Atlan - Minizyklus 02 Centauri Nr. 4
Die Ruinen von Acharr von Rainer Hanczuk
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Atlan - Minizyklus 02 Centauri Nr. 4
Die Ruinen von Acharr von Rainer Hanczuk
Was bisher geschah: Wir schreiben den Februar des Jahres 1225 NGZ. Auf Einladung der Historikerin Li da Zoltral besucht Atlan das auf einer Museumsinsel gelegene Epetran-Archiv, in dem Schätze und geheimes Wissen der Lemurer lagern, der Ersten Menschheit, die schon vor weit über fünfzig Jahrtausenden die Milchstraße besiedelte und von der alle gegenwärtig in der Galaxis existierenden humanoiden Völker abstammen. Als Atlan auf ein Krish#un aufmerksam wird, einen Umhang lemurischer Tamräte, der zu ihrer Identifizierung diente, dringen Unbekannte ein und stehlen das Relikt. Der gestohlene Krish#un stammt aus Omega Centauri, einem bisher unerforschten Kugelsternhaufen. Er ist deshalb unerforscht, weil er durch seine besonders dicht stehenden Sterne und extremen Hyperstürme eine Strahlung erzeugt, die ihn lediglich durch eine »intermittierende Sprungtechnik« erreichbar macht. Atlan beschafft sich auf der Erde einen Krish#un, den er vor langer Zeit selbst einmal verwendete, um sich als Tamrat auszuweisen, und bricht mit seinem Raumschiff ATLANTIS nach Omega Centauri auf. Als er mit dem Schweren Jagdkreuzer TOSOMA ins Zentrum des Sternhaufens vorstößt, wird er dort von Walzenraumern der Mograks erwartet. Kurzerhand flieht Atlan zur Handelswelt Yarn, wo er wichtige Informationen über lemurische Hinterlassenschaften auf der Ruinenwelt Acharr erhält und den jungen Mutanten Akanara an Bord nimmt. Beim Start stellen sich der TOSOMA erneut Walzenraumer entgegen, so dass sie eine Nottransition durchführen muss, die sie mitten in einen Hypersturm bringt. Der Schwere Jagdkreuzer havariert auf der Sumpfwelt Othmura. Nur mit äußerster Mühe gelingt es der Besatzung, die geistige Beeinflussung durch ein planetenweites Bewusstsein abzustreifen. Endlich ist der Weg nach Acharr frei ...
Die Ruinen von Acharr
Prolog »Zielobjekt hat jetzt den Strand der vorgelagerten Insel erreicht. Nähert sich uns mit hoher Geschwindigkeit! Zeit bis zu seiner Liquidierung: vier Minuten!« »Drück dich gefälligst exakter aus, Nedir!«, verlangte Weddrin. »Auf Theka gibt es tausend Inseln, auf einer davon sitzen wir gerade. Woher also kommt der Arkonide?« »Hast du Dreck auf den Linsen?«, spottete Nedir. »Schau auf deinen Schirm, du Anfänger, dann mach deine Waffensysteme klar.« »Meine Waffensysteme sind klar, seit ich dich kenne!« Nedir lachte. Weddrin war ein eiskalter Klotz ohne jeden Sinn für Humor. In seinem Job war er allerdings fast so gut wie Nedir. Fast! »Hört auf zu faseln«, fuhr Leuff dazwischen. »Konzentriert euch lieber auf das Ziel. Ihr wisst doch, dass uns ein Spitzenkopfgeld erwartet.« Nedir presste die Lippen zusammen. Ihre Anführerin hatte Recht. Aber das Kopfgeld interessierte ihn nicht. Er musste den entscheidenden Treffer landen. Er musste der Beste sein! Koste es, was es wolle! Der Gleiter näherte sich in immer kleiner werdenden Kreisen dem geheimen Stützpunkt. Ihr Opfer hatte anscheinend Erfahrung im Abschütteln von Verfolgern. So konnte der Pilot eventuelle Gefahren rechtzeitig entdecken und würde den Standort seiner Basis nicht verraten. Hervorragende Taktik, dachte Nedir. Sie funktionierte allerdings nur, wenn es sich bei den Verfolgern nicht um hochspezialisierte Auftragsmörder wie sie handelte. Ihr Triple-Jet war praktisch nicht zu orten. Die genaue Lage der Geheimstation hatten ihre Spionsonden schon bei der ersten Verfolgung des Arkoniden ermitteln können. Jetzt flog der Pilot sein Versteck direkt an. Der Ortungsschutz seiner Basis erlosch,
3 eine Bodenschleuse öffnete sich. Der Gleiter schwebte darauf zu. Als er zur Hälfte in der Schleuse verschwunden war, explodierte die Thermobombe. Der tropische Dschungel verdampfte in weitem Umkreis. Nedir wusste, dass der Gleiter nun wehrlos und verbeult in der Schleuse lag. Er führte den Triple-Jet in das Chaos aus Hitze und Qualm, legte die Finger auf die Auslöser seines Granatwerfers. Nur noch eine Millitonta, dann würde sich der Rauch lichten … Ein mörderischer Feuerstrahl schlug ihnen entgegen. Mehrere Salven trafen ihren Kampfgleiter und warfen ihn brutal aus der Bahn. Leuff konnte gerade noch abdrehen, sonst wären die Schirme zusammengebrochen. »Das Zielobjekt kann uns orten!« Nedir war perplex. So etwas war bisher noch nie vorgekommen. Der Gegner musste über eine extrem hochwertige Technik verfügen. In wilden Haken durchflogen sie die Schusslinien, bis der Rauch sich ein wenig verflüchtigt hatte. Dann stürzten sie sich erneut auf die Beute. Die drei Verfolger betätigten pausenlos ihre Waffen, Nedir den Granatwerfer, Weddrin den Thermostrahler und Leuff die Vibrationsschleuder. Erst als sie zum Punktbeschuss übergingen, explodierte das Fahrzeug mit mörderischer Wucht. »Er flieht!« Leuff zeigte in die Richtung eines leuchtenden Schemens, der sich schnell durch den Qualm entfernte. Offenbar hatte ihr Opfer seinen Gleiter rechtzeitig verlassen und die Bordkanone auf Automatik gestellt. Jetzt flog der Arkonide in Richtung einer Nachbarinsel. Vielleicht hatte er dort ein weiteres Versteck? Sie rasten mit dem Gleiter durch den Dschungel. Ihr Opfer sauste im Zickzackkurs über den Strand der Insel. Weddrin und Nedir klinkten ihre außen liegenden Drittel des Triple-Jets aus, so dass drei fast gleichwertige Minigleiter entstanden. Sie nahmen den Flüchtenden unter Dauerbeschuss und machten so einen Durchbruch zur benach-
4 barten Insel unmöglich. Immer wieder konnte das Opfer ihren Schüssen entgehen. Doch dann, Nedir lud gerade seinen Granatwerfer nach, beging der Flüchtende einen verhängnisvollen Fehler. Statt am Dschungelrand zu bleiben, folgte er mit hoher Geschwindigkeit einer weit ins Meer hinausragenden Landzunge, wodurch er jede Deckung verlor. Als er seinen Fehler bemerkte, bremste er stark ab. Nedir ließ ihm keine Chance, umzukehren. Er hatte nun nachgeladen und platzierte mit blitzschnellen Bewegungen eine Granate direkt neben dem Schutzschirm des Gejagten. Die Wirkung war verheerend. Der Schutzschirm wurde, ausgeblasen wie eine Kerze im Sturm, der Arkonide flog wie ein welkes Blatt durch die Luft und landete auf dem Strand. Nedir riss die Arme hoch. »Ich habe ihn erwischt!« Er kostete seinen Triumph aus, während er langsam auf den Flüchtenden zu schwebte, der ängstlich zu ihm hochblickte. Der Mann konnte ihn nicht erkennen. Nedirs Deflektorschirm war undurchsichtig. »Was wollt ihr?«, keuchte ihr Opfer. »Geld? Ich bin reich und bezahle gut!« Nedir lachte höhnisch. Mit dem nadeldünnen Strahl seines Desintegrators trennte er dem Arkoniden die rechte Hand ab. Die Augen des Mannes schienen aus den Höhlen zu quellen, als er den blutenden Armstumpf angaffte. »Nehmt meinen Kreditchip, zerstört meinen Stützpunkt, aber lasst mich am Leben! Was habe ich euch getan? Wer schickt euch?« Der Arkonide versuchte verzweifelt, mit seiner linken Hand die Wunde abzudrücken. »Spielt das noch eine Rolle für dich? Ich glaube kaum. Aber ich habe heute meinen großzügigen Tag. Ich verrate es dir trotzdem. Dein geheimer Stützpunkt ist jemandem ein Dorn im Auge. Deshalb liegst du jetzt hier im Sand und verlierst Blut!« »Nedir! Mach's kurz, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Weddrin saß vornüberge-
Rainer Hanczuk beugt hinter seinen Kontrollen, die riesige Kombiwaffe lässig im Arm haltend. »Spielverderber!« Die Emotionslosigkeit, mit der Weddrin seine Aufträge durchzog, machte Nedir manchmal rasend. »Man wird sich doch noch einen kleinen Spaß gönnen dürfen!« Er wandte sich wieder an sein Opfer. »Du möchtest sicher wissen, wer wir sind. Ich will es dir nicht vorenthalten. Es wird dich überraschen.« Der Kopf des Arkoniden fuhr herum, als Nedir den Deflektorschirm desaktivierte. Die Augen in seinem kalkweißen Gesicht weiteten sich. »Ihr seid …?« Kraftlos sank sein Kopf zur Seite. Nedir beugte sich zu dem Wehrlosen hinab, so dass ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. »Wie du siehst, sind wir völlig harmlos.« »Ja!« Ein Hauch von Zuversicht flackerte in den Augen des Arkoniden. »Bitte lasst mich gehen!« Nedir grinste den Mann freundlich an. Dann löste sich ein Schuss aus seinem Desintegrator. Die Hoffnung im Blick des Arkoniden erlosch für alle Zeiten.
* Sie zerstrahlten gerade die Leiche, als ein leises Piepsen ertönte. Leuff drückte einen Sensor an ihrem Multifunktionsarmband und flüsterte etwas in das Gerät. Nedir sah, wie sie plötzlich erstarrte und das Display näher an die Augen hielt. Gleich darauf ließ sie langsam den Arm sinken. Mit seltsamem Gesichtsausdruck schaute sie zu den anderen. »Was ist los?« Nedir bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Ich habe eine Nachricht vom Schiff bekommen.« »Probleme?« Er konnte die Fassungslosigkeit seiner Anführerin mit Händen greifen. »Es liegt ein neuer Auftrag vor.«
Die Ruinen von Acharr Was sollte an einem neuen Auftrag so schrecklich sein? Verdutzt blickte er sich nach Weddrin um, der noch immer die Waffe erhoben hielt. »Es ist ein ganz besonderer Auftrag, wie wir noch nie einen hatten.« »Umso besser. Stimmt wenigstens die Bezahlung?« Leuff holte tief Luft. Weddrin ließ seine Waffe sinken und kam näher. »Wie viel?« Sie blickte ihre Partner bedeutsam an, dann nannte sie den Betrag. Nedir ächzte. »Und was müssen wir dafür tun? Den Imperator töten?« Weddrin stieß ein heiseres Lachen aus, doch Leuff blieb ernst. »Fast«, sagte sie. »Wobei das möglicherweise sogar einfacher wäre.« Sie nannte den Namen ihres Zielobjekts. Nedir, Weddrin und Leuff schauten sich lange schweigend an. Dann begann Leuff schallend zu lachen. Die beiden anderen stimmten ein. Begeistert rissen sie die Arme hoch und schlugen sich gegenseitig auf die Handflächen. Sie hatten es geschafft. Sie hatten es endgültig geschafft!
1. 22. Februar 1225 NGZ, Schwerer Jagdkreuzer TOSOMA »Noch eine Dezitonta bis zum Sprung! Transitionstriebwerke sind justiert, Ortungsschutz aktiv, Schiff im Gefechtszustand. Achtzig Prozent Lichtgeschwindigkeit werden … jetzt … erreicht!«, meldete Altra pflichtbewusst von seinem Pilotenstand aus. Übertrieben pflichtbewusst trifft es besser, raunte mein Extrasinn. Wenn ihr euch nicht bald aussprecht, gefährdet ihr die Mission und den Rest der Besatzung. Die Penetranz, mit der mein Logiksektor unangenehme Dinge aussprach, nervte. Gut, wahrscheinlich war das die Aufgabe, die ihm die Schöpfung in meinem Fall zugedacht hatte. Unsterblich und glücklich wäre wohl zu viel des Guten gewesen. Aber der
5 Feuereifer, mit dem er dieser Arbeit in den letzten Tagen nachging, gefiel mir überhaupt nicht. Leider kam ich nicht umhin, ihm Recht zu geben. Die Ereignisse auf Othmura hatten die wenigen Dinge, die ich im Kugelsternhaufen Omega Centauri als feste Größen angenommen hatte, zu Staub werden lassen. Zum Beispiel die irrige Annahme, dass ich einer Frau begegnet war, mit der ich eine einfache und unproblematische Beziehung führen konnte. Die Wirklichkeit sah anders aus. Li da Zoltral hatte mit Altra, meinem Patensohn, geschlafen. Natürlich ungewollt und unter dem Einfluss eines hypnosuggestiven Plasmawesens, das sie ebenso wie große Teile der Besatzung hemmungslos gemacht hatte. »Sprung in dreißig Millitontas!« Ich fragte mich, was hemmungslos eigentlich bedeutete. Dass man Dinge tat, die man schon immer gern getan hätte, sich bisher aber nicht traute. Die Bilder, die sich meinem fotografischen Gedächtnis eingeprägt hatten, ließen an Deutlichkeit jedenfalls nichts zu wünschen übrig. Ja, die beiden waren auf Othmura wirklich hemmungslos gewesen. Aber Li und ich waren übereingekommen, die Vorgänge auf dem Sumpfplaneten als das abzuhaken, was sie hoffentlich gewesen waren: ungewollte Vorfälle, die sich woanders nie ereignet hätten. Dass sie mich tief verletzt hatte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Vielleicht, nein, hoffentlich hatten Li und ich an unserem Ziel Gelegenheit, uns über unsere Gefühle zueinander endgültig klar zu werden. Ich wünschte mir jedenfalls nichts sehnlicher. Die Tabuwelt Acharr barg wahrscheinlich viele Geheimnisse, die wir zu lüften gedachten. Möglicherweise barg sie auch Hoffnung für Li und mich. »Zehn! Neun! Acht!« Die kurze Zeit bis zum Sprung erlebte ich in einem seltsamen Zustand zwischen Klarsicht und bleierner Schwere. Von meinem Podest in der Mitte der Zentrale blickte ich auf die Panoramagalerie mit
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Rainer Hanczuk
dem Gleißen der unglaublich dicht stehenden Sonnen von Omega Centauri. Neben mir saß der Kommandant der TOSOMA, January Khemo-Massai. Schwarz wie Ebenholz, mit kurzem Kraushaar und Zähnen, die so weiß waren, dass sie mit den Sternen um die Wette blinkten. Um mich herum befanden sich die voll besetzten Missionsstationen von Einsatzleitung, Funkkontrolle und Feuerleitstand. Ich sah Frauen und Männer mit entschlossenen Gesichtern, die nur darauf warteten, dass es die TOSOMA vor einer Gefahr zu schützen galt. Und ich sah Altra, den 1. Piloten. Kerzengerade stand er an seinen Kontrollen, ein Ausbund an Erfahrung, Autorität und Übersicht, mit Augen, die ständig von einem Display zum anderen wanderten. Überall zugleich schien er hinzublicken, nichts schien ihm zu entgehen. Nur zu mir sah er nicht. Seit gestern brachte er es nicht mehr fertig, mir in die Augen zu schauen. Das schlechte Gewissen war ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. Verwechselst du nicht ein schlechtes Gewissen mit Unsicherheit? Schau dir den armen Kerl doch an! Altra geht es mindestens genauso dreckig wie dir. Rede mit ihm! Mein Extrasinn beherrschte die Gabe, überflüssige Ratschläge zu erteilen, offenbar immer noch aus dem Effeff. Mir war klar, dass ich über ein Gespräch mit Altra nachdenken musste. Aber nicht jetzt, wo ich mich selbst so hundeelend fühlte und wo uns möglicherweise nur noch Millitontas von dem entscheidenden Ziel unseres Auftrags trennten: der Tabuwelt Acharr. Oder anders ausgedrückt: Epetrans Shamakh! »Zwei! Eins! Sprung!« Ein leichtes Ziehen im Nacken sagte mir, dass wir unsere Raumzeit wechselten. Meine Sorgen nahm ich allerdings mit.
* »Ich enthaare mir den ganzen Körper, wenn wir hier keinen Treffer gelandet haben!« Das aufgeregte Meckern seiner Stim-
me ließ den Ziegenbart von Agir-Ibeth NirAdar-Nalo Nilmalladah III. so heftig erzittern, dass ich jeden Moment mit seinem Abfallen rechnete. Der Chef der Funk- und Ortungsstation enttäuschte jedoch meine Erwartungen. Anstatt sein Kinn zu entblößen, übermittelte er uns die eingehenden Daten in aufbereitetem Zustand. Eine Millitonta später hatten wir den Grund für seine Begeisterung auf den Schirmen. »Gelbe Sonne vom Spektraltyp G5V, ein Planet im Abstand von 135,59 Millionen Kilometern«, rasselte der Hasproner herunter. »Durchmesser 13.136 Kilometer, Schwerkraft 1,03 Gravos. Kein Mond. Land-Wasser-Verteilung, Zusammensetzung der Atmosphäre, Durchschnittstemperatur, alles passt. Der Planet ist absolut erdähnlich.« »Kampfschiffe der Mograks?« Ich stellte diese Frage wegen unserer bisherigen Erfahrungen mit den Froschwesen. Sie waren immer in Momenten aufgetaucht, wo wir sie am wenigsten hatten brauchen können. »Nichts, keine Walze in Sicht. Oder soll ich besser sagen, keine Warze?« Der Ortungschef meckerte erneut, offenbar sahen die Mograks mit ihrer Krötenhaut äußerst witzig für ihn aus. Vermutlich war es ganz gut, dass er keine Ahnung hatte, wie ein Hasproner auf einen Arkoniden wirkte. Exotisch?, wagte mein Extrasinn einen Vorschlag. Ich seufzte. Exotisch war das Mindeste. Mit seinen Hufen an den von zotteligem Pelz bedeckten Beinen und den beiden Knochenkämmen auf dem ebenfalls bepelzten Schädel hätte man ihn auf den ersten Blick für eine gelungene Mischung zwischen Ziege und Mensch halten können. Trotz seiner enormen Muskeln kam man bei seiner Größe von nur 1,34 Metern durchaus in Versuchung, ihn zu unterschätzen. Was allerdings ein gewaltiger Fehler gewesen wäre. Nichts an seinem Äußeren durfte darüber hinwegtäuschen, dass der Funkchef wie alle Hasproner ein unglaubliches mathematisches Talent besaß. Von seinem eidetischen
Die Ruinen von Acharr Gedächtnis und den gewaltigen Körperkräften ganz abgesehen. Wer ihn unterschätzte, hatte schon verloren. Aber der Begriff »exotisch« traf es ganz gut. Wir sind überhaupt ein sehr illustrer Kreis, dachte ich, als ich sah, wie January Khemo-Massai, unser afroterranischer Kommandant, Cisoph Tonk zunickte, dem Leiter der Schiffsverteidigung. »Halt dich bereit!«, hieß das, was für den Polynesier selbstverständlich war. Der abgebrochene Ertruser, wie er wegen seines gedrungenen Körperbaus genannt wurde, strahlte eine Mischung aus Konzentration und Ruhe aus, die keinen Zweifel ließ: Wer auch immer die TOSOMA angreifen sollte, bekam es mit ihm zu tun. Höchstpersönlich und ohne jeden Kompromiss. Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. schaltete eine Nahaufnahme von Acharr auf die Panoramagalerie, worauf es mir kalt den Rücken hinunterlief. Fünf Pyramiden auf einem Hochplateau!, triumphierte mein Extrasinn. Es handelt sich also tatsächlich um den Planeten, den Epetran Shamakh genannt hat. Aber beachte auch die übrigen Daten des Sonnensystems! Fällt dir da nicht noch etwas auf? O doch, das tat es, und nicht nur mir. Ein Raunen ging durch die zwanzig Meter durchmessende Zentrale. Khemo-Massai blickte mich wissend an. »Wenn diese Konstellation nicht künstlich hergestellt wurde, verzichte ich auf einen kompletten Jahressold.« »Die Hohen Damen und Herren im Kristallimperium dürften bei diesem Anblick jedenfalls Minderwertigkeitskomplexe bekommen«, gab ich ihm. Recht. »Die Wahrscheinlichkeit, dass die Natur den einzigen Planeten einer Sonne ausgerechnet in deren erdähnliche Ökosphäre legt, ist verschwindend gering. Wenn man dann noch unser Wissen über lemurische Technik berücksichtigt, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass hier kräftig nachgeholfen wurde.« Ich versuchte mir vergeblich auszumalen,
7 welche Energien nötig gewesen waren, um eine so große Masse durch das All zu bewegen. Dabei war der Planet nicht nur durch einen Großtransmitter geschickt worden, sondern man hatte ihn auch noch mit absoluter Präzision auf eine vorbestimmte Umlaufbahn gebracht! Und das war nur die Spitze des Eisbergs. Wenn man an die Formation aus zwanzig Gigant-Sonnen dachte, die wir im Zentrum des Kugelsternhaufens anmessen konnten, bekam man eine ungefähre Vorstellung davon, mit welch unglaublichen Kräften die Lemurer hier hantiert hatten. Die blauen Riesen waren scheinbar so mühelos platziert worden, dass man den Eindruck gewinnen konnte, es handele sich um Spielzeug. Dagegen verblasste sogar Tiga Ranton, das Projekt der drei Welten, der ganze Stolz Arkons. Auch wenn es den Lemurern einst leicht gefallen sein mag, du kannst getrost davon ausgehen, dass sie den Aufwand nicht zum Spaß betrieben haben, gab mein Extrasinn zu bedenken. Acharr hatte eine ganz besondere Bedeutung. »Die Energietaster schlagen aus!«, rief Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. plötzlich aufgeregt. »Starke Impulse vom einzigen Kontinent, gut abgeschirmt, aber nicht zu übersehen.« »Ortungsversuche?«, fragte Khemo-Massai. Der Hasproner schüttelte den Kopf. »Nein. Wer auch immer da unten ist, fühlt sich unbemerkt und hat nur ein paar Kraftwerke hochgefahren. Aber was für welche! Bei den Säulen von Arbaraith, die verbrauchen pro Millitonta mehr Saft als mein Kabinenkühlschrank in einem Monat!« Khemo-Massai gab Altra ein Handzeichen. »Wir begeben uns so schnell wie möglich in den Ortungsschutz der Sonne!« Der Afroterraner grinste mich an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du auf den Planeten hinunter willst, auch wenn die Chaotarchen persönlich dort hausen?« Ich lächelte zurück. »Bin ich so leicht zu
8 durchschauen?« »Das Glitzern in deinen Augen strahlt durch die Bordwand direkt bis nach Arkon.« Der Kommandant der TOSOMA blickte auffordernd in die Runde. »Was wir brauchen, ist eine Strategie, um unbemerkt auf den Planeten zu gelangen. Irgendwelche Vorschläge?« »Mit der TOSOMA zu landen ist zu riskant«, meldete sich Altra. »Ortungsschutz hin oder her, ein Schiff dieser Größe bekommt man nicht unbemerkt auf den Boden. Außerdem ist unser Paratron noch defekt. Wenn wir davon ausgehen, dass dort unten keine Freunde auf uns warten, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.« »Wir könnten auf der anderen Seite des Planeten landen und uns von dort zum Plateau durchschlagen«, überlegte ich laut. »Und dabei abgeschossen werden?«, widersprach Zanargun, der Leiter der Landungstruppen. Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. »Wir müssten uns auf dem Weg zum einzigen Kontinent über große Wasserflächen bewegen und wären somit eine perfekte Zielscheibe.« Bevor ich Zanargun beipflichten konnte, sog Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. plötzlich heftig Luft durch seine vier Nasenlöcher ein. Nachdenklich starrte er auf die Ortungsanzeigen vor ihm, dann lächelte er geheimnisvoll. »Ich glaube, ich habe eine Idee.« Sofort richteten sich alle Blicke auf ihn. »Heraus damit, Agir-Ibeth!«, rief ich. »Was hat dein geniales Gehirn sich ausgedacht?« Die Augen des Hasproners fixierten mich wie die eines Chirurgen vor einem größeren Eingriff. Sein Kinnbart erbebte bis in die Haarspitzen, während er tief Luft holte. Dann platzte er heraus: »Ich heiße Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah der Dritte und will gefälligst auch so angeredet werden! Eine Silbe weniger, und ich lege meine Arbeit nieder! Verdammt, gerade von dir hätte ich das nicht erwartet! Hast du nicht ein fotografisches Gedächtnis?« Der Kleine gibt's dir aber richtig, konnte
Rainer Hanczuk sich mein Extrasinn seinen Spott nicht verkneifen. Ich unterdrückte trotzdem nur mit Mühe ein Grinsen. »Bitte entschuldige«, sagte ich. »Es wird nicht wieder vorkommen.« Der Hasproner neigte würdevoll den Kopf. »Das will ich auch hoffen. Ich nehme deine Entschuldigung an. Und hier ist mein Plan B.«
* Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. drückte auf einen Sensor und veränderte so die Einstellung auf der Panoramagalerie. Statt Acharr in Großansicht war jetzt eine schematische Darstellung des kompletten Sonnensystems zu sehen, mit allen wichtigen Punkten: einer gelben Sonne, einem blauen Planeten, einem unsichtbaren Raumschiff. »Plan B?«, echote ich. »Genau. Euer Plan A mit der Landung der TOSOMA hat sich ja als unbrauchbar erwiesen.« Der Hasproner meckerte herzhaft. »Anscheinend muss euch erst jemand auf die Sprünge helfen und an die drei StealthShifts an Bord erinnern. Sie sind kleiner als die TOSOMA und durch ihre spezielle Außenhaut wirklich kaum zu orten.« »Das Restrisiko ist mir zu groß«, gab ich zu bedenken. »Ein zufällig den Shift treffender Ortungsimpuls würde reichen, und dein schöner Plan wäre Makulatur.« »Richtig«, antwortete der Ortungschef. »Aber was macht man, wenn man nicht entdeckt werden will? Man mischt sich unters Volk.« »Wir haben leider keine Flotte, in der wir uns verstecken könnten. Oder weißt du mehr als ich?« »Allerdings!« Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. machte sich wieder an einem seiner Pulte zu schaffen. Zunächst änderte sich nichts an der Darstellung des Systems, es waren weiter nur die drei ursprünglichen Punkte zu sehen. Aber dann blendete der Hasproner plötzlich viele wei-
Die Ruinen von Acharr tere, erheblich kleinere Punkte ein, die sich direkt auf Acharr zubewegten. »Ein Meteoritenschwarm!«, staunte ich. »Darin würde unser Shift vielleicht tatsächlich nicht auffallen. Du bist wirklich der Größte, Agir! Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah der Dritte meine ich natürlich!«, verbesserte ich mich schnell, als ich die gefährlich tiefen Falten auf seiner Stirn bemerkte. Ich schaute in das zwanzig Meter durchmessende Rund der Zentrale. »Wir stellen sofort ein Bodenkommando zusammen. Irgendwelche Freiwilligen?« »Ich!«, schallte es mir aus allen Richtungen gleichzeitig entgegen. Die gesamte Besatzung der Zentrale war aufgesprungen oder hatte die Hand gehoben. Aber konnte mich das bei dieser Teufelstruppe wirklich noch wundern? Da war Zanargun, der Chef der Landungstruppen. Er war mit einem Satz hochgeschnellt und starrte mich erwartungsvoll an. Ich hatte von dem Luccianer nichts anderes erwartet, zumal er sowieso meine erste Wahl gewesen wäre. Phazagrilaath, der Ishkhorer, nahm nicht den Blick von mir. Auch an ihn hatte ich gedacht, obwohl er zurzeit nur Stellvertretender Leiter der wissenschaftlichen Abteilung war. Seit er auf Othmura unserem Paratron das Licht ausgeblasen hatte, plagten ihn heftige Schuldgefühle. Gern gab ich ihm die Möglichkeit, sich auf Acharr zu rehabilitieren. Auch mein Patenkind Altra da Orbanaschol hatte sich erhoben und schaute mir zum ersten Mal, seit ich ihn auf dem Sumpfplaneten mit Li ertappt hatte, wieder in die Augen. Ich sah ihm an, dass an seiner Entscheidung nicht zu rütteln war, und wusste im gleichen Augenblick, wie tief greifend sich diese Mission auf unser weiteres Verhältnis auswirken konnte. Aber es war noch eine Stimme erklungen, hinter mir und engelsgleich. Ich drehte mich um, obwohl ich bereits wusste, wer da gesprochen hatte. Li da Zoltral, die während
9 der letzten Millitontas unbemerkt die Zentrale betreten hatte. »Du brauchst gar nicht erst versuchen, es mir auszureden.« Breitbeinig stand sie vor dem Schott und strich sich energisch durch ihr rotes Haar. »Und er kommt natürlich auch mit.« Sanft legte sie eine Hand auf die Schulter Akanaras, der neben ihr stand, doch dieser schüttelte sie trotzig ab. In seiner Bordkombination und mit dem weißen Yarn-Turban sah er fast wieder zivilisiert aus, auch wenn seine Kleidung heftig an dem dürren Körper schlotterte. »Willst du denn mit?«, fragte ich ihn vorsichtig. »Es könnte gefährlich für dich werden.« Akanara schaute erst zu Li hoch, dann zu mir. »Ohne mich habt ihr da unten sowieso keine Chance. Und wenn ihr beide auf mich aufpasst, kann mir nichts geschehen.« Meine Blicke und Lis trafen sich auf halbem Weg. »Wir werden uns alle Mühe geben«, antwortete ich, ohne sicher sagen zu können, zu wem ich das eigentlich sagte.
