Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 1982183
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Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 1982183
Aus dem Französischen von Jürgen Sehröder
Suhrkamp
Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 1982!8]
Aus dem Französischen von Jürgen Sehröder
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
Le gouvernement de soi et des autres Coursau College de France
(Ig82-1983)
© Editions du Seuil und Editions Gallimard 2008 Diese Ausgabe wurde unter der Leitung von Franqois Ewald und Alessandro Fontana von Frederic Gros herausgegeben Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur Centre National du Livre und der Maison des Seiences de I'Homme, Paris
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/Idnb.d -nb.de abrufbar.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany Erste Auflage 2009
ISBN 978-3-5 r8-58 537-5 I 2 3 4 5 6
-
14 IJ
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IO 09
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Vorlesung r (Sitzung vom 5-Januar 1 98 3 , erste Stunde)
I3
Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar I9 8 3 , zweite Stunde)
43
Vorlesung 2 (Sitzung vom I2. Januar I98 3 , erste Stunde) Vorlesung 2 (Sitzung vom I2. Januar I98 3 , zweite Stunde) Vorlesung 3 (Sitzung vom 1 9 . Januar 1 9 8 3 , erste Stunde)
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Vorlesung 3 (Sitzung vom 1 9 . Januar 1 98 3 , zweite Stunde) . .
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0
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Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar I983, erste Stunde) Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar r 9 8 3 , zweite Stunde)
IJI I49
•
•
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar I98 3 , erste Stunde) . . .
•
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Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar I98 3 , zweite Stunde) . . .
•
0
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. .
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I73
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I94
. .
22I
.
.
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9· Februar I98 3 , erste Stunde) . . . . . . . Vorlesung 6 (Sitzung vom 9· Februar I98 3 , zweite Stunde)
104
.
.
. . .
23 8 266
Vorlesung 7 (Sitzung vom r6. Februar
1983,
erste Stunde)
Vorlesung 7 (Sitzung vom
16.
Februar 1983, zweite Stunde)
311
Vorlesung 8 (Sitzung vom
23.
Februar
198 3,
erste Stunde)
327
Vorlesung 8 (Sitzung vom
23.
Februar
1983,
zweite Stunde)
35 9
Vorlesung 9 (Sitzung vom
2.
März
1983,
erste Stunde)
37 5
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1983, zweite Stunde) Vorlesung ro (Sitzung vom 9· März
1983,
erste Stunde)
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9· März
1983,
zweite Stunde)
447
Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen
471
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .
49 r
.
496 5 01
Vorwort
Michel Foucault hat am College de France von Januar I97I bis zu seinem Tod im Juni I984 gelehrt, mit Ausnahme des Jahres I977, seinem Sabbatjahr. Sein Lehrstuhl trug den Titel: »Ge
schichte der Denksysteme«. Dieser wurde am 30. November I969 auf Vorschlag von Jules Vuillemin von der Generalversammlung der Professoren des College de France an Stelle des Lehrstuhls der >> Geschichte des philosophischen Denkens« eingerichtet, den Jean Hippolyte bis zu seinem Tod innehatte. Dieselbe Versammlung wählte Michel Foucault am I2. April I970 zum Lehrstuhlinhaber. 1 Er war 43 Jahre alt. Michel Foucault hielt seine Antrittsvorlesung am 2. Dezember I970.2
Der Unterricht am College de France gehorcht besonderen Regeln: Die Professoren sind verpflichtet, pro Jahr 26 Unter richtsstunden abzuleisten (davon kann höchstens die Hälfte in Form von Seminarsitzungen abgegolten werden).3 Sie müssen jedes Jahr ein neuartiges Forschungsvorhaben vorstellen, wo durch sie gezwungen werden sollen, j eweils einen neuen Un terrichtsinhalt zu bieten. Es gibt keine Anwesenheitspflicht für die Vorlesungen und Seminare; sie setzen weder ein Aufnah meverfahren noch ein Diplom voraus. Und der Professor stellt auch keines aus.4 In der Terminologie des College de France I
Michel Foucault hatte für seine Kandidatur ein Plädoyer unter folgen der Formel abgefaßt: »Man müßte die Geschichte der Denksysteme un ternehmen<< (»Titre et Travaux <<, in: Dits et Ecrits, I9 5 4- I 988, hg. v. Da nie! Defert und Fran'rois Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Paris I994, B d. I, I964 -I969, S. 842-846, bes. S. 846; dt. »Titel und Arbeiten<<, in: ders., D its et Ecrits. Schriften, Bd. I, I9 54- I 969, Frankfurt/Main 2ooi, S. 1 069- I 075, bes. S. I074 f.). 2 I n der Editions Gallimard im März I 97I unter dem Titel L'Ordre du dis cours (Die Ordnung des Diskurses) publiziert. 3 Was Michel Foucau!t bis Anfang der 8oer Jahre machte. 4 Im Rahmen des College de France.
