Die schöne Sünderin
Ingrid Weaver
Tiffany Duo 083–01 01/96 Scanned & corrected by SPACY
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Die schöne Sünderin
Ingrid Weaver
Tiffany Duo 083–01 01/96 Scanned & corrected by SPACY
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Der ehrgeizige Polizist Bruce Prentice ist seit einiger Zei in einer Spezialeinheit, die sich hauptsächlich mit Ermittlungen im Drogenhandel beschäftigt. Auf der Suche nach der Zentrale eines gefährlichen Dealerringes verfolgt er eine heiße Spur, die ihn direkt an die kanadische Grenze, in den kleinen Ort Bethel Corner, führt. Getarnt als harmloser Tourist, stellt er den Kontakt zu der hauptverdächtigen Emma Cassidy her, die ihn vom ersten Augenblick an stark fasziniert. Nicht nur ihre unglaublich heiße erotische Anziehungskraft auf ihn macht Bruce zunehmend unsicherer, sie beide haben auch unendlich viele gemeinsame Interessen. Fast schon bereit, alle Verdachtsmomente fallen zu lassen, um endlich die heißgeliebte Frau in die Arme zu nehmen, glaubt er seinen Augen kaum zu trauen: Er überrascht Emma, wie sie Drogen über die Grenze schmuggeln will...
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1. KAPITEL Auf die Tarnung als Tourist hatte Bruce Prentice seit Jahren nicht mehr zurückgegriffen, obwohl es eine seiner Lieblingstarnungen war. Glücklicherweise mußte er sich diesmal nicht mit dem Risiko eines falschen Barts abplagen, da seine eigenen blonden Bartstoppeln eine Länge erreicht hatten, die sein energisches Kinn wohl ausreichend kaschieren würden. Er zwinkerte dem Dicken, der ihm da aus dem Spiegel entgegengrinste, zu, wobei er sich einmal mehr wunderte, wie ein paar lächerliche Theaterrequisiten einen Menschen doch verändern konnten. Die Wangenpolster machten sich hervorragend. Sie ließen Bruce scharfkantige markante Gesichtszüge nicht mal mehr ahnen. Und die braunen Kontaktlinsen verliehen seinen normalerweise strahlend blauen Augen genau den richtigen hirnlosen Hundeblick, der für seine Tarnung zwingend war. Perfekt. Hochzufrieden legte er beide Hände auf seinen wohlgerundeten Bauch und überprüfte, ob die Polsterung auch wirklich unverrückbar fest saß. Alles klar. Es konnte losgehen. Er warf sich sein ausgebeultes Jackett über, das neben der Tatsache, daß es ihm mit seinen Schulterpolstern zu den runden Schultern eines untersetzten Mannes verhalf, auch noch den Vorzug hätte, weit genug zu sein, um das Schulterhalfter, das er darunter trug, zu verbergen. Wenig später saß er in seinem Wagen und fuhr seinem Ziel entgegen. Als der rote Briefkasten, fast verborgen von den hohen Gräsern am Straßenrand, in Sicht kam, ging er mit der Geschwindigkeit herunter und rollte langsam genug daran vorbei, um den Namen, der darauf stand, entziffern zu können. „Emma Cassidy", las er laut in dem leicht näselnden Tonfall, für den er sich in Ergänzung zu seiner Tarnung entschieden hatte. Seine Stimme zu verstellen war nur einer von unzähligen kleinen Tricks, die er sich im Laufe der Jahre in seinem. Job angeeignet hatte. Sein Job. Obwohl ihm seine berufliche Tätigkeit längst in Fleisch und Blut übergegangen und mittlerweile zu einer ganz spezifischen Art der Lebensführung geworden war, nannte er sie noch immer, wenn er sich die Zeit nahm, darüber nachzudenken „seinen Job." -4-
Dessen Reiz für ihn weniger in der Tatsache des Geldverdienens lag als vielmehr darin, daß er in wechselnde Persönlichkeiten schlüpfen konnte, in denen er voll aufging. Vor einem Monat zum Beispiel war er ein Penner gewesen, im vergangenen Jahr ein Priester. Und die nächsten Wochen würde er, der schon seit vier Jahren keinen Urlaub mehr gemacht hatte, hier in der Nähe von Maine, an der Grenze zu Kanada, als beleibter, leicht unbedarfter Tourist durch die Gegend streifen. Durch das geöffnete Wagenfenster drang beißender Rauchgeruch herein, der angereichert war mit dem Duft der hohen dunklen Fichten, die die Straße säumten. Bruce ließ das Fenster hoch, drosselte den Motor und stieg aus. Nachdem er seine Wagenschlüssel in den Tiefen seiner Jackentasche versenkt hatte, sah er sich um. Es herrschte Totenstille. Normalerweise pflegte Bruce im Großstadtgetümmel von Chicago unterzutauchen, doch da sich Emma Cassidy nun einmal entschieden hatte, ihre Geschäfte hier in dieser gottverlassenen Gegend nahe dem winzigen Örtchen Bether Corners abzuwickeln, mußte er sich eben umstellen. Er öffnete den Kofferraum seines Lieferwagens und holte seine Kamera-Ausrüstung heraus. Er nahm den Fotoapparat aus der Tasche und schraubte mit einer raschen, geübten Bewegung das Teleobjektiv darauf. Dann hängte er sich die Kamera über die Schulter, knallte den Kofferraum zu und machte sich auf den Weg. Der Weg durch den Wald war wenig mehr als ein Trampelpfad. Dennoch mußte hier vor kurzem ein Auto entlanggefahren sein, wie Bruce an den Reifenspuren unschwer erkennen konnte. Automatisch hob er die Kamera vors Auge und lichtete die Reifenspur ab. Man konnte ja nie wissen, vielleicht würde ihm die Aufnahme eines Tages als Beweisstück noch gute Dienste leisten. Wahrscheinlich stammten die Spuren von dem blauen Pick-up, der vor fünf Minuten an ihm vorbeigefahren war. Falls die Lady in den Ort gefahren war, würde sie mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht länger, wegbleiben. Und wenn er Glück hatte, würden einzig die Eichhörnchen Zeugen der kleinen Stippvisite, die er ihrem Haus abzustatten gedachte, werden. Der Weg führte hügelaufwärts, und als Bruce auf dem -5-
Scheittelpunkt angelangt war, lichtete sich der Wald und gab den Blick frei auf das mit niedrigen Büschen bestandene Ufer eines tiefblauen Sees, an dem ein Blockhaus stand. An die eine Hauswand schloß sich eine Art Schuppen an, dessen Tür geöffnet war. Beim Näherkommen erkannte Bruce, daß man darin fein säuberlich Holz zum Verfeuern gestapelt hatte, während der übrige freie Platz wahrscheinlich als Garage genutzt wurde. Auf der anderen Seite gab es einen Brunnen sowie einen kleinen eingezäunten Gemüsegarten. Die Lady scheint Selbstversorgerin zu sein, dachte er, während er sich alles, was er sah, im Geiste notierte. Das Plätzchen, das sie sich ausgesucht hatte, war ein ideales Versteck. Er warf einen Blick über die Schulter hinüber zu dem Weg, den er gekommen war. Keine Menschenseele weit und breit. Während er die Blockhütte langsam umrundete, zog er sich seine Baseballkappe tiefer in die Stirn. Nachdem er ein paar Aufnahmen von dem Haus geschossen hatte, richtete er sein Teleobjektiv auf den See. Er zoomte sich den hölzernen Laufsteg heran, an dessen Ende ein weißes Flugzeug friedlich im Wasser schaukelte. So machte sie es also. Ein Wasserflugzeug benötigte weder eine Start- und Landebahn noch eine offizielle Erlaubnis zum Grenzübertritt. Für einen geübten Piloten würde es eine Kleinigkeit sein, im Schutz der Dunkelheit über die Grenze zu fliegen, um irgendwo in den tiefen Wäldern zwischen hier und St. Lawrence die Fracht entgegenzunehmen. Und nur die Elche und Biber wären Zeugen. Er preßte die Kiefer hart aufeinander. In diesem Geschäft wurden die Leute in der Regel für die Risiken, die sie auf sich zu nehmen bereit waren, sehr gut bezahlt. Eine moralische Rechtfertigung für diese Art des Geldverdienens gab es allerdings nicht, weil es zuviel Leid über das Leben anderer Menschen brachte. Das Deprimierende an der Sache war, daß selbst wenn man den einen oder anderen Kurier schnappte, der nächste schon bereitstand, um die reibungslose Abwicklung der Geschäfte zu garantieren. Und dennoch durfte man nichts unversucht lassen, um diesen Verbrechern das Handwerk zu legen. Wofür er sich Emma Cassidy zunutze zu machen gedachte, egal, ob ihr das nun paßte oder nicht. Und natürlich würde es ihr -6-
nicht passen. Plötzlich stellten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf. Obwohl er nicht hätte sagen können, warum, wußte er mit einemmal, daß er nicht länger allein war. Ganz so, als ob nichts wäre, zog er die Kamera, die er noch immer am Auge hielt, in einem langsamen Bogen herum über den dunklen Wald, das felsige Bergpanorama, die Hütte, den Weg... Dann kam die Frau auf dem Hügelkamm in sein Visier. Sie stand gegen die Windrichtung, wie er an ihrem flatternden weißen Hemd, das sich gegen ihre Körperrundungen drückte, unschwer erkennen konnte, und hatte die Sonne im Rücken. Ihre Beine steckten in hautengen schwarzen Jeans, dazu trug sie ebenfalls schwarze Lederstiefel. Das Gesicht wurde von einem breitkrempigen Hut beschattet, so daß Bruce nur einen flüchtigen Eindruck von ihren ausgeprägten Wangenknochen und dem Grübchen am Kinn bekam, bevor der Verschluß klickte und er die Kamera herunternahm. „Hallo, Sie!" rief er in näselndem Tonfall. Sie ging ihm entgegen. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, hob sie den Arm und griff nach der Waffe, die sie über der Schulter auf dem Rücken trug. Bruce war allerhand gewöhnt, doch als er erkannte, was sie in Händen hielt, spürte er, wie ihm vor Überraschung eine leichter Schauer den Rücken hinablief. Das, was da im Sonnenlicht glänzte, war ein Bogen, dessen straff gespannte Sehne ein promptes, tiefes Eindringen des Pfeils in sein anvisiertes Ziel versprach. Es hatte etwas Primitives an sich, wie ihre schlanken Finger wie nebenbei den Bogen, von dem eine tödliche Gefahr ausging, umspannten, etwas... Sinnliches. Bruce fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal mit einer derartig hohen Erwartung an einen Fall herangegangen war. Sie würde ihm eine würdige Gegnerin sein und eine höchst angenehme Beute. „Ist das Ihr Wagen, der da unten am Weg steht?" rief sie ihm entgegen. In ihrer tiefen ruhigen Stimme schwang Verärgerung mit. Da ihr die Sonne noch immer im Rücken stand, konnte er ihre Augen nicht erkennen. Was ihn veranlaßte, zumindest ihre Hände -7-
wachsam im Auge zu behalten. „Sie müssen Miss Cassidy sein." Er wischte sich die Hände an seiner praktischen Mehrzweckhose ab und streckte ihr dann die Rechte entgegen. „Ich bin Bruce Prendergast. Ich habe mir im Ort sagen lassen, wo ich Sie finden kann." Sie blieb etwa sechs Meter vor ihm stehen, stellte sich breitbeinig hin und zog mit einer sicheren unverschämten Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, den sie sich um ihre Taille geschnallt hatte. „Und was wollen Sie von mir, Bruce Prendergast?" Verblüfft registrierte er die Leichtigkeit, mit der sie die Waffe handhabte. Sollte er zu seiner Pistole greifen? Nein. Für eine Konfrontation dieser Art war es noch zu früh, und vor allem wäre seine sorgfältige Tarnung damit ein für allemal den Bach runter. So hatte er es nicht geplant. Also mimte er weiterhin den etwas unbedarften Touristen und ließ mit betretenem Gesichtsausdruck die Hand, die zu übersehen sie sich entschlossen hatte, sinken. „Ich wollte bei Ihnen einen kleinen Rundflug buchen." Er blickte auf ihre Hand, die den Bogen hielt, und sah, wie sich unter dem weißen Hemd ihre Armmuskeln strafften. Um ihr Handgelenk schmiegte sich ein breites Lederband. „Was kann für einen Reporter schon Interessantes an einem Rundflug hier in dieser Gegend sein?" Er räusperte sich und täuschte eine Nervosität vor, die er nicht empfand. Das, was er verspürte, war etwas ganz anderes. Ein Adrenalinstoß rauschte durch seine Adern, seine Hände begannen zu kribbeln, und es drängte ihn, beiseite zu springen, zu handeln, irgend etwas zu tun, um wieder Herr der Situation zu werden. Vielleicht sollte er einen raschen Satz nach vorn machen und sie mit einer gezielten Bewegung zu Boden werfen, was bestimmt keine Schwierigkeit darstellen würde, da sie gut einen Kopf kleiner war als er. Sie war zwar offensichtlich sportlich gut durchtrainiert, von ihrer Statur her aber zierlich, was ihm, sollte das Ganze in einen Ringkampf ausarten, leichtes Spiel verhieß. Nun, er würde diese Möglichkeit im Auge behalten. „Reporter? Wie kommen Sie denn darauf, daß ich Reporter bin? Ich bin Buchhalter. Ich bin nur hier, um..." -8-
„Und wozu dann die Kamera?" „Die?" Mit gespielter Verwirrung blickte er auf den Fotoapparat in seiner Hand, als hätte er ihn vollkommen vergessen. „Ach, das hat nichts zu bedeuten", winkte er ab. „Wenn ich auf Urlaub bin, mache ich immer Tausende von Fotos. Allein seit New Hampshire habe ich zwei Filme verschossen - herrliche Gegend ist das hier, allerdings bin ich nicht gerade ein Meister. Im Fotografieren, meine ich." Ein Windstoß plusterte ihr Hemd auf und wehte den offenen Kragen zur Seite. Für einen kurzen Moment wurde der Ansatz ihrer rechten Brust in Sonnenlicht gebadet, bevor der Stoff wieder an seinen angestammten Platz zurückfiel „Sie befinden sich auf Privatbesitz, Mr. Prendergast." Er nickte leicht verlegen, dann deutete er hinter sich auf das Flugzeug. „Ja, ich weiß. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung für mein Eindringen, aber dieser Mann an der Tankstelle hat Sie mir empfohlen. Er hat mir erzählt, daß Sie ab und zu Rundflüge für Touristen veranstalten. Und deshalb habe ich mir gedacht, warum nicht? Fragen kostet ja nichts." „Ich weiß nicht, von wem Sie reden. Was für ein Mann an welcher Tankstelle?" Um den Anschein von Schüchternheit, den er zu erwecken suchte, zu verstärken, krümmte er die Schultern noch ein wenig mehr und zog den Kopf ein. Sie traute ihm nicht, das war offensichtlich. O ja, sie würde ihm eine würdige Gegnerin sein. „Hugh Sowieso. Seinen Nachnamen weiß nicht. Er hat mir Angelzeug verkauft." Dann verzog er mit einem unsicheren Grinsen das Gesicht und deutete auf ihren Bogen. „Äh ... Maam, sagen Sie, könnten Sie nicht vielleicht das Ding da wegnehmen? Es macht mich nervös." Ihre Mundwinkel zuckten, doch statt die Waffe zu senken, ging sie ein paar Schritte auf ihn zu. „Ach ja? Mache ich Sie wirklich nervös, Bruce?" Sie will mich verunsichern, schoß es ihm durch den Kopf. Zweifellos war sie überzeugt davon, daß er Angst vor ihr hatte, und entschlossen, ihre vermeintliche Überlegenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen. Er spürte die Schlagader an seinem Hals pochen und merkte, -9-
wie seine Anspannung wuchs. Ihre Augen lagen noch immer im Schatten, weshalb es ihm nicht möglich war, in ihnen zu lesen. „Äh ... Maam?" Die Finger, die auf dem Pfeilschaft lagen, waren lang und schlank. Scheinbar gedankenverloren strich sie mit dem Daumen über die mit Federn besetzte Spitze. „An welchem See sind Sie denn speziell interessiert?" „Äh ... wo man gut angeln kann." „Ach, Sie angeln?" Er täuschte ein nervöses Kichern vor. „Naja, ich bin wahrscheinlich kein großes Licht, aber ich habe mir sagen lassen, daß es an der Grenze tolle Angelmöglichkeiten geben soll. Und weil ich schon mal hier in der Nähe bin, würde ich ganz gern mal mein Glück versuchen." Wieder deutete er auf den Bogen und versuchte es diesmal mit einem gewinnenden Lächeln. „Bitte, meinen Sie nicht, daß Sie jetzt vielleicht dieses Ding wegnehmen könnten? Wenn wir miteinander, ins Geschäft kommen..." „Soweit sind wir noch lange nicht", schnitt sie ihm schroff das Wort ab und strich mit betonter Langsamkeit mit den Fingerspitzen über den glatten Pfeilschaft. Er befeuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen, während er wachsam jede ihrer Bewegungen registrierte. „Hugh hat behauptet, daß Sie öfter Angler zu den Seen fliegen", sagte er und baute in seinen näselnden Tonfall geschickt noch etwas Mitleidheischendes ein. „Was nehmen Sie denn normalerweise dafür?" „Da ich keinen Gewerbeschein habe, kann ich nicht mehr verlangen als die Benzinkosten. Alles andere wäre gegen das Gesetz, und ich pflege keine krummen Sachen zu machen." Wirklich rührend, der ehrenwerte Anstrich, den sie sich zu geben suchte. Nun, er würde ihr Spiel mitspielen. „Ach, hol's der Kuckuck, das ist aber gar nicht fair. Wenn Sie sich schon die Mühe machen, sollten Sie auch dafür bezahlt werden. Was kostet denn eine Tankfüllung?" Wieder zuckten ihre Mundwinkel leicht. Verkniff sie sich ein Schmunzeln? „Das hängt ganz davon ab, wo ich tanke." „Oh. Jetzt verstehe ich, Keine Rechnung, keine Umsatzsteuer, - 10 -
stimmt's." Sie hüllte sich in Schweigen und befingerte weiterhin den Pfeil. Er kramte umständlich in seinen Taschen herum und förderte schließlich eine abgegriffene Lederbrieftasche zutage. Dann legte er seine Stirn in Dackelfalten. „Ich bin nur noch eine knappe Woche hier, dann muß ich nach Chicago zurück. Was kostet es für einen Tag?" Sie schwieg und drehte nachdenklich den Pfeil zwischen den Fingern. Für eine lange Minute war nur das Rauschen des Windes in den hohen Wipfeln der Fichten zu hören und der rhythmische Wellenschlag des Wassers, das gegen das Ufer klatschte. Schließlich schob sie mit einem Aufseufzen den Pfeil in den Köcher zurück. „Okay, Mr. Prendergast. Einverstanden." „Großartig! Vielen Dank. Sind Sie morgen frei?" „Ich denke, das kann ich einrichten." Sie zögerte kurz, bevor sie sich den Bogen über die Schulter hängte, um sich danach mit der Daumenspitze die Hutkrempe aus der Stirn zu schieben. Und nun sah Bruce zum erstenmal deutlich ihr Gesicht. Gefährlich, schoß es ihm durch den Kopf. Die Frau ist gefährlich. Nicht wegen der Waffe, die sie so lässig mit sich führte und die tödlich sein konnte, wenn sie es darauf anlegte. O nein, gegen eine rein körperliche Bedrohung wußte er sich sehr wohl zur Wehr zu setzen. Worauf er nicht gefaßt gewesen war, war die Wucht ihres Blickes, die ihn vollkommen unvorbereitet getroffen hatte. Mein Gott, dachte er. Sie ist wunderschön. Augen, die so blau und klar strahlten wie der Bergsee vor ihm, schauten ihn an. Ihre sonnengebräunten Wangen waren jetzt leicht gerötet vom Wind, und auf ihrer Nase, die ganz leicht keck nach oben gebogen war, tanzten vereinzelt ein paar Sommersprossen. Er musterte sie noch genauer. Ihre langen, schlanken Beine, ihr federnder Gang, die angespannte Aufmerksamkeit des Jägers, die er an ihr wahrgenommen hatte... die helle Haut unter dem weißen Hemd ... die feingliedrigen Finger, die über den Pfeilschaft geglitten waren die dunkle kehlige Stimme, diese Lippen, die sich in heimlichem Amüsement in den Mundwinkeln leicht nach oben gebogen hatten ... - 11 -
Das ungewisse Gefühl von Erwartung - Jagdfieber auf niedrigster Stufe - hatte sich plötzlich in etwas anderes verwandelt, in etwas, das mit seinem Job nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Diese Frau hatte ihn an einem Punkt erwischt, wo er einfach nur ein Mann war, nichts als ein Mann. „Wenn Sie mit ins Haus kommen, können wir einen kurzen Blick auf die Karte werfen", schlug sie vor und drehte sich, ohne seine Antwort abzuwarten, um und machte sich auf den Weg. Mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt und die Hände zu Fäusten geballt, ging er hinter ihr her und spürte, wie ihm ein Schweißtropfen den Rücken hinabrann. Mit äußerster Anstregung versuchte er die gefährlichen Gefühle, die in ihm aufstiegen, niederzukämpfen. Er holte tief Luft in der Hoffnung, auf diese Weise seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Mit weit ausholenden elastischen Schritten folgte er ihr, ehe ihm auffiel, daß er aus Prendergasts Haut in seine eigene zurückgeschlüpft war. Sofort veränderte er seine Gangart und fiel wieder in das leichte Schlurfen, das für Prendergast typisch war, zurück. Sie drehte sich nicht nach ihm um. Zweifellos kaufte sie ihm den harmlosen Touristen ab. Er aber fand die Situation alles andere als harmlos. Er war erschüttert darüber, daß er, ein Profi durch und durch, sich einen Augenblick lang tatsächlich vergessen hatte. Wie konnte er bloß, wenn auch nur für Sekunden, aus den Augen verlieren, wer er war? Auch wenn sie noch so schön war, und selbst wenn sie etwas in ihm zum Leben erweckte, von dem er geglaubt hatte, daß es schon lange tot wäre, war das noch lange kein Grund dafür, daß ihm die Sicherungen durchbrannten. Er war hier, um einen Job zu erledigen und zu sonst nichts. Und, es war seine Aufgabe, Emma Cassidy - falls sie schuldig war das Handwerk zu legen. Emma hatte das Gefühl, daß sich seine Blicke wie der sengende Strahl eines Schneidbrenners durch den dünnen Stoff ihres Hemdes, das ihr feucht am Rücken zu kleben begann, frästen. Heiliger Himmel, wie konnte sie sich nur so zum Idioten machen? - 12 -
Ein harmloser Buchhalter auf Urlaub! Und sie wußte nichts Besseres zu tun, als den armen Kerl mit ihrem Pfeil und Bogen in Angst und Schrecken zu versetzen - mit Kanonen auf Spatzen schießen nannte man das. Wie peinlich. Das einzige, was sich zu ihrer Entschuldigung anführen ließ, war, daß sie beim Anblick seiner Kamera, die direkt auf sie gerichtet gewesen war, die Nerven verloren hatte, weil all die alten, schrecklichen Erinnerungen wieder auf sie eingestürmt waren. Ganz zweifellos war er nur ein Tourist. Was anderes hätte er auch sein sollen? Sie war hier in Bethel Comers, nicht in New York. Es gab keinen Grund mehr, ängstlich zwischen den zugezogenen Vorhängen hindurchzuspähen auf der Suche nach irgendwelchen lästigen Reportern, die sensationslüstern ums Haus schlichen. Hier gab es kein grelles Blitzlichtgewitter, wenn sie das Haus verließ, hier konnte sie sich frei und ungezwungen bewegen wie jeder andere normale Mensch auch. Niemand kannte sie, niemand wußte etwas von ihr. Für ihre Nachbarn war sie einfach nur die Frau mit dem Flugzeug. Und selbst wenn sie gewußt hätten wer sie war, wäre das wohl - nebenbei gesagt - eine doch eher schon recht abgestandene Neuigkeit gewesen. Die Sache lag immerhin bereits drei Jahre zurück. Drei Jahre war es nun her, daß sie ihren Namen geändert hatte in dem Versuch, ihrem bisherigen Leben zu entfliehen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Bruce Prendergast lächelte sie mit einem gewinnenden Lächeln, bei dem er die Nase leicht krauste, an. Reumütig beobachtete sie, wie er im Laufen seine Kamera, die an einem Riemen um seinen Hals hing, zurechtrückte und an dem Objektiv herumfummelte. Nein, eine solche Behandlung hatte er wirklich nicht verdient. Woher sollte er schließlich wissen, welche Gefühle sie Reportern entgegenbrachte? Daß sie sie haßte dafür, was sie ihr und ihrer Familie angetan hatten? Es gab nur eine Berufsgruppe, der sie noch mehr Abscheu entgegenbrachte, und das waren Polizisten. Entspann dich, befahl sie sich, während sie ihre Haustür aufschloß und auf Bruce wartete. Als er bei der Blockhütte angelangt war, stolperte er über einen Stein, der als Stufe diente. Verlegen rückte er, sich die Baseballkappe zurecht und grinste peinlich berührt. - 13 -
O je, armer Kerl, dachte sie, während sie ihm voran ins Haus ging. Nein, der Mann war mit Sicherheit kein Reporter. Dafür benahm er sich viel zu linkisch. Wie, zum Teufel, hatte sie sich auch nur eine Sekunde lang von diesem dicklichen, leicht einzuschüchternden Touristen verunsichern lassen können? „Sie haben's hier aber wirklich gemütlich." Bruce blieb auf der Schwelle zu ihrem Wohnraum stehen und blickte sich bewundernd um. Sie nahm ihren Hut ab und hängte ihn an einen Haken neben der Tür, wobei sie sich vorzustellen versuchte, wie ihr Heim auf einen Fremden wohl wirken würde. Es gab nicht viel von ihr preis. Nirgends standen Fotografien oder Souvenirs herum, und nirgendwo war auch nur ein Hauch der exklusiven Eleganz zu entdecken, von der sie Zeit ihres Lebens - bis vor drei Jahren - umgeben gewesen war. Hier war alles praktisch und bequem, angefangen von der weichen, mit dunkelblauem Kordsamt überzogenen Couch und den Sesseln bis hin zu dem Eßtisch aus Eichenholz mit den vier Stühlen davor. Hier gab es nichts zu stehlen und nichts zu enthüllen. „Sie lesen wohl sehr gern, was?" Er trottete zu dem Bücherregal an der Wand hinüber. Die Hände in den Taschen des ausgebeulten Jacketts stand er leicht vornübergebeugt vor ihren Schätzen und studierte interessiert die Buchtitel. „Unglaublich. Sie haben ja wirklich alles, angefangen von Jane Austen bis hin zu Stephen King. Ich bin auch eine Leseratte." „Ach ja? Was lesen Sie denn so? „Alles. Sogar die Aufschriften auf den Comflakespackungen." Nun drehte er sich wieder um und ließ seine Blicke durch das Zimmer schweifen. „Allerdings muß ich zugeben, daß ich am liebsten Krimis lese." „Wollen Sie sich nicht setzen?" fragte sie und deutete auf den Tisch vor dem Fenster. „Ich bin gleich bei Ihnen." „Ja, danke." Sie wartete, bis er Platz genommen hatte, bevor sie ans andere Ende des Raumes ging, um ihren Bogen in einen Gestell über dem Kamin abzulegen. „Was ist das eigentlich für ein Bogen? Ich habe so etwas noch nie - 14 -
gesehen. Waren Sie damit vorhin auf der Jagd?" „Nein." Sie schnallte sich den Köcher ab und stellte ihn auf den Kaminsims. „Ich hatte vor, unten am Weg ein paar Schießübungen zu veranstalten, und dort sah ich dann Ihren Wagen stehen. Nachdem Sie nach einiger Zeit noch immer nicht wieder aufgetaucht waren, beschloß ich, nach dem Rechten zu sehen." Sein Lachen klang unbehaglich. „Ich bin wirklich froh, daß Sie mich nicht als Zielscheibe auserkoren haben. Das Ding sieht ziemlich gefährlich aus." „Tut mir leid. Ich habe Sie für jemand anderen gehalten." „Schätze, Sie müssen ziemlich vorsichtig sein, so ganz allein hier draußen in der Wildnis. Gibt's hier eigentlich viel Kriminalität, Miss Cassidy?" „Nicht daß ich wüßte." Sie ging zu einem niedrigen Regal und holte verschiedene zusammengerollte Karten heraus. „Im übrigen können Sie ruhig Emma zu mir sagen, man ist hier nicht so förmlich." „Okay. Emma." „Und hinter was für einer Sorte Fisch sind Sie her, Bruce?" Während der kurzen Zeit, die sie sich kannten, hatte er schon mehr als einmal nervös gelächelt. Diesmal jedoch wirkte sein Lächeln, bei dem sich in seinen Augenwinkeln kleine Lachfältchen bildeten, freier und ungezwungener. „Ich hoffe natürlich immer auf, die größten Fische." Einen kurzen Moment verunsicherte sie das belustigte Funkeln in seinen Augen. Es war nicht mehr als ein flüchtiger Eindruck, den er jedoch sofort damit verwischte, daß er an seiner Baseballkappe herumzufummeln begann und sie zurechtrückte, obwohl sie einwandfrei saß. Emma nahm die Karten und ging zu ihm. „Da sind Sie nicht der einzige. Jeder will die größten Fische fangen." „Ich habe gehofft, daß Sie mich zu ihnen führen könnten." „Ich will sehen, was ich tun kann. Hier, halten Sie mal." Sie breitete die Karte auf dem Tisch aus. Er stieß sich die Fingerknöchel an der Tischkante, als er sich zu ihr hinunterbeugte, um ihrem ausgestreckten Zeigefinger zu folgen. Seine Hände waren lang, schlank und sonnengebräunt und wirkten erstaunlich sehnig für einen korpulenten Mann. „Ich weiß es wirklich - 15 -
zu schätzen, Miss... äh, Emma. Was für ein Glück, daß Sie nicht total ausgebucht sind." „Hugh schickt mir ab und an ein paar Leute vorbei, aber ich bin ziemlich wählerisch." Sie lehnte sich vor und deutete auf einen bestimmten Punkt im unteren Teil der Karte. „Hier sind wir. Und dort", sie beschrieb mit ihrem Finger eine Linie, „sind einige Seen, von denen ich meine, daß Sie Ihre Freude daran haben könnten." „Wie nah kommt man eigentlich an die Grenze heran? „Nah genug. Wenn Sie kein eigenes Boot haben, könnte ich eins meiner Kanus unten an den Ponton hängen." „Das wäre toll. Aber wird das nicht zu schwer?" „Kein Grund, nervös zu werden, Bruce. Ich bin wirklich eine erfahrene Pilotin, glauben Sie mir." „Bin ich so leicht durchschaubar?" Er wandte den Kopf ab. Obwohl der Schirm seiner Baseballkappe seine Augen weitgehend verdeckte, enthüllte jetzt das helle Sonnenlicht, das durchs Fenster hereindrang, so viel von seinem Gesicht, daß sie zumindest auf sein energisches Kinn, das sich unter den blonden Bartstoppeln verbarg, aufmerksam wurde. „Entschuldigung, aber ich wollte keinesfalls Ihre Flugkünste anzweifeln." „So habe ich es auch nicht aufgefaßt." Sie wich einen halben Schritt zurück, um in aller Ruhe das, was von seinem Gesicht zu sehen war, zu betrachten. Trotz der etwas pausbäckigen Wangen hatte er ein wirklich gut ausgeprägtes, männliches Kinn. Es war eine Schande, daß er es unter diesem gräßlichen Stoppelbart versteckte. Das Haar, das hinten aus der Baseballkappe hervorlugte, war um einige Nuancen heller und wirkte ziemlich ungekämmt. „Wie viele Leute kommen außer Ihnen noch mit?" "Äh... was?" „Sie haben doch bestimmt nicht vor, allein angeln zu gehen, oder?" „Äh ... doch. Nur Sie und ich. Wie ich schon sagte, es war eine ganz spontane Entscheidung." Er lächelte unsicher. „Das, ist doch okay, oder nicht? Ich meine, daß Sie einen Tag lang meine Führerin spielen." „Das kostet aber extra." „Keine Frage. Selbstverständlich. Wann wollen wir morgen - 16 -
aufbrechen?" fragte er so eilig, als hätte er Angst, sie könnte ihre Entscheidung wieder rückgängig machen. Noch bevor sie antworten konnte, stieß er geräuschvoll seinen Stuhl zurück und erhob sich, wobei ihm die Karte, die er auf dem Schoß gehabt hatte, hinunterfiel. Rasch bückte er sich und rumpelte beim Hochkommen mit voller Wucht gegen den Sekretär. Ein Stapel mit Post, der obenauf gelegen hatte, flatterte zu Boden. „Hol's der Kuckuck. Entschuldigen Sie bitte", murmelte er betreten und ging abermals in die Hocke, um die Briefe, die über den ganzen Fußboden verstreut lagen, wieder einzusammeln, Sie beobachtete seine ungeschickten Bewegungen und widerstand dem Wunsch, ihm ihre Hilfe anzubieten, weil sie befürchtete, ihn damit zu beleidigen. „Können Sie so gegen sechs hier sein?" „Sicher. Großartig." Während er sich wieder aufrichtete, rutschte ihm der Riemen seiner Kamera von der Schulter. Verlegen schob er ihn in die richtige Position zurück, legte das Bündel Post oben auf den Sekretär und ging dann zur Tür. Armer Kerl, dachte sie wieder. Wie schrecklich nervös und ungeschickt er doch war. Deshalb hatte sie es wahrscheinlich auch nicht über's Herz gebracht, sein Ansinnen abzulehnen. Aber egal, schließlich hatte er sich bereit erklärt, sowohl für das Benzin wie auch für die Zeit, die sie mit ihm verbrachte, zu bezahlen. „Bis morgen dann", sagte sie freundlich, als sie an der Tür angelangt waren, und streckte ihm die Hand hin. Er wischte sich die Handfläche seiner Rechten an seiner Hose ab und nahm anschließend ihre dargebotene Hand. „Ich freue mich wirklich sehr, Emma." „Nun, das Wetter wird ja höchstwahrscheinlich..." Ihre Worte blieben in der Luft hängen, als sich seine Finger um ihre Hand schlossen. Ihre körperliche Reaktion auf, die Berührung war verblüffend. Plötzlich spürte sie, daß ihre Haut an den Stellen, an denen er sie berührt hatte, zu kribbeln begann. Ganz so, als ob ein Teil von ihr reagiert hätte auf... ja, worauf eigentlich? Was konnte sie schon für diesen ständig verlegen grinsenden, so schrecklich schüchternen Fremden empfinden? Er war nicht im entferntesten ihr Typ - sofern, - 17 -
sie überhaupt einen Typ hatte. Er war einfach... Während er die Schultern straffte, bemühte er sich, ihrem Blick standzuhalten. Was ihm zu Anfang ganz offensichtlich nicht leichtgefallen war. Seine Augen waren von einem seltsam stumpfen Braun, aber er hatte lange dichte Wimpern und schön geschwungene dunkle Augenbrauen, wie sie erst jetzt bemerkte. Wie hätte sie es auch sehen sollen, wo er sich ja die ganze Zeit diese dämliche Baseballkappe ganz tief in die Stirn gezogen hatte? Irgend etwas an ihm irritierte sie, doch sie kam nicht darauf, was es war. Er strahlte eine maskuline Stärke und Entschlossenheit aus, gepaart mit Sensibilität, aber wenn sie ihn ansah, konnte sie diese Eigenschaften nirgends entdecken. Dennoch wurde sie den Eindruck nicht los, daß er in Wirklichkeit anders war, als er sich gab. Dies alles dauerte nur Sekundenbruchteile. Er ließ ihre Hand genauso verlegen los, wie er sie genommen hatte, und schob anschließend die Hände in seine Jackentaschen. Beim Hinausgehen wäre er um ein Haar wieder gestolpert. „Äh ... also... wir sehen uns dann morgen." Sie flocht ihre Finger ineinander, während sie ihm hinterhersah, wie er mit hängenden Schultern über den Hügel trottete, bis die plumpe Gestalt mit dem leicht schlurfenden Gang im Wald verschwunden war. Emma stand noch immer auf demselben Fleck und starrte mit gerunzelter Stirn ins Nichts. Stärke? Entschlossenheit? Sie schüttelte den Kopf. Kribbeln? Sie kannte ihn doch kaum, wie konnte sie da bei seiner Berührung etwas empfinden? Sensibilität? Bestimmt hatte sie sich das alles nur eingebildet. Sie fuhr sich nachdenklich mit den Fingerspitzen über die Stirn und ging ins Haus. Nur der Wind hörte ihre geflüsterte Frage: „Wer bist du, Bruce Prendergast?" Bruce holte mit einer Zange den letzten Abzug aus der Entwicklerschale und ließ ihn in das mit Wasser gefüllte Waschbecken fallen. Nach einer Weile fischte er ihn heraus und klammerte ihn neben den anderen Fotos an der Leine fest. Dann knipste er das Licht an. Helligkeit überflutete das winzige Bad seines - 18 -
Motelzimmers. Er trat näher an die Schwarzweißaufnahmen heran und studierte sie eingehend. Sein erster Tag in Bethel Corners. Emma Cassidys Grundstück, das Blockhaus, das Flugzeug. Und Emma selbst. An ihrem Bild blieb sein Blick hängen. Emmas weißes, im Wind flatterndes Hemd hob sich scharf gegen den dunklen Hintergrund ab, den die hoch in den Himmel hinaufragenden Fichten bildeten. Wie eine Nymphe, die aus den Wäldern tritt, dachte er und betrachtete das feingezeichnete, empfindsame Gesicht unter der breiten Hutkrempe. Er hatte sie gut getroffen. Schöne Frauen waren für ihn nichts Außergewöhnliches. Da er bei seiner Arbeit ständig mit vielen Menschen zu tun hatte, waren darunter des öfteren natürlich auch sehr attraktive Frauen. Was war nun aber das Besondere an Emma? Was war geschehen, als sie sich zum Abschied die Hände gereicht hatten? Wie konnte ein ganz normaler, unpersönlicher Händedruck, der lediglich dazu diente, eine Übereinkunft zu besiegeln, derartige Gefühle in ihm auslösen? Was war bloß los mit ihm? Vielleicht forderte ja die Tätigkeit als Undercover-Agent, der er jetzt seit mehr als drei Jahren ununterbrochen nachging, langsam ihren Tribut? Xavier Jones, sein Vorgesetzter, hatte ihn bereits vor Monaten davon zu überzeugen versucht, daß er eine Pause einlegen und Urlaub machen müsse. War es für Bruce Prendergast an der Zeit, endlich wieder einmal Bruce Prentice zu sein und nichts anderes zu tun, als den ganzen lieben langen Tag mit einer Angel in der Hand in einem Kanu auf dem Wasser herumzuschaukeln und in den blauen Himmel zu schauen? Es war nicht undenkbar, daß Ermüdungserscheinungen zu den Ausrutschern geführt hatten, die ihm heute unterlaufen waren. Sobald er ins Motel gekommen war, hatte er die Tür hinter sich abgeschlossen, sich seiner Polster entledigt, die Kontaktlinsen aus den Augen genommen und sich bis auf die Boxershorts entkleidet. Dann hatte er sich an die Arbeit gemacht. Emma wußte nicht, wie er wirklich aussah. Weder kannte sie seine Augenfarbe noch die Konturen seines Gesichts oder seine wirkliche Gestalt. Für sie war, er ein untersetzter, plumper Mann unbestimmbaren Alters. Und doch - 19 -
war ihm nicht entgangen, wie sich im Moment ihres Händeschüttelns ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt geweitet hatten, und auch das leise Beben ihrer Hand war ihm nicht entgangen. Der Händedruck, den sie zum Abschied ausgetauscht hatten, hatte in ihr dasselbe Gefühl ausgelöst wie in ihm. Es klang verrückt, und doch war er überzeugt davon. Das, was geschehen war, war verdammt unangebracht und durfte sich kein zweites Mal wiederholen. Die Hintergrundinformationen, die er heute morgen über sie zusammengetragen hatte, waren bei weitem nicht ausreichend, um sich ein, vollständiges Bild von ihr machen zu können. Es war ihm gelungen, in Erfahrung zu bringen, daß weder das Blockhaus noch das Grundstück mit Hypotheken belastet waren und, daß sie ihre Grundsteuer pünktlich abführte. Das Flugzeug war ihr Eigentum, sie besaß laut eigener Auskunft einen Flugschein mit der Zusatzgenehmigung, ein Wasserflugzeug fliegen zu dürfen. Auf den Poststapel, den er absichtlich von ihrem Sekretär heruntergeworfen hatte, hatte er nicht mehr als einen kurzen Blick werfen können, wobei ihm jedoch aufgefallen war, daß die meisten Briefe von Banken stammten. Bruce nahm den Abzug von der Leine und ging damit nach nebenan. Die Bettfedern quietschten, als er sich im Schneidersitz auf der Matratze niederließ. Er legte sich das Foto auf den Schoß und beugte sich, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, darüber. Die Aufnahme war so scharf, daß er sogar die Sommersprossen auf ihrer Nase und das Grübchen an ihrem Kinn erkennen konnte. Um ihre Lippen lag seltsamerweise der Anflug eines Lächelns, obwohl sie doch über seine Anwesenheit auf ihrem Grundstück alles andere als erfreut gewesen war. Der Wind wehte ihr eine Strähne ihres - was man auf dem Schwarzweißfoto natürlich nicht erkennen konnte mahagonifarbenen Haares über den Mund. Nun erinnerte er sich wieder daran, wie sie sich später zu Hause über die auf dem Tisch ausgebreitete Landkarte gebeugt und sich das Haar hinters Ohr geschoben hatte. Wobei es ihm vergönnt gewesen war, einen kurzen Blick in ihren Ausschnitt zu erhaschen... - 20 -
Er blickte noch immer auf das Bild und vermeinte selbst hier, in diesem schäbigen Hotelzimmer mit seinem unbarmherzig grellen Deckenlicht noch die Kraft ihres klaren Blicks spüren zu können. Unruhig rutschte er auf der Matratze hin und her, bis er das Bild schließlich wegschob und abrupt aufstand. Er war schließlich ein Profi. Und die erste Regel eines Profis lautete: Abstand halten. Niemals durfte man sich gefühlsmäßig in einen Fall verwickeln lassen. Das war eine Binsenweisheit in seinem Geschäft, an die er sich bisher stets gehalten hatte. Was ihm auch nicht sonderlich schwer gefallen war. Allerdings konnte er sich an keine Situation erinnern, die auch nur annähernd mit der vergleichbar, gewesen wäre, in der er sich jetzt befand. Seine Menschenkenntnis, die ihn bisher noch nie im Stich gelassen hatte, sagte ihm, daß diese Frau unschuldig war. Und doch sprachen die Informationen, die er aus Chikago mitgebracht hatte, dagegen. Nein, er war nur ihren schönen Augen auf den Leim gegangen. Er würde sich in Zukunft besser vorsehen müssen. Der Preis für einen Irrtum war in diesem Geschäft einfach zu hoch. Man konnte es sich nicht leisten, sich den Verstand von seinen Gefühlen trüben zu lassen. Auch wenn es nur für einen Augenblick war. Er ging zum Bett zurück und nahm die Fotografie noch einmal zur Hand. Vorsichtig entfernte er mit der Fingerspitze ein Stäubchen von Emmas Lippen. Was für eine Rolle spielte sie in diesem Spiel? War sie nur eine Randfigur, die ohne ihr Wissen benutzt wurde, oder war sie eine ausgekochte Kriminelle? „Wer bist du, Emma Cassidy?" fragte er laut, so als ob sie es hören könnte.
