen runter.« Paul ließ die Untersuchung über sich ergehen, und während er mit dem Doktor sprach, kümmerte Freda sich um die Entladung ihrer Ausrüstungskiste. Pauls Kiste stand schon fertig gepackt bereit, und der Pilot hievte sie in die Kanzel. »Was ist mit deinem Feldlog?« »Das brauche ich nicht; ich erzähle dir so alles«, erwiderte Paul. Als der Helikopter entschwebte und sie allein auf der tausend Meter hohen Plattform standen, drehte sich Paul zu ihr
herum und sagte: »Alles, was du für heute nacht brauchst, ist deine Machete. Ich wollte dich vor Sonnenuntergang hier haben, um dir den Ausblick vom Sonnenuntergangspunkt zeigen zu können. Es ist ein Marsch von zehn Meilen. Unterwegs zeige ich dir die Orchideen. Auf geht’s.« Während er barfuß über die Korallen auf die in der Ferne leuchtende Orchideenreihe zuschlenderte, sagte er: »Die alten Riffe fingen die Lavaströme des Vulkans ab, und sobald wir innerhalb des Korallenrings sind, ist der Boden fruchtbar. Eine Orchideenterrasse ist über uns, eine andere unter uns. Oberhalb der Orchideen liegt ein Wald mit gemäßigtem Klima, darüber ist Grasland, und dann kommt der Kegel. Innerhalb des Kraters befindet sich ein See, und der Spalt, den du da drüben im Felshang siehst, rührt von einem Abfluß dieses Sees her. Da vorn fangen schon die Orchideen an. Die, die du gleich siehst, sind männlich. Sie wachsen am äußeren Rand des Umkreises und in der Nähe der Spalten, die die Ströme geschnitten haben.« »Wie ich hörte, sollen sie nachts auf Brautschau gehen.« »Das klang gerade nach Hal Polino«, sagte Paul lachend. »Ich habe diese Möglichkeit natürlich niemals ernsthaft in Betracht gezogen, aber bei alledem, was ich hier an Überraschungen erlebte, hätte selbst das mich nicht mehr verwundert.« »Raus mit der Sprache, Paul! Wie werden sie befruchtet?« »Ich habe da eine Theorie. Sie hängt mit der Ökologie der Insel zusammen, und sie erklärt, warum die männlichen Orchideen am Außenrand stationiert sind.« Sie näherten sich jetzt dem Hain, und Paul bückte sich, um einen einzeln stehenden toten Stengel aus dem Boden zu ziehen. Er hatte abseits von den anderen auf dem Korallenboden Wurzeln geschlagen, aber nicht überlebt. Paul zeigte ihr die zweiastige Wurzel mit den Zwillingshoden.
Freda wog die Pflanze abschätzend in der Hand. Sie war steif, spröde und leicht. »Ich bin froh, daß es eine Pflanze ist«, sagte sie leise. »Die Caron-Tulpen waren weder das eine noch das andere.« »Sie standen auf einer niedrigeren Stufe«, antwortete Paul, ließ aber offen, auf welche Stufenleiter er sich dabei bezog. Dann fügte er hinzu: »Ich vermute, daß du sie vernichten mußtest.« »Ja. Sie waren lebensgefährlich«, erwiderte Freda, während sie den Hain betraten und einem auffallend gleichmäßig gehauenen, etwa anderthalb Meter breiten Korridor folgten, der mitten durch die Orchideen führte. »Hast du diesen Pfad gehauen?« »Nein. Die Haine sind kreuz und quer davon durchzogen. Die Pfade, die zwischen den männlichen und weiblichen Hainen verlaufen, sind noch breiter, und zwar durchgehend einsachtzig. Die Tatsache, daß die Pfade immer gleichbleibend breit sind, gab mir den ersten Wink bezüglich ihrer Befruchtungsmethode.« Freda war dankbar und zugleich neugierig. Ohne die Pfade wäre es fast unmöglich gewesen, sich einen Weg durch die dicken, teilweise bis zu einer Höhe von zweieinhalb Metern aufragenden Stengel und den lang herunterhängenden Ranken und scharfkantigen Spreiten zu bahnen. Sich dicht hinter ihm haltend, schaute sie hinauf zu den riesigen Blüten, deren Farbschattierungen sich zwischen Weiß und Hellrosa bewegten. Einmal blieb er stehen und hob Freda auf die Schultern, um ihr die Möglichkeit zu geben, eine besonders große Blüte, deren Durchmesser fast einen Meter betrug, aus der Nähe zu betrachten. Die feinen roten Äderchen auf den Kronenblättern und der Lippe erinnerten sie an eine Cymbidium alexanderi – nur mit dem Unterschied, daß sie einen einzigen Staubfaden
und keine Narbe hatte. Der Staubfaden war fast fünfzehn Zentimeter lang. »Der Staubfaden ist mit dem Rostellum zu einem Ganzen verbunden«, kam von unten die Stimme Pauls. »Die Weibchen haben eine einzelne Narbe am Eileiter. Sie ist fast rudimentär, aber empfänglich.« »Mit einem einzelnen, gipfelständigen Blütenstand«, sagte sie, »hättest du sie eigentlich Getreidehalm-Orchideen nennen müssen.« »Da die Hüften bei den Weibchen ausgeprägter sind, beugte ich mich dem schwächeren Geschlecht.« Von seinen Schultern aus konnte Freda weit über die Haine blicken. Sie sah in der Ferne eine Orchidee, deren Blüte hellrot leuchtete. »Es ist wunderschön von hier oben«, rief sie begeistert. »Dann trage ich dich eben«, erwiderte Paul kurz entschlossen und setzte sich leichtfüßig in Bewegung. Auf der Erde, erinnerte sie sich, hatte es ihn immer nervös und hektisch gemacht, wenn sie mitten in einer Diskussion abrupt das Thema wechselte, aber hier stieg er scheinbar mühelos auf ein neues um und schweifte ebenso mühelos darüber hinweg. Seine Bewegungen hatten dieselbe fließende Leichtigkeit. »Wir können auf diese Weise schneller vorankommen«, sagte er, »ich möchte den Punkt gern noch vor Sonnenuntergang erreichen.« »Es schien dich nicht zu überraschen, als ich dir sagte, daß ich die Tulpen vernichten mußte. Wußtest du, daß sie intelligent waren?« »Wenn du es so nennen willst«, erwiderte er. »Ihre Intelligenz war die eines sozialen Insekts – und wenn sie tödlich waren, nun, das ist ein Bienenschwarm auch. Was für Befruchter verwendeten sie auf der Erde?« »Wespen.«
»Gleich und gleich gesellt sich eben gern«, sagte er verächtlich. »Die Orchideen könnten sich niemals an die Erde anpassen. Sie tragen nur einmal im Jahr Samen, und dann auch nur ein einziges Korn.« »Wie haben sie überhaupt auf dem Gras Fuß gefaßt?« »Sie schwangen sich von Bäumen herunter, wie wir. Vor Urzeiten waren sie Scheinschmarotzer. Als die Lava den Erdboden bedeckte, vernichtete sie das Gras, aber ein paar Bäume blieben stehen – mit ihren Orchideengästen. Auf diese Weise konnten die Orchideen Fuß fassen, bevor das Gras zurückkam.« Nun, da er sich nicht länger ihrem langsameren Schritt anpassen mußte, schaffte er mindestens sechs Kilometer pro Stunde. Trotz der zusätzlichen Last schritt er noch immer kraftvoll und leichtfüßig aus. Nach einer Weile gewahrte Freda in der Ferne einen Korallenhöcker, der etwa zwanzig Meter aus der Terrasse herausragte. Auf diesen steuerte Paul jetzt zu. »Du bist leichter zu reiten als ein Kirmespony«, lobte sie ihn, als er sie kurz darauf am Fuße des Korallenhöckers absetzte. »Ab hier müssen wir klettern«, sagte er und deutete mit dem Finger nach oben. Vom Gipfel aus hatten sie im schräg einfallenden Sonnenlicht einen grandiosen Ausblick auf die unter ihnen liegende Terrasse. In der Ferne leuchteten die Orchideen, und von der Terrasse über ihnen schoß brausend, aus einem tiefen Spalt im Korallengestein, ein Wasserfall herab. Freda bemerkte, daß die Vorderfront des Kliffs mehrere große Löcher aufwies. Es handelte sich dabei, wie Paul erklärte, um einstige Meeresgrotten, die, als das Korallenriff sich aus dem Meer gehoben hatte, zu Höhlen geworden waren. Über dem Kliff erhoben sich weitere Terrassen. Übereinandergetürmt in mächtigen Schichten von blassem Rosa, bildeten sie einen bezaubernden Kontrast zu dem satten Grün, das den Fuß des
Berges säumte, dessen schneebedeckter Kegel in die sanft dahinziehenden Wolken ragte. »Die Sonnenstrahlen«, erklärte Paul, »prallen von den Korallen ab und färben den Schnee und die Wolken. Wir sind ein wenig spät dran. Das Schauspiel geht schon los Komm, leg dich her zu mir. Schmieg deinen Kopf an meinen Arm und laß uns gemeinsam zuschauen, wie der Tag sich zur Ruhe legt.« Sie hoffte, daß die Wanze den letzten Satz mitbekommen hatte. Paul war Flora-verrückt bis zum Gehtnichtmehr. Die Blumen sprossen schon aus seinen Sätzen. Vielleicht war dieses fließend Mühelose in seinem Gang, das sie auf dem Wege hierher so sehr bewundert hatte, treffender als Schweben zu bezeichnen. Als sie den Kopf in die aus Deltoid und Pectoralis maior geformte Grube legte, spürte sie, daß seine Muskeln härter waren als die Korallen. Er mochte zwar psychisch aufgeweicht sein, körperlich war er jedenfalls alles andere als das. »Es ist wirklich wunderschön«, flüsterte sie, sich seiner Stimmung anschließend und ihm den Ball wieder zuspielend. »Der Schnee und die Wolken sehen aus wie Erdbeereis.« Paul schmunzelte. »Es wird sich gleich zu einem ManhattanCocktail vertiefen, und Sekunden vor dem Sonnenuntergang wird es aussehen wie Kirschlikör.« Jetzt, dachte sie, wäre der ideale Zeitpunkt, um zu sehen, wie er auf einen Schreck reagiert, wo er so daliegt, in die Sonne starrt und vor sich hinträumt. »Die Tulpen haben Hal Polino getötet.« Einen Moment lang schwieg er, und sie glaubte, die Nachricht hätte ihn betäubt, doch dann sagte er: »Schau doch, wie das Rot jetzt den Schnee überzieht und anfängt, die Wolken zu verschlucken!« Freda spürte die Schönheit und die Friedlichkeit, die dem Sonnenuntergang entströmte. Der Tod schien plötzlich weit weg, in unendliche Ferne verbannt, nicht nur der Tod Hals, sondern der Tod überhaupt. Es war, als schlössen die Insel und die Orchideen jeden Gedanken an
Sterblichkeit vollkommen aus. Aber sie blieb hartnäckig: »Paul, ich sagte, die Tulpen haben Hal getötet.« »Er wäre ohnehin gestorben, hiernach… Wie haben sie es gemacht? Mit Hochfrequenz-Schallwellen?« Diesmal war es an ihr, geschockt zu sein. »Wie kommst du darauf?« »Ihre Luftkammern waren Helmholtz-Resonanzkörper mit Hochfrequenzfiltern, und mit ihren Blütenblättern konnten sie die Schallwellen beliebig bündeln und steuern. Ich erläuterte Hal das System anhand eines Diagramms, bevor er wegging, und wies ihn auch auf die Gefahren hin. Er wußte also, was er tat. Er muß sie absichtlich gereizt haben. Aber getötet haben sie ihn nicht. Wenn er, nach alledem, was er von mir wußte, trotzdem in ihre Reiz-Reaktions-Zone eindrang, dann gibt es nur einen Schluß. Er wollte Selbstmord begehen.« So sah die Sache also aus! Diese ganzen phantastischen Theorien waren gar nicht auf Hals Mist gewachsen, sondern auf Pauls! Und Hal hatte so getan, als stammten sie von ihm, um Eindruck bei ihr zu schinden. Nein, noch schlimmer, um sie zu umgarnen! Er hatte sich Pauls Ideen unter den Nagel gerissen und sie als seine eigenen verkauft! In Wirklichkeit war die Caron-Polino-Theorie also die Caron-TheastonTheorie! Mit ein paar Sätzen erzählte sie Paul, was Hal getan und wie sie die Theorie benutzt hatte, um nach Flora zu kommen. Paul reagierte sehr nachsichtig. Oder lag es daran, daß der Sonnenuntergang ihn benebelt hatte? »Wir kommen jetzt zur Manhattan-Cocktail-Stunde, Freda. Laß die Theorie seinen Namen tragen, zum Andenken an ihn und als Denkmal für die Nachwelt. Er war ein guter Student und ein lieber Freund.« »Ich bin nicht so sicher, ob Hal wirklich der liebe Freund war, für den du ihn hältst«, erwiderte sie, und in ihrer Stimme klang echte Entrüstung mit. »Er suggerierte den Tulpen, er und
ich seien ihr Vater und ihre Mutter. Und er brachte sie dazu, mich zu betören. Fast wär’s ihm auch gelungen. Er hatte mich schon zu einer Verabredung im Mexicali-Café herumgekriegt, aber dann bekam er den Hals nicht voll. Weil er einen vermeintlichen Rivalen aus der Stadt kriegen wollte, überstürzte er seine Experimente, und die Waffe, die er benutzte, um mich zu verführen, rettete mich.« »Schau doch, Freda, jetzt sehen die Wolken aus, als würden sie in Flammen aufgehen!« Sie musterte den rotglühenden, die Wolken überschüttenden Glanz und entschied, daß die Orchideen in keiner Weise auf Pauls Libido Einfluß genommen hatten. Er war noch immer so romantisch wie eine Auster, die ihre Metamorphose durchlief. »Es sieht zumindest so aus, als wäre der Vulkan aktiv«, sagte sie. Als die Glut erloschen und die Farben wieder verblaßt waren, sagte Paul unvermittelt: »Ich wünschte, du wärst ins Mexicali gegangen. Es war ein erstklassiger Laden, verglichen mit all den anderen, und Hal wäre glücklich gestorben.« Freda kuschelte sich fester an ihn. Sie war von seiner Antwort zugleich entzückt und bestürzt. »Findest du nicht, daß du ziemlich freigebig mit meiner Gunst umgehst?« »Ich liebe dich als Frau, und Hal habe ich als Mann geliebt.« Er lachte leise in sich hinein. »Die Liebe ist immer etwas, das man mit anderen teilt, aber dieses Teilen muß sich nicht immer nur auf eine Person beschränken.« »Bist du etwa mit ihm in diesen entsetzlichen Bums gegangen?« »Ich habe ihn mit dorthin genommen«, gestand er freimütig. »Da er ein erstklassiger Assistent war, dachte ich mir, wenn er schon so gern in solche Läden geht, dann sollte ich wenigstens meinen Teil dazu beitragen, die Gefahr eines längeren Arbeitsausfalles durch Messerstiche, Tripper und sonstige einschlägige Krankheiten, die man sich in billigen Puffs holt,