heißt das: Die Professoren haben keine Studenten, sondern Hörer. Die Vorlesungen von Michel Foucault fanden immer mitt wochs statt, von Anfang Januar bis Ende März. Die zahlreiche Hörerschaft aus Studenten, Dozenten, Forschern und Neugie rigen, darunter zahlreiche Ausländer, füllte zwei Amphitheater im College de France. Michel Foucault hat sich häufig über die Distanz zwischen sich und seinem Publikum und über den mangelnden Austausch beschwert, die diese Form der Vorle sung mit sich brachte. 5 Er träumte von Seminaren als dem Ort echter gemeinsamer Arbeit. Er machte dazu verschiedene An läufe. In den letzten Jahren widmete er gegen Ende � einer Vor lesungen immer eine gewisse Zeit dem Beantworten von Hö rerfragen. Ein Journalist des Nouvel Observateur, Gerard Petitjean, gab die Atmosphäre 1975 mit folgenden Worten wieder: »Wenn Foucault die Arena betritt, eiligen Schritts vorwärtspreschend, wie jemand, der zu einem Kopfsprung in s Wasser ansetzt, steigt er über die Sitzenden hinweg, um zu seinem Pult zu ge langen, schiebt die Tonbänder beiseite, um seine Papiere ab zulegen, zieht sein Jackett aus, schaltet die Lampe an und legt los, mit hundert Stundenkilometern. Mit fester und durchdrin gender Stimme, die von Lautsprechern übertragen wird, als einzigem Zugeständnis an die Modernität eines mit nur einer Lampe erhellten Saals, die ihren Schein zum Stuck hochwirft. Auf dreihundert Sitzplätze pferchen sich fünfhundert Leute, saugen noch den letzten Freiraum auf . . . Keinerlei rhetorische Zugeständnisse. Alles transparent und unglaublich effizient. Nicht das kleinste Zugeständnis an die Improvisation. Fou5
Michel Foucault verlegte 1 976 in der- vergeblichen- Hoffnung, die Hörerschaft zu reduzieren, den Vorlesungsbeginn von 17 Uhr 45 am späten Nachmittag auf 9 Uhr morgens. Vgl. den Anfang der ersten Vor lesung (am 7.}anuar 1976) von »Il faut defendre Ia societe«. Cours au College de France (1975-76), unter der Leitung von Franc;ois Ewald und Alessandro Fontana hrsg. von Mauro B ertani und Alessandro Fontana, Paris 1 997 [dt. von M. Ott: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesun gen am College de France ( 1 9 7 5 -76), Frankfurt/Main 1 999].
cault hat pro Jahr zwölf Stunden, um in öffentlichem Vortrag den Sinn seiner Forschung des zu Ende gehenden Jahres zu er klären. Daher drängt er alles maximal zusammen und füllt die Randspalten, wie j ene Korrespondenten, die noch immer aller hand zu sagen haben, wenn sie längst am Fuß der Seite ange kommen sind. r 9 Uhr r 5 . Foucault hält inne. Die Studenten stürzen zu seinem Pult. Nicht um mit ihm zu sprechen, son dern um die Kassettenrekorder abzuschalten. Niemand fragt etwas. In dem Tohuwabohu ist Foucault allein. « Und Foucault dazu: »Man müßte über das von mir Vorgestellte diskutieren. Manchmal, wenn die Vorlesung nicht gut war, würde ein Weni ges genügen, eine Frage, um alles zurechtzurücken. Aber diese Frage kommt nie. In Frankreich macht die Gruppenbindung j ede wirkliche Diskussion unmöglich. Und da es keine Rück koppelung gibt, wird die Vorlesung theatralisch. Ich habe zu den anwesenden Personen eine Beziehung wie ein Schauspieler oder Akrobat. Und wenn ich aufhöre zu sprechen, die Empfin dung totaler Einsamkeit.«6 Michel Foucault ging seinen Unterricht wie ein Forscher an: Erkundungen für ein zukünftiges Buch, auch Rodungen für zu problematisierende Felder, die sich wie Einladungen an wer dende Forscher anhörten. Auf diese Weise verdoppeln die Vor lesungen im College nicht die veröffentlichten Bücher. Sie neh men diese nicht skizzenartig vorweg, auch wenn die Themen der Vorlesungen und Bücher die gleichen sind. Sie haben ihren eigenen Status und ergeben sich aus dem Einsatz eines be stimmten Diskurses im Gesamt der von Michel Foucault er stellten »philosophischen Akten« . Er breitet darin insbeson dere das Programm einer Genealogie der B eziehungen von Wissen und Macht aus, im Hinblick auf welche er seine Ar beit - im Gegensatz zu der einer Archäologie der Diskursfor mationen, die sie bisher angeleitet hatte - reflektieren wird.7 6 Gerard Petitjean, »Les Grands Pretres de l'Universite fran�aise<<, Le Nouvel Observateur, 7· April 197 5 . 7 Vgl. insb. »Nietzsche, die Genealogie, die Historie<<, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Bd.II, 1970-I97 5 , Frankfurt/Main 2002, S. r66-r9r.