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2. KAPITEL Am nächsten Morgen riß das Schrillen der Telefonklingel sie viel zu früh unsanft aus dem Schlaf. Nachdem Emma sich hochgerappelt und noch leicht benommen gemeldet hatte, vernahm sie am anderen Ende der Leitung Simons Stimme. Mit steifen Fingern fuhr sie sich durch ihr zerzaustes Haar. „Nein, Simon" erwiderte sie entschlossen, nachdem er sein Anliegen vorgebracht hatte. „Das letztemal hast du mir die Maschine schon wieder mit leerem Tank zurückgegeben. Ich will nicht mehr." Sie kletterte aus dem Bett, klemmte sich den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter, nahm den Apparat und trat ans Fenster. „Ich hab doch gesagt, daß es mir leid tut. Bitte, Emma. Bitte." Das letzte Bitte dehnte er so flehentlich, daß sie spürte, wie sie schon wieder schwach zu werden drohte. So hatte er es stets gemacht, seine ganze Kindheit hindurch. Irgendwann hatte er den Dreh gefunden, wie er seine große Schwester manipulieren konnte, den er dann im Laufe der Zeit immer mehr perfektioniert hatte. Sobald er in einen bestimmten Tonfall verfiel, gelang es ihr nicht mehr, seinen Bitten zu widerstehen. „Es geht ja nicht nur um das Benzin. Du weißt ganz genau, wie wichtig das Logbuch ist. Wenn es dir zuviel Aufwand ist, deine Flüge einzutragen, hättest du mir wenigstens einen Zettel mit den Daten hinterlassen können." „Es wird nicht wieder passieren, Emma, ich schwör's dir, ehrlich. Bei allem, was mir heilig ist. Aber ich muß wirklich unbedingt an diesen See. Die Bodenproben vom letzten Mal waren aufsehenerregend, glaub's mir. Du wirst sehen, das ist der Durchbruch, auf den ich schon so lange gewartet habe." „Heute nicht, Simon. Ich habe einen Kunden." „Wieder so ein Angler?" „Hm ... ja." „Ich versteh wirklich nicht, warum du dich mit so einem Kleinkram abgibst. Das bringt doch nichts. Schon klar, daß du es zum Teil nur deshalb machst, damit sich die Leute nicht fragen, wovon du eigentlich lebst, aber nach drei Jahren könnte dir das mittlerweile doch auch egal sein. Ich finde, es wird wirklich langsam Zeit, daß du - 22 -
damit aufhörst, so zu tun, als seist du auf das Geld angewiesen." „Mir macht es aber Spaß zu fliegen. Und ich angle auch gern. Jeder Auftrag ist für mich eine Art Urlaub." „Hör zu, Emma. Ich habe fest auf dich gezählt. Wenn du mir nicht hilfst, schnappt mir womöglich noch ein anderer den Erfolg vor der Nase weg." „Warum mietest du dir nicht einfach, in Bangor ein Flugzeug, wenn es dir so wichtig ist? Du mußt doch aus der letzten Dividendenausschüttung noch eine Menge Geld übrig haben, so daß es kein Problem für dich sein dürfte..." . „Ich will nicht, daß irgend jemand weiß, wohin ich fliege. Nicht bevor die Sache unter Dach und Fach ist." „Ich versteh dich ja, Simon, nur..." „Du bist also nicht bereit, deine Meinung zu ändern?" Er klang tief verletzt. „Und ich hab gedacht, du wolltest mir helfen. Du hast immer gesagt, daß ich jederzeit auf dich zählen kann." „Heute nicht, Simon." Es entstand eine Pause. „Und was ist mit morgen? Wenn ich dir hoch und heilig verspreche, ein braver Junge zu sein und den Tank randvoll zu machen? Und das Logbuch fülle ich auch aus. Geschworen - ehrlich." Nein, diesmal mußte sie standhaft bleiben. Er war mittlerweile ein dreiundzwanzigjähriger erwachsener Mann und nicht mehr das verängstigte Kind, das er vor zehn Jahren gewesen war und das sie hatte bemuttern müssen. „Emma? Bist du noch dran?" Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. "Ich muß jetzt weg." „Warte! Es ist wirklich unheimlich wichtig für mich." Ja, eine Sache endlich einmal zu Ende zu führen, wäre tatsächlich sehr wichtig für ihn. Bisher war es immer bei seinen sporadischen Anläufen geblieben, bei denen dann schließlich doch nichts herausgekommen war. Sie preßte die Kiefer fest aufeinander und haßte sich einen Moment für die Nachgiebigkeit, die sie ihrem Bruder seit eh und je entgegengebracht hatte. „Ruf mich heute abend an, wenn ich wieder da bin", sagte sie schließlich zähneknirschend. „Dann können wir noch mal darüber reden." - 23 -
„Du bist wirklich ein Schatz, Emma. Tausend Dank." „Stimmt", gab sie zurück; und noch ehe sie etwas hinzufügen konnte, war die Verbindung unterbrochen. Seufzend legte sie ebenfalls auf und trug das Telefon an seinen Platz zurück. Die zehn Jahre, während derer sie an Simon Mutterstelle vertreten hatte, ließen sich eben offensichtlich doch nicht so einfach beiseite wischen. Ohne Frage, war er mittlerweile alt genug, um im Leben allein seinen Mann zu stehen, und doch fühlte sie sich noch immer verantwortlich für ihn. Oh, natürlich wußte er nur allzu genau, an welchen Knöpfen er drehen mußte, um sie in die gewünschte Richtung zu lenken, und er zog dabei, wenn es sein mußte, alle Register. Doch der Alptraum ihrer Kindheit hatte Emma und Simon eng zusammengeschweißt. Sie war die Ältere gewesen, und ihr war gar nichts anderes übriggeblieben, als zu versuchen, dem kleineren Bruder die Mutter, so gut es ging, zu ersetzen. Und diese Rolle wirkte bis heute nach. Schon wieder spürte sie die altvertrauten Schuldgefühle in sich aufsteigen. War sie womöglich zu unnachgiebig gewesen? Vielleicht war das, was er vorhatte, für ihn diesmal wirklich der Durchbruch. Nein, sie ließ auf Simon nichts kommen. Sicher hatte er seine Fehler, aber die ließen sich aus der Tragödie von der seine Kindheit überschattet gewesen war, erklären, und im Grunde seines Herzens war er ein warmer, gefühlvoller, liebenswerter Mensch. Eines Tages würde auch er genug Selbstvertrauen und Verantwortungsgefühl erworben haben, und dann würde alles anders werden. Vielleicht führte ihn ja sein allerneuestes Interesse an Bodenschätzen auf den richtigen Weg. Sie mußte ihm nur noch ein klein wenig Hilfestellung leisten, dann würde er es schaffen... Ach, hör jetzt auf, darüber nachzudenken, befahl sie sich und ging in die Küchenecke hinüber, um sich Kaffee zu machen. Dabei versuchte sie sich abzulenken, indem sie sich ausmalte, wie der heutige Tag verlaufen würde. Natürlich hatte Simon recht damit, daß sie nicht auf das Geld angewiesen war, das sie bei diesen Angler Charterflügen verdiente. Aber es ging ihr ja auch gar nicht ums Geld. Da sie leidenschaftlich gern flog, konnte sie auf diese Weise das Angenehme mit dem - 24 -
Nützlichen verbinden. Sie hatte Gesellschaft, tat den Touristen, die sich vergnügen wollten, einen Gefallen und verdiente sich so zusätzlich nebenbei auch noch ein kleines Taschengeld, das ihrer Meinung nach so gering war, daß sie gar nicht daran dachte, es zu versteuern. Was ihr nach allem, was sie und ihre Familie im Namen des Rechtsstaats hatten erdulden müssen, eine gewisse Befriedigung verschaffte. So schlug sie mit ihrem Hobby gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte, machte sie es sich mit einer weiteren Tasse Kaffee in einem Sessel bequem, sah zu, wie es langsam hell wurde, und wartete. Es dauerte nicht lange, bis aus der Ferne das Brummen eines Motors die Stille zerriß. Sie stand auf und trat ans Fenster. Bruce Lieferwagen hatte eben die Hügelkuppe erreicht. Vor dem Haus trat er so hart in die Bremsen, daß sie empört aufkreischten. Einen Moment später erstarb der Motor mit einem Röcheln. Sein Fahrverhalten war genauso unmöglich wie sein Gang. Und doch hatte sie ihre seltsame Reaktion auf seinen Händedruck nicht vergessen. Wie konnte sie bloß? Gestern, nachdem er weg war, hatte sie sich einzureden versucht, daß ihr ihr Wahrnehmungsvermögen einen Streich gespielt hatte. Daß es vielleicht so eine Art Halluzination gewesen war aufgrund der plötzlichen nervlichen Anspannung, die sein Auftauchen im ersten Moment für sie bedeutet hatte. Aber nun ließ sich das eigenartige Flattern, das sie in der Magengrube verspürte, als sie das Zuknallen der Wagentür hörte, beim besten Willen nicht länger übersehen. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem metallischen Scheppern, verkündete, daß Bruce vor der Tür stand. Sie stärkte sich gerade mit einem letzten großen Schluck Kaffee, als es auch schon schüchtern klopfte. „Hi", sagte Bruce und trat einen Schritt zurück, den Blick verlegen auf einen wirren Haufen Krempel geheftet, der verstreut am Boden herumlag. „Hoffentlich bin ich nicht zu früh." Sie musterte den Mann, der mit hängenden Schultern vor ihr stand, und schüttelte über sich selbst den Kopf. Er hatte nichts, aber auch gar nichts Anziehendes an sich. Die Baseballkappe erschien ihr heute - 25 -
noch scheußlicher als gestern, das Jackett noch ausgebeulter und die Schultern noch gekrümmter. Sie schwieg und wartete, bis er den Blick schließlich langsam hob und sie kurz ansah. Gleich darauf bückte er sich und begann, nervös die Sachen, die zu seinen Füßen lagen, zusammenzuklauben. Ganz offensichtlich war gestern ihre Phantasie mit ihr durchgegangen. Sie nippte an ihrer Kaffeetasse, die sie noch immer in der Hand hielt. Kaum vorstellbar, daß dieser unbeholfen wirkende Mann auch nur auf eine einzige Frau auf dieser Welt eine irgendwie geartete Wirkung ausüben könnte. Und doch war da etwas... irgend etwas hatte er an sich. Jetzt spürte sie es wieder, als hätte die gestrige Berührung ein unsichtbares Band zwischen ihnen geknüpft. Es war wie ein Magnet, von dem sie sich angezogen fühlte. „Entschuldigen Sie das Chaos hier", murmelte er undeutlich, während er sein Angelzeug zusammensammelte. Schließlich kam er mit vom Bücken hochrotem Kopf wieder hoch. "Ich äh... ich muß wohl irgendwie über die Stufe gestolpert sein." Emma studierte sein Profil, das sich scharf gegen die Morgendämmerung abhob. Seine Nase war schmal und gerade und wirkte ebenso wie sein Kinn, das man unter dem scheußlichen Bart allerdings nur ahnen konnte, ausgesprochen männlich. Obwohl er entschieden zu füllig war, wirkte er alles in allem dennoch erstaunlich wohlproportioniert. Wie dieser Eindruck bei einem dicken Menschen entstehen konnte, war ihr nicht klar. Hätte er nicht diese geduckte Haltung und diesen leeren, gelegentlich sogar leicht stupiden Gesichtsausdruck, würde er gleich ganz anders aussehen. Ihre Neugier war erwacht - schlichte weibliche Neugier. Und ihr Interesse. Verstohlen warf sie einen weiteren nachdenklichen Blick auf sein Profil, bevor sie hineinging, um die Sachen zu holen, die sie zusammengepackt hatte. Bruce war beeindruckt von Emmas Flugkünsten. Ihre Bewegungen waren ruhig und sicher, und er erkannte auf Anhieb, daß sie ein Naturtalent war. Langsam gewannen sie an Höhe. Hoch über den Bäumen neigte sich die Maschine sanft, und. Emma beschrieb einen - 26 -
weiten Halbkreis, ehe sie in die Waagerechte ging und zurückschaltete. Bei dem Flugzeug handelte es sich um eine einmotorige Cessna, nichts Ausgefallenes, sondern einfach nur eine ganz normale, zuverlässige Maschine. Von Xavier hatte er sich gestern abend noch rasch über die Leistungsfähigkeit einer einmotorigen Cessna aufklären lassen, deshalb wußte er, daß es kein Problem war, mit ihr die Strecke von hier bis St. Lawrence ohne Zwischenstop zu bewältigen. Ja, das Flugzeug war durchaus in der Lage, eine tragende Rolle in diesem Kurierspiel zu spielen. Aber war es die Pilotin auch? Sie trug eine ähnliche Kleidung wie gestern, nur daß die hautengen Jeans heute nicht schwarz, sondern dunkelblau waren. Wieder hatte sie ein weites weißes Hemd an, über das sie sich eine rotschwarz gemusterte Jacke geworfen hatte. Ihr dunkelrot schimmerndes, schulterlanges Haar steckte, wie gestern auch, unter dem breitkrempigen schwarzen Hut. Die fast männliche Kleidung betonte ihre weiblichen Reize, was sich für Bruce vorhin, nachdem er den ersten Blick auf sie geworfen hatte, durch ein vertrautes Ziehen in der Lendengegend bemerkbar gemacht hatte. Obwohl er fest entschlossen war, seinen persönlichen Gefühlen keinen Raum zu geben, war es ihm nicht gelungen, dieser plötzlichen Aufwallung von Begierde, die ihn bei ihrem Anblick heimtückisch aus dem Hinterhalt angefallen hatte, Einhalt zu gebieten. Über dem See hingen dichte Nebelschwaden, die nun langsam hochstiegen und sich nach und nach auflösten. Bruce wandte den Kopf, um zu Emma hinüberzusehen. Gestern abend hatte er wieder und wieder auf die Aufnahme, die er von ihr gemacht hatte, gestarrt und sich den Kopf darüber zerbrochen, was für ein Mensch sich wohl hinter diesem Gesicht verbergen mochte. Doch das Foto hatte sich geweigert, sein Geheimnis preiszugeben. Als er vorhin absichtlich vor ihrer Tür seinen ganzen Kram hatte fallen lassen und sich angestellt hatte wie der letzte Trottel, war es ihm trotz scharfer Beobachtung nicht gelungen, auch nur das geringste Anzeichen dafür festzustellen, daß sie sich etwa insgeheim über ihn lustig gemacht hätte. Sie hatte ihn nur einer ausführlichen Musterung unterzogen, so als suchte sie nach - 27 -
dem Menschen, der sich unter dieser ausgebeulten, schon leicht abgetragenen Kleidung verbarg. Wieder schielte er aus denn Augenwinkel zu ihr hinüber. Ihre Augen hatte sie hinter einer großen dunklen Pilotensonnenbrille versteckt, aber die Mühe, das Vergnügen, das sie beim Fliegen empfand, ebenfalls zu verstecken, machte sie sich nicht. Offensichtlich flog sie leidenschaftlich gern. Und ebenso offensichtlich hatte sie genug Geschick und ausreichend Erfahrung, um die nicht ungefährlichen nächtlichen Schmuggelflüge ohne unliebsame Zwischenfälle über die Bühne zu bringen. Bruce spürte ein leichtes Unbehagen in sich aufsteigen. Er wandte den Blick von ihr ab und versuchte, den herrlichen Ausblick, der unter ihm lag, zu genießen. Schon wieder hatte er sich dabei ertappt, wie sich bei ihm Berufliches und private Empfindungen vermischten. Das mußte er abstellen, und zwar sofort. Und doch gelang es ihm nicht, den Zweifel daran, daß Emma wissentlich in eine so schmutzige Sache verwickelt war, aus seinem Kopf zu verbannen. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" fragte sie mit lauter Stimme, um den Motorenlärm zu übertönen. „Aber sicher` erwiderte er. „Hey, ist es nicht herrlich hier, oben? Ich bin Hugh wirklich dankbar, daß er mir diesen Tip gegeben hat." Wieder flog sie einen leichten Halbkreis. „Ich auch." Als sie kurz den Kopf wandte, um ihn anzusehen„ brachen sich die Sonnenstrahlen auf den dunklen Gläsern ihrer Brille. „Jeder braucht ab und zu mal eine kleine Erholung, Bruce." Ihr Lächeln überraschte ihn. Es breitete sich ganz plötzlich auf ihrem Gesicht aus und war strahlend wie die Sonne, die ihr Licht über die bewaldeten Hügel ergoß. Unerwartet bildeten sich zwei winzige Grübchen in ihren Wangen. Ihre Freude wirkte beinahe kindlich und gänzlich unschuldig. Bruce steckte rasch die Hände in seine Jackentaschen und ballte sie zu Fäusten, wobei er sich ein weiteres Mal ermahnte, seine Objektivität ihr gegenüber auf keinen Fall aufzugeben. Ein ganzer Tag allein mit Emma Cassidy war eine höchst willkommene Gelegenheit, um mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Die durfte er - 28 -
sich keinesfalls wegen irgendwelcher Gefühlsduseleien durch die Lappen gehen lassen. Selbst gesetzt den Fall, sie wäre nicht persönlich in die Schmuggelflüge involviert, durfte er doch nicht aus den Augen verlieren, daß die Spur einwandfrei zu ihr geführt hatte. Was besagte, daß sie zumindest etwas wußte. Und um das aus ihr herauszuholen mußte er sich nur geschickt genug anstellen. Ohne Vorwarnung trieb plötzlich eine Erinnerung an einen zurückliegenden Fall aus seinem Unterbewußtsein an die Oberfläche. Er hatte damals auch schon einmal jemanden benutzt, genauso wie er jetzt Emma zu benutzen gedachte. Nur um seines Auftrags willen hatte er einen unschuldigen Mann dazu überredet, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Er hatte erreicht, was er hatte erreichen wollen, aber um welchen Preis? Du hast ihn benutzt. Verblendet von deiner starren Vorstellung von Recht und Unrecht hast du dich einen Dreck darum geschert, ob er heil davonkommt oder nicht. Alles, was du gesehen hast, war dein Job und sonst nichts. Aber er war eben nun mal ein Cop. Und von einem Cop wurde verlangt, daß er seine Aufgabe erfüllte, ohne nach rechts oder nach links zu schauen. Und seine Arbeit war sein Leben, von ihr hing seine gesamte Identität ab. Seit Lizzies Tod war sein Job das einzige, was ihn überhaupt noch aufrecht hielt. Solche seltsamen Gedanken, wie sie ihm jetzt durch den Kopf gingen, waren ihm bisher gänzlich fremd gewesen. Großer Gott, vielleicht wurde es ja wirklich Zeit, daß er mal Urlaub machte. Als sie den See erreichten, den Emma ihm auf der Karte gezeigt hatte, kam eine leichte Brise auf. Die Kräuselung der Wasseroberfläche verriet Emma, wie stark der Wind war und aus welcher Richtung er kam. Geschickt steuerte sie die Maschine in eine nahegelegene Bucht. Den Vormittag verbrachten sie auf dem See in dem Versuch, Barsche zu angeln. Emma zeigte Bruce die Plätze, die sie von früheren Ausflügen her bereits kannte und bei denen sie sich ziemlich sicher war, daß er fündig werden würde. Bei Windstille konnte man im klaren Wasser die dunklen Schatten der Fische hin- 29 -
und herflitzen sehen. Doch wie sie bereits befürchtet hatte, stellte sich Bruce als ein total hoffnungsloser Fall heraus. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, und ihm war es gerade mal gelungen, zwei kleine Fische an Land zu ziehen, die so mickrig waren, daß er sie gleich wieder ins Wasser zurückwarf. Und das trotz der Superausrüstung, die Hugh ihm angedreht hatte. Emma lag bequem, den Ellbogen auf einer Schwimmweste gestützt, im Heck und rückte ihren Hut so, daß sie Bruce unauffällig beobachten konnte. Nicht daß es da viel zu sehen gegeben hätte. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, so daß sie seine Augen nicht sehen konnte, und da er die Angewohnheit hatte, immer mit halb abgewandtem Kopf dazusitzen, verbarg der Schirm seiner scheußlichen Baseballkappe den Teil seines Gesichts, den sein Bart nicht verdecken konnte. Sie wurde den Verdacht nicht los, daß er sich angestrengt bemühte, etwas vor ihr zu verheimlichen. Sie kannte sich gut aus im Versteckspielen, wahrscheinlich kam sie deshalb auf diese Idee. Die Frage war nur, was es war. Hatte er Minderwertigkeitskomplexe wegen seiner Figur? Oder fand er sich zu unbeholfen? Das Kanu schwankte bedenklich, als er sich anders hinsetzte, um seine Angelrute in eine neue Position zu bringen. Wieder war ihm ein Barsch durch die Lappen gegangen. „Hol's der Kuckuck", brummte er ungehalten. Emma schnappte sich ihren Rucksack und kramte darin herum. „Möchten Sie?" erkundigte sie sich und hielt ihm den Apfel unter die Nase. Als er sich zu ihr umdrehen wollte, krachte er mit der Angelrute hart gegen den Bootsrand, was ihn vor Schreck veranlaßte, so rasch von seinem Sitz aufzuspringen, daß das Kanu fast umgekippt wäre. Betreten ließ er sich wieder nieder und sah sie an. „Vielen Dank, aber ich habe im Moment keinen Hunger." „Die Fische anscheinend auch nicht", gab sie trocken zurück und biß genüßlich in den Apfel. „Vielleicht haben wir ja später mehr Glück.“ „Sie meinen bei Sonnenuntergang?" „Nein, am Nachmittag. Ich fliege nicht gern bei Dunkelheit." - 30 -
„Ach nein? Warum?" „Die Cessna ist für Nachtflüge nur ungenügend ausgerüstet. Ich habe keine Lust, mit dem Mount Katahdin engere Bekanntschaft zu machen." Er blickte zu dem bewaldeten Berg, der sich in der Ferne am Horizont erhob. Nervös befeuchtete er sich die Lippen. „Der ist doch ziemlich weit weg, oder täuscht das?“ „So weit auch wieder nicht." „Und wenn wir jetzt durch irgend etwas aufgehalten würden, oder wir müßten bei Nebel fliegen? Würden wir dann ... äh ... mit dem Berg kollidieren?" Sie lächelte nachsichtig. „Ich habe ein bißchen übertrieben, Bruce. Ich denke schon, daß ich es schaffen würde, ihm auszuweichen." „Hm. Beruhigend zu wissen." „Machen Sie sich keine Sorgen", sagte sie weich. Ob er schon immer so ängstlich gewesen war? Vielleicht hatte er ja in seiner Kindheit viel durchmachen müssen. „Ich bin eine erfahrene Pilotin." „Sind Sie schon mal nachts geflogen?" Wieder biß sie ein Stück von ihrem Apfel ab, dann nickte sie. „Ja. Aber ich vermeide es, so gut ich kann. Und vor allem fliege ich nachts grundsätzlich keine weiten Strecken. Es ist zu riskant." „Aber theoretisch könnten Sie’s?" „Sicher. Im Notfall. Ich vermute, daß das jeder Pilot kann, vorausgesetzt, das Wetter ist danach." „Man merkt, daß Ihnen das Fliegen Spaß macht. Wie lange fliegen Sie schon?" „Genauso lange wie ich Auto fahre." Sie streckte ihre Beine lang aus und legte sie, die Fußknöchel über Kreuz, auf das Dollbord. Bevor sie weitersprach, nagte sie erst hingebungsvoll ihren Apfelgrips ab und warf ihn dann in hohem Bogen in den See. Als ihr ihre erste Flugstunde wieder in den Sinn kam, konnte sie sich ein Grinsen nicht verbeißen. „Meine erste Flugstunde habe ich in einer alten Piper Cub, die wahrscheinlich nur mit Kaugummi und Bindfaden zusammengehalten wurde, absolviert. Es war die schrecklichste Erfahrung meines Lebens, ich bin tausend Tode gestorben. Und dennoch wußte ich, daß das Fliegen meine große - 31 -
Leidenschaft werden würde. Nirgendwo fühlt man sich freier als in der Luft. Man kann seine ganzen Probleme unten auf der Erde zurücklassen, plötzlich ist nichts mehr wichtig. Du hörst nichts außer dem Rauschen des Windes und spürst nur noch das Ruder unter deinem Fuß und die Schaltknüppel in deinen Händen. Es ist eine sehr sinnliche Erfahrung, es ist..." Sie brach ab, weil sie bemerkt hatte, daß Bruce sie mit einem höchst seltsamen Blick musterte. „Tut mir leid", sagte sie entschuldigend, „unterhalten Sie sich bloß niemals mit einem Piloten übers Fliegen." „Ihre Begeisterung stört mich nicht - im Gegenteil. Ich habe mich nur gefragt, warum Sie dann Ihr Hobby nicht zu einem richtigen Beruf machen. Sie könnten doch finanziell viel mehr rausholen, wenn Sie es richtig professionell angehen würden." „Geld interessiert mich nicht. Außerdem, habe ich noch andere Verpflichtungen." „Ach so. Entschuldigen Sie. Ich glaube, ich bin wirklich ein richtiger Buchhalter", murmelte er in seinen Bart. Was sollte sie dazu sagen? Irgendwie erinnerte er sie an ihren Bruder. Nicht, daß sie sich etwa ähnlich sähen, aber Bruce schien es ebenso wie Simon entschieden an Selbstvertrauen zu mangeln. Das sagte ihr schon allein die Art, wie er dauernd seine Schultern krümmte - gerade so als wollte er sich ständig klein machen - und wie er nervös mit den Händen seine Knie umklammerte, als müsse er sich festhalten. Eigentlich sollte sie Mitleid mit ihm haben. Und doch gab es etwas, das in ihren Augen Bruce von Simon unterschied. Die Gefühle, die sie ihm entgegenbrachte, waren alles andere als schwesterlich. Sie biß sich auf die Unterlippe. Wie oft und mit wie vielen Männern hatte sie die Anglertouren jetzt schon hinter sich gebracht? Großer Gott, sie konnte es kaum mehr zählen. Und doch war ihr noch niemals das Kanu so klein erschienen wie heute. Selbst jetzt noch, wo er diese signalrote Rettungsweste, unter der sich sein Bauch noch auffälliger wölbte als sonst, anhatte, spürte sie diese seltsame Anziehungskraft, die von ihm ausging. „Wie lange arbeiten Sie denn schon als Buchhalter, Bruce?" „Äh... Ich bin seit meinem Collegeabschluß immer in derselben - 32 -
Firma beschäftigt." Warum versuchte er ihrer Frage auszuweichen? Konnte er nicht mal mehr ohne Gewissensbisse lügen? „Und - mögen Sie Ihre Arbeit?" „O ja." Er zögerte. „Sie ist mein ganzes Leben. Ich arbeite sehr viel. Meistens ist es interessant, eine echte Herausforderung. Doch kürzlich ist mir durch den Kopf gegangen; daß es mir vielleicht gar nicht so guttut, wenn ich mich da zu sehr reinhänge." „Sie sind ein Workaholic, stimmt's?" „Das kommt unter dem Strich wohl heraus." Er lachte und tippte sich verlegen an den Schirm seiner Baseballkappe. „Entschuldigung. Kleiner Buchhalterscherz." Überrascht registrierte sie den Anflug von Selbstironie, der über seine Züge glitt. Ihr war, als hätte sich eine Tür einen winzigen Spaltbreit geöffnet und den Blick freigegeben auf das, was er zu verbergen trachtete. „Haben Sie Ihre Kamera heute nicht dabei?" „Hm? O ja! In meinem Rucksack." „Sie haben mich zwar engagiert, damit ich Ihnen Angelplätze zeige, aber das bedeutet ja noch lange nicht, daß Sie auch wirklich angeln müssen. Vielleicht würden Sie ja lieber ein paar schöne Fotos schießen. Die Gegend hier hat einiges zu bieten, und das Licht ist traumhaft zum Fotografieren.“ „Ach, das ist eine prima Idee", rief er aus, und es klang, als fiele ihm ein Felsbrocken vom Herzen. Er lehnte sich angeregt vor. Unglücklicherweise stieß er dabei mit dem Ellbogen so hart gegen die Thermoskanne, die Emma mitgebracht hatte, daß sie gegen die die Kanuwand prallte. Glas knirschte. Offensichtlich war der innere Wärmemantel der Kanne zersprungen. „Hol’s der Kuckuck!" Er muß sich verdammt wehgetan haben, schoß es ihr durch den Kopf. „Ach, das macht doch nichts, Bruce." „Tut mir leid, Emma. Ich kaufe Ihnen eine neue Kanne und bring Sie Ihnen gleich morgen vorbei." „Machen Sie sich bloß keine Gedanken. Sie war sowieso schon alt, und ich habe schon lange damit gerechnet, daß sie irgendwann ihren Geist aufgibt." „Nein, es war allein meine Schuld. Ich bestehe darauf." „Das müssen Sie aber nicht." - 33 -
„Doch. Es tut mir wirklich leid, Emma." Er holte seine Kamera aus dem Rucksack und stopfte dafür die ruinierte Thermoskanne hinein. Nachdem er die Vorhänge zugezogen und die Tür sorgfältig verriegelt hatte, streckte sich Bruce bäuchlings auf dem Teppichboden aus und begann die nächste Serie Liegestütze. Seine Schultern bewegten sich rhythmisch auf und ab, sein Bizeps schwoll an, und das Blut pulsierte zwar schneller als gewöhnlich durch seine Adern, doch zwanzig Wiederholungen konnten ihn noch lange nicht außer Puste bringen. Er machte eine kurze Pause, dann preßte er die Kiefer hart zusammen, stellte die Beine auseinander, legte die linke Hand auf den Rücken und machte noch zehn zusätzliche Liegestütze nur auf dem rechten Arm. Anschließend kam die andere Seite dran. Das Warten zerrte an seinen Nerven. Es war ihm gelungen, von der zerbrochenen Thermoskanne ein paar einwandfreie Fingerabdrücke abzunehmen, die er umgehend Xavier zugefaxt hatte. Das war bereits vor Stunden gewesen. Hoffentlich würde das endlich Licht ins Dunkel ihrer Ermittlungen bringen, denn eine Emma Cassidy war bisher nirgendwo registriert. Möglicherweise lebte sie ja unter falschem Namen. Was anzunehmen war, denn diese Emma Cassidy, mit der er den heutigen Tag verbracht hatte, war vor drei Jahren plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, und es war ihnen nicht gelungen, ihren Hintergrund aufzuhellen. Ein bißchen fürchtete er sich vor dem, was da ans Tageslicht kommen könnte. Einerseits war er immer mehr von ihrer Unschuld überzeugt, andererseits lag es auf der Hand, daß an der Sache irgend etwas faul war. Er rollte sich auf den Rücken, legte die Hände in den Nacken und begann mit einer Serie von Sit-ups. Auf den harten Muskelsträngen, die von seiner Brust über den Bauch nach unten verliefen, hatte sich ein feiner, glänzender Schweißfilm gebildet. Um seine Taille verliefen rote Streifen - eine ärgerliche Hinterlassenschaft des Klebebands, mit dem er sich seine Hüft- und Bauchpolster befestigt hatte. Emma schien Bruce Prendergasts Übergewicht nicht zu stören, ihr Verhalten war den ganzen Tag über gleichbleibend freundlich und warm gewesen. Fast hatte sich mittlerweile schon so etwas wie - 34 -
eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Und das war genau das, worauf er es angelegt hatte. Wenn erst einmal ein gewisser Grad des Vertrauens zwischen ihnen erreicht wäre, würde es ihm möglich sein, sie zu benutzen. Benutzen. Da war das Wort wieder. Mit einem gemurmelten Fluch ließ er sich zurücksinken. Sie scherte sich nicht um sein Aussehen und hatte dem Geld das er ihr in die Hand gedrückt hatte, bevor er gegangen war, kaum einen Blick geschenkt. Ihre guten Wünsche für den Rest seines Urlaubs waren aufrichtig gewesen. Und sie hatte ihm auf vorsichtige Weise beizubringen versucht, daß Hugh sehr geschäftstüchtig war, offenbar, weil sie befürchtete, daß der alte Fuchs ihn über’s Ohr hauen könnte. Als das Telefon klingelte, war Bruce in Sekundenschnelle auf den Beinen und nahm nach dem ersten Läuten ab. Sobald er Xaviers heisere Stimme vernahm, klemmte er sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter, griff nach Papier und Kugelschreiber und setzte sich auf den Bettrand. „Okay, schieß los." „Kein schlechter Fang, den du da gemacht hast." „Konntest du mit den Fingerabdrücken was anfangen?" „Aber ja. Ich habe herausgefunden, um wen es sich bei deiner Emma Cassidy handelt. Ihr voller Name lautet Emmaline Cassidy Duprey." „Duprey." Er schwieg einen Moment. „Da klingelt aber gar nichts bei mir." „Ihr Vater war Lewis Duprey. Alter Geldadel mit einem Riesenbesitz auf Long Island. Typischer Überflieger, bis er für vier Jahre wegen Börsenbetrugs im Kittchen gelandet ist. Nach seiner Entlassung hat er sich bedeckt gehalten und ist vor drei Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Bruce malte Kringel in sein Notizbuch. „Vor drei Jahren? Das war genau die Zeit, in der sich. Emma hier angesiedelt hat." „Mhm-hm, Sie gehörte zur High-Society, bis sie nach dem Begräbnis ihres Vaters ihren Namen geändert hat und untergetaucht ist. Noch immer hält sie an einem halben Dutzend Gesellschaften Anteile, tritt aber in der Öffentlichkeit so gut wie nicht mehr in Erscheinung." Sie gehörte zur High-Society? Emma, die sich in einer abgetragen - 35 -
Jacke, die gestiefelten Füße auf dem Dollbord, in einem Kanu lümmelte? Bruce schüttelte ungläubig den Kopf. Nun, darüber würde er sich später seine Gedanken machen. „Wurde zusätzlich zu der Gefängnisstrafe auch noch eine Geldstrafe verhängt?" „Eine saftige sogar. Duprey mußte Bankrott anmelden, aber irgendwie schaffte er es, das meiste von seinem Vermögen für seine Kinder beiseite zu schaffen. Seine Tochter sprang für ihn ein und verwaltete das Geld, während er seine Strafe absaß. Und nach allem, was ich gehört habe, machte sie ihre Sache glänzend. Offensichtlich war sie vorsichtiger als ihr Vater. Falls sie krumme Sachen gedreht haben sollte, ist es zumindest nicht ans Tageslicht gekommen." „Sie muß ja noch fast ein Kind gewesen sein damals." „Als Lewis angeklagt wurde, war sie achtzehn.“ „Hat sie Geschwister?" „Es gibt noch einen Bruder - Simon. Er ist fünf Jahre jünger. Scheint während der Pubertät eine Menge Scherereien gemacht zu haben." „Und was ist mit der Mutter?" „War verschiedentlich auf Entzug, bis sie schließlich vor einigen Jahren aufgrund einer Überdosis von Schlaftabletten das Zeitliche gesegnet hat." Das düstere Bild, das Xavier von Emmas Elternhaus zeichnete, stimmte ganz und gar nicht mit dem Bild überein, das ihm plötzlich durch den Kopf schoß: Emma lachend, sorgenfrei, über ihr der blaue Himmel, der sich in den Gläsern ihrer Sonnenbrille spiegelte. Fliegen mache sie frei, hatte sie gesagt. „Hey, bist du noch da, Bruce?" „Ja. Wie ist der Vater gestorben?" „Ein Jagdunfall." „Du hast gesagt, daß die Umstände mysteriös waren?“ „Die polizeiliche Untersuchung hat ergeben, daß Alkohol mit im Spiel war. Es gab keine Zeugen. Mehr konnte ich bis jetzt noch nicht rausfinden. Morgen werden wir alles wissen." Bruce hörte im Hintergrund das Klappern einer Computertastatur. „Ich wollte dir nur schon mal vorab Bescheid geben. Am Anfang hab ich gedacht, du jagst einem Hirngespinst hinterher, aber es sieht so aus, als hättest du - 36 -
wieder mal den richtigen Riecher gehabt. „Möglich." „Möglich? Na hör mal. Glaubst du vielleicht, daß es ein Zufall ist, daß ausgerechnet jemand wie Emmaline Duprey im Zentrum der Ermittlungen steht? Am besten, ich schicke dir gleich noch Verstärkung, weil..." „Laß das lieber erst mal, klar?" „Warum denn?" „Bethel Corner ist ein winziges Nest. Fremde fallen hier sofort auf. Gib mir noch ein paar Tage, damit ich ein bißchen vorfühlen kann." „Wir könnten doch wenigstens mit dem dortigen Sheriff Kontakt aufnehmen." „Einspruch. Falls Emma in der Sache ihre Finger drin haben sollte, muß es noch Komplizen geben, und wir wissen nicht, wie weit deren Verbindungen reichen." „Falls sie ihre Finger drin hat? Ich dachte, davon bist du schon längst überzeugt?" Bruce rieb sich die Augen, dann blieb sein Blick an dem glänzenden Schwarzweißfoto hängen, das an der Nachttischlampe lehnte. Ein hübsches, willensstarkes Kinn, unschuldige Sommersprossen, lebendige Augen, die wachsam unter einer dunklen Hutkrempe hervorspähten. „Ich habe eben erst meine Fäden geknüpft und würde gern sehen, was ich aus ihr rausholen kann. Also gib mir noch ein paar Tage, okay?" „Ein paar Tage wird es sowieso dauern, bis wir alles koordiniert haben. Hauptsache, du bist auf der richtigen Spur, aber paß gut auf dich auf. Mit der Duprey ist wahrscheinlich nicht zu spaßen." „Hm." „Interessiert es dich eigentlich gar nicht, weshalb wir ihre Fingerabdrücke in der Kartei haben?" Überrascht fiel Bruce auf, daß er daran tatsächlich noch gar nicht gedacht hatte. „Nun? Warum?" Er hörte, wie Xaxier in einem Aktenordner blätterte. „Kurz bevor Emmaline Duprey sich aus dem Staub gemacht hat, hatte sie ein Verfahren am Hals." „Na sowas." - 37 -
„Sie hatte jedoch das Glück, einen guten Rechtsanwalt zu haben: Die Sache ist vertuscht worden, es ist kein Sterbenswörtchen an die Öffentlichkeit gedrungen. Na, kein Kunststück bei dem vielen Geld. Hatte allerdings nichts mit Wirtschaftskriminalität zu tun." „Sondern?" „Körperverletzung." „Erzähl mir die Einzelheiten." „Da muß ich mich erst noch schlau machen." Es folgte ein Schweigen. „Meine guten Ratschläge in punkto Vorsicht sind sicher überflüssig, oder?" Bruce starrte wieder auf das Schwarzweißfoto, wobei sein Erinnerungsvermögen das ergänzte, was auf dem Abzug nicht zu sehen war: ihr elastischer Gang, die mutwillige Art und Weise, wie sie versucht hatte, ihm mit ihrem Pfeil und Bogen Angst, einzuflößen... ihr schönes Lächeln. Sie war voller Gegensätze. Sie war ein Puzzle, das zusammenzusetzen ihn drängte, eine Frau, die er näher kennenlernen wollte. Als der Kugelschreiber, den er krampfhaft umklammerte, in zwei Teile zerbrach, zuckte ein Muskel an seinem Hals. „Ja, vollkommen", gab er zurück. „Mir ist klar, daß die Frau gefährlich ist."
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3. KAPITEL Die orangefarbenen Strahlen der Sonne vergoldeten die Spitzen der hohen Fichten auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Emma blickte nachdenklich auf die leicht gekräuselte Oberfläche des Wassers, die geheimnisvoll und dunkel glänzte wie ein schwarzer Spiegel. Simon war es schließlich doch gelungen, sie zu überreden, ihm die Cessna zu leihen. Aber zumindest schien ihre standhafte Weigerung Wirkung gezeigt zu haben, indem ihm langsam dämmerte, daß es so nicht weitergehen würde. Sehr erleichtert, daß er sich zumindest diesmal noch hatte durchsetzen können, hatte er ihr eine gewissenhafte Führung des Logbuchs zugesichert ebenso wie einen vollen Tank. In seiner freudig erregten Stimme lag sein ganzer jugendlicher Enthusiasmus, der ihr trotz ihrer Empörung ein liebevolles Lächeln abnötigte. Seine Schürfarbeiten schienen allen Anlaß zu Optimismus zu geben. Müde fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. Wie lange würde sie das noch durchhalten? Schließlich war sie nicht Simons Mutter. Und dennoch hatte sie alles für ihn getan, was in ihrer Macht stand, auch wenn sie damals, als ihre Mutter starb, selbst noch nicht richtig erwachsen gewesen war. Wann hatte die Aufopferung für ihn endlich ein Ende? War sie jetzt langsam nicht auch einmal an der Reihe? Daß sie irgendwann auf Glück hoffen könnte, erschien ihr zu hoch gegriffen - alles, was sie sich ersehnte, war ein kleines bißchen Frieden. Nicht mehr und nicht weniger. War das zuviel verlangt? Frieden. Das war es, wonach sie gesucht hatte, als sie ihrem früheren Leben den Rücken gekehrt hatte, um sich hier in den tiefen Wäldern, nahe der Grenze zu Kanada, niederzulassen. Da sie über einen Computer mit Modem verfügte, konnte sie die Familiengeschäfte ebensogut von Bethel Corners aus führen. Es machte keinen Unterschied, ob sie wie früher in New York in dem Stahl- und Glasturm saß oder hier. Das waren eben die Vorteile des Computerzeitalters. Und die Parties, diese Jahrmärkte der Eitelkeiten mit all ihrem öden Geschwätz, vermißte sie schon gar nicht. Sie war heilfroh, dieser brodelnden Gerüchteküche entronnen zu sein. Ein Haubentaucher rief, sein einsamer Schrei erschien ihr wie ein - 39 -
Echo auf ihre Gedanken. Sie dachte an Bruce Prendergast. Eine recht seltsame Freundschaft, die da zu keimen begann. Sie hatten gestern noch einen schönen Nachmittag miteinander verbracht. Nachdem er endlich die fixe Idee, unbedingt fischen zu müssen, aufgegeben hatte, wurde er sichtlich entspannter und hatte sich zu einem amüsanten Unterhalter mit trockenem Humor, schnellem Witz und scharfem Verstand gemausert. Alles in allem war der schüchterne, unbeholfene Mann ein durch und durch sympathischer Mensch. Nachdem die Sonne hinter dem Horizont versunken war, stiegen über dem Wasser feuchtkalte weißgraue Nebelschwaden auf. Emma schauerte zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie auf den leeren See hinausschaute. Bruce hatte sie heute morgen telefonisch für den Abend zum Essen eingeladen. Sie war einverstanden. Warum? Bestimmt nicht aus Mitleid, allerdings auch nicht wegen der anregenden Unterhaltung, die sie am Tag zuvor geführt hatten. Der Grund für ihre Zusage wurzelte darin, daß sie sich mehr und mehr von ihm angezogen fühlte. In Anbetracht all der eleganten, weltmännisch gewandten, kultivierten Männer, die sie im Laufe ihres Lebens - ihres früheren Lebens - kennengelernt hatte, war die Tatsache, daß sie sich von einem kleinen Buchhalter mit einigen Pfunden zuviel angezogen fühlte, lächerlich. Und doch war es so. Es wäre zwecklos gewesen, es leugnen zu wollen. Ihr Körper hatte bereits bei ihrer ersten Berührung eine zu deutliche Sprache gesprochen. Berührt hatte er sie seitdem nicht mehr. Nach diesem ersten denkwürdigen Händedruck schien er es so einzurichten, daß sie nicht noch einmal in körperlichen Kontakt miteinander kamen. Was glaubte sie, was passieren würde, wenn er sie wieder anfaßte? Bildete sie sich vielleicht ein, er würde sich vom Frosch in einen Prinzen verwandeln, der sie auf seinem schwarzen Rappen entführte? Bruce, der linkische Buchhalter? Sie schüttelte den Kopf. So bestrickend die Vorstellung auch war, war sie doch nicht mehr als ein Tagtraum. Und außerdem wollte sie gar keinen Mann. Sie hatte bei ihrer Mutter miterlebt, was die völlige Hingabe an einen Mann aus einer Frau machen konnte. Okay, das hatte alles nichts mit Bruce zu tun, aber sie hatte nicht die Absicht, - 40 -
ihr Leben mit einer romantischen Affäre mit einem zufällig dahergelaufenen Fremden zu verkomplizieren. Entschlossen drehte sie nun dem im Zwielicht ruhig daliegenden See den Rücken und ging zu ihrem Wagen. Als sie den Ort erreichte, war es dunkel geworden. Sie stellte ihren Pick-up auf dem Parkplatz neben dem Eisenwarengeschäft ab und ging den halben Häuserblock bis zum Stardust Cafe zu Fuß. Bethel Corners hatte nur zwei Restaurants zu bieten, und das Stardust Cafe war entschieden das bessere der beiden. Die Tische hatten weiße Tischdecken und Kerzenlicht, und am Wochenende spielte eine kleine Band. Da heute Donnerstag war, kam die Musik nur aus der Musikbox, doch das störte sie nicht. Emma blieb in der geöffneten Tür stehen und winkte Bruce freundlich zu, der, den Ellbogen gefährlich nah neben einem Glas mit Mineralwasser, bereits an einem Tisch saß. Als sie vor ihm stand, strahlte er sie mit diesem gewinnend schüchternen Lächeln an und erhob sich halb von seinem Stuhl, wobei er mit dem Ellbogen gegen das Wasserglas stieß. Geistesgegenwärtig fing er es in letzter Sekunde ab, bevor es umkippen konnte. Sie sah ihn das erstemal ohne seine unvermeidliche Baseballkappe. Während sie sich setzte und die Nase in die Speisekarte steckte, musterte sie ihn verstohlen aus den Augenwinkeln. Sein Haar war blond, weich und glänzend und um ein paar Töne heller als der Stoppelbart. Er trug es ziemlich lang, so daß es sich auf seinem Hemdkragen kringelte. Emma stutzte. Es war nicht nur sein Haar, das ihm etwas Anziehendes verlieh. Sie hatte das erstemal einen ungehinderten Blick auf sein Gesicht - wenn man von dem Bart absah, der seine Kinnpartie weitgehend verdeckte. Lag es nur am Licht, oder sah er wirklich... anziehend aus? Irgendwie wirkte er heute ganz anders, waren seine Wangen gestern nicht viel fülliger gewesen? Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als er sich unter dem Tisch mit einer Plastiktüte zu schaffen machte. „Ich habe Ihnen eine neue Thermoskanne gekauft. Hugh hatte leider nicht genau die gleiche, aber ich denke, die hier tut's auch." Damit hielt er ihr die - 41 -
Tüte hin. Sie warf einen Blick hinein. „Oh, vielen Dank. Das wäre nicht nötig gewesen." Wieder erschien dieses schüchterne Lächeln auf seinem Gesicht, und er setzte sich umständlich auf seinem Stuhl zurecht. „Ich brauchte doch schließlich einen Grund, um Sie zum Essen einzuladen, oder nicht? Sie bekommen wahrscheinlich so viele Einladungen, daß Sie sich gar nicht mehr retten können, stimmt's? Deshalb... freue ich mich um so mehr, daß Sie gekommen sind." Er trug ein weißes Hemd und eine unglaublich scheußliche braune Krawatte, die halb verdeckt wurde vom Aufschlag seiner ausgebeulten beigefarbenen Strickjacke. Fast schien es, als würde er sich absichtlich so verunstalten. Wieder wanderte ihr Blick über sein Gesicht. Nun senkte er den Kopf und kratzte sich verlegen am Ohr. Als die Kellnerin an ihren Tisch kam, lag ihr Blick wieder nachdenklich auf seinem Haar. „Das Essen ist wirklich gut hier, Emma", sagte er und klopfte sich auf den Bauch. „Zu schade, daß ich gestern nichts gefangen habe. Die Kellnerin hat gesagt, daß sie es hier für mich zubereitet hätten." Sein Lächeln war scheu und unbeholfen, dafür aber leuchteten seine ebenmäßigen Zähne in einem strahlenden Weiß. Seine Lippen waren zwar halb verdeckt von dem Bart, aber, soweit sie es erkennen konnte, schön geschwungen. Plötzlich hätte sie brennend gern gewußt, wie er ohne Bart aussah, und mußte den verrückten Wunsch unterdrücken, die Hand auszustrecken, um ihm über das blonde Haar zu fahren. Wie es sich wohl anfühlte? Um schleunigst auf andere Gedanken zu kommen, fragte sie: „Was machen Ihre Fotos? Haben Sie sie schon entwickelt?" „Ja. Auf einigen ist es mir wirklich gut gelungen, diese großartige Landschaft hier einzufangen. Stammt Ihre Familie aus Bethel Corners?" „Nein, ich bin in New York geboren. Ich bin erst vor drei Jahren hierhergezogen." Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte. Er blickte sie nicht an, aber ohne die Kappe konnte sie seine langen Wimpern und die dunklen, kühn geschwungenen Augenbrauen deutlich erkennen. Die Farbe seiner Augen war zwar noch immer - 42 -
irgendwie... unpassend. Warum, wußte sie nicht zu sagen, sie wurde nur das Gefühl nicht los, daß dieses verwaschene Braun einfach nicht zu seinem Gesicht passen wollte... Wie kam sie bloß darauf? „Ich liebe die Einsamkeit draußen am See und die Freiheit, tun und lassen zu können, wonach mir der Sinn steht", fuhr sie fort. „Sie meinen die Fliegerei?" „Verleiten Sie mich nicht wieder dazu, übers Fliegen zu reden." Bruce schlug die Speisekarte auf. Er wollte aber mit ihr übers Fliegen sprechen, weil er dringend ein paar Dinge aus ihr herausholen mußte. Dazu war er schließlich hier. Aber vielleicht genügte es ja auch schon, über irgend etwas Belangloses zu reden, nur damit er ein bißchen von ihrer Erscheinung abgelenkt wurde. In dem Moment, in dem sie das Lokal betreten hatte, war ihm klar geworden, daß seine Objektivität ernsthaft in Gefahr war. Heute trug sie keine Stiefel, keine Jeans und auch keine bequeme alte Jacke, sondern ein blaßgrünes Kleid, dessen enges Oberteil sich an ihre vollen Brüste schmiegte und ihre schlanke Taille betonte. Seine Farbe brachte die kupferfarbenen Lichter in ihrem Haar zum Leuchten und mischte ihren klaren blauen Augen einen Schuß Aquamarin bei. Seine körperliche Reaktion auf ihren Anblick war spontan gewesen und absolut unprofessionell. Er hatte sich umgehend zur Ordnung rufen und daran erinnern müssen, warum er hier war. Sicher, er konnte seinen Verstand zur Vorsicht mahnen, seine Gefühle hatte er aber nicht unter Kontrolle. Sein Körper schien plötzlich irgendwie ein Eigenleben zu führen, über das er keine Macht hatte. Wahrscheinlich war er nur übermüdet. Er hätte nicht die halbe Nacht mit ihrem Foto in der Hand aufbleiben und über das nachgrübeln sollen, was er von Xavier gehört hatte. Er sollte sich besser darauf konzentrieren, das Puzzle dieses Falls zusammenzusetzen, anstatt zu versuchen, diese Frau zu enträtseln. „Okay, also sprechen wir nicht übers Fliegen. Aber über meinen Job will ich auch nicht reden, weil ich nämlich auf Urlaub bin“, stimmte er schließlich, nachdem er sich sicher war, daß er die volle Herrschaft über seine Stimme wiedergewonnen hatte, zu. „Wie wär's mit Büchern?" - 43 -
„O ja, das ist etwas, das wir gemeinsam haben." „Haben Sie die neue Erzählung von Clive Cussler gelesen?" „Meinen Sie die, in der Dirk Pitt die Welt vor dem ökonomischen und ökologischen Kollaps rettet?" „Sie sollten genauer sein. Das hat er bereits in den letzten drei Büchern gemacht." Sie lachte und stützte das Kinn in ihrer Hand auf. „Ich liebe solche Geschichten. Es ist wundervoll, sich auf diese Art aus der Realität herauszumogeln und sich in einer Traumwelt zu verlieren." „Ja. Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen", erwiderte Bruce und versuchte, das Gespräch in eine für seine Zwecke erfolgversprechendere Richtung zu lenken. „Bücher waren für mich immer sehr wichtig, weil ich als Einzelkind aufgewachsen bin. Und Sie? Haben Sie Geschwister?" „Ja. Einen Bruder. Simon ist fünf Jahre jünger als ich." „Es muß sehr schön für Sie gewesen sein, einen Bruder gehabt zu haben, mit dem Sie spielen konnten." „Ich war meinem Bruder wohl mehr eine Mutter als eine Spielgefährtin", gab sie zurück, wobei ihr Gesichtsausdruck ernst geworden war. „Da unsere Eltern nicht mehr da waren, als er noch zu jung war, um auf sich selbst aufzupassen, mußte ich die Verantwortung für ihn übernehmen." Bruce registrierte erleichtert, daß sie bisher die Wahrheit zu sagen schien. Er beschloß, noch ein bißchen weiter zu gehen. „Sehen Sie ihn oft?" „Nein. Als ich, nach Bethel Corners zog, war er noch auf dem College. Jetzt besucht er mich ab und zu, gerade dieser Tage war er wieder mal hier. Er sucht im Moment in der Gegend nordwestlich von hier nach Bodenschätzen." „Nach Bodenschätzen? Buddeln die Leute heute noch immer wie früher mit einem Spaten in der Erde herum?" „Nun, natürlich nicht mehr so wie damals im Wilden Westen, Bruce. Aber es gibt hier in der Gegend eine Menge Geologen und unabhängige Prospektoren, die nach Kupfer und Zink schürfen. Das Kaufen und Verkaufen von Minenanteilen ist ein großes Geschäft in Kanada." - 44 -
„Ich wüßte nicht, wo es in der Gegend von Maine eine Mine geben sollte." „Oh, es gibt zum Beispiel in Hancock County - das ist südlich von hier - sowohl eine alte Kupfer- als auch eine Zinkmine. Und um Quebec herum tut sich in dieser Hinsicht so viel, daß ich glaube, daß Simon eine reale Chance hat, tatsächlich etwas zu finden." „Ist Ihr Bruder Geologe?" „Nun, nicht ganz. Er hatte auf dem College einige Kurse belegt zusammen mit vielem anderen. Er versucht noch immer rauszufinden, was das Richtige für ihn ist." Sie fuhr mit den Fingerspitzen langsam über die Speisekarte. „Ich bin froh., daß Sie mich heute zum Essen eingeladen haben. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, hätte ich mir sonst wahrscheinlich wieder den ganzen Abend Sorgen um Simon gemacht." „Jetzt klingen Sie wie eine Mutter." „Ja, nicht wahr?" Sie hob den Blick und lächelte ihn an. „Vielleicht sollte ich mir mehr Gedanken um mein Flugzeug machen als um meinen Bruder", setzte sie ironisch hinzu. Er war zu abgelenkt von den Grübchen, die sich bei ihrem Lächeln wieder in ihren Wangen gebildet hatten, um den Sinn dessen, was sie gesagt hatte, ganz zu erfassen. „Ihr Flugzeug?" Nun erzählte sie ihm, wie Simon sie bedrängt hatte, ihm ihr Flugzeug zu leihen. Bruce war plötzlich wie elektrisiert. Der Bruder, der laut Xaviers Auskunft als Jugendlicher ein paarmal straffällig geworden war, hatte Zugriff auf Emmas Cessna. War das des Rätsels Lösung? „Aber es ist doch schon dunkel. Fliegt er immer nachts?" „Nein, er übernachtet im Zelt. Er bleibt oft über Nacht." Na also. Seine Menschenkenntnis hatte ihn, was Emma anbetraf, also doch nicht getrogen. Wenn es Simon Duprey war, der diese Nachtflüge unternahm, dann gab es eine reale Chance, daß Emma tatsächlich unschuldig war - trotz ihres recht undurchsichtigen familiären Hintergrunds. Die Bedienung kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Da Bruce sich darüber im klaren gewesen war, daß er mit seinen Wangenpolstern beim Essen Probleme bekommen würde, hatte er - 45 -
heute kurzerhand auf sie verzichtet. Dafür plusterte er jetzt ständig seine Wangen ganz leicht auf, um sie fülliger wirken zu lassen. Ihr Gespräch während des Essens entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Beide versuchten einerseits so ehrlich wie möglich zu sein, und andererseits bemühte sich jeder, sein Geheimnis zu wahren. Natürlich ging Emma nicht so weit, ihm ihren wirklichen Namen und ihre Herkunft zu verraten, ebensowenig wie Bruce davon abwich, der Buchhalter Bruce Prendergast zu sein. Irgendwann wurde ihm klar, daß er an diesem Abend nichts mehr erfahren würde, was für ihn nützlich sein könnte. Es war ihm jedoch egal. Wie lange war es wohl her, daß er einen ganzen Abend in Gesellschaft einer so schönen und anregenden Frau verbracht hatte? Eine Ewigkeit. Was machte es dann schon, daß sich ihr Gespräch, als sie bei der Nachspeise angelangt waren, um den therapeutischen Effekt, den Schokolade haben konnte, drehte? Je später es wurde, desto mehr vertieften sie die Freundschaft, die am Tag vorher bereits ihren Anfang genommen hatte. Genau das hatte er sich erhofft. Jawohl, es ging alles nach Plan... bis auf das ungute Gefühl, das ihn stets dann überkam, wenn Emma ihn anlächelte. Er mußte sich vor ihr in acht nehmen. Immer wieder mußte er sich daran erinnern, daß er sich in einer Ermittlung befand. Der Wunsch, seine Tarnung aufzugeben, der sich immer wieder ungebeten in seine Gedanken einschlich, war komplette Idiotie. Ebenso verrückt wäre es, ihr von dem tragischen Ende seiner Ehe und der anschließenden Besessenheit, mit der er sich in seinen Job geflüchtet hatte, zu erzählen. Er hatte den sehnlichen Wunsch, sich ihr zu öffnen, aber er durfte es nicht. Er versuchte sich an den Gedanken zu klammern, daß die, die hier vor ihm saß, nicht Emma Cassidy war, die mit Pfeil und Bogen auf die Jagd ging und ein Flugzeug flog, sondern Emmaline Duprey. Emmaline Duprey, die wegen Körperverletzung vor Gericht gestanden hatte und über der eine dunkle Wolke eines Verdachts schwebte, die er nicht einfach ignorieren konnte. Auch wenn es die Möglichkeit ihrer Unschuld gab, war es doch nicht mehr als eine Möglichkeit. All seiner persönlichen Gefühle zum Trotz hatte er sie - 46 -
wie eine Tatverdächtige zu behandeln. Verdammt! Als er Emma schließlich zu ihrem Pick-up begleitete, lag die Hauptstraße des Ortes bereits wie ausgestorben da. Die kümmerliche Nachtbeleuchtung des Eisenwarengeschäfts war die einzige Lichtquelle, die den dunklen Parkplatz erhellte. Als ein kühler Nachtwind sie erfaßte und an ihrem Rock zerrte, rieb sich Emma fröstelnd die Arme. Es wäre nur normal gewesen, ihr seine Strickjacke anzubieten oder den Arm um sie zu legen und sie eng an sich zu ziehen, um sie zu wärmen. Doch nichts von alledem kam in Frage. Unter seiner Jacke verbarg sich sein Revolver, und wenn sie mit seinem Körper in Berührung käme, würde sie sofort merken, daß er sich um den Bauch herum ausgepolstert hatte. Also tat Bruce nichts von all dem, was nur normal gewesen wäre, und biß die Zähne zusammen. Emma blieb vor ihrem blauen Pick-up stehen und kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. „Vielen Dank für die Einladung, Bruce. Es war ein sehr schöner Abend." „Es war mir ein Vergnügen, Emma." In seiner gewohnten Haltung, die Schultern gekrümmt, kickte er einen kleinen Stein beiseite. „Auch wenn es vermessen klingen sollte, weil Sie bestimmt voll und ganz ausgelastet sind, wollte ich Sie dennoch fragen, ob Sie nicht noch mal Zeit hätten, mich irgendwohin zu fliegen." Seine Stimme hatte wieder den üblichen schüchternen Tonfall angenommen. „Wenn mir auch das Anglerglück nicht gerade besonders hold war, war das gestern doch ganz entschieden der bisherige Höhepunkt meines Urlaubs." Sie zögerte einen Moment mit der Antwort. „Oh. Ich bin nicht sicher..." „Entschuldigen Sie. Ich habe Ihren Bruder ganz vergessen. Vermutlich ist er länger mit Ihrem Flugzeug unterwegs, stimmt's?" „Nein, er kommt morgen früh zurück. Er wollte so gegen neun wieder hier sein." „Und dann bleibt er ja wahrscheinlich noch ein paar Tage, oder? Da will ich mich keinesfalls dazwischendrängen." „Nein, er bringt seine Kisten mit den Bodenproben zum Prüfbüro, wie er es immer macht. Keine Ahnung, wo das ist, ich glaube - 47 -
irgendwo in der Nähe von Bangor." Sie schaute auf die Schlüssel in ihrer Hand, dann hob sie den Blick wieder und lächelte ihn an. „Rufen Sie mich doch morgen einfach mal an. Dann sage ich Ihnen Bescheid." „Vielen Dank, Emma. Wenn es noch mal klappen würde, wäre es großartig." „Und wenn mein Bruder daran gedacht hat, den Tank vollzumachen, müssen Sie diesmal auch nichts für den Flug bezahlen." Sie nahm jetzt die Tüte mit der Thermoskanne in die linke Hand. „Ich muß jetzt gehen." „Nochmals vielen Dank für den netten Abend. Wenn man allein Urlaub macht, fühlt man sich manchmal ein bißchen einsam." „Ich weiß." „Nun, dann... ich melde mich morgen telefonisch." Sie schwieg für einen Moment, und es wirkte fast, als trüge sie einen inneren Kampf mit sich aus. Ihr Lächeln verblaßte, während sie ihn musterte. Dann streckte sie ihm langsam, fast absichtsvoll, die Hand hin. „Gute Nacht, Bruce." Er starrte auf die feingliedrige Hand, die sie ihm darbot. Es war zu erwarten gewesen. Wie sonst hätten sie sich wohl verabschieden sollen? Den Bruchteil einer Sekunde erwog er, ihre Hand zu übersehen seit dem Händedruck, den sie am ersten Tag ihrer Bekanntschaft zum Abschied miteinander ausgetauscht hatten, war er vorsichtig geworden. Er durfte nichts riskieren. Vielleicht sollte er einfach stolpern oder so tun, als sei ihm etwas ins Auge geflogen. Ganz egal, irgend etwas, nur um jenen Körperkontakt mit ihr zu vermeiden, der auf ihn so verheerende Auswirkungen hatte. Doch er tat nichts von alledem. Bis jetzt hatte er all seine persönlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte unterdrückt, um seine Arbeit nicht zu gefährden. War es wirklich so verwerflich, wenn er jetzt, nur einen kurzen Augenblick lang, endlich einmal etwas für sich selbst wollte? Dieser Impuls war rücksichtslos und möglicherweise gefährlich, aber er sah sich außerstande, den Gang der Dinge aufzuhalten. Es mochte wohl sein, daß Bruce Prendergast sie den ganzen Abend über angelächelt hatte, aber jetzt war es Bruce Prentice, der die Hand ausstreckte, um die ihre zu ergreifen. - 48 -
Emma war es, als hätte sie einen Stromschlag erhalten, der nun durch ihren Körper raste. Das Kribbeln, das sie beim erstenmal verspürt hatte, war wieder da, nur viel heftiger diesmal, so daß sie sich sicher sein konnte, daß sie sich nicht irrte. Sie spürte, wie sie von seiner starken männlichen Ausstrahlung wie von einer Woge überrollt wurde. Während des ganzen Abends schon hatte sie sich nicht sattsehen können an der Art, wie er seinen Kopf gelegentlich während des Gesprächs schräg legte, um sie anzusehen. Als er jetzt seine andere Hand hob und ihr mit der Daumenspitze behutsam die Kinnpartie entlangstrich, erschauerte sie unter seiner Berührung. Sein weiches blondes Haar schimmerte im Lichtschein. Plötzlich sah sie ihn wie in Nahaufnahme vor sich. Sein Gesicht war nicht länger rundlich und aufgedunsen, sondern hatte feste Konturen, und über den hohen Wangenknochen spannte sich die Haut. Er hatte sich verwandelt, hatte wie ein guter Schauspieler seine alte Rolle fallengelassen und war in eine neue geschlüpft. Ihr Puls raste. Mein Gott, dachte sie. Er ist mehr als nur gutaussehend, er ist schlicht und ergreifend umwerfend. Warum versuchte er das zu verbergen? Er sah sie an - endlich einmal sah er sie wirklich an, nachdem er tagelang ihrem Blick auszuweichen versucht hatte. Und der Ausdruck, der in seinen Augen lag, verzauberte sie. Er enthielt eine ganze Bandbreite von Gefühlen, angefangen von Verletzlichkeit über Begehren bis hin zu Bedauern. Er umfaßte ihre Hand fester. Seine Finger waren lang und schlank. Seine Stärke faszinierte sie, sie fühlte sich darin eingehüllt wie in einen schützenden Mantel. Sie stand nah genug bei ihm, um die Hitze zu spüren, die sein Körper ausstrahlte, und den schwachen Geruch nach Seife, dem ein männlicher Duft beigemischt war, der ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Seine Fingerspitzen auf ihrer Haut waren sacht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. „Ah, Emma", murmelte er heiser. Auch seine Stimme hatte sich verändert, sie klang tiefer, und der näselnde Tonfall war ganz daraus verschwunden. „Sie wissen ja gar nicht, was Sie mit mir anstellen." Die Nerven unter ihrer Haut, in höchste Alarmbereitschaft versetzt durch seine Fingerspitzen, begann an den Stellen, die er berührt - 49 -
hatte, zu prickeln und sandten Signale durch ihren Körper bis hinunter in ihre Zehenspitzen. Noch niemals hatte sie einem Mann gegenüber etwas Vergleichbares empfunden. Sie bemühte sich nicht herauszufinden, was es war, weil sie sehr gut wußte, daß sich Gefühle gegen eine verstandesmäßige Erklärung sperren. Es war mehr, viel mehr als sein Aussehen, mehr als seine freundliche, gewinnende Art. Das, was sie so an ihm faszinierte, war eben jenes gewisse Etwas, dessen Vorhandensein sie von Anfang an gespürt hatte. Warmer Atem streichelte ihre Haut, als sie sich leicht vorbeugte; sein Gesicht war plötzlich nur noch ein verschwommener Fleck. Sie schloß die Augen und schmiegte ihre Wange in seine Hand. „Schönen guten Abend, Miss Cassidy." Sie fuhr zusammen und riß die Augen wieder auf. Nate Haskin, der Sheriff von Bethel Corners, stand an der Ecke neben dem Eingang des Eisenwarengeschäfts. Bruce ließ sofort ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. Emma blinzelte ein paarmal kurz hintereinander und holte tief Luft. Der Zauber war verflogen, der Augenblick der Nähe zerstört. Sheriff Haskin trat näher. „Alles in Ordnung bei Ihnen?" „Ja danke, mir geht’s gut", gab sie zurück. Ihre Stimme hatte ihre gewohnte Festigkeit noch nicht wiedergewonnen, und ihr Körper bebte unter den Nachwirkungen des Ansturms der Gefühle. „Sie haben sich ja schon lange nicht mehr hier blicken. lassen, Miss Cassidy." Sie straffte die Schultern. Haskin war ein Cop. Als sie Bruce anblickte, sah sie, daß er wieder der Buchhalter geworden war. Er wich ihrem Blick aus. „Haben Sie Ihren Bruder kürzlich gesehen, Miss Cassidy?" fragte Haskin. „Kürzlich nicht." „Wissen Sie, wann Sie ihn wieder sehen?" „Nein", log sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Würden Sie so freundlich sein, ihm auszurichten, daß ich ihn sprechen will?" „Selbstverständlich." - 50 -
Er warf ihr noch einen raschen Blick zu, verabschiedete sich dann knapp und stolzierte davon. Stolzieren war noch ein freundlicher Ausdruck, um seinen Gang zu beschreiben. Haskin mit seinen eng zusammenstehenden grauen Augen und den wulstigen Lippen, die er ständig ohne besonderen Anlaß zu einem süffisanten Grinsen verzog, erinnerte Emma immer an einen Halbstarken, der auf der Suche nach Streit war. Hugh hatte sie gleich zu Anfang vor Haskin gewarnt; und sie ging ihm deshalb nach Möglichkeit aus dem Weg. Bruce wartete, bis die harten Schritte des Sheriffs in der Ferne verklungen waren, dann schob er beide Hände in die Taschen und drehte sich zu ihr um. „Warum haben Sie ihn belogen?" Wo war der Mann, der eben noch ihren Pulsschlag in schwindelnde Höhen getrieben hatte? War das derselbe Mensch, der noch vor ein paar Minuten so zärtlich ihre Wange gestreichelt hatte? Nun lag seine Stirn in Falten, und er hatte die kühn geschwungenen, dunklen Augenbrauen mißbilligend zusammengezogen. Emma verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen Schritt näher zu ihrem Wagen. „Eine reine Reflexhandlung, nichts weiter", gab sie zurück. „Eine alte Angewohnheit von mir." Er schüttelte verständnislos den Kopf, dann seufzte er und rieb sich die Augen. Als er seine Hand wieder fallen ließ, war er fast wieder der alte. Die Schultern gekrümmt, mit eingezogenem Kopf zu Boden starrend, stand er vor ihr. Fast, aber nicht ganz. Er hob den Blick. „Scheint so, als würden Sie den Sheriff nicht besonders mögen." Sie hatte keine Lust, darüber zu reden. Sie war noch immer erschüttert über die Reaktion, die seine Berührung in ihr ausgelöst hatte, doch nun war die Stimmung verflogen, und sie wollte nur noch nach Hause. Sie schloß ihre Wagentür auf und kletterte hinters Steuer. „Nein, nicht besonders", gab sie schließlich zurück. Bruce senkte den Kopf, so daß sein Gesicht ganz im Schatten lag. „Warum nicht?" „Weil ich Cops schon immer gehaßt habe." Das war für Bruce wie eine Ohrfeige. Lange, nachdem sie - 51 -
weggefahren war, stand er noch immer wie festgenagelt und starrte Ihren Rücklichtern nach, die die Dunkelheit längst verschluckt hatte. Idiot! Er hätte um ein Haar alles aufs Spiel gesetzt und wofür? Nur um ihre Hand zu halten und sich im Glanz ihres Lächelns zu sonnen? Nein, es war mehr als das. Er wollte nicht nur ihre Hand halten und sie lächeln sehen. Er wollte sie an sich ziehen, sie küssen, bis sie vor Lust laut aufstöhnte. Was, zum Teufel, war bloß in ihn gefahren? Sie wirkte zwar empfindsam und unschuldig, und doch hatte sie dem Sheriff ohne mit der Wimper zu zucken direkt ins Gesicht gelogen. Weil ich Cops schon immer gehaßt habe. Und er war auch ein Cop. Mit Leib und Seele. Sein Beruf war sein Leben. Er hatte die Anziehungskraft zwischen ihnen deutlich gespürt, und auch ihr atemloser Seufzer, als er ihre Wange gestreichelt hatte, war ihm nicht entgangen. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr enthüllte, wer er in Wirklichkeit war? Was würde sie sagen, wenn sie wüßte, daß er nur geplant hatte, sie zu benutzen? Bruce wirbelte herum und trommelte hilflos mit den Fäusten gegen die Backsteinwand. Wäre er doch bloß nie ins Zweifeln gekommen. Das Leben war um so vieles einfacher, wenn man den Blick immer nur stur geradeaus richtete, wenn man genau wußte, was richtig und was falsch war. Er wollte, daß dies alles endlich vorbei war. Soweit es Emma Cassidy Duprey betraf, war seine Objektivität nicht nur in Gefahr, sondern ganz und gar beim Teufel.