* Leuffs Posilog, letzter Eintrag. Wichtige Nachricht in Code C-T77! (Zusatzinfo: Zweimalige Anwendung eines falschen Codes führt zur Zerstörung des Logs!) Text: Achtung, dringender Einsatz auf Acharr notwendig! Eventuell noch laufende Aktion gilt hiermit als zweitrangig und muss SOFORT abgebrochen werden! Bereits stationierte Truppen auf Tabuwelt Acharr wurden als nicht ausreichend eingestuft. Zweite Strategie notwendig. Zielobjekt ist in Kürze vor Ort, mit bewaffneten Begleitpersonen ist in jedem Fall zu rechnen. Bezahlung: 1.000.000 Einheiten pro Kopf bei nachweisbarem Erfolg. Übliche Zahlungsweise. Achtung: Zielobjekt gilt als extrem schwierig! Alle nötigen Maßnahmen und Mittel vorbereiten. Einzige Bedingung: Es sind KEINE Ge-
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fangenen zu machen! Sonstige Vorgehensweise nach eigenem Befinden. Weitere Informationen zum Zielobjekt und Acharr: siehe beigefügte Datei. Ende der Nachricht.
2. Der Stealth-Shift wurde aus der Schleuse der TOSOMA katapultiert und fiel zusammen mit Hunderten von Meteoriten Acharr entgegen. »Ich hänge mich an einen der größeren Brocken«, entschied Altra. »So können wir seinen Ortungsschatten nutzen, und wir stoßen nicht mit anderen Bruchstücken zusammen.« Wenige Schübe der Triebwerke genügten, um den Shift auf einen besonders großen Meteoriten zuzusteuern. Er hatte die Form einer länglichen Kartoffel, war dreißig Meter lang und zwanzig Meter dick. Da er leicht trudelte, war eine Landung nicht einfach, doch Altra bewies, dass er ein echter Ausnahmepilot war. Er versetzte den Shift in denselben Bewegungsrhythmus und ließ ihn mit einem kurzen Impuls der Triebwerke nach unten sinken. Dann verankerte er unser Fahrzeug mit einigen kräftigen Fesselfeldern, so dass wir nicht mehr abgetrieben werden konnten. Jetzt mussten wir nur noch warten, bis unser unfreiwilliges Trägerraumschiff Acharr erreicht hatte. Hinter uns entfernte sich derweil die TOSOMA, um sich in den Ortungsschutz der Sonne zu begeben. Mit einem einzigen kurzen Schub beschleunigte das Schiff so stark, dass es den gelben Stern innerhalb einer Tonta erreicht haben würde. Khemo-Massai sollte es dort ständig einsatzbereit halten, um uns notfalls schnell zu Hilfe kommen zu können. Ich sah mich in der Kanzel des Shifts um und musterte die kleine Truppe. Fünf wortkarge Männer, eine verführerisch schöne Frau und ein stark behaarter Halbwüchsiger mit viel zu großen Füßen – das war meine Mannschaft, mit der ich auszog, um das Ge-
heimnis Acharrs zu lüften. Auf den ersten Blick nicht sehr berauschend, aber wir würden das Beste daraus machen. Außerdem gab es ein Problem, dem ich mich ebenso zähneknirschend hatte beugen müssen wie die vielen anderen Freiwilligen auf der TOSOMA: In den Shift passten einfach nicht mehr Leute hinein. Außer Li, Akanara, Phazagrilaath und mir hatten Altra, Zanargun und zwei seiner Männer Platz gefunden, der Arkonide Hespran und Daguray, ein Zaliter. Zu gern hätte ich zur Untersuchung der Pyramidenanlage auch noch Uvtash-Mura mitgenommen, unseren begnadeten Mikrotechniker von Swoofon. Mit seinen 33 Zentimetern Größe hätten wir ihn sogar problemlos unterbringen können. Aber leider hatte er es nicht über sich gebracht. Aus verständlichen Gründen: Seit seinen unfreiwilligen Exzessen auf Othmura, wo er Olylyn Salryn, die Morann-Wanderpflanze, sexuell bedrängt hatte, stand er psychisch am Rande des Zusammenbruchs. Swoon waren generell äußerst sensible Wesen, aber besonders stark galt das für ihr Geschlechtsleben. Und du denkst, dass es dir wegen Li schlecht geht, stichelte mein Extrasinn. Uvtash-Mura wurden an einem Tag all seine moralischen Werte zertrümmert, bei dir ist es dagegen nur dein verdammtes männliches Ego. Ich antwortete nicht. Das tat ich nie, wenn ich spürte, dass mein Logiksektor ins Schwarze getroffen hatte. Während wir antriebslos Acharr entgegenstürzten, reduzierten wir den Energieverbrauch auf ein absolutes Minimum. Zwar war der Shift mit einer Howalgonium dotierten Stealth-Außenhautbeschichtung ausgerüstet, trotzdem fühlten wir uns wie Tontauben, die gerade in die Schussbahn eines unbekannten Jägers geworfen worden waren. »Ich versuche, auf der Hochebene zu landen«, sagte Altra, als wir Acharr fast erreicht hatten. Er projizierte ein Hologramm mit den Umrissen des Plateaus in die Mitte der kleinen Zentrale und blendete dazu eine
Die Ruinen von Acharr Entfernungsskala ein. »Das Ding ist genauso künstlich angelegt wie das gesamte Sonnensystem«, erkannte Phazagrilaath. »Kreisrund bei einem Durchmesser von fünfundsiebzig Kilometern, dazu topfeben und dreihundertfünfzig Meter über dem Höhenniveau der Umgebung. So etwas schafft keine Natur, das wäre ihr nämlich viel zu langweilig!« Die fünf Pyramiden darauf finde ich überhaupt nicht langweilig, warf mein Extrasinn ein. Sollen wir wetten, dass sie aus rotem Lemur-Metall bestehen und eine Steuerstation für einen Sonnen- oder Situationstransmitter beherbergen? Nein, ich wollte nicht wetten, denn mein fotografisches Gedächtnis lieferte mir bereits mehr Informationen, als mir lieb war. Die Darstellung der Pyramiden war für mich wie eine Initialzündung gewesen. Auf einmal spürte ich, wie Bilder und Daten, die seit Jahrhunderten verschüttet gewesen waren, mit unbändiger Macht an die Oberfläche meines Bewusstseins drängten. Kahalo, Twin, Temur … Hilflos krallte ich die Finger um die Lehnen meines Kontursessels und fand mich damit ab, zum Spielball meiner Erinnerungen zu werden. »Achtung, Kollision!« Altras lauter Aufschrei riss mich abrupt aus meinem unfreiwilligen Déjà-vu-Erlebnis. Reflexartig schlug unser Pilot mit der Faust auf die Notschaltfläche für die Schutzschirme. Im nächsten Augenblick wurde der Shift von einem furchtbaren Schlag getroffen. Ein mindestens zwanzig Meter großer Meteorit war mit hoher Geschwindigkeit auf unseren geprallt. Altra hatte mit seiner schnellen Reaktion gerade noch rechtzeitig gehandelt. Der Shift wurde aus dem Untergrund herausgeschossen. In einer wahnwitzigen Rotationsbewegung entfernte er sich von unserem Versteck. »Wenn wir nicht endgültig abdriften wollen, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Triebwerke zu aktivieren«, rief Altra. »Damit wollte ich eigentlich bis dicht über der Oberfläche Acharrs warten!«
11 Schnell schaltete er den Paratronschirm wieder aus, der den Shift für jeden Ortungsspezialisten zu einem Leuchtfeuer machte. Anschließend stabilisierte er das Fahrzeug mit wenigen Korrekturschüben und führte es in den Meteoritenschwarm zurück. Dort desaktivierte er die Triebwerke sofort wieder in der vagen Hoffnung, dass wir nicht entdeckt worden waren. Wenige Dezitontas später griff die Schwerkraft des Planeten nach uns. Der größte Teil der Meteoriten wurde nur leicht vom bisherigen Kurs abgelenkt, doch immer noch zog es viele mit uns langsam, aber sicher in die Atmosphäre hinab. Schon bald drangen wir mit einer mörderischen Geschwindigkeit in die dichteren Bereiche der Luftschicht ein. Fünfzehn Kilometer über der Oberfläche wurde es noch einmal ernst. Altra leitete einen kontrollierten Gleitflug ein und lenkte den Shift aus dem Meteoritenschwarm heraus. Dazu benötigte er zunächst keine Triebwerke, denn der Shift besaß ein ausreichendes Maß an aerodynamischen Eigenschaften. Trotzdem war ein Meteorit, der sich plötzlich seitwärts bewegte, natürlich nicht gerade unauffällig. Altra überflog die Tag-Nacht-Grenze und steuerte in gleißendem Sonnenschein dem einzigen Kontinent Acharrs entgegen. Uns bot sich ein atemberaubend schöner Anblick, als wir dabei über das türkisfarbene Meer mit seinen unzähligen Inseln flogen. Doch das Gefühl, uns einem unbekannten Gegner auf dem Präsentierteller darzubieten, wuchs in mir mit jeder Millitonta. Wir erreichten das Festland ohne Zwischenfälle. Immer noch in beträchtlicher Höhe überflogen wir den undurchdringlichen Dschungel, der mit seinen breiten Flüssen und von Wasserdampf eingehüllten Baumwipfeln aussah wie ein riesiger, brodelnder Topf kosmischen Lebens. Als das Plateau mit den Pyramiden in Sichtweite kam und wir gerade anfingen, uns über einen Landeplatz zu beraten, ertönte plötzlich ein hektisches Piepsen.
12 »Jetzt haben sie uns!«, rief Altra. »Typische Peilstrahlen für Waffensysteme. Quelle irgendwo bei der Hochebene.« »Sofort runter!«, befahl ich. Einen Augenblick später hatte Altra die Triebwerke aktiviert und steuerte den Shift im Sturzflug der Oberfläche entgegen. Das dunkle Grün kam rasend schnell näher, so dass wir schon glaubten, Altra wolle uns im Dschungel zerbersten lassen. Doch in letzter Millitonta leitete er ein Bremsmanöver ein und lenkte den Shift über die Baumwipfel. Das Piepsen verschwand. »Wie haben sie uns nur entdecken können?«, rätselte Li, während sie erleichtert aufatmete. »Wahrscheinlich hat man uns schon im Weltraum geortet, als Altra den Paratron aktivieren musste«, erklärte ich ihr. »Man ließ uns nur näher herankommen, um uns leichter abschießen zu können.« Altra biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. Gleichzeitig raste er mit dem Shift so dicht über den Bäumen dahin, dass mir der Atem stockte. »Mach dir keine Vorwürfe«, beruhigte ich ihn. »Es war die einzig richtige Entscheidung unter diesen Umständen, sonst wären wir jetzt schon tot.« Und denke um Himmels willen nicht, ich würde dich bei Li aus purer Bosheit in ein schlechtes Licht stellen wollen, fügte ich in Gedanken hinzu. Gleich darauf ertönte wieder das Piepsen, das uns signalisierte, dass wir von gegnerischer Ortung getroffen wurden. Sofort deutete ich auf eine Lichtung, auf die wir gerade zuflogen. »Schnell, lande dort! Ein Weiterflug zum Plateau wäre Selbstmord.« Für einen kurzen Moment schaute mir Altra ungläubig in die Augen. »Wir sollen aufgeben?« Ich schüttelte energisch den Kopf, dann lächelte ich. »Wer redet von aufgeben? Wir laufen!« Altra lächelte erleichtert zurück und ließ unser Fahrzeug wie einen Stein fallen. Nur Millitontas später setzten wir fast zwanzig
Rainer Hanczuk Kilometer von der Hochebene entfernt auf. Der feuchte Dschungelboden schmatzte laut, als er den Shift aufnahm.
* Der Mann steht nackt vor dem Wandspiegel in seiner Kabine und betrachtet seinen Körper. Seinen elendigen Körper, denkt der Mann, denn er sieht nichts, was ihn auch nur ansatzweise aufheitern könnte. Seine Schultern sind viel zu schmal, dafür seine Hüften deutlich zu breit, und von seinen Haaren ist nur noch die Hälfte vorhanden. Seine Nase gleicht der eines Raubvogels, gebrochen in einem Kampf, den er nur mit List und Tücke gewinnen konnte, ein verzweifeltes Symbol der Stärke. Er hat sie nie richten lassen. Hinzu kommt seine geringe Größe, unter der er seit seiner Kindheit leidet. Wie oft hat er seinen Vater verflucht, weil er sich ausgerechnet eine palkonische Zwergin zur Frau nehmen musste, von der er nichts erbte als diesen Makel! Angewidert fahren seine Hände über seinen Körper, ertasten Dinge, die er nicht erblicken kann. Er fühlt die Haut, rauer und runzeliger, als es einer Frau gefallen könnte. Er betastet seinen Bauch, der nicht die gewünschte Straffheit besitzt. Dass er ihn deshalb schon seit Jahren nicht mehr ohne Spiegel sehen kann, ist dabei nur das Tüpfelchen auf dem »i«. Alles in allem, muss der Mann feststellen, wäre er unter tausend wahllos ausgesuchten Arkoniden mit Sicherheit immer einer der unattraktivsten. Ein Umstand, der ihn schier in den Wahnsinn treibt. Nein, der Mann besitzt von Natur aus keine Vorteile, die ihn zu dem machen könnten, was er von jeher sein will. Ein mächtiger Arkonide, der am Hofe des Imperators verkehrt und nur mit den Fingern zu schnippen braucht, um seine Wünsche erfüllt zu bekommen. Doch halt! Eines hat der Mann, das ihn von anderen unterscheidet. Es ist keine Äu-
Die Ruinen von Acharr ßerlichkeit und nichts, was man irgendwo erlernen kann. Es ist vielmehr der unbändige Wunsch nach Macht und die entsprechende Kaltblütigkeit, ihn mit allen Mitteln durchzusetzen. In dieser Eigenschaft ist er den meisten anderen Arkoniden um Lichtjahre voraus. Das ist das Kapital, mit dem er es zwar nicht zu Ruhm, aber zu einer Menge Geld gebracht hat. Was ihm jetzt noch fehlt, ist die endgültige Aufnahme in die Oberschicht des Kristallimperiums. Deshalb ist er hier auf diesem gottverdammten Planeten, dafür wird er in wenigen Tontas das tun, was die Person seiner Hoffnung ihm aufgetragen hat. Töten. Einen Mann töten, der durch seine hohe Geburt all das bekommen hat, was er selbst für erstrebenswert hält. Adel. Schönheit. Und vor allem: ein ewiges Leben. Der Mann lächelt in den Spiegel. Er wird beweisen, was es wirklich heißt, potenziell unsterblich zu sein!
* Der kleine, untersetzte Mann betrat die Zentrale mit einem selbstbewussten Glanz in den Augen und einem energisch vorgestreckten Kinn. Leise und ehrfurchtsvoll schloss sich das Schott hinter ihm, gerade so, als wolle es ihn nicht mit einem unbotmäßigen Geräusch verärgern. Zumindest neigte der Mann dazu, es so auszulegen. Aber das war ganz normal für diesen Schnösel, den die gesamte Besatzung des Schiffes aus langer, leidvoller Erfahrung als selbstherrlich und arrogant kannte. Normal für Igusen Kanarek. Kanarek hielt direkt auf Kommandant Teriwei zu, seinem einzigen Ansprechpartner an Bord. Mit anderen, untergeordneten Leuten unterhielt er sich nur im äußersten Notfall, etwa, wenn er sie zusammenstauchen musste, weil sie ihn versehentlich angerempelt hatten. »Haben Sie endlich eine Ortung von den Eindringlingen? Ich warte seit unzähligen Tontas auf eine entsprechende Meldung,
13 aber offenbar sind Ihre Leute sogar für die einfachsten Dinge ungeeignet.« »Wir haben eine Ortung von ihrem Fahrzeug, und es befindet sich noch immer …« Igusen Kanarek explodierte. »Das heißt, wir haben eine Ortung von ihrem Fahrzeug, Erhabener!«, brüllte er. Seine Adern am Hals drohten zu platzen. »Wie können Sie es wagen, vor allen Leuten die mir angemessene Ehrenbezeichnung zu unterlassen? Noch so eine Entgleisung, und ich schicke sie in den Reinigungsdienst. Verstanden, Teriwei?« »Ich glaube nicht, dass …« »Sie glauben was nicht? Die Vollmachten, die ich vom Eigentümer des Schiffes erhalten habe, geben mir das Recht, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zum Erfolg der Mission führen. Alle!« Die übrigen Besatzungsmitglieder in der Zentrale standen da wie erstarrt. Gebannt verfolgten sie, wie Igusen Kanarek ihren Kommandanten anbrüllte, und mehr als einer von ihnen ballte dabei die Hände in der Tasche. Dennoch hätte es niemand gewagt, offen für Teriwei Partei zu ergreifen. Die Reaktionen Kanareks hatten sich seit ihrem Start als absolut unberechenbar erwiesen. »Ihr Fahrzeug befindet sich noch immer an seinem ursprünglichen Platz, Erhabener. Wo sich ihr Stoßtrupp aufhält, kann ich erst sagen, sobald er das Plateau erreicht hat. Zumindest solange sie keine Energiequellen aktivieren.« »Na also, es geht doch.« Igusen Kanarek überlegte, wie er Teriweis Stolz noch tiefer verletzen konnte, aber es wollte ihm nichts einfallen. »Ich ziehe mich jetzt für letzte Vorbereitungen in meine Kabine zurück. Schicken Sie mir Orbton Madleda, damit sie mir behilflich ist. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen jetzt sage: Ich will sofort, ich wiederhole es für Sie, sofort, informiert werden, wenn die Eindringlinge die Hochebene erreicht haben. Außerdem soll sich meine Spezialtruppe bereithalten. Glauben Sie, dass Sie das schaffen?« »Ja, Erhabener.« Der Kommandant klang
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jetzt wieder völlig unbeteiligt, doch Kanarek sah in den tiefroten Augen, wie sehr es in seinem Inneren brodelte. Gut!, dachte Kanarek und legte die rechte Hand auf die Seite seiner Jacke, unter der er den Strahler wusste. Er hatte den großen Kommandanten also im wahrsten Sinne des Wortes klein gekriegt. Damit war der erste Teil seiner Mission erfüllt. Fehlte nur noch die Kleinigkeit, die sein Auftraggeber für die Hand seiner Schwester gefordert hatte. Die Ermordung des Unsterblichen. Aber auch das würde er mit seiner Spezialtruppe noch schaffen, da war sich Kanarek ganz sicher. Er würde den Auftrag sogar mit besonderer Motivation erfüllen, immerhin entsprach das Opfer hundertprozentig seinem persönlichen Feindbild. Tiefe Befriedigung durchströmte ihn, als ihm bewusst wurde, dass er sich der Erfüllung seines Lebenstraums ein entscheidendes Stück näherte. Bald würde er nicht mehr einfach nur Igusen Kanarek sein, sondern ein da! Als er zurück in seine Kabine ging, beschäftigte ihn schon viel mehr die Frage, wie Orbton Madleda sich wohl anstellen würde. Er hoffte bei den zwölf Heroen, dass sie nicht so prüde war wie seine letzte Gespielin. Wie er so etwas hasste!