Die Vorlesungen hatten auch ihre Funktion innerhalb des Zeit geschehens. Der Hörer, der ihnen folgte, wurde nicht nur von der Erzählung, die Woche für Woche weitergestrickt wurde, eingenommen; er wurde nicht nur durch die Stringenz des Vor trags verführt; er fand darin auch eine Erhellung der Tageser eignisse. Die Kunst Michel Foucaults bestand in der Durch querung des Aktuellen mittels der Geschichte. Er konnte von Nietzsche und Aristoteles sprechen, von psychiatrischen Gut achten des 1 9 . }ahrhunderts oder der christlichen Pastoral, der Hörer bezog daraus immer Einsichten in gegenwärtige und zeitgenössische Ereignisse. Michel Foucaults Stärke lag bei die sen Vorlesungen in dieser subtilen Verbindung von Gelehr samkeit, persönlichem Engagement und einer Arbeit am Er eigms. Die in den 7oer Jahren entwickelten und perfektionierten Kas settenrekorder haben das Pult von Michel Foucault in Windes eile erobert. Auf diese Weise wurden die Vorlesungen (und ge wisse Seminare) aufbewahrt. Diese Ausgabe hat das öffentlich vorgetragene Wort von Mi chel Foucault zum Referenten. Sie bietet dessen möglichst wortgetreue Nachschrift.8 Wir hätten es gerne als solches wiedergegeben. Aber die Umwandlung des Mündlichen ins Schriftliche verlangt den Eingriff des Herausgebers: Zumindest eine Zeichensetzung muß eingeführt und das Ganze in Para graphen unterteilt werden. Das Prinzip war indes, so nah wie möglich an der tatsächlich vorgetragenen Vorlesung zu blei ben. Wenn es unabdingbar erschien, wurden Wiederaufnahmen und Wiederholungen weggelassen; unvollendete Sätze wurden zu Ende geführt und unrichtige Konstruktionen berichtigt. Auslassungspunkte zeigen an, daß die Aufzeichnung unver ständlich ist. Wenn der Satz unverständlich ist, haben wir in ek8 Insbesondere sind die von Gerard Burlet und Jacques Lagrange erstell ten Tonbandaufnahmen verwendet worden, die auch beim College de France und beim IMEC (Institut Memoires de !'Edition contemporaine) deponiert sind. 10
kigen Klammern das vermutete Fehlende eingefügt oder er gänzt. Ein Sternchen am Fuß der Seite gibt die signifikanten Abwei chungen der Aufzeichnungen Michel Foucaults vom Vorgetra genen wieder. Die Zitate wurden überprüft und die verwendeten Textbezü ge angegeben. Der kritische Apparat beschränkt sich darauf, dunkle Punkte zu erhellen, gewisse Anspielungen zu erläutern und kritische Punkte zu präzisieren. Um die Lektüre zu erleichtern, wurde jeder Vorlesung eine Zu sammenfassung vorangestellt, die die Schwerpunkte der Aus führungen angibt. Dem Vorlesungstext folgt deren Zusammenfassung, wie sie im Jahresbericht des College de France abgedruckt wurde. Michel Foucault redigierte sie im allgemeinen im Juni, also einige Zeit nach B eendigung der Vorlesung. Für ihn war das eine gute Ge legenheit, im nachhinein deren Intention und Ziele herauszu arbeiten. Sie ist deren beste Präsentation. Jeder Band wird mit einer >>Situierung« abgerundet, für die der Herausgeber verantwortlich zeichnet: Darin sollen dem Leser Hinweise zum biographischen, ideologischen und politischen Kontext geliefert, die Vorlesung in das veröffentlichte Werk eingeordnet und Hinweise hinsichtlich ihrer Stellung inner halb des verwendeten Korpus gegeben werden, um sie leichter verständlich zu machen und Mißverständnisse zu vermeiden, die sich aus dem Vergessen der Umstände, unter welchen jede der Vorlesungen erarbeitet und gehalten wurde, ergeben könn ten. Die Vorlesung des Jahres 1982/83 wird von Frederic Gros herausgegeben. Mit dieser Ausgabe der Vorlesungen des College de France wird eine neue Seite des »Werks<< von Michel Foucault publiziert. Es geht im eigentlichen Sinn nicht um Unveröffentlichtes, da diese Ausgabe das öffentlich von Michel Foucault vorgetragene Wort wiedergibt und die Textstütze, auf die er zurückgriff und die unter Umständen sehr ausgefeilt war, vernachlässigt. Daniel II
Defert, der die Aufzeichnungen von Michel Foucault besitzt, hat den Herausgebern Einsichtnahme in sie gewährt. Wir sind ihm dafür zu großem Dank verpflichtet. Diese Ausgabe der Vorlesungen am College de France wurde von den Erben Michel Foucaults autorisiert, die der großen Nachfrage in Frankreich wie anderswo entgegenzukommen suchten. Und das unter unbestreitbar ernsthaften Vorausset zungen. Die Herausgeber suchten dem Vertrauen, das in sie ge setzt wurde, zu entsprechen.