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4. KAPITEL Emma lief unruhig auf dem Anleger hin und her und hob mindestens zum achtenmal in der vergangenen Stunde das Fernglas. Hinter ihren Augen pochte ein dumpfer Schmerz, der wahrscheinlich daher rührte, daß sie die Nacht fast schlaflos verbracht hatte. Jedesmal, wenn sie aus dem Halbschlaf hochgefahren war, hatte sie Bruce Gesicht vor sich gesehen. Aber es war gar nicht sein Gesicht gewesen. Und dann hatte sie seine Stimme gehört, doch sie klang viel tiefer und voller als die, an die sie sich erinnerte. Sich schlaflos von einer Seite auf die andere wälzend, hatte sie die Berührung seiner Hand gespürt, wobei ihr so heiß geworden war, daß sie die Bettdecke von sich geworfen hatte. Wenig später war sie vor Kälte bibbernd wieder aufgewacht. Sie wurde nicht schlau aus Bruce. Er schien wirklich ein seltsamer Mensch zu sein. Was war nur los mit ihm? Warum versteckte er sein gutes Aussehen hinter einem so unmöglichen Aufzug? Kam es von seiner Schüchternheit? Wußte er gar nicht, wie attraktiv er im Grunde genommen war? Oder sah sie ihn einfach nur mit verklärten Augen? Frustriert ließ Emma das Fernglas sinken. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Bruce war und blieb ihr ein Rätsel. Was wäre passiert, wenn Sheriff Haskin nicht dazwischen gekommen wäre? Aber er war. Und er hatte nach Simon gefragt. Was wollte er von ihm? Worin war Simon jetzt schon wieder verwickelt? „Das muß ich alles nicht haben", murmelte sie ungehalten laut vor sich hin. „Nein, das muß ich wirklich nicht haben." Schon zehn Uhr dreißig. Eigentlich hatte Simon beabsichtigt, gegen neun zurück zu sein. Wieder hob sie das Fernglas an die Augen: Da sah sie im Nordwesten am Horizont den dunklen Punkt. Nun, es wurde auch langsam Zeit. Wenig später landete die Cessna und rollte im See aus. Als sie unsanft mit dem Anleger kollidierte, zuckte Emma zusammen. Simon drosselte den Motor, öffnete die Cockpithaube und warf ihr die Leine zu. - 53 -
Grinsend winkte er ihr zu und kletterte dann aus der Maschine. Er hatte vom Vater sowohl dessen leichtfertigen Charme geerbt als auch die klaren Gesichtszüge. Das braune Haar trug er modisch nach hinten gekämmt. „Gut, daß du da bist, Emma. Ich bin spät dran, weil ich bösen Gegenwind hatte. Sei ein Schatz und hilf mir die Kisten ausladen, ja?" „Hast du getankt?" „Dazu war leider keine Zeit mehr." Er gab ihr einen kleinen Schubs. „Mach vorwärts, ich muß in weniger als einer Stunde im Prüfbüro sein." Und schon hatte er ihr den Rücken gekehrt und rannte auf den Schuppen zu, in dem er seinen Wagen abgestellt hatte. „Simon!" rief sie hinter ihm her und straffte die Schultern. „Simon, du hast es mir versprochen." Ohne zu antworten stieg er ein, ließ den Motor an und fuhr in viel zu hoher Geschwindigkeit rückwärts ganz nah an den Anleger heran. Dann sprang er hinaus und öffnete die Heckklappe. „Nächstes Mal, Emma. Ganz ehrlich. Versprochen. Heute bin ich wirklich in Eile. Ich muß auf der Stelle dieses Zeug hier loswerden." Nun, was hatte sie eigentlich erwartet? Hatte sie wirklich ernstlich geglaubt, daß er diesmal Wort halten würde? Sie preßte die Kiefer aufeinander und kletterte auf den Ponton. Als sie den langen Kratzer entdeckte, den die Maschine bei dem hastigen Anlegemanöver abbekommen hatte, nahm ihr Gesicht einen verärgerten Ausdruck an. „Ach, ist doch nur ein kleiner Kratzer." Damit schien die Sache für Simon abgehakt. Er beugte sich ins Cockpit hinunter und zerrte eine Holzkiste heraus. „Kannst du sie mir mal abnehmen und in den Kofferraum laden?" Nur ein kleiner Kratzer? Für sie nicht. Die Cessna war wie ein Teil von ihr selbst. Sie hegte und pflegte sie so liebevoll wie ein Jockey sein Reitpferd. Dieses Flugzeug bedeutete für sie Freiheit, es war ihre einzige Fluchtmöglichkeit gewesen in jener Zeit, in der sie entdecken mußte, daß die Welt manchmal kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort ist. Und wenn sie sich dann, leicht wie ein Vogel, in die Lüfte schwang, war es ihr, als fielen Ihr die Zentnergewichte von der Seele, und sie fühlte sich wie befreit. „Das war wirklich das allerletzte Mal, daß ich dir die Maschine - 54 -
geliehen habe, Simon." Mit einem dumpfen Krach landete die nächste Holzkiste auf dem Anleger. Simon stieß sie zur Seite, um für eine weitere Platz zu schaffen. „Hör zu, Emma, es tut mir ja leid, aber ich bin im Moment wirklich ziemlich im Streß. Diese Schürferei ist kein Zuckersschlecken. Ich dachte, du willst, daß, ich endlich Erfolg habe." Schon wieder versuchte er, sie zu manipulieren. Gott, warum fiel es ihr bloß so schwer, ihm Paroli zu. bieten? "Natürlich will ich, daß du Erfolg hast. Und ich finde es wirklich toll von dir, daß du dich da so reinhängst. Aber du mußt auch endlich mal lernen...." Sie brach ab und schnappte nach Luft. Rasch bückte sie sich, um entsetzt die unübersehbare häßliche Beule am Anleger in Augenschein zu nehmen. Das Metall war an einer Stelle tief eindellt, zwei Nieten waren aus dem Blech herausgerissen, und ein langer rostroter Kratzer zog sich an dieser Seite über die gesamte Oberfläche. „Wie, zum Teufel, hast du denn das angestellt?" fragte sie, und ihre Stimme klang gefährlich leise. Simon warf einen flüchtigen Blick auf den Schaden und hievte dann eilig eine Kiste hoch, um sie zum Wagen zu schleppen. „Ach das", sagte er beiläufig. „Ja, tut mir wirklich leid, Emma, aber bei der Landung war der See ziemlich unruhig, da muß mir wohl irgendwie die Kette dagegen geschlagen sein." „Das war's dann." Emmas Tonfall klang finster entschlossen. „Das war wirklich das allerletzte Mal." Ohne etwas darauf zu erwidern, verstaute er den Rest seiner Kisten. Nachdem er fertig war, kam er zurück und ergriff verzeihungheischend ihre Hände, wobei er seinen treuherzigsten Hundeblick aufsetzte. „Verzeih mir noch ein einziges Mal, Schwesterherz. Du hast wirklich verdammt viele Scherereien mit mir, und ich habe mich noch nicht mal bedankt bei dir." Er beugte sich vor in der Absicht, sie auf die Wange zu küssen. . Mit einem Ruck entzog sie ihm ihre Hände. „Nein, Simon. Die Cessna ist für dich ab sofort tabu. Und zwar für immer." „Ah, das kann doch nicht dein Ernst sein. Ich bring das wieder in - 55 -
Ordnung und..." „Nein." Ihr Blick glitt über die Delle. Ihr Zorn verlieh ihr nun endlich die Standhaftigkeit, an der es ihr bisher gemangelt hatte. „Mir reicht's. Zehn Jahre lang hab ich dich umsorgt wie eine Glucke, aber jetzt ist es genug. Ich habe mein Soll erfüllt." Langsam schien ihm zu dämmern, daß es ihr diesmal wirklich ernst war. Das charmante Lächeln, mit dem er sie wie üblich hatte einwickeln wollen, erlosch und machte einem besorgten Ausdruck Platz. „Emma, ich habe mich entschuldigt. Und ich verspreche dir hoch und heilig, daß ich den Schaden reparieren lasse. Was willst du noch mehr? Versteh doch, ich brauche die Cessna diese Woche unbedingt noch mal, weil ich ein paar Verpflichtungen habe, die ich unter allen Umständen einhalten muß " Sie schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. „Besorg dir eine andere Maschine. Ich habe es satt, mich von dir ausnutzen zu lassen." „Du weißt ja gar nicht mehr, was du da sagst. Ich muß nur noch eine Tour fliegen, das ist alles." „Eine Tour?" „Emma." Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. In seinen Augen stand plötzlich die nackte Angst. „Hör mir zu. Wenn ich sage, daß ich Verpflichtungen habe, dann meine ich es auch so. Es handelt sich um eine Sache, die ich nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen kann. Für mich geht es dabei um Leben oder Tod." „So ein Quatsch." „Ich stecke bis zum Hals in Schulden, Emma", gestand er ihr verzweifelt. „Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich muß diese Sache zu Ende bringen, sonst bringen sie mich um." „Was?" „Ich hatte eine verdammte Pechsträhne beim Pokern. Alles fing ganz harmlos an - ein, zwei Spielchen, hab ich gedacht. Nur so zum Spaß. Und zuerst hatte ich auch tatsächlich Glück, aber natürlich war mir nicht klar, mit was für Leuten ich mich da eingelassen hatte. Oh, Emma, du mußt mir einfach helfen. Ohne dich bin ich aufgeschmissen. Ich bin fix und fertig. Laß mich wenigstens noch diese eine Tour fliegen, damit ich diese verdammten Schulden abbezahlen kann." - 56 -
Emma fühlte plötzlich eine Eiseskälte in sich aufsteigen - eine Eiseskälte, die ihr sehr vertraut war. Hatten sie das nicht schon mehr als einmal durchexerziert? Ging wieder alles von vorn los? Und sie hatte geglaubt, er wäre endlich zur Besinnung gekommen. „Du schürfst gar nicht nach Kupfer. Das war alles gelogen." „Ich hätte wirklich gern, daß du stolz sein kannst auf mich, Emma. Ich habe versucht..." „Wo bist du diesmal wieder reingeraten, Simon? Sag mir die Wahrheit", befahl sie. „Die Leute, denen ich Geld schulde, brauchen jemanden, der ihnen ein paar Sachen unauffällig über die, Grenze ins Land bringt. Deshalb bin ich nachts nach St. Lawrence geflogen und... " Sie packte seinen Arm und schüttelte ihn. „Ein paar Sachen? Simon! Bist du wahnsinnig? Weißt du eigentlich“ was du da tust?" „Ich habe das Zeug nicht angefaßt. Ich bringe die Kisten lediglich zu der Lagerhalle und..." „Simon!" Er holte zitternd tief Luft und ließ den Kopf hängen. „Es ist Kokain, Emma", gestand er schließlich fast flüsternd. So überraschend wie sie ihn gepackt hatte, ließ sie ihn nun wieder los, trat einen Schritt zurück und sah ihn abscheuerfüllt an. „Mit meinem Flugzeug? Du benutzt mein Flugzeug und meinen Anleger und mein Grundstück, um dieses... dieses Dreckszeug, ins Land zu bringen?" Ihr drehte sich fast der Magen um. „Nein. Großer Gott, das darf doch nicht wahr sein." Sie wandte den Kopf, um einen Blick in den offenen Kofferraum zu werfen, dann rannte sie zu dem Wagen, zerrte die zuvorderst stehende, zugenagelte Holzkiste heraus und riß mit der Kraft der Verzweiflung an dem Deckel. Sie konnte es nicht glauben. Sie mußte es mit eigenen Augen sehen. Hier und jetzt. Einen Moment später gab der Deckel nach und sprang auf. Wie von Sinnen grub sie zwischen zerknülltem Zeitungspapier und Schaumstoffkügelchen, bis sie schließlich fündig wurde. Da. war es. Ihre Finger tasteten etwas Langes, Glattes, und wenig später brachte sie ein Paket, das etwa die Länge ihres Unterarms hatte und in braunes Packpapier gewickelt war, zum Vorschein. Nachdem sie in fliegender Hast die Umhüllung - 57 -
abgerissen hatte, stieß sie auf die weiße, in eine Plastikfolie eingeschweißte, puderige Substanz. „Nein" stieß sie nochmals verzweifelt hervor, geradeso, als ob sie dieses Wort nur oft genug wiederholen müsse, um damit das, was sie sah, ungeschehen zu machen. Er hatte sie doch immer belogen. Warum nur hatte er ausgerechnet diesmal die Wahrheit gesagt? Die Raufereien, in die er als Kind und Jugendlicher verwickelt war, die Zerstörungswut, die er an den Tag gelegt hatte, die Spritztouren mit gestohlenen Autos, die Ladendiebstähle, über all das hatte sie aus Liebe zu ihm hinwegsehen können. Aber das? Wie sollte sie ihm das jemals verzeihen? „Emma", schrie Simon und rannte zu ihr. „Was, um Himmels willen, hast du vor?" Wortlos preßte sie die Kiefer aufeinander, hob die Holzkiste hoch und schleppte sie zum Ende des Anlegers. „Oh, mein Gott!" brüllte Simon, kam hinter ihr her und fiel ihr in den Arm, bevor sie die Kiste ins Wasser werfen konnte. „Emma, um Himmels willen! Tu das nicht! Sie bringen mich um. Emma, bitte!" Noch nie in ihrem Leben war sie so wütend gewesen. Der Zorn vernebelte ihr den Verstand. „Drogen! Nachdem sich deine Mutter mit Drogen umgebracht hat! Nachdem ich auch noch den letzten Rest meines guten Rufs ruiniert habe, nur um dir eine Chance zu geben! Nachdem ich mich hierher geflüchtet habe, um endlich meinen Seelenfrieden wiederzufinden, schleppst du mir dieses Dreckszeug hier an!" „Hilf mir, Emma. Bitte, bitte, hilf mir. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, um da wieder rauszukommen. Siehst du denn nicht, daß sie mir gar keine Wahl lassen? Ich muß tun, was sie von mir verlangen, sonst bringen sie mich um." Er machte Anstalten, ihr die Kiste zu entreißen. „Ich stecke schon zu tief drin, als daß ich einen Rückzieher machen könnte." „Du mußt sofort aufhören damit. Das einzige, was du tun kannst, ist Anzeige zu erstatten." „Du verlangst von mir, daß ich zur Polizei gehe? Bist du verrückt? Ich soll ins Gefängnis? Weißt du eigentlich, was du da sagst? Hast du schon vergessen, was mit unserem Vater während seiner Haft - 58 -
passiert ist? Daß er ein gebrochener Mann war, als er schließlich entlassen wurde? Er war fertig mit dem Leben, und mir würde es nicht anders ergehen." Angesichts der schmerzhaften Erinnerungen, die seine Worte heraufbeschworen, lockerte sich ihr Griff, und es gelang ihm, die Kiste in seinen Besitz zu bringen. Er trug sie eilends zum Wagen zurück, stellte sie neben die anderen und knallte den Kofferraumdeckel zu. Dann sprang er ins Auto und startete. Das Motorengeräusch brachte Emma in die Wirklichkeit zurück. Mit ein paar langen Schritten war sie bei ihm und umklammerte mit beiden Händen durch das geöffnete Fenster hindurch die Fahrertür. „Nein, Simon. Du mußt ihnen sagen, daß es das letzte Mal war." Er holte zitternd tief Luft. In seinen Augen glitzerten Tränen. „Ich habe so schreckliche Angst, Emma. Und ich schäme mich. Kannst du mir nicht noch einmal verzeihen?" Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich an wie zugeschnürt. „Emma. Bitte." Er rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen, genau so wie er, es als Kind immer gemacht hatte. „Ich flehe dich an. Schick mich nicht ins Gefängnis. Ich würde es nicht überleben. Bitte, stürz nicht deinen eigenen Bruder ins Unglück." Was sollte sie tun? Großer Gott, was sollte sie bloß tun? Er war ihr Bruder, das Kind, das sie umsorgt und verhätschelt hatte. Die Leute, für die er arbeitete, würden ihn umbringen, wenn er den Stoff nicht rechtzeitig ablieferte, daran gab es keinen Zweifel. Selbst wenn er zur Polizei gehen und sich selbst anzeigen würde, gäbe es keine Gewähr dafür, daß ihn die Gangster nicht doch noch zu fassen bekämen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Und wenn sie ihn nicht umbrachten, würde ihm das Gefängnis den Rest geben. So wie ihrem Vater. Sie mußte sich entscheiden, entscheiden zwischen Recht und Gesetz und ihrem Bruder. Recht und Gesetz. Seit wann fühlte sie sich Recht und Gesetz verpflichtet? Aber wie konnte sie ihn nur davon überzeugen, daß er auf der Stelle aus dieser Sache aussteigen mußte? Simons Kinn zitterte. „Ich schulde ihnen eine Menge Geld, Emma." - 59 -
„Und ich habe eine Menge. Ich hol dich da raus. Wie immer. Ich bezahle deine Schulden, aber nur unter der Voraussetzung, daß du augenblicklich Schluß machst." „Aber wie..." „Du hörst damit auf", unterbrach sie ihn unnachgiebig. „Du sagst es ihnen, und dann rufst du mich an. Ich werde dafür sorgen, daß sie ihr Geld bekommen." Er legte seine Hand auf ihre und drückte sie. „Ich liebe dich, Schwesterherz." Im Moment konnte sie es nicht ertragen, daß er sie anfaßte. Eilig entzog sie ihm ihre Hand und wich zurück. „Los, verschwinde jetzt von meinem Grundstück, geh mir aus den Augen, bevor ich meine Meinung wieder ändere." Simon war sich darüber im klaren, daß bei ihr die Geduldsgrenze erreicht war. Ohne ein weiteres Wort machte er, daß er wegkam. Mit vor Hilflosigkeit zu Fäusten geballten Händen blickte sie dem Wagen nach, bis er mit seiner obszönen Fracht hinter der Hügelkuppe verschwunden war. Nun gut, sie würde auch diesmal wieder für Simon einstehen und seine Schulden bezahlen. Was blieb ihr auch anderes übrig? Danach allerdings würde sie die Drogendealer auffliegen lassen. Ja, sie würde zur Polizei gehen und zwar nicht etwa deshalb, weil sie sich dem Gesetz in besonderer Weise verpflichtet fühlte, sondern weil ihr das Wohl der Opfer am Herzen lag. Wie betäubt ging sie den Steg hinunter zu ihrem Flugzeug und kniete sich nieder, um den Schaden näher in Augenschein zu nehmen. Die häßliche Delle zu sehen tat ihr in der Seele weh. Nun war die Maschine beschädigt, sie trug einen Makel und würde nie mehr dieselbe sein wie einst. Ebensowenig wie auch der See und die Blockhütte für sie nie mehr dieselben sein würden. Und sie war der Meinung gewesen, zumindest ein gewisses Maß an Frieden und Geborgenheit erreicht zu haben. Es war allein ihre Schuld. Sie hatte Simon zu dem gemacht, was er heute war. Wann hatte es begonnen, falsch zu laufen? Was hätte sie anders, besser machen können? Das Wasser klatschte gegen die Planken. Hoch über ihr kreischte - 60 -
eine Möwe, und ein Eichhörnchen flitzte, den buschigen Schwanz hoch erhoben, in den Wald. Mit einemmal erwachte ihre ganze schreckliche Vergangenheit zu neuem Leben. Sie nahm die Hand von dem Flugzeug, kauerte sich auf den Boden und zog die Knie eng an die Brust. Plötzlich war ihr danach zumute, laut loszuschreien. „Emma?" Die Stimme klang weich und tief, fast zärtlich. „Bruce." Sie drehte sich um. Sein ihr mittlerweile schon vertrauter leicht schlurfender Gang verursachte ein schabendes Geräusch auf den Holzbohlen. Mit hängenden Schultern, auf dem Kopf die unvermeidliche Baseballkappe, die Hände in den Taschen des ausgebeulten Jacketts, kam er langsam auf sie zu. „Stimmt irgendwas nicht?" Stimmte irgendwas nicht? Sie hatte alle Mühe, das hysterische Lachen, mit dem sich ihre Verzweiflung Luft schaffen wollte, zu unterdrücken. Schnell schüttelte sie den Kopf. Was wollte er hier? Nach dem Brocken, den ihr Simon eben zu schlucken gegeben hatte, fühlte sie sich außerstande, sich nun auch noch mit dem Puzzle, das Bruce für sie darstellte, zu beschäftigen. Als er bei ihr angelangt war, blieb er stehen. „Tut mir leid, daß ich so einfach hier bei Ihnen hereinplatze, aber ich habe angerufen, und da sich niemand gemeldet hat, dachte ich..." Er unterbrach sich. „Aber Sie weinen ja." Rasch wandte sie sich von ihm ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Emma? Was ist denn los?" Sie schüttelte nur den Kopf, schlang die Arme um ihre Beine und legte ihr Gesicht auf die Knie. Niemand hatte sie jemals weinen sehen, was immer auch geschehen sein mochte. „Sie kommen etwas ungelegen, Bruce", brachte sie schließlich heraus. „Ich..." Sie schluckte hart. „Ich werde Sie später anrufen." Doch anstatt zu gehen, hockte er sich neben ihr nieder. „Ach, hol's der Kuckuck. Das tut mir aber leid. Gibt es etwas, das ich für Sie tun könnte? Nicht, daß es gerade meine Stärke wäre, Dinge ins rechte Lot zu bringen, aber... was ist denn mit Ihrem Flugzeug passiert?" Ein neuer Tränenstrom benetzte den Stoff, der ihre Knie bedeckte. „Es hat eine Delle. " - 61 -
Der Anleger schwankte, als er sich jetzt richtig neben sie hinsetzte. „Kein Wunder, daß Sie völlig fertig sind. Aber man kann sie doch wieder reparieren, oder?" Ja, natürlich, das konnte man. Sie würde jedoch nie mehr dieselbe sein. „Emma?" Bevor sie es verhindern konnte, entschlüpfte ihr ein verzweifelter Seufzer. Sie mußte aufpassen, daß ihr Bruce Freundlichkeit nicht noch den letzten Rest von Selbstkontrolle raubte. Er rückte näher zu ihr heran, und als er die Hand hob und sie ganz leicht, fast schwebend, auf ihren Rücken legte, spürte sie die Wärme, die von ihm ausging. „Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist? Sein Angebot, ihre schwere Bürde mit ihm zu teilen, war eine Versuchung. Zu lange Zeit hatte sie niemanden gehabt, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie hatte ihre Entscheidungen stets allein treffen müssen. Nun legte er den Arm um sie und hielt sie fest, seine langen schlanken Finger lagen auf ihrer Schulter. Noch immer saß sie wie ein Häuflein Elend da und bewegte sich nicht. Nur der Griff, mit dem sie ihre Knie umklammert hielt, verstärkte sich, und die Muskeln in ihrem Rücken verkrampften sich. Wie sehr wünschte sie sich doch plötzlich jemanden, dem sie sich anvertrauen könnte. „Vielleicht sollten Sie sich das, was Sie quält, einfach von der Seele reden." „Ich kann nicht", flüsterte sie, Er schwieg einen Moment. „Ist es wegen Ihres Bruders? Hat er Ihr Flugzeug ruiniert?" Sie antwortete nicht. „Ich glaube, er ist mir vorhin entgegen gekommen. Er ist gerast wie ein Irrer. Hatten Sie Streit?" Streit? Ach, wenn es doch so einfach wäre. Sie schwieg, hartnäckig, und er seufzte. „Okay, Sie müssen mir ja nicht antworten, wenn Sie nicht wollen. Aber wenn Ihnen nach weinen zumute ist, dann weinen Sie ruhig. Ich verspreche Ihnen, nicht hinzuschauen." - 62 -
Das war zuviel. Hilflos mußte Emma miterleben, wie die Tränen in ihr hochstiegen und ihr gleich darauf wie Sturzbäche aus den Augen rannen. Mit einem dumpfen Aufstöhnen warf sie sich an seine Brust und barg ihr Gesicht an seinem Hals. „Sschch. Es wird alles wieder gut, Emma." Er beschrieb auf ihrem Rücken mit seiner Hand kleine Kreise. Nein, nichts würde wieder gut werden, aber zumindest konnte sie es sich nun, eingehüllt von seiner sanften Stärke, einen Moment lang einreden. Sie rieb ihre Wange an dem rauhen Stoff seines Jacketts. Sein Bart kitzelte ihre Stirn, und sie schmiegte sich noch enger an ihn, wobei ihre Nase seinen Hals berührte. Großer Gott, er roch wirklich gut. Er strömte denselben Duft nach frischer Seife aus, der vermischt war mit einem erregenden Schuß Männlichkeit, wie am Abend zuvor. Bebend sog sie den Geruch tief in sich ein, während ihre Tränen in seinen Hemdkragen tropften. Er strich ihr übers Haar. „Emma?" Sie wollte sich nicht bewegen. Statt einer Antwort streifte sie mit ihren Lippen ganz leicht seinen Hals. „Emma, Sie sind ja ganz aufgelöst. Sie wissen nicht mehr, was Sie tun. " Nein, er irrte sich. Sie wußte genau, was sie tat. Sie küßte wieder seinen Hals und ließ dann ihre Lippen zu der Stelle, wo seine Schlagader pochte, wandern. Der Geschmack seiner Haut war ebenso einzigartig wie ihr Duft. Und sie wollte mehr davon kosten, weil sie nicht mehr weinen wollte. Er schob ihren Kopf beiseite. „Das geht nicht", sagte er heiser. Es war Bruce Stimme, und doch war sie es auch nicht. Emma öffnete die Augen und sah zu ihm auf. Wo war der Mann mit der scheußlichen Krawatte, der sie gestern abend so zum Lachen gebracht hatte, und der seinen Schokoladenkuchen mit ihr geteilt hatte? Wo war der Fremde, der es vermochte, ihr mit einem leichten Händedruck einen Schauer den Rücken hinunterzujagen? Sie starrte auf die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille und die Baseballkappe wie auf eine Wand, die ihren Blicken das entzog, was sie zu sehen begehrte. Plötzlich ungeduldig geworden hob sie die Hand und riß ihm die Baseballkappe vom Kopf. - 63 -
Er zuckte zusammen. Sein Haar glänzte im Sonnenschein, eine Strähne fiel ihm locker in die Stirn. „Was machen Sie denn da?". Die Sonnenbrille mußte auch noch weg. Ohne weitere Überlegung griff sie kurzerhand danach und ließ sie zusammen mit der Baseballkappe neben sich auf die Bohlen fallen. Nun störte sie nur noch der Bart, doch dagegen ließ sich nichts unternehmen. Immerhin, ein Stück wenigstens war sie vorangekommen. Ihr Trostbedürfnis war vollkommen unerwartet umgekippt und hatte sich in etwas anderes verwandelt. In Begehren. Ja, sie begehrte ihn. Sie begehrte ihn plötzlich mit jeder Faser ihres Herzens. Mit bebenden Fingern fuhr sie ihm über das Gesicht, ihr Daumen verharrte an seinem Mundwinkel. Sie spürte den Schauer, der ihn durchlief. „Emma", flüsterte er. „Tu das nicht." „Küß mich, Bruce." Mit der Elastizität einer Sprungfeder richtete er sich halb auf und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Küß m..." Ein zweites Mal brauchte sie ihn nicht zu bitten. Seine Lippen legten sich so fest und entschlossen auf ihre, daß es ihr den Atem raubte. Genau das ist es, wonach du dich gesehnt hast, schoß es ihr durch den Kopf. Wenn sie später daran zurückdachte, wunderte sie sich jedesmal von neuem über diesen Moment schierer Verrücktheit, aber jetzt wollte sie nichts anderes, als sich einfach nur in ihm zu verlieren. Wie er aussah, wo sie waren, und was morgen sein würde, spielte keine Rolle mehr. Wie süß sie schmeckt, dachte Bruce, als er seine Augen schloß und von ihrem Lippen kostete. Es war nicht die klebrige Süße von Süßigkeiten, sondern die betörende eines kostbaren, vollmundigen Weines. Und ebenso gefährlich. Was tat er da? Was zum Teufel tat er da bloß? Prendergast würde jetzt neben ihr sitzen, verständnisvoll den Arm um ihre Schultern legen und versuchen, den Tröster zu mimen. Auf keinen Fall würde er sie küssen, das verstieß gegen die Spielregeln. Es war verrückt. Aber Prendergasts Sonnenbrille und die Baseballkappe lagen auf - 64 -
den rohen Holzbrettern des Anlegers. Sie hatte ihm seine Maskierung vom Gesicht gerissen, wodurch sie kurzerhand die Spielregeln, die er für sein eigenes Spiel zu nutzen gedacht hatte, geändert hatte. Erst streichelte sie seine Wange, dann fuhr sie ihm, leise aufstöhnend vor Verlangen, mit beiden Händen durchs Haar. Bruce öffnete die Lippen, um ihr wollüstiges Stöhnen tief in sich aufzunehmen. Plötzlich war er glücklich darüber, daß sie ihm diese idiotische Kappe heruntergerissen hatte, weil er nur so in den Genuß ihrer sich in sein Haar hineinwühlenden Hände kam. Und ebenso glücklich war er darüber, daß er davon abgesehen hatte, sich die Wangen auszupolstern. Warum er sich diese Nachlässigkeit erlaubt hatte, wußte er nicht. Sicher, der Cop in ihm hatte allen Anlaß zum Tadel, doch der Mann in ihm triumphierte. Während er seinen Kuß vertiefte, hielt er ihr Gesicht fest in beiden Händen. Als sich seine Zunge zwischen ihre Lippen drängte, öffnete sie ihm ihren Mund und erwiderte seinen Kuß mit der gleichen Leidenschaft, die er ihr entgegenbrachte. Vollkommen außerstande, sich Zurückhaltung aufzuerlegen, versank er in ihrem Zauber wie in einem Brunnen, der so tief war, daß sich der Grund seinen Blicken entzog. Ihre Lippen, ihre Zunge schmeckte nach berauschendem Nektar, wie wohl würde ihr übriger Körper erst schmecken? Wie mochten sich die sanften Kurven unter ihrer Bluse anfühlen? Was für ein Ausdruck mochte sich wohl auf ihrem Gesicht spiegeln, wenn er ihre Brüste hier, im goldenen Sonnenlicht, enthüllen würde? Er war überrascht von der Heftigkeit seines Verlangens. Als sie zu beben begann, umfaßte er ihr Gesicht fester. Er begehrte sie. Hier im hellen Tageslicht, auf diesen rohen Holzbohlen, direkt neben dem Flugzeug, das möglicherweise noch vor einer Stunde mit Kokain beladen war, wollte er sie lieben. Kokain, von ihrem Bruder ins Land geschmuggelt. Oder von ihr selbst. Als dieser Gedanke langsam in sein Hirn einzusickern begann, fing sein Verstand wieder an zu arbeiten. Gestern abend hatte sie den Sheriff belogen. Sie war Emmaline Duprey, die wegen Körperverletzung vor Gericht gestanden hatte. Er war hier, um die - 65 -
Wahrheit herauszufinden, und nicht, um sie zu verführen. Allerdings war er sich nicht so sicher, wer eigentlich wen verführt hatte. Sie wühlte noch immer in seinem Haar. Er durfte es nicht länger zulassen. Wie konnte er bloß seine Pflichten so sträflich vernachlässigen? Er bot all seine Kraft auf, um sich von ihr zu lösen. Doch sie weigerte sich, den Kuß zu beenden. Mit einem leisen Wimmern folgte sie seiner Bewegung, aber schließlich, schaffte er es, doch, sich aus ihrer Umarmung herauszuwinden. Gleich darauf rangen sie beide sowohl nach Luft als auch nach Selbstbeherrschung. Bruce hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er lehnte seine Stirn gegen ihre und legte ihre Hände auf ihre Knie. Sie bewegte sich nicht Weder zog sie sich zurück noch versuchte sie, sich ihm wieder zu nähern. Sie blieb einfach, wo sie war, während die Nachbeben der Erregung über ihren Körper hinwegschwappten. „Oh, mein Gott", sagte sie schließlich mit brüchiger Stimme. „Es tut mir leid, Emma." Er streichelte mit seinem Daumen über ihren Handrücken. „Es tut mir wirklich leid. Hoffentlich glaubst du nicht, ich hätte deine momentane Schwäche zu meinem Vorteil ausgenützt." Sie schüttelte den Kopf. „Aber nein. Mach dir keine Gedanken, Bruce." „Was ich getan habe ist unverzeihlich. Du warst verzweifelt, und ich habe..." „Ich wollte doch, daß du mich küßt." Es war nicht der Kuß, den er bereute. Es war die Situation, die ihm zu schaffen machte. Er preßte die Kiefer zusammen, ließ ihre Hände los und rutschte ein Stück beiseite. „Der Wind hat sie in den See geweht." „Was?" fragte er. „Deine Baseballkappe. Sie hockte sich auf die Fersen und fuhr sich über das Gesicht. Eilig setzte er seine Sonnenbrille auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, um zu retten, was von Bruce Prendergast noch zu retten war. Er senkte den Kopf, zog die Schultern in seiner üblichen Manier wieder ein, erhob sich und schlurfte zum Ende des Docks. Weiter - 66 -
draußen auf dem Wasser schaukelte ein dunkler Punkt sanft hin und her, wobei er immer kleiner wurde. Seine Baseballkappe versank. „Die Beule an meiner Cessna geht auf Simons Konto", sagte sie schließlich. „Wir hatten einen fürchterlichen Streit deswegen, bevor er abfuhr." War sie jetzt bereit, ihn ins Vertrauen zu ziehen? Bruce hätte sich darüber freuen sollen, da es eine gute Gelegenheit bot, sie auszuhorchen, aber er war es nicht. Das erstemal in seinem Leben wünschte er sich, kein Polizist zu sein.