3. Das Pruun war nicht intelligent. Das Pruun war eine Pflanze, hatte nicht einen Funken Verstand in sich und nur einen Lebensinhalt, der es vorwärts trieb: Fressen, Fressen, Fressen. Es war das einzige Lebewesen seiner Art, aber das kümmerte es nicht, es war auch völlig ohne Bedeutung. Wenn ein anderes Wesen in seine Reichweite kam, gab es nur zwei Kategorien, in die es eingeteilt werden konnte: essbar oder nicht essbar. Das Pruun war ein denkbar einfaches Geschöpf und hatte ständig Hunger. Trotz seines schlichten Gemüts hatte das Pruun es geschafft, in einem großen Teil des Dschungels zum beherrschenden Organis-
mus zu werden. Seine Möglichkeiten waren nicht besonders vielfältig, aber doch so wirksam, dass ihm kein Tier gewachsen war. Was in seine Nähe geriet, wurde auf Verwertbarkeit getestet, abtransportiert und möglichst lange aufbewahrt. Das Pruun verstand es, mit seiner Nahrung zu haushalten, das war sogar seine ganz besondere Stärke. Das Pruun hatte nicht die geringste Ahnung, wie es aussah. Es musste wohl recht groß sein, denn auch die größten Tiere des Dschungels hatten keine Chance gegen es, aber sonst … Ständig wachte es über sein Revier. Es vergaß nie, auch kleinere Beutetiere zu erlegen, um seinen allumfassenden Anspruch auf Herrschaft und Nahrung zu verdeutlichen. Und so tat es das Pruun auch an diesem Tag. Die Sonne war aufgegangen, die Tiere streiften durch den Dschungel, und es brauchte nur zu warten, bis ihm das Futter zulief. Bisher war das immer bloß eine Frage der Zeit gewesen. Das Leben des Pruun war wirklich sehr einfach.
* Der Marsch durch den Dschungel war eine einzige Qual. Bereits auf den ersten Metern überfiel uns die Geräuschkulisse wie ein Hammerschlag. Brüllaffen, Zikaden und Vögel oder deren Entsprechungen auf Acharr lagen in einem ständigen Wettstreit um die lauteste Stimme. Wer gewinnen würde, wussten wir nicht, die Verlierer jedoch waren eindeutig wir. Außerdem setzten uns die schwüle, mit Wasser getränkte Luft zu, die unzähligen Fluginsekten aller Art und die unglaublich intensiven Düfte, die uns umtobten. Im einen Augenblick zuckersüß, im anderen extrem aromatisch und im nächsten wieder Verwesung pur. Man musste schon hart im Nehmen sein, um sich durch diese grüne Hölle kämpfen zu können. Ich hatte entschieden, dass Altra mit Hespran an Bord des Shifts bleiben und für
Die Ruinen von Acharr Notfälle bereitstehen sollte. Das war einerseits logisch, da er für den Job des Piloten einfach am besten geeignet war. Andererseits hielt ich es für besser, das Trio, das Altra, Li und ich derzeit bildeten, für kurze Zeit zu trennen. Ich hatte in Altras und Lis Augen stille Zustimmung erkannt. »Ich gehe voran«, entschied Zanargun, als wir unsere Ausrüstung geschultert hatten. »Daguray.« Er gab dem Zaliter ein Zeichen. »Du hast ein Auge auf Akanara.« Der Landungstruppler nickte und stellte sich wortlos neben den Jungen von Yarn. Daguray war etwa sechzig Jahre alt, so groß wie ich, aber wesentlich muskulöser. Sein dunkles Haar war ein wenig struppig, und um seine Augen hatten sich tiefe Falten in die sonnengegerbte Haut gegraben. Als er meinen Blick bemerkte, wich er mir aus und schaute zu Boden. »Es ist besser, wenn ich mich um Akanara kümmere«, widersprach ich Zanargun. »Ich habe ihn zu diesem Einsatz eingeteilt, deshalb trage ich auch die Verantwortung für ihn.« Der Leiter der Außenoperationen schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns in einem Dschungel. Das erledigt Daguray.« Eine weitere Erklärung gab er nicht, doch er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein, und ich gab nach. Zanargun übernahm also die Spitze und pflügte durch den Dschungel wie ein wild gewordener Tambur-Eber. Es war wirklich beeindruckend, mit welcher Wucht der Luccianer uns den Weg bahnte. Mit einem langen Vibratorschwert aus seiner persönlichen Waffensammlung räumte er zur Seite, was ihm in die Quere kam. Quiekend und kreischend stob allerlei Getier aus seinem Weg, und mehr als ein Baum kippte unter einem kräftigen Tritt seiner stämmigen Beine einfach um. Wenn man bedachte, dass der nur 1,69 Meter große Mann von Luccia an anderthalb Gravos gewöhnt war, bekam man fast ein wenig Mitleid mit dem Dschungel. Hinter Zanargun kamen Li und ich, dicht gefolgt von Phazagrilaath. Das Schlusslicht
15 bildeten Akanara und Daguray, der Zaliter, den ich noch kein Wort sprechen gehört hatte. Dafür wirkte er umso aufmerksamer, sogar irgendwie neugierig. Ich glaubte geradezu sehen zu können, wie er bei jedem neuen Geräusch die Ohren spitzte. Hin und wieder schien ein Lächeln über seine Lippen zu huschen. Nun ja, wenigstens einer, der sich in dieser grünen Hölle wohl fühlte. In dem unwegsamen Gelände würden wir die Hochebene nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Das gab Li und mir Gelegenheit, gegenseitig unsere Stimmung auszuloten, was wir durch verstohlene Seitenblicke und zufällige Berührungen auch ausgiebig taten. Welche Freude machte sich in mir breit, als ich sah, wie Li mir verlegen zulächelte. Mein Herz machte einen Sprung, und eine gewaltige Ameisenarmee krabbelte schnurstracks ins Innere meines Schutzanzugs, um dort in jeden Quadratzentimeter meiner Haut zu zwicken. Etliche tausend Jahre Lebenserfahrung hatten mir nicht die Schmetterlinge im Bauch geraubt. Galaktozentrischer Sonnensechseck-Transmitter Lage: Milchstraßenzentrum. Entstehung: Um 50.500 v.Chr. mit Hilfe der Sonneningenieure von einer in die Vergangenheit versetzten Expedition der Meister der Insel unter Selaron Merota erbaut. Dadurch Schließung einer Zeitschleife. Geschichte: Von den Lemurern 50.373 v.Chr. entdeckt, die ihn um 50.350 v.Chr. erstmals offiziell benutzen, nachdem auch das Andro-Sechseck als Gegenstück in Andromeda entdeckt wurde. Wieder entdeckt am 19. August 2400 durch die CREST II, die dabei entmaterialisiert und in das TwinSystem versetzt wird. Status: Zerstört am 25.08.2405, Entstehung einer gigantischen Supernova. Steuerplanet: Kahalo mit PyramidenSechseck, ebenfalls zerstört. Geschichtlicher Hintergrund: Beginn der Straße nach Andromeda, Ausgangspunkt zur Gründung neuer Tamanien in Andromeda,
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Hauptfluchtweg der Lemurer bei der sich abzeichnenden Niederlage im Großen Krieg gegen die Haluter. Daraus später hervorgehend die Tefroder und Meister der Insel. Ebenso der Ausgangspunkt für die Befreiung Andromedas von deren Herrschaft durch die Terraner. Bedeutung für die Menschheit: Überragend! Dringende Handlungsempfehlung: Das Auffinden weiterer Sonnentransmitter ist aufgrund der damit verknüpften kosmohistorischen Zusammenhänge umgehend zu forcieren. Entsprechende Anlagen müssen laut lemurischer Restdaten noch in großer Zahl unentdeckt vorhanden sein. Priorität der Maßnahme: Überrang! Quelle: Geheimer Speicherbereich NATHANS; Relikte der Ersten Menschheit – Handlungsempfehlungen an den Ersten Terraner
* Dem Pruun war die Unruhe in seinem Dschungel nicht entgangen. Seine Abertausende Rezeptoren hatten ihm starke Erschütterungen gemeldet, die auf eine größere Gruppe von Beutetieren hinwiesen. Mit der ihm eigenen Zielstrebigkeit stellte das Pruun überall Beobachter auf, die beim ersten Auffinden von Blut Alarm schlagen würden. Kurz darauf entdeckte einer seiner Rezeptoren an einem Baumstumpf eine unglaubliche Duftmarke. Süß, aromatisch und so eisenhaltig, dass der Rezeptor vor Erregung zitterte, als er die wenigen Tropfen des Stoffes in sich aufnahm. Die Konzentration des für das Pruun lebenswichtigen Metalls übertraf alles, was es bisher kannte. Starke Impulse peitschten durch sein Netzwerk, und die Beobachter verstärkten ihre Aufmerksamkeit bis zu einer Intensität, die alles Dagewesene in den Schatten stellte. Ein winziger Hinweis würde jetzt genügen, um der Beute habhaft zu werden. Das Pruun hatte Witterung aufgenommen.
4. Trotz des dichten Bewuchses kamen wir nun besser voran. Zanargun drosch sein Vibratorschwert mit so großer Kraft in das Unterholz, dass uns die Splitter nur so um die Ohren flogen. Wir hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, da ertönte hinter mir ein lauter Ruf. »Atlan!« Daguray hatte sein Schweigegelübde gebrochen – und nicht ohne Grund. Als ich herumfuhr, sah ich, wie sich Akanara eine blutende Hand hielt und vor Schmerzen das Gesicht verzog. Li ging zu ihm, um die Wunde zu untersuchen, doch der Yarn entzog sich ihr. »Ist nicht schlimm, hab sie nur an den Rosen aufgerissen«, sagte er trotzig. Tatsächlich standen er und Daguray direkt neben einem duftenden Wildrosenstrauch, der mit langen Dornen bewehrt war. Beiläufig registrierte ich, wie Akanaras Aufpasser fast liebevoll eines der Blätter zwischen seinen Fingern rieb und dabei seine Nase in eine der vielen Blüten steckte. Li ließ sich von der unwirschen Art des Yarn nicht abwimmeln, sondern ergriff energisch seine Hand. »Von wegen nicht schlimm«, attestierte sie. »Das ist jedenfalls kein Kratzer mehr. Es könnten Krankheitserreger übertragen worden sein. Also halt gefälligst still!« Sie sprühte eine Reinigungsflüssigkeit auf den stark behaarten Handrücken und spülte damit das Blut fort. Es war eine ganze Menge, das in dicken Tropfen auf den Dschungelboden fiel und dort versickerte. Dann träufelte sie ein Breitband-Antibiotikum in die Wunde, dessen eine Komponente sich sogleich auflöste und in den Blutkreislauf eintrat. Die anderen Bestandteile sorgten für eine stark beschleunigte Wundheilung, so dass sich schon nach wenigen Millitontas eine dicke Kruste bildete. Zum Schluss versah die Historikerin die Wunde so routiniert mit einem Sprühverband, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan.
Die Ruinen von Acharr Li hatte wirklich sehr viele Talente … »Das müsste reichen. In Mülltonnen solltest du aber in nächster Zeit nicht wühlen.« Den kleinen Seitenhieb auf Akanaras Lebensweise auf Yarn konnte Li sich offenbar nicht verkneifen. Wir wollten gerade weitergehen, als der Junge einen markerschütternden Schrei ausstieß. »Es wird kommen und mich holen«, stöhnte er mit vor Angst geweiteten Augen. »Es will mein Blut, und niemand kann es daran hindern!« Hilflos ruderte er mit den Armen, während sein von dichtem, schwarzem Haar umrahmtes Gesicht noch bleicher wurde als sonst. Sein Blick richtete sich kurz auf den Boden, dann stöhnte er laut auf und begann zurückzuweichen. Kein Zweifel, Akanaras Paragabe war aktiviert worden. In besonders brenzligen Situationen konnte der Yarn zwei bis drei Zentitontas in die Zukunft sehen. Auch wenn seine Fähigkeit sehr ungenau und unzuverlässig war, hatte er bereits mehr als einmal eine erstaunliche Treffergenauigkeit bewiesen. Unwillkürlich griff ich nach meinem Vibratormesser. Mit der anderen Hand packte ich den Jungen an seinem mageren Arm und schüttelte ihn. »Was wird kommen? Los, rede schon!« »Es ist so unglaublich groß«, war alles, was ich Akanara entlocken konnte. Der Yarn entriss sich mir und wich mit irrem Blick weiter zurück, bis er mit dem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Dort verharrte er mit schlotternden Gliedern, wobei er gehetzt nach allen Seiten schaute. »Zanargun?« »Keine Ortung. Wir sind in weitem Umkreis die einzigen Lebewesen im Dschungel. Bis auf Millionen Mücken.« Nimm seine Warnung ernst, meldete sich mein Extrasinn. Bisher lag der Junge mit seinen Ankündigungen meistens richtig. »Haltet euch bereit«, rief ich den anderen zu, die daraufhin ihre Waffen zogen. Wie
17 von selbst bildeten wir einen Kreis, der uns nach außen absicherte. Aber auch nach einer Zentitonta war nichts zu sehen, weder auf den Ortern noch im Dschungel. Hörst du es denn nicht? Hören? Nein, ich hörte nichts. Zunächst wusste ich tatsächlich nicht, was mein Extrasinn meinte, doch dann … Der Lärm war verschwunden. Das Brüllen der Tiere, das Schreien der Vögel … Nichts war mehr zu hören. Sogar die Insekten schienen sich in Luft aufgelöst zu haben, nicht eine einzige Zikade wollte uns noch nerven. Die grüne Hölle war plötzlich höllisch still. Mit pochendem Herzen starrten wir in den Dschungel und zählten die Millitontas. Akanara presste sich nach wie vor an den Baum, während Daguray aufmerksam neben ihm stand. Als nach einer weiteren Zentitonta immer noch nichts geschehen war, begann ich langsam aufzuatmen. Akanaras Fähigkeiten waren unzuverlässig, vielleicht hatte er sich ja getäuscht und … »Da!« Li entdeckte es zuerst. An der Stelle neben dem Wildrosenstrauch, wo sie gerade noch Akanara verarztet hatte, schob sich langsam etwas aus dem Boden. Anfangs war es einfach nur ein Ding in der Farbe eines Regenwurms, etwa einen Meter lang und fingerdick, das sich offenbar suchend umschaute. Dabei schien es keine Eile und keine Furcht zu haben, denn als es uns musterte, nahm es sich für jeden von uns ausgiebig Zeit. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als ich an der Reihe war. Auf mich wirkte es unglaublich gierig. Schließlich erblickte der Wurm Akanara. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob das seltsame Etwas in diesem Moment wirklich zitterte, aber einen Moment lang sah es für mich so aus. Jeder von uns spürte, dass es ihn anders anschaute als uns. Länger und intensiver. »Akanara, komm zu mir!«, rief ich dem Yarn zu. Doch dieser wagte es nicht, sich zu rühren. Wie hypnotisiert lehnte er an dem Baum und starrte auf die Spitze des Wurms.
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Dann ging alles rasend schnell. Das seltsame Etwas schob sich weiter aus dem Boden direkt auf den Jungen zu. In wenigen Millitontas würde es Akanara erreicht haben, wenn dieser sich nicht endlich bewegte. Rette ihn!, schrie mein Extrasinn, als ich auch schon sprang. Mit meinem Vibratormesser voran schnellte ich auf Akanara zu, um ihn vor dem Wurm zu retten. Fast hatte ich ihn erreicht – da prallte ich gegen eine Mauer aus weiteren Würmern, die einen Augenblick zuvor noch nicht da gewesen war! Im Moment meines Aufpralls spürte ich, dass es keine Würmer sein konnten. Würmer waren weich und glitschig, aber ich war gegen eine Wand aus Stahl geprallt. Als ich benommen zu Boden glitt, erkannte ich, um was es sich wirklich handelte. Es waren Wurzeln, die mich außer Gefecht gesetzt hatten. Hunderte stahlharte Wurzeln, die aus der Erde wuchsen und nur ein Ziel hatten. »Hilf mir, Daguray!« Akanaras Schrei war schrill vor Entsetzen.
* Daguray redete oft Tage lang nicht einen Satz, außer vielleicht mit sich selbst. Daguray war der beste Einzelkämpfer, den man sich überhaupt vorstellen konnte. Daguray war der Rosenblättermann. Wahrscheinlich lag seine Schweigsamkeit daran, dass er nach dem Tod seiner Eltern viele Jahre allein in der Wildnis von Scolo II hatte verbringen müssen. Die Blätter des Dschungels redeten anfangs nicht viel mit dem Jungen, außer vielleicht, wenn der Wind einmal besonders heftig durch die Wipfel pfiff und die Bäume zum Knarzen brachte. Daguray brauchte lange, bis er die Sprache des Dschungels verstand, doch dann warnte er ihn mit seinem leisen Rascheln vor gefährlichen Tieren und bot ihm verborgene Stellen dar, wenn er auf Nahrungssuche war. Scolo II war keine Welt für Kinder. Erwachsene verfielen dort in kürzester Zeit
dem Genuss einer der vielen Drogen, die dort in rauen Mengen produziert wurden. Zu viel, zu billig, für jeden leicht erschwinglich. Wer auf Scolo II nicht süchtig war, war entweder völlig pleite oder tot. Oder er lebte wie Daguray im Dschungel. Der Sohn gebürtiger Zaliter war acht gewesen, als er seine Eltern leblos und mit je einem Abdrücker im Arm in ihrer Baracke fand. Bei seinem Vater steckte das Gerät im Schlagarm, dem Arm, mit dem er Daguray immer verdrosch, wenn dieser es wagte, ihn anzusprechen. Bei seiner Mutter hing es aus dem kalten Arm. Mit diesem Körperteil hatte sie den Jungen immer aus der Hütte gestoßen, wenn er sich wieder einmal an sie schmiegte und um körperliche Zuwendung bettelte. Alles in allem empfand Daguray den Tod seiner Eltern nicht als großen Verlust, eher als Schlussstrich unter den schlimmsten Teil einer schweren Kindheit. Er ließ seine Eltern dort liegen, wo er sie gefunden hatte, und ging davon. Das Einzige, was er mitnahm, war ein abgewetzter Gedichtband eines längst vergessenen terranischen Poeten. Daguray wusste nicht, woher das Buch stammte, er wusste nur, dass er zwar ohne Vater und Mutter, aber nicht ohne diese Gedichte leben konnte. Vor allem eines hatte es ihm angetan und eine stille Sehnsucht in ihm geweckt. Immer wenn seine Eltern ihn allein gelassen hatten, hatte Daguray über dem Gedicht vom Rosengarten gesessen und in den wenigen Zeilen das gefunden, was es auf Scolo II niemals geben würde: einen Funken Liebe. Jetzt war er ganz allein auf dieser Welt. Einer feindlichen Welt. Die Gesetze auf Scolo II waren mörderisch. Die Drogendealer achteten streng darauf, dass ihnen die Kundschaft nicht ausging. Regelmäßig zogen ihre Rekrutierungstrupps durch die Straßen der Stadt und lasen alle herumlungernden Kinder auf. Nachdem sie ihnen einen Schuss mit einer der vielen Drogen verpasst hatten, warfen sie sie wieder zurück in die Gosse, wo sie nichts anderes mehr im Kopf
Die Ruinen von Acharr hatten, als möglichst schnell an Geld für die nächste Dosis zu kommen. Daguray wollte nicht süchtig werden und wie seine Eltern in einer verdreckten Baracke sterben. Also verließ er die feindliche Stadt und floh mit seinem Buch in den nicht minder gefährlichen Dschungel. Dass er die ersten Tage dort überlebte, war schieres Glück. Die Raubtiere übersahen ihn entweder, weil er zu klein war, oder er konnte ihnen gerade noch rechtzeitig ausweichen. Bald lernte der Junge, die Nächte schlafend oder im Mondschein lesend auf Bäumen zu verbringen, trotzdem war er mehr als einmal kurz davor, in einem zahnbewehrten Maul zu landen. Eines Tages, als er auf Nahrungssuche war, wurde er plötzlich von einer mächtigen Jambor-Katze angegriffen. Da ihn das Tier auf einer Lichtung stellte, schlüpfte Daguray in seiner Verzweiflung unter die einzige Deckung, die für ihn gerade erreichbar war: einen großen Wildrosenstrauch. Das war der Augenblick, in dem Daguray die Sprache der Rosenblätter zu verstehen begann. Der Strauch redete mit ihm. Zumindest glaubte Daguray ganz fest daran. Mit gezieltem Rascheln auf der jeweiligen Seite warnte der Strauch den Jungen vor den stahlharten Krallen der Jambor-Katze, die sich mit ihrem großen Körper und wegen der vielen Dornen nicht so weit wie Daguray unter den Busch schieben konnte. So hatte der junge Zaliter immer ausreichend Zeit, auf die andere Seite zu robben. Irgendwann gab die Katze schließlich auf, und der Junge konnte sein Versteck wieder verlassen. Daguray lernte nach und nach auch die Sprachen der anderen Pflanzen, aber sein besonderes Verhältnis zu Rosen vertiefte sich von Tag zu Tag. Immer wenn er sich fürchtete oder sich einsam fühlte, zog es ihn mit seinem Buch in die Nähe von Rosensträuchern, wo er mit lautlosen Lippenbewegungen das Gedicht vom Rosengarten las. Das änderte sich auch nicht, als er mit den Jahren gelernt hatte, jeder Gefahr des
19 Dschungels zu begegnen und sogar vor Jambor-Katzen keine Angst mehr haben musste. Daguray hatte begriffen, dass Gedichte und Rosen etwas gemeinsam hatten: Beide gaben ihm Dinge, die Menschen ihm nie hätten geben können. Irgendwann verließ Daguray schließlich Scolo II. Als blinder Passagier an Bord eines Handelsraumers stieß er in die Weiten des arkonidischen Imperiums vor, wo er eines Tages einem Kristallprinzen begegnen sollte. Niemals vergaß Daguray jedoch, wem er diese Chance zu verdanken hatte. Einem unverhofften Freund, der ihm in größter Not beigestanden hatte. Seit jenem Tag betrachtete Daguray sein Leben als Geschenk, und er war bereit, eines fernen Tages seinen Dank abzustatten. Zum Beispiel durch seine eigenartigen Fähigkeiten. Auch jetzt, als Daguray neben Akanara in dem fremden Dschungel stand, hörte und sah er mehr als alle anderen. Er sah einen kleinen, wehrlosen Jungen, dessen Blut auf die Erde getropft war. Er spürte stahlharte Wurzeln, die sich gierig danach durch den Untergrund schoben. Er vernahm ihr aufgeregtes Knacken, als sie sich mit Wucht auf ihr Opfer stürzten. Und er lauschte dem Rascheln der Wildrosen, die ihm zuflüsterten, was zu tun war. Sssssssssst, machten sie. Wenn irgendjemand Akanara retten konnte, dann war es der Rosenblättermann.