Franrois Ewald und Alessandro Fontana
Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar I 98 3, erste Stunde)
Methodische Bemerkungen. - Studium des Kanttextes: »Was ist Aufklä rung?« - Veröffentlichungsbedingungen: die Zeitschriften. - Die Begeg nung zwischen der christlichen Aufklärung und der jüdischen Haskala: die Gewissensfreiheit. - Philosophie und Gegen'(;)art. - Das Problem der Revo lution. - Die beiden kritischen Nachkommenschaften.
Als erstes möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich für Ihre treue Anwesenheit empfänglich bin. Ich möchte Ihnen auch sagen, daß die Veranstaltung einer solchen Vorlesung immer etwas schwierig ist, weil Rückmeldungen und Diskussionen nicht vorgesehen sind und weil man auch nicht weiß, ob das, was man zu sagen hat, bei denen, die mit einer Arbeit beschäftigt sind, auf Widerhall stößt, ob es ihnen Möglichkeiten des Nach denkens und der Arbeit eröffnet. Andererseits wissen Sie auch, daß man in dieser Institution, in der die Dienstvorschriften äu ßerst liberal sind, nicht berechtigt ist, ein geschlossenes Semi nar zu veranstalten, das bloß einigen Hörern vorbehalten wäre. So etwas werde ich also dieses Jahr nicht tun. Was mir jedoch vorschwebt, und zwar nicht so sehr für Sie, sondern eher aus egoistischen Gründen für mich, ist die Möglichkeit, außerhalb der Vorlesung und in diesem Sinne Off-Broadway diejenigen von Ihnen zu treffen, die möglicherweise über die Gegenstän de diskutieren könnten, die ich dieses Jahr behandle oder die ich früher an einem anderen Ort behandelt habe. Bevor wir j e doch diese kleine Gruppe einrichten oder zumindest jene klei nen informellen und außerhalb der Vorlesung und der eigent lichen Institution stattfindenden Treffen veranstalten können, wäre es vielleicht gut, noch ein bis zwei Sitzungen abzuwarten. Entweder nächste Woche oder in vierzehn Tagen werde ich Ih nen Zeit und Ort vorschlagen. B edauerlicherweise kann ich diesen Vorschlag nicht allen machen, weil wir uns sonst in der selben Situation wie j etzt befänden. Aber diejenigen unter Ih nen, die mit einer konkreten Arbeit im akademischen Rahmen 13
befaßt sind und die gerne Möglichkeiten zur Diskussion hät ten, möchte ich noch einmal fragen, ob wir uns an einem Ort treffen sollen, den ich Ihnen vorschlagen werde. Ich möchte abermals betonen, daß damit das Publikum in seinem weite sten Umfang nicht ausgeschlossen werden soll. Vielmehr hat es, wie jeder französische Staatsbürger, ein unbedingtes Recht darauf, aus dem Unterricht, der hier stattfindet, Nutzen zu zie hen. Die diesjährige Vorlesung wird wohl etwas zerfahren und zer splittert sein. Ich möchte gerne bestimmte Themen wieder auf nehmen, die mir im Laufe der letzten Jahre - ich würde sogar sagen der letzten zehn oder auch zwölf Jahre, die ich hier ge lehrt habe - begegnet sind und die ich zur Sprache gebracht habe. Zum Zwecke der allgemeinen Orientierung möchte ich Sie bloß an einige davon erinnern. Dabei will ich nicht behaup ten, daß es sich um Themen oder Prinzipien handelt, sondern um einige Anhaltspunkte, die mich bei meiner Arbeit geleitet haben. In dem umfassenden Projekt, das unter dem Zeichen, wenn nicht gar unter der Ü berschrift einer » Geschichte des Den kens«1 steht, sah ich mein Problem darin, etwas zu tun, das sich ein bißchen von dem unterscheidet, was die meisten Ideenge schichtler völlig zu Recht praktizieren. Jedenfalls wollte ich mich durch zwei Methoden absetzen, die beide übrigens eben falls völlig legitim sind. Zunächst wollte ich mich abgrenzen gegen das, was man Mentalitätsgeschichte nennen könnte und was tatsächlich auch so genannt wird. Diese Geschichte er streckt sich, schematisch betrachtet, von der Verhaltensanalyse bis zu den Ä ußerungen, die dieses Verhalten begleiten. Diese Äußerungen können dem Verhalten vorhergehen, sie können ihm nachfolgen, es übersetzen, es vorschreiben, es verstellen, es rechtfertigen usw. Andererseits wollte ich mich auch von dem absetzen, was man eine Geschichte der Vorstellungen oder der Vorstellungssysteme nennen könnte, d. h. eine Geschichte, die zwei Ziele haben könnte bzw. tatsächlich haben sollte. Das eine wäre die Analyse der Vorstellungsfunktionen. Unter >>Analyse