möglichst gering zu halten.« Freda schoß kerzengerade hoch und fuhr herum. »Paul Theaston! Ich bin entsetzt! Du elender Heuchler! Spielt vor mir den schüchternen Liebhaber, der mir erst ein Jahr lang den Hof macht, bevor er sich endlich traut, mir einen Handkuß zu geben, und rennt gleichzeitig hinter meinem Rücken in die übelsten Altstadtspelunken! Gehe ich recht in der Annahme, daß du auch irgend so ein Flittchen hattest, das dich El Toro nannte?« Ungeachtet ihres Wutausbruchs zwinkerte er belustigt mit den Augen. »Stimmt, aber erstens war das auf einem anderen Planeten, und zweitens konnte das ›Flittchen‹ keinen Tango tanzen.« Er legte seinen Arm um sie und zog sie zu sich herab. »Ich hatte Angst, dich zu fest zu drücken. Ich fürchtete, dein Lack würde zerspringen, und ich würde mich vielleicht an den Splittern verletzen… Guck doch, jetzt sind wir beim Kirschlikör!… Und deine Jungfräulichkeit machte mir Angst. Ich bin Pragmatiker und finde, daß Jungfrauen keinen pragmatischen Wert haben, aber auf der anderen Seite bin ich auch nicht der Heilige Geist.« »Schön, das zu wissen. Über den Punkt brauchst du dir den Kopf übrigens nicht mehr zu zerbrechen!« »Willst du damit sagen, daß du keine Jungfrau mehr bist?« »Wärst du eifersüchtig, wenn ich dir sagte, daß ich mir da nicht so ganz sicher bin?« Er sah sie erstaunt an. »Eifersüchtig nicht, aber verdammt neugierig. Was heißt denn ›nicht so ganz sicher‹? Entweder du bist noch Jungfrau, oder du bist es nicht.« »Ich werde dir später davon erzählen. Im Moment interessiert mich deine Liederlichkeit bedeutend mehr. Das haut mich glatt um. Und stell dir vor, dein Profil war fast genau wie das von Daddy!« »Was du nicht sagst! Nun, da deine Mutter eine Professionelle war, denke ich mir, daß er sie bestimmt nicht
bei einem Kleingärtnertreffen kennengelernt hat.« Er hatte den anderen Arm jetzt auch um sie gelegt, und Freda hoffte sehnlichst, daß der Druck seiner Brust gegen ihre die Übertragungssignale der Wanze blockierte. »In gewissen Kreisen könnte deine Herkunft Naserümpfen hervorrufen, aber für mich repräsentierst du die beste meiner beiden Lieblingswelten.« Er stupste ihr zärtlich mit der Nase gegen den Hals und küßte sie. Seine Arme wrangen auch den letzten Rest Wut aus ihr heraus. Pauls stillschweigend eingestandene Bewunderung für ihre Mutter erschütterte Freda nicht schlecht, denn sie machte ihr mit einem Schlag bewußt, daß sie bei all den elterlichen Ehekrächen, die ihre Jugend überschattet hatten, niemals die Seite ihrer Mutter gesehen hatte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, das Urteil ihres Vaters über ihre Mutter unreflektiert zu übernehmen. Es war offensichtlich auch ein Fehler gewesen, das amouröse Potential Paul Theastons zu unterschätzen. »Liebling«, flüsterte sie. »Ja, mein Schatz.« »Würdest du mir einen Gefallen tun?« »Aber sicher, meine Süße.« »Bring mich von diesem verdammten Felsen runter!« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren stand er auf, lud sie auf seine Schulter und trug sie, sich barfuß über den scharfkantigen, steil abfallenden Hang vorantastend, hinunter. »Ich möchte nicht, daß du ausrutschst und dir einen Oberschenkel brichst.« Typisch Paul, dachte sie. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Selbst in diesem Augenblick größter innerer Erregung, wo er alle Konzentration brauchte, um sich und seine Last heil den gefährlichen Abhang hinunterzubalancieren, galt seine größte Sorge nicht etwa ihrem Hals oder Arm oder Bein, sondern ihrem Becken! Andererseits hatte sie in der Aufregung über ihr Wiedersehen
und seine Enthüllung über den wirklichen Paul Theaston völlig die Wanze in ihrem Uniformknopf vergessen.
Als die Nacht sich herabsenkte und der erste der beiden Monde Floras hinter dem Berg aufstieg, schlugen sie in Hörweite des Wasserfalls dicht neben einem breiten Pfad in einem männlichen Hain ihr Lager auf. »Wir flechten uns ein Gitter aus Ranken, um unsere Augen gegen das Licht des zweiten Mondes abzuschirmen. Wenn er im Zenit steht, ist er nämlich so hell, daß man davon aufwachen kann.« Er zeigte ihr, wie man die Ranken am besten miteinander verflocht, und als sie es heraushatte, sagte er: »Während du hier weitermachst, gehe ich was zum Abendessen auftreiben. Ich werde nicht lange wegbleiben, aber gehe inzwischen keinen Schritt aus dem männlichen Hain heraus, hörst du? Hier bist du völlig sicher.« »Sicher wovor?« fragte sie alarmiert. »Nur eine theoretische Gefahr«, erwiderte Paul vage. »Von oben, vom Wald oder von den Meeresgrotten in der Steilwand.« »Wenn hier irgendeine Bedrohung existiert«, sagte Freda mit un-überhörbarem Unbehagen, »dann wüßte ich gerne Näheres darüber. Schließlich werde ich vier Monate hierbleiben.« »Glaube mir, dir passiert nicht das geringste, wenn du den männlichen Hain nicht verläßt. Und wenn du erst eine gewisse Schnelligkeit mit der Machete erlangt hast, kannst du dich im Ernstfall gegen alles verteidigen, gegen das du dich verteidigen möchtest.« »Und wie lernt man diese Schnelligkeit?« fragte sie mit leicht zänkischem Unterton. »Du wirst angepaßt«, entgegnete er grinsend. »So.«
Ehe sie sich versah, war er plötzlich zwischen den Orchideen verschwunden, blitzschnell und lautlos wie ein Mohawk. Zurück blieb eine reichlich verwirrte und nachdenkliche Freda. Emotionell, geistig und physisch war Paul in bester Verfassung, daran gab es nichts zu deuteln. Was sie stutzig machte, war, daß er offenbar überhaupt keine Aufzeichnungen hatte. Gut, er hatte ihr versprochen, ihr »so« alles zu erzählen, doch bisher hatten sich seine Informationen lediglich auf ein paar flüchtig hingeworfene, reichlich wolkige Fakten und halbe Antworten beschränkt. Er wußte zuviel, um so wenig zu sagen. Er hatte zum Beispiel gesagt, er habe Hal vor den Gefahren, die von den Tulpen ausgingen, gewarnt. Aber in seinem Brief an sie war von solchen Gefahren nirgends die Rede gewesen. Auf ihrer Wanderung von der Hubschrauberlandestelle zum Korallenhöcker hatte Paul erzählt, daß die Pfade, die die Orchideenhaine durchzogen, ihm den ersten Hinweis für seine Befruchtungstheorie geliefert hätten. Doch über die Theorie selbst hatte er sich ausgeschwiegen. Die männlichen Orchideen waren an den Außenrändern »stationiert« – ein militärischer Begriff, mit dem sie in diesem Zusammenhang nichts anzufangen wußte. Dann hatte er gesagt, er glaube zu wissen, warum die Geschlechter voneinander getrennt seien. Aber warum und weshalb er das glaubte, hatte er ihr nicht erzählt. Und was war mit dieser theoretischen Bedrohung »von oben, vom Wald oder von den Meeresgrotten«? Und warum sollte sie »angepaßt werden«, was das Erlernen von Schnelligkeit betraf, statt – wie man meinen sollte – sich »anzupassen«? Er hatte ihr Leben mit ein paar Hammerschlägen Ehrlichkeit wieder geradegeklopft, und doch war da irgend etwas Verstohlenes in seiner Aufrichtigkeit, wenn er von Tropica sprach. An die Stelle seiner sonst so bestechenden Methodologie war eine nicht zu übersehende intellektuelle Schlampigkeit getreten. Nach einer
Weile sah sie ihn über den Pfad zurückkehren. Er hatte eine Stange Zuckerrohr über dem Arm und ein elisabethanisches Lied mit einem »Falleri und Fallera«-Refrain auf den Lippen. Das Mondlicht tauchte seinen bronzenen Körper in Silber. »Majestät, das Zelt ist gerichtet«, empfing sie ihn. »Leckt Euch die Lippen zum Festmahl«, versetzte Paul kongenial, wobei er ein Stück von dem Zuckerrohr abhackte und pellte. »Und um mir von besagtem Jungfernschaftsnachtrag zu unserem einstigen Ehevertrag zu berichten… Euer Souper, Mylady.« Das Mark mundete hervorragend, und während er vor ihr hockte und mit vollen Backen kaute, lieferte sie ihm eine detaillierte Schilderung aller Ereignisse der vergangenen Monate, von ihrem ersten Dinner mit Polino bis zu ihrer denkwürdigen Unterredung mit Gaynor. Als sie fertig war, sagte sie unvermittelt und unverblümt: »Hans Clayborgs Theorie, Intellektuelle würden sich nicht verlieben, paßte überhaupt nicht mit Hals Bemerkung zusammen, du hättest ihn von den Orchideen ferngehalten. Ich hatte das Gefühl, daß da was anderes dahintersteckte; nämlich daß du ihn loswerden wolltest, weil du dich in die Orchideen verliebt hattest und sie für dich allein haben wolltest.« »Clayborg hat die Wahrheit gesagt. Die Liebe eines klugen Mannes ist ein Werturteil.« »Und warum hast du dann Hal von den Orchideen ferngehalten?« fragte Freda, ein Gähnen unterdrückend. Pauls Antwort stempelte ihn unwiderruflich zu einem Seelenverwandten. »Hal hätte sich ›verlieben‹ können, weil seine überaktiven Hormone ihm den Verstand trübten. Wenn er geblieben wäre, hätte ich über kurz oder lang einen liebeskranken Jüngling bei mir gehabt, der zu keiner vernünftigen Arbeit mehr in der Lage gewesen wäre und mir
wie ein Klotz am Bein gehangen hätte. Ich bin Wissenschaftler und kein Verwalter oder Organisator.« »Hältst du denn nichts von Organisation?« »Im großen und ganzen verabscheue ich jede Art von Organisation. Juristisch sind sie nur theoretische Körper, aber die Maden, die in ihnen wimmeln, sind echt, und die Schmeißfliegen, die sie gelegt haben, auch Du wirst langsam müde. Laß uns schlafen gehen.« »Erst will ich aber noch wissen, was du über den Befruchtungsprozeß herausgefunden hast, und weshalb – «. »Morgen«, fiel er ihr ins Wort. »Das Ganze ist ziemlich kompliziert und verworren, und es könnte durchaus sein, daß ich mich irre.« »Du irrst dich nie, Paul, aber du hast recht, ich bin wirklich müde.« Er legte sich neben sie und strich ihr über das Haar. »Doch, ich könnte mich irren. Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, daß es am Anfang des Lebens, sozusagen im Urzustand der Unschuld, gar keine Befruchter in Eden gab?« »Aber ich gelangte nach Eden durch die Hintertür«, erwiderte sie, und Heyburn fiel ihr ein, »auf einer Apfelkitsche kauend.« »Nein, meine Liebste«, sagte Paul sanft. »Du kamst in Unschuld, und durch den Dienstboteneingang Schlaf jetzt, mein Schatz.« Seine Hand strich zärtlich über ihr Haar, und eine wohlige Mattigkeit senkte sich über Fredas Geist. »Du hast mir noch soviel zu erzählen, Paul. Du mußt den morgigen Tag mit mir verbringen.« »Natürlich, liebe Freda. Ich werde morgen den ganzen Tag bei dir bleiben.« Sie glitt langsam in den Schlaf hinüber, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, als er sagte: »Ich werde dich nie mehr verlassen. Wir sind nach Eden gekommen, um
für immer hier zu bleiben. Und nun schlaf, meine Süße. Schlaf, schlaf.« Sie hörte ihn noch immer, und sie wußte, daß er beschwichtigend auf sie einredete, um sie in den Schlaf zu wiegen. Ganz leise und sanft sickerten seine zärtlichen Worte in ihr Unterbewußtsein, wie ein süßer Schlaftrunk. Sie genoß es, von Paul in den Schlaf geredet zu werden. Sie lächelte im Halbschlaf und spitzte die Lippen, um seinen Gutenachtkuß zu erwidern. Sie wußte, daß er sie manipulierte, aber es störte sie nicht. Manipulation und Manipulation war nicht dasselbe: Es war ein gewaltiger Unterschied, ob man von einem karrieresüchtigen Politiker wie Gaynor manipuliert wurde oder von der zärtlich streichelnden Hand des Mannes, den man liebte. Einmal wachte sie auf. Der zweite Mond stand genau über dem Bergkegel, und sein strahlend helles Licht, das sich silbern auf dem Schnee spiegelte, sickerte durch die Orchideenranken. Neben sich hörte sie Pauls ruhige Atemzüge. Beruhigt sank sie wieder in den Schlaf. Irgendwann erwachte sie erneut, doch nicht bei vollem Bewußtsein, sondern in einem seltsamen Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Verworrene Bilder schwammen schemenhaft vor ihren Augen. Im Traum wie im Wachzustand spürte sie, wie Finger über ihren Körper glitten und anfingen, sie zu entkleiden. Sie glaubte, Paul sei zu ihr gekommen, obwohl sie sein Atmen nicht hören konnte. »Er ist zu mir gekommen«, dachte sie, »mein Bräutigam, mein Geliebter.« Doch dann kamen die Traumbilder wieder, und sie sah sich in einer Kammer liegen, umringt von Vestalinnen, die sie auszogen und salbten. Vestalinnen der Mondgöttin, die sie für ein Ritualopfer herrichteten. Freda hatte keine Angst, als sie sie aufhoben und die Stufen eines Tempels hinauftrugen, denn sie wußte – so leicht war der Druck der Hände auf ihrem Körper –, daß sie dies alles nur