* Archi-Tritrans (Sonnendreieck) Lage: Milchstraßenzentrum. Entdeckung: November 3440 n.Chr. durch die Explorerschiffe EX-8977 und EX-1819 unter den Obersten Mopron und Lohompy. Beide gehören dem Kommando für Lemurische Hinterlassenschaften (KLH) an, einer von Perry Rhodan ins Leben gerufenen Unterabteilung der Explorerflotte. Wenig später Entdeckung eines Weißen Zwerges, der die Sonne Gamma umläuft und nur 188,67 Kilometer durchmisst. Eigenname des Weißen Zwer-
20 ges: Kobold. Steuerplanet: Keiner, stattdessen wird am 2. August 3459 die Schaltstation PP-III entdeckt. Ein Diskus von 450 Metern Durchmesser und 120 Metern Höhe, der exakt über dem Schnittpunkt der drei Riesensonnen installiert wurde. Geschichtlicher Hintergrund: Am 28. Oktober 3459, während der Invasion durch das Hetos der Sieben (Larenkrise), wird der Weiße Zwerg Kobold per Situationstransmitter-Schaltung in das Solsystem versetzt. Am 7. März 3460 werden im Gegenzug das komplette Erde-Mond-System mit über 18 Milliarden Menschen plus 88.000 terranischen Großraumschiffen und 8000 Fragmentraumern der Posbis nach Archi-Tritrans versetzt. Sie erscheinen dort jedoch nur für kurze Zeit und rematerialisieren dann endgültig im Mahlstrom der Sterne. Die Odyssee der Menschheit beginnt. Bedeutung für die Menschheit: Überragend. Dringende Handlungsempfehlung: Sofortige Beseitigung der technischen Defizite, die eine sichere Beherrschung der Sonnentransmitter derzeit noch verhindern. Ähnliche Krisen sind für die Menschheit sonst als unbedingt tödlich einzustufen. Priorität der Maßnahme: Überrang. Quelle: Geheimer Speicherbereich NATHANS; Relikte der Ersten Menschheit – Handlungsempfehlungen an den Ersten Terraner * Innerhalb weniger Millitontas hatten sich massive Wände eines wurzelartigen Geflechts aus dem Dschungelboden geschoben und Akanara von uns getrennt. Schon krochen weitere Wurzeln hervor und begannen, den Jungen wie in einen hölzernen Käfig einzuschließen. Wenn das so weiterging, würde er in wenigen Augenblicken nicht mehr zu sehen sein. Es dauerte nicht lange, bis sich aus den undurchdringlichen Tiefen des Dschungels besonders lange Wurzeln heranschlängelten und mit dem Käfig verknoteten. Das Geflecht hob Akanara in die Höhe und trug ihn davon. Das Knarren, von dem dieser Vor-
Rainer Hanczuk gang begleitet wurde, und die Hilfeschreie des Jungen gingen uns durch Mark und Bein. Tu etwas!, peitschte mich mein Extrasinn an. Leichter gesagt als getan. Wegen der Ortungsgefahr dürfen wir unsere Strahler nicht benutzen. Dennoch handelte ich. Mit meinem Vibratormesser begann ich, wie wild Schneisen in das Geflecht zu schlagen, und meine Gefährten taten es mir nach. Links, rechts, links, rechts, bei jedem Hieb flogen uns die Wurzeln in dichten Bündeln um die Ohren. Vor allem Zanargun war mit seinem Vibratorschwert unermüdlich tätig, er mähte die Wurzeln gleich reihenweise um. Trotzdem merkte ich bald, dass wir viel zu langsam waren. Immer wieder schoben sich neue Wurzeln nach, und wenn Akanara erst einmal aus unserer Sichtweite war … In diesem Moment explodierte Daguray. Der schweigsame Zaliter aus Zanarguns Truppe hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt praktisch nicht bewegt, sondern mit seltsam lauschendem Gesichtsausdruck die Vorgänge beobachtet. Als ich schon dachte, er würde tatenlos abwarten, bis wir ihn aus seiner Falle heraushauen konnten, ging er in die Knie, schaute nach oben – und schnellte sich aus dem Stand über die Wand, die ihn umgab. Man hätte meinen können, Daguray hätte sein Antigrav-Aggregat eingeschaltet, aber das stimmte nicht. Bäume, Äste, Bäche, das alles stellte für ihn kein Hindernis dar, es waren für ihn Gelegenheiten, uns seine unglaubliche Sprungkraft vorzuführen. Bevor wir ihm auch nur ansatzweise zu Hilfe kommen konnten, hatte er mit ein paar eleganten Sätzen den fliehenden Käfig aus Wurzeln erreicht. Sofort griffen einige Wurzeln Daguray an, doch dieser wirbelte sein Vibratormesser so schnell durch die Luft, dass meine Blicke ihm nicht folgen konnten. Innerhalb von Millitontas watete er in abgeschnittenen Strängen. Der Käfig bemühte sich nach Kräften, so
Die Ruinen von Acharr rasch wie möglich mit Akanara zu entkommen. Aber Daguray war schneller, viel schneller sogar. Er durchschlug mit rasenden Hieben die Wurzeln, die den Jungen davontragen wollten. Laut krachend stürzte der Käfig zu Boden. Daguray zerteilte die letzten Ranken und Pflanzenarme und befreite Akanara endgültig. Die gekappten Wurzeln zogen sich schmatzend in den Dschungelboden zurück. Außer unserem Keuchen und den abgeschnittenen Strängen um uns herum erinnerte nichts mehr an den Kampf. Daguray kniete sich neben den Jungen und schaute ihm tief in die Augen. Er bewegte lautlos die Lippen, sprach aber kein Wort, sondern streichelte nur ganz sanft Akanaras Wange. Als beide aufstanden und zu uns zurückkehrten, hatte ich dennoch das Gefühl, dass soeben etwas ganz Besonderes zwischen den beiden geschehen war. Akanara wirkte seltsamerweise völlig ruhig. Er strahlte nur, geradeso, als habe er ein wichtiges Geheimnis erfahren. Daguray hingegen steckte sein Messer weg und war mit einem Mal wieder ganz die graue Maus von zuvor. Wahrscheinlich aber auch der beste Bewacher, den ich mir für Akanara wünschen konnte. Ich nahm mir vor, den Mann näher kennen zu lernen. Zanargun, der neben mir gerade sein Vibratorschwert desaktivierte, lächelte wissend. Ich begann zu ahnen, dass er Daguray nicht zufällig ausgewählt hatte. Von irgendwoher glaubte ich, ein leises Sssssssst zu hören.
* Das Pruun war nicht intelligent, aber es hatte seine Instinkte. Sie machten ihm klar, dass jeder weitere Einsatz kostbarer Körpersubstanz sinnlos war. Zum ersten Mal in seiner langen Existenz setzte ihm eine Beute so großen Widerstand entgegen, dass es sich nicht lohnte, sie zu überwältigen. Schade, es hätte gern noch mehr von dem Aroma gekostet, das die Beute verbreitete.
21 Aber die Aufmerksamkeitsspanne des Pruun war gering. Nur weniger Minuten vergingen, dann hatte es den Vorfall schon wieder vergessen und legte sich wieder auf die Lauer. Irgendwann würde es heute sicher noch Beute schlagen können.
* Das Kleinraumschiff rematerialisierte nur wenige Lichtminuten vom Zielplaneten entfernt. Die Daten, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, waren so genau, dass sich ein Orientierungsmanöver am Rand des Systems erübrigte. Die Ortungsgefahr wurde damit noch geringer, als sie für das HighTech-Schiff ohnehin schon war. Leuff steuerte die SWARNON zunächst in eine tiefe Umlaufbahn, um sich ein Bild von den näheren Umständen an ihrem Einsatzort zu machen. »Kannst du die anderen erfassen?«, fragte sie Nedir, der an den Ortungsgeräten saß. »Und ob! Unser gemeinsamer Auftraggeber hat die ganz schwere Artillerie aufgefahren. Im Moment warten sie an der Stelle, wo es ihnen befohlen wurde. Mit dem Unterschied, dass wir von ihnen wissen, sie aber nicht von uns.« Die Aussicht, dem anderen Kommando das gemeinsame Zielobjekt vor der Nase wegschnappen zu können, freute ihn ungemein. Leuff steuerte das Schiff auf die Hochebene zu, wo sie ihr Opfer erwarten wollten. Nedir schlug mit der Faust auf eine Konsole. »Wir kommen zu spät, unser Kunde ist bereits da!« Mit einem Fluch projizierte er ein Holo in die Mitte der Zentrale, auf dem ein fremdes Fluggerät zu erkennen war. Es stand in einiger Entfernung vom Plateau mitten im Dschungel auf einer Lichtung. »Ein Stealth-Shift«, sagte Weddrin sofort. Er hatte die Datei mit den Informationen über ihr Opfer offenbar besonders genau studiert. »Typisches Beiboot eines Schweren Jagdkreuzers. Laut unseren Unterlagen auch auf der ATLANTIS vorhanden.«
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Nedir verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das ändert alles. Wir können jetzt nicht einfach auf der Hochebene warten, bis sie uns in die Falle hineinlaufen, sondern müssen erst einmal herausfinden, wo sich Atlan aufhält.« Weddrin blickte Nedir misstrauisch an. Er wusste, dass Nedir zu unüberlegtem Handeln neigte, wenn ein einmal festgelegter Plan geändert werden musste. »Du hast dir doch schwerere Gegner gewünscht? Jetzt hast du sie. Das macht die Sache nur spannender.« Leuff schwieg dazu. Besonnen lenkte sie die SWARNON in einem weiten Bogen auf die gegenüberliegende Seite der Hochebene. Dort landete sie das High-Tech-Schiff in einer tiefen Schlucht, wo eine zufällige Entdeckung ausgeschlossen war. Als es sicher stand, drückte sie kurz auf eine grüne Sensorfläche, und in der Zentrale öffnete sich ein Stauraum. Drei maßgeschneiderte Kampfanzüge schwebten hervor. »Ab in die Waffenkammer, dann macht den Triple-Jet klar«, wies sie Weddrin und Nedir an. »Wenn ihr dann fertig seid, holen wir uns die Belohnung!« Das Glitzern in den Augen ihrer Gefährten zeigte Leuff, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte.
* »Ich glaube, ich empfange etwas.« AgirIbeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. fixierte die Displays der Ortungsgeräte. Ein winziger Ausschlag hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. »Zeig mir die Aufzeichnung!« KhemoMassai drehte sich zu seinem Ortungschef um. Der Afroterraner hatte gerade die Zentrale verlassen wollen. Gemeinsam betrachteten sie, was die Geräte wiedergaben. »Nicht viel zu sehen.« Der Kommandant der TOSOMA fuhr sich mit den Fingerspitzen durch das Kraushaar. »Ein leicht erhöhtes Potenzial in geringer Entfernung zu Acharr.«
Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. zuckte mit den Achseln. »Der Planet stand zwischen uns und dem … Reflex. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine durch die Sonne hervorgerufene Störung. Wenn wir die Korona verlassen könnten und das Phänomen nochmals auftritt, ließe sich bestimmt mehr sagen. Aber so …« Khemo-Massai überlegte kurz. »Nein, kommt nicht in Frage«, sagte er dann. »Atlans Befehle sind unmissverständlich. Wir halten uns verborgen, bis wir ein Funksignal erhalten oder eine eindeutige Bedrohung erkennbar ist. Wenn wir unsere Position jetzt verlassen, sind wir leichter erfassbar und bringen unsere Leute auf dem Planeten in Gefahr.« Er deutete auf die Displays. »Behalt die Anzeigen im Auge und informiere mich über jede neue Ortung.« Der Kommandant sah für einen Moment irritiert in die erwartungsvollen Rehaugen des Hasproners, dann verstand er. »Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah der Dritte!« Der Ortungschef nickte zufrieden. Er würde seine Augen offen halten.
5. Wir erreichten ohne weitere Zwischenfälle den Fuß des Hochplateaus. Beinahe senkrecht ragte es vor uns auf, und wir hätten wer weiß was darum gegeben, unsere TRUV benutzen zu dürfen. So aber waren wir gezwungen, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten, um die Gefahr einer Entdeckung beim Aufstieg so gering wie möglich zu halten. Am Abend zeigte uns Zanargun, wie vorteilhaft Arme waren, die es an Dicke mit meinen Oberschenkeln aufnehmen konnten. Der Luccianer kletterte trotz seiner schweren Ausrüstung mit einer Behändigkeit voraus, die jeder Bergziege Ehre gemacht hätte. Alle paar Meter blieb er stehen, um seine muskulösen Beine in den von Schotter und Gestrüpp bedeckten Untergrund zu stemmen. Anschließend wickelte er eine Leine
Die Ruinen von Acharr aus Hochleistungskunststoff um einen seiner eisenharten Arme und wartete mit einem lässigen Lächeln, bis wir uns daran hochgezogen hatten. Eine Hilfe, die wir nur zu gern in Anspruch nahmen. Während wir kletterten, bemerkte ich mehrmals, wie Li krampfhaft nach oben sah. »Höhenangst?«, fragte ich sie. Aber sie starrte mich nur wütend an. Akanara hielt sich besser als erwartet. Obwohl wir schon einige hundert Meter zurückgelegt hatten, zog er sich fast mühelos am Seil hoch. Sein geringes Gewicht und seine großen Füße, die ihm einen sicheren Stand verliehen, kamen ihm zugute. Außerdem schien ihn Dagurays Anwesenheit zu beflügeln, ohne den er keinen Schritt mehr machte. Ich erhaschte mehr als einen ehrfürchtigen Blick, den er seinem Lebensretter zuwarf. Nach einer weiteren Tonta und 350 Höhenmetern erreichten wir keuchend die Hochebene. Im kalten Licht der dicht beieinander stehenden Sterne von Omega Centauri erkannten wir vor uns denselben urwüchsigen Dschungel wie unterhalb des Plateaus. »Da!«, rief Phazagrilaath plötzlich und deutete aufgeregt zum Horizont rechts von uns. Neugierig folgten wir seinem Blick. In einigen Kilometern Entfernung zeichneten sich die dunklen Silhouetten von fünf Pyramiden ab. Die Steuerstation eines Sonnen- oder Situationstransmitters!, meldete sich sofort mein Extrasinn. An derselben Stelle wie du hat vielleicht einmal der große Ka'Marentis Epetran gestanden und sich überlegt, welche Bedeutung diese Bauwerke wohl haben könnten. Möglicherweise hat er es auch gewusst. Mich durchströmte das Gefühl, geschichtsträchtigen Boden zu betreten. Vor Jahrtausenden war Epetran hier gewesen, und vor weiteren Jahrtausenden hatte sich ein unbekannter Tamrat diesen Fleck als letzte Ruhestätte ausgesucht. Heute stand mit mir ein Zellaktivatorträger auf Acharr. Ich fragte mich, ob dieser Planet und vielleicht ganz
23 Omega Centauri einen Stellenwert hatten, von dem ich bisher noch gar nichts ahnte. »Die Station, die uns angepeilt hat, muss ganz in der Nähe sein«, sagte ich mit trockener Kehle. »Vielleicht ist sie sogar identisch mit der Steuerstation in den Pyramiden. Ehrlich gesagt wundere ich mich ein wenig, dass wir unentdeckt so weit vorstoßen konnten. Die TRUV bleiben deshalb vorerst desaktiviert. Zanargun?« Der Luccianer wuchtete ein Tornistergerät auf den Boden und schaltete es ein. Auf einem Display erschien eine Luftaufnahme des Plateaus, die noch auf der TOSOMA gemacht worden war. Nach kurzem Zögern deutete ich auf einen Punkt, der in natura zwei Tontas Fußmarsch von uns entfernt war. »Dort ist die Ruinenstadt, von der Epetran berichtete. Und das hier …«, ich zeigte auf einen weiteren Punkt im Zentrum der Stadt, »muss das Mausoleum sein, in dem er das tote arkonoide Wesen entdeckte.« Ich schaute die anderen bedeutungsschwer an. »Und den Krish'un natürlich, den Umhang eines lemurischen Tamrats. Die Grundrisse sind noch zu erkennen, also gibt es Hoffnung, dass auch die Gebäude entsprechend gut erhalten sind und wir fündig werden.« Wir gönnten uns eine kurze Rast, aßen eine Kleinigkeit und sortierten unsere Gedanken. Als die Ungewissheit, was uns wohl erwartete, zu groß wurde, ordnete ich den Weitermarsch an.
* »Stealth-Shift ohne jede Energieabstrahlung. Sie verhalten sich still wie Surk-Bären im Winterschlaf.« Nedir lachte lauthals. Er hatte seinen Ärger über die kurzfristige Änderung des Plans bereits verdaut. Die drei Auftragskiller waren mit ihrem Triple-Jet in unmittelbarer Nähe des gegnerischen Shifts gelandet, ohne dass es dort bemerkt worden war. Kein Wunder, denn der Jet war noch besser abgeschirmt als ihr Raumschiff und damit wirklich kaum zu or-
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ten. Jetzt lagen sie auf der Lauer und beratschlagten sich. »Die Infrarot-Kameras zeigen Spuren, die vom Shift weg in Richtung des Hochplateaus führen«, sagte Leuff. »Dort sind mehrere Personen gelaufen, es können also nur noch wenige an Bord sein.« »Gut, dann jagen wir jetzt den Shift in die Luft«, jubelte Weddrin. »So kann ich endlich meine neuen Desintegratorbomben testen. Gebt mir eine Minute, und alles ist erledigt.« Spielerisch warf er einen kleinen, eiförmigen Gegenstand in die Höhe und fing ihn elegant wieder auf. »Mach keine Dummheiten«, wies ihn Leuff zurecht. »Du bekommst bald Gelegenheit zu einem Test, aber nicht jetzt. Wahrscheinlich hat sich Atlan zu Fuß auf den Weg gemacht, weil er mit dem Shift nicht näher an die Station herankam. Wenn wir hier jetzt eine Bombe zünden, weiß Atlan sofort, dass ihm jemand auf den Fersen ist. Der Überraschungseffekt wäre dahin, und unsere Millionen wahrscheinlich auch.« Leuff startete den Jet und begann, die Infrarot-Abdrücke abzufliegen. »Zuerst müssen wir unser Zielobjekt lokalisieren. Das übernehme ich. Ihr bereitet die Falle vor. Wenn alles klappt, erledigen wir Atlan und seine Truppe mit einem Schlag, ohne dass die Leute im Shift überhaupt darauf reagieren können. Die schnappen wir uns zum Schluss, wenn sie den Ort untersuchen, wo ihre Freunde gestorben sind.« Nedir und Weddrin klinkten sich aus und flogen an die Stelle, wo sie ihre Opfer den Berechnungen nach erwarten konnten. Weddrin grinste, als sie die erste von mehreren Bomben am Fuß des Hochplateaus platzierten. Endlich würde er seine Neuentwicklung ausprobieren können. Er war sich absolut sicher, dass das niemand überlebte.
* Reichtum war eine Sache. Das persönliche Auftreten die andere.
Doch was wirklich zählte, war Macht. Schiere, unumschränkte Macht, wie sie nur ein Mitglied einer der führenden arkonidischen Adelsfamilien haben konnte. Igusen Kanarek war dabei, sich seinen Anteil an dieser Macht zu sichern, und wenn er an seinem nackten Körper hinuntersah, musste er sich eingestehen, dass ein wenig mehr Macht nicht schaden konnte. An seiner Figur konnte er ohne aufwändige Operationen nichts ändern, aber an seiner Macht durchaus. Daran arbeitete er, dafür würde er alles tun. Ein schrilles Pfeifen ertönte, und Igusen Kanarek knurrte ungehalten. Ausgerechnet jetzt. Orbton Madleda hatte endlich damit begonnen, ihre Prüderie abzulegen, da platzte der Kommandant per Bordfunk dazwischen. Mit einem kurzen Kodewort nahm er das Gespräch an. Er wusste, dass man nun in der Zentrale seinen entblößten Oberkörper sehen konnte, aber das störte ihn nicht. Sollten sie ruhig sehen, was ein Mann von Welt erreichen konnte. »Ihr hattet darum gebeten, sofort informiert zu werden, wenn die Gesuchten auf dem Plateau eintreffen, Erhabener. Hoffentlich habe ich Eure Vorbereitungen nicht gestört.« War da nicht gerade ein spöttisches Lächeln in Teriweis Gesicht? Igusen Kanarek war sich nicht sicher, aber er begann innerlich vor Wut zu kochen. Die Erregung, die er gerade noch verspürt hatte, schlug um in blanken Hass auf einen aufmüpfigen, degenerierten Kommandanten. »Ich komme jetzt in die Zentrale, und wenn Sie mir dann keinen ordentlichen Lagebericht geben können, sind Sie die längste Zeit Kommandant dieser Einheit gewesen!« Er desaktivierte den Interkom, und das Holo mit Teriwei erlosch. Igusen Kanarek beruhigte sich nur mühsam. Er spürte genau, wie unerwünscht er an Bord dieses Schiffes war. Geduldet nur wegen des Befehls ihres Auftraggebers, aber keinesfalls respektiert, wie ein Adliger re-
Die Ruinen von Acharr spektiert worden wäre. Er musste sich etwas einfallen lassen, um sich den Respekt zu verschaffen, den er für angemessen hielt. Orbton Madleda schaute wachsam zu ihm hoch. Kanarek hätte ihr gern noch ein paar Vorschläge gemacht, aber das musste leider warten. Erst galt es, seinen Auftrag zu erledigen und sauberen Vollzug zu melden. Alles andere war zweitrangig. »Wasch dich und warte, bis ich zurück bin. Ich verspreche dir, wir holen dann alles nach, was dir jetzt entgeht.« Während seine Gespielin sich in die Hygienekabine zurückzog, aktivierte er nochmals den Interkom. Wie jedes Mal, wenn er Luris-Laak sah, erschrak er einen Moment lang. Dann fiel ihm ein, dass er die Befehlsgewalt hatte und fand den richtigen Ton. »Sag deinen Leuten, dass sie mit dem Training aufhören können. Wir treffen uns in einer Tonta im Hangar. Es geht los!« Luris-Laak verzog das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lachen sein sollte. »Es wird auch höchste Zeit, Igusen. Als du uns angeheuert hast, sagtest du, du brauchtest eine Spezialtruppe für ein gefährliches Kommando, nicht für eine Kreuzfahrt.« Luris-Laak zog einen riesigen Strahler und hielt ihn vor das Aufnahmefeld. »Wer, sagtest du, wird unsere Zielscheibe sein?« »Das weißt du genau. Atlan, der Unsterbliche.« Luris-Laak lächelte. »Atlan also, welche Ehre. Mein Trümmer-Toser freut sich schon darauf, seine Bekanntschaft zu machen.« Luris-Laak zielte mit seiner Waffe spielerisch auf das Aufnahmefeld, dann erlosch das Holo. Igusen Kanarek registrierte es mit einer gewissen Erleichterung. Gespräche mit Luris-Laak strengten ihn immer ganz besonders an, da er es ihm gegenüber einfach nicht schaffte, sich wie gewohnt durchzusetzen. Deshalb war er froh, wenn die Unterhaltungen nicht zu lange dauerten. Kanarek hatte natürlich auch registriert, dass Luris-Laak ihn mit einem entwürdigenden Du angesprochen hatte. Eine Demüti-
25 gung, die für andere tödlich hätte ausgehen können. In diesem Fall lag die Sache jedoch anders. Igusen Kanarek hätte niemals gewagt, Luris-Laak auf diesen Affront hinzuweisen. Nicht Luris-Laak.