der Vorstellungsfunktionen« verstehe ich die Analyse der Rol le, die diese Vorstellungen spielen können, und zwar entweder im Hinblick auf das vorgestellte Obj ekt oder im Hinblick auf das vorstellende Subj ekt - sagen wir, eine Art Ideologieanalyse. Der andere Pol einer möglichen Analyse der Vorstellungen scheint mir dann in der Analyse der Vorstellungswerte eines Vorstellungssystems zu bestehen, d. h. in der Analyse der Vor stellungen in Abhängigkeit von einer Erkenntnis - d. h. eines Erkenntnisinhalts oder einer Regel, einer Erkenntnisform -, betrachtet als Wahrheitskriterium oder zumindest als Anhalts punkt für die Wahrheit, auf die hin man den Vorstellungswert dieses oder j enes Gedankensystems, verstanden als System von Vorstellungen eines bestimmten Gegenstands, bestimmen kann. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten also, zwischen diesen beiden Themen (der Mentalitätsgeschichte und der Vor stellungsgeschichte), habe ich versucht, eine Geschichte des Denkens zu schreiben. Und mit »Denken« meinte ich eine Analyse dessen, was man die Brennpunkte der Erfahrung nen nen könnte, an denen sich die einen gegenüber den anderen ar tikulieren: An erster Stelle stehen hier die Formen eines mögli chen Wissens; zweitens die normativen Verhaltensmatrizen der Individuen; und schließlich virtuelle Existenzmodi für mögli che Subjekte. Diese drei Elemente - Formen des möglichen Wissens, normative Verhaltensmatrizen, virtuelle Existenzmo di möglicher Subj ekte -, das sind die drei Dinge oder vielmehr ist es die Gliederung dieser drei Dinge, die man »Brennpunkte der Erfahrung« nennen kann. Jedenfalls habe ich vor langer Zeit versucht, aus dieser Per spektive so etwas wie den Wahnsinn zu analysieren/ wobei ich den Wahnsinn überhaupt nicht als einen Gegenstand betrach tete, der sich im Laufe der Geschichte nicht verändert und an den sich eine Reihe von Vorstellungssystemen mit variablen Vorstellungsfunktionen und -werten geheftet hätten. Diese Geschichte des Wahnsinns war für mich auch keine Weise, die Einstellung zu untersuchen, die man über die Jahrhunderte hinweg zum Wahnsinn hatte. Vielmehr ging es um den Ver15
such, den Wahnsinn als Erfahrung innerhalb unserer Kultur zu untersuchen, den Wahnsinn als einen Ausgangspunkt zu erfas sen, von dem aus sich eine Reihe mehr oder minder heteroge ner Erkenntnisse bildete, deren Entwicklungsformen zu unter suchen waren: der Wahnsinn als Wissensmatrix, als Matrix von Erkenntnissen, die dem eigentlich medizinischen Typus, aber auch einem spezifisch psychiatrischen, psychologischen, so ziologischen usw. Typus zugehören können. Zweitens war der Wahnsinn, insofern er selbst eine Form des Wissens ist, auch eine Gesamtheit von Normen, die den Wahnsinn als Phäno men der Abweichung innerhalb einer Gesellschaft und außer dem als Verhaltensnormen von Individuen im Verhältnis zu diesem Phänomen als auch im Verhältnis zum Wahnsinnigen selbst zu bestimmen erlaubten, und zwar sowohl im Hinblick auf das Verhalten der normalen Individuen als auch der Ärz te, des psychiatrischen Personals usw. Schließlich drittens: die Untersuchung des Wahnsinns, insofern die Erfahrung des Wahnsinns die Verfassung eines bestimmten Seinsmodus des normalen Subjekts gegenüber und im Verhältnis zu einem wahnsinnigen Subj ekt bestimmt. Diese drei Aspekte, diese drei Dimensionen der Erfahrung des Wahnsinns (als Form des Wis sens, als Verhaltensmatrix, als Verfassung von Seinsmodi des Subj ekts) habe ich mehr oder minder erfolgreich und wirksam versucht, miteinander zu verbinden. Man könnte sagen, daß die Arbeit, die ich im Anschluß daran unternommen habe, in einer schrittweisen Untersuchung jeder dieser drei Achsen bestand, um herauszufinden, welche Form die Ausarbeitung der Methoden und der Analysebegriffe an nehmen sollte, wenn man diese Dinge, diese Achsen untersu chen will, und zwar erstens als Dimensionen einer Erfahrung und zweitens, insofern sie miteinander verbunden werden soll ten. Die Untersuchung der Achse der Bildung von Erkenntnissen habe ich zunächst im Hinblick auf die empirischen Wissen schaften des 17. und I 8. Jahrhunderts, wie z. B. die Naturge schichte, die allgemeine Grammatik, die Ö konomie usw. zu I6