träumte; daß der Gang, durch den man sie, vorbei an Reihen schweigender Priester, trug, nur im Traum existierte. Obwohl die Priester, an denen sie vorbeikam, weder sprachen noch sangen, spürte sie die Liebe, die ihr jeder einzelne von ihnen entgegenbrachte. Sie spürte sie in all ihrer Verschiedenartigkeit und Mannigfaltigkeit: die ehrfürchtig-hingebungsvolle Liebe des jungen Grünschnabels, die unvoreingenommene, warmherzige Liebe des gütigen Bruders, die väterliche Liebe des Patriarchen zu seiner Tochter. Es war, als würde sie eingehüllt in einen Mantel aus vielen Farben, und obwohl die Hüllen sie fest umspannten, umspannten sie sie doch sanft und leicht, ohne sie zu beklemmen. Und sie bedeckten ihren Körper auch nicht völlig. Der lange Zug aus Vestalinnen und Priestern bewegte sich langsam vorwärts, und schließlich gelangte sie vor den Altar der Göttin Isis. Es konnte nur ihr Altar sein, denn der Mond befand sich direkt hinter dem Hohenpriester, der mit erhobenem Opfermesser vor ihr stand. Plötzlich, wie häufig in einem Traum, wandelten sich die Bilder und Formen. Statt auf einen Altar gelegt zu werden, wurde ihr Körper in Embryonalstellung gefesselt, und sie verspürte den Drang, zu kichern; als sie, mit dem Gesäß voran, zum Hohenpriester hinaufgehoben wurde. Er stand noch immer mit erhobenem Messer da. Jetzt verwandelte sich das Messer in einen hölzernen Stab. In dem Sekundenbruchteil, der verstrich, bevor das Instrument heruntersauste, wurde Freda bewußt, daß sie getäuscht worden war. Sie wurde nicht auf dem Altar der Isis geopfert. Der Priester war eine Orchidee, und sie wurde einem Orchideengott als Opfer dargebracht. Freda spürte, wie etwas Scharfes, Hartes in sie eindrang, doch der erwartete Todesschmerz blieb aus. Sie war plötzlich ein Rodeoreiter, der auf einem bockenden Hengst saß, jedoch mit dem Kopf nach
unten. Mit jedem Aufbäumen sank sie tiefer ein, während sie gleichzeitig von mächtigen Stößen emporgetragen wurde, immer schneller, auf und ab, in rasendem, stampfendem Rhythmus. In dem Augenblick, als alles um sie herum sich zu drehen schien, löste sich der Staubfaden mit einem kurzen, heftigen Ruck aus ihrem Körper. Ein kurzer, keuchender Schmerzschrei, und dann fiel sie in die Tiefe. Immer rasender wurde die Fahrt, und plötzlich merkte sie, daß sie in einer Achterbahn saß und mit atemberaubender Geschwindigkeit zu Tal stürzte. Gleich darauf war die Fahrt zu Ende, und sie schaukelte auf einer Rikscha, die vollbeladen mit Puppen und Teddybären war, über den Kirmesplatz – vorbei an Wurfbuden, Würstchenständen und Leierkästen. Sie hatte den Duft von Popcorn, Erdnüssen und Ulmen in der Nase. Als sie aufwachte, schien bereits die Sonne. Paul hockte vor ihr im Gras und zerkleinerte mit seiner Machete eine melonenartige Frucht. Als sie sich die Augen rieb, sah er sie an, zerteilte eine Hälfte der Frucht in zwei gleichgroße Stücke und reichte ihr eines davon mit den Worten: »Hier, das beste Frühstück, das du je gegessen hast.« Ein kurzer Blick verriet ihr, daß Paul sie aus dem Hain herausgetragen hatte. Ausgestreckt auf dem Gras liegend, bewunderte sie ausgiebig das Spiel seiner waschbrettartig geriffelten Bauchmuskulatur, während er mit seiner Machete den Rest der Frucht zerlegte. Paul Theaston war splitternackt. »Du hast ja gar nichts an«, sagte sie verdutzt. »Du auch nicht«, entgegnete er trocken, aber wahrheitsgemäß. Sie biß in die Melone und dachte, daß es leichter sei, tugendhaft zu sein, wenn man nichts an hatte. »Du hast mich heute nacht allein gelassen.« »Du warst nicht allein. Du hattest sie.« Er zeigte auf die Orchideen. »Ich habe geträumt, daß sie mich hatten… Deine Freunde waren wirklich reizend.«
»Eine Nacht in Eden, und schon schwelgst du in wollüstigen Träumen. Aber du hast genau den Körper für solche Träume. Komm, nimm deine Melone in die Hand, du kannst sie unterwegs essen. Ich werde jetzt das schönste Mädchen der Erde mit den schönsten Mädchen Floras bekannt machen.« Er führte sie den Pfad hinunter in den weiblichen Hain. Leichtfüßig glitt er zwischen den Orchideen hindurch. Dabei bewegte er sich mit solcher Zielsicherheit vorwärts, daß Freda erstaunt fragte: »Wie kannst du unter all diesen Schönheiten eine bestimmte herausfinden?« »Bei Tageslicht anhand der Farbe ihrer Blüte, bei Nacht anhand des Duftes, den sie ausströmt.« »Warst du letzte Nacht auch hier draußen?« »Ja. Ich durchstreife die Haine immer am frühen Morgen, beim Licht des zweiten Mondes. Mittags ruhen die Pflanzen – Ah, hier haben wir ja unser biegsames Liebchen – Freda, darf ich dir Susy vorstellen?« Susy war ein Prachtexemplar von Orchidee. Ihr Stengel leuchtete im Hellgrün der Jugend, und ihre Blüte war dunkelrot. Ihre Fühler schienen leicht zu zittern, als Paul sich mit Freda an der Hand näherte. Ihre Hüften hatten etwas Knabenhaft-Zierliches, ein Eindruck, den die Frische ihres Duftes noch unterstrich. Sie war mindestens zweieinviertel Meter hoch. »Oh, Paul, sie ist wirklich wunderschön!« »Sie mag dich, Freda. Hast du gesehen, wie sie bei deinem Anblick gezittert hat? Geh näher an sie heran, damit sie dich umarmen kann.« Er beugte sich vor, hob eine etwa aus der Mitte des Stengels sprießende Ranke behutsam hoch und drapierte sie über Fredas Schulter. Es schien ihr, als spüre sie ein leichtes Saugen, als die Ranke ihre Schulter berührte, und dann sah sie, wie sich ihre Blätter nacheinander zu winzigen Saugnäpfen zusammenrollten, die sich auf Fredas Rücken legten, über ihre
Taille glitten und sich um ihre Hüften schlangen. Die Spitze der Ranke strich sanft über ihren Bauchnabel. Weitere Ranken lösten sich jetzt vom Stengel, um sie zu umarmen. Freda trat wie gebannt näher heran, preßte ihren Körper gegen den Stengel und schaute mit dem ehrfurchtsvollen Schauer eines Künstlers, der die Mona Lisa betrachtet, zur Blüte hinauf. Mittlerweile waren sämtliche Ranken in Bewegung geraten. Sie tasteten zitternd über Fredas Körper und schlangen sich um ihre Hüften und Schenkel. Freda hob die Arme und faltete sie hinter dem Kopf, damit die Ranken ungehindert über ihren Bauch und ihre Brüste gleiten konnten. Zitternd legten sie sich um ihren Oberkörper und hüllten ihn ein, während die unteren Ranken sanft zwischen Fredas Schenkel glitten und sich an ihrem Rücken hochtasteten. Bald war ihr gesamter Körper eingewebt in einen grünen Kokon, der sie sanft mit Saugnäpfen festhielt und sie mit zärtlichen Vibrationen streichelte und liebkoste. Instinktiv schienen die Blätter die empfindlichsten Zonen von Fredas Körper zu erahnen; saugend und tastend glitten sie über ihre Haut. Waren ihre Küsse anfangs sanft und zärtlich, so wurden sie jetzt, angespornt von dem wohligen Zittern, das mehr und mehr Fredas Körper erfaßte, immer heftiger und leidenschaftlicher, und jedes einzelne Blatt wurde zum bebenden, saugenden Lippenpaar eines feurigen Liebhabers. Und obwohl sie Fredas Wangen und Lippen streichelten, ließen sie Mund und Nasenlöcher frei, als würden sie sich an ihren immer heftiger werdenden, lustvoll keuchenden Atemstößen berauschen. Fasziniert sah Freda, wie die Blüte sich nach hinten und unmittelbar darauf in einem weiten Bogen zu ihr herabneigte. Gleichzeitig zogen die Ranken heftiger an ihr, als bestünde ihr Plan darin, sie hochzuheben. Die Absicht der Orchidee erahnend, stellte Freda sich auf die Zehenspitzen und reckte sich hoch – so weit sie konnte. Sie spürte, wie die Ranken
zwischen ihren Schenkeln sich für den Höhepunkt der süßen Reise der Blüte auseinanderbogen und reckte sich ihr noch weiter entgegen, die Vereinigung jetzt so begierig herbeisehnend, daß sie Paul völlig vergaß. In diesem Augenblick hätte eine Horde Indianer mit lautem Kriegsgeheul um sie herumtanzen können – Freda hätte sie nicht wahrgenommen. Die Blüte näherte sich jetzt dem Ende ihrer Reise, und Freda sah, wie die Blätter sich langsam öffneten. Sie entfalteten sich weit, umschmeichelten sekundenlang sanft ihren Körper, schlossen sich dann fest um sie und hüllten sie in ihre betörende Schönheit ein. Freda erschauerte voller Wonne in den grünen Fesseln. Sie fühlte die Narbe im Innern des Blütenkelchs – eine Lerchenzunge der Liebe, die sich zitternd vorwärtstastete. Dann drang sie ein. Fredas Gesäßbacken zogen sich krampfartig zusammen. Ihr Oberkörper knickte sich mit einem Ruck nach hinten, als hätte sie ein plötzlicher Schlag getroffen. Ein süßer Schauer, der ungeahnte Wonnen vorausahnen ließ, rieselte durch ihre Lenden. Einen winzigen Moment blitzte Angst in ihr auf und sie überlegte, ob sie sich aus den betörenden Liebesfesseln, die sie fest umklammert hielten losreißen sollte, doch der Wunsch, sich völlig hinzugeben, war stärker. Sie fühlte sich in einem Strudel aus süßem Schmerz und heißem Liebestaumel versinken. Die Ranken, die ihren Körper umspannt hielten, zitterten vor Wonne und Erlösung, und Freda beantwortete jeden Stoß mit einem tiefen, wilden Stöhnen. Ihre Brüste, die sich beim Zurückbeugen ihres Oberkörpers aus der zärtlichen Umklammerung der Ranken losgerissen hatten, hüpften in wildem Rhythmus wie zwei junge Rehzwillinge im Sonnenlicht auf und ab. Und so fand denn Freda Caron mit bebenden Brüsten und zuckenden Lenden auf Flora, was Hal Polino auf Erden versagt geblieben war – den letzten Ausdruck eines dissonanten Rhythmus. Plötzlich erschlafften die
Ranken. Die Blätter hörten auf zu zittern und lösten sich von ihrem Körper. Freda wurde behutsam heruntergelassen und sank neben dem Stengel ermattet ins Gras. Die Beine zärtlich um den Fuß des Stengels geschlungen, schlief sie ein. Paul weckte sie auf, indem er ihre Wangen tätschelte. »Zehn Minuten sind genug, kleine Schlafmütze!« Er bückte sich zu ihr herab und half ihr auf die Beine. »Auf, Fräulein, diese wunderschönen Beine sind unter anderem auch zum Gehen da. Ein kühles Bad wird dich schon wieder munter machen. Das war ja eine echt klassische Pose. Erinnerte mich an die Statue von Leda und dem Schwan.« »Schon wieder Statuen«, seufzte sie und rappelte sich auf. »Was du da gesehen hast, war keine Statue, sondern der Caron-Cancan.« »Nie davon gehört.« »Das wirst du auch nie, Freundchen.« Sie ging ein wenig taumelig hinter ihm her, als er sich umdrehte und den Pfad zurückging. Hier und da blieb er stehen und schnitt mit der Machete ein verwelktes Blatt von einem Stengel oder einer Ranke. »Sie mögen das«, erklärte er. »Es ist für sie etwa so, als ob wir uns die Zehennägel schneiden. Die Pflanzen sind sehr empfindlich für die Bedürfnisse und Wünsche anderer. Dein Akt vorhin war ein Spiegelbild jener Wünsche, die du ohne guten Grund in dir unterdrückt hast. Und je vertrauter dir die Orchideen werden, desto sensibler wirst du ihnen gegenüber reagieren, und nicht nur ihnen, sondern auch anderen Menschen gegenüber. Auf eine Art, die dir vorher nie bewußt gewesen ist.« »Paul«, sagte Freda unvermittelt, »ich habe eine Wanze in meinem Jackenknopf.« »Das regeln wir später«, erwiderte er unbeeindruckt. »Komm, hilf mir beim Blätterschneiden.«
Freda suchte sich eine Orchidee aus, die ein welkes Blatt aufwies, und schnitt es vorsichtig ab. Sie war peinlich darauf bedacht, dem Stengel mit der scharfen Klinge ihrer Machete nicht zu nahe zu kommen. Das Gefühl, der Pflanze einen guten Dienst zu erweisen, erfüllte sie mit Befriedigung. Sie spürte, wie in ihrem Unterbewußtsein irgendein Abtastsystem den Dank der Orchidee registrierte. Als sie das Lager erreichten, raffte Paul ihre Kleider vom Boden, schnürte sie mit Hilfe ihres Gürtels und den welken Blattstengeln zu einem Bündel und klemmte es sich unter den Arm. Dann führte er sie hinauf zu dem Waldsaum, und von dort aus einen Pfad hinunter, dem Geräusch des Wasserfalls entgegen, dessen reißende Fluten an dieser Stelle eine enge Schlucht in die Lava geschnitten hatten. Sie umrundeten die Schlucht in östlicher Richtung und näherten sich wieder den Korallenwänden. »Dort hinten wächst das Zuckerrohr, das du gestern nacht gegessen hast«, sagte er und deutete mit dem Kinn in die Richtung. »Es ist ein Schlafmittel und gleichzeitig ein Aphrodisiakum.« »Ein Trick, der auch von Clayborg hätte stammen können – War um hast du mich denn nicht wachbleiben lassen?« »Reine Vorsichtsmaßnahme. Ich hatte Angst, du könntest vielleicht Einwände gegen eine solche Begegnung haben.« Sie durchquerten einen kleinen Eichenwald und stießen auf einen Teich mit klarem, grünem Wasser. Der Felsvorsprung, auf dem sie standen, befand sich etwa fünfzig Meter oberhalb der Wasseroberfläche. Aus einem Spalt in der Terrasse über ihnen schoß der Wasserfall hervor, der in einem weiten Bogen etwa fünfzehnhundert Meter in die Tiefe brauste. Er landete auf einem Haufen Korallengeröll und donnerte von dort aus weiter in den Teich hinab, vor dem sie jetzt standen. Er war etwa dreißig Meter lang, an seiner breitesten Stelle mindestens zwanzig Meter breit, und sehr tief. Als Freda hinunterschaute, sah sie die vom Wasser ausgewaschenen Lavastalagmiten, die