* Endlich erreichten wir die Stadt. Oder besser gesagt das, was davon noch übrig war. Die zum Teil riesigen, zyklopenhaften Gebäude waren allesamt zerfallen und vom Dschungel überwuchert. Für Jahrtausende gedachter Plastikbeton lag zerbröselt auf dem, was wahrscheinlich in grauer Vorzeit breite Straßen gewesen waren. Große, grob aus dem Fels gehauene Statuen türmten sich wie von Riesenhand aufgeschichtet im dichten Unterholz. Es fiel schwer zu glauben, dass hier einmal Urahnen der Menschheit gelebt haben sollten. Mühsam schlugen wir uns ins Zentrum des fünf Kilometer durchmessenden Ruinenfelds durch. Die großen Zerstörungen zwangen uns immer wieder zu neuen, zeitraubenden Umwegen, aber schließlich gelangten wir an unser Ziel, eine zwölfstufige Pyramide mit einer Grundfläche von 120 mal 120 Metern und einer Höhe von sechzig Metern. Hier befand sich das Mausoleum, in dem Epetran den toten Tamrat gefunden hatte. Hier würden wir hoffentlich die Spuren finden, die uns zu den Attentätern von Arkon führten. Langsam gingen wir die breite, von Pflanzen überwucherte Freitreppe hinauf. Auf halber Höhe mündete sie in einen mächtigen Eingang, der uns wie ein Schwarzes Loch erschien. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend und den Händen an den Waffen traten wir ein. Schon nach wenigen Schritten erweiterte sich der Gang zu einer zwanzig Meter langen und zehn Meter breiten Halle mit einer Höhe von fünf Metern, die wir im Licht unserer Handlampen gut erkennen konnten. Der Raum war fast völlig leer, bis auf eine dicke Staubschicht, die wir mit jeder unserer
26 Bewegungen aufwirbelten. Undeutlich waren Spuren auf dem Boden zu erkennen, ohne dass man noch hätte sagen können, von wem oder von wann sie stammten. Einige waren jedoch eindeutig neueren Datums. Und in der Mitte stand der Sarkophag des Tamrats! Die stilisierte Menschengestalt aus rotem Lemur-Metall zog sofort unsere Blicke auf sich. Vorsichtig näherten wir uns im Licht unserer Scheinwerfer, bis wir endlich so dicht an dem Behälter standen, dass wir sehen konnten, was sich darin befand. Der Deckel lehnte an der linken Seite des Sarkophags, und ich fragte mich, ob das seit Epetran der Fall war oder mit den neueren Spuren in Verbindung stand. Die stilisierte Ausführung der abgebildeten Gestalt ließ vermutlich nicht den geringsten Rückschluss auf das Aussehen des Tamrats zu. »Wir sind nicht die Ersten, die den Weg hierher gefunden haben«, sagte Phazagrilaath mit kaum verhohlener Enttäuschung. Jemand war uns zuvorgekommen und hatte abgeräumt. Dafür kommt nur einer in Frage, folgerte mein Extrasinn. Derselbe, der auch den Krish'un aus Epetrans Archiv gestohlen hat. Ich überlegte, welche Folgen das für unsere Mission haben mochte. Wir waren nach Acharr gereist, um die Hintergründe eines Diebstahls auf Arkon zu klären. Ohne irgendwelche Spuren konnten wir das vergessen. Sollten all die Anstrengungen, die wir auf uns genommen hatten, wirklich vergebens gewesen sein? »Als Epetran hier war, lag der tote Tamrat noch in einem intakten Sarkophag.« Li hielt sich den Kopf und wirkte merkwürdig abwesend. »Er enthielt auch einige Grabbeigaben. Also muss nach Epetran noch jemand hier gewesen sein. Entweder, weil dieser Jemand ebenfalls den Krish'un gesucht oder weil er es auf wertvolle Relikte abgesehen hatte.« Oder auf den toten Tamrat selbst, nannte mein Logiksektor eine weitere Möglichkeit. Von ihm fehlt schließlich jede Spur. Was soll jemand mit einer Leiche anfan-
Rainer Hanczuk gen können?, fragte ich zweifelnd. Dafür gibt es mehr Erklärungen, als du denkst. Heiligenverehrung zum Beispiel, oder vielleicht hatte jemand Interesse an der Genstruktur des Toten. Einen Tamrat findet man schließlich nicht an jeder Ecke. Cloning – sofern brauchbares Material extrahiert werden kann? Wäre eine Möglichkeit. »Seht euch das hier an!« Phazagrilaaths Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er untersuchte mit wissenschaftlicher Akribie die Wände. Sie waren über und über mit halb zerfallenen Bildern und Reliefen bedeckt. Wir folgten seinem Beispiel und betrachteten die uralten Motive. Im Lichtstrahl unserer Lampen erkannten wir Szenen einer menschlichen Hochkultur, die über eine weit entwickelte Technik verfügt hatte. Auf einem Bild waren Hunderte Raumschiffe zu erkennen, auf einem anderen ein Torbogentransmitter. Andere zeigten Landschaften von Planeten, an deren Horizont sich Pyramiden erhoben, aus deren Spitzen Glutbahnen schossen und sich zu Transportfeldern vereinten. In stilisierten Sonnensystemen waren große Kreisringe neben den Planetenbahnen markiert, die zweifellos Situationstransmitter darstellten. Vor einem dichten Sternenhintergrund waren sechs Sonnen als Eckpunkte eines gleichseitigen Sechsecks hervorgehoben – der galaktozentrische Sonnensechsecktransmitter. Erinnerungen stiegen in mir auf, Bilder aus dem Jahr 2400, als wir diese Konstellation entdeckten und von ihr ins Twin-System abgestrahlt worden waren. Nachdem das Sechseck im Zentrum Andromedas vernichtet worden war und die Kernregion der Sterneninsel in ein Sonneninferno verwandelt hatten, schlugen die tobenden Kräfte auf die Transmitterstraße über. Am 25. August 2405 wurden Kahalo und das galaktozentrische Sonnensechseck vernichtet, die Sonnen zu einer gigantischen Supernova … »Wie alt genau mögen diese Reliefe wohl
Die Ruinen von Acharr sein, verehrte Laktrote der Geschichte?«, fragte ich Li. Sie antwortete nicht. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie heftig zitterte. Die Augen waren weit aufgerissen, während sie wie gebannt auf die Schriftzeichen starrte. Nach einigen Millitontas begann die Historikerin von Arkon scheinbar unter größter Anstrengung zu sprechen. »Ich kann dir das genaue Datum ihrer Erschaffung nicht nennen, aber ich weiß, dass sie mit Sicherheit älter als 54.000 Jahre sind.« »Was macht dich so sicher?« Li atmete tief durch, dann deutete sie auf eines der Wandbilder. »Das hier zum Beispiel. Die Form der Raumschiffe hat sich während des Großen Krieges zwischen Halutern und Lemurern leicht verändert, und das ist definitiv noch die frühere Version. Aber es gibt auch ein Relief, das dir bei näherem Hinsehen zeigt, wie alt es ist.« Li deutete auf ein anderes, besonders großes Bild. Es stellte das Schema eines Sonnensystems dar. Der dritte Planet war besonders hervorgehoben. Es handelte sich natürlich um das Solsystem, meine Heimat in vielen tausend Jahren Tiefschlaf, die Heimat der Lemurer. Dieses Bild reichte in eine Zeit zurück, die sogar für einen Unsterblichen wie mich fernste Vergangenheit darstellte. Das abgebildete System hatte nämlich zehn Planeten, nicht acht, wie heute der Fall. Pluto, der äußerste von ihnen, war im Jahre 3438 nach Christus im Schwerefeld des riesigen Objekts zerbrochen, das sich durch den Zusammenschluss der 470.000 Sammler der Urmutter gebildet hatte. Doch das war in der galaktischen Neuzeit geschehen und für die Geschichte der Lemurer nicht von Belang. Der Grund für die Gänsehaut, die mir in diesem Moment den Rücken hinunterlief, war die Darstellung des vierten Planeten: Zeut, von angreifenden Halutern zerstört und zu dem Planetoidenring zertrümmert, der heute zwischen Mars und Jupiter die Sonne umkreiste. Geschehen im 12. Jahr des Großen Krieges, also 50.068 vor Christus!
27 Auf dem Relief war der Himmelskörper völlig unversehrt. Wenn man versuchte, diese Tatsache mit der Bestattung eines Tamrats in einer Pyramidenstation in Einklang zu bringen, blieb nur ein denkbar kleiner Zeitraum für die mögliche Entstehung dieser Gruft. Zwischen dem Bau des ersten Sonnentransmitters und dem Beginn des Haluterkrieges lagen nämlich gerade einmal dreihundert Jahre. Nachdem die Erforschung des Sonnensechsecks abgeschlossen war, wurde im Jahr 6050 der lemurischen Zeitrechnung, 50.350 vor Christus, die Transmitterstraße erstmals offiziell benutzt; Steuerwelt mit einem Pyramidensechseck war Kahalo gewesen, von den Lemurern auch Tanta III genannt. Ausgedehnte Explorer-Expeditionen in Andromeda folgten, die Lemurer trafen unter anderem auf die Maahks, während es in der Milchstraße zu einem Expansionsschub kam und viele weitere Tamanien entstanden. Nach Kontakt mit den Sonneningenieuren im 3711 Lichtjahre vom Andromeda-Zentrum entfernten Eyhoe-System gab es einen forcierten Technologietransfer vor allem hinsichtlich der Situationstransmitter, so dass es zur Erbauung von Sonnentransmittern in der Milchstraße und Andromeda als »Hauptverkehrsrouten« zwischen dem lemurischen Kernreich und den neuen, zum Teil sehr weit entfernten Einzeltamanien einerseits und zwischen den beiden Sterneninseln über die galaktozentrische SechseckHaupttransmitter-Verbindung andererseits kam. 6180 dha-Tamar waren sämtliche 111 Tamanien des Lemurischen Reiches konstituiert, aber erst 6203 dT wurden auf dem Planeten Darak die Krish'un entdeckt und in der Folgezeit als »lebende Umhänge« zum Machtsymbol der Tamräte. Während die 111 Tamräte der Einzeltamanien weiterhin nur einfach stimmberechtigt waren, hatten die 50 lemurischen Hohen Tamräte mit ihrem Dreifach-Stimmrecht ein nicht zu kippendes Monopol. Da der in dem Sarkophag beigesetzte
28 Tamrat einen Krish'un besessen hatte, musste er nach 6203 dT gelebt haben, vielleicht sogar während des lemurisch-halutischen Kriegs. Dass Zeut unzerstört dargestellt worden war, konnte unter Umständen unter nostalgischen Gesichtspunkten gesehen werden. Durch das Studium lemurischer Artefakte und Hinterlassenschaften wussten wir längst, dass diese Welt für die Lemurer eine besondere Bedeutung gehabt hatte. Als wir mit der CREST III in die Vergangenheit versetzt wurden, tobte der Krieg schon im 92. Jahr, auf Lemur schrieb man 6412 dT. Admiral Hakhat, Oberbefehlshaber der Zentrums-Transmitterzone, erschien wie ein verwaschener Schemen, von meinem fotografischen Gedächtnis heraufbeschworen. Er war ein alter Mann mit silberfarbenem Bart und ergrauten Haaren gewesen, der erwähnte, dass mit der 14. halutischen Großoffensive die letzte Evakuierungsphase von über fünfhundert besiedelten Welten begonnen habe, und er sprach weiterhin davon, dreißig Milliarden Flüchtlinge durch den Sechsecktransmitter zur »Zweiten Insel« Karahol, die wir als Andromeda kannten, schicken zu müssen. Später, nach der Landung der CREST auf Lemur und der Auswertung der Daten von Mikrobeobachtungssonden, wurde klar, dass ausschließlich »echte« Lemurer nach Andromeda umgesiedelt wurden. Spätestens in jenen Jahren musste der Tamrat gestorben sein, denn es war kaum anzunehmen, dass er noch nach dem Ende der Evakuierungen gelebt hatte, weil er ansonsten ebenfalls nach Andromeda gegangen wäre. Oder wir denken in völlig falschen Bahnen, weil uns noch entscheidende Informationen fehlen, orakelte mein Extrasinn. Vielleicht gibt es ja eine Erklärung, die wir momentan noch für völlig unmöglich halten. Plötzlich schrie Li auf. Aus unerfindlichen Gründen ruderte sie mit den Armen, fiel rücklings gegen die Wand und schien dort unsichtbare Dämonen abwehren zu wollen. Ich sprang hinzu, kniete mich neben
Rainer Hanczuk sie und versuchte sie zu stützen, doch sie schlug so heftig um sich, dass ich sofort wieder von ihr abließ. Dann erstarrte sie plötzlich. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. Sie verdrehte die Augen so weit, dass nur noch das Weiße darin zu sehen war. Im nächsten Moment begann Li eindringlich zu sprechen.
* Unendliche Schwärze um mich herum. Kristallklar, tief und tödlich zugleich umgibt diese Schwärze alles, was ich im Moment darstelle. Mit jeder Faser meines Körpers will ich fort von hier, aber wo soll ich hin, wenn ich nicht einmal weiß, wo ich bin? Ich spüre nur, dass eine Arkonidin hier nichts zu suchen hat und ich nicht von selbst an diesen Ort gelangt sein kann. Das schwarze Nichts zwingt mich, in eine bestimmte Richtung zu sehen. Ganz weit hinten entsteht tatsächlich ein Punkt, der Farbe besitzt. Wie ein Ertrinkender klammere ich mich daran fest, denn die kalte Schwärze schmerzt so schrecklich, dass ich mich nach jeder Art von Farbe sehne. Irgendwann wird aus dem kleinen Punkt eine riesige Walze. Kobaltblau, strahlend wie ein Diamant und von majestätischer Grazie kommt sie auf mich zu. Für einen winzigen Augenblick verharrt sie vor mir, scheint mich zu durchleuchten und auf unbegreifliche Art und Weise genau Maß zu nehmen. Dann verschwindet sie auf dem gleichen Weg, wie sie gekommen ist. In dem unendlich schwarzen Nichts, in dem ich schwebe. Im nächsten Moment renne ich um mein Leben! Ich rase durch Furcht einflößende Gänge und versuche vor dem zu fliehen, was mich hierher verschlagen hat. Doch wohin ich mich auch wende, das Labyrinth ist endlos und auf merkwürdige Weise beseelt. Die Wände starren mich an und greifen nach mir. Immer wieder raunen sie mir Dinge zu, die ich nicht verstehe, versetzen mich in eine
Die Ruinen von Acharr Panik, die mich schier zerreißt. Wo bin ich, wie kann ich von hier fliehen? Da gerate ich in eine Sackgasse und werde von den seltsamen Wänden eingeschlossen wie von der Faust eines Riesen. Die Wände ziehen sich immer enger zusammen, drohen, mich wie ein Insekt zu erdrücken – als mich etwas berührt, das mein Leben für alle Zeit verändert! Kälte. In diesem Moment verspüre ich eine Kälte auf meiner Haut, die nicht von dieser Welt sein kann. Nicht von dieser Welt, nicht von dieser Galaxis und auch nicht von diesem Universum. Sie ist so mörderisch intensiv und hart wie der Tod, dass mir die Kraft zum Schreien fehlt. Mühelos durchdringt die Kälte nicht nur meine Haut, sondern auch meine Seele, stößt tiefer, härter und schmerzhafter zu als alles, was ich jemals gespürt habe. In dem Moment, wo sie mich trifft, gefriert mein Innerstes, und ich weiß, dass ich tot bin, auch wenn andere noch glauben, ich sei am Leben. Ich, Li da Zoltral, habe für diese eine Sekunde aufgehört zu existieren. Gleichzeitig spüre ich jedoch auch ein Leben, wie ich es in dieser Intensität noch nie gespürt habe. Es ist kein Leben im üblichen Sinn, jedenfalls habe ich so etwas noch nie kennen gelernt. Es ist so grundlegend anders als das, was ich bisher Leben nannte, dass sich mir plötzlich eine völlig neue Welt erschließt. Ich verstehe nicht, was um mich ist, aber ich fühle, dass dieses unbekannte Phänomen lebendig ist und mich mit Haut und Haar verschlingen will. Das Etwas lockt mich und schockt mich, liebkost und zerreißt mich und ist mehr, als ich ertragen kann. Wie ein Puzzle nimmt es mich auseinander, um mich, dann wieder zu einer Einheit zusammenzusetzen, die ganz anders ist als zuvor. Das Gefühl des Lebens durchströmt mich erneut, doch dieses Mal in einer Stärke, die ich nie mehr missen will. Im nächsten Moment ist da wieder diese Kälte. Diese schreckliche, messerscharfe, Tod bringende Kälte, die meinen Atem zum
29 Klirren bringt. Unendliche Schwärze um mich herum.
* Li hörte auf zu sprechen. Ihr Kopf sackte einen Moment lang zur Seite, dann hob sie ihn wieder. Unschlüssig schaute sie sich um. »Was starrt ihr mich so an? Ist irgendwas?« Mühsam versuchte sie sich aufzurappeln. »Das wüssten wir gern von dir«, gab ich zurück, während ich ihr beim Aufstehen den Arm hielt. »Du warst plötzlich weggetreten und hast merkwürdige Dinge erzählt.« Ich schilderte ihr in groben Zügen, was sie in den letzten Zentitontas von sich gegeben hatte. »Das soll ich gesagt haben?« Man sah ihr an, dass sie angestrengt nachdachte. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nur, dass ich plötzlich furchtbare Kopfschmerzen hatte.« Sie fasste sich an den Kopf, und ich spürte, wie plötzlich Zärtlichkeit in mir aufstieg. Ich hätte ihr so gern die Schmerzen genommen. Ich wollte nicht, dass sie litt. Aber gleichzeitig empfand ich auch Unruhe. Ihre Äußerungen hatten etwas in mir berührt, das ich nicht auf den Punkt bringen, nicht recht beim Namen nennen konnte. Weil du ein verliebter Narr bist, giftete mein Extrasinn. Die blaue Walze war doch nicht zu überhören. Und von der hast du nicht zum ersten Mal gehört. Das kann Zufall sein, es ist ja noch nicht einmal klar, ob Li ein Raumschiff meinte. Ja, sicher. Und die Erde ist eine Scheibe. »Ein Traum war es jedenfalls nicht«, sagte ich dann zu Li. »Für mich klang es eher wie eine Vision von etwas Kommendem oder die Wiedergabe von etwas, das du schon erlebt hast.« »Blödsinn! Wo sollte ich denn so etwas Surreales erlebt haben? Entweder die Umgebung bekommt mir nicht, oder ich fange jetzt einfach an zu spinnen.« Ich schaute sie zweifelnd an, doch sie
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zuckte nur mit den Schultern. »Auch wenn es frustrierend ist, aber hier gibt es für uns nichts zu holen«, erklärte ich. »Wenn wir auf Acharr noch etwas finden können, dann nur bei der Pyramidenstation.« Ich ließ Phazagrilaath Aufnahmen von den Wänden machen, dann verließen wir die unheimliche Halle ohne Klarheit darüber, ob sie uns jetzt weitergebracht hatte oder nicht.
* Der kleine, untersetzte Mann mit dem energisch vorgestreckten Kinn hatte mehr denn je das Gefühl, ein Zwerg zu sein. Seine Spezialtruppe bestand nur aus Riesen, die ihm problemlos auf seine Halbglatze schauen konnten. Leise murmelnd standen sie beieinander und überprüften zum hundertsten Mal den Ladezustand ihrer Waffen. Obwohl er der Auftraggeber dieser Bluthunde war und sie für viel Geld von der SENTENZA ausgeliehen hatte, ließen sie ihn merken, was sie von seinen Ambitionen hielten. Nämlich gar nichts. Sie würden alles tun, um ihren Auftrag zu erfüllen, aber nicht für ihn, sondern für sein Geld. Geld ist Macht, dachte Kanarek zufrieden und zog ebenfalls seine Waffe. Am wichtigsten war, dass man nie seine langfristigen Ziele aus den Augen verlor. Dafür konnte man schon mal einen kurzzeitigen Kompromiss eingehen und sich mit derartigem Abschaum einlassen. Man durfte nur nicht vergessen, sich hinterher gründlich die Hände zu waschen. Ein leises Piepsen meldete ihm, dass sich der Unsterbliche dem Ort seines Todes näherte. »Auf die Positionen und bereithalten! Es geht gleich los!«, brüllte Kanarek so laut, dass die Hallendecke ein schnarrendes Echo zurückwarf. Luris-Laak lachte kehlig, während er mit seinem Strahler eine imaginäre Fliege von Kanareks Schulter schoss. Bumm!, formte der Riese lautlos mit seinen extrem schmalen Lippen.
Igusen Kanarek schwor sich, ihn zuallererst seine neue Macht spüren zu lassen.
6. Das Bild, das uns die Pyramidenstation bot, war Ehrfurcht gebietend und erbärmlich zugleich. Jeder Schritt, den wir uns ihr näherten, machte uns die riesigen Dimensionen der Anlage klar. Bei fünf im Kreis angeordneten Pyramiden, jeweils 500 Meter hoch und mit einer Grundfläche von 578 Metern im Quadrat, handelte es sich um wahre Giganten, die den ägyptischen Herrscher Cheops vor Neid hätten erblassen lassen. Ihr rotes Lemur-Metall war zwar stark verschmutzt, leuchtete uns jedoch im Widerschein der abertausend Sterne blutig entgegen. Andererseits erkannten wir auch den katastrophalen Zustand der Anlage. Jede Pyramide war mehr oder weniger stark eingefallen. Ob durch natürliche Erosion oder Gewalt ließ sich ohne nähere Untersuchung nicht sagen, aber keine sah mehr so aus wie zur Zeit ihrer Erbauer. Wir setzten kräftig unsere Vibratormesser und – Schwerter ein, als wir uns einen Weg zu der Pyramide bahnten, die uns am nächsten stand. Über ein großes, umgekipptes Tor hinweg drangen wir ein, wie vor uns etliches Getier und jede Menge Pflanzen. Das Innere der Pyramide glich daher auch mehr einem Feuchtbiotop als einem architektonischen Meisterwerk. »Heiliges Tabalon!«, rief Phazagrilaath entsetzt, als er über ein undefinierbares, verrostetes Etwas stolperte. »Die Pyramide ist kein Juwel mehr, sondern ein ausgeschlachtetes Wrack«, bestätigte ich dem Ishkhorer. »Oder siehst du irgendwelche Geräte?« »Nein.« Frustriert blickte er sich um. »Hier hat jemand gründlich ausgeräumt.« »Durch das tropische Klima und den schnellen Pflanzenwuchs sind die Spuren der Demontage mit Sicherheit verwischt«, stellte Li fest. Sie wirkte nach ihrem seltsa-
Die Ruinen von Acharr men Zusammenbruch wie von einer großen Last befreit und hatte jede Nervosität verloren. »Wir können nur raten, wann die Anlagen fortgeschafft wurden.« »Was sollte jemand mit solchen Geräten anfangen können?« Phazagrilaath stapfte ziellos in der leeren Station herum. »Wenn es sich bei den Pyramiden wirklich um das Steuerzentrum eines Transmitters handelt, wäre es doch am sinnvollsten gewesen, sie an Ort und Stelle zu reparieren.« »Mir stellt sich noch eine ganz andere Frage«, gab ich zu bedenken. »Wer kann so eine Anlage überhaupt in Stand setzen? Um hier erfolgreich Hand anzulegen, braucht man ein Spezialwissen, das es heute fast nirgends mehr gibt.« Wir sahen uns noch eine Weile in der Pyramide um und wollten gerade frustriert aufgeben, als Zanargun sich plötzlich meldete. »Hat jemand auf die Orter geschaut?«, fragte er. »Es gibt keinerlei energetische Aktivitäten, aber unter uns sind bis in eine Tiefe von zweitausend Metern und in einem Umkreis von zwölf Kilometern Hohlräume, die Platz für eine komplette Flotte bieten.« Li lächelte mich an und deutete mit dem Daumen nach unten. »Dann lasst uns doch schnell nachsehen, ob die unbekannten Diebe nicht etwas vergessen haben.« »Zanargun!«, rief ich. »Schau nach, ob es einen direkten Zugang gibt.« Der Luccianer schien auf diese Aufgabe nur gewartet zu haben. Jedenfalls begann er sofort damit, eine breite Schneise in den Pflanzenteppich zu schlagen. Er arbeitete sich von dem umgekippten Tor bis zur gegenüberliegenden Wand der Pyramide, wobei er immer wieder stehen blieb und seine Geräte befragte. Bereits nach wenigen Zentitontas winkte er uns heftig herbei. »Hier geht's abwärts!« Als wir Zanargun erreichten, erkannten wir den Umriss einer großen Abdeckung, die er freigelegt hatte. Der Luccianer nickte Daguray zu, worauf beide ihre Desintegratoren aus den Gürteln zogen. Sie zerstrahlten die schwere Metallplatte, dann holten sie ih-
31 re Handlampen heraus und richteten sie auf eine schmale Treppe, die in die Tiefe führte. »Müssen wir wirklich da hinunter?« Akanara schien von der Idee wenig begeistert zu sein. »Das Höhlenleben müsste dir doch von Yarn bestens vertraut sein«, stichelte Li. »Eine Prinzessinnen-Suite, wie du eine hattest, gab es für mich jedenfalls nicht.« Der Junge zog lautstark die Nase hoch. »Also gut, mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Wer sollte denn sonst auf euch aufpassen?« Ich gab Zanargun ein Zeichen, worauf der Luccianer voranging. Vorsichtig folgten wir ihm im Licht unserer Lampen. Die Stufen waren zwar von einer Staubschicht bedeckt, aber wir konnten endlich auf den Einsatz unserer Messer und Schwerter verzichten. Zunächst führte die Treppe fast einhundert Stufen in die Tiefe, dann erreichten wir ein großes Podest, wo mehrere Türen, Gänge und weitere Treppen abzweigten. Wahllos öffneten wir eine der Türen und betraten eine große Halle. »Auch leer.« Phazagrilaath hatte sich offenbar mehr versprochen. Dennoch begannen wir sofort, den Raum auf Spuren zu untersuchen. »Kommt mal her!«, rief uns plötzlich der Ishkorer aufgeregt zu sich. Als wir bei ihm standen, zeigte er auf ein großes Loch in der Wand. »Hier wurde etwas aus der Wand gefräst, vermutlich ein Kabelstrang oder etwas in der Art«, sagte er. Dabei schaute er uns an wie ein Lehrer, der auf die richtige Antwort seiner Schüler wartete. »Sehr interessant«, meinte Li. »Und was sagt uns das?« »Siehst du denn nicht den Unterschied zwischen dem Loch und dem Boden der Halle?« »Der Staub fehlt.« Tatsächlich, während sich auf dem Hallenboden eine mehr oder weniger dicke und geschlossene Staubschicht befand, war das am unteren Rand des Loches nicht der Fall.