unternehmen versucht. Diese Wissenschaften waren für mich nur ein Beispiel für die Analyse der Bildung von Erkenntnis sen.3 Und hier hatte ich den Eindruck, daß, wenn man die Er fahrung tatsächlich als Matrix für die Bildung von Erkenntnis sen untersuchen wollte, man nicht die Entwicklung oder den Fortschritt des Wissens analysieren, sondern herausfinden mußte, was die Diskurspraktiken waren, welche Matrizen mög licher Erkenntnisse konstituieren konnten. In diesen Diskurs praktiken mußte man die Regeln, das Spiel des Wahren und des Falschen und, in groben Zügen, die Formen der Veridiktion untersuchen. Alles in allem ging es darum, die Achse der Ge schichte des Wissens in Richtung auf die Analyse der Erkennt nisse und der Diskurspraktiken zu verschieben, die die Matrix dieser Erkenntnisse organisieren und ausmachen, und diese Diskurspraktiken als geregelte Formen der Veridiktion zu un tersuchen. Diese Verschiebung von der Erkenntnis zum Wis sen, vom Wissen zu den Diskurspraktiken und zu den Regeln der Veridiktion habe ich eine gewisse Zeit zu beschreiben ver sucht. Zweitens ging es anschließend darum, die normativen Matri zen des Verhaltens zu analysieren. Und hier bestand die Ver schiebung nicht in der Untersuchung der Macht mit einem großen »M«, nicht einmal in der Analyse der Machtinstitu tionen oder der allgemeinen und institutionellen Formen der Herrschaft, sondern darin, die Techniken und Verfahren zu studieren, durch die man das Verhalten der anderen zu steuern versucht. Ich habe also versucht, die Frage nach der Verhal tensnorm zunächst in Begriffen der Macht, und zwar der aus geübten Macht, zu stellen und dann diese ausgeübte Macht als einen Bereich von Regierungsverfahren zu analysieren. Auch hier bestand die Verschiebung in Folgendem: im Ü bergang von der Analyse der Norm zur Analyse der Machtausübung; und im Ü bergang von der Analyse der Machtausübung zu den Ver fahren der Gouvernementalität. Hier habe ich dann das B ei spiel der Kriminalität und der Disziplinierungsmaßnahmen behandelt.4
Schließlich ging es drittens darum, die Achse der Verfassung des Seinsmodus des Subjekts zu untersuchen. Und hier be stand die Verschiebung darin, daß es mir schien, man müsse die verschiedenen Formen analysieren, durch die das Individuum dazu gelangt, sich selbst als Subjekt zu konstituieren, anstatt sich auf eine Theorie des Subjekts zu beziehen. Indem ich das B eispiel des Sexualverhaltens und der Geschichte der Sexual moral herausgriff,5 habe ich versucht zu verstehen, wie und aufgrund welcher konkreten Formen des Selbstverhältnisses das Individuum dazu gebracht wurde, sich als moralisches Subj ekt seines Sexualverhaltens zu konstituieren. Mit anderen Worten, auch hier ging es darum, eine Verschiebung zu be werkstelligen, und zwar von der Frage nach dem Subjekt zur Analyse der Formen der Subj ektivierung, und diese Formen der Subjektivierung anband der Techniken und Technologien des Selbstverhältnisses oder, wenn Sie so wollen, anband des sen zu untersuchen, was man die Pragmatik des Selbst nennen könnte. Die Ersetzung der Geschichte der Wissensformen durch die hi storische Analyse der Formen der Veridiktion, die Ersetzung der Geschichte der Herrschaft durch die historische Analyse der Verfahren der Gouvernementalität, die Ersetzung der Theo rie des Subjekts oder die Geschichte der Subjektivität durch die historische Analyse der Pragmatik des Selbst und der For men, die diese angenommen hat, das sind die verschiedenen Zu gangswege, auf denen ich versucht habe, die Möglichkeit einer Geschichte dessen näher zu bestimmen, was man >>Erfahrun gen« nennen könnte. Erfahrung des Wahnsinns, Erfahrung der Krankheit, Erfahrung der Kriminalität und Erfahrung der Se xualität, das sind Brennpunkte von Erfahrungen, die, so scheint mir, in unserer Kultur wichtig sind. Das ist also, wenn Sie so wollen, der Weg, den ich zu verfolgen versucht habe und den ich Ihnen ehrlicherweise zu rekonstruieren hatte, und sei es nur, um Rechenschaft abzulegen. Aber das haben Sie bereits gewußt.'� '' Das Manuskript enthält hier eine Ausführung, die Foucault in seine mündliche Vorlesung nicht aufnimmt: 18