von seinem sandigen Grund aufragten. Paul warf das Bündel mit ihren Kleidern ins Wasser, und sie schau ten ihm nach, wie es, von den trockenen Stengeln an der Oberfläche gehalten, langsam auf den Abflußspalt am anderen Ende zutrieb, einmal kurz untertauchte und dann die Stromschnellen hinunter wirbelte, die es ins Meer tragen würden. »In drei Stunden ist es im Meer, wo es noch eine Weile an der Oberfläche treiben wird, bis die Stengel sich voll Wasser gesogen haben. Dann geht es unter, und da mit wäre auch das Ende der irdischen Karriere Freda Carons gekommen.« »Du hast es also ernst gemeint, als du letzte Nacht sagtest, wir würden hierbleiben. Soll das heißen, daß wir uns absetzen?« »Warum nicht? Das einzige, was du auf der Erde zurückläßt, sind schlechte Erinnerungen und Bürointrigen.« »Und was ist mit meiner ganzen Ausrüstung?« »Die steht fertig verpackt zum Abholen bereit. Das einzige, was du mitgenommen hast, ist die Machete. Als Deserteure fällt unser persönlicher Besitz an den Staat. Selbst nach Abzug aller Verwaltungskosten sollte noch genügend übrigbleiben, daß sie sich davon für die Machete entschädigen können.« »Aber ist das, was du vorhast, denn nicht Verrat?« »O nein. Wir verraten unser Land ja nicht. Nach dem Geist und Buchstaben des Sozialpakts regiert eine Regierung nur kraft des Einverständnisses der Regierten. Wir machen lediglich von unserem Recht Gebrauch, unser Einverständnis wieder zurückzuziehen… Wer als letzter drin ist, muß den anderen fangen!« Ehe sie sich versah, war er mit einem Hechtsprung im Wasser und winkte ihr prustend und lachend zu. Als sie ihm nachsprang, holte er tief Luft und verschwand blitzartig unter der Oberfläche. Es war der Auftakt zum lustigsten und fröhlichsten Unterwasserkriegenspiel, das Freda je gespielt hatte. Wie zwei ausgelassene Delphine tollten sie im
klaren, kühlen Wasser des Teichs herum. Durch den Restsauerstoff von ihrer Raumpille war sie Paul gegenüber natürlich im Vorteil: Es gelang ihr, glatte fünf Minuten an einem Stück unter Wasser zu bleiben, und so konnte sie natürlich fleißig Punkte sammeln. Einmal versteckte Paul sich in einer Unterwassergrotte, und als sie suchend an ihm vorbeischwamm, jagte er ihr einen solchen Schreck ein, daß sie wie ein Korken an die Oberfläche schoß. Später lagen sie erschöpft, aber glücklich, auf dem schmalen Sandstrand und lachten vergnügt in die Sonne. »Sag mal, du kleiner Geheimniskrämer«, sagte sie mit gespielt vorwurfsvollem Unterton in der Stimme, »was hat es mit dieser mysteriösen Bedrohung auf sich, die du gestern abend so geheimnisvoll angedeutet hast?« »Ich habe extra nicht mehr davon erzählt, weil ich nicht wollte, daß du vielleicht Angst bekommst. Außerdem bin ich mir selbst nicht so ganz sicher, da ich keinen festen Beweis für meine Theorie habe. Das ganze stützt sich größtenteils auf Indizien. Also, es ist folgendes: Offenbar gab es hier früher einmal – und einiges spricht dafür, daß es auch heute noch existiert – ein Säugetier von der Größe eines Nabelschweins, mit Stoßzähnen und vermutlich der Zunge eines Erdferkels, das die Orchideen als Befruchter benutzten, so wie die Tulpen die Koala-Spitzmaus. Allem Anschein nach erlaubten die Orchideen ihnen, tote Stengel – oder solche, die sich nicht verteidigen konnten – auszugraben und die Knollen zu fressen.« »Die sich nicht verteidigen konnten?« »Ja, mit den Ranken. Die Ranken haben die Funktion von Tentakeln, und die Männchen können mit den Saugblättern sogar ganze Fleischbrocken aus einem Körper reißen. Irgendwann muß es trotzdem bei den Schweinen zu einer Art Bevölkerungsexplosion gekommen sein, und sie fingen an,
immer häufiger in riesigen Rudeln in die Orchideenhaine einzufallen.« »Woraus schließt du das?« »Stoßzahnnarben an den Bäumen auf der sechsten Ebene. Schwaden von Neu wuchs in den Orchideenhainen auf der fünften Ebene. Die fünfte Ebene ist ein richtiges Schlachtfeld. Aber mit der Zeit lernten die Orchideen, die Männchen an den Außenrändern zu stationieren. Auf diese Weise gelang es ihnen, immer nur so viele Schweine durchzulassen, wie sie als Befruchter brauchten. Den Rest töteten sie, sobald sich ein ökologisches Ungleichgewicht entwickelte.« »Und das alles ist reine Schlußfolgerung?« »Nicht ganz«, räumte er ein. »Einmal hörte ich auf dieser Ebene nachts Tierschreie, direkt am Eingang der Schlucht, und als ich morgens hinging und nachschaute, entdeckte ich Blutflecken an den Stengeln und Blutstropfen im Gras. Und einmal fand ich auf einem Felsvorsprung ein Skelett, das von oben heruntergefallen war.« »Oder heruntergestoßen wurde…«, sagte sie leise. Er nickte. »Die Pfade wurden eigens für die Befruchter gezogen. Einsfünfzig zwischen den weiblichen Hainen, weil ihre Reichweite kürzer ist, und einsachtzig zwischen den männlichen. Die Orchideen konnten sie auf diese Weise exakt kontrollieren, wenn sie Amok liefen.« »Du sprichst von ihnen immer in der Vergangenheit. Wie befruchten sich die Orchideen denn ohne sie?« »Nun, sie könnten sich zum Beispiel direkt bestäuben, mit ihren Saugblättern.« »Du weißt genau, daß sie das nicht tun. Laß endlich diese verdammte Geheimniskrämerei! Raus mit der Sprache, was hast du sonst noch herausgefunden?« »Der Schrei, den ich in der Nacht hörte…«
»Sag schon, was war damit?« sagte sie ungeduldig. »Als ich an die Stelle kam, wo das Blut war, da sah ich, daß die einzige entwurzelte Orchidee eine tote war. Sie hatten das Schwein umgebracht, während es friedlich nach Futter suchte.« »Aber warum sollten sie dem Tier etwas tun?« »Es war gefährlich und unfruchtbar. Du mußt wissen, zwischen den Orchideen und den Schweinen bestand keine echte Pflanze-Tier-Symbiose, sondern zwischen ihnen herrschte eine Art ökologischer kalter Krieg.« Paul hob den Blick auf den schneebedeckten Bergkegel, und ein stählerner Glanz trat in seine Augen. »Eines Tages gehe ich mit meinen Söhnen hinauf in den Wald und zeige den Schweinen, wie Menschen töten können.« Freda rollte sich auf die Seite und beugte sich über ihn. »Du weichst meiner Frage noch immer aus. Wenn die Orchideen ihre Befruchter töten, wie können sie sich dann ohne sie fortpflanzen?« Paul setzte sich auf und schaute ihr in die Augen. In seinen Augen loderte helle Begeisterung, und sie fühlte sich mehr denn je an einen jungen Moses erinnert. Als er sprach, war seine Stimme ganz sanft. »Liebes Mädchen, sie haben das ideale Tier für ihre Zwecke gefunden. Wir sind die Befruchter von Eden.« Freda rollte sich auf den Rücken und schaute zu dem schneebedeckten Kegel hinauf, der freigefegt von Wolken in der Sonne glänzte. Sie und Paul konnten eine neue Rasse auf Flora gründen; eine Rasse, die in einem gleichberechtigten, von brüderlicher Liebe geprägten Verhältnis zur Natur heranwachsen würde. Das Bewußtsein ihrer Fruchtbarkeit und der Stolz, den ihr dieses Bewußtsein verlieh, ließen die Aussicht in einem noch zauberhafteren Licht erscheinen, besonders für eine Frau wie sie, die die meiste Zeit ihres Lebens im Süden Kaliforniens verbracht hatte. Ihr taten plötzlich all die jungen Frauen leid, die einen
Verwaltungskarrieristen heirateten, in ein hübsches Häuschen am Stadtrand zogen und den Rest ihres Lebens hinter dem Herd versauerten. Und sie selbst war auf dem besten Weg gewesen, auch eine dieser lebendigen Leichen zu werden! Aber es gab ein paar technische Probleme. »Was wird aus unseren Entdeckungen? Unsere Aufzeichnungen würden der Wissenschaft verlorengehen.« »Sollen sie meinetwegen. Ich hab’ es satt, Fakten um ihrer selbst willen aufzuhäufen. Laß die Wissenschaft meinetwegen zum Teufel gehen. Was haben wir denn von einer Wissenschaft, die uns kein Stück weiterbringt?« »Sehr schön! Wie einfach das so alles geht! Weg mit der Wissenschaft, und wo wir schon einmal dabei sind, können wir ja die Kultur auch gleich mit auf den Müll schmeißen! Aber wir haben ein naheliegenderes Problem. Selbst wenn wir davon ausgehen können, daß die Botany weder die Geräte noch eine ausreichende Anzahl von Leuten hat, um uns aufzuspüren, sind wir lange noch nicht aus dem Schneider. An Bord befindet sich nämlich ein ganzes Rudel Bluthunde – « »Die in den Hainen höchstens fünf Minuten am Leben bleiben würden.« »Sind die Orchideen aggressiv?« »Nicht, wenn ich es nicht will. In Eden ist das Wort Adams Gesetz.« Die härteste Frage hatte sie sich für den Schluß aufgespart. »Wie kann ich noch die Zeit oder Lust finden nach einer solchen Nacht die Stammutter einer Rasse zu werden?« »Befruchtung durch Stellvertreter«, antwortete er grinsend. »Susy war das dritte Bein eines dreibeinigen Schemels.«
Fredas letzte Nacht auf Flora war eine Nacht, die sie so schnell nicht wieder vergessen sollte. Auf Pauls Vorschlag hin
verbrachten sie den Rest des Morgens damit, durch die Haine zu streifen – sie auf seinen Schultern reitend – und nach der seltenen hellroten Blüte eines Orchideengalans Ausschau zu halten. »Der, den ich gestern für dich ausgesucht habe, hatte schon die Blüte seiner Jahre hinter sich«, sagte Paul, »aber es war eine Blitzzuteilung, und außerdem ist es sowieso eine heikle Sache, wenn ein Mann einen Liebhaber für eine Frau aussucht. Dabei spielen zu viele unbewußte Faktoren eine Rolle.« Nach einstündiger Suche fand sie schließlich einen richtigen Zauberprinzen unter den Orchideen. Fast hätte sie ihn übersehen; er stand fast am äußeren Rand der Terrasse, die von dem Flußcanyon und der dem Meer zugewandten Korallenwand gebildet wurde. Er war ein echtes Prachtexemplar, in der Blüte seiner Jugend, und volle zwanzig Zentimeter höher als seine Nachbarn. Paul ermunterte sie, ihn zu der Pflanze zu führen und sie sich aus der Nähe anzuschauen; auf diese Weise würde Freda Bekanntschaft mit ihr schließen, und der Anblick würde ihre Vorfreude steigern und ihre Phantasie beflügeln. Ein leiser Schauer der Erwartung rieselte Freda den Rücken hinunter, als sie von Pauls Schultern auf den schlafenden Prinzen hinunterblickte, und obwohl er im strahlenden Licht der Mittagssonne fest schlummerte, erbebte er vor Glück und Erregung, als sie die Wange gegen seine Blütenblätter schmiegte und ihn liebevoll in seinen prallgefüllten Staubfaden zwickte. »Bring mich hier weg, Paul, bevor der Bursche wach wird«, quiekte sie in gespielter Furcht und stupste ihm die Fersen in die Rippen. Diesmal verzehrte sie zum Abendessen nur eine halbe Portion Zuckerrohr, und zwar von der Stelle direkt hinter den Wurzeln, wo die aphrodisischen Wirkstoffe stärker konzentriert waren als die schlaffördernden. Früh flochten sie ihren Baldachin gegen das Mondlicht, damit sie sich ausruhen
konnten. Als sie sich ausgestreckt hatten, gab Paul ihr einige gute Ratschläge bezüglich ihrer Verhaltensweise gegenüber den Orchideen. Geschickt wischte er mit seinen Worten die alten Tabus weg und redete ihr die Hemmungen aus. Doch in keinem Punkt seiner Belehrung stritt er die spirituellen Werte ab, die dem Ritual innewohnten, und er legte ihr ans Herz, die Angelegenheit als tiefe, glückspendende Vereinigung anzusehen – und sich selbst als heiligen Kelch für den Saft des Lebens. Er riet ihr zu Demut und Bescheidenheit: »Hilf den Jungen und Unreifen mit deiner Erfahrung, und den Alten mit deiner Kraft.« Dann erklärte er kurz die Kommunikationsmethode der Orchideen: Sie berührten einander zur gegenseitigen Verständigung mit den Ranken. Eine Orchidee, die sie brauchte, sagte er, könne sie in einem Umkreis von fünfhundert Metern ausfindig machen. Um die Spannung nicht unnötig auszudehnen, habe er daher einen Schlafplatz ausgewählt, der lediglich fünfzig Meter von der Orchidee, die sie sich ausgesucht habe, entfernt sei. »Sobald die Ranken dich einmal aufgehoben haben und die Buhlerinnen dich zu ihrem Prinzen tragen, gibt es kein Zurück mehr. Entspanne dich also und genieße es.« Und so geschah es denn, daß Freda Caron ihre zweite Vereinigung im Mondenschein erlebte und fand, daß der Akt ihre kühnsten Phantasien und Träume übertraf. Sie wurde von ihrem ungestümen Altardiener in nie gekannte Höhen von Wonne und Glückseligkeit gehoben, einmal, zweimal, doch diesmal war der Genuß von keinen Traumbildern verschleiert, und sie wußte sehr wohl, was oben war und wer unten. Als die dritte und letzte Woge sie ergriff und emporhob zum zweiten Mond, da spürte sie, wie ihre Seele sich weitete und in nie gekannte Tiefen stieß. Und sie dachte: »Wenn das Verrat sein soll…« Aber der Gedanke zerstob unter den unaussprechlichen Wonneschauern, die Liebenden wie Geliebte durchpulsten und
zu ekstatischem Einssein verschmelzen ließen, und sie sank mit einem Seufzen in den tiefen Schlaf der Sattheit.