32 »Kannst du das Alter des Lochs bestimmen?«, fragte ich den Wissenschaftler. Phazagrilaath hob bedauernd die Schultern. »Für eine genaue Angabe fehlen mir leider die Mittel. Aber ich schätze zwischen mehreren Monaten und wenigen Jahren.« Li stieß einen Pfiff aus. »Das passt zu den frischen Spuren in der Gruft. Die Anlagen wurden erst kürzlich hier weggeschafft! Wisst ihr, was das bedeutet?« »Ja«, sagte ich mit einem nachdenklichen Nicken. »Es gibt in Omega Centauri jemanden, der diese Technik heute noch beherrscht oder sich zutraut, sie zu lernen.« Unvermittelt meldete sich mein Extrasinn. Ist dir denn gar nichts an der Anordnung der Pyramiden aufgefallen? Sie sind in einem Kreis mit einem Durchmesser von 2600 Metern angeordnet, dachte ich. Und was erhältst du, wenn du die Mittelpunkte der Pyramiden durch Geraden miteinander verbindest? Ein Fünfeck natürlich. Genau, ein Pentagon. Ich konnte förmlich spüren, wie der Logiksektor in meinem Kopf zum entscheidenden Schlag ausholte. Und erinnerst du dich an die geometrische Form des kosmischen Leuchtfeuers, das ihr im Zentrum von Omega Centauri angemessen habt? Die zwanzig Sonnen bilden zusammen … Im selben Moment verstand ich, worauf er hinauswollte. Sie bilden einen PentagonDodekaeder. Du glaubst, dass es zwischen der Anordnung der Pyramiden und der Sonnen des Leuchtfeuers einen Zusammenhang gibt? Ich bin ein Logiksektor, ich glaube gar nichts, wurde ich belehrt. Aber ich erkenne mögliche Zusammenhänge und mache dich darauf aufmerksam, damit sie dir nicht entgehen. Sowohl bei den Pyramiden als auch beim Leuchtfeuer spielen regelmäßige Fünfecke eine Rolle. Bei Kahalo und dem zugehörigen Transmitter im Milchstraßenzentrum waren es Sechsecke. Das muss nichts bedeuten, kann aber alles erklären. Such es
Rainer Hanczuk dir aus. Mein Extrasinn hatte Recht. Ich erinnerte mich noch an den Schauder, der uns ergriffen hatte, als wir im Jahre 2400 nach Christus mit der CREST II das galaktozentrische Sonnensechseck entdeckten. Sechs blaue Riesensonnen, die bis hinab zur kleinsten Hyperkomponente miteinander übereinstimmten und mit absoluter Präzision positioniert worden waren. Bevor ich den Gedanken zu Ende führen konnte, überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Zunächst durchzuckte ein gellender Schrei die Halle, und Akanara schaute sich gehetzt um: »Große Männer kommen!«, rief er. »Sie wollen uns alle töten!« Gleich darauf warnte uns Zanargun: »Um uns herum sind soeben ein gutes Dutzend Energiequellen aktiviert worden. Wir werden eingekreist!« »Charakteristika?« »Schutzschirme, wahrscheinlich von Kampfanzügen.« Der Luccianer schaute mich ernst an. »Das dürfte die Begrüßung sein, auf die wir die ganze Zeit gewartet haben.« »Schutzschirme klar machen, Waffen entsichern!«, rief ich meinen Gefährten zu. »Wir ziehen uns zur Treppe zurück!« »Die Hallen unter uns sind offenbar nicht alle so leer wie diese hier. Ich messe in wenigen Kilometern Entfernung weitere Energiequellen an. Aber was für welche! Wenn meine Orter nicht spinnen, werden dort gerade vier arkonidische Zweihundert-Meter-Raumer neuester Baureihe startklar gemacht!« So schnell wie möglich raus hier! Ihr sitzt in einer tödlichen Falle! Der Warnruf meines Extrasinns kam schnell und scharf. Noch bevor wir einen Schritt in Richtung Ausgang machen konnten, brach um uns herum das Chaos aus. Starke Sprengsätze explodierten und rissen riesige Löcher in alle vier Wände. Gesteinsbrocken jeglicher Größe flogen uns um die Ohren oder verglühten in unseren Schutzschirmen, während dichter Qualm den Raum erfüllte. Einen Au-
Die Ruinen von Acharr genblick später warf jemand mehrere Blendgranaten in die Halle, deren Wirkung von den Steuerungen unserer Anzüge jedoch automatisch weggefiltert wurde. »Alle zusammenrücken!«, rief ich durch das Donnern der einstürzenden Wände. »Akanara in die Mitte!«, fügte ich rasch hinzu, als ich sah, wie unbeholfen sich der Junge von Yarn anstellte. Er war in seiner Heimat zwar ständig bedroht gewesen, aber ein Kampfeinsatz wie dieser war ihm völlig fremd. Er musste mehr als nur verwirrt sein. Nach allen Seiten sichernd schoben wir uns zum Gang vor, der zur Treppe führte. Wir hatten schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und noch immer war nicht auf uns geschossen worden, als direkt neben uns eine weitere Wand detonierte. Eine unbekannte Waffe zertrümmerte sie auf einer Länge von zwanzig Metern. Gleich darauf griffen dicke Lichtkegel aus den aufsteigenden Staubwolken nach uns, und ich wunderte mich noch über die ungewöhnliche Höhe, aus der sie auf uns herabstrahlten … Da brach das Grauen auf zwei Beinen durch das gerade entstandene Loch. Unter dem Einsatz schwerer Strahler raste das auf uns zu, wovor sich jeder Soldat in der Galaxis mit am meisten fürchtete: Naats! Riesige, Furcht erregende Naats!
* Ich hatte meine Erfahrungen mit Naats, und sie gehörten nicht zu den schönsten. Aber die Naats selber auch nicht. Sie waren drei Meter groß, hatten einen kugelrunden Kopf und drei Augen, die einen mit der Schärfe eines Dagorista-Schwerts anblickten. Ihre Arme waren lang, ihre Beine dagegen so kurz und stämmig wie Baumstümpfe, weshalb die schwarzbraunen Riesen meist in einem seltsam wiegenden Gang herumtapsten. Natürlich kam niemand auf den Gedanken, darüber zu lachen, denn wer würde über solche Wesen schon Witze reißen? Naats waren nützlich, vor allem wenn
33 man Totalschäden in Raumfahrerkneipen nach wilden Raufereien oder derbe Witze über einen ungewöhnlich gefalteten Körperbau bei ihren Gegnern mochte. Naats gehörten zu den ergebensten Dienern des Großen Imperiums und konnten sehr sensibel sein und ihrem einmal ausgewählten Herrn treu bis in den Tod folgen. Aber Naats waren vor allem eines: unglaublich gute Kämpfer, die vor nichts und niemandem Angst hatten. Sie gehörten zum Besten, was die Milchstraße in dieser Hinsicht hervorgebracht hatte. Mit Naats konnte man beruhigt in jede Schlacht ziehen, denn allein ihr Anblick verängstigte jeden Gegner so entscheidend, dass er schon zur Hälfte verloren hatte. Kämpfe mit Naats hatten nur einen kleinen, dafür aber entscheidenden Nachteil: Man musste absolut sichergehen, dass man auf derselben Seite stand wie sie. Die vier Naats, die gerade auf uns zustürmten, standen definitiv nicht auf unserer Seite. Brüllend feuerten sie mit Waffen auf uns, deren Länge die unserer Arme übertrafen, und sie schienen uns zudem mit bloßer Körpergewalt niederrennen zu wollen. Im Gegensatz zu den anderen Angreifern hatten sie keine Deflektorschirme aktiviert. »Zanargun, Daguray, Mauer bilden!«, schrie ich in das Chaos aus Feuer und Lärm. Sofort stellten sich die beiden Kämpfer vor Akanara, der das schwächste Mitglied unserer Truppe war, und feuerten mit mir aus allen Rohren. Tatsächlich gelang es uns, die Viererkette gerade noch rechtzeitig zu sprengen und zur Seite abzudrängen. Li und Phazagrilaath wehrten die übrigen Angreifer ab, die uns von den anderen Seiten beschossen. Wenn ihr es nicht innerhalb der nächsten Zentitontas an die Oberfläche schafft, seid ihr erledigt, machte mir mein Extrasinn den Ernst der Lage klar. Euer Gegner ist euch vielfach überlegen, da hilft nur Flucht oder ein guter Plan. Eindringlich flüsterte mir mein Extrasinn zu, was er sich ausgedacht hatte.
34 Unsere Gegner drangen mit voller Wucht auf uns ein. Meter um Meter trieben sie uns zurück und nahmen Akanara unter Punktbeschuss. Verängstigt floh er in einem unkontrollierten Zickzackkurs, doch er schaffte es nicht, sich aus der Schusslinie zu bringen. Sein Schutzschirm begann bedenklich zu flackern, sein Ende schien nur noch Augenblicke entfernt. Während ich meinen Gefährten kurze Anweisungen gab, formierten sich die vier Naats neu und bildeten mit den anderen Angreifern einen Keil. Nur einer blieb ein Stück zurück, wie ein Regisseur, der seinen Akteuren aus der Ferne Anweisungen gab. Gleichzeitig schoss Zanargun verborgen im Qualm ein großes Loch in die Decke und schwebte in die über uns liegende Etage. Ein rascher Blick nach oben bestätigte mir, dass er dort wie vereinbart sofort seine Schutzschirme ausschaltete. Mit etwas Glück war sein Verschwinden nicht bemerkt worden. Akanara! Daguray stellte sich wagemutig vor den Jungen und fing eine Salve nach der anderen ab. Wieder bewies er geradezu fantastische Reflexe, dennoch konnte er nicht verhindern, dass Akanaras Schutzschirm weiter geschwächt wurde. Mir wurde klar, dass ich sofort handeln musste, sonst war es um den Jungen geschehen. Wie so oft in Situationen, in denen mein Leben oder das von Freunden bedroht war, stieg meine Konzentration mit einem Schlag ins Unermessliche. Gerade noch war ich ein Wesen aus Fleisch und Blut, jetzt mutierte ich zu einem Bündel aus reiner Energie. Adrenalin strömte in mörderischen Mengen in mein Blut und machte meine Sinne zu hoch sensiblen Antennen. Gleichzeitig versank ich in der Meditation des Dagor-Zhy, was die Aufnahmefähigkeit meines Gehirns steigerte. Ich war jetzt nicht mehr Atlan, sondern ein fliegendes Etwas, das in einem Augenblick mehr Informationen in sich aufnahm als sonst in einer halben Ewigkeit. Erste Millitonta! Ich ziehe zwei Thermogranaten und suche mir instinktiv die beiden
Rainer Hanczuk taktisch günstigsten Stellen für meinen Gegenschlag. Die Horde der Naats und den unbekannten Regisseur im Hintergrund. Zweite Millitonta! Weitere Blitze schlagen in Akanaras Schutzschirm ein, und der Junge schreit in Todesangst. Mit beiden Händen gleichzeitig werfe ich die Bomben auf unsere Feinde. Dritte Millitonta! Ich stelle mich vor Akanara und verschaffe ihm so ein wenig Luft. Li wird von einer Breitseite aus mehreren Waffen erfasst und durch den kinetischen Impuls gegen eine Wand geschleudert. Meine Bomben landen im Ziel und rollen noch einige Meter weiter. Vierte Millitonta! Meine Li! Die Wucht des Aufschlags ist so gewaltig, dass sie für einen Moment benommen ist. Ihr Ächzen, das sie über Funk ausstößt, jagt mir ein glühendes Messer ins Herz. Wann explodieren endlich diese verdammten Bomben? Wann handelt Zanargun? Fünfte Millitonta! Die dunklen Bestien haben sich ein neues Opfer gesucht: Li, die zu schwach ist, um sich in Sicherheit zu bringen. Akanara ist gerettet, aber innerhalb eines Augenblicks strömt mehr Energie auf Lis Schutzschirm ein, als dieser absorbieren kann. Sechste Millitonta! Die Bomben explodieren in der engen Halle mit einer Wucht, die uns fast von den Beinen reißt. Für einen Augenblick gibt es nur noch sonnengrelles Licht, im nächsten verschwindet der Feuerschein, und ich sehe zwei Dinge gleichzeitig: die riesenhaften Angreifer, die Spielzeugen gleich durcheinander gewirbelt werden, und den geheimnisvollen Regisseur, dessen Deflektorschirm für den Bruchteil einer Millitonta erlischt. Sein Gesicht ist eine von Hass verzerrte Fratze, dennoch macht es in meinem Kopf laut und deutlich klick! Siebte Millitonta, der Augenblick der Entscheidung! Welche Schicksale wollen sich auf diesem Planeten noch kreuzen? Ich kenne diesen Mann, habe ihn auf Arkon gesehen und weiß nun genau, wer uns hetzt! Aus unzähligen Indizien wird bittere Gewissheit!
Die Ruinen von Acharr In einer einzigen riesigen Detonation sprengt Zanargun die Decke auf der Seite der Halle weg, wo unsere Gegner stehen. Sein Handeln zeugt von unglaublicher Präzision, er findet sein Ziel ohne Gnade. Eine mehrere hundert Quadratmeter große Platte aus Stahl und Beton fällt mit ungeheurer Wucht in die Tiefe. Sie kann unsere Gegner vielleicht nicht töten, aber sie zerquetschen. »Raus hier, sofort zur Treppe!«, brülle ich. In aberwitzigem Tempo rasen wir den Weg zurück, den wir gekommen sind. Raus aus der Halle, der Freiheit entgegen, nur weg von diesem Ort. Als wir so schnell wie möglich aus der Pyramide fliehen, ist Li an meiner Seite. Ich blicke rasch zu ihr, doch sie hat schon erkannt, dass etwas nicht stimmt. »Was ist denn in dich gefahren?« »Die da Zoltrals wollen uns töten!«, stoße ich hervor.
* »Sie kommen!« Leuff landete ihren Teil des Triple-Jets direkt zwischen Weddrin und Nedir, so dass diese sich wieder einklinken konnten. Weddrin schloss seinen feuerroten Kampfanzug und lachte. »Das erste Kommando hat also versagt. Ich habe nichts anderes erwartet. Unser Auftraggeber weiß, auf wen er sich verlassen kann und auf wen nicht.« Mit einem lauten Krachen schlug der Killer sich auf die Brust und streckte dann siegessicher die Faust in die Luft. »Wundert dich das?«, fragte Nedir. »Immerhin haben wir für ihn das Problem auf Arkon beseitigt.« »Ich habe es beseitigt, nicht wir!«, widersprach Weddrin energisch. »Wer von uns war denn zuerst im Krankenhaus und hat diesen Dummkopf getötet, der sich gefangen nehmen ließ? Frag Leuff, wie wir in der Nacht danach …« »Wir haben alle gemeinsam dafür gesorgt, dass der Krish'un jetzt da ist, wo er hingehört. Konzentriert euch auf euren Auftrag, es
35 ist der wichtigste, den wir je bekommen haben.« Nedir warf Weddrin einen giftigen Blick zu. Dann kümmerte er sich um die Ortung. »Ihr Kurs ist perfekt. Und sie scheinen es ziemlich eilig zu haben.« Weddrin zog die letzte der Desintegratorbomben aus seinem Waffengürtel und warf sie Nedir zu. Dieser fing sie mit einer blitzschnellen Handbewegung auf und machte sie scharf. Anschließend steckte er sie in das dünne Bohrloch, das er vorbereitet hatte. »Macht euch bereit!«, rief Leuff. Die beiden Killer sahen sich abschätzend an. Nein, alles durfte passieren, nur das nicht.
* Am Rande des Hochplateaus gab es keine Verfolger mehr. Sie hatten entweder aufgegeben oder lagen gefangen unter dem Schutt der herabgefallenen Hallendecke. Die vier Raumschiffe konnten wir immer noch anmessen, aber ihr Energieniveau war nicht weiter gestiegen. Ganz im Gegensatz zu dem von Li. Wutschnaubend stand sie neben mir und starrte mich an. »Wie kannst du nur so etwas Infames von mir behaupten?« Ich sah ihr in die rubinroten Augen und bereute, auch nur eine Millitonta an ihr gezweifelt zu haben. Li und die Überfälle, das hatte definitiv nichts miteinander zu tun. Hoffte ich. »Es tut mir Leid. Ich weiß, dass du zu mir stehst. Aber hast du den Mann im Hintergrund bemerkt, der den Angreifern Anweisungen gab?« »Natürlich habe ich ihn gesehen! Er war es, der die Naats auf mich hetzte.« Li trat zu mir und nahm mich liebevoll in den Arm. Ihre Wut schien übergangslos wieder verraucht zu sein. »Aber was hat das mit meiner Familie zu tun?« »Ich habe ihn schon einmal gesehen«, antwortete ich. »Auf Arkon, im Stammsitz der da Zoltrals bei der Audienz, die uns
36 Crest-Tharo im Wasserpalast gewährte. Er stand an der Tür, als wir den kleinen Speisesaal betraten, wandte sich sofort ab und verließ den Raum.« Lis Augen wurden einen Moment lang stumpf, dann funkelten sie mich an. »Wussten wir nicht schon damals Bescheid? Die Indizien waren nicht zu übersehen, aber wahrscheinlich wollten wir es nur nicht glauben.« Sie warf einen Blick zurück zur Pyramide. »Früher war Blut dicker als Wasser, doch heute scheint meine Familienzugehörigkeit nicht mehr zu zählen. Crest-Tharo hätte mich genauso umbringen lassen wie dich!« Mit zusammengepressten Lippen klammerte sie sich an mich wie eine Ertrinkende. »Verdammt, was ist los mit euch?«, durchbrach Altra unseren Augenblick der Nähe. »Ich konnte starke Energieausbrüche anmessen und wollte schon eine Rettungsaktion einleiten.« »Bleib, wo du bist«, funkte ich zurück. »Bringe dich und Hespran nicht unnötig in Gefahr, indem du eure Position verrätst. Wir kommen jetzt zu dir, und dann machen wir, dass wir von diesem Planeten wegkommen.« »Glaubst du etwa, ich schaue zu, wie ihr abgeschlachtet werdet? Vergiss es, Herr Einsatzleiter!« Altra trennte die Verbindung. Li schaffte es, schon wieder zu lächeln. »Von wem er diesen Dickkopf wohl hat?« »Keine Ahnung. Als Patenonkel bin ich für Geschenke zuständig, nicht für schlechte Charaktereigenschaften.« Zanargun räusperte sich. »Die vier Schiffe fahren soeben ihre Triebwerke hoch!« Die nächste Runde der Falle Acharr wird eingeläutet, warnte mein Extrasinn. Macht, dass ihr von hier verschwindet. Das würden wir ja gern. Aber bevor wir mit dem Shift die TOSOMA erreichen können, haben die Schiffe das System schon abgeriegelt und uns ausradiert. Es gibt immer eine Möglichkeit, und wenn sie nur in der Überheblichkeit des Gegners liegt, widersprach mein Extrasinn. Stimm
Rainer Hanczuk folgende Aktionen der TOSOMA und des Shifts so exakt wie möglich aufeinander ab, dann habt ihr eine Chance. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als mir mein Logiksektor seinen Plan offenbarte. Plan? Wahnsinnsplan traf es weitaus besser. Gleichzeitig erkannte ich aber, dass wir tatsächlich keine andere Wahl mehr hatten. Wir würden Acharr entweder so verlassen oder gar nicht. Umgehend nahm ich Kontakt mit der TOSOMA auf. »January, ihr bekommt wahrscheinlich gleich Besuch. Egal, wie die Auseinandersetzung läuft, ihr müsst unbedingt folgende Parameter einhalten!« Schnell gab ich ihm die Berechnungen meines Extrasinns durch. Ein heftiges Stöhnen war die Antwort. »Jetzt spinnst du völlig!« Dann folgte ein heiseres Lachen. »Seid pünktlich, wir sind es ganz bestimmt!« Die Verbindung wurde übergangslos getrennt. »Im Tiefflug zurück zum Shift!«, befahl ich ohne zu zögern. »Wir haben genau eine halbe Tonta Zeit. Eine Dezitonta mehr, und wir sind verloren.« Mit einem wilden Schlag auf den Notstartschalter brachte ich meinen TRUV auf Höchstleistung.
* »Verdammt«, fluchte Nedir. »Sie fliegen nicht dicht beieinander, sondern in einer langen Kette. Das könnte die Trefferquote verringern.« Leuff starrte ihre beiden Gefährten ungläubig an. »Habt ihr etwa nicht genügend Bomben versteckt, um alle auf einmal zu erledigen?« Weddrin und Nedir warfen sich einen betretenen Blick zu. »Du weißt, dass wir nur ein Dutzend von den Eiern hatten«, antwortete Weddrin. Nedir machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Sie befinden sich jetzt auf halber Höhe des Hangs und halten direkt auf die Bomben zu. Wenn doch welche von ihnen die Explosion überleben, nehmen wir
Die Ruinen von Acharr sie eben nacheinander ins Kreuzfeuer. Mit dem Kleinen fangen wir an, und ganz zum Schluss erledigen wir Atlan, damit er den Tod seiner Freunde mit uns genießen kann. Was soll schon groß schief gehen?« Ein strenger Blick von Leuff brachte ihn zum Schweigen.
7. Mit voller Geschwindigkeit rasten wir den Hang der Hochebene zum dunklen Dach des Dschungels hinunter. Direkt unter uns befand sich der Punkt, an dem wir mit unserem Aufstieg begonnen hatten. Halb links lag ein ausgetrocknetes Flussbett, das am Fuß des Plateaus begann und bei starkem Regen von dem Wasser gespeist wurde, das von oben hinabstürzte. In weiten Windungen schien es bis zum Landeplatz des Shifts zu führen. »Halt!« Akanaras Schrei ließ uns unseren Flug sofort abbrechen. »Ich sehe Blitze«, stammelte er entsetzt. »Vier werden Acharr nicht verlassen, und einer von uns stirbt. Ich sterbe!« »Dir kann nichts passieren, solange wir bei dir sind«, versuchte ich den Jungen zu beruhigen, doch er zitterte weiter am ganzen Leib. Er wittert eine Falle, meldete sich mein Extrasinn. Und wenn es auf Acharr eine gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür an zwei Stellen besonders hoch: am Shift und unmittelbar vor euch. »Wir können nicht warten, es geht um jede Millitonta«, rief ich meinen Begleitern zu. »Wir fliegen weiter, ändern den Kurs aber ein wenig und nehmen den Weg durchs Flussbett. Aktiviert zusätzlich die Deflektorschirme!« Zanargun nickte zustimmend, und wir drehten einige Grad nach links ab. Dabei blieben wir dicht über dem Hang, um eine Entdeckung so schwer wie möglich zu machen. Gleichzeitig reduzierten wir unsere Geschwindigkeit kurzfristig, um nicht überstürzt in eine Falle zu fliegen. Zwei Dezitontas später hatten wir den
37 Hang hinter uns gebracht und begannen gerade zu glauben, dass Akanara sich getäuscht hatte, da zuckte von rechts ein grüner Blitz durch die Luft. Im nächsten Moment hörten wir unmittelbar hinter uns ein Furcht erregendes Grollen. Reflexartig drehte ich mich um – und erstarrte! Ein Teil des Hangs fehlte. Wo sich gerade noch das künstlich aufgeschüttete Plateau befunden hatte, blickte ich nun in einen riesigen Hohlraum. Entsetzt erkannte ich seine gewaltigen Ausmaße, fast dreißig Meter hoch und genauso tief. Die Länge, über die er sich am Fuß des Hanges hinzog. Er begann gleich hinter uns und verlor sich irgendwo weiter rechts in der Ferne. Tausende Kubikmeter Gestein waren einfach verschwunden. Keine Hitzeentwicklung, also eine Art Desintegratorbombe, kommentierte mein Extrasinn. Wenn ihr nicht nach links abgedreht wärt, gäbe es euch jetzt nicht mehr. Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ich begriff, wodurch das immer noch anschwellende Grollen verursacht wurde. »Nach oben!«, brüllte ich. »Der Hang rutscht!« Seines Fundaments beraubt, brach das Plateau auf einer Länge von mehreren hundert Metern weg und stürzte mit tödlicher Kraft auf uns herab. Dutzende von Metern hoch donnerte die Steinlawine in den Dschungel und walzte alles platt, was ihr in die Quere kam. Die Notstartautomatiken unserer TRUV jaulten, als sie mit Vollschub senkrecht nach oben beschleunigten. Dennoch wurden wir durch den Sog der mitgerissenen Luft herumgewirbelt wie welke Blätter im Sturm. Millitontas später schwebten wir über den Baumwipfeln, während unter uns Tausende Tonnen Fels und Gestein brandeten. Wir hatten unseren Flug noch nicht annähernd stabilisiert, als wir auf einmal angegriffen wurden. Es waren unsichtbare Gegner, mehrere gleichzeitig. Thermoschüsse und heftiges Granatfeuer schlugen bei uns ein und
38 brachten unsere Schutzschirme zum Glühen. »Ich kann nichts orten!«, schrie Li, während sie wie wild um sich schoss. »Schalte um auf breiteste Streuung!«, rief ich meiner Gefährtin zu. »Sobald du einen Schutzschirm triffst, können wir anderen ihn unter Punktbeschuss nehmen!« Li bestrich mit ihrer Waffe den Luftraum. Tatsächlich traf sie einen Angreifer, der direkt über uns schwebte. Sofort konzentrierten wir unser Feuer auf ihn. Bevor wir ihn jedoch ausschalten konnten, brachte er sich durch eine blitzschnelle Bewegung in Sicherheit. Es sind nur drei Gegner, die aus ständig wechselnden Positionen feuern, teilte mir mein Logiksektor mit. Weil sie euch orten können, ihr sie aber nicht. Sie sind euch technisch deutlich überlegen, zudem übertrifft die Stärke ihrer Waffen und Schutzschirme eure bei weitem. Es kann sich also definitiv nicht um Angreifer in normalen Kampfanzügen handeln. Eher um eine Art Minigleiter. Bevor ich über diese Bemerkung nachdenken konnte, stellten sich die Unsichtbaren auf unsere Taktik ein und gingen ihrerseits zum Punktbeschuss über. Innerhalb einer Millitonta wählten sie das erste ihrer Opfer aus, das sie mit ihren überlegenen Waffen auszuschalten gedachten. Und wieder traf es den Schwächsten unter uns. Wieder traf es Akanara. Während er von einem Angreifer mit starkem Thermofeuer eingedeckt wurde, hüllte der zweite den Jungen in eine Art Vibrationsfeld, das sämtliche Funktionen seines TRUV störte. Das Triebwerk zuckte unkontrolliert, als Akanara verzweifelt versuchte, dem Thermofeuer auszuweichen. Dabei wäre sein Schutzschirm mit diesen beiden Waffen vielleicht sogar noch zurechtgekommen. Nicht aber mit der Waffe des dritten Angreifers. Der wartete nämlich kurz, bis wir unser Abwehrfeuer auf seine Kumpane konzentrierten, dann schlug er erbarmungslos zu. Seine erste Granate brachte Akanaras
Rainer Hanczuk Schutzschirm zum Flackern und deformierte ihn, als sei er plötzlich in einen Orkan geraten. Das zweite Geschoss folgte sofort und degradierte die fast unüberwindliche Hülle zu einer dünnen Blase, die beim kleinsten zusätzlichen Impuls platzen würde. Die dritte Granate war vermutlich schon unterwegs, um Akanara aus dem Universum zu fegen – da überraschte mich der unscheinbare Bewacher des Jungen von Yarn erneut. Daguray schleuderte sich mit einem wilden Schrei in den Fokus aus drei tödlichen Waffen und wurde zu einer zalitischen Fackel.