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5. KAPITEL „Mein vollständiger Name ist Emmaline Cassidy Duprey." Emma stützte die Ellbogen auf dem Tisch auf und holte tief Luft, ehe sie das Kinn in die Hände stützte. Sie hatte geglaubt, daß es schlimmer werden würde. Doch es war überhaupt nicht schlimm - im Gegenteilsie fand es mit einemmal sehr erleichternd, sich jemandem mitzuteilen. Nein, nicht irgend jemandem, sondern ihm. Bruce. Er saß ihr gegenüber an dem Tisch, an dem sie vor drei Tagen gemeinsam - war es wirklich erst drei Tage her? - die Karten studiert hatten. Seinen Kopf hatte er in die Hand gestützt, um sein Gesicht abzuschirmen, aber er wußte, daß es ihm nicht mehr länger möglich sein würde, sich vor Emma zu, verstecken. Sie hatte ihn geküßt. Sie hatte ihm - unbewußt - die Maske vom Gesicht gerissen, und nun war es zu spät. „Ich bin im Vorstand einer Investmentgesellschaft als Managementberaterin tätig, Vor drei Jahren habe ich meinen Namen geändert und mich hier niedergelassen, weil die Situation, in der ich mich damals befand, für mich untragbar geworden war", fuhr sie fort. „Du brauchst mir das nicht zu erzählen", sagte er ruhig. „Wir haben alle unsere guten Gründe für unsere tagtäglichen Maskeraden." Emma wußte, daß sie ihm nichts erzählen mußte, aber sie wollte es. Es verlangte sie ebenso instinktiv danach, wie es sie nach seiner Berührung und nach seinem Kuß verlangt hatte. Also erzählte sie ihm von ihrer Kindheit und wie allein sie sich gefühlt hatte, nachdem ihr Vater verhaftet worden war. Und wie sie sich dann plötzlich selbst noch fast ein Kind - mit der Bürde der alleinigen Verantwortung für ihren Bruder konfrontiert gesehen hatte. Bruce saß während der ganzen Zeit bewegungslos da und sagte kein Wort. „Wahrscheinlich ist das Fliegen so eine Art Therapie für mich versuchte sie sich an einer Erklärung. „Meine Maschine ist für mich schon fast ein Heiligtum, und deshalb tut diese verdammte Beule mindestens doppelt so weh, wie sie es eigentlich sollte. Die Cessna ist für mich ein Symbol der Freiheit, sie bietet mir die Möglichkeit zu - 68 -
fliehen. Es ist ähnlich wie mit Büchern. Wenn man ein Buch liest, kann man sich in einer Phantasiewelt verlieren, und die wirkliche Welt bleibt außen vor." „Meine Bücherregale daheim in Chicago quellen auch über", sagte Bruce. „Mittlerweile stapeln sich bei mir die Bücher schon auf dem Fußboden." „Ich glaube, wir haben eine Menge gemeinsam." Er zögerte. „Ich wollte dich nicht unterbrechen. Erzähl weiter." Sie wandte den Kopf und schaute auf den See hinaus, während sie versuchte, das, was sie bewegte, in Worte zu kleiden. Dann begann sie von Simon zu erzählen und den Problemen, die er an sich zu ziehen schien wie Fliegen die Leimrute. „Und diesmal scheint er in wirklich ernsthaften Schwierigkeiten zu stecken, für die ich im Moment keine Lösung sehe", schloß sie. „Wo liegt das Problem?" „Er ist in schlechte Gesellschaft geraten." „Irgendwas Illegales?": Sie zuckte zusammen. „Was heißt schon illegal. Mein Respekt vor der sogenannten Legalität hält sich ziemlich in Grenzen, Bruce. Ebenso wie der, vor der Polizei. Ist sozusagen so etwas wie eine Grundeinstellung von mir, wenn du verstehst, was ich meine." Er hüllte sich einen Moment lang in Schweigen. „Ich erinnere mich. Du hast gesagt, daß du Cops haßt." „Weil die Polizei meine Familie zerstört hat. Ich weiß, daß mein Vater sich im Sinne des Gesetzes schuldig gemacht hat, aber er hat dafür bezahlt. Er hat das Geld zurückgegeben und seine Zeit im Gefängnis abgesessen. Doch das war anscheinend nicht genug. Die Medien haben sofort nach seiner Verhaftung die Jagdsaison auf ihn und die gesamte Familie eröffnet und uns nicht mehr aus ihren Klauen gelassen, bis alles, aber auch wirklich alles in Scherben lag. Meine Mutter konnte mit dem Skandal nicht mehr leben und hat sich in Drogen geflüchtet. Sie war süchtig nach den Tranquilizern, die ihr die Ärzte verschrieben haben. Ich habe versucht, ihr zu helfen, sie hat eine Entziehungskur nach der anderen gemacht, aber es hatte alles keinen Zweck. Sie kam nicht mehr davon los, bis sie schließlich in ihrer Verzweiflung ihrem Leben selbst ein Ende setzte." Emma - 69 -
schluckte hart, ehe sie weitersprach. „Sie hat nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Ihr Selbstmord brach meinem Vater das Herz, aber es dauerte noch drei Jahre, ehe er schließlich auch starb. Er war zum Alkoholiker geworden." „Das tut mir leid, Emma." „Simon und ich sind die einzigen, die von unserer Familie übriggeblieben sind." „Aber vielleicht wäre es ja das beste, zur Polizei zu gehen, wenn dein Bruder in so großen Schwierigkeiten steckt." „Das ist unmöglich." „Du solltest es zumindest in Erwägung ziehen." Nach einem kurzen Zögern legte er ihr die Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. „Ich würde dir gern helfen, Emma." Sie legte ihre Hand auf die seine. „Das hast du schon. Indem du mich im Arm gehalten hast, als ich geweint habe. Weißt du eigentlich, daß ich achtundzwanzig Jahre alt werden mußte, um das zu erleben?" Sein Griff verstärkte sich, dann atmete er geräuschvoll aus. „Vielleicht kann ich dir ja mit deinem Bruder auch irgendwie helfen. Ich könnte dir den Namen eines Mannes geben, an den du dich wenden kannst, wenn du es für richtig hältst. Er arbeitet in Chicago bei der Polizei." „Du bist wirklich sehr freundlich, Bruce", murmelte sie. „Nein, bin ich nicht", gab er etwas zu heftig zurück. Überrascht sah sie ihn an. „Doch, das bist du. Habe ich dir eigentlich schon gesagt, daß du mir gefällst? Sehr sogar." „Emma, ich will keinen Vorteil aus deiner Sit..." „Oh, bitte. Hör auf damit." Sie befreite sich aus seinem Griff und nahm sein Gesicht zwischen ihre beiden Hände. „Was ich sage stimmt, und dabei bleibt es. Du bist sehr sympathisch, und du siehst gut aus, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Ich habe es vom ersten Moment an gesehen. Eine schöne Nase, eine hohe Stirn, schön geschwungene dunkle Augenbrauen und lange Wimpern. Und es gelingt dir selbst mit diesem scheußlichen Bart nicht, dich zu entstellen. Ich finde dich sehr sexy." „Sexy?" fragte er unsicher. „Ich? Hol's der Kuckuck, wie kommst - 70 -
du denn darauf? Ich weiß genau, wie ich aussehe. Sie fuhr ihm mit den Fingern durch sein weiches Haar. „Warum, zum Teufel, rennst du eigentlich immer mit so einer idiotischen Kappe herum?" Er hielt ihre Handgelenke fest. „Emma, bitte. Ich möchte nicht, daß du mich verabscheust." „Verabscheuen? Ich dich?" Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Wie, um alles in der Welt, kommst du denn darauf? Du scheinst ein recht seltsames Bild von dir zu haben, Bruce. Ich würde dich doch niemals verabscheuen. Vielleicht sollten wir uns einfach ein bißchen Zeit geben ..." „Sprich nicht weiter, ich bitte dich!" Sie starrte ihn an, während sich anstelle der Wärme, die sie eben noch empfunden hatte, langsam Schmerz in ihr auszubreiten begann. „Was ist denn los?" „Das, was zwischen uns begonnen hat, kann so nicht weiter gehen, Emma. Es ist unmöglich. Ich will nicht, daß du etwas sagst, das du später unter Umständen bereuen würdest." Fassungslos schaute sie ihm in die Augen, dann ließ sie ernüchtert langsam die Hände sinken. Natürlich, wahrscheinlich hatte er recht... Aber das konnte sie dennoch nicht davon abhalten, sich zu wünschen, daß er sie noch einmal küßte. „Scheint so, als hätte ich mich zum Narren gemacht", sagte sie schließlich leise. Er stieß einen Fluch aus, der es in sich hatte, und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „Schätze, die Situation macht aus uns beiden einen Narren", gab er schließlich rätselhaft zurück. „Bruce, ich..." Er legte einen Finger auf ihre Lippen. „Ich verlasse noch heute nachmittag Bethel Corners." Sie kannte ihn doch erst seit drei Tagen. Warum dann diese unermeßliche Enttäuschung und Leere, die plötzlich in ihr aufstiegen? „Hast du nicht gestern gesagt, daß du noch mal mit mir fliegen willst?" „Was ich will, spielt keine Rolle. Ich muß zurück an meine Arbeit." „Du hast aber gesagt, daß du noch ein paar Tage Urlaub hast." „Mein Urlaub ist vorbei. Leider habe ich keine andere Wahl. So - 71 -
gern ich auch bleiben und dich besser kennenlernen würde - es ist unmöglich." Er zeichnete mit dem Finger die geschwungene Linie ihres Mundes nach, so als ob er sie sich auf diese Weise tief in sein Gedächtnis einprägen wollte. „Ich kann einfach nicht. Mein Job kommt zuerst, Emma, er ist alles, was ich habe." Sie war erschüttert über die Einsamkeit, die sie aus seinen Worten herauszuhören glaubte. „Warum ist das so, Bruce?" „Was?" „Daß dir dein Job über alles geht. Warum nur? Was ist passiert, daß du dich in dieser Art und Weise hinter deiner Arbeit verschanzen mußt?" Einen Moment lang drohte er wankelmütig zu werden. Sollte er ihr alles erzählen? Doch gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt, legte statt dessen die Hand um ihren Nacken, zog sie an sich und küßte sie ganz leicht auf die Lippen. Gleich darauf ließ er sie wieder los. In seinen Augen stand tiefes Bedauern. „Bruce?" Er sah sich um und entdeckte auf dem Tisch einen leeren Briefumschlag, den er zu sich heranzog, um eine Telefonnummer darauf zu notieren. „Versprich mir, meinen Freund anzurufen, wenn dein Bruder in ernsthaften Schwierigkeiten steckt, ja?" „Ich weiß nicht." Er küßte sie wieder, diesmal preßte er seinen Mund auf ihren, bis sie ihre Lippen öffnete. Es wurde ein langer Kuß. Nachdem er sich schließlich widerwillig von ihr gelöst hatte, rangen beide nach Atem. „Sag, daß du es tun wirst, Emma. Gib dem Gesetz noch einmal eine Chance", flüsterte er ganz nah an ihrem Mund. Sie schloß die Augen, um noch nicht gleich in die Realität zurückkehren zu müssen. Wie war es nur möglich, daß es ihm mit einem einfachen Kuß gelang, sie zu entflammen? Der Kuß war mehr als ein Kuß, viel mehr, er brachte tief verdrängte Wünsche an die Oberfläche, die Sehnsucht nach einem Menschen, der auch das nächste mal, wenn sie wieder Anlaß hatte zu weinen, da wäre, um sie festzuhalten und zu trösten. Sie hob die Arme in der Absicht, sie wieder um seinen Hals zu legen, doch er wehrte sie ab. - 72 -
„Ich muß jetzt gehen." Seine Stimme war rauh sein Atem ging schnell. „Kommst du zurück?" Die Stille dehnte sich, während Emma fast zusehen konnte, wie er sich wieder in sich zurückzog. Seine Gesichtszüge wurden leer und erschlafften, und er ließ die Schultern fallen. Jetzt sah er fast wieder so aus wie an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Er ließ ihre Handgelenke los und wich einen Schritt zurück. „Nein. Es tut mir leid, Emma, aber es ist das beste für uns beide, wenn wir uns nicht mehr wiedersehen." Sie gab dem fast unwiderstehlichen Drang, ihn, festzuhalten, nicht nach, weil sie wußte, daß er recht hatte. Er war nur auf der Durchreise, hatte für ein paar Tage hier Urlaub gemacht und kehrte nun wieder in sein gewohntes Leben zurück. Was hätte es für einen Sinn, zu versuchen, ihn zu halten? In der vergangenen Nacht, als sie draußen auf dem Dock gestanden und dem einsamen Schrei eines Seetauchers hinterhergelauscht hatte, war ihr bereits klar gewesen, daß die Sache mit ihm, egal, was für Gefühle sie ihm auch entgegenbringen mochte, keine Zukunft hatte. Bruce tippte noch einmal auf den leeren Umschlag, auf den er die Nummer geschrieben hatte, und vergewisserte sich: „Du rufst ihn an, ja?" „Ich werde darüber nachdenken." „Versprich mir, daß du es tun wirst, Emma." „Ich will dich nicht anlügen Bruce. Ich werde darüber nachdenken, mehr kann ich dazu nicht sagen." Er nahm den Kugelschreiber wieder zur Hand und begann, damit herumzuspielen. „Gibt es noch irgendeinen anderen Grund außer deiner grundsätzlichen Abneigung, weshalb du nicht zur Polizei gehen willst?" „Ich will meinen Bruder nicht verraten. Es ist meine Schuld, daß er da reingeraten ist." Seine Finger schlossen sich fest um den Kugelschreiber. „Was?" „Es ist meine Schuld. Ich war zu nachsichtig..." „Was willst du damit sagen?" Sollte sie sich ihm anvertrauen? Sollte sie ihm von den - 73 -
zwiespältigen Gefühlen erzählen, die ihr Bruder in ihr weckte? Von ihrer Angst, versagt zu haben, den Schuldgefühlen, der Verantwortung, die sie noch immer für ihn empfand. Nein, entschied sie. Bruce fuhr noch heute ab. Der Trost, den sie bei ihm gefunden hatte, war nur vorübergehend gewesen, ab jetzt würde sie wieder allein klarkommen müssen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke, ich habe genug gesagt. Nicht daß ich deine Anteilnahme nicht zu schätzen wüßte, aber..." Der Kugelschreiber rutschte ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Bruce fluchte und bückte sich, um ihn aufzuheben, wobei er mit dem Kopf gegen das Tischbein stieß. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, zückte er seine Sonnenbrille und setzte sie auf, während er langsam zur Tür ging. „Ich muß jetzt gehen." „Ja. Du sagtest es bereits." Einen Moment lang fummelte er noch an der Türklinke herum, bevor er sie zähneknirschend herunterdrückte. „Paß auf dich auf, Emma." Sie fühlte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann. In dem verzweifelten Versuch, Haltung zu bewahren, grub sie ihre Fingernägel in ihre Handflächen. Sie durfte nicht weinen, nein, sie durfte jetzt auf keinen Fall weinen. Allerdings schaffte sie es nicht, ihm zum Abschied die Hand zu reichen. Ihn wieder zu berühren, würde alles nur noch schlimmer machen. Bruce öffnete die Tür und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er konnte sich an kaum etwas in seinem Leben erinnern, das ihm jemals so schwer gefallen war, aber irgendwie schaffte er es schließlich doch, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf zu seinem Wagen zu schlurfen. Sein Körper wehrte sich gegen diesen trottenden Gang. Alles in ihm schrie danach zu rennen, fortzurennen, doch er war sich nicht sicher, ob er wußte, wohin. Er suchte nach Antworten, aber er hatte seine Zweifel daran, ob er den Mut aufbringen würde, die richtigen Fragen zu stellen. Sicher war es ein Risiko gewesen, ihr Xaviers Telefonnummer zu geben, aber es war gering. Falls sie unschuldig war, hatte sie die Wahl, sich der Nummer zu bedienen oder auch nicht. - 74 -
Als Bruce in sein Motel kam, verriegelte er aus alter Gewohnheit die Tür und zog die Vorhänge zu. Er mußte Xavier anrufen, doch vorher hatte er noch etwas Wichtigeres hinter sich zu bringen. Er ging direkt ins Bad, stützte sich mit beiden Händen aufs Waschbecken und starrte in den Spiegel. Er beugte sich vor, um seine Kontaktlinsen herauszunehmen. Dann schlüpfte er aus seinem ausgebeulten Sakko und ließ es zu Boden fallen. Das Hemd nahm denselben Weg. Mit einem häßlichen Ratschen entfernte er das Klebeband, mit dem er die Auspolsterung an Bauch und Hüften befestigt hatte. Als er nun seinen schlanken, muskulösen Oberkörper im Spiegel betrachtete, fragte er sich, was Emma wohl sagen würde, wenn sie ihn sehen könnte, wie er wirklich war. Wahrscheinlich aus purer Eitelkeit wünschte er sich plötzlich, eine andere Tarnung gewählt zu haben, so daß Emma hätte sehen können, daß er kein einziges Gramm Fett am Leibe trug. Und daß seine Bewegungen nicht die langsamen und schleppenden Bewegungen eines übergewichtigen Mannes waren. Mit elastischen Schritten ging er nach nebenan und holte aus seiner Reisetasche seinen Rasierapparat. Dann begann er, sich seinen Bart abzurasieren. Nachdem er fertig war, pustete er über dem Waschbecken die Haare aus dem Rasierer, klopfte sich etwas After-shave auf die Wangen und betrachtete anschließend sein Werk im Spiegel. Bruce Prendergast hatte sich in Luft aufgelöst. Er ging ins Nebenzimmer, wobei er sein auf dem Boden liegendes Sakko achtlos beiseite kickte. Er würde es nicht mehr brauchen. Er würde es nicht mehr brauchen. Ein Schmerz durchzuckte ihn, denn dieser Satz implizierte, daß er auch Emma nicht mehr sehen würde. Und wie sollte die ganze Sache jetzt eigentlich weitergehen? Bisher war ihm nur klar gewesen, daß es sowie bisher nicht mehr weitergehen konnte. Er hatte sich plötzlich außerstande gesehen, Emma weiterhin eine Komödie vorzuspielen und sie zu benutzen. Er mußte das Pferd von der anderen Seite her aufzäumen. Zehn Minuten später hatte er Xavier an der Strippe. „Bist du verrückt geworden?" schnauzte Xavier ihn ungehalten an, nachdem Bruce ihn vom neuesten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt hatte. „Du bist auf die Sache angesetzt, und dabei bleibt es. - 75 -
Wir müssen Näheres über diese Duprey rauskriegen." „Zu spät. Prendergast hat die Stadt auf Nimmerwiedersehen verlassen." „Verdammt noch mal, Bruce. Simon Duprey und die Lagerhalle in Bangor waren heiße Tips, die uns eine Menge Zeit erspart haben. Alles klappt zur Zeit wie am Schnürchen, bloß du drehst plötzlich völlig ohne Grund durch. Soll ich dir mal erzählen, wem die besagte Lagerhalle gehört?" „Na?" „Halt dich gut fest - Carter McQuaig.“ „Carter McQuaig? Diesem Burschen, den die Kollegen seit Jahren im Auge haben und dem man noch nie was anhängen konnte, obwohl es ein offenes Geheimnis ist, daß er mehr als genug Dreck am Stecken hat?" „Du hast's erfaßt, alter Freund." Bruce hüllte sich einen Moment lang in Schweigen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. „Hör zu, du hast eine prima Quelle und weigerst dich, sie anzuzapfen. Das ist doch idiotisch", bedrängte ihn Xavier. „So ist es", gab Bruce brüsk zurück. „Ich habe ihr deine Telefonnummer gegeben." Zischend zog Xavier die Luft ein. „Du hast... was?" Bruce tat sein Möglichstes, um seinem Kollegen plausibel zu machen, was er mit seinem Tun bezweckt hatte. „Teufel noch mal, Bruce, so war das aber nicht geplant." „Der Plan hat sich eben geändert." „Das klingt gar nicht nach dir, Bruce. Was ist denn, verdammt noch mal, los mit dir?" „Ich weiß nicht. Irgendwie sind mir einfach plötzlich Zweifel gekommen." „Bruce, du bist ein guter Cop. Das bist du immer gewesen. Du hast eine kleine Krise, das geht vorbei." Xavier sprach jetzt betont ruhig wie mit einem Kranker. „Du mußt jetzt einfach durchhalten. Und wenn alles vorbei ist, haust du dich irgendwo an den Strand in die Sonne und machst mal richtig Urlaub, einverstanden?" „Ich habe nicht die Absicht, meinen Job an den Nagel zu hängen, - 76 -
falls es das ist, worauf du hinauswillst. Und natürlich habe ich vor, an dem Fall dranzubleiben, nur anders. Das ist alles." Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken, und Emma sah in allen Ecken des Blockhauses dunkle Schatten lauem. Obwohl sie fröstelte, konnte sie sich doch nicht dazu aufraffen, das Kaminholz anzuzünden. Mit angezogenen Beinen kauerte sie in der hintersten Ecke ihrer Couch und starrte ins Leere. Seit Bruce gegangen war, hatte sie mindestens zwanzigmal versucht, Simon zu erreichen. Ohne Erfolg. Ihre Unruhe wuchs von Minute zu Minute. „Simon", flüsterte sie in die Dämmerung hinein. „Wo steckst du bloß?" Ob er diesen Leuten seine Absicht auszusteigen bereits mitgeteilt hatte? Hatte er ihnen gesagt, daß sich seine Schwester bereit erklärt hatte, für seine Schulden geradezustehen? Sie wußte nicht einmal, um wieviel Geld es sich eigentlich handelte. Möglicherweise mußte sie ein paar ihrer Wertpapiere verkaufen, aber das wäre nicht das Schlimmste. Die Hauptsache war, daß Simon aus der Sache rauskam. Das plötzliche Schrillen des Telefons ließ sie zusammenzucken. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie aufsprang, zum Tisch rannte und, noch bevor es zum zweitenmal klingeln konnte, den Hörer von der Gabel riß. „Emma?" Es war Simon. Seine Stimme klang brüchig. „Emma, bist du's?" Sie preßte die Hand auf die Brust und holte tief Luft. „Simon. Gott sei Dank. Erzähl mir, was passiert ist.“ Sie hörte, wie ihm der Hörer aus der Hand gerissen wurde, dann erklang eine fremde Stimme. „Miss Cassidy? Oder sollte ich vielleicht besser Miss Duprey sagen?" „Wer spricht denn da? Wo ist mein Brüder?" „Ich bin ein Geschäftspartner Ihres Bruders, Miss Duprey. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander, und ich bin wirklich sehr bekümmert darüber, hören zu müssen, daß Sie unsere Geschäfte nicht mögen." Die Stimme hallte, als befände sich der Mann in einer Grabkammer. „Simon behauptet, Sie beständen darauf, daß er nicht - 77 -
mehr für uns arbeitet. Das können wir nicht zulassen, Miss Duprey. Sie bringen uns damit in eine böse Lage." Sie mußte die Nerven behalten. „Hat er Ihnen auch gesagt, daß ich bereit bin, seine Schulden zu bezahlen?" „Das Geld interessiert uns im Moment nicht, Miss Duprey. Wir sind auf zuverlässige Leute angewiesen, und auf Ihren Bruder können wir ja nun leider jetzt nicht mehr zählen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sehen Sie das Problem? Warten Sie einen Moment, Simon wird es Ihnen erklären." Es war einen Augenblick still, dann hörte sie ein Klatschen, dem ein schmerzerfüllter Aufschrei folgte. Emma verdrängte rasch die Vorstellung, was sich am anderen Ende der Leitung abgespielt haben könnte. „Emma? Bist du noch dran?" „Simon? Ist alles in Ordnung? „Nein. Sie werden mich umbringen. Du hättest niemals von mir verlangen dürfen, daß ich aussteige. Aus so einer Sache kann man nicht aussteigen, verstehst du?" Seine Stimme brach, gleich darauf hörte sie ein trockenes Schluchzen. Sie fühlte sich ganz krank. Wieder war es ihre Schuld. „Simon, halt durch. Ich werde versuchen... „Miss Duprey." Das war wieder die andere Stimme. „Den Gedanken an die Polizei werden Sie sich aus dem Kopf schlagen. Andernfalls sehen Sie Ihren Bruder nicht lebend wieder." Sein Ton war kalt und beiläufig, so als würde er ankündigen, daß es morgen zum Frühstück Eier mit Speck gäbe. Emma ,bezweifelte nicht eine Sekunde, daß er es ernst meinte. „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich bereit bin, Simons Schulden zu übernehmen", erwiderte sie und hatte Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Oder auch mehr. Wieviel wollen Sie?" „Wir wollen kein Geld. Wir wollen Sie." „Ich... ich verstehe nicht." „Wir haben von Simon gehört, daß Sie eine ausgezeichnete Pilotin sind. Soweit es uns betrifft, liegt die Sache ganz einfach. Sie übernehmen den Job Ihres Bruders, und er bleibt solange hier bei uns als unser Gast." - 78 -
6. KAPITEL Es überraschte Emma zu sehen, wie viele Emotionen mit dem Gefühl der Liebe einhergehen konnten. Sie wußte, daß sie ihren Bruder liebte, doch nun verspürte sie nichts als Angst, Sorge, Verzweiflung... und Zorn. Sie parkte ihren Pick-up im Schatten der Lagerhalle und stieg aus. Eine spärliche Glühbirne erleuchtete das Schild über dem Eingang. CM Import. Öffnungszeiten von 8:00 bis 16:00 Uhr. Parken vor der Einfahrt verboten. Emma hielt ihr Handgelenk ins Licht, um zu sehen, wie spät es war. Kurz vor 22:00 Uhr. Der Mann, mit dem sie gestern am Telefon gesprochen hatte, hatte es mit der Zeit- und Ortsangabe sehr genaugenommen. Es war ein Test, soviel war ihr klar. Die Gangster wollten ihr zu verstehen geben, daß sie zu springen hätte, und sie sollte fragen, wie hoch. Sie versuchten sie einzuschüchtern. Doch sie hatte bei ihren Geschäften genug Erfahrungen mit profitgierigen Geldhaien gesammelt, um zu wissen, wie man mit Menschen dieser Geisteshaltung umzugehen hatte. Sie trug ein streng geschnittenes rostfarbenes Kostüm mit breiten Schulterpolstern, das ihrem Erscheinungsbild die nötige Härte verleihen sollte. Das mahagonifarbene Haar hatte sie sich mit Gel straff nach hinten gekämmt, und ihr Make-up war dezent. Sie durfte kein Anzeichen von Schwäche zeigen und mußte die Sache als einen Deal betrachten. Sie wollten etwas von ihr, und sie wollte etwas von ihnen. Eigentlich wäre alles ganz einfach gewesen, wenn nicht die Sorge um ihren Bruder gewesen wäre. Simon hatte am Telefon geweint. Und sie hatten ihn geschlagen. Angst kroch ihr den Rücken hinauf. Sie versuchte sie abzuschütteln, doch es gelang ihr nur unzureichend. Eine wichtige Tour sollte sie fliegen, dann würden sie ihren Bruder freilassen. So hatten sie es zumindest versprochen. In ihr rebellierte alles dagegen, den Befehlen dieser Verbrecher Folge zu leisten, aber was blieb ihr anderes übrig? Einzig wenn sie gute Miene zum bösen Spiel machte, bestand zumindest eine geringe Chance, Simon lebendig wiederzusehen. - 79 -
Plötzlich durchbrachen die Scheinwerfer eines Autos die Dunkelheit und tauchten Emma in grelles Licht. Sie zwang sich, ruhig stehenzubleiben, die Arme in einer Geste geduldigen Wartens über der Brust verschränkt. Der Lichtkegel blendete so stark, daß sie nichts sehen konnte. Es dauerte nicht lange, bis sie hörte, wie eine Autotür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde. Dann hallten schnelle Schritte über den Asphalt, und einen Augenblick später trat ein Mann ins Scheinwerferlicht. Er war vollkommen kahl, und sein Gesicht wirkte brutal. „Sie sind pünktlich, Miss Duprey. Ausgezeichnet. Folgen Sie mir." Das war der Mann, mit dem sie am Telefon gesprochen hatte. Sie erkannte die Stimme wieder. Er hatte ihren Bruder so hart geschlagen, daß Simon vor Schmerz geweint hatte. Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt und ihm die Augen ausgekratzt. „Wo ist Simon?" „Er ist nicht hier." Er machte Anstalten, ihr voran zum Eingang der Lagerhalle zu gehen, offensichtlich in der Annahme, daß sie ihm widerspruchslos folgen würde. Doch sie dachte gar nicht daran. „Ich rühre mich nicht von der Stelle, bevor ich nicht weiß, ob mit ihm alles in Ordnung ist." Er wandte sich um, und seine brutalen Züge verzerrten sich vor Ungeduld. „Machen Sie keine Mätzchen, Miss Duprey. Sie befinden sich nicht in einer Position, in der Sie Bedingungen stellen könnten. Vielleicht gestatte ich Ihnen später, nachdem wir miteinander ins Geschäft gekommen sind, mit Ihrem Bruder zu sprechen. Aber bis dahin befolgen Sie meine Anweisungen.“ Sie straffte die Schultern und folgte ihm durch einen kleinen Nebeneingang in die Lagerhalle. Innen war es schummrig, die spärlichen Glühbirnen vermochten den Raum kaum zu beleuchten. Emmas Pfennigabsätze verursachten ein hohles Klack-Klack auf dem Zementboden, als sie dem Glatzkopf ans andere Ende der Halle folgte, wo sich in einer Art Glaskasten ein Büro befand. Hinter einem wuchtigen Stahlschreibtisch saß ein grauhaariger Mann in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug. Vor ihm lagen in wüstem Durcheinander zahllose Papiere verstreut, dazwischen standen eine - 80 -
halbgeleerte Kaffeetasse und ein Telefon. Als ihr Blick auf die Pistole fiel, spürte sie, wie ihre Kehle eng wurde. O Gott. Nackte Angst packte sie. Sie hatte das Gefühl, schreien zu müssen, sie wollte sich umdrehen und davonrennen. Doch wohin? Es war ein Alptraum. Es konnte nur ein Alptraum sein. Gleich würde sie aufwachen, und Simon, eben zurückgekehrt von seiner Exkursion, bei der er nach irgendeiner Mine gesucht hatte, würde an ihrem Bett stehen, und sie würde ihn ganz bestimmt nicht schelten wegen seines unachtsamen Umgangs mit ihrer Cessna. Sie würde ihn in die Arme... Der Typ hinter ihr versetzte ihr einen brutalen Stoß, so daß sie über die Schwelle in das Büro hineintaumelte. Als der Mann hinter dem Schreibtisch aufblickte, spürte Emma, wie sie das Grausen packte. Alles an ihm, angefangen von den schmalen, fast nicht existenten Lippen bis hin zu den kalten grauen Augen erinnerte sie an die Erbarmungslosigkeit eines Scharfrichters. Oh, Simon, worauf hast du dich nur eingelassen? Der Grauhaarige, den der andere Mann mit McQuaig anredete, benötigte genau dreiundzwanzig Minuten, um ihr zu erklären, was Simons Aufgabe gewesen war. Die sie jetzt übernehmen sollte. Er erläuterte ihr anhand einer Karte in knappen Worten die genaue Flugroute, den Treffpunkt, an dem die Übergabe stattfinden sollte, und die Verladeprozedur. Mit jedem Detail, das er mit der Genauigkeit eines Präzisionsschützen vor ihr ausbreitete, stieg ihre Angst. Das alles war, vollkommen verrückt. Sie konnte das nicht tun. Sie wollte es nicht. Obwohl sie ihre ganze Selbstbeherrschung aufbot, mußte er ihr doch ihre Angst und ihre Zweifel am Gesicht abgelesen haben. McQuaig legte in seinen Ausführungen eine Pause ein, sah den Glatzköpfigen an, schnippte einmal kurz mit Daumen und Zeigefinger und deutete dann auf das Telefon. „Laß sie mit ihm sprechen, Harvey", befahl er. Emma grub ihre Nägel in ihre Handflächen. Harvey wählte eine Nummer und bellte ein paar Worte ins Telefon. Dann hielt er ihr den Hörer hin. „Hier ist er. Aber nicht, weil Sie darauf, bestanden haben, sondern weil wir es für richtig halten, kapiert? Vergessen Sie das - 81 -
nicht." Verstohlen wischte sie sich die Hände an ihrem Rock ab und nahm den Hörer entgegen. „Hallo? Simon?" Keine Antwort. Sie spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog, und blickte McQuaig an. Er starrte mit undurchdringlicher Miene zurück. Plötzlich drang Simons Stimme, schwach, aber doch deutlich erkennbar, an ihr Ohr. „Emma?" Eine so grenzenlose Erleichterung durchflutete sie, daß ihr die Knie weich zu werden drohten. „Simon! Geht es. dir gut?" Die Pause, die folgte, war so lang, daß sie an ihren Nerven zerrte. Dann aber sprach er schnell, und die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. „Mach, was. sie sagen, Emma, bitte, bitte, ich flehe dich an. Wenn du dich weigerst, werden sie mich umbringen." „Simon, wo..." „Das reicht." MacQuaig streckte die Hand aus und drückte mit dem Zeigefinger auf die Gabel. Die Verbindung war tot. „Versuchen Sie keine Tricks. Sie tun einfach, was wir von Ihnen verlangen, ist das klar?" Draußen vor der Lagerhalle raste ein Auto so mit hoher Geschwindigkeit vor, daß die Reifen quietschten. Ein hochtouriger Motor heulte kurz noch einmal auf und erstarb dann. Die beiden Männer verständigten sich kurz mit Blicken. „Er ist zu früh", sagte McQuaig. Beschäftige ihn. Ich bin gleich mit unserer Pilotin hier fertig." Pilotin, dachte sie bitter. Dieses Wort, das für sie einst ein Synonym für Freiheit gewesen war, klang nun obszön in ihren Ohren. Es war beschmutzt. Emma trat einen Schritt vom Schreibtisch zurück und versuchte, ihre Haltung wieder zurückzugewinnen. Durch die Glaswand blickte sie Harvey hinterher, wie er die düstere Halle durchquerte und zur Eingangstür ging. Als der Neuankömmling sich aus den Schatten löste und ins Licht trat, spürte Emma, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Der Mann wirkte bedrohlich. Er war groß, weit über einsachtzig, schätzte sie, und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze. Jetzt sagte Harvey etwas zu ihm, woraufhin er nonchalant die Schultern zuckte und sich seine schwarze Lederjacke abstreifte. Gleich darauf - 82 -
stellte er sich breitbeinig vor den Glatzkopf hin, der ihn von oben bis unten peinlich genau abtastete. Offensichtlich suchte Harvey nach Waffen. Nachdem er nicht fündig geworden war, bedeutete er, dem Mann mit einem leichten Kopfnicken in Richtung Büro weiterzugehen. Der Fremde setzte sich wieder in Bewegung. Selbstsicher kam er mit weit ausholenden elastischen Schritten auf den Glaskasten zu, wobei er sich arrogant in den Hüften wiegte. Einen Moment lang verschwand er im Schatten, und als er wieder hervorkam, spürte Emma, wie ihre Handflächen feucht wurden. Er hatte sich seine Lederjacke nicht wieder übergezogen, sondern ließ sie am Zeigefinger über seiner rechten - halbnackten - Schulter baumeln. Das enganliegende olivfarbene Baumwollunterhemd enthüllte ebensoviel von seiner Haut wie es verbarg, und diese Haut spannte sich straff über seinen muskulösen Armen und Schultern. Emma versuchte, den Blick abzuwenden, hoffte, die Männlichkeit, die er so unverfroren zur Schau stellte, ignorieren zu können, doch es gelang ihr nicht. Er kam näher. Sein Körperbau war der eines Mannes, der hart trainiert. McQuaig nahm die Pistole vom Tisch und steckte sie sich in den Hosenbund. „Sie haben bis zehn Uhr am nächsten Morgen Zeit, um die Ware an einem Ort, den wir Ihnen noch nennen werden, abzuliefern. Dort wird Sie ihr Bruder erwarten. Jede Minute, die Sie zu spät kommen, kostet ihn einen Finger." Ihr wurde schwindlig. Während sie tief Luft holte, klammerte sie sich an das Regal, neben dem sie stand. „Ich werde pünktlich sein." „Gut." Die Schritte kamen näher. Emma biß die Zähne zusammen und straffte die Schultern. Es ist ein Geschäft, sagte sie sich. Sie durfte jetzt keine Schwäche zu zeigen. „Okay, Mr. Quaig. Abgemacht. Ich nehme an, ich höre dann von Ihnen." „Ja. Wir bleiben in Verbindung." Er blickte in Richtung Tür. „Mr. Primeau?" Eine tiefe, volltönende Stimme antwortete: „Richtig. Sind Sie McQuaig?" „Ja. Bitte kommen Sie herein." - 83 -
In demselben Moment, in dem der Fremde das Büro betrat, beschlich Emma das seltsame Gefühl, diese Szene schon einmal erlebt zuhaben. Sie hielt den Blick gesenkt, bis er in ihr Gesichtsfeld trat. Er trug schwarze edle Cowboystiefel, und seine langen Beine steckten in hautengen schwarzen Jeans, die seinen knackigen Po betonten. Unter dem enganliegenden olivfarbenen Baumwollunterhemd zeichnete sich seine ausgeprägte Brustmuskulatur ab. Um das Zittern ihrer Hände, das sie urplötzlich befallen hatte, zu unterdrücken, umklammerte Emma das Regal, an dem sie sich noch immer festhielt, fester. „Ich habe von Geschäftspartnern in Chicago nur das Beste über Sie gehört", hörte sie nun McQuaig wie durch einen Nebelvorhang sagen. „Was führt Sie in unsere Gegend?" „Geschäfte." Er schlenderte lässig zu einem Stuhl und warf seine Jacke über die Lehne. Dann verschränkte er die Arme über der Brust. „Ich habe gehört, Sie sind vertrauenswürdig. Meine Quelle ist kürzlich versiegt, und nun halte ich Ausschau nach Ersatz. Meine Kundschaft will schließlich regelmäßig bedient werden. Sind Sie interessiert?" Als sie die Stimme hörte, regte sich irgend etwas in Emmas Hinterkopf. Sie wußte, daß sie sie schon einmal irgendwo gehört hatte, doch sie kam nicht darauf, wo. Sie schaute auf die muskulösen Arme des Mannes, dann fiel ihr Blick auf sein energisches Kinn. Seine Haut glänzte und war glatt, anscheinend hatte er sich erst vor, kurzem rasiert. Sein ziemlich langes Haar hatte er im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. An seinem rechten Ohrläppchen baumelte ein feingliedriges goldenes Kettchen mit einem winzigen Kreuz daran. Es mochte Männer geben, die ein Pferdeschwanz und ein Ohrring feminin erscheinen ließen. Bei Primeau jedoch war das Gegenteil der Fall., Die weiblichen Attribute unterstrichen noch seine geradezu unverschämt zur Schau getragene Männlichkeit. „Ich kann Ihnen regelmäßige Lieferungen garantieren sagte McQuaig. „Mein Netzwerk ist unübertroffen." „Das habe ich gehört." „Die letzte Lieferung ist bereits verteilt. Aber gegen Ende der - 84 -
Woche bekomme ich Nachschub. Harvey", er deutete auf Emma, „bring sie raus.“ Emma fiel ein Stein vom Herzen. Ihr erschien es, als würde sie sich gleich in ihre einzelnen Bestandteile auflösen. Erst die Drohungen, gegen Simon und ihre darauffolgende Panik, die einhergegangen war mit Ratlosigkeit, und nun diese irrationale Reaktion auf diesen Drogendealer, der sich Primeau nannte. Er war das nächste Glied in der obszönen Kette, die letztendlich den Opfern den weißen Tod bringen würde. Bis jetzt hatte sie nur seinem Körper und seinem Gang Aufmerksamkeit geschenkt. Im Vorbeigehen jedoch fiel ihr Blick auf sein Gesicht. Er starrte sie an, und seine Augen waren... wunderschön. Sie hatten das klarste, strahlendste Blau, das sie jemals gesehen hatte. Sie waren umschattet von langen, dichten Wimpern und überwölbt von kühnen dunklen Augenbrauen. Seine Nase war schmal und gerade... Sie zwinkerte. Nein, das war unmöglich. Unmöglich. Die ausgeprägten Wangenknochen betonten die kleinen Vertiefungen darunter, die teilweise von einem Bart... Ihr stockte der Atem. Das war verrückt. Wahrscheinlich war sie vor Anspannung bereits übergeschnappt. Nein“ es konnte nicht sein. Seine schön geschwungenen Lippen öffneten sich zu einem Lächeln ohne jegliche Wärme. „Hallo, Süße." Sie starrte auf seine Lippen, deren Umriß sie kannte und deren Geschmack ihr plötzlich wieder auf der Zunge lag. Aber es machte keinen Sinn. Sie hatte diesen Drogendealer doch niemals vorher in ihrem Leben gesehen. Oder etwa doch? „Harvey, ich habe gesagt, du sollst sie rausschaffen.“ „Warum die Eile?" Der Mann, der sich Primeau nannte, stellte sich zwischen Emma und die Tür. „Eine schöne Frau wie sie schmückt den Raum, McQuaig. Gehört Sie Ihnen?" Emma spürte Ekel in sich aufsteigen. Sie versuchte, um den Mann herumzugehen, doch er reagierte blitzschnell und baute sich wieder vor ihr auf. McQuaig lachte schmutzig. „Primeau, darf ich Ihnen Emma Duprey - 85 -
vorstellen? Sie ist unsere Pilotin." „Sie? Eine Frau?" „Sie ist dafür verantwortlich, daß die nächste Lieferung wohlbehalten hier ankommt." „Sie arbeitet für Sie?" „Wir haben ein beiderseitiges Abkommen, stimmt’s Miss Duprey?" Ohne den Blick von dem Mann, der vor ihr stand, zu nehmen, nickte sie wie betäubt. Sie mußte sich irren. Es war schlicht unmöglich, der freundliche, sanfte Buchhalter würde niemals... Bevor sie ihr ausweichen konnte, schoß Primeaus Hand vor und legte sich wie eine eiserne. Klammer auf ihren Unterarm. Er brachte sein Gesicht ganz nah vor ihres, wobei seine unglaublich schönen Augen ihren Blick gefangennahmen. Da spürte sie es. Die Verbindung von Mann zu Frau – ähnlich der von Jäger und Wild. Das Gefühl der vergangenen Tage war plötzlich wieder da. Die Wahrheit traf sie wie ein Blitzschlag. Es war unmöglich. Und doch war es Bruce. Es war Bruce. In einem anderen Körper, mit einer anderen Wesensart, und doch war er es. Wie war so etwas möglich? Als sie überrascht den Mund öffnete, zog er sie eng an sich. „Spiel mit", flüsterte er ihr ins Ohr. „Sonst sind wir beide tot." Sie war wie zur Salzsäule erstarrt, nur ihr Puls raste. In ihrem Kopf wirbelte alles wild durcheinander. Er stieß sie von sich, wobei er sie jedoch weiterhin unverwandt anstarrte. Als er schließlich ihren Arm losließ und ihr mit den Fingerknöcheln aufreizend über die Wange strich, verzogen sich seine Lippen zu einem kalten Lächeln. Seine Berührungen erschienen ihr wie eine Parodie auf die Zärtlichkeiten, die er ihr während der vergangenen Tage geschenkt hatte. Er? Bruce? Wie? Warum? Sie fand sich nicht mehr zurecht. Sie wußte ja kaum, wie sie mit der Situation, in die sie ihr Bruder gebracht hatte, zurechtkommen sollte. Und nun auch das noch. Bruce - ja, Bruce griff nach ihrem Handgelenk, zog sie an sich und stellte sie vor sich hin, wobei er sie mit seinem Körper streifte. Diese winzige Berührung löste sofort wieder alle Empfindungen in ihr aus, - 86 -
die während der letzten Tage auf sie eingestürmt waren. Nein. Nein! „Was verlangen Sie für die Ware, McQuaig?" fragte Bruce. McQuaig lachte wieder sein dreckiges Lachen. „Von welcher Ware reden Sie, Primeau? Von der, die Sie in der Hand halten, oder von der Lieferung, die Sie Ende der Woche erhalten?" Bruce antwortete mit einem häßlichen Auflachen. „Ich rede vom Geschäft. Was ich hier vor mir habe, ist reines Vergnügen." Er nannte den Preis, den er für ein Kilo Kokain zu zahlen bereit war. McQuaig trieb den Preis noch etwas in die Höhe, wenig später waren sie sich einig. „Haben Sie was dagegen, wenn ich mir Ihre Pilotin für ein paar Stunden ausleihe, McQuaig?" „Falls Sie die Absicht haben, sie zu einem privaten Deal zu überreden, vergessen Sie’s“, gab McQuaig zurück. „Wir haben nur Leute, auf die wir uns hundertprozentig verlassen können, stimmt’s, Miss Duprey?“ Sie nickte widerstrebend. „Selbstverständlich." „Na, sehen Sie", sagte McQuaig an Bruce gewandt im Brustton der Selbstzufriedenheit. „Aber was sie mit ihrer Freizeit anstellt, interessiert mich nicht. Wir bleiben in Verbindung, Primeau. Harvey bringt Sie raus.“ Wie sie ins Freie gekommen war, wußte Emma nicht mehr. Erst als die kühle, feuchte Nachtluft ihr Gesicht streifte, fand sie sich an der Seite von Bruce, der neben ihr auf ihren blauen Pick-up zuging, wieder. Nicht weit davon entfernt stand ein glänzender schwarzer Wagen. Natürlich, dachte sie mechanisch, dieser Bruce hier fährt keinen alten verbeulten Lieferwagen, sondern eine Corvette. Bruce hielt sie noch immer am Arm fest und dirigierte sie zu seinem Wagen. „Die Show ist nur für Harvey", flüsterte er ihr dabei ins Ohr. Dann lockerte sich sein Griff für einen. Moment, doch bevor sie sich herauswinden konnte, packte er wieder fester zu. „Ein; paar Blocks von hier gibt’s ein nettes Lokal, Süße", sagte er laut genug um sicherzustellen, daß es Harvey, der noch in der Tür stand und ihnen nachsah, auch hören konnte. Sie hatte das Gefühl, gleich laut herausschreien zu müssen. Bruce, das bist du doch gar nicht. Ich weiß, daß du sanft bist und freundlich - 87 -
und warm. Wir haben uns meinen Nachtisch geteilt. Wir haben uns über Bücher unterhalten. Du hast mich in deinen Armen gehalten, als ich verzweifelt war. Du bist ein Mann, den ich... Er ließ ihren Arm sinken und strich ihr provozierend mit der Hand über ihren Po. Wieder erschien ihr die Geste wie eine Karikatur seiner früheren Zärtlichkeit. Emma spürte, wie etwas in ihr zusammenschrumpfte. Der Frieden, den sie an dem einsamen See in ihrer Blockhütte gefunden hatte, war dahin, ihre Freude am Fliegen war korrumpiert worden. Warum also sollte nicht auch das, was sie mit diesem zurückhaltenden Buchhalter geteilt hatte, eine Illusion gewesen sein? „Faß mich nicht an." Seine Lippen verzogen sich zu einem raubtierhaften Lächeln, als er sie an sich zog. „Es ist nicht nur wegen Harvey", stieß er leise zwischen den Zähnen hervor. „Um die Lagerhalle herum sind acht Männer postiert. Steig in dein Auto ein und fahr mir hinterher." Sie mußte den Kopf in den Nacken legen, um dem Fremden, der sie festhielt, in die Augen sehen zu können. Er war groß. Und stark. Er konnte nicht ihr Bruce sein. Aber er war es dennoch. Da er spürte, daß sie sich widersetzen wollte, packte er sie wieder am Arm und dirigierte sie zu seinem eigenen Wagen. „Okay, du willst es also auf die harte Tour", murmelte er, riß die Beifahrertür auf und gab ihr einen kleinen Schubs, so daß sie auf den Sitz fiel. Nachdem er die Tür zugeknallt hatte, ging er um die Corvette herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Der Motor erwachte mit einem kraftvollen Brummen zu Leben. „Nein", stieß sie hervor und griff nach dem Türgriff. „Ich werde mit dir nirgendwohin fahren." Wortlos drückte er den Knopf der Zentralverriegelung herunter, legte einen Gang ein und fuhr los, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Während der Fahrt hüllte er sich in Schweigen. Nur wenige Minuten später hatten sie das Industriegebiet von Bangor, in dem, die Lagerhalle lag, hinter sich gelassen und kamen in eine Gegend, deren Straßen von neonbeleuchteten Bars und Hotels gesäumt waren. Ohne Vorwarnung machte er plötzlich abrupt einen U-Turn und bog dann - 88 -
in, eine stillere Seitenstraße ab, wo er den Wagen am Bordstein zum Halten brachte. „Okay, das dürfte genügen sagte er und wandte ihr sein Gesicht zu. In dem schummrigen Licht des Armaturenbretts wirkten seine Züge hart und bedrohlich. „Zuerst möchte ich dir sozusagen von Profi zu Profi zu deinen wirklich ganz hervorragenden Verstellungskünsten gratulieren. Du hast mir in den letzten Tagen die beste Show geliefert, die ich je gesehen habe. Herzlichen Glückwunsch." Nein, dachte sie angesichts seines kalten, zynischen Tonfalls. Das war nicht Bruce Stimme. Bruce war sanft, warm und verständnisvoll. Hilflos schüttelte sie nur wieder und wieder den Kopf, ehe es ihr gelang, die Frage, die ihr am meisten auf den Nägeln brannte, zu formulieren. „Wer bist du?" „Hör auf, die verletzte Unschuld zu spielen, Emma. Das zieht nicht mehr. Ich habe dich mit McQuaig gesehen, und du hast freimütig zugegeben, daß du für ihn fliegst, noch bevor dir bezüglich meiner Person ein Licht aufgegangen ist." „Aber ich..." „Genug Lügen, Emma. Es ist zu spät. Von jetzt an werde ich wirklich nur noch stur geradeaus schauen und meinen Job machen. Und zum Teufel mit dir und deinem Körper und mit dem, was ihr beide in mir auslöst." Er hob die Hand, griff unsanft nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf so, daß sie gezwungen war, ihm, in die Augen zu blicken. „Ein weiteres Mal werde ich dir nicht vertrauen. Fast hätte ich wegen dir die ganze, Operation über den Haufen geworfen, aber das passiert mir nicht noch einmal." Sie riß den Kopf zurück. „Wovon redest du eigentlich?" „Spielt keine Rolle. Auf jeden Fall kannst du versichert sein, daß ich mich dir wie Leim an die Fersen heften und dich nicht aus den Augen lassen werde, bis alles vorüber ist, Süße." Er muß verrückt sein, dachte Emma. Was er sagte, machte überhaupt keinen Sinn. Die ganze Situation machte keinen Sinn. Als ihr plötzlich die Telefonnummer wieder einfiel, die Bruce ihr zum Abschied dagelassen hatte, nahm ihre Verwirrung zu. Warum hatte ihr ausgerechnet ein Drogendealer geraten, sich an die Polizei zu wenden? - 89 -
Polizei? Die jähe Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Blitz. Sie hatte die einzig mögliche Antwort gefunden. Nein. Oh, Gott, nein! Nicht Bruce. Und doch gab es keine andere Erklärung. Er hatte sie belogen. Er hatte diese lächerliche Maskerade einzig zu dem Zweck aufgeführt, um sie zu täuschen. Er hatte sich in ihr Vertrauen eingeschlichen, ihr Freundschaft vorgegaukelt, sie sogar geküßt, nur um sie zu auszuhorchen. Und sie, naiv wie sie war, hatte sich ihm bereitwillig geöffnet und sich und ihren Bruder preisgegeben. Sie musterte dieses schöne Gesicht, das sich jetzt ganz nah vor dem ihrem befand. Und in diesem Moment spürte sie, wie die Zärtlichkeit, die sie für ihn empfunden hatte, zu verdorren begann. „Du bist ein Cop", sagte sie schließlich hölzern. „Richtig." Hätte er die Hand ausgestreckt und sie geschlagen, es wäre nicht schlimmer gewesen für sie. „Prendergast oder Primeau?" „Prentice. Bruce Prentice." „Ein Bulle bist du also. Ein verdammter Bulle." Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Autotür, während sie spürte, wie heiße Tränen in ihre Augen stiegen. Ob es Tränen des Zorns, des Schmerzes oder der Verzweiflung waren, wußte sie nicht, und es war ihr auch egal. Das einzige, was sie wußte, war, daß sie es nicht zulassen würde, ihnen freien Lauf zu lassen. Er würde sie nicht weinen sehen. Nie mehr. „Ein verdammt guter Bulle, bis ich dich getroffen habe." „Ein verlogener, schleimiger, dreckiger..." „Was auch immer du von meinem Job halten magst, er ist zumindest noch um Längen sauberer als deiner." „Ich bin keine ..." „Oh, nein. Noch einmal falle ich auf deine Märchen nicht herein. Fast hätte ich dir deine Lügen abgekauft, aber Gott sei Dank nur fast. Wie lange hast du deine Finger schon in diesem dreckigen Geschäft?" Sie biß die Zähne aufeinander, um zu verhindern, daß ihr Kinn zu zittern begann. - 90 -
„Und was war das für eine Geschichte mit deinem Bruder? Schickt er sich an, in die Fußstapfen seiner großen Schwester zu treten? Ist dir plötzlich zu Bewußtsein gekommen, in was du ihn da reingezogen hast?" Sowie die Sprache auf ihren Bruder kam, wurde sie von einer neuerlichen Angst gepackt. Bruce war ein Cop. Was wenn McQuaig ihm auf die Schliche kam? Er würde glauben, daß sie, Emma, Bruce auf ihn angesetzt hätte. Sie hatten gesagt, daß sie Simon umbringen würden, falls sie es wagen sollte, die Polizei einzuschalten. Bruce Einmischung konnte Simon das Leben kosten. Bruce würde ihr nicht glauben, daß sie unschuldig war. Und ihre Unschuld zu beteuern wäre gleichbedeutend mit einem Eingeständnis von Simons Schuld. Das konnte sie nicht tun. Die Polizei hatte schon genug Unglück über ihre Familie gebracht, und dieser Cop hier neben ihr war mit Sicherheit keine Ausnahme. Wie konnte sie nur einen Gedanken daran verschwenden, ihm die Wahrheit zu erzählen? Er hatte sie von Anfang an belogen, hatte sich unter einem falschen Namen und in einer Verkleidung in ihr Vertrauen eingeschlichen. Die Nähe, die sie in seiner Gegenwart empfunden hatte, war nichts als eine Lüge gewesen. Ihre Gefühle für ihn hatten auf einer Illusion basiert. „Ich habe dich etwas gefragt, Emma." Sie starrte in diese blauen Augen, aus denen alle Güte und Wärme verschwunden waren, und musterte den Mann, von dem sie geglaubt hatte, sie würde ihn zumindest ein bißchen kennen. Sie erinnerte sich an ihre Mutter und ihren Vater und ihre verlorenen Träume. Und dann tat sie dasselbe, was sie mit achtzehn getan hatte, als die Welt um sie herum wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war - sie straffte die Schultern. „Geh zum Teufel, Bruce."