»Welchen Sinn soll man diesem Unternehmen beimessen? Es sind vor allem seine •negativen< oder negarivistischen Aspekte, die auf den ersten Blick auffallen. Ein historisierender Negativismus, da es dar um geht, eine Theorie der Erkenntnis, der Macht oder des Subj ekts durch die Analyse bestimmter historischer Praktiken zu ersetzen. Ein nominalistischer Negativismus, da es darum geht, Universalien wie den Wahnsinn, das Verbrechen und die Sexualität durch die Analyse von Er fahrungen zu ersetzen, die singuläre historische Formen darstellen. Ein Negativismus mit nihilistischer Tendenz, wenn man darunter eine Re flexionsform versteht, die, anstarr Wertsysteme durch bestimmte Prakti ken zu indizieren, die jene zu messen gestatten, diese Wertsysteme in das Spiel von willkürlichen Praktiken einordnet, auch wenn diese versteh bar sind. Gegenüber diesen Einwänden oder, streng genommen, >Vorwürfen< muß man eine fest entschlossene Einstellung bewahren. Denn es handelt sich um >Vorwürfe<, d. h. um solche Einwände, denen gegenüber man, wenn man sich gegen sie verteidigt, fatalerweise das zugibt, was sie be haupten. Unter diesen verschiedenen Einwänden oder Vorwürfen nimmt man eine Art von stillschweigenden Vertrag über die theoretische Entscheidung an, einen Vertrag, in dem der Historizismus, der Nomina lismus und der Nihilismus von vornherein disqualifiziert sind: Niemand wagt es, sich als Vertreter einer solchen Position zu erklären, und die Falle besteht gerade darin, daß man nichts anderes tun kann, als eine Herausforderung abzuwehren, d. h. einzuwilligen . . . Es fällt jedoch auf, daß Historizismus, Nominalismus und Nihilismus natürlich schon immer als Einwände vorgebracht wurden und vor allem, daß die Form des Diskurses derart ist, daß man nicht einmal die Belege dafür geprüft hat. 1. Zur Frage des Historizismus: Was waren die Auswirkungen und was könnten die Auswirkungen der historischen Analyse im Bereich des historischen Denkens sein? 2. Zur Frage des Nominalismus: Was waren die Auswirkungen dieser nominalistischen Kritik auf die Untersuchung der Kulturen, des Wis sens, der Institutionen, der polirischen Strukturen? 3· Zur Frage des Nihilismus: Was waren die Auswirkungen des Nihilis mus, und was könnten sie im Hinblick auf die Annahme und die Um wandlung von Wertsystemen sein? Auf die Einwände, die die Disqualifiziertheit des Nihilismus/Nomina lismus/Historizismus behaupten, müßte man mit einer historizistisch nominalistisch-nihilistischen Analyse dieser Strömung antworten. Und damit meine ich: diese Form des Denkens nicht in ihrer universellen Sy stematizität aufzubauen und sie in B egriffen der Wahrheit oder des mo ralischen Werts zu rechtfertigen, sondern herauszufinden versuchen, wie sich dieses kritische Spiel, diese Form des Denkens herausbilden und entwickeln konnte. Für dieses Jahr steht eine solche Untersuchung au ßer Frage. Es geht nur darum, den allgemeinen Horizont abzustecken.« 19
Nachdem ich diese drei Dimensionen ein wenig erforscht hat te, stellte sich natürlich im Laufe j eder dieser Untersuchun gen - die ich übrigens etwas willkürlich systematisiere, weil ich sie im nachhinein glätte - heraus, daß ich eine Reihe von Din gen beiseite gelassen hatte, die mir aber gleichwohl interessant zu sein schienen und möglicherweise neue Probleme aufwar fen. Dieses Jahr möchte ich nun Wege, die ich schon erkundet habe, erneut begehen und eine Reihe von Punkten wiederauf nehmen: beispielsweise das, was ich Ihnen letztes Jahr im Hin blick auf die parrhesia, den wahren Diskurs im Rahmen der Politik, gesagt habe. Mir scheint, daß diese Untersuchung ei nerseits das Problern der Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen in den Blick stellte und gerrauer erkennen ließ, dann aber auch die Genese, die Ge nealogie, wenn schon nicht des politischen Diskurses im allge meinen, dessen wesentlicher Gegenstand die Regierung durch den Fürsten ist, so doch zumindest einer bestimmten Form des politischen Diskurses, der die Regierung des Fürsten zum Ge genstand hätte, die Regierung der Seele des Fürsten durch den Ratgeber, den Philosophen, den Pädagogen, der mit der Bil dung seiner Seele betraut ist. Der wahre Diskurs, der an den Fürsten und an seine Seele gerichtete Diskurs der Wahrheit: das wird eines meiner ersten Themen sein. Ich möchte auch die Dinge wiederaufnehmen, die ich vor zwei oder drei Jahren über die Regierungskunst im r6. Jahrhundert gesagt habe.6 Ich weiß noch nicht genau, was ich tun werde, aber ich möchte j ene Dossiers wiederaufnehmen, die offen geblieben sind. Ich sage >>Dossiers«, das ist ein etwas hochtrabender Ausdruck für diese Fährten, die ich einfach gekreuzt und überquert und die ich nur in schwachen Umrissen dargestellt habe. Ich möchte diese Woche nicht eigentlich mit einem Exkurs, sondern mit einer kleinen Inschrift beginnen. Ich möchte einen Text als Inschrift untersuchen, der sich vielleicht nicht genau innerhalb des Koordinatensystems befindet, auf das ich mich die meiste Zeit im Laufe dieses Jahres beziehen werde. Den noch scheint er mir auf gerraue Weise und in knappen Begriffen 20