Ein zischendes Geräusch, wie wenn Speck in einer Bratpfanne brutzelt, weckte Freda auf. Schlaftrunken blinzelte sie in die Sonne, um erstaunt festzustellen, daß es bereits Mittag sein mußte. Sie reckte sich behaglich und rollte sich auf die Seite. Zu ihrer Überraschung war der Patz neben ihr leer. Immer noch gähnend streckte sie ihren Kopf unter dem Baldachin hervor und schaute hinaus auf den Pfad. Was sie dort sah, ließ sie entsetzt hochfahren und nach ihrer Machete greifen. Über den Pfad näherten sich drei menschliche Wesen. Sie trugen Schutzanzüge aus Gummi und durchsichtige Plastikhelme. Zwei von ihnen hatten zylinderförmige Flaschen auf dem Rücken, der dritte, der in der Mitte ging, war mit einem Gewehr bewaffnet. Im Vorwärtsgehen sprühten die beiden äußeren einen feinen Nebel nach links und rechts in die Orchideen. In dem Sekundenbruchteil, bevor sie handelte, begriff sie schlagartig, was passiert war. Irgendwann während der Hibernationsphase hatte man ihr einen Mikrosender unter die Haut transplantiert – vermutlich ins Ohrläppchen – und jedes Wort, das sie mit Paul gewechselt hatte, mitgehört. Sie war als Deserteurin entlarvt, und ihre Orchideen konnten ihr nicht mehr helfen. Hilflos dem tödlichen Nebel aus flüssigem Sauerstoff ausgesetzt, starben sie einen qualvollen Tod. »Mörder!« schrie Freda und stürzte – in nackter, ohnmächtiger Wut die Machete schwingend – auf das Trio los. Sie sah, wie die Gestalt in der Mitte das Gewehr anlegte und warf sich zur Seite – doch zu spät. Mit der Wucht einer Keule schlug das Betäubungsgeschoß in ihren Oberschenkel, und dann wurde es schwarz um sie.
»Wie viele Finger?« fragte eine Stimme. Freda kniff benommen die Augen zusammen. »Drei.« »Wie ist Ihr Name?« Sie sah verschwommen die Umrisse eines Gesichts hinter der Stimme, und über dem Gesicht einen schütteren Haaransatz. »Freda Janet Caron.« »Es ist gut, Schwester, Sie können gehen«, sagte der Doktor. Sie konnte ihn jetzt klar erkennen. Er saß neben ihrem Bett auf einem Stuhl. Durch eine Tür hinter ihm sah sie ein weißgekacheltes Badezimmer, dessen Tür ebenfalls offenstand. Dahinter befand sich ein weiterer Raum mit einem grünen Teppich, ein Bett mit lavendelfarbener Steppdecke, und an der Wand hing ein Bücherregal. Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie ein hohes Fenster, durch dessen Milchglasscheibe mattes Sonnenlicht hereinfiel. Es war vergittert. Der Doktor schaute von dem Notizblock auf, auf den er etwas gekritzelt hatte, sah sie einen Moment schweigend an und sagte: »Freda, ich bin Doktor Campbell. Ich bin ein platonischer Psychiater, und Sie befinden sich in der neuro-psychiatrischen Abteilung des Instituts für Raumkrankheiten in Houston, Texas. Sie haben ein schweres traumatisches Erlebnis gehabt, und ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Seit Ihrer Einlieferung vor zwei Tagen wurden Sie unter Narkose einer Tiefenanalyse unterzogen. Gemäß den Methoden Platos habe ich die Absicht, Ihnen Fragen zu stellen. Ihre Antworten werden Sie zur Selbsterkenntnis führen. Der Platonismus behauptet, daß der menschliche Geist von Geburt her gesund ist.« »Dann muß ich verrückt sein!« »Verrücktheit oder Wahnsinn ist ein abgenutzter, von Vorurteilen befrachteter Begriff, Freda. Sagen wir besser, Ihr Verhalten ist in gewisser Weise… hm… abweichend und
bedarf daher einer Korrektur. Sie leiden an einer gelinden Form der Erdentfremdung, die ihre Ursache in einer Affektübertragung auf einen anderen Planeten hat. Um es einmal mit Freudschen Termini zu umreißen: Ihre Libido ist auf den Planeten der Blumen fixiert, aber diese Fixierung ist nur das Symptom für eine tieferliegende Erkrankung. Nun ist jedoch Ihre Libido in sich schon ein einzigartiges Phänomen, da sie nicht nur eine Person oder einen Gegenstand zum Objekt hat, sondern gleich einen ganzen Planeten. Wir Psychiater bezeichnen diesen Zustand als ›nymphomane Omniphilie‹, was soviel heißt wie leidenschaftliche Liebe für alles.« »Sagen Sie mal, Doktor«, unterbrach Freda seinen etwas pedantisch anmutenden Vortrag, »was ist diese ›tieferliegende Erkrankung‹?« »Humanismus. Das ist eine Art der sozialen Abweichung. In der Tiefe Ihres Herzens sind Sie gegen jede Art von Organisation. Sie sind proindividualistisch, antizivilisatorisch, pronaturistisch, nonaltruistisch, hedonistisch – das heißt, Sie leben nach dem Lustprinzip. Da die Gesellschaft die Funktion hat, zu funktionieren, könnte man Sie in etwa mit einer Schraube mit Linksgewinde vergleichen, die sich in einer Maschine befindet, die nur Schrauben mit Rechtsgewinde hat.« »Das hört sich ja schrecklich an, wie Sie das so sagen, Doktor.« ›»Ernst, aber nicht hoffnungslos‹ dürfte hier wohl der am ehesten angebrachte Terminus sein, Freda. Aber wir wissen eine ganze Menge über Sie, und wir glauben, daß wir Ihnen helfen können. So, und jetzt achten Sie genau auf meine Fragen, und lassen Sie sich Zeit zum Antworten.« Campbells Analysetechnik war eine scharfsinnige Übung in Dialektik. Er begann damit, ihr simple Fragen zu stellen, die auf ihr Verhältnis zu gesellschaftlichem Status im allgemeinen abzielten: ob sie lieber Hausherrin oder Dienstmagd sein würde etc. Alsdann brachte er seine Statusfragen in einen
Bezug zu Mobilitätsbeziehungen, was sie dazu brachte, Freiheit als Handeln aus freiem Willen zu definieren. Geschickt brachte er sie dahin, daß sie zugeben mußte, daß Befruchter in einer Pflanze-Insekt-Symbiose nicht aus freiem Willen heraus handelten. »Daraus ergibt sich logischerweise«, schlußfolgerte er triumphierend, »daß Ihre Beziehung zu den Orchideen Floras eine Herr-Sklave-Beziehung war. Folgt daraus nicht, daß Sie entweder ein Insekt oder eine Sklavin waren?« Seine Bindestrich-Terminologie löste in ihr eine Grant-Clayborg-Reaktion aus. »Ja«, sagte sie nickend, »in dem Sinne, daß eine Ehemann-Ehefrau-Beziehung eine Herrin Sklave-Beziehung ist und Männer Infrastrukturen sind, dazu bestimmt, ihre Zeugungsapparaturen instand zu halten.« Seine Dialektik geriet nach dieser Bemerkung ein wenig ins Stocken. Amüsiert beobachtete sie, wie er im weiteren Verlauf des Gesprächs bemüht war, einen weiten Bogen um alle Fragen zu machen, die mit Sex zu tun hatten oder womöglich die Heiligkeit der Ehe oder die Selbstverständlichkeit der Monogamie in Frage stellten. Und während sie noch Campbells Fragen beantwortete oder schmunzelnd seinen ausweichenden – und daher weitschweifigen – Antworten auf ihre Gegenfragen lauschte, plante sie in Gedanken schon eine Stufe höher. Wieder von Houston wegzukommen war nicht genug; sie mußte zurück nach Flora, zu ihren roten Prinzen und ihrem blonden Moses. Sie wurde auf Flora gebraucht, und zwar genau aus dem Grund, aus dem sie auf der Erde nicht gebraucht werden konnte. Sie war eine Schraube mit Linksgewinde. Dr. Campbell war in den Vierzigern, in einem Alter, in dem ein Mann gleichzeitig das nahende Ende spürt und sich darüber klar wird, daß seine Jugend ein für allemal vorbei ist, in einem Alter also, wo er entweder zum Selbstmord neigt oder zum
zügellosen Exzeß. Und Campbell, das fühlte sie instinktiv, gehörte zu denen, die der zweiten Möglichkeit zuneigten. Hinter seinem pedantischen Wesen steckte ein Mann, der darauf brannte, das Leben noch einmal zu packen, dem es lediglich an den nötigen Greifhaken mangelte. »So, Freda«, – er schaute auf seine Uhr – »die nächsten neun Minuten und fünfundvierzig Sekunden sind für ein zwangloses Gespräch reserviert.« Mit den Placeboworten der Neuen Analyse sagte er damit, daß die offizielle Sitzung vorbei war und nun die nicht fürs Protokoll bestimmten Gespräche begannen, die den Zweck hatten, daß Patient und Analytiker sich näherkamen. Es würde ihrem Ziel dienen, entschied sie, diesen Burschen mit Greifhaken auszustatten und ihm gleichzeitig ein paar Exzesse frei Haus zu liefern, nach denen er damit greifen konnte. »Toll!« jauchzte sie. »Jetzt habe ich Sie ganz für mich allein!« Campbell quetschte ein Lächeln hervor und warf einen Blick auf seine Uhr. »Ja, Sie haben neuneinhalb Minuten.« »Sie sind ja ein richtiger wandelnder Chronometer, Doktor. Hören Sie nicht manchmal das geflügelte Rad der Zeit hinter sich herrollen, wie es immer näher kommt? Spüren Sie nicht, daß noch so viel vor Ihnen liegt, das getan werden muß, so viel Liebe, die – «. »Ich bin kein Frommianer«, erinnerte er sie. »Nun, so viele Fragen, die noch auf eine Antwort warten, daß Sie sterben werden wie ein kranker Adler, der sehnsüchtig in den Himmel blickt?« »Ja, Freda, ich habe oft dieses Gefühl der Dringlichkeit, daß die Zeit viel zu schnell vergeht. Aber das Hauptproblem in diesem Geschäft ist, daß Sie nie etwas Greifbares in der Hand haben, etwas, wo Sie den Finger drauflegen können und sagen, ›das ist es‹. Oft wünsche ich mir, ich könnte einfach in einen Schädel hineinfassen, ein paar Neuronen kräftig durcheinanderschütteln und ein paar Synapsen in Ordnung
bringen, wie ein Mechaniker einen Vergaser auseinandernehmen und reinigen kann.« Er warf in einer Geste der Verzweiflung die Arme hoch. »Das Ganze ist immer ein ›Jetzt hast du’s, und jetzt ist es wieder weg‹. Einmal kam ein Mann zu mir, der zuviel rauchte. Ich brauchte drei Monate, um den Qualm aus ihm rauszuanalysieren. Dann kriegte er nervöse Zuckungen! Zwar hatte ich die nach weiteren zwei Monaten auch weg, aber als ich dachte, ich hätte es nun endlich geschafft, bekam er plötzlich Migräne. Als er einen weiteren Monat später von der Couch da drüben aufstand, hatte er nicht mehr einen Schatten von Migräne, war absolut frei von Zuckungen jedweder Art und schaute keine Zigarette mehr an. Freda, er war rundum gesund und geheilt. Er überschüttete mich mit überschwenglichem Dank, schüttelte mir die Hand, ging aus meinem Büro, schlenderte den Korridor hinunter, und wissen Sie, was er dann tat? Der undankbare Bastard sprang aus dem Fenster! Vierzig Stockwerke tief auf die Straße! Sechs Monate schweißtreibende Arbeit für die Katz!« »Regen Sie sich ab, Doktor«, tröstete ihn Freda. »Wenn er nicht zu Ihnen gekommen wäre und weitergequalmt hätte, wäre er höchstwahrscheinlich an Lungenkrebs gestorben. Wie ist übrigens Ihr Vorname?« »James«, antwortete Campbell, und fast schüchtern fügte er hinzu: »Meine Freunde nannten mich immer Jimmy.« »Wieso ›nannten‹?« »Ich habe keine Freunde mehr. Für meine Patienten verkörpere ich den Vater, und der Durchschnittsneurotiker wünscht in der Regel seinen alten Herrn zur Hölle. Ganz im Vertrauen, das ist ein Bereich, in dem Sie ganz normal sind. Sie wollten Ihren Vater verführen, aber er liebte Ihre Mutter zu sehr.« »Er ließ sich von ihr scheiden, Jimmy.«
»Sicher. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder sich ihm verweigern, oder an Überarbeitung zu sterben. An all das erinnern Sie sich nicht mehr bewußt. Von da haben Sie Ihre Libido, und ich muß sagen, eine, die sich gewaschen hat! Meines Wissens sind Sie die erste Frau, die es mit einer Blume getrieben hat, und der erste mir bekannte Fall von Raumwahn, der in der primären erogenen Zone lokalisiert ist.« »Raumwahn!« »Nur rein technisch«, wiegelte er ab. »Noch nicht zur fixen Idee ausgewachsen. Der Definition nach ist all das, was nicht von der Erde ist, Raum. Um einmal den Laienbegriff zu benutzen: Sie sind kein Halsbieger.« Jimmy war zu angespannt, zu aufgeregt. Immer wieder schaute er auf die Uhr. Freda reckte sich im Bett hoch und lächelte ihn an. »Eher so eine Art Hüftwackler, eh, Jimmy?« Er lächelte. Er hatte ein schönes Lächeln. »Jimmy, stecken Sie mir eine Zigarette an, ja?« Vielleicht beruhigt ihn das ein bißchen, wenn er mir eine Zigarette ansteckt, dachte sie. Aber seine Hand zitterte so sehr, daß er Mühe hatte, mit der Flamme seines Feuerzeugs das Ende der Zigarette zu treffen. Um ihn ein wenig abzulenken, bemerkte sie: »Sie müssen wissen, nicht meine ganze Libido ist auf Flora fixiert.« Sie sprach die Wahrheit. Wenn sie sich seinen allmählich kahl werdenden Kopf von einer roten Orchideenblüte umrahmt vorstellte, fand sie, daß sie die Bedürfnisse anderer ebenso erspüren konnte, wie sie es schon auf Flora getan hatte. Sie konnte genau Campbells Frustrationen orten. Er hatte sein Leben der Aufgabe gewidmet, denen zu helfen, die seine Hilfe mit Undank vergolten hatten – und er war höllisch verlegen. In seinem Innern hockte ein weinendes Kind, und der hypersensible Erwachsene, der er geworden war, sehnte sich nach Bestätigung seines Mannestums. Sie hörte förmlich Paul