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7. KAPITEL Bruce legte den Telefonhörer auf und blickte Emma wachsam an. Oder besser gesagt ihren Rücken. Sie stand mit erhobenem Kopf, das Kinn kämpferisch vorgereckt, in ihrem rostfarbenen, leicht zerknitterten Leinenkostüm am Fenster. Seit sie aus Bangor zurückgekehrt waren, stand sie nun schon so da, rührte sich nicht von der Stelle und starrte durch die Dunkelheit hinaus auf den stillen See. Obwohl sie ohne Widerworte seinen Anweisungen gefolgt war, nachdem er sie nach ihrem Gespräch vor der Lagerhalle abgesetzt hatte, damit sie ihren Wagen holen konnte, ließ er sie dennoch nicht aus den Augen. Noch einmal unterschätzen würde er sie ganz gewiß nicht. Er warf einen letzten Blick auf ihren Rücken, bevor er sich bückte und den Telefonstecker herausriß. Sie wirbelte herum. „Was soll denn das?" „Na, was glaubst du wohl?" Er nahm das Telefon, umwickelte es mit dem Kabel und ging dann damit zum Schreibtisch, wo er das Modem außer Betrieb setzte. Mit Telefon und Modem ging er in ihr Schlafzimmer, wo sich ein Zweitapparat befand. Er bückte sich, um hier ebenfalls den Stecker aus der Dose zu ziehen. „Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht die Absicht habe, mich mit McQuaig in Verbindung zu setzen", hörte er Emma hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er sie mit ausdrucksloser Miene in der Tür stehen. „Deine Sicherheitsvorkehrungen sind vollkommen überflüssig." „Was überflüssig ist und was nicht, entscheide allein ich." „Warum legen Sie mir nicht einfach Handschellen an, Mr. Policeman?" „Ich denke, für den Moment reicht es, das Telefon stillzulegen, aber ich werde zu gegebener Zeit auf Ihr Angebot zurückkommen, Miss Duprey. Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten und drehte sich auf dem Absatz um, wobei sie irgend etwas Unverständliches in sich hineinmurmelte. Bruce folgte ihr ins Wohnzimmer, wo er die beiden Telefone sowie das Modem in eine Reisetasche, die er aus seinem Auto mitgebracht - 92 -
hatte, stopfte. Heute durfte sie keinesfalls mehr telefonieren, und morgen würde er die Apparate wieder anschließen, so daß McQuaig Kontakt mit ihr aufnehmen konnte. Als er den Reißverschluß der Tasche zuzog, zitterten seine Finger. Der Zorn, der in dem Moment, in dem er Emma durch die Glasscheibe hindurch erkannt hatte, in ihm aufgeflammt war, war noch immer nicht verraucht. Mit ihrer sorgfältig gestylten Frisur und dem maßgeschneiderten Kostüm hatte sie sich als genau die coole, berechnende Geschäftsfrau zu erkennen gegeben, die sie war. Oh, nein, noch einmal würde er sich von ihr nicht einwickeln lassen. „Ich denke, wir sollten ein paar Dinge klarstellen." „Bin ich verhaftet?" „Noch nicht." „Dann wäre es mir lieb, wenn du jetzt die Güte hättest zu gehen." „Erst wenn ich mit dir fertig bin." „Was soll das denn heißen?" Er ging hinüber zu einem der Sessel, auf dem sich allerlei Bücher und Zeitschriften türmten, und ließ sich auf der Lehne nieder. „Setz dich“, befahl er und deutete auf die Couch. Mit trotzigem Blick starrte sie ihn an, hob dann langsam die Hand und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger. „Emma, wenn du die Dinge weiter verkomplizieren willst, nur zu. Es liegt bei dir. Interessiert es dich gar nicht, was ich vorhabe?" „O ja. Aber natürlich, Mr. Police...“ „Wenn du nicht sofort damit aufhörst, schiebe ich dir einen Knebel zwischen die Zähne." Anstatt sich auf die Couch zu setzen, zog sie einen der Eßtischstühle heran, trug ihn in die Mitte des Zimmers und nahm in der hoheitsvollen Pose einer Prinzessin, die auf einem Bankett den Vorsitz führt, darauf Platz. Dann faltete sie die Hände, legte sie in den Schoß und sah ihn erwartungsvoll an. Gott helfe ihm, aber er wollte Ihr den Mund nicht mit einem Knebel verschließen, sondern mit seinen Lippen. Selbst jetzt, wo er sich über das Spiel, das sie spielte, im klaren war, gab es noch immer einen von seinem Verstand nicht kontrollierbaren Teil in ihm, der ihn fast zu zwingen schien, die Herausforderung, die sie darstellte, um jeden - 93 -
Preis anzunehmen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf den Plan zu konzentrieren, den er mit Xavier ausgeheckt hatte. „Ich weiß, daß du mit deinem Flugzeug für die McQuaig-Leute Kokain ins Land schmuggelst, Emma. Du wirst hoffentlich nicht deine Zeit damit verschwenden wollen, das zu bestreiten, oder?" Sie bedeutete ihm mit einer hoheitsvollen Geste fortzufahren. „Ich bin hinter den Drahtziehern her." „Hinter den großen Fischen", korrigierte sie bissig. „So hast du es zumindest vor ein paar Tagen ausgedrückt, wenn ich mich recht erinnere. Wirklich sehr witzig." „Wenn du dich bereit erklärst, mit uns zusammenzuarbeiten, würde dir das die Sache wesentlich erleichtern. Ich habe nicht die Absicht, mich einzumischen, wenn die nächste Fuhre Koks ins Land kommt. Ich will, daß du die Nummer genauso abziehst wie üblich." Sie verengte die Augen. „Was?" „Du hast mich genau verstanden." „Warum?" „Das habe ich bereits gesagt. Ich bin hinter den Drahtziehern her." „Und mich willst du als Köder benutzen." „So kann man es sagen." „Du weißt von der Lagerhalle, und du hast McQuaig und Harvey getroffen. Warum verhaftest du sie nicht einfach?" „Weil ich hieb- und stichfeste Beweise brauche, die vor Gericht auch wirklich standhalten." „O ja. Das Gesetz und euer großartiger Rechtsstaat." Sie schlug die Beine übereinander, wobei ihre Seidenstrümpfe knisterten. „Du willst sie, auf frischer Tat ertappen. Deshalb hast du. darauf bestanden, den Stoff vorher zu testen, und deshalb auch diese jüngste Maskerade. Was hast du doch irgendwann mal gesagt? Wir haben alle unsere guten Gründe für unsere tagtäglichen Maskeraden? Tatsächlich eine sehr passende Bemerkung, jetzt wo ich weiß, um wen es sich bei dir handelt." „Was auch immer deine Gründe für die dreckigen Geschäfte, in die du dich hast verwickeln lassen, sein mögen, ich werde dafür sorgen, daß dir das Handwerk gelegt wird. Allerdings nicht bevor ich mir dein Wissen zunutze gemacht habe. Also mach einfach alles so wie - 94 -
sonst auch." „Vielen Dank für deine Großzügigkeit." Mit Absicht zog sie, das gespannte Schweigen, das plötzlich zwischen ihnen entstanden war, in die Länge. „Und was wird aus mir, wenn du das hast, was du wolltest?" „Ich kann dir einen Deal anbieten. Wenn du bereit bist, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, wird dein Strafmaß um einiges geringer ausfallen." Wieder senkte sich Schweigen über den Raum. Die Knöchel an ihren gefalteten Händen traten weiß hervor. „Völlig inakzeptabel. Ich will den Anteil, den mir McQuaig zugesichert hat, und freies Geleit. Wenn du mir eine Stunde gibst, nachdem ich das Kokain abgeliefert habe, reicht mir das völlig." „Vollkommen lächerlich." „Wie du willst. Dann sehe ich leider keinerlei Grundlage für eine Zusammenarbeit. Überleg’s dir gut - mein Angebot steht." „So.“ „Ach ja, es gibt noch etwas. Halt meinen Bruder aus der Sache raus, verstanden? Er hat nichts damit zu tun." „Warum sollte ich dir eine Stunde geben, noch bevor wir zum Zug gekommen sind? Das wäre glatter Selbstmord. Du bräuchtest nur..." „Keine Angst, ich habe nicht die Absicht, jemanden zu warnen. Ich verspüre keinerlei Loyalität gegenüber diesen Leuten. Es ist ein Geschäft für mich, nichts weiter. Wenn dieses Pack im Knast landen würde, würde ich keinem von ihnen eine Träne nachweinen, das kannst du mir glauben. Das einzige, was mich interessiert, ist, was aus meinem Bruder wird. Und aus mir selbst natürlich." „Gib mir eine Minute. Ich. muß darüber nachdenken." Emma stand auf, nahm ihren Stuhl und stellte ihn an den Tisch zurück. Dann stützte sie ihre Hände auf die Tischkante und starrte auf das blank polierte Holz. Ihre nach außen zur Schau getragene Überlegenheit war der blanke Hohn. In ihrem Inneren brodelte es. Sie mußte ihre Gedanken ordnen. Was ihr jedoch nicht möglich war, solange sie Bruce hartes, kompromißloses Gesicht mit den zusammengepreßten Lippen vor sich hatte. Es war vollkommen überflüssig gewesen, die Telefone aus den Steckdosen zu reißen, nur - 95 -
um ihr auf diese Weise sein Mißtrauen zu demonstrieren. Es kam allein in seiner Körperhaltung allzu deutlich zum Ausdruck. Sie hob den Kopf und blickte durch ihr Spiegelbild, das die Fensterscheibe reflektierte, hinaus in die Dunkelheit. Vielleicht würde ja alles gar nicht so schlimm werden, wie sie befürchtete. Sie mußte nur diese eine Schmuggeltour hinter, sich bringen; und dann war Simon wieder frei. Mittlerweile war es ihr egal, was Bruce von ihr dachte, solange es nur eine Gewähr dafür gäbe, daß sie bekam, was sie wollte. Sag ihm die Wahrheit. Sie biß die Zähne zusammen, um den plötzlichen Schwächeanfall, zu bekämpfen. Simon zuliebe durfte sie Bruce gegenüber kein Wort über die Zwickmühle, in der sie sich befand, verlauten lassen. Sie war es ihrem Bruder schuldig. Als sie eine Bewegung hinter sich hörte, drehte sie sich um. Bruce war aufgestanden und stand, mit den Händen eine Stuhllehne umklammernd, da und starrte ins Leere. Die Stehlampe hinter der Couch tauchte, seine Gestalt in ein weiches Licht. Emma konnte den leisen Lustschauer, der ihr bei seinem Anblick den Rücken hinunterrieselte, nicht unterdrücken. Mit diesen hautengen schwarzen Jeans und dem Unterhemd, das mehr von seinem Oberkörper enthüllte als verbarg, erschien ihr Bruce wie ein geschmeidiger Tiger kurz vor dem Sprung. Ihr Zorn flammte wieder auf. Er hatte sie belogen und benutzt und sie mit seiner Schöntuerei dazu gebracht, ihn zu mögen. Sie war eine Idiotin, eine vertrauensselige Idiotin. „Ich nehme dein Angebot an." Er hatte sich umgewandt und versuchte sie mit Blicken festzunageln. Sie hielt stand. „Gut. Ich hoffe, du hältst dich an unsere Abmachungen.“ „Scheint so, als würde dein Verhalten das altbekannte Sprichwort wieder mal bestätigen.“ „Und das lautet?" „Daß es zwischen Ganoven keine Ehre gibt", erwiderte er, wobei Befriedigung in seiner tiefen Stimme mitschwang. „Ehre?" wiederholte sie höhnisch und machte einen Schritt auf ihn - 96 -
zu. „Du, ausgerechnet du, redest von Ehre?" Sie spürte, daß ihr Vorrat an eiserner Selbstbeherrschung dahinschmolz wie Butter unter der Sonne. Was er ihr als Bruce Prendergast angetan hatte, war unverzeihlich. Er hatte mit ihren Gefühlen gespielt. „Eine Frage noch, Mr. Ehrenwert Policeman, rechnen Sie eigentlich Überstunden ab, wenn Sie Ihre Tatverdächtigen küssen?“ „Selbstverständlich nicht." „Ich hoffe aber doch, daß Sie alle vertraulichen Gespräche sorgfältig protokolliert haben." Ihre Augen schleuderten Zornesblitze. „Hoffentlich hattest du gestern einen Kassettenrekorder dabei, um auch alles genau aufzuzeichnen. Vor allem den Teil des Gesprächs, in dem ich versucht habe, dich davon zu überzeugen, daß du gut aussiehst. Dafür müßtest du eigentlich von deinem Arbeitgeber eine Sonderzulage bekommen." Bruce vermeinte, in ihren ätzenden Worten eine Spur von Schmerz mitschwingen zu hören, aber er versuchte es zu ignorieren. Diese Frau hatte ihn schon zu oft zum Narren gehalten. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Weder berechne ich Überstunden, noch bekomme ich Sonderzulagen. Und wenn ich mich recht erinnere, bist du diejenige gewesen, die den ersten Schritt über unsere Freundschaft hinaus unternommen hat.“ „Freundschaft? Du scheinst eine sehr verdrehte Vorstellung davon zu haben, was dieses Wort bedeutet. Du hast mich von Anfang an benutzt. Sehr geschickt allerdings, das muß ich dir lassen. Die Masche des ungelenken, schüchternen Touristen hat bei mir hervorragend gezogen, du solltest sie dir für andere Fälle gut aufheben. Sie geht irgendwie ans Herz, verstehst du?" Sie ging auf ihn zu, hob die Hand und berührte mit ihrem -Zeigefinger seinen Ohrring. „Wie hast du das angestellt, Bruce? Verrat es mir. Wie hast du es geschafft, diesen Macho hier so gut unter Prendergasts ausgebeultem Jackett zu verstecken?" „Körperpolster. Und Kontaktlinsen." „Aha." Sie musterte ihn. „Heute sind deine Augen blau. Strahlend blau geradezu. Sieht besser aus als das schmutzige Braun, das du vorher hattest. Ist die Farbe diesmal echt?" „Ja." - 97 -
„Mein Kompliment. Und die Muskeln? Sind die auch echt?" Sie piekste ihm mit dem Zeigefinger in den nackten Oberarm. „O ja, natürlich sind sie das. Und ich dachte, du hättest Komplexe, wegen deiner Figur und würdest deshalb ständig so weite, unförmige Klamotten tragen." Die Berührung, ihre körperliche Nähe und ihre ungezügelte Wut verfehlten ihre Wirkung nicht. Bruce fühlte sich mit seiner Selbstbeherrschung am Ende. „Das reicht, Emma." Herausfordernd fuhr sie ihm mit ihren Fingerknöcheln langsam über die Wange. Er erkannte die Geste wieder. Es war die gleiche, mit der er sie in der Lagerhalle berührt hatte. „Den Bart abzunehmen war eine gute Idee. Eine ganz entscheidende Verbesserung", fuhr sie ätzend fort. „Und das Haar zu diesem modischen Pferdeschwanz nach hinten zu kämmen kann man nur als echte Inspiration bezeichnen. Steht dir gut, wirklich. Und dieser Gang! Wie lange hast du ihn einüben müssen? Schließlich gelingt es nicht jedem so gut, sich derart provokant in den Hüften zu wiegen." „Hör auf, Emma", warnte er. „Ich denke überhaupt nicht daran. Du hast deinen Spaß gehabt, jetzt bin ich dran." Sie stützte die Hände in die Hüften, hob den Kopf und maß ihn langsam, die Mundwinkel spöttisch nach oben gebogen, von Kopf bis Fuß. „Du bist wie groß? Weit über einsachtzig, schätze ich. Du Armer, mußtest den ganzen Tag mit krummen Schultern rumrennen. Hoffentlich hast du dir keinen bleibenden Schaden zugezogen. Jetzt allerdings wird mir klar, warum du nie wolltest, daß ich dich anfasse. Die Polsterung. Armer Prendergast! Kein Wunder, daß er seinen Urlaub immer allein verbringen muß." Er sah die Gefahr heraufziehen. Gleich würde einer von ihnen beiden explodieren. Was dann geschehen würde, konnte er sich sehr genau ausmalen. Er versuchte ein weiteres Mal, die Vernunft walten zu lassen. „Es ist spät. Du solltest zu Bett gehen.“ „Soll ich dir mal was Lustiges sagen? Ich hatte gerade angefangen, diesen Prendergast wirklich zu mögen. Obwohl er zu dick war und trotz dieser scheußlichen Baseballkappe, die er ständig trug. Und trotz seines ungeschickten Benehmens. Wenn wir uns geküßt haben, spielte das alles keine Rolle mehr." Sie maß ihn mit einem Blick, der - 98 -
wahrscheinlich sogar Stahl zum Schmelzen gebracht hätte. „Aber leider existiert er gar nicht. Und was diesen herumstolzierenden Gockel des Monats hier anbelangt, bin ich mir ganz sicher, daß ich ihn von A bis Z widerlich finde." Und er hatte sich die ganze Zeit über gefragt, wie er auf sie wirken würde, wenn sie ihn so sehen könnte, wie er wirklich war. Wie oft hatte er ihn den vergangenen Tagen halbnackt im Badezimmer vor dem Spiegel gestanden und sich gewünscht, daß sie wüßte, daß er nicht dieser Fettkloß war, der zu sein er vorgab? Nun wußte sie es. Und alles, was er in ihren Augen lesen konnte, war Abscheu. Er schluckte seine Enttäuschung hinunter und ging zum Angriff über. „Da du dich jetzt schon mal so köstlich amüsierst, darf ich dir vielleicht auch sagen, daß mir die freundschaftliche Beziehung, die Prendergast zu dir aufgebaut hat, wirklich von Nutzen war. Ich hätte es weidlich ausschlachten können, wenn ich nur gewollt hätte. Aber ich Trottel habe darauf verzichtet und mich in Primeau verwandelt. Wegen dir habe ich fast meine gesamte Ermittlungsarbeit in den, Sand gesetzt. Und wenn du nun sagst, daß du mich widerlich findest, muß ich dir an diesem Punkt leider gestehen, daß es mir mit dir nicht anders geht." Sie zwinkerte, hielt aber seinem Blick stand. „Gut so. Im Vergleich zu dem Macho Primeau erscheint mir Prendergast geradezu als Idealliebhaber, Süßer." Er, war mit seiner Beherrschung am Ende. Grob packte er sie am Arm und zog sie näher zu sich heran. „Du stehst wohl auf Softies, wie? Willst du einen Mann, für den du nur Mitleid empfindest, der dich nicht herausfordert und keine eigenen Bedürfnisse hat?" „Ich will überhaupt keinen Mann", stieß sie atemlos hervor. „Und dich schon gar nicht." „Du hast Prendergast gemocht. Das war ich, Emma. Meine Lippen waren es, die dich geküßt haben, meine Zunge hat deine gestreichelt." „Nein. Es war eine Lüge. Alles, was du gesagt und getan hast, war eine Lüge." „Nicht alles." Als er den Arm um sie legte und sie an sich zog, blinkten in seinem Kopf sämtliche Alarmsignale auf, aber sein - 99 -
Verstand war machtlos. „Das bin ich." Er spreizte seine Finger über ihrem Po, preßte sie noch enger an sich und schob seine Hüften vor. „Und das bin ich auch. Ich bin sowohl ein Cop als auch ein Mann." Ihren Körper durchlief ein Zittern. „Ich verabscheue dich." „Ich weiß.“ Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und versuchte ihn wegzudrücken. „Du hast mich benutzt." „Auch das weiß ich. Und ich bin noch nicht fertig mit dir." Er spürte ihre Fingernägel, die sich in seine Schultern eingruben. „Aber das hier hat nichts mit meinem Job zu tun. Von dem Moment an, in dem du über den Hügel auf mich zugekommen bist, habe ich dich begehrt. Sexuelle Anziehungskraft, Emma. Einfach nur Sex. Ich muß dich nicht mögen, um dich zu begehren." „Du ekelst mich an." „Und du bist eine Lügnerin." Er verstärkte seinen Griff und zog sie an seine Brust. Durch den Stoff ihres Leinenkostüms hindurch spürte er ihre festen, warmen Brüste, die sich unter ihren fliegenden Atemzügen schnell hoben und senkten. Und jeder Atemzug, den sie tat, brachte sie einander näher. Bruce spürte ihr Zittern und war sich sicher, daß es nicht von ihrem Zorn herrührte. „Ich habe dir gesagt, daß ich bereit bin, mit dir zu kooperieren. Es ist nicht erforderlich, die Verführermasche einzusetzen. Oder versuchst du, dir noch ein paar zusätzliche Lorbeeren einzuheimsen?" „Hat dir die Art, wie Prendergast dich geküßt hat, gefallen, Emma?" „Nein." „Lügnerin. Du warst doch ganz wild darauf, du konntest ja gar nicht genug bekommen. Und du hast versucht, mich anzufassen. Also los, jetzt kannst du es, mach schon. Finde heraus, was ich unter meinen ausgebeulten Klamotten verborgen hatte." Sie ließ von seinen Schultern ab und lehnte sich nach hinten, aber er gab keinen Millimeter nach. Plötzlich flammte an der Stelle, wo ihre Unterkörper fast miteinander verschmelzen zu schienen, eine alles verzehrende Hitze wie eine Stichflamme empor. Emma öffnete in einem stummen Schrei die Lippen und schnappte nach Luft. - 100 -
„Du hast mich gefragt, ob ich mir nicht ein Rückenleiden zugezogen habe von dieser geduckten Haltung", sagte er und seine Stimme klang heiser. „Mein Rücken war nicht mein einziger Körperteil, der mir jeden Abend wehgetan hat." In den Tiefen ihrer Augen lauerte Zwiespältigkeit. „Red keinen Unsinn. Du hast nur deine Rolle gespielt, das war doch alles nur Vortäuschung falscher Tatsachen." Er wünschte zu Gott, daß es so gewesen wäre. Dann hätte er wenigstens nicht die Schwierigkeiten auf dem Hals, denen er sich jetzt gegenübersah. Es war mehr als fünf Jahre her, seit eine Frau es vermocht hatte, Gefühle in der Art in ihm zu erwecken, wie Emma das tat. Er machte einen Schritt vor und bog ihren Kopf noch weiter nach hinten. „Ist eine verteufelte Situation, in der wir da beide stecken, findest du nicht auch? Ich bin verrückt nach dir, und wenn mich nicht alles täuscht, bist du um keinen Deut besser dran. Aber wir stehen auf verschiedenen Seiten und kämpfen gegeneinander. Jeder verabscheut das, was der andere repräsentiert." Ihr Haar schwang hin und her, als sie die Arme hob, um sie um seinen Hals zu legen, weil sie befürchtete, jeden Augenblick das Gleichgewicht zu verlieren und hintüber zu kippen. „Der letzte Teil deiner Ausführungen ist vollkommen zutreffend.“ „Und der erste auch." Der Schauer, der ihren Körper durchlief, war die Antwort. Worte waren überflüssig. Mit einer Heftigkeit, über die er erschrocken wäre, hätte er nur darüber nachgedacht, preßte er seine Lippen auf ihren Mund. Der Kuß war hart und besitzergreifend und hatte nichts von der Zärtlichkeit seiner früheren Küsse. Er sah ihr dabei in die Augen, und die rasende Wut, die ihren Blick plötzlich verschleierte, brachte ihn fast um den Verstand. Er spürte auch noch den letzten kläglichen Rest seiner Selbstkontrolle dahinschwinden. Und dann überraschte sie ihn. Wieder einmal. Wie schon so oft. Ihr Griff um seinen Hals verstärkte sich, ihre Fingernägel gruben sich tief in sein Fleisch und sie erwiderte seinen Kuß mit derselben Heftigkeit. Sie nahm ohne zu geben, benutzte Lippen, Zähne und Zunge. Es war ein Kuß der puren Lust, jenseits aller Gefühle, hitzig, - 101 -
doch ohne jegliche Wärme. Abrupt beendete er den Kuß und starrte in ihr angespanntes Gesicht, versuchte in diesen empfindsamen schönen Zügen, die seit einer Woche in seinem Kopf herumspukten, zu lesen. Sein Herz klopfte wie ein Schmiedehammer, und seine Lungen schrien nach Luft. Was hatte er sich mit diesem Kuß beweisen wollen? Er hatte doch schon die ganze Zeit über gewußt, wie sehr er sie begehrte. Genausogut wie er wußte, daß er sie nicht haben konnte. „Du Dreckskerl" flüsterte sie, schlängelte sich aus seinem locker gewordenen Griff heraus und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Hand zur Faust geballt holte sie aus. Er sah den Schlag kommen. Den Bruchteil einer Sekunde lang erwog er, nicht auszuweichen er sollte bekommen, was er verdient hatte. Doch dann überwog sein instinktives Verhalten, und er duckte sich geistesgegenwärtig. Sie trat einen Schritt zurück. „Verschwinde.“ „Nein." „Wage es nicht, mich noch mal anzufassen", sagte sie kalt. „Ich kann dich nicht mehr sehen, du widerst mich an. Mach, daß du raus kommst!" „Noch nicht." „Wir haben unsere Abmachung getroffen, was also willst du noch mehr? McQuaig und Harvey werden kein Sterbenswörtchen von mir erfahren, es gibt also keinen Grund für dich, dich noch länger hier rumzudrücken." Nur mit letzter Anstrengung gelang es Bruce, seine zerbröckelte Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Der Job, ermahnte er sich. Der Job hatte Priorität, nicht die Frau. „Der Grund, weshalb ich nicht gehen kann, ist ganz simpel, Emma. Ich traue dir nicht mehr über den Weg. Ich habe einmal, einen Fehler gemacht, und einen zweiten kann ich mir einfach nicht mehr leisten. Bis dieser Fall abgeschlossen ist, werde ich dir nicht mehr von der Seite weichen. Und deshalb werde ich jetzt auch bleiben." „Das Wort Vertrauen aus deinem Mund zu hören, mutet mich ziemlich seltsam an, das muß ich schon sagen. Was glaubst du, woher ich eigentlich wissen soll, ob ich auch wirklich das bekomme, - 102 -
was du mir versprochen hast?" Er zuckte nur die Schultern. „Ich, werde hier auf der Couch schlafen." Emma preßte wütend die Kiefer aufeinander. „Zumindest brauchen Sie sich nicht damit aufzuhalten, mich in mein Schlafzimmer einzuschließen, Mr. Policeman. Ich werde den Riegel von innen vorschieben, falls es recht ist." Plötzlich lag ihm eine Entschuldigung für sein Verhalten auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Er bereute es nicht, sie in den Armen gehalten und geküßt zu haben. Er hatte jede Sekunde ihrer wütenden Umarmung genossen, und das einzige, was er bedauerte war, daß sie nicht weitergegangen waren. Wie gern hätte er sie in ihr breites Doppelbett mit der bequem aussehenden Matratze getragen, wie sehnte er sich danach, den süßen Schmerz, den ihm ihre Fingernägel und Zähne beschert hatten, überall auf seinem Körper zu spüren. Wie sehr bedauerte er es, ihr nicht ihr seriöses Kostüm vom Leib reißen zu können, um anschließend im Taumel der Leidenschaft auf ihr Bett zu sinken und mit ihr all das zu tun, wovon er seit einer Woche träumte. Bruce stieß innerlich einen lauten, lang anhaltenden Fluch aus und wandte sich ab. „Verriegle deine verdammte Tür, Emma. Aber mach schnell."
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8. KAPITEL „Was machst du denn da unten?" Emma zuckte zusammen, als sie die tiefe Stimme hinter sich hörte. Sie kauerte am Ende des Anlegers und war gerade dabei, notdürftig mit Lack und Pinsel die Schrammen an der Cessna auszubessern, weil sie befürchtete, daß die Maschine rosten würde, wenn sie sie noch länger in dem alten Zustand beließe. Dem Kanister, der geöffnet neben ihr auf den Holzbohlen stand, entströmte ein beißender Farbgeruch. Sie wandte sich um und schaute über die Schulter auf Bruce, der langsam mit federnden Schritten und wiegenden Hüften näherkam. Er trug Prendergasts Sneakers, sein Gang jedoch war zweifellos der von Primeau. „Okay, für wen hast du dich heute entschieden - für Prendergast oder Primeau? Wie soll ich dich nennen?" Das lebhafte Blau seiner Augen glitzerte wie Gletschereis. „Bruce", gab er knapp zurück. „Okay, dann eben Bruce. Soll mir recht sein." „Wie viele Kisten Koks pflegst du in der Regel zu transportieren, Emma?" Sie biß sich auf die Unterlippe und starrte ihn an. „Warum?" „Weil ich die Absicht habe, mitzufliegen, und gern wissen möchte, ob noch ein Plätzchen für mich frei ist." Rasch zählte sie im Kopf die Anzahl der Kisten nach, die Simon das letztemal in seinen Wagen verladen hatte. „Hm. Wir könnten die Campingsachen hierlassen." „Was für Campingsachen?" „Simon bleibt immer über Nacht, wenn er...“ Sie unterbrach sich. Vorsicht. Das war etwas, das Bruce nichts anging. Doch der war sofort hellhörig geworden. „Warum hast du eigentlich deinen Bruder in diese kriminellen Machenschaften mit reingezogen, Emma?" fragte er lauernd. Fast hätte sie sich verplappert. Sie mußte sich wirklich mehr in acht nehmen. „Du bist zu neugierig. Halt dich gefälligst an unsere Abmachungen. Simon bleibt außen vor." Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Dann drehte er sich abrupt - 104 -
um und ging zum Haus zurück. Sie blickte ihm nach. Seltsam. Sein Gang hatte weder mit Prendergasts schrecklichem Schlurfen etwas gemein noch mit Primeaus arrogantem Stolzieren. Bruce bewegte sich mit der natürlichen Eleganz eines Mannes, der sich seiner selbst vollkommen sicher ist. Emma seufzte. Ob Cop oder nicht, irgend etwas an ihm faszinierte sie, selbst wenn sie es am liebsten nicht einmal vor sich selbst zugegeben hätte. Sie fühlte sich von ihm angezogen wie von einem Magneten. Sie hatte es zwar vermocht, ihn in der vergangenen Nacht aus ihrem Zimmer auszusperren, aber nicht aus ihren Träumen. Großer Gott, wie viele schlaflose Nächte würde er ihr wohl noch bescheren? Aus der Ferne wehte ein Motorengeräusch zu ihr herüber. Als der blauweiße Polizeiwagen auftauchte, erhob sich Emma und ging zum Haus. Bruce tauchte mit ein paar Holzkisten unter dem Arm aus dem Schuppen auf. Nachdem der Fahrer seinen Wagen vor der Blockhütte zum Stehen gebracht hatte, öffnete sich die Tür, und ein uniformierter Mann stieg aus. „Haskin", entfuhr es Emma überrascht, während sie ihm, beide Hände in die Hüften gestützt, entgegenschaute. Der Sheriff von Bethel Corners ließ sich doch sonst nie hier blicken. Plötzlich stockte ihr der Atem. Hatte Bruce ihn womöglich angerufen? Vielleicht hatte er ja seine Meinung ihren Deal betreffend geändert und Haskin verständigt. Womöglich war der Sheriff gekommen, um sie zu verhaften. Doch Bruce gönnte dem Sheriff kaum einen Blick. Augenblicklich verfiel er wieder in seine Primeau-Rolle und stolzierte mit betonter Lässigkeit, die Kisten unter dem Arm, den Anleger hinunter zu Emmas Flugzeug. „Bleib ruhig und verhalt dich ganz normal", zischte er ihr ins Ohr, als er an ihr vorüberkam. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß er wieder die Maske absoluter Kaltschnäuzigkeit aufgesetzt hatte, von der sie am Abend vorher bereits eine Kostprobe erhalten hatte. Unter anderen Umständen hätte sie für seine schauspielerischen Qualitäten durchaus Bewunderung aufbringen können. „Dachte, er ist auf deiner Seite", schoß sie zurück. „Du traust wohl deinen eigenen Leuten nicht." Doch Bruce war schon an ihr vorbei. - 105 -
Haskin hatte seine engstehenden Augen hinter einer Sonnenbrille aus blaugetöntem Spiegelglas verborgen, und auf seinem Hemd, das sich über seinem Bierbauch spannte, prangte neben dem Sheriffstern ein großer dunkelbrauner Fleck. Wahrscheinlich Kaffee, vermutete Emma. Die Daumen in seinen Gürtel mit dem Holster gehakt, kam er auf sie zu. „Hallo, Miss Cassidy.“ Emma zwang sich zu einem angedeuteten Nicken. „Sheriff." Er warf einen kurzen Blick auf Bruce, der nun den Anleger wieder heraufgestelzt kam. „Wollen Sie wegfliegen?" wandte er sich dann an Emma. „Wenn das Wetter mitspielt." „Und wer ist er?" „Ein Freund." Bruce war nun herangekommen, stellte sich neben Emma, nahm die Hände aus den Hosentaschen und legte ihr lässig einen Arm um die Schultern. „Gibt es ein Problem, Süße?" Plötzlich glaubte sie an dem absurden Theater, das aufzuführen sie gezwungen waren, fast ersticken zu müssen. „Nein, alles in Ordnung, Liebster", stieß sie zwischen, zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie verspürte seine warnenden Fingerdruck. „Was verschafft mir die Ehre, Sheriff?" „Ich habe mich gefragt, ob Sie Ihren Bruder mittlerweile schon zu Gesicht bekommen haben, Miss Cassidy. Ich hatte Ihnen ja gesagt, daß ich ihn dringend sprechen muß." „Tut mir leid, ich. habe keine Ahnung, wo er steckt", erwiderte sie, aufrichtig diesmal. „Worum geht es denn?" Statt einer Antwort verzog Haskin nur seine wulstigen Lippen und ließ seine Blicke müßig umherschweifen. Sie blieben an Bruce schwarzer Corvette hängen. „Haben Sie sich ein neues Auto gekauft?" „Die Corvette gehört mir", mischte sich Bruce ein, und die leichte Herausforderung in seinem Tonfall war unüberhörbar. Der Sheriff legte die Hand auf sein Holster. „Toller Schlitten. Ist aber nicht in Maine zugelassen." „Nein, ist er nicht." „Ja, wirklich, toller Schlitten, kann man nicht anders sagen." - 106 -
Haskin stiefelte auf den Wagen zu, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Dann kam er zurück, verabschiedete sich ziemlich überhastet, stieg in sein Auto und fuhr davon. „Was sollte denn das?" brummte Bruce, während er dem Polizeiwagen hinterherschaute, bis er hinter der Hügelkuppe verschwunden war. „Er erkundigt sich ständig nach Simon." „Aber warum? Hat er irgendeinen Verdacht?" „Kann ich mir nicht vorstellen. Warum bist du eigentlich plötzlich wieder Primeau geworden?" „Ich weiß nicht genau. Dieser Haskin gefällt mir nicht." „Du mißtraust wohl jedem, was? Mir und sogar deinen eigenen Leuten. Muß ein einsames Leben sein, Bruce." „Einsam?" Er schaute ostentativ auf ihre Blockhütte. „Hier draußen scheint’s mir allerdings auch nicht sonderlich gesellig zuzugehen." „Wenn die Polizei nicht so mit meinem Vater umgesprungen wäre, wäre alles..." „Spar dir den Rest, okay?" „Was?" „Vergiß es", brummte er, dann wandte er sich brüsk ab und ging davon. Obwohl sie sich darüber ärgerte, schaffte sie es doch nicht, ihm nicht hinterherzuschauen. In den Ecken des Wohnraumes duckten sich dunkle Schatten. In der Luft hing beißender Rauchgeruch, der von dem Kaminfeuer kam, das Emma bei Einbruch der Dunkelheit entfacht hatte. Sie saß, das Kinn auf die eng an den Körper herangezogenen Knie gestützt, auf einem Kissen vor dem Kamin und starrte in die züngelnden Flammen. Was, wenn McQuaid heute abend anrief? Oder morgen? Oder übermorgen? Auf jeden Fall würde er sich bis zum Ende der Woche mit Sicherheit gemeldet haben. Je früher, desto besser, dachte sie. Das Warten zerrte an ihren Nerven. „Bist du sicher, daß du die Telefone wieder richtig angeschlossen hast?" fragte sie. „Ja, Emma. Sie funktionieren einwandfrei." - 107 -
Sie wandte den Kopf, um Bruce anzusehen. Er hatte es sich, die Beine auf dem Couchtisch, auf ihrem Sofa bequem gemacht. Er machte sich nicht einmal die Mühe, von dem dicken Buch, in das er bereits seit mehr als einer Stunde vertieft war, aufzusehen. Seine Ruhe war die zweite Sache, die an ihren Nerven zerrte. „Hast du es noch mal überprüft?" setzte sie ihm weiter zu. Er hob nur ganz leicht den Kopf und schaute sie über den Rand seiner Brille hinweg an. Er trug eine Lesebrille. Sie ließ ihn seltsam jungenhaft aussehen und anziehend und menschlich. Das störte sie. Sie wollte in ihm nichts anderes sehen als einen Cop. „Ja", gab er zurück. „Weshalb diese Nervosität? Hast du Angst, McQuaid würde die Sache abblasen?" Das konnte sie nicht einmal denken. „Ich will’s einfach nur hinter mich bringen. Ich hasse es zu warten.“ „Mein Job besteht zum größten Teil aus Warten. Man gewöhnt sich daran." „Aha. Und dann liest du wohl immer? Wenn du jemanden beschattest, meine ich. Oder war das mit dem Lesen nur eine weitere Lüge?" Er klappte das Buch mit einem Knall zu und legte es neben sich auf das Sofakissen. „Mit Ausnahme seines Berufs und des Grunds seines Aufenthalts hier entsprach alles, was Prendergast gesagt hat, der Wahrheit. Üblicherweise..." Das Schrillen des Telefons unterbrach ihn. Emma zuckte zusammen. Bruce war bereits auf den Beinen. Er setzte die Lesebrille ab, rannte hinüber zu ihrem Schreibtisch und nahm Stift und ein Blatt Papier zur Hand. Dann deutete er auf das Telefon. „Nimm ab", befahl er. Emma wischte sich die zitternden Hände an ihrer Hose ab, während das Telefon wieder läutete. „Mach schon." Irgendwie schaffte sie es, an den Apparat zu gehen und den Hörer abzunehmen, ohne daß er ihr aus der Hand rutschte. „Ja? Miss Duprey?" Sie erkannte Harveys Stimme. „Ja.“ „Wir brauchen Sie heute nacht." - 108 -
Der Flug war ein Alptraum, ein Blindflug durch einen schier undurchdringlichen Nebel. Als sie endlich an der verabredeten Stelle zwischen zwei kleinen Inseln nahe bei St. Lawrence zum Landeanflug im Wasser ansetzen konnte, machte Emma drei Kreuze. „Herzlichen Glückwunsch", sagte Bruce, nachdem sie aufgesetzt hatten. „Wirklich sehr eindrucksvoll. Fliegen kannst du ja, das muß man dir lassen." Sie atmete erleichtert auf, wobei sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn blies. „Danke." Bruce murmelte unwirsch etwas in seinen nicht mehr vorhandenen Bart und löste seinen Sicherheitsgurt. „Ich verzieh mich jetzt nach, hinten." Einen Moment später ließ Emma den Strahl ihrer kleinen Taschenlampe durch die Kabine wandern. Ihr Kopilot schien wie vom Erdboden verschluckt. Gut so. Befriedigt öffnete sie die Tür des Cockpits. Kühle, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Langsam sah sie ein Licht näher kommen. Das mußten sie sein. Wenig später schrammte etwas Metallisches gegen den Ponton. Emma kletterte aus der Maschine und blickte auf die Umrisse einer Barkasse, die neben der Cessna angelegt hatte. Die beiden Männer an Bord waren nicht viel mehr als zwei Silhouetten, die sich gegen das Licht des Scheinwerfers, der an einer Seite des Bootes angebracht war, schwarz abzeichneten. „Miss Duprey?" fragte eine rauhe Stimme mit leicht französischem Akzent. Emma nickte und legte zum Schutz gegen die hochspritzende Gischt fröstelnd die Arme um sich. Flugzeug und Barkasse schaukelten auf den Wellen. Der andere Mann lehnte sich über den Bootsrand, um das Schiff mit einem Bootshaken festzuhalten. Wieder schrammte Metall gegen Metall. „Gib ihr das Zeug und laß uns so schnell wie möglich wieder verduften", rief der Mann seinem Komplizen zu. „Ist das alles?" fragte Emma, nachdem die Kisten verladen waren. Der eine Mann hatte bereits den Bootshaken zurückgezogen, und die Barkasse driftete langsam von der Cessna weg. - 109 -
„Sie haben das bekommen, was wir Ihnen laut Befehl von McQuaig übergeben sollten", gab der Mann mit der rauhen Stimme zurück, schaltete den Scheinwerfer an der Seite aus und sagte etwas zu seinem Begleiter. Gleich darauf begann der Motor der Barkasse zu tuckern. Emma kletterte ins Cockpit, ließ sich erleichtert aufatmend in den Pilotensitz fallen und schloß die Haube. Wie einfach und schnell doch alles gegangen war. Sie konnte es kaum fassen, daß es vorbei sein sollte. Nachdem sie sich angeschnallt hatte, startete sie den Motor. „Es geht jetzt los, egal, ob du neben mir sitzt oder nicht", rief sie nach hinten. Doch Bruce hatte sich schon aus seinem Versteck unter der hinteren Sitzbank hervorgearbeitet und ließ sich neben ihr auf den Sitz fallen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Dann ließ er seinen Sicherheitsgurt einrasten. Sie waren bereits in der Luft, als Bruce das Wort ergriff. „Daß es so glatt gehen würde, hätte ich nicht zu hoffen gewagt." „Du warst dir nicht sicher, ob ich dich nicht vielleicht verraten würde, stimmt’s?" „Nein. Was auch immer du sein magst; Emma, dumm bist du jedenfalls nicht." Er knipste die Taschenlampe an, drehte sich um und ließ den Strahl über die Kisten huschen. „Unglaublich. Die ganze Aktion hat nicht länger als acht Minuten gedauert. Und alles ohne Funkkontakt. Kein Wunder, daß die Küstenwache unter diesen Umständen nichts mitbekommt." „Wenn man dich so hört, könnte man meinen, das alles sei nur ein Spiel für dich", sagte sie. „Es ist kein Spiel, sondern mein Job“, korrigierte er. „Genau. Dein ganzer Lebensinhalt scheint nur darin zu bestehen, schwere Jungs hinter Gitter zu bringen, du Armer", gab sie sarkastisch zurück. „Fang doch nicht wieder so an, Emma. Laß es einfach, okay?" Er öffnete seinen Sicherheitsgurt, stand auf und ging nach hinten. „Was hast du denn vor?" „Ich will nur kurz einen Blick auf unsere Fracht werfen." Als sie über die Schulter schaute, sah sie ihn, die Taschenlampe - 110 -
zwischen den Zähnen, vor den Kisten kauern. Er riß die erste auf, fischte eins der in Packpapier eingewickelten Pakete heraus und wog es prüfend in der Hand. „Na so was", entfuhr es ihm verblüfft. „Stimmt was nicht?" rief sie ihm zu. Er legte die Taschenlampe auf den. Boden und stellte den Fuß darauf, damit sie nicht wegrollte: „Es kommt mir so leicht vor." „Was soll das denn heißen?" Statt einer, Antwort holte er aus seiner Hosentasche ein Taschenmesser, mit dem er die Verpackung aufschlitzte. „Hey, bist du verrückt geworden? Laß das! Ich habe keine Lust, mit McQuaig Schwierigkeiten zu bekommen. „Schwierigkeiten!" Er hatte das Paket mittlerweile ausgepackt und lachte grimmig. „Wahrscheinlich weißt du genau, was du hier transportierst." „Du sprichst in Rätseln", erwiderte sie ungeduldig. „Vielleicht hättest du die Güte, dich etwas genauer auszudrücken." Bruce kletterte wieder nach vorn, ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen und hielt ihr etwas unter die Nase. Als er den Strahl der Taschenlampe darauf richtete, erkannte sie verblüfft, daß es sich um einen Wust von Zeitungspapier und in Streifen geschnittener Pappe handelte. Warum hatten sie das getan? War dieser Flug nur ein Test, um ihre Fähigkeiten als Pilotin und ihre Zuverlässigkeit auszuloten? Waren sie sich nicht sicher gewesen, ob sie die Anweisungen, die sie bekommen hatte, auch wirklich ausführen würde? „Ich weiß, daß du keine Chance hattest, mit ihnen zu sprechen, seit wir beide zusammen die Lagerhalle verlassen haben. Was geht hier vor, Emma? Was soll das alles?" Hilflos schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe eine Abmachung mit ihnen. Ich wüßte keinen Grund dafür, weshalb sie plötzlich ihre Meinung geändert haben sollten." Er ließ das wertlose Paket achtlos zu Boden fallen und ging wieder nach hinten, um die anderen Kisten unter die Lupe zu nehmen. Die Zeit tröpfelte zäh dahin, während er schweigend eine Kiste nach der anderen öffnete, darin herumwühlte, die Pakete aufschlitzte, nur um sie gleich darauf uninteressiert wieder zurückzuwerfen. Emma spürte Nervosität in, sich aufsteigen. Ab und zu riß sie ihre Aufmerksamkeit - 111 -
einen Moment von den Kontrollinstrumenten los, um sich nach Bruce, dessen Gesicht länger und länger wurde, umzusehen. „Verdammt!" Emma fühlte, wie sie plötzlich stocksteif wurde. Alarmiert blickte sie über die Schulter. „Was ist? Was hast du gefunden? Er hockte sich auf seine Fersen und sah sie an. „Wo befinden wir uns im Moment, Emma?" Sie warf einen Blick aus dem Fenster auf die schwarz bewaldeten Hügel, zwischen denen mehrere Wasserläufe, die von oben aus gesehen an eine Vogelkralle erinnerten, glitzerten. „Wir haben etwa die Hälfte der Strecke hinter uns." „Kannst du hier irgendwo landen?" „Warum das denn?" fragte sie verblüfft. Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Kiste, die er eben geöffnet hatte. „Sieht so aus, als wärst du nicht die einzige, die unser nettes Arrangement gern platzen lassen würde." Bruce arbeitete sich wieder nach vorn und hielt ihr einen Metallgegenstand, von dem ein wirres Geflecht von Drähten abstand, hin. Er tickte. „Das erklärt, warum deine Ladung nur aus Füllmaterial besteht", sagte Bruce grimmig. „McQuaid und seine Leute hatten nicht die Absicht, den, wertvollen Stoff zu verschwenden." Plötzlich hatte sie das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, die in die Tiefe raste, Vor Schreck drehte sich ihr der Magen fast um. „Was, zum Teufel... Die Frage blieb ihr im Hals stecken. Es war nicht mehr erforderlich, sie zu stellen. Die schockierende Tatsache war bereits voll in ihr Bewußtsein eingedrungen. Der bizarre Gegenstand, den Bruce in seinen Händen hielt, war eine Bombe mit Zeitzünder.