* Der Rosenblättermann hat weit fahren müssen, um an seine Wurzeln zurückzukehren. In einen Dschungel, wo ein verzweifelter Junge um sein Leben kämpft. Er weiß, wie es sich anfühlt, allein zu sein. Oder wie es ist, wenn man in einer feindlichen Umgebung den Tod vor Augen hat. Man taumelt vor Angst und hat nichts, woran man sich festhalten könnte. Niemanden, der mit einem spricht. Nicht einmal Rosen und schon gar kein Gedicht. So wie dieser Junge. Der unsichtbare Gegner hat auf ihn angelegt und wird jetzt seine Granate abfeuern. Jeder weiß es, jeder spürt es, gleich wird es geschehen. Ein gerade erst begonnenes Leben wird ausgelöscht, weil der Junge zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Seine ihm von der Schöpfung gegebene Chance wird vertan. Der Rosenblättermann will nicht, dass der Junge stirbt. Er soll eine zweite Chance bekommen und diesen Planeten verlassen, so wie Daguray einst Scolo II verlassen hat. Gestählt, mit leuchtenden Augen und dem Wissen, dass es nichts Wichtigeres gibt als gute Freunde, die immer für einen da sind, wenn man sie braucht. Und wenn es sich dabei nur um Rosen handelt. Der Junge hat keine Rosen, die ihm helfen
Die Ruinen von Acharr könnten, deshalb ist es an dem Rosenblättermann, als Freund einzuspringen. Dies ist der Moment, in dem Daguray das zurückgeben will, was er einst bekommen hat. Der Moment, auf den er unbewusst sein Leben lang gewartet hat. Mit einem befreienden Schrei wirft sich Daguray in die heranfliegende Granate und rettet Akanara vor dem sicheren Tod.
* Im gleichen Augenblick, als Daguray sein selbstmörderisches Manöver vollzog, erschien Altra mit dem Stealth-Shift über dem Kampfgebiet und eröffnete das Feuer. Während Akanaras Bewacher in einer grellen Explosion verging und in den Dschungel stürzte, traf die erste BodenLuft-Rakete den Angreifer. Sofort erlosch sein Schutzschirm, und ein winziger Gleiter wurde sichtbar, der in der Mitte auseinanderbrach. Ein kleiner Schemen war darin zu erkennen, der sich an einem Pult festzuklammern schien. »Was zur Hölle ist das?«, rief Li durch den Lärm der verklingenden Explosionen. Ich verfolgte, wie sich für den Bruchteil einer Millitonta ein weiterer, kleinerer Schutzschirm zu manifestieren versuchte, doch auch dieser wurde von Altra zerschmettert. In einer unkontrollierten Trudelbewegung stürzten die beiden Gleiterhälften in den Abgrund. Im nächsten Moment betätigte Altra das MVH-Geschütz und verwandelte den zweiten Angreifer in eine grelle Feuerlohe. Lautes Knistern erfüllte die Luft, als auch dieser Schutzschirm erlosch und der Gleiter absackte. Auf halber Höhe zum Dschungel fing er sich wieder, doch nur für einen Augenblick, dann stürzte er wie ein Stein in die Tiefe. Ein roter Blitz markierte die Stelle des Aufschlags. Der dritte Angreifer ergriff umgehend die Flucht. In einem unberechenbaren Zickzackkurs raste er über die Baumwipfel in Richtung des Hochplateaus. Als ich schon dach-
39 te, dass Altra ihn entkommen lassen wollte, schoss mein Patenkind eine weitere Rakete ab. Obwohl der Flüchtige versuchte, sie mit einer Art Virtuellbildner zu täuschen, explodierte das Fahrzeug unter lautem Krachen. Der unbekannte Pilot wurde in weitem Bogen davongeschleudert, ohne einen Deflektorschirm aktiviert zu haben. »Zehnfach Zoom!«, befahl ich meiner Anzugsteuerung und sah eine Millitonta später, wer uns angegriffen hatte. Sofort wurde mir klar, warum wir die Angreifer so schwer hatten anmessen können. Es war – unglaublich! »Ich hoffe, du verzeihst mir die grobe Befehlsverweigerung!«, durchbrach Altra über Funk meine Gedanken. »Ich verzeihe dir nicht nur, ich verleihe dir dafür einen Orden!«, gab ich erleichtert zurück. »Auf den verzichte ich gern, wenn zwischen uns nie wieder das Wort Othmura fällt. Ich hasse diesen Planeten!« Ein befreites Lachen war zu hören. »Aber wenn ihr jetzt nicht unverzüglich an Bord kommt, schaffen wir es nie pünktlich zu unserem Rendezvous.« Altra drehte den Stealth-Shift bei und öffnete die Seitenschleuse. »Wir haben noch etwas zu erledigen«, meldete ich meinem Patensohn. Dann nickte ich mit ernster Miene Akanara zu. »Wahrscheinlich willst du mich begleiten.« Der Junge von Yarn schaute mich beklommen an, aber er hatte verstanden. Mit Zanargun und Li flogen wir zu Daguray hinunter, dessen Körper merkwürdig verdreht neben einem Baum lag. »Sieh nur«, sagte Akanara und deutete mit zitternden Fingern auf den Toten. Ich schluckte, denn ich erkannte sofort, was er meinte. Daguray war offenbar nicht gleich tot gewesen. In seinen letzten Millitontas hatte er den Kopf unnatürlich weit in den Nacken gelegt. Wie seine linke Hand zeigte es auf ein ganz bestimmtes Objekt in einigen Metern Entfernung: einen großen, unglaublich intensiv duftenden Wildrosenstrauch.
40 Zwischen seinen Fingern entdeckte ich einen Zettel, den er kurz vor seinem Tod aus einer Tasche gezogen haben musste. Als ich ihn vorsichtig aus Dagurays Umklammerung löste, wurde mir klar, dass der Zaliter alles andere als eine graue Maus gewesen war. Bei dem Zettel handelte es sich um ein vergilbtes Blatt mit einem Gedicht, das mir beim Lesen einen Stich versetzte: Wie gern war ich in deinem Garten der Rosenstrauch, der aus brauner Erde sprießt, seine Wurzeln, die das Wasser ziehen, seine Stämme, die zur Sonne fliegen, seine Zweige, die nach Freiheit suchen, die Blätter, die aus ihnen wuchern, die Blüten, die für Farben sorgen, der Schatten, den ein einzig Blatt nur flüchtig deinen Augen spenden darf. Wie gern war ich dein Rosengarten. Die wenigen Zeilen brannten sich mit einer Intensität in mein fotografisches Gedächtnis, die mich trotz des gerade erlebten Kampfes zutiefst berührte. Einer inneren Stimme folgend zog ich meinen Desintegrator und schoss eine Ausschachtung in den Boden, die bis direkt unter den Rosenbusch reichte. Dann gab ich Zanargun ein Zeichen, worauf er Daguray zu dem Loch trug. Man sah dem Luccianer an, wie schwer es ihm fiel, von dem Mitglied seiner Landungstruppen Abschied zu nehmen. Er hatte ihn zu dem Einsatz ausgewählt und fühlte sich nun für seinen Tod verantwortlich. Vorsichtig, ja fast liebevoll, ließ er Daguray hinabgleiten, dann löste er mit seinem Vibratorschwert die Erde am Rand der Ausschachtung, so dass sie hinunterfiel. Er trug Äste, Steine und Reisig herbei. Als das Loch vollständig aufgefüllt war, trampelte er alles mit wuchtigen Tritten fest. Anschließend versiegelte er das Grab mit einer kurzen Salve aus seinem Thermostrahler. »Das waren wir ihm schuldig«, sagte er mit belegter Stimme. »Er hätte es so gewollt.« Verblüfft verfolgte ich, wie Li tröstend eine Hand auf Akanaras Schulter legte, ohne
Rainer Hanczuk dass dieser sich sträubte. Gleichzeitig sah ich die winzigen Tränen, die sich aus seinen Augen lösten und die er schluchzend mit dem Handrücken wegwischte. »Danke, Daguray!«, hörte ich ihn flüstern, dann drehte er sich zur Seite, um sein Gesicht vor uns zu verbergen. »Wir müssen los«, sagte ich und aktivierte meinen TRUV. Langsam begannen wir, nach oben zum Shift zu schweben, wo Altra bereits ungeduldig auf uns wartete. Von irgendwoher glaubte ich erneut, ein leises Sssssssst zu hören.
* Igusen Kanarek stürzte in die Zentrale und hielt direkt auf Kommandant Teriwei zu. Sein Anzug war verschmutzt, doch das kümmerte ihn nicht, denn seine Ehre war es noch viel mehr. Das Einzige, was jetzt noch zählte, war die rasche Begleichung der Rechnung, die Atlan durch seine hinterhältige List unter den Pyramiden mit ihm aufgemacht hatte. »Teriwei, sofort starten!«, brüllte er den großen, den widerlich großen Kommandanten an. »Die Eindringlinge müssen innerhalb der nächsten halben Tonta eliminiert werden!« »Sie sind noch nicht bei ihrem Shift angekommen«, wagte Teriwei einzuwenden. »Wenn wir noch einige Dezitontas warten, können wir sie wahrscheinlich bequem beim Abflug …« Die Besatzung der Zentrale erfuhr nie, was ihr Kommandant noch hatte sagen wollen. Igusen Kanarek stieß einen schrillen Schrei aus, zog seine Waffe und schoss Teriwei nieder. Atemloses Entsetzen herrschte in der Zentrale. »Was starrt ihr mich so an?«, schrie Kanarek mit sich überschlagender Stimme. »Räumt den Befehlsverweigerer weg, und dann startet dieses verdammte Raumschiff!« Als sich niemand rührte, ging Kanarek zum nächstbesten Arkoniden und hielt ihm die Waffe an den Kopf. »Wer ist hier der
Die Ruinen von Acharr stellvertretende Kommandant? Du hast genau eine Millitonta Zeit!« Bevor der Angegriffene reagieren konnte, trat ein besonders groß gewachsener Offizier vor. »Ich bin es.« Er nickte den zwei Männern neben sich zu, die daraufhin den toten Kommandanten aus der Zentrale trugen. »Du hast meinen Befehl gehört!«, rief Kanarek dem Stellvertreter zu. »Ich will diese Bastarde brennen sehen!« Der Offizier sah das wahnsinnige Flackern in den Augen des kleinen Mannes. Er begriff, dass jeder erdenkliche Einwand nur weitere Tote bedeutet hätte.
* »Die vier Arkonidenraumer starten.« Altra blickte wütend auf die Ortungsgeräte des Flugpanzers. »Unglaublich, ihr Hangar lag direkt unter der Pyramidenstation!« »Wenigstens ist jetzt klar, woher die Angreifer in der unterirdischen Anlage kamen«, sagte ich. »Sie sind durch Verbindungsgänge direkt vom Hangar zur Halle vorgedrungen. Sie mussten nicht einmal an die Oberfläche. Wir hatten gar keine Chance, sie vorzeitig zu bemerken.« Und noch etwas wird dadurch bewiesen, meldete sich mein Extrasinn. Crest-Tharos Leute müssen sich auf Acharr ausgezeichnet auskennen, sonst hätten sie die Falle nicht so gut vorbereiten können. Damit dürfte endgültig geklärt sein, wer die technischen Geräte demontiert hat. Wir saßen angeschnallt auf unseren Plätzen und verfolgten gebannt, wie eines der vier Raumschiffe Kurs auf uns nahm, während die anderen drei mit Vollschub in den freien Weltraum jagten. »Wir haben nur eine Chance, hier heil herauszukommen.« Ich schaute zu Altra. »Dabei hängt alles von dir ab. Du musst den Shift in genau neun Dezitontas an folgende Position gebracht haben.« Ich nannte ihm die Daten, die mein Logiksektor berechnet hatte, und beobachtete seine Reaktion. Altra riss ungläubig die Augen auf. »Bei
41 den zwölf Heroen! Wenn ich das meinem Vater erzähle, entzieht er dir die Patenschaft für mich.« In der nächsten Millitonta umspielte ein entschlossenes Lächeln seinen Mund. »Aber ein Versuch ist es allemal wert. Wollen wir doch mal sehen, wer hier der bessere Pilot ist.« Ein Ruck ging durch seinen Körper. »Antiortungsschirme sind aktiviert! Paratron auf Notautomatik«, meldete er. »Er wird erst hochgefahren, wenn uns ernsthaft Gefahr droht. Ich hoffe nur, dass unsere Verfolger keine besseren Geräte haben als wir. Sonst schießen sie uns schneller vom Himmel, als wir Volltreffer sagen können.« »Bleib dicht über der Oberfläche, bis der optimale Zeitpunkt erreicht ist!«, befahl ich. »Wir dürfen den Schutz des Planeten erst im allerletzten Moment verlassen.« Das angreifende Raumschiff schien durchaus zu wissen, wo wir uns befanden. Zwar ließ seine Zielgenauigkeit noch etwas zu wünschen übrig, doch das lag einzig und allein an der Tarnung des Shifts. Eine Thermosalve nach der anderen jagte an uns vorbei. Altra schaffte es immer wieder, den Gegner mit völlig unvorhersehbaren Manövern zu irritieren. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie der Mann an den feindlichen Geschützen verzweifelt versuchte, das verwaschene Ortungsecho anzuvisieren. Gleichzeitig fragte ich mich, ob es sich dabei um den Arkoniden handelte, der den Anschlag auf uns in der Pyramidenstation geleitet hatte. »Jetzt!«, rief ich. Umgehend beendete Altra seinen scheinbar ziellosen Flug über die Planetenoberfläche und steuerte mit steigendem Tempo den Punkt der Entscheidung an. Dieser lag genau auf der anderen Seite Acharrs. Bange Augenblicke waren zu überstehen, als der Shift ohne jede Deckung über das spiegelnde Meer raste. Der Kugelraumer preschte heran und schien sich seiner Beute nun sicher zu sein. Er konnte den Flugpanzer zwar immer noch nicht eindeutig lokalisieren, aber parallel mit der steigenden
42 Triebwerksleistung strahlten wir auch mehr Energie ab. Die gegnerischen Schüsse jagten in immer kürzerer Entfernung an uns vorbei. Im nächsten Moment war das feindliche Raumschiff über uns. Wie ein riesiger Raubvogel und aus allen Rohren feuernd stürzte es auf uns herab – und wir taten genau das Gegenteil! Während der Kugelraumer auf den Planeten zuraste, entfernten wir uns von ihm mit allem, was unsere Gravopulstriebwerke hergaben. 500 Kilometer pro Sekundenquadrat bedeuteten, dass wir in genau 11,73 Millitontas zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht haben würden. Den Wert, den mir mein Extrasinn als optimal vorgegeben hatte. »Sie haben uns verloren!«, rief Altra triumphierend. Und tatsächlich, für einen Moment waren unsere Gegner offenbar verwirrt. Kostbare Zeit verstrich, als sie mit einem Gewaltmanöver ihren Sturzflug in ein zielloses Gleiten über der Wasseroberfläche verwandelten. Niemand an Bord schien damit gerechnet zu haben, dass wir mit dem Shift eine Flucht in den freien Raum riskierten, wo wir viel leichter zu orten waren. »Was ist mit den anderen drei Raumschiffen?«, fragte ich schnell. »Auf Kollisionskurs mit der TOSOMA«, meldete Altra. »Ich messe erste Explosionen von Transformbomben an. Dort wird schwer gekämpft!« Ein schrilles Piepsen erklang. »Ortung! Jetzt haben sie uns!« Verbissen umklammerte er die Kontrollen, während der Shift weiter beschleunigte. Das gegnerische Raumschiff wurde förmlich herumgerissen. In einem atemberaubend engen Bogen zog es ins All hoch, bis es in dieselbe Richtung wie wir flog. Auch dieses Manöver kostete wieder wertvolle Zeit, die uns zugute kam, doch schließlich beschleunigte die zweihundert Meter durchmessende Stahlkugel mit doppelt so hohen Werten wie wir. Ihr müsst nur noch vier Millitontas durchhalten, meldete mein Extrasinn.
Rainer Hanczuk Vier Millitontas! So wenig, und doch so viel, wenn es um das eigene Leben ging. Um uns herum stachen permanent die grellen Strahlenfinger des gegnerischen Beschusses durchs All, aber immer noch wagten wir es nicht, den Paratron zu aktivieren. Sobald wir das taten, konnten uns die Arkoniden spielend leicht orten. Dann hätte es nur noch einer Transformbombe bedurft, um uns aus dem Universum zu fegen. Also mussten wir so lange wie möglich unseren einzigen Trumpf ausreizen: den überragenden Ortungsschutz des Shifts. Im nächsten Moment war schon alles Vergangenheit. Ein dicker Energiestrahl schoss so dicht an uns vorbei, dass die Antiortungssysteme für den Bruchteil einer Millitonta zusammenbrachen. Gleich darauf alarmierte uns ein energisches Piepsen, dass wir von den gegnerischen Systemen voll erfasst worden waren. »Paratron!«, rief ich und griff nach Lis Hand. Zu spät!, schalt mich mein Extrasinn. Im gleichen Augenblick explodierte um uns herum der Weltraum.
* Igusen Kanarek tobte vor Wut. Er ertrug es nicht, dass der fremde Pilot durch sein Können seine Besatzung bloßstellte. Der gegnerische Flugpanzer schaffte es immer wieder, ihnen ein Schnippchen zu schlagen und sich seiner gerechten Strafe zu entziehen. Die Adern an Kanareks Hals waren dick wie Wasserschläuche, und seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Mit einem zornigen Aufschrei drosch er die Faust gegen eine Projektionsfläche, die neben dem Kommandantensessel befestigt war. Kanarek hatte wie selbstverständlich Teriweis Position eingenommen, obwohl er von Raumfahrt nicht das Geringste verstand. Aber das war ihm egal. Er nahm an Bord den höchsten Rang ein. Ihm gebührte der Platz in der Mitte, keinem anderen sonst.
Die Ruinen von Acharr Da kam die Meldung, auf die er gewartet hatte. »Zielobjekt erfasst!«, rief der stellvertretende Kommandant. »Hab ich dich, du Abschaum Arkons!« Igusen Kanarek sprang auf. Vor seinem geistigen Auge sah er Atlan, wie er verängstigt im Shift saß und auf den tödlichen Treffer wartete. Den sollte er bekommen, und zwar jetzt gleich. »Nehmt eine Transformbombe!«, brüllte Kanarek. »Ich will ein Feuerwerk sehen, das diesem Mistkerl gerecht wird. Kein Gramm soll mehr von ihm übrig bleiben! Kein Gramm, hört ihr!« Die Besatzung hörte ihn. Das Ende des feindlichen Shifts war gekommen.
8. In unmittelbarer Nähe des Schweren Jagdkreuzers explodierten mehrere Transformbomben. Der aktivierte Virtuellbildner hatte die drei gegnerischen Schiffe zwar kurz ablenken können, aber dann hatten sie das echte Echo der TOSOMA erkannt und erbarmungslos zugeschlagen. »Der Shift ist in Bedrängnis!« Der Warnruf von Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. erreichte auch den hintersten Winkel der Zentrale. »Wir müssen das Manöver vorziehen, sonst werden sie abgeschossen!« »So wie wir!«, rief Zuunarik. Der 2. Pilot bewies, warum Atlan so große Stücke auf ihn hielt, und steuerte die TOSOMA in einer unglaublich engen Parabel aus dem Schussfeld. »Unser Paratron ist immer noch defekt, ein gut gezielter Schuss, und wir sind erledigt.« Khemo-Massai schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass es knapp wird. Aber Atlans Plan funktioniert nur, wenn wir ihn bis ins kleinste Detail einhalten. Außerdem brauchen wir zwanzig Prozent Lichtgeschwindigkeit, sonst zerreißt es das Schiff. Noch drei Millitontas. Das überstehen wir!« Eine weitere Salve der heranrasenden Kampfschiffe erschütterte die TOSOMA und brachte die doppelt gestaffelten HÜ-
43 Schirme gefährlich zum Flackern. Das Schiff wurde von den Ausläufern eines der Glutbälle erfasst, die vor ihr entstanden, durchstieß ihn jedoch unbeschadet. Cisoph Tonk schoss seinerseits aus allen acht Transformkanonen und zwang so die Gegner zu einem Kurswechsel. Gleich darauf hatten sie sich schon wieder neu formiert. »Mach den Sprung deines Lebens, Zuunarik!«, rief Khemo-Massai dem 2. Piloten zu. »Ich tue mein Bestes, drückt mir die Daumen.« Zuunariks Blicke hingen wie gebannt an der Zeitanzeige. »Drei, zwo, eins – Sprung!« Die TOSOMA entmaterialisierte und sprang exakt zum abgesprochenen Zeitpunkt an die vereinbarten Koordinaten. Nur ein Drittel Millitonta später explodierten sechs Transformbomben an der Stelle, an der sie sich gerade noch befunden hatte.
* Die Besatzung der TOSOMA erfüllte ihren Auftrag – aber mit was für einer Präzision! Einen Wimpernschlag von uns entfernt fiel sie mit einer Wucht in den Einsteinraum zurück, die im Shift das Chaos ausbrechen ließ. »Dreißig lächerliche Kilometer Abstand nach einem Sprung über mehrere Lichtminuten! Restfahrt wie bei uns exakt zehn Prozent Lichtgeschwindigkeit.« In Altras Stimme schwang Hochachtung mit. »Strukturerschütterungen höchsten Ausmaßes, Triebwerke komplett ausgefallen, Ortungsschutz, Paratron und Druckabsorber gestört. Flugrichtung nicht mehr kontrollierbar!« »Sie halten sich nur an meine Anweisungen!«, schrie ich über den Lärm hinweg. »Ich habe January dieselbe Geschwindigkeit und denselben Flugvektor vorgegeben wie dir, und zwar entlang der Geraden zwischen der Sonne und Acharr. Vielleicht war ich bei den Koordinaten ein wenig zu genau. Dass es so eng werden würde, war jedenfalls nicht vorgesehen!«
44 »Das nennst du eng? Zuunarik hätte vor dem Sprung nur einmal zu husten brauchen, und die TOSOMA wäre auf unserem Schoß rematerialisiert!« »Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah der Dritte im Dienste aller Witwen und Waisen!«, erklang über Funk plötzlich die Stimme des Hasproners. »Festhalten!« Vier riesige Feuerbälle entstanden im All, aber nicht bei uns, sondern direkt vor dem anfliegenden Arkon-Raumer. Cisoph Tonk hatte das Überraschungsmoment offenbar genutzt. Das feindliche Schiff wurde trotz sofortigen Gegensteuerns von einer der Glutwolken schwer erschüttert. Eine halbe Millitonta später griffen starke Traktorstrahlen nach dem führerlosen Shift und zerrten ihn mit Gewalt in eine sich öffnende Schleuse. Nicht einmal eine Dezitonta nach der Transition befanden wir uns an Bord der TOSOMA. Während Altra den Shift fixierte, rannte ich bereits zur Schleuse. Ich verließ den Shift und durchquerte im Laufschritt den bereits mit Atemluft gefluteten Hangar. Ehe ich mich versah, stürzte ich aus dem VEXLift in die Zentrale des Kreuzers. Khemo-Massai ignorierte mich genauso wie der Rest der Besatzung. Ein Blick auf die Panoramagalerie genügte, um den Grund zu kennen. Wir waren noch lange nicht in Sicherheit. Die drei Feindschiffe, die sich auf halbem Weg zwischen Acharr und der Sonne befanden, hatten ein Wendemanöver eingeleitet und fast die nötige Sprunggeschwindigkeit erreicht. Das vierte Schiff, unser Verfolger, hatte die Transformbomben heil überstanden und war ebenfalls nicht gewillt aufzugeben. Verbissen beschleunigte es wieder mit Vollschub in unsere Richtung. Doch die Zeit lief ihm davon. Während es der 200-Meter-Raumer nur auf 1000 Kilometer pro Sekundenquadrat brachte, schaffte die kleinere TOSOMA ein Fünftel mehr. Also brauchen wir fünf Millitontas, um von der Restfahrt auf minimale Sprungge-
Rainer Hanczuk schwindigkeit zu kommen. Davon sind noch zwei Millitontas übrig, rechnete mein Logiksektor blitzschnell hoch. Das müsste reichen. Cisoph Tonk bediente die Feuerorgel der TOSOMA geradezu virtuos. Jede Anweisung meinerseits war überflüssig. Ich konnte nur zusehen und staunen, mit welcher Präzision der Polynesier mit vier Transformbomben einen weiteren Sperrriegel zwischen uns und unseren Verfolger setzte. Erneut müsste dieser abdrehen, und wir hatten fast schon die Sprunggeschwindigkeit erreicht – als direkt in unserer Flugbahn die drei anderen Arkonraumer rematerialisierten! Ich hatte keine Ahnung, ob das so geplant oder ein Versehen war. Für die TOSOMA jedenfalls hätte es normalerweise das Ende bedeutet. Wenn sie nicht eine so unglaubliche Besatzung gehabt hätte. »Kurs beibehalten! Weiter beschleunigen!« Dieser eine Ruf von mir genügte, um die Frauen und Männer zu schier unglaublichen Leistungen anzuspornen. Während die drei Gegner sich noch orientieren mussten, zeigten Zuunarik und Cisoph Tonk ein Manöver, das einem Nome Tschato aus den seligen Zeiten der MdI alle Ehre gemacht hätte. Unter Verwendung aller Reserven lenkte zunächst der Zaliter die TOSOMA wie einen Kugelblitz mitten durch die feindliche Formation. In dieser Zeit war für diese ein Schuss auf uns unmöglich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. »Sprung!«, rief Zuunarik, als die TOSOMA im nächsten Moment die magischen sechzigtausend Kilometer pro Sekunde erreicht hatte. Bevor unsere Gegner reagieren konnten, verschwand das System von Acharr von unseren Ortern.