sagen: »Hilf den Jungen und Unreifen mit deiner Erfahrung, und den Alten mit deiner Kraft.« Als er ihr schließlich die angezündete Zigarette reichte, fragte sie: »Sind Sie verheiratet, Jimmy?« »Nicht mehr. Ich habe auch als Ehemann versagt.« »Hängt das auch mit dem Vaterbild zusammen?« »Nein. Meine beruflichen Pflichten brachten es mit sich, daß ich sehr oft von zu Hause weg war, und da ich auch, wenn ich einmal zu Hause war, nichts anderes tat, als mir den Kopf über berufliche Probleme zu zerbrechen, kriegte meine Frau es schließlich mit der Langeweile.« »Ich finde, für das Privileg und die Ehre, mit einem Amateurheiligen verheiratet zu sein, hätte sie ruhig ein paar Opfer bringen können.« . »Amateurheiliger!« Er schüttelte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie sich selbst an. »So hat mich noch keiner genannt.« »Auch wenn Ihr Werkzeug das Fragen ist, Doktor, Ihre Kunst ist die Liebe. In dem Moment, wo ich erwachte, hatte ich sofort das Gefühl, in der Gegenwart eines alten Freundes zu sein. Ihre Frau scheint nicht gewußt zu haben, welcher Schatz da zu ihren Füßen lag. Wenn mir das Schicksal einen solchen Ehemann wie Sie beschert hätte, hätten selbst alle Krankheiten der Erde zusammen uns nicht entzweien können. Ich bin glücklich, daß Sie mein Arzt sind, Jimmy, und daß ich mich niemals völlig einer Erde entfremden könnte, die solche Analytiker beherbergt.« Campbell senkte verlegen den Blick. Offenbar fiel dieser dabei auf seine Armbanduhr, denn er sprang wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl auf. »War nett mit Ihnen, Freda. Bücher finden Sie drüben auf dem Regal. Lesen Sie sie. Kein Briefwechsel. Keine Besucher. Ihre Schwester ist Wilma Firbank, ich schicke sie gleich mal vorbei. Und Vorsicht, sie
ist ein Judo-As!« Fort war er, und keine Sekunde zu früh oder zu spät. Freda stand auf, schlenderte zum Regal hinüber und ließ den Blick über die Buchrücken gleiten; Jowetts Plato, Hegels Phänomenologie des Geistes, Kraft-Ebings Psychopathia sexualis. Während sie sich noch über die etwas seltsame Zusammenstellung wunderte, hörte sie, wie der Schlüssel sich im Schloß drehte. Herein trat eine breitschultrige, vierschrötige Frau um die dreißig, frisch geschrubbt und gebügelt, mit einer nicht minder frisch gebügelten Uniform. Freda schaute sie an und sagte: »Sie sind sicher Miß Firbank, nicht wahr?« »Ja, Ma’am. Ich soll Ihnen zeigen, wie die Knöpfe funktionieren und Ihnen die Hausordnung erklären.« Während Freda zuhörte, studierte sie die Frau eingehend. Wilma Firbank hatte ein offenes Gesicht, aber ihre Augen schienen irgendwie traurig. Freda fragte die Schwester, ob sie über ihren Fall im Bilde sei. »Sie haben gesagt, Sie hätten sich irgendwie in einen Planeten verliebt oder so was. Muß ja ein toller Planet gewesen sein.« »Es war ein Planet der Liebe, und es war wunderbar. Sagen Sie, Wilma, sind Sie je von einem Mann geliebt worden, ich meine so richtig, ganz und bedingungslos?« »Nein, Ma’am. Ich habe Plattfüße und watschle beim Gehen. Männer stehen auf Frauen mit schwingenden Hüften. Um ehrlich zu sein, ich verstehe das.« »Auf Flora wurde ich einmal von einem biegsamen, rothaarigen jungen Mädchen geliebt, dessen Liebkosungen sanfter waren als der Flügel eines Schmetterlings.« »Erinnert mich irgendwie an eine Diätköchin, die hier arbeitet: Ruby May Washington. Nur daß Ruby May keine roten Haare hat Sie werden Sie kennenlernen.«
»Ich freue mich darauf, Ruby May Washington kennenzulernen«, sagte Freda und stellte sich Wilmas sandfarbenes Haar von einem roten Orchideenblütenkranz umrahmt vor. Wenn man Freunde in höheren Stellen umhätscheln wollte, dachte Freda, dann zahlte es sich niemals aus, wenn man die unteren Chargen vernachlässigte. Bestimmt hatte Wilma Kontakte zum Krankenhausuntergrund, und Fredas privates Badezimmer gewährleistete höchste Diskretion. Außerdem, wenn ihr Plan aufging, würde sie zwei weitere Frauen brauchen.
Freda benötigte ganze drei Tage, um ihren Doktor dazu zu kriegen, einen Brief an Hans Clayborg für sie aus dem Krankenhaus zu schmuggeln. Daß es so lange dauerte, lag daran, daß Dr. Campbells Probleme weit tiefer saßen, als sie zunächst angenommen hatte. Er war furchtbar schüchtern. Seine Berufsethik hatte ihn wie einen Pawlowschen Hund auf den Nichtgebrauch seiner eigenen Couch konditioniert. Außerdem gab es noch ein paar Probleme technischer Art, unter anderem das Schloß von Fredas Tür. Es konnte nur von außen geöffnet werden, und Campbell mußte seine ganze Überzeugungskraft aufbieten, um das Komitee dazu zu kriegen, ein Schloß einbauen zu lassen, das man auch von innen öffnen konnte. Einen Tag nachdem das neue Schloß in der Tür war, erhielt Freda Besuch aus dem Jenseits, wie die Insassen die Außenwelt zu bezeichnen pflegten. Herein stürmte Hans Clayborg, den Kopf wie immer umrahmt von einem knisternden Kranz elektrisch geladener Borsten. Offiziell war er gekommen, um mit dem Chefpsychiater über die Schwächen der Stanford-Hammersmith-Theorie zu diskutieren, in Wirklichkeit jedoch galt sein Besuch Freda, deren Brief er erhalten hatte.
Sie verbrachten eine aufgeregte halbe Stunde damit, sich die letzten Neuigkeiten zu erzählen. Freda berichtete von Flora und er von der Erde. Sie erfuhr, daß die Caron-Polino-Theorie die Fachwelt im Sturm genommen hatte. Der »Caron-Cancan« war als »abträglich für die Moral der Jugend« aus dem Rundfunkäther verbannt worden, und Dr. Hector war der neue Chef des Amtes für Exotische Pflanzen. Dr. Gaynor war jetzt Oberinspektor der Gärtnerei im Zoo von San Diego und mit der Instandhaltung von Blumenarrangements betraut. »Ich könnte dich mit einem Vorführungsbefehl hier herauskriegen«, schlug Clayborg vor, »aber dann müßtest du mit einem Verfahren wegen Desertion rechnen.« »Aus Houston rauszukommen, reicht mir nicht, Hans. Ich muß unbedingt zurück nach Flora, und du kannst mir dabei helfen. Ich möchte, daß du mathematisch demonstrierst, daß durch die Verbindung von ein paar Sprossen einer menschlichen DNS-Leiter mit der Doppelhelix einer florianischen Orchidee Samen produziert werden kann, der genügend menschliche Gene enthält, um die Tod Wiedergeburt-Lücke zwischen den Universen zu überbrücken. Beweise anhand der Mendelschen Gesetze, daß aus den Samenkörnern im Verlauf mehrerer Generationen funktionierende menschliche Wesen entstehen würden, die dann durch selektive Zucht nach und nach alle störenden Orchideengene eliminieren könnten. Gib mir imaginäre Samenkörner, die ich in realen Urnen aufbewahren kann, Hans!« Clayborgs Überschwenglichkeit wich mit einem Schlag. »Wenn ich mit dieser Hypothese käme, würden sie dich bestimmt nicht nach Flora bringen – aber mich nach Houston. Mensch-Orchideen-Samen! Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe!«
»Dein ›menschliches Samenkorn‹ hat mich auf die Idee gebracht.« »Aber Mädchen, das war doch bloß so ein Spruch, um auf das einschlägige Thema zu kommen. Die Idee ist einfach unmöglich!« »Hast du mir nicht erzählt, ihr in Santa Barbara wärt Spezialisten für Unmögliches?… Hans, bitte, tu es mir zuliebe. Schreib einen Brief an den Präsidenten. Schreib ihm, daß die Verbindung ungleichartiger DNS-Moleküle theoretisch möglich ist. Die Caron-Polino-Theorie hat die Grundlage dafür geliefert. Und schreib ihm, ich wäre die Feldzytologin, die am besten dafür qualifiziert wäre, das Experiment auf Flora durchzuführen. Und mach den Brief so überzeugend wie möglich, Hans, bitte!« »Freda«, sagte er seufzend. »Es ist richtig, ich bin Experte für Unmögliches. Aber um einen Präsidenten zu überzeugen, brauche ich Mögliches. Ich weiß nicht das geringste über das DNS florianischer Orchideen.« »Im Kühlschrank meines Gewächshauses in der Basis liegt ein Stück von einem Samenkorn. Hol es dir, untersuch es und formuliere eine Theorie. Als Einstein seinen Brief an Roosevelt schickte, wußte der vermutlich auch nicht, daß E = MC2 ist, aber er vertraute Einstein.« »Aber das würde bedeuten, daß ich die Wissenschaft als Erfüllungsgehilfen menschlicher Bedürfnisse mißbrauche!« »Es wird höchste Zeit, daß die Wissenschaft endlich dazu ›mißbraucht‹ wird, menschlichen Bedürfnissen zu dienen! Nun spiel dich mal nicht als Heiliger auf! Du mißbrauchst dein Wissen, um ein unschuldiges Mädchen zu verführen, aber kneifst, wenn du es dazu benutzen sollst, einen gefühllosen Bürokraten zu überzeugen! Sehr schön! Aber dann bedenke auch einmal folgendes, du Altarjünger der reinen Wissenschaft: Wenn das Leben zufällig nichts weiter ist als
eine entropische Funktion, dann verpassen ein paar von euch Altarknaben eine Messe, indem sie die Lebenskraft nicht in die Allgemeine Feldtheorie integrieren.« »Daran habe ich noch nie gedacht«, sagte er, und in seiner Stimme lag echte Verblüffung. Einen Augenblick saß er stumm da, erschlagen von der Erkenntnis, daß es etwas gab, das er nicht bedacht hatte, doch dann hob er die Hände zu einer Geste der Abwehr. »Ich kann nicht meine Prinzipien über Bord werfen und einen ganzen wissenschaftlichen Apparat den Grillen einer… einer…« Er rang sich ein gequältes Lächeln ab. »… einer nymphomanen Omniphilen unterwerfen. Ich vergöttere die Wissenschaft als Abstraktion, und ich habe die Absicht, das auch weiterhin zu tun, solange, bis jemand kommt und mir eine bessere Wahrheit zeigt.« In ihrer Verzweiflung umrahmte Freda den Kopf von Hans Clayborg mit den roten Blütenblättern einer Orchidee, und siehe da, sie paßten perfekt zu seinen abstehenden Haaren. Jetzt konnte sie seine Gedanken lesen: Er überhäufte sie mit einem Wortschwall, um ihre Argumente zu parieren, während er gleichzeitig die Lebenskraft als Bestandteil eines allgemeinen Feldes betrachtete. Aber er hatte auch die Worte »Wahrheit« und »zeigen« benutzt. Nun gut, sie würde es ihm schon zeigen… »Hans«, sagte sie gedehnt, »ich kann dir den Beweis liefern, daß die Poesie des menschlichen Herzens Wahrheiten enthält, die genauso gültig sind wie die Abstraktionen der Wissenschaft.« »Und wie willst du das anstellen?« »Dreh den Schlüssel in dem Schloß dort einmal nach rechts, und dann leg deine Zähne auf den Tisch.« Freda fand heraus, daß Dr. Campbeils Vater so schwach gewesen war, daß sich sein Sohn nicht mit ihm hatte identifizieren können. So war Jimmy sein eigenes Vaterbild geworden und hatte die Rolle des Ersatzvaters so stark
verinnerlicht, daß er den heranwachsenden Jungen unterdrückt hatte. Als sein Problem schließlich analysiert war, sprach Dr. Campbell enthusiastisch auf die Therapie an. Sein verstörter Blick wich in dem Maße von ihm, wie sein Vaterbild verblaßte, und was er als Psychiater verlor, gewann er als Mann hinzu. Einfühlungsvermögen wurde durch Charakter ersetzt. Als sechs Wochen vergangen waren, hängte Jimmy Campbell seinen Job im Krankenhaus an den Nagel und wurde Automechaniker. Sein letzter Liebesdienst gegenüber Freda bestand darin, daß er sie für unheilbar erklärte. »Es wird zwar nichts nützen, Freda«, sagte er zum Abschied, »weil sie die Berichte niemals aus dieser Klapsmühle herauslassen, aber was auch immer du von mir willst, du kriegst es. Wir Humanisten müssen zusammenhalten.« Dr. Campbell wurde ersetzt durch einen Frommianer namens Williams, der es nur zwei Wochen überstand. Seine Philosophie der Liebe und zärtlichen Fürsorge erfuhr seitens seiner Patientin eine derartige Unterstützung und Verstärkung, daß er schließlich wegen grober Belästigung einer Krankenschwester fristlos entlassen wurde. Diesen Tatbestand hatte er dadurch erfüllt, daß er die Arme eine geschlagene halbe Stunde in einem Wäscheschrank belagert hatte, in den sie sich auf der Flucht vor seinen ungestümen Nachstellungen eingeschlossen hatte. Von Wilma, die sich in der Zwischenzeit zu einer zuverlässigen Zuträgerin des gesamten Krankenhausklatsches entwickelt hatte, erfuhr sie, daß Williams nach Hollywood gegangen war, um Filmproduzent zu werden. Sein Abgang war zu schnell über die Bühne gegangen, als daß er Fredas Entlassung nach Flora hätte fördern können, aber dafür bereicherte er ihr Bücherbrett um ein paar höchst interessante Publikationen. Die Quellen der Einsamkeit erregten sogar Wilmas Interesse so stark, daß sie sich das Buch von Freda auslieh. Ihrem Frommianer folgte ein Freudianer namens Smith, der ihr die Theorie der Neurosen ins