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9. KAPITEL Bruce mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um die Panik, die in ihm aufzukommen drohte, zu unterdrücken. Er holte tief Luft. Ganz ruhig bleiben und nachdenken, befahl er sich, während er auf die tickende Bombe in seiner Hand starrte. Doch das war leichter gesagt als getan. Seine Gedanken rasten. Während er sich selbst gut zuredete, ließ er den Strahl der Taschenlampe über den Sprengkörper wandern und zwang sich dazu, ihn genauer zu untersuchen. Er war sich absolut sicher, daß das Ding genug Zündstoff enthielt, um die Cessna samt Besatzung in die Luft zu jagen. Und dann adieu schöne Welt. Seine Nackenhaare sträubten sich. Nein, er war nicht bereit zu sterben. Noch nicht. Er warf einen Blick auf die leuchtend roten Ziffern des Zeitzünders. Nicht mehr ganz fünfzehn Minuten hatten sie noch, dann würde es einen ohrenbetäubenden Knall geben, für einen Moment würde die Maschine wie ein roter Feuerball am Himmel stehen, um anschließend in Tausenden von Trümmern auf die Erde zu stürzen. Übrig bleiben würde nur Schutt und Asche. „Schmeiß sie raus!" schrie Emma. „Nein." „Warum nicht, zum Teufel?" „Was, wenn sie auf einen Campingplatz fällt? Oder ein Holzfällercamp? Was ist, wenn ein Waldbrand entsteht? Ich will nicht verantwortlich sein für den Tod von unschuldigen Menschen." „Dann reiß die Drähte raus oder tu sonstwas!" „Das kann ich nicht riskieren, solange wir in der Luft sind. Wenn irgendwas schiefgeht, erwischt es uns beide, Emma. Hör auf, wertvolle Zeit zu verschwenden und sieh dich nach einer Landemöglichkeit um." „Du bist verrückt. Ich werde über Funk Hilfe anfordern", gab sie zurück und griff nach dem Bordmikrofon. „Um Himmels willen, Emma, laß das." „Aber warum?" „Ich bin überzeugt davon, daß McQuaigs Leute den Funk abhören. Sie wollen dich tot sehen, Emma, und wenn sie mitbekommen, daß - 113 -
ihr Plan schiefgegangen ist, werden sie es wieder versuchen." „Das ist nicht eins deiner Spielchen, Bruce. Ich bin nicht bereit, mein Leben zu riskieren, nur damit du weiterspielen kannst." „Ich spiele nicht. Ich versuche nur, nicht den Kopf zu verlieren. Wir haben noch fast eine Viertelstunde. Das Risiko ist minimal, wenn es dir gelingt, irgendwo zu landen." Der Motorenlärm war nicht laut genug, um den unflätigen Fluch, den sie nun ausstieß, zu verschlucken. Hastig schob sie das Mikro in die Halterung zurück und ging im Sturzflug nach unten. Während Bruce, der wieder nach hinten gegangen war und sich zwischen die Kisten gesetzt hatte, Übelkeit in sich aufsteigen spürte, stemmte er die Füße fest gegen den Boden. Dabei bemühte er sich, die Bombe in seiner Hand möglichst ruhig zu halten. „Ich versuche es auf dem See, den wir eben überflogen haben", sagte sie. „Er ist zwar ziemlich klein, aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wieviel Zeit haben wir noch? ,Zwölf Minuten." Wieder stieß sie einen Fluch aus, ging in Querlage und flog eine geschmeidige Schleife. Einen Moment, lang tauchte der Mond die Pilotenkanzel in sein silbernes Licht, dann wurde es wieder dunkel, die Maschine, verlor immer mehr an Höhe und schwebte langsam nach unten. Bruce preßte den Hinterkopf an eine der Holzkisten und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Der Motorenlärm dröhnte ihm so laut in den Ohren, daß er befürchtete, seine Trommelfelle könnten platzen. Die Rechte, mit der er die Bombe umklammert hielt, war so naß wie sein Rücken, über den ihm der Schweiß in Strömen hinabrann. Der See unter ihm glänzte, schwarz und unergründlich. Nirgendwo gab es ein Licht, das auf etwaige Hindernisse bei der Landung hätte aufmerksam machen können. Bruce war sich bewußt, daß allein Emma sein Schicksal in Händen hielt, von ihrer Geschicklichkeit würde es abhängen, ob sie wohlbehalten unten anlangten oder nicht. Dann streiften die Pontons das Wasser, und das Flugzeug geriet ins Schlingern wie ein Auto, das sich durch tiefen Sand wühlt. Als eine Kiste umkippte, kauerte Bruce sich eilig zusammen, um den Sprengkörper gegen unvermutete Stöße abzuschirmen. Dabei - 114 -
rutschte ihm seine Taschenlampe aus der Hand, die nächste Kiste geriet ins Wanken, stürzte um und traf ihn hart an der Schulter. „Gleich haben wir’s geschafft", schrie Emma. „Halt durch." Einen Moment später war es soweit. Die Maschine setzte mit einem harten Aufprall endgültig auf dem Wasser auf. Emma würgte mit fliegenden Fingern den Motor ab und sprang, noch bevor das Echo verklungen war, aus ihrem Sitz hoch, um die Kanzelhaube hochzustemmen. „Wir sind da. Los, raus mit dem Ding!" brüllte sie Bruce an. Bruce aber dachte gar nicht daran, ihrer Aufforderung nachzukommen: Er rappelte sich auf und schaute sich um. „Nimm mit, soviel du kannst. Karte, Kompaß, Taschenlampen. Hast du einen Erste-Hilfe-Koffer?" Er lehnte sich aus dem Cockpit und schaute hinaus. Sie waren weniger als 20 Meter vom Ufer entfernt. Einer der Pontons lag auf einem schräg aus dem Wasser herausragenden, abgeknickten Baumstamm. Wenn sie ihn mit einer nur etwas höheren Geschwindigkeit gestreift hätten, hätten sie sich höchstwahrscheinlich überschlagen. „Wickle die Sachen in das Ölzeug, damit sie trocken bleiben. Beeil dich, wir haben, noch sieben Minuten." Sie stürzte auf ihn zu und packte seinen Arm. „Was hast du vor?" „In sieben Minuten geht die Maschine hoch, genau wie deine Freunde es geplant haben." Sie verstärkte ihren Griff. „Bist du von Sinnen? Glaubst du, ich steh einfach daneben und schaue zu, wie mein Flugzeug in die Luft geht?" „Es ist der einzige Weg. Sie werden überprüfen, ob sie erfolgreich waren, da kannst du Gift drauf nehmen." „Du willst mein Flugzeug in die Luft jagen? Du mußt verrückt sein." Sie versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen, doch er hielt sie fest. „Laß mich los." Er hörte an ihrem Tonfall, daß alles Argumentieren im Moment zwecklos sein würde. Noch bevor sie erkennen konnte, worauf er hinauswollte, packte er sie mit beiden Händen an der Taille, hob sie hoch und kletterte mit ihr aus der Maschine. Sobald er den Ponton unter seinen Füßen spürte, wirbelte er sie durch die Luft und warf sie ins Wasser. - 115 -
Sie kreischte. Bruce wartete gerade lange genug, um sie wieder auftauchen zu sehen, dann drehte er sich um und kletterte ins Cockpit zurück. Er riß das Ölzeug heraus, in das er alles, was nicht niet- und nagelfest war, einwickelte. Als sich Emma an dem Ponton festklammerte, kam das Flugzeug schaukelnd in Bewegung. Bruce warf ihr das Bündel zu. „Hier, fang." Er hörte, wie sie wieder ins Wasser eintauchte, doch diesmal schrie sie nicht auf, sondern schwamm in großen kraftvollen Zügen auf das Ufer zu. Bruce nahm die Taschenlampe zur Hand und ließ den Strahl ein letztes Mal durch die Kabine wandern. Auf der Rückbank entdeckte Bruce einen Schlafsack, den Emma offensichtlich übersehen hatte, als sie Simons Campingsachen aus der Cessna geräumt hatte. Hastig griff er danach, und einen Moment später war er auch schon aus der Pilotenkanzel geklettert und sprang, die Arme mit dem Schlafsack hoch erhoben, ins Wasser. Es war so eisig, daß er kaum Luft bekam, und stach wie Nadelspitzen, besonders an der Schulter, wo ihn die Kiste getroffen hatte. Er tauchte weit genug aus dem Wasser auf, um den zusammengerollten Schlafsack ans Ufer schleudern zu können, dann zog er den Kopf wieder ein und schwamm mit ein paar kräftigen Stößen zum Ufer. Emma, die Finger weiß vor Kälte, hockte am Boden und zog sich die Stiefel aus. Vor ihr lag der Schlafsack, der glücklicherweise kaum naß geworden war. Barfuß stieg sie einen Moment später ins Wasser, in ihrem bleichen Gesicht standen riesengroß und brennend ihre Augen, als sie zu der verlassenen Cessna hinüberschaute. „Zurück, Emma." Sie reagierte nicht. Die Uhr in seinem Kopf tickte. „In vier Minuten geht sie hoch", sagte Bruce und packte sie am Handgelenk. „Wir müssen hier weg.“ Unwillig versuchte sie, seine Hand abzuschütteln, und strebte vorwärts. „O nein! Soll ich vielleicht einfach hier stehenbleiben und seelenruhig zusehen, wie mein Flugzeug in die Luft geht?" Er sah die Verzweiflung in ihren Augen und spürte das Beben, das ihren Körper durchlief. „Komm zurück, Emma. Los, mach schon!" - 116 -
„Nein!" Die Vorstellung, ihr Flugzeug gleich in Flammen aufgehen zu sehen, verlieh ihr ungeahnte Kräfte, so daß es ihr gelang, Bruce Arm abzuschütteln. Sie stürzte sich in die Fluten und schwamm auf die Cessna zu. Bruce schwamm ihr hinterher, bekam ihren Fußknöchel zu fassen und zerrte sie zurück. Sie tauchte unter, schluckte Wasser, kam prustend und schnaubend wieder hoch und schlug wie wild um sich. Die Uhr in seinem Kopf tickte lauter. Der Countdown stand kurz bevor. „Verdammt, Emma. Es ist zu spät." „Nein! Laß mich!" Er mußte handeln, sonst würde es wirklich zu spät sein. Er zerrte sie mit sich und warf sie sich, sobald er Grund unter seinen Füßen spürte, über die Schulter und watete ans Ufer. „Laß mich sofort runter!" kreischte sie und ließ ihre Fäuste auf seinen Rücken niedersausen. Fast wäre er mit seinen nassen Sneakers auf dem glitschigen Felsgestein am Ufer ausgerutscht, seine Knie sackten unter ihm weg, und es gelang ihm nur mit knapper Not, sich abzufangen. Er hielt gerade so lange an, um seine Last wieder richtig schultern zu können, und strebte dann mit weit ausholenden Schritten dem hohen Felsen, der nicht weit entfernt vom Ufer gegen den dunklen Nachthimmel emporragte, zu. Doch noch bevor er ihn erreicht hatte, zerriß ein ohrenbetäubender berstender Krach die Stille. Augenblicklich ließ Bruce Emma zu Boden fallen und warf sich über sie. Die Explosion zerfetzte die weiße Cessna, als wäre sie ein Papierflieger. Der ersten Detonation folgte fast auf dem Fuß eine zweite. Eine grelle orangerote Stichflamme zischte gen Himmel und tauchte ihn in rotes Licht. Metallsplitter krachten gegen die Felsen und segelten über ihre Köpfe hinweg. Plötzlich verspürte er einen heißen Stich im Rücken, dann stieg ihm der Geruch versengten Stoffs in die Nase. Ohne auf den Schmerz zu achten, blieb er bewegungslos liegen, bis alles vorüber war. Dann hob er vorsichtig den Kopf und schaute auf Emma hinunter. Sie hatte die Augen fest zugekniffen, ihr Gesicht war weiß wie ein Leintuch und panikverzerrt. - 117 -
Bruce rollte von ihr herunter und kniete sich mit gespreizten Beinen über sie. „Emma? Bist du verletzt?" „Ist es vorbei?" ,Ja." Mit einem trockenen Aufschluchzen schlüpfte sie unter ihm durch, zog sich an seiner Schulter auf die Füße und starrte hinaus auf den See. Alles in ihr wehrte sich dagegen, die zerstörte Cessna in Augenschein zu nehmen, doch sie konnte nicht anders. Der Geruch von verbranntem Benzin hing in der Luft, und sie hatte gehört, wie die Metallsplitter gegen die Felsen gekracht waren. Sie wußte vom Verstand her, was geschehen war, und nun mußte sie es auch noch mit eigenen Augen sehen. Es war wirklich vorbei. Ihr Flugzeug, ihre Cessna, die fast so etwas wie eine Verlängerung ihrer selbst gewesen war, gab es nicht mehr. Langsam versanken die rauchenden Trümmer im Wasser. „Nein", flüsterte sie. „Nein." „Es tut mir leid, Emma." Bruce war neben sie getreten und legte ihr nun leicht eine Hand auf die Schulter. „Aber es gab keinen anderen Weg.“ Ihre nassen Kleider klebten an ihr, der vollkommen durchweichte Stoff entzog ihrer Haut alle Wärme, aber sie fror nicht. Sie fühlte sich zu betäubt, um überhaupt etwas empfinden zu können. „Laß uns gehen. Wir haben Karten und einen Kompaß, wir müssen sehen, daß wir auf eine Straße kommen, vielleicht stoßen wir auf ein Haus, von wo aus wir telefonieren können." Seine Worte drangen zu ihr wie durch eine dichte Nebelwand, ohne daß sie deren Bedeutung erfaßte. Alles war zu schnell gegangen, viel zu schnell. Sie war außerstande, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. „Ich muß morgen die Ware abliefern", sagte sie tonlos und wußte doch, daß ihre Worte keinen Sinn ergaben. Es gab nichts abzuliefern, hatte nie etwas gegeben. „Mein Bruder zählt auf mich.“ „Du hattest doch gar keine Ware, verstehst du denn noch immer nicht? Wir sind reingelegt worden." Er schüttelte sie leicht, um sie zur Besinnung zu bringen. - 118 -
„Aber ich muß Simon helfen." Er verstand nicht, wovon sie sprach, aber es war ihm im Augenblick auch egal; „Jetzt mußt du erstmal dir selbst helfen.“ „Warum hast du mich eigentlich nicht mit dem Flugzeug in die Luft gehen lassen, Bruce?" Tränen der Verzweiflung schossen ihr in die Augen; aber sie war entschlossen, ihnen keinen freien Lauf zu lassen, und blinzelte sie sie weg. „Warum hast du mich nicht einfach verrecken lassen? Mach schon, los, sag’s mir! Dir muß doch klar sein, daß ich dir nicht länger von Nutzen sein kann. Ich habe keinen Stoff, mit dem du McQuaig auf frischer Tat hättest ertappen können, und werde auch keinen haben. Wozu dann der ganze Aufwand?" „Es reicht jetzt, Emma." Die scharfen Kanten des Felsgesteins gruben sich schmerzhaft in ihre nackten Fußsohlen ein, als sie einen Schritt auf ihn zu machte. „Herzlichen Glückwunsch, Mr. Policeman. Nicht genug damit, daß mir das Gesetz meine Familie, mein Zuhause und all meine Zukunftspläne geraubt hat. Jetzt hast du mir auch noch mein Flugzeug weggenommen." „Es tut mir leid, Emma. Ich weiß..." „Was weißt du denn schon?" schrie sie verächtlich. „Du bist doch nur ein kleiner, mieser Bulle, der mit seiner Dienstmarke denkt und mit dem Gesetzbuch fühlt." Wieder versank ein Teil der Cessna zischend im Wasser. Dann wurde es totenstill. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Bruce stand bewegungslos vor ihr, Ober- und Unterkiefer fest aufeinandergepreßt, die Hände zu Fäusten geballt. Vor seinen Augen begannen sich rote Feuerräder zu drehen. Er nahm seine ganze Selbstbeherrschung zusammen. „Glaubst du vielleicht, du bist die einzige, die alles verloren hat?" fragte er schließlich gefährlich ruhig. Irgend etwas in seinem Tonfall ließ sie aufhorchen, doch sie wischte es beiseite. „Keine Ahnung, und es ist mir auch egal." Rasend vor Wut bohrte sie ihm ihren ausgestreckten Zeigefinger zwischen die Rippen. „Alles, was dich interessiert, ist Recht und Gesetz. Für dich gibt’s keine Schicksale, sondern nur Fälle." Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. „Du bist also der Meinung, daß du die einzige bist, die ein Opfer der Umstände - 119 -
geworden ist, ja? Du bist der einzige Mensch auf Gottes Erdboden, mit dem das Leben hart umgesprungen ist, stimmt’s? Das glaubst du doch, oder?" „Du bist dran schuld, daß mein Flugzeug in die Luft gegangen ist, nicht ich." „Stimmt. Weil man ein Flugzeug ersetzen kann, einen Menschen jedoch nicht.“ Sie preßte ihre Handflächen gegen den nassen Flanellstoff. Bruce’ Brust hob und senkte sich rasch. Emma spürte seine Selbstbeherrschung dahinschwinden. Bruce ließ seine Hände von den Schultern über ihre Oberarme hinabgleiten. Als sie bei ihren Ellbogen angelangt waren, packte er hart zu, zwang Emma auf die Zehenspitzen, und zog sie ganz nah an sich. „Kannst du es spüren, Emma? Fühlst du auch die Hitze, die zwischen uns aufsteigt?" Sie schnappte nach Luft. Sein Körper vibrierte vor unmißverständlicher Erregung. Ebenso wie der ihre. Nicht weniger unmißverständlich. „Ein Teil von dir mag mich verabscheuen, aber es gibt noch einen anderen Teil in dir, der nichts mit dem, was du erlebt hast, zu tun hat. Und das weißt du auch. Du wußtest es von Anfang an." Ja. Sie hatte es gewußt. „Aber du bist ein...“ „Verdammt, Emma! Wir sind am Leben!" Er schüttelte sie. „Selbst der Haß ist besser als nichts." Ein Wrackteil platschte ins Wasser. Dieses Geräusch löste etwas in ihr aus. Die Ereignisse der letzten halben Stunde entfalteten sich kaleidoskopartig vor ihrem inneren Auge. Das Entdecken der Bombe, die Landung, die Explosion... „Du hast mich in Sicherheit gebracht.“ Er spreizte seine Hand, die knapp über ihrem Po lag, und zog sie noch näher an sich heran. „Ja.“ „Du hast dich über mich geworfen, um mich mit deinem Körper zu beschützen." Er sagte nichts. Erst jetzt begann ihr zu dämmern, wie nah, wie ungeheuer nah sie dem Tod gewesen war. „Oh, mein Gott, Bruce, wir könnten jetzt - 120 -
beide schon tot sein. Und wenn du mich nicht zurückgeholt hättest, als ich zum Flugzeug schwimmen wollte... Oh, mein Gott!" „Es ist ja nichts passiert. Wir sind beide gesund und munter. Er preßte sie an sich, und als sie den harten Beweis seines Begehrens an ihrer Hüfte spürte, stockte ihr der Atem. „Du hast mir das Leben gerettet." „Da hast du verdammt recht, ich habe dir das Leben gerettet." Sein Herz klopfte hart an ihrer Brust, und seine Arme schnürten sie ein wie stählerne Bänder, während seine Wange sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings ihre Stirn streifte. Ihr Puls beschleunigte sich, so als wollte er sich seinem Herzschlag anpassen. „Warum hältst du mich so fest?" „Weil ich es muß. Ich muß dich festhalten, weil du Halt brauchst." „Aber nach alldem, was wir uns an den Kopf geworfen haben, nach allem, was wir..." „Es spielt keine Rolle, daß du gegen mich kämpfst, Emma. Ebensowenig wie es eine. Rolle spielt, daß auch ich meine Gefühle bekämpfe. Ich fühle mich für dich verantwortlich. Und zwar von Anfang an, aber frag mich bloß nicht, warum." „Und dagegen wehrst du dich?" „Ja. Ich komme aber leider trotz allem, was geschehen ist, und trotz allem, was du, getan hast, nicht dagegen an. Er zog Emma noch enger an sich. „Ich fühle mich innerlich wie zerrissen." „Weil du ein Cop bist." „Ja. Das bin ich, und das ist alles, was ich sein will." Sie drängte sich an ihn, wobei ihr das süße Gefühl, fast mit ihm zu verschmelzen, den Atem zu nehmen drohte, aber sie wollte Luft holen, unbedingt, um seinen betörenden Duft tief in sich aufzunehmen. „Du bist aber nicht nur ein Cop, sondern auch ein Mann." Kaum noch zu zügelndes Verlangen raste durch seinen Körper. „Ist dir klar, was gleich passieren wird, Emma?" „Wir leben, atmen und fühlen." „Hier gibt es keine Tür, die du hinter dir verriegeln könntest." „Nein." „Emma." So wie er ihren Namen aussprach, war es Forderung, - 121 -
Warnung und Bitte zugleich. „Wir könnten schon tot sein, aber wir sind es nicht. Wir sind lebendig. Nichts anderes zählt." Sie ließ ihre Finger über seinen Rücken, seine Schultern wandern, dann erkundete sie die harten Muskeln seiner Oberarme. Sie fühlten sich so zuverlässig an, so stark, so... männlich, und mit einemmal erschien es ihr unmöglich, sich seiner fast animalischen Anziehungskraft zu entziehen. Ein unartikuliertes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie, doch sein Kuß war kein Kuß, sondern eine Verschmelzung, die Essenz aller Küsse, die sie bisher miteinander ausgetauscht hatten. Vertrauen, Zärtlichkeit, Zorn und Begehren, alles lag darin, endlich ungezügelt und aller verstandesmäßigen Kontrolle entzogen. Emma öffnete die Lippen, nahm diesen Kuß, der viel mehr war als nur ein Kuß, gierig in sich auf und lechzte nach mehr. Er raubte ihr den Atem und ließ ihre Knie weich werden. Alles drehte sich in ihrem Kopf, und die Welt um sie herum schrumpfte zusammen, es gab nur noch sie beide und ihre gemeinsame Lust. „Emma. Emma", flüsterte er wie im Fieber, während er mit seinen Lippen eine heiße Spur über ihre Wangen hinunter zu ihrem Hals zog. Seine Zähne schlugen sich zärtlich in ihr Fleisch, und sie erschauerte. Als er sich so weit von ihr zurückzog, daß er seine Hand zwischen sie bringen konnte, lehnte sie sich noch mehr zurück und bot ihm ihre Brüste dar. Er umfaßte sie voller Verlangen, drückte und knetete sie zwischen seinen Fingerspitzen, bis sich ihre Knospen vor Begierde aufrichteten und hart wurden. Als er sich daranmachte, ihr das Hemd aufzuknöpfen, hinderte sie ihn nicht, im Gegenteil, sie half ihm und versuchte, mit bebenden Fingern die Knöpfe zu öffnen, während ihr ein Lustschauer nach dem anderen den Rücken hinabrieselte. Ohne auch nur einen einzigen Gedanken an das Danach zu verschwenden, riß sie sich schließlich das Kleidungsstück vom Leib und bot sich ihm, übergossen von silbernem Mondlicht, in ihrer Nacktheit dar. Der Laut, den er von sich gab, war tief, rauh und unartikuliert. Er legte ihr die Arme um die Taille und hob sie zu sich empor, wobei er - 122 -
nach einem Felsblock Ausschau hielt, auf dem er sie absetzen könnte. Nachdem er einen geeigneten Platz entdeckt hatte, ließ er sie auf der Kante nieder, kniete sich vor sie hin und barg das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Als seine Lippen ihre Haut berührten, stieß sie einen kleinen erstickten Schrei aus, wühlte ihre Hände in sein Haar, bog sich ihm entgegen und zog ihn noch enger an sich. „Ich will dich, Emma", keuchte er. „Nur einmal, ein einziges Mal will ich vergessen, wer wir sind." „Ja", flüsterte sie, „ja. Nur dieses eine Mal." Womit auch sie eine Wiederholung für sich selbst ausschloß. Er nahm ihre Knospe zwischen die Zähne und biß hinein. Eine Woge von Schmerzlust schwappte über sie hinweg und raubte ihr die letzten kläglichen Überreste ihrer Selbstkontrolle. Das, was seine Zähne anrichteten, linderte seine Zunge, und gerade wenn Emma sich in die sanfte Weichheit seiner Zärtlichkeiten hineinfallen lassen wollte wie in ein Daunenbett, traktierte er sie von neuem mit diesen herrlichen Liebesbissen, die schmerzten und ihr dennoch einen Lustschauer nach dem anderen den Rücken hinabjagten. Die Sterne am Himmel begannen plötzlich so wild zu tanzen, daß Emma ihre Augen schließen mußte. Als Bruce von ihr abließ, um sich ihrer anderen Brust zuzuwenden, erschien ihr der kühle Wind, der über ihre erregten, überempfindlichen, nassen Brustspitzen strich, wie ein Kälteschock. Das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie sich mit bebenden Fingern in sein Hemd krallte. Ungeduldig zerrte sie daran. Großer Gott, wie viele Knöpfe so ein Hemd doch hatte! Sie konnte nicht mehr warten und riß es so rücksichtslos auf, so daß die Knöpfe nach den Seiten hin wegflogen. Es war ihr egal. Im Moment war ihr alles egal - alles bis auf eins. Sie mußte ihn haben, mußte seine heiße, samtige Haut spüren. Sie ließ ihre Finger über seine nun endlich nackte Brust wandern, den Bauch hinunter, und auch als sie bei seinem Gürtel angelangt war, hielt sie nicht inne, sondern öffnete ihn, zog ihn durch die Schlaufen und ließ ihn zu Boden fallen. Auch das nächste Hindernis in Form des Reißverschlusses war rasch beseitigt, und sie versuchte, ihm die Hose über die Hüften zu schieben. Das Wort, das er ihr ins Ohr flüsterte, war kurz, ordinär und - 123 -
erregend und traf genau die Wildheit ihrer Empfindungen. Sich auf ihre Oberschenkel aufstützend erhob er sich. Die Hose bis zu den Knien herabgestreift stand er nun in seiner vollen Männlichkeit vor ihr. Ihr wurde der Mund trocken vor Begierde, als ihr Blick auf den aufgerichteten Beweis seines Begehrens fiel. Ihr schwindelte, leicht fuhr sie mit den Fingerspitzen über den samtigen Schaft und umfaßte ihn einen Moment später mit beiden Händen, senkte den Kopf, schloß die Augen und öffnete ihre Lippen. Er fing sie ab, bevor sie das tun konnte, wozu es sie drängte, beugte sich zu ihr hinab und hob sie hoch. „Stop", murmelte er. „Das wäre zu viel." Wie im Fieber strich er mit den Fingern über ihren Bauch und streichelte sie zwischen den Beinen. „Bitte Emma." Er setzte sie wieder ab, öffnete erst ihren Gürtel, dann ihren Reißverschluß und streifte ihr dann die Jeans über die Hüften. „Ich will dich, ich brauche dich. Jetzt." Sie befanden sich jenseits aller Rationalität. Ihre Reaktionen waren reine Instinkthandlungen, so als müßten sie sich gegenseitig versichern, daß sie noch am Leben waren, daß sie die Katastrophe überlebt hatten. Sie schob sich ihre Hose zusammen mit ihrem Slip nach unten und stieg heraus. Dann warf sie sich an seine Brust und klammerte sich mit den Armen an seinem Hals fest. Schamlos, in wild überschäumender Begierde, zog sie sich an ihm hoch. Er legte seine Arme, um sie abzustützen, unter ihre Pobacken, trat zwei Schritte zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Felsen. Dann drang er mit einem einzigen harten Stoß in sie ein. Die Explosion, die sie erschütterte, war so gewaltig wie diejenige, die die Cessna in tausend Stücke zerrissen hatte. Emma stieß einen lauten Schrei aus und krallte ihre Fingernägel in Bruce Schultern, während die Wellen der Leidenschaft über ihr zusammenschlugen. Ganz fest schlang sie die Beine um seine Hüften und schrie noch einmal, als auch er sich losließ und mit einem tiefen, rauhen Aufstöhnen im Meer der Lust versank. Die Minuten verstrichen. Oder vielleicht waren es auch nur Sekunden. Die Zeit stand still. Emma fuhr zärtlich mit ihren Lippen über seinen Hals bis hinunter zu seinem Kragen. Sie fühlte sich ausgelaugt, so vollkommen erschöpft, daß sie ihn nicht länger - 124 -
umklammern konnte. Behutsam ließ sie ihre Beine nach unten gleiten. „Noch nicht", murmelte Bruce und verlagerte seinen Unterarm unter ihrem Po ein wenig, um sie wieder fest in den Griff zu bekommen. „Noch nicht." Plötzlich wurde ihr die Kehle zu eng. Die Realität kehrte zurück. Ausgeschlossen, noch länger so hier zu verharren. Das, was sie getan hatten, hätten sie niemals tun dürfen. O Gott. Sie mußte den Verstand verloren haben. Ihre Brustspitzen schmerzten, ihre Fingernägel waren abgebrochen, und sie hatte geschrien, als sei sie von Sinnen. Sie versteifte sich und wand sich in seinen Armen, wobei sie innerlich bei dem Gedanken an die Nähe, die sie miteinander geteilt hatten, zusammenzuckte. Als ihre Füße den Boden berührten, spürte sie, wie sich die scharfen Felskanten schmerzhaft in ihre Fußsohlen eingruben. Sie taumelte. „Emma?" Sie schüttelte nur wortlos den Kopf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Es war ihr nicht möglich, ihm in die Augen zu sehen. Sie durfte nicht einmal daran denken, was geschehen war. Sie hatten den Verstand verloren, ganz zweifellos. „Bist du okay?" „Ich weiß nicht." Ihre Stimme war heiser, und sie erkannte sie fast selbst nicht wieder. Ihr Gehör jedoch war so schmerzhaft geschärft, als sei sie gerade aus einem Delirium erwacht. Die nächtlichen Geräusche erschienen ihr plötzlich überlaut das Zirpen der Grillen hallte in ihren Ohren, das leise Seufzen der Fichten, deren Wipfel sich sanft im Wind hin und her wiegten, erschien ihr wie lautes Geheul, und das sanfte Säuseln der Wellen, die gegen das Ufer spülten, kam ihr vor wie das Tosen haushoher Brecher, die, vom Wind gepeitscht, zusammenschlugen. Ein Reißverschluß ratschte, eine Gürtelschnalle klirrte. Bruce näherte sich ihr. Obwohl er sie nicht berührte, spürte sie seine Nähe. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Emma." „Du kannst alles sagen, was du willst, nur entschuldigen darfst du dich nicht" Er schwieg lange. „Ich sollte mich aber entschuldigen." - 125 -
„Es... es ist eben passiert. Es hat auf Gegenseitigkeit beruht." Da konnte er nicht widersprechen. „Ich war grob. Habe ich dir wehgetan?" Wahrscheinlich würde sie morgen tatsächlich einige blaue Flecken auf ihrem Körper entdecken, doch das war nebensächlich. „Nein." Aber noch immer schien er nicht zufrieden. Sie holte tief Luft. Den Blick gesenkt starrte sie auf seine Schuhspitzen. Er hatte sich nicht einmal ausgezogen, bevor sie sich geliebt hatten. Hatten sie sich geliebt? Nein, entschied sie. Für das, was sie miteinander getrieben hatten, gab es keine beschönigende Umschreibung. Es war so ursprünglich und wild gewesen wie die Natur, die sie umgab, und weit entfernt von all ihren früheren Erfahrungen, es war so verrückt gewesen wie die ganze Situation, in der sie sich beide befanden. Eigentlich hätte sie beschämt sein sollen, peinlich berührt, abgestoßen... Aber sie fühlte nichts von alledem. Nein, sie schämte sich nicht. Das, was sie getan hatten, war nur natürlich gewesen. Und notwendig. Da von Liebe nicht die Rede gewesen war, sondern einzig von Lust und Verlangen, war es vielleicht das erste wirklich Aufrichtige gewesen zwischen ihnen seit Beginn ihrer Bekanntschaft. Sie hob ihr Kinn und suchte seinen Blick. Die unverhüllte Verletzlichkeit, die auf seinem Gesicht lag, erfüllte sie mit Erstaunen. Fast verloren wirkte er plötzlich und so verwirrt, daß sie ihm über die Wange streichelte, noch bevor sie sich darüber klarwerden konnte, was sie da eigentlich tat. Er zog ihre Hand weg, drehte sie um und küßte dann die Innenseite mit einer Zärtlichkeit, die sie von neuem verblüffte. Ohne Vorankündigung war aus diesem feurigen Liebhaber, der sie und sich selbst, aufgepeitscht von seiner Sinnenlust, bis zum Äußersten getrieben hatte, ein weicher, empfindsamer Mann geworden. „Tu das nicht“, flüsterte sie, doch Bruce küßte erst jeden ihrer Finger einzeln, bevor er sie zu einer Faust zusammenschob und seine Hand darüberlegte. „Und selbst in hundert Jahren würde es dir wahrscheinlich immer noch gelingen, mich in Erstaunen zu versetzen, Emma." - 126 -
10. KAPITEL „Bruce?" Die Stimme jagte ihm den ersten Lustschauer des eben angebrochenen Tages den Rücken hinunter. Er blinzelte. Emma sah ihn mit ihren Augen, die so kristallklar und blau waren wie Bergseen, so durchdringend an, daß er zu befürchten begann, es könnte ihr womöglich gelingen, hinter seine Barrieren, die neu aufzurichten er bisher noch keine Gelegenheit gehabt hatte, zu schauen. Er schluckte. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Sie erhob sich halb, wobei sie sich den Schlafsack mit einer Hand fast bis zum Kinn hochzog, während sie den anderen Arm, um sich zu strecken, wie eine Katze, gähnend in die Luft reckte. Ihr Arm war nackt, ihr Hemd lag zum Trocknen ausgebreitet auf einem Felsen ein paar Schritte entfernt. Nachdem sie einen raschen Blick in die Runde geworfen hatte, sah sie Bruce wieder an. „Wir sollten wohl besser langsam aufbrechen." „Stimmt. Sollten wir." „In dem Erste-Hilfe-Kasten ist ein Kompaß." „Hm. Die Karten scheinen den kurzen Aufenthalt im Wasser ja auch unbeschadet überstanden zu haben." Die Schilfrohre am Ufer bogen sich, und kurz darauf erhob sich eine Wildentenfamilie flügelschlagend in die Lüfte. Bruce wandte den Kopf und sah den Vögeln nach, wie sie langsam entschwanden. „Vielleicht sollten wir warten, bis deine Stiefel ganz trocken sind, sonst läufst du dir Blasen. „Ich dachte, du hättest es eilig." Seine Stimme wurde weich. „Von mir aus können wir uns ruhig ein bißchen Zeit lassen. Außerdem wär's doch eine Schande, noch mehr Enten aufzustöbern, meinst du nicht auch?" Das Lächeln, das sich um ihre Mundwinkel einzunisten begann, war so fein wie der Morgennebel, der aus dem See aufstieg. „Ja, du hast recht. Das wär's wirklich." Bisher war es Bruce gar nicht aufgefallen, wie sehr er ihr Lächeln vermißt hatte. Seit er sich den Bart abgenommen und wieder er selbst geworden war, hatte sie nicht mehr gelächelt. Sie hatte ihn bekämpft und verflucht und hatte sich ihm hingegeben in einem Moment, in - 127 -
dem sie vor Leidenschaft von allen guten Geistern verlassen gewesen war, aber gelächelt hatte sie kein einziges Mal. Er sah sie wieder an, wobei er sich sehnlichst wünschte, daß sie ganz allein auf der Welt wären und es nichts Trennendes gäbe, das zwischen ihnen stände. Hoffnungslose Wünsche, Überbleibsel der Verrücktheit der vergangenen Nacht. Sie unterdrückte ein Gähnen. „Danke, daß du mir den Schlafsack überlassen hast." „Gern geschehen." „Du mußt ja ganz durchgefroren sein." „Halb so schlimm. Hab mich mit dem Ölzeug zugedeckt." Er schaute an sich herunter auf sein Hemd. Es stand offen, weil Emma ihm in der vergangenen Nacht bei dem hastigen Versuch, es zu öffnen, sämtliche Knöpfe abgerissen hatte. „Es zieht höchstens ein bißchen." Emma folgte seinem Blick und spürte, wie sie rot wurde. Ihr Lächeln verblaßte. Sie unternahm einen erfolglosen Versuch, sich mit den Fingern das Haar durchzukämmen, und als sie die Hand wieder herunternahm, fielen ihr ihre abgebrochenen Fingernägel ins Auge. „Bruce, wegen dem, was heute nacht passiert ist... nach der Explosion... ich meine, zwischen uns..." Er hätte es wissen müssen, daß sie noch einmal davon anfangen würde und daß es kein Ausweichen gab. „Ja? Was ist damit?" fragte er sanft. Sie sah ihn fest an. „Ich will nicht so tun, als wäre es nicht geschehen." „Nein, das kann keiner von uns beiden." „Und ich will auch keine falsche Scham vortäuschen. Es war, was es war. Eine verständliche körperliche Reaktion auf außergewöhnliche Umstände." War es das? Natürlich, sie hatte recht. Die unbestreitbare, rein physische Anziehungskraft, die zwischen ihnen herrschte, hatte sich schon seit Tagen aufgebaut. Und jetzt, in der Streßsituation war es zu einer Entladung gekommen, das war alles. „Du hast recht. Uns sind eben einfach die Pferde durchgegangen." „Ja. Schätze, wir haben für einen Augenblick den Verstand - 128 -
verloren. Aber du weißt ja, daß das nicht noch mal passieren wird." Seufzend fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. „Ja, ich weiß, Emma. Aber ich würde dich auch gern etwas, fragen." „Mir geht es gut, falls es das ist, was du wissen möchtest. Ich bin nicht zerbrechlich." „Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich... es ging alles zu schnell, als daß ich noch irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen hätte treffen können. „Ach, das meinst du." Sie schwieg einen Moment. „Da besteht keine, Gefahr. Das Risiko war minimal, um es in deinen Worten auszudrücken. Er nickte. „Aber falls doch etwas sein sollte, versprichst du, es mir zu erzählen?" Diesmal dehnte sich das Schweigen für seine Ohren endlos. „Laß uns nicht von der Zukunft reden, ja?" Dann lagen sie ein Weilchen ohne zu reden Seite an Seite und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. „Emma?" brach er schließlich das Schweigen. „Ja?" „Erzähl mir von deinem Vater. Vermißt du ihn sehr?" „Er ist bei einem Jagdunfall umgekommen, aber er war schon lange vor diesem tragischen Unfall für uns verloren. An dem bewußten Tag war mir klar, daß ich ihn nicht allein zur Jagd gehen lassen sollte, ich habe gesehen, daß er betrunken war. Und doch habe ich nichts unternommen, weil ich ihm nicht reinreden wollte. Sein Zustand schien sich seit einiger Zeit gebessert zu haben, und ich hoffte, alles würde sich doch noch zum Guten wenden. Aber das war ein Irrtum." Sie hielt einen Augenblick inne. „Eins jedoch kann ich dir ganz klar sagen: Was auch immer deine Nachforschungen ergeben haben mögen, es war ein Unfall. Die Versicherungsgesellschaften waren die einzigen, die versucht haben, den Tod meines Vaters als Selbstmord hinzustellen." „Weil sie nicht zahlen wollten." „Du sagst es. Und die Medien haben einen anderen Skandal daraus gemacht - der Name Duprey hat über die Jahre hinweg eine Menge Kohle eingebracht. Doch damals sind die Reporter eindeutig übers - 129 -
Ziel hinausgeschossen." „Was ist passiert?" „Sie haben uns nicht in Ruhe gelassen, sie waren hinter uns her wie die Schmeißfliegen. Sogar am Grab noch, bei Dads Beerdigung... ach, es ist einfach zu widerlich. Aber der Kerl hat bekommen, was er verdient hat, als Simon ihm seine Kamera..." Abrupt hielt sie inne. „Als Simon was?" „Nichts." Er runzelte die Stirn und setzte sich auf, so daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. „Hat Simon ihn geschlagen?" Sie wich seinem Blick aus. „Nein, ich." Er stützte sich mit einer Hand auf der Erde auf und beugte sich über sie. „Emma, schau mich an. Meinst du nicht, daß wir nach allem, was letzte Nacht geschehen ist, vielleicht versuchen sollten, ein kleines bißchen ehrlicher zu sein?" Sie rollte sich von ihm weg und drehte sich um. „Ist mein Hemd trocken? Ich glaube, ich stehe jetzt auf." „Es ist trockener als heute nacht, aber noch nicht trocken. Laß deine Ausweichmanöver. Was war mit Simon?" „Laß mich in Ruhe, Bruce. Ich will mich jetzt anziehen. Es ist zu früh am Morgen für ein Polizeiverhör." Er seufzte. „Damit wären wir also wieder da, wo wir immer schon waren." Sie rutschte mit dem Schlafsack ein bißchen weiter zum Felsen hin, so daß sie ihr Hemd zu fassen bekam. „Waren wir jemals woanders?" „Das weißt du sehr gut. Emma, wir sind jetzt unter uns. Ich frage einfach nur deshalb, weil es mich interessiert, es hat mit meinem Job nichts zu tun." „Nur weil wir unsere Körper miteinander geteilt haben, müssen wir nicht alles andere auch teilen." Er wußte, daß sie recht hatte. Keiner von ihnen beiden wünschte, ihre Beziehung zu vertiefen, und doch... Sein Blick wanderte über den Horizont. Dann streckte er schnell die Hand aus und, legte sie ihr auf die Schulter. „Emma, bitte." "Warum?" „Warum? Weil ich die Wahrheit wissen will, das ist alles. Die - 130 -
Lügen machen mich ganz krank. Manchmal scheint es gute Gründe geben zu lügen, aber nach einer Weile wird die Schicht der Unehrlichkeit so dick, daß man glaubt, daran ersticken zu müssen. Sie hatte ihr Hemd mittlerweile übergestreift, und seine Finger lagen auf dem noch immer feuchten Stoff. Ihm wurde plötzlich ganz warm. Er hatte sie seit gestern nacht nicht mehr berührt. „Ich weiß, wovon ich rede. Wenn man als Undercover arbeitet und abtaucht, muß man oft monatelang Tag für Tag lügen. Man läuft mit der Zeit Gefahr, sich selbst zu verlieren." Er kniete sich hinter sie und legte ihr die Hand auf den Kopf. Sein Verlangen, sie zu berühren, war nicht nur rein sexuell. Während er mit den Fingern ihr Haar durchkämmte, schloß er die Augen und genoß das Gefühl, ihre weichen Strähnen zu fühlen. „Das mit dem Reporter warst nicht du, sondern dein Bruder, stimmt's?" „Fragst du als Cop?" „Nein, Emma. Ich habe es schon gesagt, ich will es nur für mich wissen." Wieviel Zärtlichkeit doch in seiner Berührung lag. Um sie ganz auskosten zu können, schloß Emma ebenfalls die Augen. Als er sie in der vergangenen Nacht aus dem Flugzeug geschleppt hatte, war sein Griff hart und kompromißlos gewesen, später dann rauh und drängend. Diese Berührung jetzt war ruhig und zart, und durch sie trieb Emmas alter Traum wieder an die Oberfläche ihres Bewußtseins. Der Traum, jemanden zu haben, mit dem zusammen sie aufwachen und die Sonne über den Horizont herauf klettern sehen könnte, jemanden, der sie im Arm hielte, wenn sie weinte. Jemanden, dem sie vertrauen könnte. Aber sie wußte, daß dieser Jemand nicht Bruce war. Sie liebten sich nicht. Sie hatten im Schutze der Nacht ihren Begierden freien Lauf gelassen, das ja, Liebe jedoch war etwas anderes. Nun hatte sie der neue Tag wieder, und sie würden dieselben sein, die sie gestern gewesen waren. Doch einen Moment noch, einen gestohlenen Moment lang, würde sie den Genuß, den er ihr verschaffte, voll auskosten. Sie seufzte. „Ja, wenn du es schon unbedingt wissen willst. Ich habe die Schuld für Simon auf mich genommen." Seine Finger lösten einen kleinen Knoten in ihrem Haar. „Dacht - 131 -
ich's mir doch. Ich weiß zwar aus Erfahrung, daß du fuchsteufelswütend werden kannst, aber daß du so töricht gewesen sein solltest, einen Reporter tätlich anzugreifen, hätte ich mir nur schwer vorstellen können." „Dieser Typ hat es geradezu herausgefordert", nahm sie Simon in Schutz. „Kein Wunder, daß du versucht hast, mich mit deinem Pfeil und Bogen einzuschüchtern, als du dachtest, ich sei ein Reporter." „Du läßt dich aber nicht so leicht einschüchtern, was?" „Du aber auch nicht." Sie beugte den Kopf nach vorn, als er die Haare in ihrem Nacken durchkämmte. „Ich hatte einfach die Nase voll, Bruce. Alles, was ich wollte, war meine Ruhe. Deshalb hab ich mir die Blockhütte hier gekauft und meinen Namen geändert." Als er ihr Haar geglättet hatte, legte er die Hand auf ihren Hals. "Deine Mutter ist an einer Überdosis gestorben?" „Tranquilizer und Wodka. Warum?" Er nahm seine Hand weg und rutschte auf Knien um sie herum, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Warum arbeitest du für McQuaig, Emma? Was ist der wirkliche Grund?" Die Frage kam nicht ganz überraschend, und doch hatte sie gehofft, daß sie noch etwas länger auf sich warten lassen würde. „Ich kann mir alles Mögliche vorstellen, worauf du dich einlassen würdest, um dich auf deine Weise für all das, was man deiner Familie angetan hat, zu rächen, aber ich bin mir sicher, daß du niemals Drogen schmuggeln würdest." Bruce lehnte sich nach vorn und sah sie eindringlich an. Emma wickelte sich aus dem Schlafsack und stand auf, wobei sie sich den Saum ihres Hemdes über die Oberschenkel zog. Zusammen mit der Nacht war auch ihr kurzer Waffenstillstand zu Ende gegangen. Den Blick auf Bruce gerichtet stieg sie in ihre Jeans. „Und du fragst wirklich nur für dich, ja" erkundigte sie sich mißtrauisch. „Macht das einen Unterschied?" „Das weißt du ganz genau." Plötzlich nahm sein Gesicht einen angespannten Ausdruck an. Der Romantiker, der träumerisch den Wildenten hinterhergeschaut hatte, - 132 -
hatte sich in Luft aufgelöst. „Ich weiß nicht", erwiderte er nach einiger Zeit zögernd. „Mein Job ist mein Leben." Sie knöpfte ihre Jeans zu und schlüpfte in ihre Stiefel. Lastendes Schweigen breitete sich aus. Plötzlich verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, aber sie wollte sich nicht eingestehen, daß der Grund dafür die Tränen waren, die ihren Blick verschleierten. „Du hast recht, das, was wir gestern miteinander gemacht haben, ändert nichts daran, wer wir sind." „Was wir gemacht haben? Wir haben uns geliebt, Emma. Ich, weiß nicht, wie du darauf kommst, daß ich das vergessen haben könnte." „Es war keine Liebe." Er zögerte und rieb sich die Augen, bevor er antwortete. „Nein, es war keine Liebe, und doch..." „Keiner von uns beiden macht sich irgendwelche Illusionen über das, was geschehen ist. Ich will zwar nicht soweit gehen zu behaupten, es sei nichts gewesen, aber wir sollten auch nicht mehr draus machen, als es in Wirklichkeit war. Es war Sex, schlicht und ergreifend. Wir waren einfach nicht mehr, in der Lage, klar zu denken; die Umstände waren außergewöhnlich, da haben eben die Hormone verrückt gespielt." „Ich weiß." „Im Moment sind wir noch aufeinander angewiesen, aber bald werden sich unsere Wege wieder trennen, das ist alles." „Glaubst du wirklich, daß wir wieder hinter gestern zurückgehen können?" fragte er und schüttelte hilflos den Kopf. „Wir können", erwiderte sie fest. „Wir sind heute dieselben wie gestern. Dieselben Menschen mit denselben Problemen. Du hast deine, und ich habe meine." Sie holte zitternd tief Luft und blinzelte ein paarmal rasch hintereinander. „Also los, stell deine Fragen, damit wir's ein für allemal hinter uns bringen." „Und du wirst sie mir beantworten?" Der klagende Ruf eines Seetauchers hing einen Moment über dem See, ehe er verklang. Der Wind trug den beißenden Geruch von verbranntem Benzin und abgestandenem Rauch, der aus den letzten Trümmern der Cessna, die noch nicht im Wasser versunken waren, aufstieg, zu ihnen herüber. Emma war in die Realität zurückgekehrt, - 133 -
ob sie es wollte oder nicht. „Warum nicht? Mein Deal mit McQuaig ist zusammen mit meinem Flugzeug hochgegangen. Alles, was ich jetzt noch zu verlieren habe, ist meine Ehre." „Okay. Also keine Lügen mehr. Warum wollte dich McQuaig umbringen?" „Ich weiß es nicht." „Du mußt doch zumindest eine Ahnung haben." „Nein, habe ich nicht. Vielleicht war der Anschlag ja nicht gegen mich, sondern gegen dich gerichtet. Vielleicht haben sie ja rausgefunden, daß du ein Cop bist." „Warum arbeitest du für sie? Es kann dir doch nicht um das Geld gehen, davon hast du ja mehr als genug. Also bitte, sag mir endlich die Wahrheit." Sie sah in seinen Augen, daß er die Wahrheit bereits wußte. Alles, was er wollte, war, sie aus ihrem Munde zu hören, doch sie schwieg. „Es hängt mit deinem Bruder zusammen", fuhr er schließlich fort, nachdem ihm klar geworden war, daß sie nicht bereit war zu reden. „Du machst das alles für Simon." Nun begann er seine Theorie vor ihr auszubreiten, die gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt lag. „Du bist in Wirklichkeit überhaupt nicht McQuaigs Kurier", beendete er schließlich seine Ausführungen. „Ich habe es dir gestern abend beim Fliegen ganz genau angesehen, daß du so etwas zum erstenmal gemacht hast. Die Frage ist für mich nur noch, warum sie den Mann, der die Drecksarbeit für sie erledigt hat, verloren haben." Jetzt endlich sah sie den Zeitpunkt gekommen, ihm zu erzählen, was geschehen war, nachdem Simon das letztemal die Cessna bei ihr abgeliefert hatte. Nachdem sie geendet hatte, starrte er sie lange Zeit nur an, die Hände, zu Fäusten geballt, an denen die Knöchel weiß hervortraten. „Warum, zum Teufel, hast du mir das damals nicht gleich erzählt?" stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Oder zumindest nachdem wir zusammen die Lagerhalle verlassen hatten?" „Hättest du mir denn geglaubt?" fragte sie herausfordernd. Er wich ihrem Blick aus. „Nein", gab er schließlich zu. „Na siehst du." „Aber da steckt noch mehr dahinter. Einen Cop zu belügen ist für - 134 -
dich wahrscheinlich schon eine reine Reflexhandlung, stimmt's?" „Richtig. Genauso wie es dir in Fleisch und Blut übergegangen ist, Cop zu sein und keinem Menschen über den Weg zu trauen." „Du warst also ein weiteres Mal bereit, die Suppe, die sich dein Bruder selbst eingebrockt hatte, für ihn auslöffeln", stellte er nüchtern fest. „Was blieb mir denn anderes übrig." Abrupt stand sie auf und bürstete sich, mit der Hand den Staub vom Hosenboden. „Ich habe gehofft, es würde funktionieren." „Funktionieren?" fragte er angesichts ihrer Naivität vollkommen entgeistert und deutete auf die Trümmer der Cessna. „Da siehst du, wie gut es funktioniert hat. Ist dir eigentlich klar, in welch eine Gefahr du dich gebracht hast, Emma? McQuaig bist du nicht gewachsen, Emma, glaub mir das. Ich kenne Leute wie ihn zur Genüge. Er hat dich reingelegt, dieser angebliche Deal war nur ein Trick. Ihm war sonnenklar, daß du eine Gefahr für ihn darstellst, und deshalb mußte diese Gefahr beseitigt werden. Das ist, schlicht und ergreifend, die ganze Wahrheit. So funktioniert das in diesen Kreisen, da du eben von Funktionieren gesprochen hast." Sie war kleinlaut geworden, scharrte verlegen mit den Füßen im Sand und sagte erst einmal lange Zeit nichts. Wahrscheinlich hatte er ja recht, aber so ganz zugeben mochte sie das auch nicht. Außerdem brannte ihr noch eine ganz andere Frage auf den Nägeln. „Aber du wirst Simon doch nicht vor Gericht bringen, wenn wir wieder zurück sind, oder?" fragte sie bang. „Voraussetzung für unseren Deal war, daß du dich nicht in meine Angelegenheiten einmischst." „Die Voraussetzungen haben sich geändert, Emma. Wenn du von Anfang ehrlich zu mir gewesen wärst..." „Hör auf mit dem Quatsch. Du hast selbst zugegeben, daß du mir nicht geglaubt hättest. Also, was ist, gilt unsere Abmachung noch, oder nicht?" „Ich will dich nicht belügen. Nein, sie gilt nicht mehr. Soweit es Simon betrifft, kann ich dir keine Versprechungen machen. Letztendlich hängt alles davon ab, wie weit er zu einer kooperativen Zusammenarbeit mit der Polizei bereit ist. Außerdem weiß ich wirklich nicht, warum du deinen Bruder noch immer wie ein kleines - 135 -
Kind behandelst. Er ist ein erwachsener Mann und muß endlich die Konsequenzen seines Tuns zu spüren bekommen." „Willst du damit sagen, daß du, nach allem, was zwischen uns war, meinen Bruder..." „Du hast es selbst gesagt, Emma, das, was zwischen uns geschehen ist, hat keine anderen Menschen aus uns gemacht." Sie war erregt aufgesprungen und starrte ihn an. Auch er hatte sich erhoben und stand, die Arme über der Brust verschränkt, breitbeinig vor ihr. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und ließ seine strahlend blauen Augen noch strahlender erscheinen. Alle Zärtlichkeit war mit einem Schlag von ihm abgefallen, und die Verletzlichkeit, die sie vorhin beim Aufwachen auf seinem Gesicht entdeckt hatte, war wie weggewischt. Er hatte seine Barrieren wieder errichtet und sich dahinter verschanzt. Er war noch immer ein schöner Mann, attraktiv und begehrenswert, aber kalt. Distanziert. Unberührbar. Nicht, schrie sie innerlich auf. Noch nicht. Laß uns noch einmal zurückgehen, nur ganz kurz, laß uns nur für einen kleinen Moment vergessen, wer wir sind... „Wir sollten uns langsam auf den Weg machen", brummte er unwirsch, nachdem ihm ihr Blick unerträglich geworden war. „Es gibt keinen Grund, hier noch länger rumzuhängen."