* Totenstille herrschte in der Zentrale. Nichts war zu hören außer dem regelmäßigen Piepsen der Orter, das besagte, dass das Sonnensystem nun leer war. Bis auf die vier eigenen Raumschiffe natürlich, aber die
Die Ruinen von Acharr zählten nicht. Der kleine, untersetzte Mann wusste, wann er verloren hatte, und genau jetzt war es so weit. Das Schiff, in dem die Person saß, deren Tod ihn zu einem da gemacht hätte, war verschwunden. Untergetaucht in den undurchdringlichen Weiten des Kugelsternhaufens. Er würde ihn nie mehr finden können. Igusen Kanarek hatte versagt, und dieses Versagen brannte in ihm wie Schwefelsäure. Er räusperte sich. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und baute die Verbindung auf, von der er bis vor kurzem gedacht hatte, dass sie sein Leben zum Guten wenden würde. Bruchteile von Millitontas später sah er in das Gesicht des Mannes, der ihn hierher geschickt hatte. Wenige wortlose Blicke genügten, dann wusste sein Auftraggeber, dass Kanarek gescheitert war. Die hageren Züge entgleisten. Aber schon im nächsten Moment war er wieder ganz der Mann, der das Kristallimperium aus den Angeln heben wollte. »Komm zurück!«, befahl er hart. »Ich will dich morgen bei mir sehen.« Das Holo erlosch, und Igusen Kanarek war allein mit seinen Ängsten. Und mit einer Besatzung, die ihn hasste, weil er ihren Kommandanten getötet hatte. Wie Nadelstiche spürte er ihre erwartungsvollen Blicke. Alle in der Zentrale schienen den Atem anzuhalten und auf seine Reaktion zu lauern. Eine Reaktion, die für einen Mann mit seinen Ambitionen nur so aussehen konnte, wie es der Ehrenkodex eines Adligen vorschrieb. Igusen Kanarek zog seinen Strahler. Schwer wog er in der Hand, viel schwerer als unten auf Acharr, wo er sich noch so sicher gewesen war, dass er den lang ersehnten Erfolg bald haben würde. Sein Auftraggeber hatte Recht behalten, indem er ein zweites Kommando ausgesandt hatte, auch wenn es ebenfalls gescheitert war. Kanarek entsicherte den Strahler und stellte ihn auf breiteste Streuung. Zitternd hob er die Waffe und suchte an seinem Kopf die Stelle, wo er den schnellsten Tod vermu-
45 tete. Die letzte Chance zur Rettung seiner beschmutzten Ehre lag jetzt in seiner eigenen Hand. Die Blicke der Besatzung verrieten Genugtuung. Kanarek konnte förmlich spüren, wie sie auf den Schuss hofften, der sie von seiner Anwesenheit erlöste. Diese dreckigen, nichtswürdigen Kreaturen warten tatsächlich auf meinen Tod! Kanarek senkte den Strahler wieder. Nein, er würde ihnen den Gefallen nicht tun! Er würde stattdessen zu seinem Auftraggeber zurückkehren und sich dessen Urteil stellen. Wenn es eine Gerechtigkeit gab, dann würde er begreifen, dass die Schuld für den Misserfolg nicht bei Igusen Kanarek lag, sondern bei der Besatzung, die sich hatte übertölpeln lassen. Mit entschlossener Miene stand Igusen Kanarek auf und steckte den Strahler in das Holster zurück. Es gibt viel zu tun für einen Mann meines Formats, dachte er mit zurückkehrendem Selbstbewusstsein. Am besten würde er die Zeit bis zur Ankunft in seiner Kabine mit dem Entwurf neuer Strategien für seine Karriere verbringen. Oder vielleicht auch mit Orbton Madleda, die sicher nichts gegen weitere Anweisungen einzuwenden hatte. Wenigstens noch einmal ein paar Tontas vom großen Glück träumen, bevor ihn die Wirklichkeit einholte. Kanarek lächelte versonnen, als er die Zentrale verließ. Die enttäuschten Blicke der Besatzung erfüllten ihn mit Stolz und Häme.
* Tropf, tropf, tropf. Donnergrollen am Horizont. Irgendwo in der Nähe brüllte ein riesiges Raubtier. In dem Moment, als er aufwachte, ahnte der Swoon, dass er heute sterben würde. Weddrin spürte es ganz deutlich. Es ging ihm schlecht, jede Faser seines Körpers schmerzte. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war der helle Blitz, mit dem sein Triple-Jet explodiert war. Der plötzlich
46 aufgetauchte Shift hatte einen von ihnen nach dem anderen fertig gemacht. Erst Nedir, dann Leuff, schließlich ihn. Wenn es nicht seine erste Niederlage gewesen wäre, hätte Weddrin den fremden Kanonier für seine Zielsicherheit bewundert. Tropf, tropf, tropf. Etwas stimmte nicht. Seine linke Körperhälfte fühlte sich seltsam taub an. Als Weddrin sich zur Seite drehte, erkannte er die Ursache des Geräusches. Einer seiner vier Arme fehlte. Leise blubberte das Blut aus den Arterien und fiel auf das große Blatt, auf dem er lag. Fasziniert verfolgte der Swoon, wie die Flüssigkeit von dort weiter auf den Dschungelboden tropfte und darin versickerte. Ein schönes Bild, dachte der Swoon. Schön und bedrohlich zugleich. Wenn seine beiden Partner nicht überlebt hatten und ihm nicht bald zu Hilfe kamen, musste er tatsächlich mit dem Schlimmsten rechnen. Mit seinem Tod. Weddrin versuchte sich aufzurichten. Aber mehr als ein lautes Stöhnen brachte er nicht zustande. »Nedir, mein Freund! Leuff!« Seine Stimme war nur ein Hauch. Niemand konnte ihn hier hören, obwohl der Dschungel eigenartig still war – entsetzlich still. Da begann das Blatt, auf dem Weddrin lag, sich plötzlich zu bewegen. Endlich! Eine unglaubliche Erleichterung machte sich in ihm breit. Sie haben mich gefunden und bringen mich mit einem Traktorstrahl in Sicherheit. Vielleicht, so hoffte der Swoon, finden sie ja auch meinen Arm, und man kann ihn noch retten. Plötzlich kippte das Blatt zur Seite weg, und Weddrin rollte unkontrolliert auf den Dschungelboden. »Nedir, verdammt!«, stöhnte er. Die offene Wunde brannte jetzt höllisch, bestimmt war sie voller Schmutz und Krankheitserreger. Hatte sein Partner den Verstand verloren? Ein leises Rascheln erklang. Der Swoon blickte zur Seite und sah eine Wurzel. Sofort begriff er, dass es sich nicht um ein norma-
Rainer Hanczuk les Gewächs handeln konnte, denn die Wurzel bewegte sich. Sie ragte genau dort aus dem Boden, wo sein Blut versickert war. In kleinen Pendelbewegungen suchte sie die Erde ab, wobei sie dem blutgetränkten Fleck besondere Aufmerksamkeit schenkte. Mehrmals berührte sie ihn, geradeso, als schnupperte oder leckte sie daran. Dann wandte die Wurzel sich zu Weddrin und schaute ihn an! Jedenfalls hatte er das Gefühl, dass sie ihn anschaute. Die Öffnung an ihrem oberen Ende war genau auf ihn gerichtet. Nach wenigen Augenblicken, die Weddrin wie eine Ewigkeit vorkamen, schob sie sich wie von unsichtbarer Hand aus dem feuchten Untergrund, bis sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Neugierig – ja, neugierig!, dachte Weddrin – unterzog sie anschließend jeden Quadratzentimeter des kleinen Swoon-Körpers einer genauen Untersuchung. Dem Auftragskiller lief ein Schauer über den Rücken, als das merkwürdige Etwas ihm für einen Moment genau in die Augen starrte. Als die Wurzel schließlich seine Wunde erblickte, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Millitontas lang verharrte sie so, dann näherte sie sich langsam dem Blubbern der Arterie. Interessiert betrachtete sie, wie mit jedem Schlag von Weddrins kleinem Herzen mehr Blut auf dem Dschungelboden landete. Als sie nur noch Millimeter von der Wunde entfernt war, wurde sie plötzlich von einem Schwall Blut bespritzt, und Weddrin konnte sehen, wie mehrere Tropfen in das Loch an ihrem Ende hineinliefen. Ein heftiges Zittern durchlief die Wurzel. Wenn Weddrin nicht sicher gewesen wäre, dass es sich um eine Pflanze handelte, hätte er geglaubt, es mit einem intelligenten Wesen zu tun zu haben. Die Wurzel wirkte auf ihn jetzt geradezu erregt. Auf einmal kam Leben in den Dschungel. Wie aus dem Nichts schossen weitere Wurzeln aus dem Boden und umringten Weddrin wie eine Wand. Mehrere schoben sich unter
Die Ruinen von Acharr und über seinen Körper und bildeten so einen engen Käfig. »Nedir! Leuff!«, schrie der Swoon. »Helft mir!« Doch niemand antwortete ihm. Als Weddrin sich zur Seite drehte, sah er, wie sich eine der Wurzeln gerade um seinen Armstumpf wickelte. Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn ab und brachte die Blutung zum Stillstand. Anschließend setzte sich die Höhle mitsamt ihm und der Leben rettenden Wurzel in Bewegung. Weddrin verfolgte, wie er eine große Strecke durch den Dschungel transportiert wurde. Umgestürzte Bäume und andere Hindernisse wurden von seinen seltsamen Trägern einfach beiseite geräumt, bis er auf einer Lichtung zum Stillstand kam. Sofort drang dem Swoon ein widerlicher Aasgeruch in die Nase. Durch das Wurzelwerk hindurch sah er einen unglaublich dicken, merkwürdig aussehenden Baum, der zwar viele Äste, aber keine Blätter hatte. Zwischen den Ästen hingen Gegenstände verschiedener Größe, die er jedoch nicht zu identifizieren vermochte. Plötzlich beugten sich zwei der Äste herab. Die Wurzeln zogen sich zurück, dafür umschlossen ihn nun die Zweige. Wie in einem Lift wurde er in die Höhe, gehoben, bis er sich irgendwo in der Mitte des Wipfels befand. Keine Millitonta später tauchte eine weitere Wurzel vor seinem Gesicht auf und schob sich, bevor er zu einer Reaktion fähig gewesen wäre, tief in seinen Rachen. Instinktiv wollte der Swoon sie ausspucken und sich zur Seite drehen, doch das Nest aus Zweigen umklammerte ihn eisern. Eine süße Flüssigkeit strömte in seinen Rachen. Weddrin erkannte, dass es sich um eine Art Nährstofflösung handeln musste. Als er die Zähne zusammenbiss und dabei die Wurzel berührte, hörte die Zufuhr sofort auf als er den Kiefer wieder öffnete, begann sie von neuem. Heiliges Swoofon!, dachte Weddrin fassungslos. Will mich dieses Ding etwa retten? Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn ihn die Pflanze ernährte und die Wunde ab-
47 drückte, bis sie verheilt war, würde er vielleicht doch überleben! Doch er irrte sich. Als er nach einigen Stunden wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war, schob sich eine dritte Wurzel in das Geflecht aus Zweigen. Zielsicher hielt sie auf Weddrins inzwischen teilweise verkrustete Wunde zu – und schoss mit einer blitzschnellen Bewegung mitten in seine verletzte Arterie! Der Schrei des Swoon war lang und schrill. Die Schmerzen, die er jetzt verspürte, waren die schlimmsten seines Lebens, aber nicht halb so schrecklich, wie die Kälte, die ihn plötzlich durchströmte. Mit seltsamer Klarheit spürte er, wie die eine Wurzel die Umklammerung seines Armstumpfs löste und die andere das ausströmende Blut in sich aufnahm. Nur einige Herzschläge lang saugte sie an ihm, dann wurde die Blutung wieder abgeklemmt. Weddrin hatte den Eindruck gehabt, als wären es Jahre gewesen. In seiner Verzweiflung warf der Swoon irre Blicke in die Runde. Vielleicht fand er ja irgendwo etwas, das ihn aus der tödlichen Situation, in der er sich befand, befreite. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, wie er … Sein Blick blieb an einem der vielen merkwürdigen Objekte hängen, die sich mit ihm im Baumwipfel befanden. Das letzte bisschen Hoffnung platzte wie eine Seifenblase. Der Gegenstand war wie er in ein dichtes Gewirr aus Wurzeln und Zweigen eingewickelt. Er war auch ungefähr so groß wie Weddrin. Und genauso grün. Weddrin würgte seinen gesamten Mageninhalt in einem einzigen Schwall hoch, als er Nedir erkannte. Sein Partner war ebenfalls gefangen. Weddrin zwang sich, nicht zu Nedir zu sehen, weil er so sein eigenes Leid erblickt hätte. Also betrachtete er das Objekt daneben und entdeckte Leuff. Ihre Anführerin hing reglos zwischen den blattlosen Zweigen, wo gleich mehrere Wurzeln sie durchbohrten. Als Weddrin plötzlich heftigen Durst bekam, sich etwas in seinen Schlund bohrte
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und ihm wieder Nährflüssigkeit aus der Wurzel zugeführt wurde, begann der Swoon zu ahnen, dass ihm eine grausame Zeit bevorstand. Eine endlos lange und sehr grausame Zeit.
9. 25. Februar 1225 NGZ, Schwerer Jagdkreuzer TOSOMA Zerwühlte Wäsche auf unserem Bett. Das Keuchen zweier Leiber nach genussvollen Tontas. Eine unglaubliche Frau an meiner Seite. Ja, das Leben eines Unsterblichen konnte durchaus auch seine schönen Seiten haben. Wenigstens manchmal, wenn kein waghalsiger Auftrag oder mein Lästersinn mich störten. Li da Zoltral und ich hatten in den letzten Tontas alles gegeben, um eventuell noch bestehende Reste unseres Zerwürfnisses von Othmura zu beseitigen. Wir hatten beide den Eindruck, dass wir dabei recht erfolgreich gewesen waren, jedenfalls fühlten wir uns, abgesehen von unseren heftig pochenden Herzen, rundum gut und dachten nur noch an unsere gemeinsame Zukunft. Und an die letzten paar Tontas natürlich: »Ich habe etwas für dich.« Behutsam griff ich unter das Bett, wo ich mein Geschenk für sie aufbewahrt hatte, und hielt es ihr vor das Gesicht. »Eine Rose!« Li schnupperte an der leuchtend roten Blüte und lächelte erfreut. »Willst du mir etwa weismachen, dass du an Bord der TOSOMA welche züchtest?« »Nicht ganz. Ich habe sie von Dagurays Grab mitgenommen. Eine romantische Anwandlung. Auf einem Planeten, auf dem ich mich vor Jahren einige Zeit aufhielt, waren Rosen die Blumen der Liebe. Nachdem mir Zanargun Dagurays Lebensgeschichte erzählt hat, bereue ich meinen Diebstahl allerdings fast schon wieder.« Zärtlich legte Li die Rose auf den Nachttisch und presste sich an mich. »Ganz schön verrückt.«
»Was?« »Das mit uns. Vor ein paar Tagen war ich noch so verunsichert, und jetzt … Puh!« »Was war vor ein paar Tagen? Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Liebevoll knetete ich eine ihrer kleinen harten Brüste. Oh ja, mein Leben konnte wirklich schön sein! »Stell dich nicht dumm. Ich meine die Sache mit Altra.« »Altra? Wer ist Altra?« Albernes Kichern war die Folge. »Quatschkopf. Das ist der Kerl, an den du in letzter Zeit ununterbrochen gedacht und mit dem du dich ständig verglichen hast. Ich kenne euch Männer doch! Ihr steht doch ständig im Wettbewerb mit allen anderen.« »Immer diese Vorurteile. Ich hoffe, du fängst jetzt nicht auch noch an, Noten zu verteilen.« »Hab ich es nicht gesagt? Aber gut, in welcher Maßeinheit hättest du die Lobhudelei auf deine intergalaktischen Fähigkeiten denn gern?« »Lass uns lieber den Wein vergleichen. Da kommst du bei einer falschen Bewertung nicht so schnell in Verlegenheit.« Neben uns standen zwei Flaschen Nettoruna, die ich vorsorglich bereitgestellt hatte. Mit den Jahrtausenden bekam man Erfahrung darin, wie das Ambiente einer Liebesnacht auszusehen hatte, und ein Nettoruna passte ganz hervorragend. Ich schenkte jedem von uns zwei Gläser ein, je eines vom 1156er und eines vom 1161er. Dann stießen wir an. Auf unser Glück. Auf unsere Liebe. Auf das Schicksal, das uns zusammengeführt hatte. Lis rubinrote Augen funkelten wie gleißende Sonnen vom Spektraltyp Hingabe, und ich war fasziniert von der unglaublichen Wärme, die sie ausstrahlten. »Mmmh, ein edler Tropfen«, raunte ich. »Auf Arkon versteht man etwas vom Weinbau.« »Dito! Selten so etwas Hervorragendes getrunken.« Ihr keckes Lächeln trieb mir fast die Schamesröte ins Gesicht. Wir tauschten die Gläser und stellten fest,
Die Ruinen von Acharr dass der 1161er ebenfalls exzellent schmeckte. Beide Weine waren zwar völlig unterschiedlich, aber dennoch absolut gleichwertig. Ein Nettoruna eben. Es gab ihn nur auf Arkon I, wo er im Süden Laktranors, des Äquatorialkontinents der Kristallwelt, angebaut wurde. Mir ging unsere erste Begegnung durch den Sinn, mein Besuch auf der Museumsinsel, als ich Lis Einladung gefolgt war … der Überfall … der Raub des Krish'un … die Spuren, die Epetran in Omega Centauri hinterlassen hatte … und nicht zuletzt die Killer, die hinter uns her gewesen waren. Nie hätte ich gedacht, dass es sich ausgerechnet um Swoon handelte. Aber sie waren nur ausführende Organe gewesen. »Dir ist klar, dass deine Familie in die Vorgänge verwickelt ist?«, sagte ich. »Die Anwesenheit des Arkoniden aus Crest-Tharos Umgebung auf Acharr lässt keinen anderen Schluss mehr zu. Das Oberhaupt meines Khasurns treibt Dinge, die es aufzudecken gilt. Ich hoffe, du glaubst mir, dass ich keine Ahnung davon hatte.« »Ich habe nicht die geringsten Zweifel an dir.« Das stimmte sogar, obwohl mir ihre seltsamen Aussetzer und Visionen immer mehr zu denken gaben. »Es fragt sich nur, wo wir am besten ansetzen sollen.« »Die da Zoltrals müssen eine Basis in diesem Kugelsternhaufen haben. Die vier Schiffe sind jedenfalls nicht eben mal von Arkon hierher geflogen, sie lauerten in einem Hangar auf uns. Ich gehe davon aus, dass sie innerhalb Omega Centauris losgeschickt wurden. Nur so konnten sie schon lange vor uns auf Acharr sein.« »Was schlägst du also vor?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. »Wir müssen uns in den drei Reichen umsehen, die hier von Lemurer-Abkömmlingen gegründet wurden. Die Auswertung der Funkgespräche hat genügend Hinweise gegeben, wo sie liegen. Wenn Crest-Tharo logisch denkt, dann wird er sich bei den schwierigen Verhältnissen in Omega Centauri Verbündete gesucht haben. Und zwar
49 bestimmt keine Mograks.« Vorsicht!, meldete sich mein Extrasinn. So wahrscheinlich diese Vorgehensweise eurer Gegner ist, so gefährlich ist sie auch für euch. Ihr begebt euch in die Höhle des Löwen! Sollen wir besser umdrehen und nach Hause fliegen?, wandte ich höhnisch ein. Ihr wisst noch viel zu wenig, um euch hier irgendwo sicher fühlen zu können. Ihr dürft euch auf keinen Fall zum wichtigsten der drei Reiche begeben. Vielleicht hat es seine Bedeutung nur aufgrund einer Einmischung von außen erreicht. Richte dich nach den bekannten Ergebnissen der Ortung, aber wähle nicht die Nummer eins! Ich gab Li einen Kuss auf ihren verführerischen Mund, dann rief ich: »Interkom zur Zentrale, aber ohne Holo!« Die Verbindung stand innerhalb kürzester Zeit. »Was gibt's, Patenonkel? Warum so geheimnisvoll?« Altras Stimme klang völlig normal und genauso, wie sie vor den Exzessen auf Othmura geklungen hatte. Anscheinend war wirklich alles wieder in bester Ordnung, und wir konnten wieder normal miteinander umgehen. »Meine neidische Miene würde euch nur den Spaß verderben. Bestimmt sitzt ihr doch alle beieinander und feiert euren Husarenritt.« »Worauf du dich verlassen kannst! Cisoph Tonk macht Armdrücken mit AgirIbeth, und Zuunarik spielt Schiedsrichter. Es werden noch Wetten angenommen – wenn du also möchtest …« »Nein danke!«, lehnte ich lachend ab. »Wenn Tonk versagt, muss ich unseren Kleinen vielleicht noch länger mit seinem vollen Namen ansprechen. Aber damit ihr wieder etwas Ordentliches zu tun bekommt, habe ich ein neues Ziel festgelegt, das ihr, wenn es eure kostbare Zeit erlaubt, mit der TOSOMA ansteuern sollt.« Altra wurde sofort hellhörig. »Wohin soll's denn gehen?« »Berechne den Kurs zum Tamanium Shahan. Ich will so schnell wie möglich dort
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sein.« Ich unterbrach die Verbindung, bevor Altra mich länger von Li abhalten konnte. »Sagtest du eben so schnell wie möglich?« Lis Ohren waren offenbar keinen Deut schlechter als ihre Fähigkeiten, mich mit ihren vollendeten Formen in den Wahnsinn zu treiben. »Keine Bange, uns bleiben noch über einhundert Lichtjahre«, sagte ich lächelnd. »Dafür werden wir wegen der hyperphysikalischen Verhältnisse in Omega Centauri
mindestens einen ganzen Tag benötigen.« »Ein Tag? Und du glaubst, das reicht, um mich zufrieden zu stellen? Du scheinst tatsächlich langsam alt zu werden. Vielleicht sollte ich mir doch einen jüngeren …« Mit sanfter Gewalt zog ich ihren durchtrainierten Körper an mich.
ENDE
Atlan ist es tatsächlich gelungen, sich auf der Tabuwelt Acharr zu einer Station der alten Lemurer durchzuschlagen und wertvolle Informationen zu sammeln. Nicht einmal ein Killerkommando der Swoon konnte ihn davon abhalten. Sein nächstes Ziel ist das Tamanium Shahan, ein lemurisches Reich, in dem gespenstische Psychospiele auf ihn warten. FRAGMENTE DER EWIGKEIT So lautet der Titel des nächsten Bandes, der in vierzehn Tagen erscheint. Als Verfasser zeichnet PERRY RHODAN-Autor Hubert Haensel.