Regal stellte, welche sich jedoch leider als wertlos für ihr Unterfangen erwies, ihn glauben zu machen, daß er sich selbst verstünde. Doch der Grund, warum auch er schließlich das Handtuch warf, lag diesmal anderswo. In dem Bemühen, ihre Psyche zu heilen, hatte sich das Krankenhauspersonal mit solcher Hingabe auf dieselbe versteift, daß es dabei völlig die somatische Seite ihres Seins aus dem Auge verloren hatte. Groß war daher die Verblüffung, als man in der Mitte ihres dritten Monats in Houston feststellte, daß sie im zweiten Monat schwanger war. Der Freudianer Smith, außerhalb seines Fachgebiets eine medizinische Niete, gab ihren Fall völlig entnervt ab, weil er glaubte, das Kind stamme von ihm. Das war zumindest seine Begründung. Freda hatte da jedoch ihre Zweifel. Smith erzählte ihr, er würde Bildhauer werden und den Rest seiner Tage damit verbringen, ihren Torso in Marmor zu hauen. »Keine Arme, Freda, keinen Kopf«, sagte er. »Nur Brüste.« Und so sagte sie denn einem weiteren Humanisten Lebwohl, mit dem beruhigenden Gefühl, daß er sich für den passenden Job entschieden hatte. Smith hatte starke ödipale Tendenzen. Darauf durchlitt sie drei volle Wochen psychiaterloser Zeit. Wilma hielt sie jedoch voll auf dem laufenden. Durch sie erfuhr Freda auch, daß die Krankenhausverwaltung, alarmiert über den beängstigenden Psychiaterverschleiß und die Schwangerschaft, die (so die Annahme der Verwaltung) von einem Mitarbeiter des Krankenhauses verursacht worden war, einen Pawlowianer aus Cape Cod angefordert hatte. Dieser Herr, ließ Wilma durchsickern, sei dafür berüchtigt, daß er seine Patienten mit einer Form der Schockbehandlung konditioniere, die so widerwärtig sei, daß sie sich buchstäblich in die Gesundheit flüchteten, um der Therapie zu entrinnen. Der Herr hieß Dr. Watts. Als sie ihn sah, zog sie es vor, ihn besser nicht nach seinem Vornamen zu fragen. Er war Neu-Engländer,
schmallippig, mit sandfarbenem Haar, einem Nußknackergesicht und hellblauen Augen, die durch sie hindurchschauten, wenn er mit ihr sprach. Er hatte das gebieterische Auftreten eines Kapitän Bligh und war in den späten Sechzigern. Sein Alter entrückte ihn zwar nicht ihrem libidinösen Aktionsradius, aber die Schwangerschaft hatte bewirkt, daß sich Fredas Gedanken zunehmend nach innen richteten. Ihre Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer zu erspüren, war nicht abgestumpft, sondern sie hatte sie lediglich für eine Weile abgeschaltet. Sie ging voll darin auf, ihre Gedanken auf die langsam in ihrem Leib heranwachsende Erfüllung ihrer Liebe zu Paul Theaston zu konzentrieren. Jedenfalls hoffte sie, daß das Baby von Paul Theaston war. Ihre Hibernationsphase zwischen Paul und Hans machte die Sache zu einem Ratespiel. Doch wie auch immer, in jedem Fall würde das Kind einen Vater haben, auf den es stolz sein konnte. Da sie für Jimmy Campbell als Vaterfigur fungiert hatte, war es höchst unwahrscheinlich, daß sie die Mutter seines Kindes war. Sie umrahmte nicht einmal Dr. Watts’ Gesicht mit einer Orchideenblüte, was hauptsächlich an dem schon atemberaubend unausstehlichen Verhalten lag, das er ihr gegenüber an den Tag legte. Er kultivierte eine Gehässigkeit, die ihre Toleranz so stark strapazierte, daß sie selbst bei größtem Wohlwollen kein Motiv gesehen hätte, ihn zu trösten; zudem ging sie rapide ihres wichtigsten Mittels zum Spenden von Trost verlustig: der Torso, der den Freudianer zur Bildhauerei inspiriert hatte, wurde schlicht und einfach unförmig. Watts hatte sorgfältig ihre Fallstudie gelesen, sich alle verfügbaren Bänder angehört und zahlreiche Schlüsse gezogen, die, wie Freda hätte schwören können, mit Sicherheit nicht in ihrem Bericht standen. Der Gruß, mit dem er sie beim ersten Zusammentreffen bedachte, sprach Bände.
»Ihr Fall ist mir deshalb übertragen worden, Miß Caron« – er legte dabei besondere Betonung auf das »Miß« und warf gleichzeitig einen mißbilligenden Blick auf ihr Umstandskleid –, »weil Sie einen gewissen Geschmack gegenüber der Flora eines fremden Planeten erlernt haben, der Ihr Reiz-ReaktionsVerhalten erheblich zugunsten der Reaktionsseite verschoben hat. Die Früchte ihres Verhaltens sind aus Ihrem äußeren Erscheinungsbild ersichtlich, aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen, nicht, um ein Urteil über Sie zu fällen. Wenn ich Sie tadeln würde für diese Travestie auf die christliche Mutterschaft, dann könnte ein wenig von meinem Tadel zurückfallen auf Mitkollegen eines Berufsstandes, dessen edelstes Ziel die Linderung menschlichen Leids ist, oder vielleicht auf eine Schar von ansonsten untadeligen Krankenpflegern, Pförtnern, Botenjungen oder was sonst noch alles aus seinem Loch gekrochen sein mag. Ich bin keiner von diesen sentimentalen Umwelteinflußaposteln, die die Gesellschaft für die Sünden ihrer Mitglieder verantwortlich machen. Die Sünderin sind Sie, Miß Caron.« »Finden Sie nicht, daß Sie ein bißchen unfreundlich sind, Doktor?« »Nicht unfreundlich. Wahrhaftig! Die Wahrheit soll Sie frei machen, und die Wahrheit ist, daß Sie jedes hehre Gefühl der Mutterschaft zu einem unterleibsorientierten Lustprinzip pervertiert haben. Reue wird helfen; Sühne wird heilen. Humanisten, Miß Caron, sind Leprakranke des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts. Aber ich bin nicht der heilige Franz von Assisi.« »Da haben Sie recht, Dr. Watts.« »Um weiteren Dezimierungen des Krankenhauspersonals durch Ihre Person vorzubeugen, habe ich zu Ihrem Geburtshelfer Dr. Harold Franks bestellt. Dr. Franks ist achtundachtzig Jahre alt.« Während der folgenden Sitzungen
machte Freda ein paar behutsame Probebohrungen unter die Eisschicht, die Watts umgab und stieß auf eine dicke Ader New-Hampshire-Granit, die sich zusammensetzte aus den Schichten Heimat, Kirche, Mutterschaft, Gesetz, Ordnung und Vaterland. Er nahm ihr ihre Schwangerschaft übel, weil sie nach seinen Wertmaßstäben einen Affront gegen das Postulat züchtiger Mutterschaft darstellte, aber sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihn auf einen entscheidenden Widerspruch zwischen seiner Haltung und seinem religiösen Empfinden hinzuweisen: Mutterschaft, unter welchen Umständen auch immer sie auftreten mochte, konnte niemals unsittlich sein, da sie auf einem Akt Gottes beruhte. Außerdem war sie die meiste Zeit über in Bücher über internationales Recht vertieft, die Wilma ihr aus der Krankenhausbücherei besorgt hatte. Hans Clayborg erzählte ihr auch etwas von einem Akt Gottes, als er sie – eine Woche bevor die Botany zu ihrer Reise nach Flora aufbrach – besuchte. »Freda, deine Schwangerschaft hat alles ruiniert. Ich bin überzeugt, daß die Möglichkeit einer DNS-Verkettung in einer Schwangerschaft-BefruchtungsReihe zwischen einer Orchidee, dir, einer Orchidee und Paul existiert. Hier sind meine Formeln, die beschreiben, wie die Verkettung vonstatten gehen könnte, aber es bedürfte jetzt wohl schon eines Gottesaktes oder eines Präsidentenerlasses, um dich nach Flora zu kriegen. Der Kongreß würde auf keinen Fall mitziehen, weil Heyburn einen großen Teil seines Wählerpotentials bei den ehrbaren, glücklich verheirateten Hausfrauen hat.« »Hans, ich bin nicht der Meinung, daß die Schwangerschaft mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Laut den Bestimmungen des Internationalen Übereinkommens von 1998 hat der Ehepartner eines Deserteurs das Recht, zu wählen, ob
er auf der Erde bleiben oder mit dem Deserteur zusammenleben will.« »Du bist aber nicht mit Theaston verheiratet.« »Das Übereinkommen läßt auch solche Ehen gelten, die durch Gewohnheitsrecht zustande gekommen sind, da die Eheschließungsgebräuche von Land zu Land differieren, und ich habe schließlich einen Beweis für den Vollzug meiner Ehe mit Paul.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Möglich«, stimmte er ihr zu. »Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?« »Fifty-fifty, zwischen dir und Paul.« Er schien überrascht. »Und was ist mit dem Psychiater, der dir das neue Türschloß besorgt hat?« Freda errötete leicht, aber was wahr war, war wahr. »Ich war seine Vaterfigur, und seine Abreaktion gegen seinen Vater war nicht von der Art, die eine Frau schwanger machen könnte.« Sie wußte, daß sie Hans überzeugt hatte, da er plötzlich echt besorgt schien. Er nahm ihre Hand und fragte sanft: »Wie fühlst du dich, mein Schatz?« »Wie ein Chor von Euripides«, mußte sie gestehen. »Aber du bist mein deus ex machina. Mein Schicksal liegt in deiner Hand, Hans.« »Freda, du bringst mich total in eine Zwickmühle! Natürlich möchte ich dir gern helfen, aber wenn du die Mutter meines Kindes bist, dann lasse ich dich nie und nimmer nach Flora gehen. Es gibt keine Frau auf der Welt, die ich so verehre und anbete wie – « Er hielt ihre Hand, während er sprach, und sein Gesicht war ganz nahe an ihrem. Sie genoß die Vertrautheit seiner Stimme, als er plötzlich wie vom Blitz getroffen zurückzuckte. Offenbar war ihm ein Gedanke gekommen. »Es besteht doch die Möglichkeit einer Genbestimmung«, rief er aufgeregt. »Zwar nur rückwirkend, aber sie existiert! Wenn das Kind von mir ist, wirst du es sofort an seinem vollen
Haarwuchs erkennen. Alle Clayborgs sind mit voll ausgewachsenem Haar auf die Welt gekommen. Aber wenn es hellrotes Haar oder knallgrüne Augen hat, wenn seine Fingerspitzen innen gekerbt sind, oder das Baby nach Vanille riecht –, wenn es irgendeins dieser Merkmale aufweist, dann laß sofort einen Bluttest machen. Sag ihnen, sie sollen besonders darauf achten, ob sich im Blut irgendwelche Spuren von Chlorophyll nachweisen lassen. Wenn das der Fall ist, gehen wir beide nach Flora.« Sie spürte, daß Hans das nicht nur sagte, um sie aufzuheitern. Seine Begeisterung war zu echt, und sie betete im stillen, daß das Kind von Paul war. Hans war bereits verheiratet – mit seinem Gehirn. Er hatte völlig die süßen Nichtigkeiten vergessen, die er ihr eben noch ins Ohr hatte säuseln wollen. Vielleicht lag es einfach daran, daß sie schwanger war, aber ihr war nun einmal nach süßen Nichtigkeiten. Als er ging, ließ er eine Kopie seiner Berechnungen da, die ihr genauso klar und verständlich waren wie das Goldbergsche Entropiegesetz. Da sie Zytologin war, hätte sie mit einiger Mühe die Gleichungen analysieren können, aber im Moment war sie vollauf damit beschäftigt, ein paar Babyschuhe zu stricken. Die Tage bis zu ihrer Entbindung flossen ruhig dahin. Dr. Franks war ein freundlicher alter Mann, der darauf bestand, sie mit »Mrs.« anzureden. Er war so alt, daß sie unter normalen Umständen Zweifel an seiner Fähigkeit, ihr Kind gesund zur Welt zu bringen, gehabt hätte. Aber Watts hatte schließlich ihre Vorbehalte mit der Versicherung zerstreut, daß ein jüngerer Arzt Dr. Franks bei der Entbindung assistieren würde. »Wie Sie sehen, kommen Sie in den vollen Genuß der Wohltaten der Zivilisation, die Sie ja so ablehnen«, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen. Es war angenehm, sich von Dr. Franks untersuchen zu lassen. Er vermittelte ihr ein Gefühl von Würde und Geborgenheit. Obwohl seine Augen und sein
Gehör schon recht schwach waren – er trug starke Vergrößerungsgläser im oberen Rand seiner Brille und mußte den Lautstärkeregler seines Stethoskops voll aufdrehen, um die Herztöne des Babys hören zu können –, verrieten die geschickten und zielsicheren Bewegungen seiner Hände, wenn er ihren Bauch abtastete, den altgedienten Experten. Auch schätzte sie an ihm seinen Sinn für Humor. Jedesmal wenn er zur Tür hereingehumpelt kam, um sie zu untersuchen, klatschte er in die Hände und schrie in seinem durchdringenden Greisenfalsett: »Hurra, der Doc ist da! Ausziehen, hopp-hopp, und aufs Bett mit Ihnen.« Die meiste Zeit saß Freda allein in ihrem Zimmer. Sie saß da und strickte, völlig vertieft in die Vorgänge in ihrem Körper, die wie ein schmerzstillendes Mittel gegen das Heimweh wirkten. Trotzdem war ihr Flora immer nahe. Wenn sie die Augen schloß, hörte sie das leise Rauschen des Windes in den Orchideenhainen und sah den schneebedeckten Kegel Tropicas silbern im Sonnenlicht glänzen. Des Nachts wachte sie manchmal mit Tränen in den Augen auf, weil sie von Paul geträumt hatte, und wenn sie wieder einschlief, wurde sie in ihren Träumen durch die Reihen ihrer Orchideengeliebten zu ihrem scharlachroten Prinz getragen, dessen Ranken erwartungsvoll im sanften Licht des Mondes zitterten. Mittlerweile war die Botany zu ihrer letzten Fahrt nach Flora aufgebrochen. Abteilung Charlie war zur Erde zurückgekehrt, und der Planet der Blumen war durch einen Beschluß der Vereinten Nationen endgültig und für alle Zeiten auf die Liste der verbotenen Welten gesetzt worden. Draußen verblaßte die lodernde Sonne des Sommers zur milchigen des Herbstes und bald darauf zur bleiernen Sonne des Winters. Freda saß, versunken in sich und ihre Einsamkeit, vor dem Fenster und meditierte über das Wesen der Zeit, die sie, in der kurzen Spanne von drei Jahreszeiten, aus dem Büro einer ehrgeizigen
jungen Verwaltungskraft zum Staubfaden einer Orchidee auf Flora und zurück in die vergitterte Zelle einer Nervenheilanstalt auf der Erde getragen hatte. Hier saß sie nun und wartete, gebrandmarkt mit dem Kainsmal der Abtrünnigkeit, eine wissenschaftliche Berühmtheit, und doch so tief gefallen, daß ein Lied, das ihren Namen trug, aus den Rundfunkanstalten verbannt worden war. Wenn sie einen Sohn bekam, würde sie ihm den Namen Edward geben, nach der Figur in König Lear. Sollte es ein Mädchen werden, würde es Florina heißen. Während sie ihre Tage vergrübelte, abwechselnd am Essig und am Wein nippend, ging die Zeit weiter und trug sie in den Kreißsaal, wo maskierte Gesichter über ihr im anästhetischen Nebel schwammen. Ihr letzter zusammenhängender Gedanke war ein Stoßgebet, daß das Kind von Paul sein möge.