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11. KAPITEL Das langsam verlöschende Lagerfeuer warf lange Schatten über die schroffen, nackten Felsen und die niedrigen Sträucher. Emma rückte näher und warf einen dicken Ast in die rote Glut. Sie war todmüde und spürte ihre Beine kaum mehr, so taub waren sie vom langen Laufen. Sie waren den ganzen Tag durch die Wildnis gewandert, ohne auch nur auf das geringste Anzeichen von Zivilisation gestoßen zu sein. Gegen Abend war ihnen klargeworden, daß sie sich auf eine zweite Nacht unter freiem Himmel würden einstellen müssen. Glücklicherweise hatte Emma in ihrem Erste-Hilfe-Kasten eine Notration, bestehend aus einer Dose Corned Beef und einem Nudelgericht dabei, so daß sie sich wenigstens nicht mit knurrendem Magen zur Ruhe begeben mußten. Fröstelnd schlug Emma die Arme übereinander. Trotz des Lagerfeuers erschien es ihr heute nacht kälter als gestern, was aber wahrscheinlich weniger etwas mit der Temperatur zu tun hatte als mit der besonderen Situation, in der sie sich gestern befunden hatten. Bruce hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Ölzeug und starrte schon seit fast einer Stunde schweigend in die Flammen. „Willst du vielleicht heute nacht den Schlafsack" brach Emma das Schweigen. „Nein, nimm ihn nur." „Aber ich hatte ihn doch schon letzte Nacht. Diesmal bist du an der Reihe, das ist nur fair." „Nimm ihn, Emma. Ich komme schon klar." Natürlich gab es noch eine andere Lösung. Sie könnten sich den Schlafsack einfach teilen. Zwar würde es etwas eng werden, aber wenn sie sich aneinanderpreßten, würde es gehen. Ja, es würde sogar sehr gut gehen. Rasch legte sie den Arm über ihre Augen, um das Bild ihrer eng umschlungenen Körper zu vertreiben, doch es wollte nicht weichen. Bruce räusperte sich. „Ich würde morgen ganz gern früh aufstehen. Vorhin, als ich unten an der Quelle war, kam es mir so vor, als hätte ich einen Truck gehört. Sehr weit entfernt allerdings." Sie sah auf. „Wo?" - 137 -
„Irgendwo nördlich. Bestimmt einige Meilen von hier, aber dort könnte die Straße sein, nach der wir heute gesucht haben." Er zerrte den Schlafsack aus seiner Umhüllung und breitete ihn neben dem Ölzeug nahe beim Feuer aus. „Also los, laß uns schlafengehen." Im Schein der Flammen fiel ihr wieder die versengte Stelle an seinem Hemd auf, die sie am Nachmittag, als sie hinter ihm hergelaufen war, bereits entdeckt hatte. Sie hatte nichts erwähnt, weil ihre Aufmerksamkeit zu sehr von seinem raubtierhaften Gang in Anspruch genommen gewesen war. „Was ist denn mit deinem Hemd passiert?" Er wandte den Kopf und sah über seine Schulter. „Das ist von letzter Nacht." Schmetterlinge flatterten plötzlich in ihrem Bauch. „Willst du damit sagen, daß ich das war?" Mit einem amüsierten Auflachen ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Ölzeug nieder. „Nein. Von der Explosion. Da hat mich ein Splitter erwischt." „Oh." Sie rappelte sich auf und ging um das Feuer herum zu ihm hinüber. „Laß mal sehen." „Warum denn?" „Ist vielleicht besser, die Wunde zu desinfizieren. „Nein, laß mal, das ist schon okay." „Das kannst du doch gar nicht wissen." Sie holte das Desinfektionsmittel aus dem Erste-Hilfe-Kasten. „Los, runter mit dem Hemd, ich will's mir mal anschauen." Als er sie ansah, spiegelten sich die Flammen in seinen Augen. Lange Zeit rührte er sich nicht von der Stelle. Dann endlich knöpfte er ganz langsam die zwei Knöpfe, die seinem Hemd noch verblieben waren, auf und ließ es über die Schulter hinabgleiten. Seine Haut glänzte samtig weich, und der orangefarbenen Schein des Feuers tanzte auf seinen durchtrainierten Muskeln. Er legte das Hemd neben sich auf den Boden und wartete. Obwohl Emma sich durchaus darüber im klaren war, wie sie ihn anstarrte, gelang es ihr doch nicht, den Blick von ihm wenden. Er hatte die Macho-Allüren von Primeau gar nicht nötig, um ihren Puls in die Höhe zu treiben. Seine männliche Ausstrahlung war nicht - 138 -
gespielt, sondern Teil seiner selbst. Um sich zu beruhigen, holte sie tief Luft und kniete sich neben ihm nieder. „Das Feuer blendet. Dreh dich ein bißchen weg, damit ich besser sehen kann." Die Beine noch immer gekreuzt, die Hände in die Hüften gestützt, machte er eine leichte Halbdrehung, wobei sich seine Rücken- und Schultermuskeln anspannten. „Wir haben wirklich Schwein gehabt. Der Felsen hat das meiste von dem Zeug abgehalten." Die Stelle war gerötet und hatte etwa die Länge ihres Zeigefingers, aber sie sah nicht weiter gefährlich aus. „Halb so schlimm", sagte sie. „Hab ich dir doch gleich gesagt." Ihr Blick wanderte über seinen Rücken. „Was hast du denn da an der linken Schulter? Das ist ja ein riesiger blauer Fleck." „Das stammt von der Kiste, die während der Landung umgekippt ist." Sie fuhr mit ihrer Untersuchung fort, obwohl er ganz offensichtlich ihrer Hilfe nicht bedurfte. Sie wollte einfach noch nicht von ihm ablassen. „Und das hier an deinem Hals? Waren das auch Splitter?" Er betastete mit den Fingerspitzen einen der langen, dünnen Kratzer, die über seinen Hals verliefen. „Du meinst hier?" „Da ist getrocknetes Blut dran." Sie schraubte die Flasche mit dem Desinfektionsmittel auf und bepinselte die Wunde. „Vielleicht hast du es dir ja mit dem Bündel, das du den ganzen Tag über rumgeschleppt hast, irgendwie wundgescheuert." „Nein, das ist auch von vergangener Nacht." „Es ist alles so schnell gegangen - ich glaube, ich habe gar nicht bemerkt, wie fürchterlich diese Explosion war." Sie ließ ihre Fingerspitzen einen Moment auf seinem Schulterblatt liegen. „Ich sollte dir wirklich noch mal danken, daß du dich über mich geworfen hast. Dabei hast du wahrscheinlich auch die Schrammen abbekommen." „Nicht direkt." „Bruce, mir ist klar, daß ich dich in dem Augenblick ziemlich übel beschimpft habe, aber jetzt im Nachhinein bin ich dir wirklich dankbar für das, was du für mich getan hast... ich meine, die Art, wie du mich mit deinem Körper..." Sie spürte, wie er unter ihren Fingerspitzen vor Lachen erbebte. „Was ist denn daran so lustig?" - 139 -
„Die Kratzer sind nicht von der Explosion, Emma." „Aber woher..." Ihre Frage blieb genauso plötzlich in der Luft hängen, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Schlagartig war ihr alles klar. Sie schaute erst auf die Kratzer, dann auf ihre abgebrochenen Nägel. „Oh, Gott. Das war ich, stimmt's?" Er wandte den Kopf und schaute sie an. In seinen Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen. „Ich hab gar nichts davon gemerkt." „Tut mir leid, Bruce." „Es gibt eine Menge Dinge zwischen uns, die einer Entschuldigung bedürften, Emma, aber glaub mir, das ist keins davon." Sie hatte ihn in der vergangenen Nacht, vollkommen von Sinnen, blutig gekratzt. Wieder etwas, worüber sie eigentlich vor Scham in den Boden versinken sollte. Doch sie tat es nicht. Was war nur los mit ihr? Hinter ihr fiel ein Ast mit einem leisen Zischen ins Feuer. Im Schein der Flamme, die gleich darauf emporzügelte, erblickte sie auf seinem Rücken eine lange Narbe. Sie stellte die Flasche mit Desinfektionsmittel beiseite und beugte sich darüber, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Die Wunde war längst verheilt, aber sie mußte sehr tief gewesen sein. „Und was ist das hier?" „Was?" Behutsam fuhr sie mit der Fingerspitze über die vernarbte Stelle. „Hier." Sein Lächeln erstarb. „Ein Souvenir. Auch von einer Explosion", gab er kurzangebunden zurück und griff nach seinem Hemd. „Wann war denn das?" Er rückte ein Stück von ihr weg. „Vor ein paar Jahren. Ich will nicht darüber reden." Sie packte ihn am Arm. „Warum nicht?" brach es aus ihr heraus. „Du weißt von mir mittlerweile alles, was es zu wissen gibt, aber du bist nicht bereit, mir etwas von dir zu erzählen. Das ist nicht fair. " Er schüttelte ihre Hand ab und fuhr in sein Hemd. „Bist du dir ganz sicher, daß du es wissen willst, Emma?" Wollte sie es wirklich wissen? Er hatte sie ausgefragt, weil es den Fall, hinter dem er her war, betraf und nicht etwa deshalb, weil er an ihr persönlich interessiert gewesen wäre. Diese Ausrede hatte sie nicht. Sie sollte besser allein in ihren Schlafsack kriechen, die Augen - 140 -
zumachen und ganz schnell all diese gefährlichen Gefühle die ihr den Verstand trübten, vergessen. „Ja", sagte sie weich und legte ihre Hand wieder auf seinen Arm. „Ich will es wissen, Bruce." Sie spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. „Mein Auto ist in die Luft geflogen. Ich hatte etwas vergessen und ging deshalb noch mal zum Haus zurück, als mich der Splitter traf. Er muß verdammt groß gewesen sein. Glücklicherweise war ich geistesgegenwärtig genug, mich sofort auf den Rasen zu werfen. Die Bombe war an der Zündung angeschlossen." Sie schluckte hart. „Großer Gott. Du hättest dabei umkommen können. " „Das war der Zweck der Übung. Ich sollte an diesem Morgen vor Gericht als Zeuge aussagen. Zufälligerweise war ich - damals noch ein ganz normaler Straßencop - über eine Bande gestolpert, die Raubkopien von Videofilmen anfertigten. Videofilme! Das muß man sich mal vorstellen. Nur für ein paar lumpige Videofilme waren diese Leute bereit, einen unschuldigen Menschen zu töten." Zu töten? Die Muskeln unter ihrer Hand spannten sich noch mehr an. Sie sah, wie er die Schultern straffte. Langsam sickerte das, was er gesagt hatte, in ihr Gehirn ein. Die Bombe war mit der Zündung montiert. Das Auto war in die Luft geflogen, aber er war zu diesem Moment gerade über den Rasen gegangen. „Wer saß in dem Wagen, Bruce?" „Meine Frau." Die Qual, die sie aus diesen beiden Worten heraushörte, ging ihr ohne Vorwarnung durch und durch. Sie lehnte ihre Stirn gegen seinen Rücken. Seine Frau. „Das tut mir leid", flüsterte sie. Er holte zitternd tief Luft, aber er schob sie nicht weg. „Es war an einem Apriltag vor fünf Jahren. An einem dieser herrlichen Frühlingstage, an denen. die Luft schon ganz weich ist und die Blätter der Bäume zu knospen beginnen. Lizzie hatte einen Arzttermin und wollte mich unterwegs beim Gericht absetzen. Sie hatte es eilig. Lizzie hatte es immer eilig." „Du mußt sie sehr geliebt haben", sagte sie leise. „Ich kann es an deiner Stimme hören." „Bei Gott, ja, ich habe sie sehr geliebt. Sie war alles für mich. - 141 -
Weißt du, sie war eine jener Frauen, von denen man instinktiv angezogen wird, wenn man durch einen Raum mit lauter Fremden geht. Wir glaubten, wir hätten uns für den Rest unseres Lebens. Wir hatten so viele Pläne. Und als sie herausfand, daß sie schwanger war..." Er unterbrach sich, sein Atem ging plötzlich keuchend. Emma konnte seine Qual fast körperlich spüren. Sie schloß die Augen und preßte ihre Stirn an seinen Rücken. „Oh, nein." „Oh, doch. Sie war im dritten Monat, als sie sie umbrachten." Ohne zu zögern schlang Emma ihre Arme um seine Taille und zog ihn ganz eng an sich. Die Nacht hüllte sie ein wie in einen schwarzen Kokon. Nur das Knacken der Zweige auf der Feuerstelle unterbrach ab und an die Stille. Sie schwiegen lange. „Wie hast du es geschafft zu überleben?" fragte sie schließlich. „Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, bin ich das erstemal als Undercover-Agent untergetaucht. In drei Wochen hatte ich meinen Auftrag erledigt." Sie brauchte nicht zu fragen, was es war.„Hast du sie erwischt?" „Ja. Allerdings gab es in diesem Fall keinen Grund, stolz zu sein. Es war um Rache gegangen, nicht um Gerechtigkeit. Der nächste Auftrag fiel mir schon leichter. Langsam begann ich herauszufinden, daß ich mich in meiner Arbeit verlieren konnte. Dienstmarke und Gesetzbuch haben mir geholfen, über meinen Schmerz hinwegzukommen." Das Echo ihrer wütenden Worte aus der vorhergehenden Nacht hallte durch ihren Kopf. Sie schmiegte sich enger an ihn. "Es tut mir leid, Bruce. Es tut mir so leid. Ich habe nur an mich gedacht. Ich wünschte, ich könnte das, was ich gesagt habe, zurücknehmen." „Mach dir nichts draus. " „Aber ich habe dich verletzt. Ich war grausam. Ich hätte mir denken können..." „Wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen. Ich habe nicht vergessen was ich dir angetan habe, daß ich dein Vertrauen mißbraucht und versucht habe, dich zu benützen. Aber du hast mir einen Spiegel vorgehalten, und mir ist klar geworden, daß ich so nicht weitermachen kann. Alles, was ich die ganze Zeit über gesehen habe„ waren mein Job und mein unverrückbares. Bild von Recht und - 142 -
Unrecht. Ausnahmen oder Abweichungen waren nicht vorgesehen." „Aber was du mir eben erzählt hast, erklärt vieles." Er legte seine Hand auf ihre und verflocht seine Finger mit den ihren. „Es war eine vertrackte Situation. Von Anfang an. Wir hatten beide unsere guten Gründe dafür, wie wir uns verhalten haben." Sie klammerte sich weiter an ihn. Sie wollte sich nicht bewegen. Ihr wurde klar, daß er wußte, wie weh es tat, etwas zu verlieren. Etwas, das einem alles bedeutete. Er hatte seine Familie verloren und seine Pläne. Er war ein Opfer von Umständen geworden, auf die er keinen Einfluß hatte. Sie waren beide Überlebende. Das Band zwischen ihnen, dessen Vorhandensein sie instinktiv immer gespürt hatte, war viel stärker, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Diese plötzliche Veränderung ihres Blickwinkels hatte sie schon einmal erlebt. Vor ein paar Tagen, als Bruce ihr plötzlich ohne Bart und vorgetäuschte Fettpolster gegegenübergetreten war. Ihr war klargeworden, daß sie ihn die ganze Zeit über in einem falschen Licht gesehen hatte. Diesmal jedoch war es viel schlimmer. Er war eben nicht der gefühllose Roboter, der eiskalte Cop, der bestens in ihr Bild gepaßt hätte. Nein, er hatte gelitten und hatte etwas verloren, das ihm sein Leben bedeutet hatte. Jetzt machte das alles Sinn für sie. Sie verstand, warum er sich hinter seiner Arbeit verschanzte, warum er so verschlossen und hart war. Ja, sie verstand. Das Band zwischen ihnen war stark. Aber es machte die Sache noch komplizierter, als sie ohnehin schon war. Ein Cop zu sein war für ihn mehr als nur ein Job. Sein Beruf hatte ihm geholfen, mit seinem Schmerz und dem Verlust, den er erlitten hatte, zu leben. Und sie konnte mit ihrem Schmerz nur leben, indem sie Cops zu ihrem Feindbild Nummer eins hochstilisierte und sie haßte. O Gott. Es war hoffnungslos. Er nahm ihre Hand, die noch immer an seiner Hüfte lag, und zog sie an seine Lippen. „Es ist spät, Emma. Lag uns schlafen gehen." Emma hatte sich noch niemals einem Menschen mehr verbunden gefühlt als ihm in diesem Moment. Sie wollte ihn nicht loslassen. Sie wünschte sich, seinen Kopf an ihre Brust ziehen und wieder in den wilden Taumel versinken zu können wie in der vergangenen Nacht. Und doch wußte sie, daß das nicht noch einmal passieren durfte. - 143 -
Würde sie jetzt ihren Gefühlen nachgeben, wäre das der Sündenfall. Beim ersten Mal könnte man die Entschuldigung der außergewöhnlichen Umstände geltend machen, doch für das zweite Mal gab es keine Ausrede. Unter ihren geschlossenen Lidern quollen zwei dicke Tränen hervor und tropften auf sein Hemd. Während ihn ein leiser Schauer überlief, ließ er ihre Hand los. „Geh schlafen, Emma.“
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12. KAPITEL Nach einigen Stunden Fußmarsch am nächsten Tag stießen sie schließlich auf die gesuchte Straße, und es dauerte nicht lange, bis ein Holzfällertruck vorbeikam, der sie mitnahm. Der Waldarbeiter, froh Gesellschaft zu haben, verwickelte sie in eine angeregte Unterhaltung, so daß die Zeit im Nu verflog. Erst bei Einbruch der Dunkelheit tauchten die ersten Anzeichen der Zivilisation in Form von Strommasten vor ihnen auf, und wenig später erreichten sie Castlerock, einen kleinen Ort, der nur aus ein paar Häusern, einer Tankstelle, einer Post, einem Restaurant und einer Handvoll Geschäften bestand. „Puh - endlich geschafft." Emma atmete erleichtert auf, als der Fahrer vor einem Motel anhielt, das in den Ausläufern des Waldes, der den Ort umgab, gelegen war. Als er, eingehüllt in Wasserdampf und eine Duftwolke der Hotelseife, aus dem Bad trat, blieb Bruce einen Moment auf der Schwelle stehen und sah sich um, während er sich mit einem Badetuch das Haar trockenrubbelte. Das Motelzimmer strahlte die gleiche Anonymität aus, wie sie unzählige Motelzimmer in unzähligen Gegenden, durch die er im Laufe der Jahre gekommen war, ausgestrahlt hatten. Alles war sauber, praktisch und ordentlich. Doppelbett, der Fernseher - wie üblich auf einer Konsole festgeschraubt, um zu verhindern, daß ihn ein Hotelgast mitgehen ließ - ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein Bad. Wie viele Nächte hatte er eigentlich in diesem Jahr, in seinem eigenen Bett verbracht? Er wußte es nicht, viele konnten es allerdings nicht gewesen sein. Es machte ihm nichts aus, monatelang unterwegs zu sein, das eine anonyme Motel mit dem nächsten zu vertauschen, denn auch sein Apartment war kein wirkliches Zuhause. Er hatte kein Zuhause. Nicht mehr. Die Matratze ächzte, als Emma sich auf den Bettrand setzte. Sie nahm einen Kamm zur Hand und fuhr sich durch ihr nasses Haar. Bruce wandte sich um, ging wieder ins Bad, warf das Frotteetuch über die Duschstange und schlüpfte in sein Hemd. Er fühlte sich - 145 -
unwohl. Während des Abendessens, das sie in dem kleinen Restaurant hungrig in sich hineingeschlungen hatten, hatte Emma kaum ein Wort gesprochen. Schließlich stellte er seine Bemühungen, ein Gespräch in Gang zu bringen, ein und sagte auch nichts mehr. Die Spannung zwischen ihnen stieg von Minute zu Minute. Eigentlich hätte er schon längst Xavier anrufen müssen, doch bis jetzt hatte er das Telefonat immer wieder hinausgeschoben. Warum, wußte er nicht. Sie waren jetzt seit zwei Stunden hier in der Stadt, und ihre gemeinsame Zeit näherte sich dem Ende. Er mußte sich Emma aus dem Kopf schlagen, mußte vergessen, wie sie in seinen Armen erschauert war, und wie sie, das Gesicht an seinen Rücken gepreßt, geweint hatte. Das, was vor zwei Nächten passiert war, war verständlich gewesen, doch daß er ihr gestern abend von Lizzie erzählt hatte, war unverzeihlich. Wie konnte er nur? Er sprach doch sonst nie darüber. Er hatte diese Erinnerung über die Jahre hinweg erfolgreich im hintersten Winkel seines Herzens vergraben, die Tür verschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Den alten Schmerz wieder aufzuwühlen bedeutete, daß er sich plötzlich vor die Situation gestellt sah, sich Rechenschaft ablegen zu müssen darüber, warum er nichts anderes sein wollte als das, was er war. Und ob sein Leben, so wie er es lebte, eigentlich richtig war. Was ihm plötzlich alles für Sachen durch den Kopf gingen. Bruce schüttelte über sich selbst den Kopf. Das, was ihm an Emma anzog, war eine rein physische Sache. Und umgekehrt ebenso. Sie waren in dieser Hinsicht beide derselben Meinung gewesen. Er mußte jetzt sofort Xavier anrufen. Dieses Telefonat bot am ehesten die Gewähr dafür, daß er in die Realität zurückkehrte. Morgen würden sie wieder in Bethel Corners sein, und er würde das tun, wofür er seit fünf Jahren lebte. Er würde einen weiteren Fall zum Abschluß bringen. Die Sache noch länger hinauszuziehen, würde die Dinge nur noch schlimmer machen. Er holte tief Luft und ging zum Telefon. Und tat damit das, worauf Emma schon seit zwei Stunden wartete. Sie ließ den Kamm auf die Bettdecke fallen, zog die Beine hoch und schlang die Arme um ihre Knie. „Wen rufst du an?" - 146 -
„Xavier, meinen Kollegen." „Was wirst du, ihm erzählen?" „Die Wahrheit. „Alles?" „Alles, soweit es den Fall betrifft." „Was wirst du ihm über Simon sagen? Er sah sie einen Moment schweigend an, dann hielt er ihr den Hörer hin. „Willst du vielleicht selbst mit ihm sprechen?" „Nein, ich kann nicht. Ich käme mir wie eine Verräterin vor." Er hatte gewußt, daß sie so empfinden würde. Und er verstand sie trotz alledem. „Deine Loyalität ist hier wirklich fehl am Platz." „Nein, ist sie nicht. Er ist der einzige Mensch, den ich habe, und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihm, zu helfen. Ich weiß, daß ich Fehler gemacht habe, aber ich werde trotzdem weiter zu ihm halten, und wenn du dich auf, den Kopf stellst." „Er ist ein Gesetzesbrecher." „Er ist reingelegt worden. Diese Verbrecher haben ihn ganz bewußt beim Spielen bis aufs Hemd ausgezogen, um ihn anschließend erpressen zu können. Ihm blieb doch überhaupt nichts anderes übrig. Er war in einer Notsituation und verdient mildernde Umstände." „Billigst du das, was er getan hat?" Sie legte das Kinn auf ihr Knie und schaute ihm fest in die Augen. „Selbstverständlich nicht. Oder glaubst du vielleicht, ich könnte nicht Recht von Unrecht unterscheiden?" „Das Schicksal deines Bruders liegt nicht in meiner Hand. Und auch nicht in deiner. Der einzige, der etwas für ihn tun kann, ist er selbst. Laß es Emma, du hast alles für ihn getan, was in deiner Macht stand." Sie hob das Kinn. Einen Moment lang schien es, als wollte sie ihm widersprechen, doch dann schluckte sie nur, wandte das Gesicht ab und schwieg. Er preßte den Hörer ans Ohr und wählte. Die vertraute Stimme Xaviers tat ihm gut. Augenblicklich schlüpfte er wieder in seine alte Rolle zurück. In knappen, präzisen Worten schilderte er seinem Kollegen, was geschehen war. Als die Sprache auf Simon kam, wurde Emma stocksteif. Wie angekündigt, teilte Bruce Xavier alles mit, was sie ihm erzählt hatte. - 147 -
Doch auch Xavier hatte Neuigkeiten. McQuaig hatte Hals über Kopf seine Zelte in der Lagerhalle abgebrochen und alles leergeräumt. Xavier stellte die Vermutung an, daß es mit Emma zusammenhängen könnte. Augenscheinlich hatte der Drogenboß Verrat gewittert und seine Vorkehrungen getroffen. „Okay, Bruce. Ich schick morgen jemanden raus, der euch nach Bethel Corners zurückbringt. Dort werden wir dann zusammen die nächsten Schritte planen." „Warum in Bethel Corners?" „Weil dort die eigentliche Zuständigkeit für den Fall liegt. Ich bin gehalten, morgen mit Sheriff Haskin zu sprechen." Bruce runzelte die Stirn. „Kein sehr angenehmer Zeitgenosse. " „Da sagst du mir nichts Neues. Aber wenn wir ihn einfach übergehen, gibt's Schwierigkeiten. Nach allem, was ich gehört habe, ist er der typische Kleinstadtsheriff mit Spatzenhirn und größer Klappe, stimmt's?" Als Bruce ein paar Minuten später auflegte, hatten sich seine Sorgenfalten auf der Stirn noch vertieft. Emma musterte ihn beunruhigt. „Und?" erkundigte sie sich schließlich. „Was und?" „Hast du etwas über Simons Aufenthaltsort erfahren?" „Laut Auskunft unseres Informanten geht es ihm gut, und er denkt gar nicht daran, die Zusammenarbeit mit McQuaig zu beenden. Nervös verflocht sie ihre Finger ineinander und schwieg. „Was habt ihr vor?" „Das wird sich morgen erst rausstellen." „Aber ich werde doch nicht verhaftet, oder etwa doch?" „Ich könnte dich wegen Unterdrückung von Beweismaterial dran kriegen, aber ich hoffe doch, daß du so weise bist, von dir aus mit uns zusammenzuarbeiten." Sie wanderte unruhig durchs Zimmer und blieb, als sie an der Tür vorüberkam, stehen. Nervös fingerte sie an der Vorlegekette herum. „Denkst du noch immer, daß ich McQuaig warnen werde, wenn du mich allein läßt?" „Nein." „Warum haben wir dann ein Doppelzimmer?" - 148 -
Bruce sog scharf die Luft ein. Sie hatte es wiedergetan. Zielsicher hatte sie mit ihrem Pfeil den wunden Punkt, den er so sorgsam unter seiner Rüstung verbarg, getroffen. Ihre Frage kam unerwartet, und sie war gefährlich. Er wollte nicht antworten. Sein Blick fiel auf das Bett. Ein Bett. Zwei Nächte lang hatten sie Seite an Seite geschlafen. Er hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen, getrennte Zimmer zu buchen. Doch warum? Er hatte nicht die Absicht, ihr noch näher zu kommen, und er wußte, daß sie das, was nach der Explosion geschehen war, keinesfalls wiederholen durften. Ebenso wie er sich darüber im klaren war, daß sie ihn und alles, wofür er stand, verabscheute. „Bruce?" Ihre Blicke trafen sich. Und plötzlich hatte er die Antwort. „Weil ich nicht allein sein wollte, Emma." Sie wirbelte herum und preßte ihre Stirn gegen die Tür. „Sag das nicht, Bruce." Ja, sie hatte recht. Er sollte so etwas nicht sagen. Für sie beide gab es keine gemeinsame Zukunft. Und doch ging er um das Bett herum zur Tür und stellte sich hinter sie. „Willst du denn ein eigenes Zimmer?" „Ich sollte es wollen." „Das habe ich nicht gefragt. „Nein? Was genau hast du denn gefragt?" Er hob seine Hand, um sie ihr auf die Schulter zu legen, aber sie blieb in der Luft hängen. Was hatte er gefragt? Was wünschte er sich? „Ich will verdammt sein, wenn ich es noch weiß." Das Geräusch, das sie von sich gab, war ein Zwischending zwischen einem, Lachen und einem Seufzer. „Ich will auch verdammt sein, wenn ich es weiß." „Es ist schon spät. Vor morgen können wir nichts mehr in die Wege leiten." „Stimmt. Meinst du, wir könnten uns dann vielleicht gemeinsam den Sonnenuntergang anschauen?" Er war überrascht. „Was?" Sie schlüpfte unter ihm hindurch und ging zum Fenster. Ihre Hand zitterte, als sie den Vorhang beiseite zog. Orangefarbene - 149 -
Sonnenstrahlen ergossen sich ins Zimmer und vergoldeten ihre Gesichtszüge. In ihren Augen tanzten winzigkleine Fünkchen, „Die Sonnenuntergänge bei meinem Blockhaus sind manchmal wirklich spektakulär. An warmen Tagen geh ich dann raus zum Anleger und schaue sie mir von dort aus an. Ich liebe Sonnenuntergänge." Er ging zu ihr hinüber und stellte sich neben sie. Sein Blick fiel auf den Parkplatz und eine kleine Dorfstraße. Nicht gerade ein überwältigender Ausblick, aber der Himmel leuchtete in allen Farben des Regenbogens. Er selbst hätte es gar nicht bemerkt. „Du überraschst mich immer wieder von neuem, Emma." „Nimmst du dir nie die Zeit, zuzuschauen, wie die Sonne untergeht?" „In der letzten Zeit nicht. Mein Job..." Er hielt inne und dachte über die Ausrede nach, die sich ihm auf die Lippen drängte. Er hielt sie zurück. Es hatte keinen Zweck, sie zog nicht mehr, also schwieg er lieber. „Aber dieser Sonnenuntergang ist wunderschön", sagte er nach einer Weile. „Ich werde ihn nie vergessen." Ihre Hand, die noch immer den Vorhang hielt, ballte sich zu einer Faust zusammen. „Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, und ich habe zu viele Sonnenuntergänge allein angeschaut, Bruce. Deshalb will ich wenigstens heute nacht nicht allein sein." Er legte sein Kinn auf ihren Scheitel. Sie duftete nach derselben Seife wie er. „Das mußt du auch nicht, Emma." „So wie du das sagst, klingt es ganz einfach, nur leider ist es das nicht. Wie kann ich mir wünschen, mit dir die Nacht zu verbringen, wenn du und deine Leute meinen Bruder ins Gefängnis bringen wollt? Wie kann ich es vor mir selbst verantworten, daß..." „Sschch ..." Er schlang seine Arme um ihre Taille und verschränkte sie unter ihrer Brust. „Laß uns noch einmal einen Waffenstillstand schließen. Nur für heute nacht. Laß uns einfach wir selbst sein, nur du und ich. Und tu, was immer du tun willst. Und wenn du nichts tun willst, dann tu einfach nichts." Sie standen schweigend eng aneinandergeschmiegt, bis die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont versunken waren. Emma spürte, wie sein Atem über ihr Haar hinwegging und seine Wärme die Schatten verscheuchte. Langsam ließ sie den Vorhang los und - 150 -
beobachtete, wie der dünne Stoff geräuschlos zurückfiel. Was immer du tun willst. Ob er ahnte, was es war? Spürte er, wie sehr sie sich nach ihm sehnte? Bestimmt nicht. Genausowenig wie er die Hoffnungslosigkeit erahnen konnte, die sie befiel, wenn sie über ihre Situation nachdachte. Woher sollte er auch wissen, daß ihre Wünsche über einen vorübergehenden Waffenstillstand oder eine gemeinsame Nacht weit hinausgingen? „Emma?" Der tiefe, zärtliche Klang seiner Stimme bewirkte, daß Emma all ihre Vorsicht über Bord warf. Er schlang die Arme noch fester um sie und wiegte sie sanft hin und her in einem Rhythmus, der nach keiner Musik verlangte. Sie schloß die Augen und ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. „Ich bin müde vom vielen Kämpfen, Bruce." „Dann hör auf damit." Zärtlich streiften seine Lippen ihre Wangen und wanderten zu ihrem Ohrläppchen. „Ich kann einfach nicht von dir lassen, und dabei habe ich alles versucht, Gott ist mein Zeuge. Jeder Versuch endet nur damit, daß ich mich noch enger an dich gebunden fühle." „Mir geht es genauso. Von Anfang an." „Du bist eine leidenschaftliche Frau, Emma. Ich habe deinen Zorn zu spüren bekommen und dein Begehren. Und ich kann keins von beiden vergessen." Zorn und Begehren. Das alles hatte er gesehen, und er wünschte sich, es wieder zu sehen. Sie verstand nur allzu gut, warum, aber das machte die Dinge auch nicht einfacher. Er bewegte seinen Arm, wobei er versehentlich die Unterseite ihrer linken Brust streifte. Seine Muskeln strafften sich, dann hob sich ihr Busen. „Ich kann nicht vergessen, wie du im Mondlicht ausgesehen hast, die Haut schimmernd wie Perlmutt, am Hals noch Wassertropfen von deinem unfreiwilligen Bad im See. Ich habe sie abgeleckt. Weißt du, wie sie, geschmeckt haben? Wie Sonnenschein, warm und voller Leben - wie du. " Sie spürte, wie ihr Begehren erwachte. Sie schmiegte sich in seine Umarmung, hob die Hände“ griff nach hinten und umschloß sein Gesicht mit den Händen. Er drehte den Kopf, nahm ihrem Daumen zwischen die Lippen und - 151 -
biß zärtlich hinein. Dann fuhr er mit seiner Zungenspitze über ihr Handgelenk. „Mhmh - wie gut du riechst." Nun wandte sie sich um und warf sich an seine Brust. „Und du erst", flüsterte sie. „Das ist etwas, das sich nicht verändert hat, egal, ob du Prendergast, Primeau oder Prentice warst. Dein Duft war immer derselbe." Sie rieb ihre Nase an seinem Hemdkragen. „Es hat irgendwie etwas Primitives an sich. Manchmal" kann ich gar nicht glauben, daß..." „Zieh es aus." „Was?" „Mein Hemd." Er ließ die Arme fallen und wartete darauf, daß sie ihm das Hemd abstreifte. „Ich will, daß du mich heute richtig anschaust, ein einziges Mal wenigstens sollst du mich so sehen, wie ich wirklich bin." Ihr Puls begann sich zu beschleunigen, ganz langsam schob sie ihm das Hemd über die Schultern, und ihre Finger krallten sich einen Moment lang in den Stoff, bevor das Kleidungsstück lautlos zu Boden fiel. Schimmernde glatte Haut spannte sich über durchtrainierten Muskeln - o ja, sein Körper war wirklich so atemberaubend, wie er ihr in der vergangenen Nacht im Lichtschein des Lagerfeuers erschienen war. Und nun durfte sie ihn ohne Wenn und Aber berühren. „Du bist schön", flüsterte sie und legte zwei Fingerspitzen auf die kleine Hautfalte über seinem Bauchnabel. Er machte einen Schritt zurück. „Warte." Er griff in die Gesäßtasche seiner Jeans, holte seine Dienstmarke heraus und warf sie auf das Hemd. „Heute bin ich einfach nur ich." Dann öffnete er seinen Gürtel und zog den Reißverschluß auf. Einen Moment später stand er vor ihr, nackt. „Nur ich." Sie erbebte. Ihre Lippen öffneten sich leicht. Er hatte seine Kleider von sich geworfen, als wären sie ein Teil seiner Persönlichkeit, der ihm lästig geworden war. Er lächelte und streckte die Hand aus. Als Emma ihn so vor sich stehen sah, wußte sieh, daß sich dieses Bild unauslöschlich in ihre Erinnerung eingraben würde. Mit fliegendem Atem stieg sie über den Kleiderhaufen samt Dienstmarke - 152 -
und warf sich Bruce in die Arme. Kurzerhand hob er sie hoch, wirbelte sie herum und trug sie dann zum Bett. Sie hing an seinem Hals, während er sich vornüberbeugte, um die Bettdecke zurückzuschlagen. Dann ächzten die Sprungfedern, und sie spürte sein Gewicht auf ihrem Körper. „Ich würde mir heute gern etwas mehr Zeit nehmen", sagte er heiser, während er mit bebenden Fingern ihr Hemd aufknöpfte. Dann beugte er sich über ihre Brüste und küßte sie. „Aber ich weiß nicht, ob ich es so lange aushalte." Seine Berührungen brachten ihr Blut in Wallung „Und ich weiß nicht, ob ichs wirklich langsam möchte." Er zog den Reißverschluß an ihrer Hose auf, dann schob er ihr die Jeans samt Slip über die Hüften nach unten und warf das Kleiderbündel zu Boden. „Du bist unglaublich." Er rutschte ein Stückchen nach unten und ließ seine Lippen über ihren Bauch wandern. „Sogar hier riechst du nach Sonne." Es gab weder Hemmungen noch Scham. Emma genoß das, was er tat, in vollen Zügen. Sie hob die, Arme über den Kopf und preßte ihre Handflächen gegen das Kopfteil des Bettes, ihr Körper vibrierte. Ihre Reaktion entlockte ihm einen leisen, zufriedenen Laut, er umklammerte ihre Hüften, zog sie noch näher zu sich heran und verstärkte seine Bemühungen. Sie keuchte, schlug sich die Hände vors Gesicht und biß in ihre Fingerknöchel, um das laute Stöhnen, das in ihr aufstieg, einzudämmen. Jetzt warf sich Bruce über sie und zog ihre Hände beiseite und erstickte ihren Lustschrei mit einem langen, leidenschaftlichen Kuß. Wenig später drückte sie ihn an den Schultern von sich, bis er von ihr herunterrollte; dann erhob sie sich, kniete sich vor ihn und erkundete mit Lippen, Zunge und Zähnen seinen atemberaubenden Körper um keinen Deut weniger feurig und besitzergreifend, wie er es zuvor mit dem ihren getan hatte. Er hatte gewollt, daß sie sehen sollte, wie er wirklich war. Und sie schaute ihn an. Als sie seinen Bizeps betastete, fühlte sie seine Stärke, seine Entschlossenheit und seine Beharrlichkeit. Als sie sich mit der Hüfte an seiner heißen, harten, pochenden Männlichkeit rieb, spürte sie seine Leidenschaft, die so heftig war, daß es keine Worte gab, um sie zu beschreiben. Sie - 153 -
hob den Kopf, um ihm ins Gesicht zu schauen. Sie sah sein blondes, von der Sonne leicht ausgebleichtes Haar, das sich jungenhaft über den Ohren kringelte, sein energisches Kinn, den sensiblen Mund, die Lachfältchen in den Winkeln seiner unglaublich blauen Augen. Und sie sah mehr als nur sein Gesicht. Sie sah den Mann, den sie liebte. "Emma?" Ihre Lungen schrien nach Luft. Sie hatte vergessen zu atmen. „O Bruce", flüsterte sie. Sein schön geschwungener, empfindsamer Mund verzog sich zu einem Lächeln, geschmeidig wie ein Panther schlüpfte er unter ihr hindurch und drückte sie in die Kissen zurück. Mit einem Aufschluchzen rollte Emma auf den Rücken. Nein. Sie durfte ihn nicht lieben. O nein. „Habe ich dir weh getan? Alarmiert legte er eine Hand auf ihre Brust. „Tut mir leid, ich habe gar nicht gemerkt..." „Nein, du hast mir nicht weh getan." Sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte ihn nicht lieben. Nicht lieben. Nicht ihn. „Was möchtest du?" flüsterte er rauh, während er seinen Daumen spielerisch über ihre hart aufgerichtete Knospe gleiten ließ. „Sags mir. Wir machen alles, was du willst." Ich will, daß wir uns lieben, dachte sie wild. Daß wir uns ehrlich und aufrichtig lieben. Wir beide, du und ich, Bruce und Emma. Die Sehnsucht, die sie verspürte, blühte auf und wurde stärker und stärker. Sie packte sein Handgelenk und bedeckte seine Finger und seine Handfläche mit Tausenden kleiner Küsse. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, und sie wußte, daß sie es nicht würde unterdrücken können. Weil sie ihn gesehen hatte, wie er wirklich war. Und weil nun die Wahrheit, ihre Wahrheit, die Wahrheit ihres Herzens, ans Tageslicht gekommen war. Eng ineinander verschlungen, rollten sie auf dem Bett herum. Sie wollte alles von ihm, alles, seine Leidenschaft und Hingabe, seine Lust, seinen Schmerz. Ihre Fingerspitzen glitten über seine glatte, mit einem feinen Schweißfilm bedeckte Haut und erkundeten auch die geheimsten Stellen seines Körpers. Als sie die Narbe an seinem - 154 -
Rücken ertastete, erhob sie sich, kniete sie sich davor und küßte sie. Er erschauerte. Mit einem heiseren Aufstöhnen warf er sie auf den Rücken und spreizte ihre Schenkel. Es gab keine Worte für die Gefühle, die sie überwältigten, als sie ihn an sich zog, hilflos in einem Meer der über ihr zusammenschlagenden Emotionen. Bruce suchte mit bebenden Lippen ihren Mund und preßte sie in wilder Leidenschaft an sich, fiebernd, rasend vor Lust, und das Feuer ihrer Begierde verschmolz ihre Körper, als wären sie aus einem Guß. Seine Zunge tauchte tief ein in die Weichheit ihres Mundes und nahm den Rhythmus auf, in dem sich ihre Hüften wiegten. Sie klammerte sich an ihn und erwiderte seine Bewegungen, sanft erst und tastend, dann schneller, härter, sie hob sich ihm entgegen, daß sie ihn ganz tief aufnehmen konnte in sich, tief, so tief, bis ihr die Sinne zu schwinden drohten. Sie spürte, wie sie flogen. Ihre Ekstase wirbelte sie höher und höher, schleuderte sie hinaus in die grenzenlose Weite über den Wolken. Und dann ließen sie sich fallen. Noch bevor sie die Augen öffnete, wußte Emma, daß Bruce nicht mehr neben ihr lag. Als sie die Hand ausstreckte, spürte sie zwar noch seine Körperwärme auf dem Laken, doch der Platz neben ihr war leer. Wie war es nur möglich, daß sie sich erst so überströmend voll gefühlt hatte und nun plötzlich so leer? Konnte es angehen, daß auf eine so überwältigende Lust eine solch tiefe Traurigkeit folgte? Warum nur gingen mit der Liebe noch immer so viele andere verwirrende Gefühle einher? Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie den Schatten wahr, der sich neben dem Fenster bewegte. Sie wandte den Kopf und erkannte Bruce, der in der Dunkelheit stand, die Schultern gestrafft, den Kopf gesenkt. Als er sich umdrehte, sah sie, daß er etwas in der Hand hielt, etwas Flaches, Dunkles, Rechteckiges. Sie wußte, was es war. Es war das schwarze Lederetui, das er vorhin aus seiner Hosentasche gezogen und auf den Kleiderhaufen geworfen hatte. Seine Dienstmarke, und - 155 -
nun hatte er sie wieder an sich genommen. Vielleicht hatte er sie ja vorhin gar nicht wirklich abgelegt, wahrscheinlich war, ihm das gar nicht möglich. Sein Job war seine Rüstung. Und die hatte er jetzt wieder angelegt, obwohl er noch nackt war. Und selbst wenn die Dinge zwischen ihnen weniger kompliziert lägen, würde es, keinen Unterschied machen. Er würde sie niemals lieben. Und er würde es nie zulassen, daß sie ihn liebte. Sein Bild verschwamm vor ihren Augen. Ein paar, Stunden noch, und sie würden wieder in die Rollen zurückschlüpfen, die ihr jeweiliges Schicksal ihnen zugewiesen hatte. In ein paar Minuten würde ihr Waffenstillstand beendet sein. Noch nicht, schrie sie innerlich auf und drängte die Tränen zurück, die sie heiß in ihren Augen aufsteigen spürte. Laß uns noch einmal, nur ein einziges Mal, vergessen, wer wir sind. Laß uns lachen, fröhlich sein und uns lieben, nur noch ein Mal, bitte. Bruce wandte den Kopf, um sie anzusehen. Als er auf sie zukam und die Hände nach ihr ausstreckte, waren sie leer. Emma, das Schluchzen noch in der Kehle, sprang aus dem Bett hoch und taumelte, fast besinnungslos vor Glück, in seine Arme. Diesmal sprachen sie kein einziges Wort. Schweigend versanken sie im Taumel ihrer Leidenschaft und ließen die Welt weit, ganz weit hinter sich zurück.
- 156 -
13. KAPITEL Emma ließ die Blicke über die vier Männer wandern, die sich im Büro des Sheriffs von Bethel Corners versammelt hatten. Als sie bei Xavier Jones angelangt war, preßte sie die Kiefer hart aufeinander. In seinem dunkelblauen Anzug, das bereits leicht angegraute Haar militärisch kurzgeschnitten, die Gesichtszüge eingefroren zu einer undurchdringlichen Maske, bot er das Urbild des korrekten Polizeibeamten, der sein Leben lang nichts anderes kennengelernt hatte als Befehl und Gehorsam. In zwanzig Jahren würde Bruce wahrscheinlich genauso aussehen. Ihr gegenüber, die Füße auf dem Schreibtisch, lümmelte sich Sheriff Haskin in seinem Stuhl und starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Warum ist sie eigentlich hier?" murrte er. Bruce wandte sich um und musterte Haskin kalt. „Miss Cassidy hat uns sehr geholfen und wird noch gebraucht, bis der Fall abgeschlossen ist." Haskin schnaubte verächtlich. „Cassidy? Sie heißt Duprey, und sie ist um keinen Deut besser als ihr Vater und ihr Bruder. Sie hat mich über Jahre hinweg belogen." Emma hob kampfeslustig das Kinn und maß ihn mit einem kühlen Blick. „Worüber beschweren Sie sich eigentlich, Sheriff? Ich habe Ihnen stets genausoviel Respekt entgegengebracht, wie Sie verdienen." „Wenn Ihr reizender Bruder erst hinter Gittern sitzt, werden Ihnen Ihre flockigen Sprüche schon vergehen, Lady." Emma deutete auf seinen Bauch. „Was haben Sie denn da auf Ihrem Hemd, Sheriff? Verdutzt schaute er an sich herunter, wobei sein Doppelkinn wie eine zusammengeknüllte Socke über seinem Hemdkragen Falten schlug. „Meine Güte, Sheriff, das sieht mir ja ganz nach Erdbeermarmelade aus fuhr sie süffisant fort. „Warum gehen Sie nicht einfach wieder ins Stardust Cafe und gönnen sich noch einen Doughnut?" Er riß die Beine vom Tisch und sprang auf. „Hören Sie, Sie verlogenes Weibs..." - 157 -
„Sheriff, bitte!", fuhr Xavier energisch dazwischen. Sein Arm schoß hervor, um Bruce, der eben Anstalten machte, auf Haskin loszustürzen, den Weg abzuschneiden. „Prentice, setz dich wieder hin. Laßt uns doch jetzt mal auf den Fall konzentrieren, okay? Miss Duprey?" Emma wartete, bis Haskin sich wieder hinter seinem Schreibtisch verschanzt hatte. Dann schlug sie gelassen die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. „Ja, Mr. Jones?" Xavier bat sie, die ganze Geschichte noch einmal von Anfang an zu erzählen. Nachdem sie geendet hatte, blickte sie in die Runde. „Und wie geht es jetzt weiter?" Xavier bedachte seine Kollegen mit einem vielsagenden Blick, bevor er antwortete. „Ich denke", formulierte er dann bedächtig, „daß keine weitere Notwendigkeit besteht, Miss Duprey mit noch mehr Wissen zu belasten." O'Hara, der Polizeibeamte, der Bruce und Emma aus Castlerock hergebracht hatte, nickte zustimmend. Bruce wich Emmas Blick aus. Emma, die für Simon das Schlimmste befürchtete, wenn es ihr nicht gelänge, die Fäden mit in der Hand zu halten, sprang erregt auf. „Aber warum denn auf einmal? Ich habe mich zur Zusammenarbeit bereit erklärt..." „Unsere Zusammenarbeit ist aber jetzt beendet, Emma", sagte Bruce. Doch so schnell gedachte Emma nicht aufzugeben. Sie warf Bruce einen herausfordernden Blick zu. „Verdammt noch mal, Bruce, was hat das zu bedeuten? Du hast mir versprochen... " Bruce schnitt ihr mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. Dann fuhr er sich mit den Fingern ratlos durchs Haar. Schließlich seufzte er und blickte sich um, wobei er sich nachdenklich das Kinn rieb. „Gibt es hier irgendwo einen Raum, wo ich mit Miss Cassidy unter vier Augen sprechen kann, Sheriff?" Haskin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich mit der Hand über den Marmeladenfleck auf seinem Bauch. „Wir haben zur Zeit keine Pensionsgäste. Gehen Sie mit ihr runter." Bruce murmelte Xavier und O'Hara ein paar Worte zu, die Emma - 158 -
nicht verstehen konnte, und bedeutete ihr dann mitzukommen. Sie gingen nach draußen durch den, Flur zum hinteren Teil des Gebäudes. Hinter einer Stahltür führte eine Treppe nach unten in den Keller. Ihre Schritte hallten hohl auf dem mit billigem Linoleum belegten Boden. Schließlich gelangten sie zu einem großen, absurderweise in einem fröhlichen Gelb getünchten Raum, dessen Tür offenstand In seiner Mitte stand ein ramponierter Holztisch mit zwei Stühlen davor. Auf dem Tisch sah Emma ein Telefon. Als sie jedoch im rückwärtigen Teil die beiden vergitterten Zellen entdeckte, wollte sie auf dem Absatz kehrtmachen. „Nein, warte einen Moment." Bruce packte sie am Arm und zerrte sie durch den Raum hindurch in eine der Zellen. Auf der Pritsche lag eine dünne Matratze, die er nun mit einer Hand ausrollte. Schließlich setzte er sich und zog sie neben sich. „Ich muß es jetzt ganz kurz machen. Falls du also irgendwelche Fragen hast, verschwende keine Zeit damit, dich mit mir rumzustreiten, okay? Ich werde versuchen, dir so gut wie möglich in bezug auf Simon zu helfen, aber Xavier hat recht damit, daß du nicht allzuviel wissen solltest. Dennoch will ich, daß du auf, das, was geschehen kann, vorbereitet bist." Sie entriß ihm ihren Arm und stand auf. Ruhelos begann sie, in der Zelle umherzuwandern. „Also schieß los." „Willst du dich nicht hinsetzen?" Sie schaute erst auf sein zerzaustes Haar, dann auf seine breiten Schultern und den schöngeschwungenen Mund und wußte plötzlich, daß sie nichts mehr wollte, als neben ihm zu sitzen, oder besser noch auf seinem Schoß, und sich in seine starken Arme zu schmiegen. Aber diese Vertrautheit hatten sie in dem Hotelzimmer zusammen mit den zerknüllten Laken zurückgelassen. „Ich brauche ein bißchen Abstand, sonst kann ich mich nicht konzentrieren." Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schloß für einen Moment hilflos die Augen. „Emma, ich will nicht, daß alles so zwischen uns endet." „So oder anders, was macht das schon für einen Unterschied? Wir wissen beide, daß es aufhören muß", sagte sie mühsam beherrscht. Sie grub die Nägel in ihre Handflächen und holte tief Luft, doch das, was sie einatmete, war nicht der fade Geruch, der über allen - 159 -
Polizeistationen dieser Welt hing, sondern ein Duft, der ihr bereits wieder den Verstand zu benebeln drohte. „Bitte. Zieh's jetzt nicht in die Länge. Sag mir, was ihr vorhabt und was mit Simon geschehen wird." Das Mitgefühl, das sie nun in seinen Augen entdeckte, hätte sie fast dazu gebracht, auf ihn zuzustürzen und sich in seine Arme zu werfen. Doch dann fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht und begann, ihr in knappen, präzisen Worten zu schildern, was sie von ihrem Informanten erfahren hatten. Noch in derselben Nacht sollte eine Sache steigen, bei der die Chancen für die Polizei gut standen, McQuaig und seinen Helfershelfern das Handwerk zu legen. „Und was wird aus Simon? Was ist, wenn ihm etwas passiert?" fragte sie voller Angst. „Solange er keinen Widerstand bei seiner Festnahme. leistet, wird ihm kein Haar gekrümmt werden, Emma." „Können wir ihn denn nicht wenigstens irgendwie warnen?" „Nein." „Aber..." „Nein!" Er rutschte nach vorn und stand auf. „Wir haben jetzt keine Zeit, noch länger darüber zu diskutieren. Unser Plan steht. Heute abend um zehn Uhr gehts los." Und er? Was wurde aus ihm? Was, wenn ihm etwas passierte? Es ging alles so schnell, viel zu schnell. Von dem Zeitpunkt an, seit sie diesen Mann kennengelernt hatte, hatten sich die Ereignisse in ihrem Leben überstürzt. Ihre Finger umklammerten die kalten Gitterstäbe wie einen Rettungsanker. „Ich fühle mich so hilflos. Es ist entsetzlich, einfach dabeistehen zu müssen und nichts tun zu können." „Das ist aber genau das, was ich von dir erwarte. Du verhältst dich mucksmäuschenstill, bis die Operation beendet ist. Ist das klar?" Er kam zu ihr herüber und ergriff sie bei den Schultern. „Ich habe dich schon genug in Gefahr gebracht. Fast wärst du dabei ums Leben gekommen." „Aber du wußtest doch gar nichts von der Bombe." „Das spielt keine Rolle. Ich war blind vor Arbeitseifer, und das einzige, was mich interessiert hat, war, diese Bande hochgehen zu lassen. Dazu war mir jedes Mittel recht. So etwas darf mir nie mehr - 160 -
passieren." „Oh, Bruce." Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. „Du hast mir dauernd gesagt, daß ich mich nicht entschuldigen soll, Emma, aber jetzt will ich es doch tun. Es tut mir leid, Emma, o Gott, es tut mir wirklich leid." „Das klingt wie ein Abschied, Bruce." „Ja. Es tut mir leid." Damit ließ er ihre Schultern los und trat etwas zurück, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. Oben wurde die Stahltür geöffnet, dann hörte Emma Schritte näher kommen. „Bitte, verzeih mir, Emma." Krampfhaft verflocht sie die Finger, ineinander, um sich davon abzuhalten, auf ihn zuzugehen und sich in seine Arme zu werfen. „Es gibt nichts zu verzeihen, Bruce", flüsterte sie. „O doch." Er lachte bitter auf. „Es gibt eine Menge, zu verzeihen. Aber ich muß meinen Job machen." „Ich weiß. Und ich weiß auch, warum du ihn machen mußt, Bruce. O'Hara kam mit einem großen Schlüsselbund in der Hand die Treppe herunter. „Bruce, bist du soweit?" Bruce nickte langsam, ohne den Blick von ihr zu nehmen. „Emma, mir ist klar, daß du alle Hebel in Bewegung setzen würdest, um Simon zu helfen. Daraus mache ich dir keinen Vorwurf, ich kann es sehr gut verstehen." Sein Mitgefühl wurde ihr langsam immer unerträglicher, es ließ ihre hoffnungslose Liebe zu ihm ins Unermeßliche wachsen. Sie trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich gegen den Abschied zu wappnen. Dann warf sie einen kurzen Blick auf O'Hara, der offensichtlich darauf wartete, daß sie endlich zum Ende kamen. „Danke, daß du mir erzählt hast, was ihr vorhabt." „Das war ich dir schuldig, Emma." Bruce trat aus der Zelle heraus. „Und bitte - verzeih mir." Seine Arme hingen zu, beiden Seiten seines Körpers herab, und Emma sah, wie er jetzt seine Hände zu Fäusten ballte. „Okay sagte er gleich darauf zu O'Hara. O'Hara hob die Hand mit dem Schlüsselbund, und, dann ging alles so schnell, daß es ihr fast erschien wie im Traum. Die vergitterte Zellentür fiel mit einem Krachen ins Schloß, Sekundenbruchteile - 161 -
später klirrte ein Schlüssel. Emma spürte, wie sich eine eiserne Faust in ihren Magen rammte, so daß ihr der Atem stockte. „Was..." „Entschuldigen Sie, Miss Duprey... äh ... Cassidy", sagte O'Hara, während er nach vorn zu dem Tisch, ging, um den Schlüsselbund dort abzulegen, „Aber ich habe meine Befehle." Sie raste zur Tür und rüttelte in hilfloser Wut an den Gitterstäben. „Lassen Sie mich raus!" kreischte sie mit überschnappender Stimme. O'Hara zuckte nur, die Schultern und warf Bruce einen Blick zu. Der raufte sich mit einer Hand die Haare, während er mit der anderen seinen Nacken massierte. „Das kannst du mir nicht antun!" schrie Emma und warf sich mit voller Wucht mit der Schulter gegen die Gittertür. „Mach sofort die Tür auf!" „Es ist nur zu deinem eigenen Besten. Und ich habe gesagt, daß es mir leid tut." „Ich wußte ja gar nicht, wovon du sprichst. Ich dachte, du wolltest dich für..." Sie schluckte hart. „Wie kannst du nur? Du hast mich reingelegt." „Das war nicht meine Absicht, ich will dich nur in Sicherheit wissen. Du hast dich, nur um deinem Brüder zu helfen, schon auf viel zu viele Verrücktheiten eingelassen. Ich kann es nicht zulassen, daß du ein weiteres Mal dein Leben aufs Spiel setzt." Außer sich vor Wut trat sie mit dem Fuß gegen die Gitterstäbe. „Ich war bereit, mit dir zusammenzuarbeiten. Und du hast mir versprochen, daß ich nicht verhaftet werde." Wieder kickte sie gegen die Eisenstäbe, mit solcher Wucht diesmal, daß ein scharfer Schmerz ihr Bein durchzuckte. „Was für ein Riesenidiot war ich doch, einem Cop zu vertrauen!" „Du bist nur vorübergehend in Sicherheitsverwahrung. Haskin wird dich sofort nach Beendigung der Operation freilassen." „Du traust mir noch immer nicht, stimmt's? Nach allem, was zwischen uns gewesen ist, glaubst du auch jetzt noch..." „Es stehen einfach zu viele Menschenleben auf dem Spiel, Emma. Meine Gefühle zählen hier nicht, ich muß nach Recht und Gesetz vorgehen, das ist mein Job, verdammt noch mal. Und du hast gesagt, - 162 -
du würdest es verstehen." O'Hara war mittlerweile bei der Treppe angelangt. „Ich warte oben auf dich, Bruce. Klingt so, als hättet ihr hier noch was zu klären." Bruce starrte ihn an.„Vergiß, was du gehört hast." O'Hara grinste, dann nickte er ihm zu und stieg die Treppe hinauf. Innerlich fluchend wartete Bruce, bis die Stahltür hinter O'Hara ins Schloß gefallen war. „Es ist nur zu deinem Besten", wiederholte er, wobei das Unbehagen, das er verspürte, aus, seinen Worten nur allzu deutlich herauszuhören war. „Richtig. Alles klar, Bruce, versteck dich ruhig weiter hinter deiner Dienstmarke", höhnte Emma, wobei sie wütend mit der Faust gegen die Gitterstäbe haute. „Ich weiß genau, weshalb du so besorgt um mein Wohlergehen bist. Weil du glaubst, mich auf diese Weise loswerden zu können, stimmt doch, oder etwa nicht? Kein Vertrauen, keine emotionale Bindung, kein Schmerz." „Ich mache mir Sorgen um dich, Emma. Was wir zusammen erlebt haben..." „...ist vorbei. Aus und vorbei!" Sie schniefte laut und winkte ihm durch die Stäbe hindurch zu. „Schau genau hin. Wir stehen auf verschiedenen Seiten, siehst du's, ja? Ich hier - du dort. Du fürchtest nicht um meine Sicherheit, sondern um deine eigene. Nun, das brauchst du nicht, du bist nicht in Gefahr. Ich kann dir auch sagen, warum, Weil du vor fünf Jahren dein Herz abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen hast. Dir kann ja gar nichts mehr passieren." Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. „Ich muß jetzt gehen." „Dann geh." Ohne ein weiteres Wort ging er zur Treppe. „Und selbst wenn du alle Verbrecher dieser Welt in den Knast bringen würdest, würde dir das deine Frau nicht wieder zurückbringen." Er wirbelte herum. „Ebensowenig wie es dir deine Eltern zurückbringt, wenn du deinen erwachsenen Bruder weiterhin wie ein Kleinkind behandelst. Im übrigen finde ich es ausgesprochen billig, die Gesellschaft für alles, was schiefgelaufen ist, verantwortlich zu machen, verstehst du?" - 163 -
„Wenn mein Vater nicht eingesperrt worden wäre..." „Mir hängt deine Geschichte langsam zum Hals raus." Erschöpft fuhr er sich mit der Hand über die Augen. „Dinge passieren, Pläne werden umgestoßen, wir haben eben nicht alles jederzeit, unter Kontrolle. Wenn man stark genug ist, überlebt man. Und du hast überlebt. Ebenso wie ich auch. Aber du versteckst dich hinter deinem Haß auf den Rechtsstaat und nimmst dir damit jede Chance, noch einmal von vorn anzufangen." „Ich habe gute Gründe, unseren ach so wunderbaren Rechtsstaat zu hassen." „Hast du, ja? Oder ist es nur eine Ausrede?" „Was soll das denn heißen?" „Du hast Angst. Du gibst dich zwar nach außen hin besonders smart, aber innerlich bist du erstarrt vor Angst und wagst es nicht, dich einem anderen Menschen zu öffnen. Und weil deine Gefühle ein Ventil brauchen, steckst du sie auf vollkommen irrationale Weise in deinen Bruder, wo sie im Moment weiß Gott mehr Schaden anrichten als nützen. Und deine übrige Zeit vertust du mit deinem nutzlosen Groll auf Recht und Gesetz." „Du weißt ja gar nicht..." „O doch, ich weiß! Wir haben uns beide über Jahre hinweg in unseren Lebenslügen häuslich eingerichtet. Wir hatten unsere guten Gründe, uns selbst etwas vorzumachen und allen anderen gleich mit. Wenn man allerdings eines Tages mit der Wahrheit konfrontiert wird und zu feige ist, ihr ins Auge zu sehen, dann wird es gefährlich." Wieviel mehr als das konnten sie sich gegenseitig noch ins Gesicht schleudern? Wieviel mehr als das konnte sie ertragen? Langsam wich sie vom Gitter zurück, Schritt für Schritt, bis ihr Rücken die Zementwand streifte. Sie bebte am ganzen Körper. „Jeder kehre vor seiner eigenen Tür, Emma. Vielleicht solltest du dir dieses Sprichwort zu eigen machen, ehe du dein Urteil über andere fällst." Sie hob die Arme und schlug sich die zitternden Hände vors Gesicht. Seine Schritte klangen zornig, als er sich entfernte. Er rannte die Treppe hinauf, dann fiel die Tür mit einem Krachen hinter ihm ins - 164 -
Schloß. In der Stille, die folgte, hörte sie nichts als das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Als sie schließlich die Kraft fand, die Hand von den Augen zu nehmen, war sie allein. „Bruce." Die kahlen Wände warfen seinen Namen als Echo zurück. Er war gegangen. Sie hatte ihn dazu getrieben zu gehen. Und sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. „Bruce, verlaß mich nicht auf diese Weise", flüsterte sie verzweifelt. „Nicht so." Sie ging zur Tür und preßte ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe“ und ihr Zorn ertrank in ihren Tränen. „Ich hasse dich doch gar nicht. Ich liebe dich." Ihr Geständnis klang hohl, weil niemand da war, der es hören konnte. Der Nachmittag zog sich schleppend dahin. Langsam wurde es Abend. Irgendwann brachte ein junger Deputy Emma eine kalte Platte aus dem Stardust Cafe, doch Emma rührte nichts an. Sie kauerte auf der Pritsche, den Teller auf den Knien, und starrte ins Leere. „Geht es Ihnen nicht gut, Maam?" Sie strich sich das Haar hinters Ohr und blickte auf. Der Deputy, ein rothaariger junger Mann mit Sommersprossen und einem ernsten Gesicht, das jetzt Besorgnis spiegelte, kam ihr vage bekannt vor wie jedermann, der in Biethel Corners lebte. „Ich habe keinen Hunger. Wie spät ist es?" „Ungefähr acht. Gibt es sonst etwas, das ich für Sie tun kann?" Laß mich hier raus, dachte sie, sagte es jedoch nicht laut, weil sie wußte, daß es sinnlos war. „Nein." „Okay. Ich komme etwa in einer halben Stunde wieder, um das Geschirr abzuholen. Muß oben ein paar Schreibarbeiten erledigen." Während sie wortlos nickte, spießte sie mit der Gabel ein Stück kaltes Huhn auf. Nachdem er sich entfernt hatte, stellte Emma den Teller neben sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie haßte es zu warten. Für zehn Uhr hatten Bruce und seine Kollegen den Zugriff auf McQuaig geplant. Es kam Emma hart an, hier untätig sitzen zu müssen und nichts für ihren Bruder tun zu können. Aber vielleicht - 165 -
war es ja tatsächlich höchste Zeit, daß Simon sich am eigenen Schopf aus dem Loch, das er sich selbst gegraben hatte, herauszog. Ebenso wie es möglicherweise wirklich Zeit wurde, daß sie aufhörte, anderen die Schuld für ihr Unglück in die Schuhe zu schieben. Bruce hatte den Finger auf die Wunde gelegt. Hatte sie sich wirklich die ganzen Jahre über selbst belogen? Wenn man mit der Wahrheit, konfrontiert wird und zu feige ist, ihr ins Auge zu sehen, wird es gefährlich. Großer Gott, war sie feige? Plötzlich hörte sie eine Stimme, die ihr vage bekannt vorkam, doch es war weder die von Haskin noch die des Deputys. Sie sprang auf, schlich auf Zehenspitzen nach vorn und lauschte. Der junge Mann schien vorhin die Stahltür oben an der Treppe nicht zugemacht zu haben. Aber wer war das nur? Die Stimme kannte sie, ganz gewiß. Plötzlich stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf, und sie hielt den Atem an. Harvey. Das war Harvey! Was machte der denn hier? Sie preßte ihr Ohr gegen die Gitterstäbe, doch verstehen konnte sie nichts. Nein, das war bestimmt nicht Harvey. Wahrscheinlich spielten ihr ihre überreizten Nerven einen Streich. Was sollte Harvey hier auf der Polizeistation in Bethel Corners zu suchen haben? Eher wäre doch anzunehmen, daß er einen Riesenumweg darum herum machte. Gerade als sie beschlossen hatte, sich wieder auf die Pritsche zu setzen, wurden die Stimmen deutlicher. „Sie wollen heute nacht zuschlagen." „Und damit kommst du erst jetzt, Mann? Bist du verrückt? Wir können doch jetzt unseren Plan nicht mehr umstoßen." Kein Zweifel, das war der Mann am Telefon und in der Lagerhalle. Er war wirklich hier. Aber wer war der andere? „Ist nicht meine Schuld. Ich hab den ganzen Tag versucht, euch zu erreichen, aber unter der Nummer, die du mir gegeben hast, hat sich niemand gemeldet. " „Wir heben den Standort gewechselt. McQuaig bekam kalte Füße." „Hast du mein Geld dabei?" „Hier. Mit dem Zählen brauchst du dich nicht aufzuhalten, es ist alles wie abgesprochen." Schritte entfernten sich, und es wurde still. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der zweite Mann - 166 -
war Haskin. Natürlich. Haskin machte mit den Drogendealern gemeinsame Sache. Haskin, ein korrupter Cop. Kein Wunder, daß Simon angesichts ihrer Ankündigung, zur Polizei zu gehen, so entsetzt gewesen war. Und deshalb also hatte sich Haskin ständig nach Simon erkundigt. Sie unterbrach ihren Gedankenfluß und preßte Ober- und Unterkiefer so hart aufeinander, daß ihre Zähne knirschten. „O mein Gott", flüsterte sie vor sich hin. Erst jetzt wurde ihr die Bedeutung dessen, was sie eben gehört hatte, richtig klar. Haskin hatte McQuaig und seine Leute gewarnt. Das bedeutete, daß auch Simon eine Chance hätte, durch die Maschen der Polizei zu schlüpfen. Emma fiel eine Zentnerlast von der Seele, doch schon einen Augenblick später kam ihr ein neuer, beunruhigender Gedanke. Wie würde das Empfangskomitee sein, das sich McQuaig für die Polizei ausdenken würde? Was würde der Preis sein für Simons Freiheit? Es stehen einfach zu viele Menschenleben auf dem Spiel, Emma. Plötzlich wußte, sie, was sie zu tun hatte. „Hallo!" schrie sie, so laut sie konnte. „Hallo!" Niemand antwortete. Sie trat gegen die Eisenstäbe, daß es krachte. Als auch das keine Wirkung zeigte, nahm sie ihrem Teller, kippte das Essen auf den Fußboden, und schleuderte ihn gegen das Gitter. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren zerbarst er in tausend Scherben. „Was. ist denn hier los?" Der rothaarige Deputy stand plötzlich am Fuß der Treppe und starrte vollkommen entgeistert auf den Scherbenhaufen. „Bitte. Sie müssen mir helfen. Mir,... ich ... fühle mich nicht gut. Mir ... ist so ... schlecht." „Äh Maam..." „Helfen Sie mir, bitte. Ich weiß nicht, ob ich..." Die Gitterstäbe verzweifelt umklammernd, ließ sie sich langsam, mit geschlossenen Augen zu Boden sinken. Doch ihr Stöhnen übertönte nicht das Geräusch der herbeieilenden Schritte und des sich im Schloß drehenden Schlüssels. - 167 -
14. KAPITEL, Eine Entschuldigung in sich hineinmurmelnd warf Emma die Zellentür hinter sich ins Schloß und sperrte ab. Der Deputy, der noch immer nicht wußte, wie ihm geschah, starrte ihr sprachlos mit offenem Mund hinterher, als sie den Schlüsselbund auf den Tisch warf und die Treppe nach oben raste. Beim Sheriffsbüro angelangt, spähte sie vorsichtig um die Ecke. Die Tür stand offen, es war leer. Haskin hatte sich anscheinend mit Harvey aus dem Staub gemacht. Emma schlüpfte in sein Büro. Auf dem Schreibtisch lag die Karte, auf dem die vier Polizeibeamten heute vormittag ihre Operationsbasis eingezeichnet hatten. Hastig faltete sie sie zusammen und steckte sie ein. Dann rannte sie zum Telefon. Erst als sie den Hörer bereits in der Hand hatte und das Freizeichen ertönte, wurde ihr klar, daß sie gar nicht wußte, wen sie eigentlich anrufen sollte. „Verdammt", flüsterte sie und spürte, wie ihre Angst wuchs. Was sollte sie tun? Die Zeit drängte. Als ihr das Freizeichen plötzlich unerträglich laut erschien, drückte sie die Null. „Geben Sie mir die Polizei in Bangor", verlangte sie, nachdem sich der Operator gemeldet hatte. Doch als die Verbindung hergestellt war und das erste Klingelzeichen ertönte, legte sie auf. Wenn der Sheriff von Bethel Corners auf McQuaigs Gehaltsliste stand, standen womöglich andere Polizeibeamte ebenso drauf. Bangor war McQuaigs Operationsgebiet, wahrscheinlich hatte er dort bei der Polizei seine Leute genauso sitzen wie hier. Das Risiko, an den Falschen zu geraten, durfte sie nicht eingehen. Ratlos lief sie im Zimmer auf und ab. Es war absurd. Ihr ganzes Leben lang hatte sie behauptet, keinem Polizisten über den Weg zu trauen, und nun zermarterte sie sich das Hirn nach einen Cop, dem sie vertrauen konnte. Vor einer Woche, als sie Bruce andeutungsweise erzählt hatte, daß Simon in Schwierigkeiten steckte, hatte er versucht, sie davon zu überzeugen... Ruckartig, blieb sie stehen. Hatte er ihr nicht die Nummer von Xavier Jones auf einen leeren Briefumschlag geschrieben? Erleichtert atmete sie auf. Auch wenn Xavier selbst nicht da sein - 168 -
würde, weil er sich hier in Bethel Corners aufhielt, würde es ihr vielleicht doch möglich sein, unter der angegebenen Nummer einen Kollegen von Bruce zu erreichen. Sie schaute auf die Uhr, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Einige Geschwindigkeitsübertretungen miteingerechnet könnte sie in fünfzehn Minuten zu Hause sein. Wenn sie ein Auto hätte. Sie biß sich auf die Unterlippe, während ihr Blick durch den Raum irrte. Er blieb an einem Schlüsselbrett hängen, an dem ein Schlüsselbund baumelte. Der Größe nach zu schließen konnten das Wagenschlüssel sein. Sie schaute aus dem Fenster. Haskins Streifenwagen stand wie üblich an seinem Platz. Wahrscheinlich hatte er jede Aufmerksamkeit vermeiden wollen, als er mit Harvey davongefahren war. Ohne sich über das, was sie vorhatte, Rechenschaft abzulegen, schnappte sie sich den Schlüsselbund und rannte nach draußen. Ihre Vermutung war richtig gewesen. Der Schlüssel paßte. In weniger als zwölf Minuten hatte sie die Abzweigung, die zu ihrem Blockhaus führte, erreicht. Ohne Rücksicht auf Verluste jagte sie den Streifenwagen mit weit überhöhter Geschwindigkeit den holprigen Hügel hinauf, und noch bevor das Echo des Motors verklungen war, stand sie auch schon vor ihrer Haustür, hob einen Stein hoch, der ihr als Versteck für einen Ersatzschlüssel diente, und schloß auf. Wo hatte sie den Zettel mit der Nummer hingelegt? Ihr Blick irrte durchs Zimmer. Der Tag, an dem Bruce noch Bruce Prendergast gewesen war, schien ihr schon eine Ewigkeit zurückzuliegen, so daß sie sich kaum mehr erinnern konnte. Der Sekretär! Richtig, sie hatte den Zettel achtlos und in der festen Absicht, niemals von ihm Gebrauch zu machen, in ihrem Sekretär verbunkert. In weniger als zehn Sekunden hielt sie den Umschlag mit Xaviers Nummer in der Hand. Vollkommen außer Puste kniete sie sich auf den Boden neben das Telefon und wählte. „Los, mach schon", flüsterte sie, während sie, den Hörer so fest umklammernd, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, dem Freizeichen lauschte. Nach einer Zeit, die sich dehnte wie die - 169 -
Ewigkeit, wurde schließlich abgehoben. Eine müde Stimme meldete sich. "Ja? Epstein." Sie zögerte einen Moment. „Ich muß mit Xavier Jones oder Bruce Prentice sprechen. Dringend." „Sie sind beide im Moment nicht da. Kann ich Ihnen weiterhelfen?" „Es handelt sich um einen Notfall. Sie müssen den beiden unbedingt eine Nachricht übermitteln. McQuaig hat einen Wink bekommen." Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Wer spricht denn da?" kam es schließlich. „Das ist unwichtig. Bitte, sagen Sie ihnen einfach nur, daß McQuaig Bescheid weiß. Sie müssen Bruce und Xavier unbedingt warnen, sonst laufen sie in eine Falle." „Woher haben Sie diese Information?" Nun sprudelte sie alles heraus, was sie wußte, wobei sich ihre Worte fast überschlugen. Doch der Mann am anderen Ende der Leitung blieb mißtrauisch, vor allem deshalb, weil sie sich noch immer weigerte, ihren Namen zu nennen. Über diesen Schatten konnte sie nicht springen. Schließlich schnitt sie ihm den Satz, der nur aus lauter Wenn und Aber bestand, ab und knallte wutentbrannt den Hörer auf die Gabel. Ihre Hände zitterten. Und nun? Was, wenn der Polizeibeamte sie nicht ernstgenommen hatte und nichts in die Wege leitete? Sie mußte Bruce warnen, sie mußte ihm, helfen. Ein Leben ohne Bruce konnte, sie sich nicht mehr vorstellen. Sie schaute sich um, und plötzlich wurde sie sich der Stille, die sie umgab, schmerzlich bewußt. Drei Jahre hatte sie hier gelebt, und doch hatte es nur einer einzigen Woche mit Bruce bedurft, um ihr ihr Zuhause plötzlich leer erscheinen zu lassen. Etwas Lebensnotwendiges schien ihr mit einemmal abhanden gekommen zu sein. Wie konnte sie wieder in ihr einsames Leben zurückkehren, nachdem sie etwas anderes kennengelernt hatte? Es regnete in Strömen. Ein Rettungswagen raste mit kreischender Sirene an ihr vorbei, sein grell flackerndes Warnlicht zerfetzte die Dunkelheit. Emma, umklammerte das Steuer und warf einen Blick in den Rückspiegel, in dem sie wegen der Regenkaskaden, die an der - 170 -
Heckscheibe hinunterliefen, kaum etwas erkennen konnte. Sie war fast seit einer Stunde unterwegs. Die Karte, die sie aus Haskins Büro hatte mitgehen lassen, lag ausgebreitet neben ihr auf dem Beifahrersitz. Angesichts des Rettungswagens bekam sie einen Schreck und hoffte schon fast, sich auf einer falschen Straße zu befinden. Kam sie zu spät? Als der Wagen durch ein Schlagloch raste, zwang sie sich, ihre Aufmerksamkeit wieder der regennassen Straße zuzuwenden. Doch als sie um die nächste Kurve bog, wurde ihr Kopf plötzlich ganz leer. In einiger Entfernung stand ein Polizeiwagen mit zuckendem Warnlicht am Straßenrand. Während sie, festen Willens durchzukommen, ungerührt weiterfuhr, schlug ihr das Herz bis zum Hals. War man ihr auf den Fersen? Hatte Haskin den Deputy aus seinem Gefängnis befreit und sich alles von ihm erzählen lassen? Eigentlich hatte sie schon die ganze Zeit über damit gerechnet, daß man sie aufgreifen würde. Jetzt war es anscheinend soweit. Sie holte zitternd tief Luft und fummelte am Lichtschalter herum, wobei sie versehentlich auf den Knopf, mit dem die Sirene ausgelöst wurde, drückte. Sie zuckte vor Schreck zusammen, doch dann unternahm sie keinen Versuch, das Alarmsignal abzustellen. Vielleicht war das ihre Rettung. Vielleicht würden die Streifenbeamten sie ja für eine der ihren halten und sie ungehindert vorbeifahren lassen. So war es dann auch. Nachdem sie an dem Polizeiwagen vorbeigerast war, atmete sie erleichtert auf und schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel. Ein paar Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht. Beim Anblick der roten, orangefarbenen und blauen Scheinwerfer, die den grauen Regenschleier durchbrachen, krampfte sich ihr Magen zusammen. Das zweistöckige Haus am Berghang war in gleißendes Licht getaucht, die Eingangstür stand sperrangelweit offen, und Dutzende von Leuten rannten zwischen dem Haus und ihren auf dem Rasen vor der Terrasse parkenden Autos hin und her. Rasch ließ sie ihre Scheibe herunter und stellte aufatmend fest daß sie keine Schüsse hörte. Keine Schüsse. Was auch immer sich hier abgespielt haben mochte, es war vorüber, und die Polizei hatte die Situation - 171 -
unter Kontrolle. Es dauerte einen Moment, bis Emma schließlich einen freien Platz gefunden hatte, wo sie den Streifenwagen parken konnte. Als sie ausstieg, spürte sie, daß ihre Knie zitterten. Plötzlich fühlte sie sich zu Tode erschöpft. Und wenn Bruce nun doch etwas zugestoßen war? Ihr Blick irrte zu einem der Krankenwagen, wo eben ein Sanitäter die Ladeklappe zuschob. Oder Simon? Großer Gott. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und hetzte über die Terrasse hin zu der großen offenen Glastür. Der Raum, der dahinter lag, schien ein Arbeitszimmer zu sein, das von einem riesigen antiken Mahagonischreibtisch in der Mitte dominiert wurde. Als sie den großen blonden Mann erblickte, der mit dem Rücken zu ihr vor dem Schreibtisch stand, machte ihr Herz einen Satz. Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, und der Regen erschien ihr nicht länger naßkalt, sondern wie eine warme, belebende Dusche. Sie spürte sich von einer Welle der Erleichterung hinweggespült und schwankte einen kurzen Moment wie ein Schilfrohr im Wind. Gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt und ging weiter auf die Glastür zu. Und dann trat Bruce einen Schritt beiseite und gab den Blick frei auf den Mann, der ihm gegenüberstand. Nein. Auf diesen Anblick war sie nicht vorbereitet. Sie hatte Bruce und Simon in Sicherheit sehen wollen und unverletzt, doch so hatte sie sich das alles nicht vorgestellt. Die Szene, die sich hier vor ihren Augen abspielte, war die Szene aus ihren schrecklichsten Alpträumen. Ein Bild, das sich für immer unauslöschlich in ihre Erinnerung eingegraben hatte und das all den Kummer und Schmerz vergangener Jahre wieder heraufbeschwor. Renne davon, schoß es ihr durch den Kopf, weil sie glaubte, den Anblick nicht länger ertragen zu können. Plötzlich wollte sie sich nur noch in ihrer einsamen Blockhütte verkriechen, um endlich die Bilder vergessen zu können, die sie seit Jahren quälten. Doch irgend etwas zog sie unaufhaltsam vorwärts. Wie eine Schlafwandlerin schritt sie in das Zimmer, die Augen starr auf die Handschellen an Simons Handgelenken gerichtet. Simon starrte sie mit vor Fassungslosigkeit geweiteten Augen an, - 172 -
doch noch bevor er etwas sagen konnte, wirbelte Bruce herum. Unsägliches Erstaunen spiegelte sich auf seinem Gesicht. Sie hier? Das konnte doch gar nicht hier sein, sie saß doch sicher verwahrt in einer Gefängniszelle zweiundsiebzig Meilen von hier. Sprachlos folgte sein, Blick dem Weg der Wassertropfen, die von ihrer Stirn die Wangen hinabrannen, um schließlich in ihren Hemdkragen zu tropfen. Simon war nicht weniger überrascht als Bruce. „Du lebst!" stieß er schließlich hervor. „Oh, Emma! Gott sei Dank. McQuaig hat behauptet, du seist tot." „Er hat gelogen" „Oh, Emma, es war schrecklich. Nachdem sie mir erzählt hatten, daß du abgestürzt seist, wußte ich nicht mehr aus noch ein. Sie haben mich erpreßt, weiter für sie zu arbeiten. Er wollte die Hände nach ihr ausstrecken, aber die Handschellen schränkten seine Bewegungsfreiheit ein. Resigniert ließ er die Arme sinken. „Hilf mir, Emma, ich flehe dich an, hilf mir." „Ich habe dir die ganze Zeit über geholfen." „Emma, hör zu, ich... " Bruce ergriff unwirsch Simons Arm. Er mußte diese Szene so rasch wie möglich beenden. „Schweigen Sie. Alles was Sie sagen, kann a b sofort gegen Sie verwendet werden." Doch Simon zuckte nur die Schultern und sah weiterhin seine Schwester flehentlich an, in seinen Augen standen Tränen. „Emma, du warst immer für mich da. Laß mich auch diesmal nicht im Stich, ich bitte dich." Emma stand wie erstarrt. Simon verzweifeltes Flehen schnitt ihr tief ins Herz. Ihr Blick irrte von Simon zu Bruce und wieder zurück. Ihr Kinn zitterte. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme brüchig. „Warum mußt ausgerechnet du ihn verhaften, Bruce?" „Du kennst ihn?" entfuhr es Simon ungläubig. Sie nickte. Ihr Haar klebte ihr klatschnaß am Kopf, und sie sah aus, wie sie damals ausgesehen hatte - damals, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, an dem eine andere Katastrophe geschehen war. „Ja", antwortete sie, ohne den Blick von Bruce zu nehmen. „Ich kenne ihn." - 173 -
„Ihre Schwester und ich haben..." Zögernd suchte Bruce nach dem geeigneten Wort. „Wir haben zusammengearbeitet." „Das kann nicht wahr sein, Emma. Du hast mit einem Cop zusammengearbeitet? Ich fasse es nicht." „Ich hab's für dich getan, Simon, nur für dich. Ich hatte eine Heidenangst, daß dir etwas passiert." „Wo kommst du eigentlich her, Emma?" fuhr Bruce dazwischen. „Was willst du hier?" Das Lachen, das sie jetzt hören ließ, klang humorlos. „Ich bin aus dem Gefängnis ausgebrochen und habe Haskins Wagen gestohlen." Dann erzählte sie in knappen Worten von dem Gespräch, das sie belauscht hätte und von ihrem anschließenden Anruf bei Xaviers Dienststelle. „Ich habe es für dich getan", schloß sie, und eine Träne vermischte sich mit den Regentropfen auf ihrem Gesicht. „Weil ich nicht wollte, daß dir etwas passiert." „Du also hast Epstein verständigt?" fragte Bruce entgeistert. „Großer Gott, Emma, deine Warnung hat wahrscheinlich einem Dutzend Menschen das Leben gerettet. Wir schulden dir..." „Du hast die Cops gewarnt?" schrie Simon. „Weißt du eigentlich, was du da gemacht hast?" Ihre Finger zitterten, als sie sich über die Augen wischte. „Ja", flüsterte sie. „Ja, ich weiß genau, was ich gemacht habe." „Wenn Sie sich aussagebereit zeigen, werden Sie mit einer leichten Strafe davonkommen, Duprey, ich habe es Ihnen vorhin schon gesagt." „Emma, ich gehe nicht ins Gefängnis, niemals." Simon klang wie ein kleiner Junge, der seinen Willen nicht bekommt. „Du und ich, wir sind alles, was von unserer Familie übriggeblieben ist. Das Gefängnis hat unseren Vater zerstört und unsere Mutter..." „Ich weiß das alles, Simon, aber ich kann es auch nicht ändern", unterbrach sie ihn in stiller Verzweiflung. „Dann laß mich jetzt nicht im Stich, Schwesterherz. Ich liebe dich." Sie preßte ihre Lippen hart aufeinander und sog die Luft scharf durch die Nase ein. „Ich liebe dich auch, Simon." Als Bruce die verheerende Wirkung sah, die Simons Worte auf seine Schwester ausübten, übermannte ihn plötzlich die Wut. Er - 174 -
packte Simon am Arm und schüttelte ihn. „Hör auf damit, verstanden?" stieß er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. „Siehst du nicht, daß du ihr Herz in Stücke reißt?" „Halt's Maul, Cop", gab Simon verächtlich zurück. „Was weißt, du denn schon?" „Ich weiß, daß deine Schwester dir viel mehr Loyalität entgegenbringt, als du verdienst. Sie liebt dich bedingungslos, aber du benutzt ihre Liebe als Waffe." Die Augen dunkel vor Zorn packte er Simon am Kragen und schüttelte ihn. „Ist dir eigentlich klar, daß sie für dich ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat? Wenn du auch nur ein Fünkchen Zivilcourage hättest, hättest du dich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel rausgezogen, in den du dich reingeritten hast. Werd endlich erwachsen, Duprey, es wird allerhöchste Zeit. Du solltest..." Plötzlich erscholl draußen in der Halle lautes Gebrüll. Bruce unterbrach sich und schaute zur Tür.
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15. KAPITEL Schwere Schritte näherten sich, und einen Moment später stand O'Hara, neben sich Haskin in Handschellen, auf der Schwelle. „Da ist uns ein ganz besonders schillernder Vogel ins Netz gegangen." O'Hara lachte grimmig. „Er hatte sich unten im Labor verschanzt, hoffte wahrscheinlich, sich irgendwann, wenn die Luft wieder rein ist, verdrücken zu können. Oder was sonst ist der Grund für Ihre Anwesenheit hier, Sheriff? Ich wüßte nicht, daß wir Sie zu unserer Party eingeladen hätten, hm?" „Nehmen Sie mir sofort die Handschellen ab", schäumte Haskin. „Ich bin der Sheriff von Bethel Corners und wollte hier nur mal nach dem Rechten sehen." O'Hara lachte böse auf. „Ach ja? Der Sheriff von Bethel Corners sind Sie wohl die längste Zeit gewesen, Haskin." Dann plötzlich fiel sein Blick auf Emma. „Miss Duprey! Was machen Sie denn hier?" entfuhr es ihm vollkommen verdutzt. „Sie ist auf unserer Seite", gab Bruce zur Antwort. ,Ich verbürge mich für sie. Ich erklär es dir später." Xavier, der eben durch die Terrassentür hereingekommen war und die letzten Sätze mitbekommen hatte, machte ein finsteres Gesicht. „Was soll denn das nun wieder?" brummte er ungehalten, wandte dann aber seine Aufmerksamkeit Haskin zu. „Sie hätten sich ein geheimes Sonderkonto für Ihre Bestechungsgelder anlegen sollen, Freundchen. Es fällt einfach auf, wenn der Sheriff über ein Monatsgehalt verfügt, das über das normale Gehalt eines Sheriffs weit hinausgeht. Wie lange arbeiten Sie schon für McQuaig?" „Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Jones. Sie können mir gar nichts beweisen." Bruce schaute Simon an. „Nun, Duprey? Wie wär's, wollen Sie nicht vielleicht auspacken? Oder möchten Sie lieber in den Knast, während Ihr Freund hier weiter frei draußen rumläuft?" Emma straffte die Schultern. „Du hast die Wahl, Simon." Sie ergriff seinen Arm. Schweigend starrte sie einen Moment auf seine Handschellen, dann seufzte sie, legte die Arme um ihn und zog ihn kurz, aber liebevoll an sich. Nachdem sie ihn wieder losgelassen - 176 -
hatte, sagte sie: „Es ist dein Leben, Simon. Was du tust oder nicht tust, hängt ganz allein von dir ab. Nicht von mir, nicht von unseren Eltern, sondern nur von dir. Du hast es in der Hand. Und wenn du frei sein willst, mußt du erst versuchen, dich von deinem Haß freizumachen." „Leicht gesagt." „Ich weiß. Es ist verdammt hart, Simon, glaub mir. Aber es ist zu schaffen. Aber du kannst es nur allein tun, ich kann dir nicht dabei helfen." Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wollte doch immer nur, daß du stolz sein kannst auf mich, Emma. Aber irgendwie geht mir ständig alles daneben. Ich wollte schon lange nicht mehr für McQuaig arbeiten, doch Haskin hat mich immer wieder dazu überredet. Er hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Und er war es, der mich in diese Pokerrunde..." „Halt's Maul, Duprey!" Simon schluckte hart und ballte seine aneinandergeketteten Hände zu Fäusten. „Die monatlichen Umschläge, die er von McQuaig fürs Wegschauen bekommen hat, waren ihm plötzlich nicht mehr genug." Er starrte Haskin haßerfüllt an. „Oder hast du mich vielleicht nicht zu überreden versucht, daß wir den Stoff beiseite schaffen und ihn uns teilen?" „Ich sagte, halt's Maul, du Waschlappen!" O'Hara lachte grimmig und packte Haskin am Arm. „Sie kennen ja die Routine, Sheriff. Also los, gehen wir." „Ich..." „Gehen wir, hab ich gesagt." O'Hara unterstrich seinen Befehl mit einem harten Rippenstoß, der Haskin vorwärts taumeln ließ. Xavier schaute Simon an, dann ergriff er ihn am Arm. „Kommen Sie, Duprey. In Haskins Büro warten ein paar Leute, die gespannt auf Ihre Geschichte sind." Emma fuhr ihrem Bruder mit den Fingerspitzen leicht über die Wange. „Es tut mir leid", flüsterte sie. „Aber es ist nur zu deinem Besten. Ich liebe dich, Simon." Er sah sie finster an und wandte sich dann zähneknirschend ab. Ohne ein Wort schickte er sich an, mit Xavier das Zimmer zu - 177 -
verlassen. „Noch eine Minute", bat Bruce Xavier. „Es gibt noch eine kleine Sache, die ich gern klären würde." Der ältere Polizeibeamte blieb stehen. „Ja?" Bruce nahm seinen Revolver aus dem Schulterhalfter und griff dann in seine Gesäßtasche, um seine Dienstmarke herauszuholen. Er ging auf Xavier zu und drückte ihm beides in die Hand. „Was soll das denn?" „Das war mein letzter Fall." Xavier trat einen Schritt näher und schaute seinen Mitarbeiter fassungslos an. Dann schüttelte er den Kopf. „Blödsinn, Bruce. Du bist ausgebrannt, das ist alles. Du mußt endlich mal ausspannen, das sage ich dir schon die ganze Zeit. Es gibt keinerlei Grund für so einen drastischen Schritt." Er trat auf Bruce zu und legte ihm die Hand auf den Arm. „Hör zu, du bist ein guter Cop. Warum willst du dein Talent so einfach wegwerfen?" „Weil es alles ist, was ich bin. Deshalb." „Du hast zu lange als Undercover gearbeitet. Nach so vielen Jahren ist da eine Krise vorprogrammiert. Nimm Urlaub, und laß dir die ganze Sache noch mal durch den Kopf gehen, einverstanden?" Bruce schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist nichts, was sich mit einem Strandurlaub beheben lassen könnte. Such dir einen anderen für deine Spielchen, Xavier." Xavier schaute unsicher von der Pistole und der Dienstmarke in seiner Hand zu Bruce und wieder zurück. Dann aber straffte er die Schultern, drehte sich um und ging in die Halle. „Wir werden sehen", rief er über die Schulter zurück. „Dir liegt der Cop im Blut, Prentice, glaub mir. Du wirst zurückkommen." Er versetzte Simon einen leichten Rippenstoß. „Abmarsch, Duprey." .Emma lauschte den Schritten der beiden Männer nach. Aus der Tiefe des Hauses hörte sie Stimmengewirr, das Telefon schrillte, Türen wurden aufgerissen und wieder zugeschlagen. Durch die offene Terrassentür drang das unaufhaltsame Rauschen des Regens an ihr Ohr. Befehle wurden gebrüllt, Autotüren zugeknallt, Motoren heulten auf. Das Hemd klebte ihr klatschnaß am Körper, und ihre Knie zitterten. Jetzt, da alles vorbei war, verspürte sie plötzlich eine - 178 -
unendliche Müdigkeit. Jetzt würde mit Simon alles gut werden. Sie mußte nur fest daran glauben, genauso fest wie daran, daß er ihr verzeihen würde. So wie sie Bruce bereits vergeben hatte. Bruce. Er stand auf der anderen Seite des Zimmers, und sie sah die beiden harten Linien, die von der Nase zu den Mundwinkeln hinabliefen. Seine Haltung war angespannt. Sie wollte zu ihm hinrennen, sich in seine Arme werfen und ihm diese harten Linien wegküssen... und doch nagelte sie ihre Unsicherheit auf ihrem Platz fest. Sie waren allein. Simon war verhaftet, ebenso wie McQuaig und seine Helfershelfer. Der Fall, der Bruce nach Bethel Corners und in ihr Leben geführt hatte, war abgeschlossen. Es war vorbei. Die Spannung, die in der Luft lag, rührte von etwas ganz anderem her. War es wirklich vorbei? „Warum hast du das getan?" fragte sie leise. „Es wird alles gut werden. Solange er aussagebereit ist, wird ihm nicht viel passieren." „Nein, das meine ich nicht. Warum hast du deine Dienstmarke zurückgegeben?" Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Vielleicht bin ich ja rausgewachsen." „Aber ich dachte..." „Daß ich das brauche? Daß ich für den Rest meines Lebens den größten Teil des Jahres in irgendwelchen heruntergekommenen Motelzimmern verbringen will ohne einen Menschen, den es interessiert, ob ich lebe oder tot bin? Daß ich es brauche, mir jeden Morgen beim Aufwachen erst überlegen zu müssen, wer ich heute bin?" Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist vorbei. Ich will wieder ein Leben, keine Rolle, keine Maske." „Bei der Polizei gibt es aber doch alles Mögliche zu tun, Bruce. Du mußt ja nicht unbedingt als Undercover arbeiten." „Versuchst du, mir die Sache auszureden?" „Scheint so." Der harte Zug um seinen Mund verwischte sich, als ein zögerndes Lächeln über sein Gesicht huschte. „Hab ich dir eigentlich schon mal - 179 -
gesagt, daß du mich immer wieder aufs neue überraschst, Emma?" „Tu ich das?" „Ich dachte, du wärst glücklich, wenn es einen Cop weniger auf der Welt gäbe." „Vielleicht bin ich ja aus meinem Haß herausgewachsen." Er ging auf sie zu. Seine Schritte waren weit ausholend und elastisch, er bewegte sich mit der Anmut eines Raubtiers. O ja, diese Bewegungen hatten noch niemals ihre Wirkung auf sie verfehlt. „Ich sollte dir danken", sagte er, als er bei ihr angelangt war. „Deine Tatkraft und Entschlossenheit haben wahrscheinlich einigen Menschen das Leben gerettet." Er blickte ihr tief in die Augen. „Du bist eine gefährliche Frau, Emmaline Cassidy Duprey. Das war mir vom ersten Moment an klar." „Was meinst du denn damit?" „Abgesehen davon, daß du mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehst, aus dem Gefängnis ausbrichst und Streifenwagen klaust?" „Ja, abgesehen davon." Ein Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während er seine Jacke auszog und sie ihr um die Schultern legte. Seine Körperwärme sickerte langsam in sie ein wie Sonnenstrahlen. Bruce nahm ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände. Seine Daumen strichen sanft über die Konturen ihrer Wangenknochen. „Du erweckst in mir den Wunsch, noch einmal die Chance zu ergreifen." Als sie den Blick hob, um ihn anzusehen, machte ihr Herz einen Satz. Aus seinen strahlend blauen Augen leuchtete etwas, das darin zu finden sie niemals zu hoffen gewagt hätte. Hoffnung - eine verrückte, köstliche, unbezähmbare Hoffnung erfüllte sie. Das erstemal, seit sie ihn kannte, sah er sie offen an, und alle Barrieren waren niedergerissen, so daß sie bis auf den Grund seiner Seele schauen konnte. „Was für eine Chance denn?" „Dich, Emma. Mit all deinem Mut, deiner Großherzigkeit und deinem Sinn für Loyalität. Du bist es, die in mir den Wunsch erweckt, endlich wieder ein richtiges Zuhause zu haben und einen Menschen, für den es wichtig ist, daß es mich gibt." Aus der Hoffnung war Gewißheit geworden. Emma hielt seinen Blick fest und preßte ihre Lippen auf seine Handfläche. „O ja, Bruce, - 180 -
für mich ist es wichtig. Und wie." „Du erweckst in mir den Wunsch, das Risiko noch einmal auf mich zu nehmen, jemanden zu lieben." Ihre Augen verschleierten sich. Als sie ihre Hand auf seine Brust legte, spürte sie das harte Klopfen seines Herzens und erinnerte sich der Narbe auf seinem Rücken. „Unsere Vergangenheit hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Aber zu wissen, daß das Glück eines Tages plötzlich vorbei sein könnte, kann doch nicht heißen, daß man sich erst gar nicht darum bemühen soll. Es bedeutet vielmehr, daß man es sorgfältig hüten muß." „O ja, Emma." „Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dir. sage, daß ich dich liebe?" Er legte den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. „O Emma." Als er sie wieder ansah, lag auf seinem Gesicht eine wilde Mischung aus Angespanntheit, Intensität, Begehren und Hoffnung. „Im Gegenteil, es wäre schrecklich, wenn du mir sagen würdest, daß du mich nicht liebst." Sie krallte ihre Finger in sein Hemd und hob ihr Gesicht. „Ich liebe dich, Bruce, und ich werde dich immer lieben." Ein Schauer überlief ihn. Mit einem dumpfen Aufstöhnen legte er seinen Mund auf ihre Lippen und küßte sie. Es war ein Kuß, in den er all seine Hoffnungen, seine Sehnsüchte und seine Zukunftsträume legte. „Ich liebe dich auch, Emma", flüsterte er und küßte sie auf die Nasenspitze, die Augen, die Wangen. „Ich liebe alles an dir, deine Dickköpfigkeit, Temperament und deine Leidenschaft. Alles, Emma, ich liebe einfach alles an dir, auch die Seiten, die sich erst im Laufe der Zeit herausstellen werden." „Im Laufe der Zeit?" Er nahm ihre Hand und verschränkte sie mit der seinen. „Ja. Heute nacht machen wir den Anfang. Wenn ich dich jetzt nach Hause bringe, will ich bleiben, Emma. Ich möchte mit dir gemeinsam jeden Tag die Sonne auf- und untergehen sehen." Sie zögerte. „Würde es dir denn bei mir gefallen?" „So lange wie es dir gefällt, gefällt es mir auch." „Wir werden noch zusätzliche Bücherregale brauchen." - 181 -
Er grinste. „Das wird kaum reichen, wenn ich erstmal mein Apartment ausgeräumt habe. Wir werden noch ein extra Zimmer brauchen." „Bruce?" Sie erkannte diese zitternde, heisere Stimme kaum als ihre eigene wieder. Aber das raubtierhafte Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erkannte sie wieder. Ihr Puls begann sich zu beschleunigen, ihre Brust hob und senkte sich unter ihren rasch aufeinanderfolgenden Atemzügen. „Bruce!" Er legte ihr den Arm um die Schulter und drängte sie zur Tür. „Ich liebe dich, Emma, aber jetzt überkommt mich plötzlich das dringende Bedürfnis, unsere Unterhaltung in einer etwas... freundlicheren Umgebung fortzuführen." Sie, auch. O ja, sie auch. „Es ist weit bis nach Hause." „Dann ist's ja nur gut, daß du einen Streifenwagen mit Sirene hast mitgehen lassen, Süße."
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EPILOG Die Nebelschwaden hingen noch schwer über dem See an diesem frühen Morgen, aber in der Ferne am anderen Ufer begannen sie sich bereits langsam aufzulösen, und zwischen den dunklen Silhouetten der hohen Fichten schoben sich zögernd ein paar goldene Sonnenstrahlen hervor. Emma zog ihren Bademantel enger um sich und ging ans Fenster. „Ist sie noch da?" Sie lächelte. „O ja. Sie ist noch da." Im Sonnenlicht glitzernd lag die weiße Cessna friedlich schaukelnd am Anleger. Die Papierschlacht mit der Versicherung hatte fast zwei Monate in Anspruch genommen, ehe es dann endlich soweit war. Das Flugzeug war ein neueres Modell als das, das sie verloren hatte, und sie hatte noch nicht viel Gelegenheit gehabt, sich mit ihm vertraut zu machen. Das hatte Zeit. In dem Moment, in dem sie sich zum erstenmal in die neuen Sitze hatte gleiten lassen, hatte sie gewußt, daß sich in ihrem Leben viel mehr verändert hatte als nur die Tatsache, daß ihr Flugzeug ein anderes war. Es war einmal ihre einzige Fluchtmöglichkeit gewesen, doch das war vorbei. Es gab nichts mehr, vor dem sie hätte fliehen müssen. Bruce trat hinter sie und umarmte sie. „Wirst du heute fliegen?" Sie schmiegte sich an ihn, und ihr Lächeln vertiefte sich. Nein, es gab nichts mehr in ihrem Leben, vor dem sie hätte entkommen müssen. „Möglicherweise später, wenn du aus dem Haus bist." Er legte sein Kinn auf ihre Schulter. „Ich hab aber gar keine Lust zu gehen. Vielleicht sollte ich einfach blau machen, was meinst du?" „An deinem ersten Arbeitstag? Na hör mal, was ist das denn für eine Pflichtauffassung? Du würdest ein ziemlich schlechtes Beispiel abgeben." „Ist mir doch egal." Seine Hand suchte tastend herum, bis sie fand, was sie gesucht hatte, und glitt zwischen die beiden übereinandergelegten Enden von Emmas Bademantel. „Was hast du gesagt? Willst du fliegen? Ja oder nein?" „Hm. Für neun Uhr hab ich erstmal eine Telefonkonferenz angesetzt... ah..." Ihre Haut begann zu kribbeln. „Oh... ist das schön." - 183 -
Er steckte die Nase in ihren Kragen und liebkoste ihren Hals. „Ich rede nicht vom Fliegen mit der Cessna." „Ich weiß." Sie drehte sich in seinen Armen, legte die Hände an seinen Hinterkopf und küßte ihn lange. „Du bist unersättlich." „Ach was. Einfach nur total verrückt nach dir." Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn, dann fuhr sie ihm durchs Haar. Seine Sonnenbräune war verblaßt, doch seine Augen erschienen ihr strahlender als je zuvor. „Ich bin auch verrückt nach dir." „Trotz dieses Outfits?" In seiner Stimme lag eine Spur von Unsicherheit. Emma rückte seine Krawatte zurecht und musterte ihn eingehend. „Steht dir prima, glaub mir. Du siehst verteufelt sexy aus in den Klamotten, wirklich. Wie lange hast du Mittagspause?" Er brach in ein stürmisches Lachen aus und umarmte sie so leidenschaftlich, daß sie schon in Erwägung zu ziehen begann, die Telefonkonferenz um zwei Stunden zu verschieben. „Und du störst dich wirklich nicht an meinem neuen Job?" „Nein, Bruce. Ehrlich. Das, was ich sage - im Guten wie im Schlechten -, meine ich auch so." Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und rieb ihre Nase an seiner. Dann gab sie ihm noch einen letzten Kuß, ehe sie sich von ihm losmachte. „Los, jetzt, mein geliebter, unersättlicher Ehemann, an die Arbeit!" „Was hast du denn heute außer dieser wirklich lächerlich früh angesetzten Telefonkonferenz sonst noch vor?" „Ich dachte mir, ich könnte Hugh mal anrufen." „Den Hugh von der Tankstelle?" „Genau den. Ich wollte ihn fragen, ob er mir nicht einen Architekten empfehlen kann, der uns hier noch ein Zimmer anbaut." „Warum das denn? Hast du es satt, über meine Bücher zu stolpern?" Sie zog den Bademantel enger um sich und spielte eine Weile mit den beiden Enden ihres Gürtels herum. „Was würdest du dazu sagen,. Wenn nächstes Frühjahr noch jemand hier einziehen würde?" Bruce, der gerade dabei war, seinen Mantel anzuziehen, hielt mitten in der Bewegung inne. „Du meinst doch nicht etwa Simon? Na, ich - 184 -
weiß ja nicht... Ich könnte mir vorstellen, daß er sich in meiner Gegenwart vielleicht nicht so besonders wohl fühlt." „Nein, nicht Simon. Für den ist gesorgt. Er hat mir erzählt, daß Xavier ihm in Chicago einen Job besorgen will, wenn er rauskommt." „Na, hoffentlich packt er's dann diesmal auch wirklich." „Ja, hoffentlich. Aber ich denke schon, daß er was kapiert hat." Bruce hatte jetzt seinen Mantel angezogen und streckte seine Hand nach ihr aus. „Also los, dann sag schon, was soll das mit diesem Anbau?" Sie schwieg lange. Dann nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Eigentlich hatte sie es ihm bereits gestern abend sagen wollen. „Emma?" „Ich liebe dich, Bruce. Habe ich dir das heute schon gesagt?" „Falls Körpersprache auch zählt, hast du es mir vor etwa einer Stunde schon ins Gesicht geschrien." „Nun, ich liebe dich wirklich. Und unser Kind auch." Jetzt verstand er. Er spreizte die Finger über ihrem Bauch, schloß die Augen und lächelte. „Unser Kind?" Als sie jetzt nickte, schwammen ihre Augen in Tränen. Halb taumelnd vor Glück wirbelte er sie herum. „O Emma. Und wann?" „Im Mai." „Im Mai!" Er bedeckte sie über und über mit kleinen Küssen, wobei er nicht eine einzige freie Stelle ihres Körpers ausließ. „Im Mai, im Mai, im Mai. Ein neues Leben, ein neuer Anfang. O Emma, ich bin ja so glücklich. Jetzt wird alles wieder gut." „Ja, das wird es." Wieder wirbelte er sie herum, bis ihr so schwindlig war, daß sie das Gesicht an seinem Hals bergen mußte. „Mai. Bis dahin sind es nur noch sieben Monate. Wir müssen alles genau planen. Vielleicht sollten wir uns ja auch ein Haus in Bethel... Er hielt plötzlich inne und hob erstaunt die Augenbrauen. „Sagtest du Mai?" „Ja. Warum?" „Aber..." Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte ihn an. „Das - 185 -
voraussichtliche Geburtsdatum ist genau neun Monate nach dem Tag, an dem die Cessna explodiert ist." „Aber du hast behauptet, daß es eine ungefährliche Zeit gewesen sei. Ich erinnere mich ganz genau. Ihre Augen glitzerten. ,Ich habe gelogen. Eine reine Reflexhandlung, verstehst du? Macht es dir etwas aus?" „Du stellst vielleicht Fragen." Mit einem übermütigen Auflachen hob er sie hoch und trug sie hinüber zur Couch. „Da macht mir meine Frau das schönste Geschenk der Welt und fragt, ob es mir etwas ausmacht! O Emma!" Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Und an diesem Tag, dem ersten Tag in seinem neuen Job, kam der Sheriff von Bethel Corners zu spät zur Arbeit.
- ENDE -
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