Vermutlich war es ein Teil von Watts’ Schocktherapie, dachte sie, daß man ihr das Baby nicht in einer Korbwiege ins Zimmer trug, sondern auf einem weißen Kissen. Der Bedeutung des Ereignisses entsprechend, hatte man sie feierlich in ein orchideenfarbenes Nachthemd gesteckt. Sowohl Dr. Watts als auch Dr. Franks waren zugegen, als die Schwester ans Bett trat und ihr das Baby – oder, um es genauer zu sagen, das Kissen, auf dem das Baby lag – in den Arm legte. Fredas Baby war ein rötlich-mahagonifarbenes Samenkorn von der Form eines langgezogenen Rugbyballs, dessen Umfang an seiner breitesten Stelle, in Höhe des Nabels, etwa zwanzig Zentimeter betrug. Ein Glücksschauer durchrieselte sie, als sie den blonden Flaum am oberen Ende des Eies gewahrte: der untrügliche Beweis, daß Paul zumindest einen Anteil zum DNS ihres Babys beigesteuert hatte.
»Freda«, kam die fistelnde Stimme Dr. Franks’ vom Fußende ihres Bettes. »Die Standardfloskel in solchen Fällen ist: Es ist wirklich ein Prachtjunge, oder Prachtmädchen, je nachdem. Beim besten Willen, ich kann wirklich nicht sagen, was das ist!« Freda hörte ihn kaum. Hingerissen betrachtete sie die Frucht ihres Leibes. Dieser zarte Mahagonischimmer! Dieser köstliche Hauch von Vanille! Sie geriet fast in Verzückung angesichts seiner vollkommenen, makellosen Eiförmigkeit. Es war ihr Baby, empfangen in Schönheit und geboren in einem Moment, der einzigartig war in der Geschichte der Menschheit: ein nichtquäkendes, nichtsabberndes, absolut windelfreies Baby, das seine eigene Formel mit sich trug, wohin es auch immer gehen mochte. Und was noch wichtiger war, in ihren Armen lag eine Brücke zwischen dem Leben und dem Tod von Universen, und wer konnte ihr den Stolz auf einen Sprößling mißgönnen, der für die Unsterblichkeit ausersehen war? Die Stimme Dr. Watts’ bohrte sich schrill durch die rosa Nimbuswolke ihrer Glückseligkeit: »Freda, erweckt dieses Ding da Ihren Mutterstolz?« Freda schaute den Psychiater mit leuchtenden Augen an. »Dr. Watts, jede Mutter hält ihr Baby für einzigartig unter allen Babies der Welt. Ich glaube, ich habe diese Frage ein für allemal geklärt.« »Was ich als Geburtshelfer mit sechzigjähriger Berufserfahrung nur voll bestätigen kann«, fistelte Dr. Franks. »Aber da ist noch eine Sache, die ich gerne überprüfen würde, Freda. Ich könnte schwören, daß ich Herzklopfen gehört habe.« Während Freda das Kissen hielt, beugte sich Dr. Franks über das Ei und setzte sein Stethoskop etwa in die Mitte zwischen den Nabel und den blonden Flaum und lauschte gespannt. »Psst!… Potzdonner, ich höre tatsächlich Herzschläge!«
»Dr. Franks«, sagte Dr. Watts beschwichtigend, »Sie haben die Lautstärke so hochgedreht, daß das Stethoskop das Ticken Ihrer Armbanduhr überträgt.« Dann schaute er Freda an. Etwas seltsam Gütiges lag in seiner Stimme, als er fragte: »Was sollen wir mit ihm machen, Freda? Sollen wir es begraben oder lieber einäschern?« »Weder – noch«, erwiderte Freda. »Wir werden es einpflanzen. Aber nicht hier. Schicken Sie es per Eilpost an Dr. Clayborg in Santa Barbara. Er weiß, welcher Boden am günstigsten ist. Aber lassen Sie es mich noch ein Weilchen im Arm halten.« Mit diesen Worten wandte sie ihren Blick wieder dem eiförmigen Gebilde zu und wiegte es zärtlich hin und her, durchströmt von dem universalen Gefühl des Mutterglücks, das noch verstärkt wurde durch das persönlichere Gefühl der Wiedererkennungsfreude. Es war mehr als das einzigartigste Baby der Welt, was sie dort in den Armen hielt; es war der Akt Gottes, den Clayborg beschworen hatte, und sie wußte, daß auf diesen Akt Gottes, so sicher wie der Tag auf die Nacht, ein Erlaß des Präsidenten folgen würde. Auf dem Kissen in ihrem Arm lag ihr rötlich-mahagonifarbener Freifahrschein nach Flora. Mit nun wieder befehlsgewohnter Stimme wies Dr. Watts die Säuglingsschwester an, das Samenkorn in Seidenpapier zu wickeln und nach Santa Barbara zu schicken. Dann entließ er mit einer knappen Handbewegung Schwester und Samenkorn und half Dr. Franks, der immer noch ein wenig verstört schien, zur Tür hinaus. Als Dr. Franks fort war, zog er leise die Tür von innen zu und drehte den Schlüssel einmal nach rechts. Als er sich Freda zuwandte, war sein Gesicht nicht länger die unbewegliche Maske moralischer Rigidität. Das Eis war gebrochen, und seine Gesichtsmuskeln zuckten in dem Bemühen, Haltung zu bewahren. Mit schweren, mühsamen
Schritten, wie unter einer schweren Last, trat er an ihr Bett, kniete sich vor sie, nahm ihre Hand und vergrub sein Gesicht neben ihr in der Bettdecke. An den zuckenden Bewegungen seines Oberkörpers merkte sie, daß er weinte und sein Panzer aus New-Hampshire-Granit Sprünge bekommen hatte. Sie beugte sich vor und streichelte mit der freien Hand seinen Kopf. Aus tränenverschleierten Augen schaute er zu ihr auf. »Freda, vergeben Sie mir. Sie sind die Erdenmutter. Noch nie in meinem Leben habe ich einen so stolzen mütterlichen Glanz in den Augen einer Frau gesehen, und unter solch widrigen Umständen. Ich habe Ihnen bitter unrecht getan.« »Dr. Watts, bevor Sie Psychiater wurden, wie nannten Sie da Ihre Freunde?« »Ronnie.« Freda umrahmte das Gesicht, das da tränenüberströmt zu ihr aufblickte, mit dem roten Blütenkranz einer Orchidee. Eines seiner Probleme war – wie sie schon vorher gespürt hatte – zwar tiefsitzend, aber simpel: er war zu früh von der Mutterbrust entwöhnt worden. Auch wenn seine Reaktion durch die unmittelbare Nähe von Milchzucker ausgelöst worden war, verblüffte sie doch die Tiefe des Ödipuskomplexes unter seiner Granitschicht. Ihr herber Pawlowianer war insgeheim und in Wahrheit das, als was sie ihn in Gedanken schon oft bezeichnet hatte: ein Muttersöhnchen. Selbsterkenntnis war, wie sie sich vage erinnerte, kein notwendiger Bestandteil der Pawlowschen Therapiemethode. Alles, was Ronnie tun mußte, war, neue Verhaltensweisen zu erlernen, die seine alten ersetzten, und sie konnte ihm bei der Umschulung behilflich sein. In der Zwischenzeit konnte er ihr bei der Lösung eines kleineren, aber brennenden Problems helfen. Ein Samenkorn zu gebären, war, um es mit Hals Worten auszudrücken, zwar »keine harte Nuß« gewesen, aber
es gab da gewisse Folgebeschwerden. »Ronnie«, sagte sie und strich ihm sanft über das Kinn seines nunmehr strahlenden Gesichts, »unsere Welt ist eine Welt der wechselseitigen Abkommen. Großmut ist etwas, das so selten geworden ist, daß man die Großmütigen in Häuser mit vergitterten Fenstern einsperrt und ihnen lange lateinische Namen gibt. Ich möchte etwas für Sie tun, aber zuerst müssen Sie etwas für mich tun.« »Ich tue alles für Sie, was Sie wollen, Freda, wenn ich nur einen Teil meiner Schuld wiedergutmachen kann.« Was sie vorschlug, war weniger ein wechselseitiges Abkommen als vielmehr drei Geschenke hintereinander, aber sie wollte ihm das Gefühl vermitteln, daß er etwas beisteuerte, und außerdem wollte sie die Erde nicht verlassen, solange noch irgendwelche Enden lose herumbaumelten. Als er sich vorbeugte, um ihr die Hand zu küssen, änderte sie geringfügig den Sitz ihres Nachthemds. Als Ronnie den Blick zu ihr hob, verriet ihr das Leuchten seiner Augen, daß ihre Analyse seiner Bedürfnisse richtig gewesen war, und als er sich ein wenig aufrichtete und über sie beugte, da wußte sie, daß die Erde ihrem jüngsten Humanisten Hallo sagte und ihrem letzten Puritaner Lebewohl.
Der Präsident der Vereinigten Staaten an den Oberbefehlshaber der NASA Der Präsident beehrt sich, seinem treuen Diener die herzlichsten Grüße zu übermitteln. Auf das Ersuchen unseres hochgeschätzten Ministers ohne Geschäftsbereich Dr. Hans Clayborg, IFS, der im übrigen die volle Verantwortung für eventuelle Komplikationen, die in Verbindung mit dieser Mission entstehen könnten, übernommen hat, beauftrage ich Sie hiermit, die Patientin Freda Janet Caron sowie die Krankenschwester Wilma Rose
Firbank und die Diätköchin Ruby May Washington, z. Z. alle Houston, auf den Planeten Flora, auch Blumenplanet oder Planet der Blumen genannt, zu überstellen und daselbst auf die vierte Terrasse der Insel Tropica zu verbringen, wo besagte Personen für immer bleiben sollen. Des weiteren weise ich Sie an, jeder dieser drei Personen eine Machete auszuhändigen. Für die Übersendung der Macheten an Ihre Dienststelle wird rechtzeitig vor Abreise gesorgt. Wir hoffen, daß der Langzeitnutzen dieses Projekts allen Völkern der Erde und des Universums zum Wohle gereichen und einen Beitrag leisten wird zur Festigung des dauerhaften Ruhmes des Unterzeichneten. Der Präsident