eines der wichtigen Probleme zu formulieren und hervorzuhe ben, über das ich sprechen möchte, nämlich genau diese B ezie hung zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen. Andererseits scheint mir, daß er nicht einfach nur von diesem Thema handelt, sondern es außerdem auf eine solche Weise tut, daß ich - ohne größ ere b zw. mit ein bißchen Eitel keit - daran anknüpfen kann. Für mich ist dieser Text so etwas wie ein Wappen, ein Fetisch. Ich habe Ihnen schon mehrmals davon erzählt und möchte ihn heute etwas genauer ansehen. Dieser Text hat, wenn Sie so wollen, einerseits eine Beziehung zu dem, worüber ich spreche, und es wäre mir lieb, wenn ande rerseits die Art und Weise, wie ich über ihn spreche, auch eine bestimmte Beziehung zu ihm hätte. Dieser Text ist selbstver ständlich der von Kant, »Was ist Aufklärung ? « \'i?i e Sie wissen, wurde dieser Text i m September I7 84 von Kant geschrieben und in der Berlinischen Monatss chrift vom Dezem ber I784 veröffentlicht. In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst ganz kurz die Daten und B edingungen seiner Veröf fentlichung festhalten. An der Tatsache, daß Kant einen Text wie diesen in einer Zeitschrift veröffentlicht, ist überhaupt nichts Außergewöhnliches. Sie wissen, daß ein großer Teil sei ner theoretischen Aktivität darin bestand, in einer Reihe von Zeitschriften Aufsätze, Rezensionen und Repliken zu veröf fentlichen. In dieser Berlinischen Monatsschrift hatte er gerade im Monat zuvor, im November I784, einen Text veröffentlicht, der nach weiterer Ausarbeitung zur » Idee einer allgemeinen Ge schichte in weltbürgerlicher Absicht« wurde.7 Im Jahr darauf, r78 5, veröffentlicht er in derselben Zeitschrift seine »Bestim mung des Begriffs einer Menschenrasse«;8 I786 veröffentlicht er außerdem den »Mutmaßlichen Anfang der Menschheitsge schichte«.9 Im übrigen schreibt er auch in anderen Zeitschrif :en: in der Allgemeinen Literaturzeitung eine Rezension des Buchs von Herder; 1 0 im Teutschen Merkur I788 den Text » Ü ber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie«11 usw.
Den Ort der Veröffentlichung, d. h. eine Zeitschrift, muß man 21
aus folgendem Grund im Gedächtnis behalten. Wie Sie sehen werden, beinhaltet dieser Text über die Aufklärung als zentra len Begriff oder als Begriffsgefüge den Begriff der Ö ffentlich keit, des Publikums. Unter diesem Begriff des Publikums ver steht er erstens die konkrete, institutionelle oder zumindest instituierte Beziehung zwischen dem Schriftsteller (dem sach kundigen Schriftsteller, den man im Französischen mit »Sa vant<< übersetzt, dem Gelehrten, dem gebildeten Menschen) und dem Leser (der Leser im Sinne irgendeines Individuums). Die Funktion dieser Beziehung zwischen Leser und Schrift steller, die Analyse dieses Verhältnisses - die Bedingungen, un ter denen diese Beziehung instituiert und entwickelt werden kann und soll - wird die wesentliche Leitlinie seiner Analyse der Aufklärung bilden. In einem bestimmten Sinne ist die Auf klärung - ihr Begriff und die Weise, wie er ihn analysiert nichts anderes als das Explizieren dieser Beziehung zwischen dem Gelehrten (dem gebildeten Menschen, dem schreibenden Wissenschaftler) und dem Leser. Nun ist es ganz offensichtlich, daß in dieser Beziehung zwischen dem Schriftsteller . . . »es ist offensichtlich<<, nein, es ist nicht offensichtlich. Das Interessan te ist, daß diese Beziehung zwischen dem Schriftsteller und dem Leser - auf den Inhalt dieser Beziehung werde ich später zurückkommen, ich möchte hier nur seine B edeutung hervor heben - im 18. Jahrhundert offenkundig nicht so sehr über die Universität lief, und auch nicht so sehr über das Medium des Buches, sondern viel eher über j ene Ausdrucksformen, die zu gleich Formen intellektueller Gemeinschaften waren und in Zeitschriften und Gesellschaften oder in Akademien bestan den, die diese Zeitschriften veröffentlichten. Es sind diese Gesellschaften, diese Akademien und auch diese Zeitschriften, die auf konkrete Weise die Beziehung zwischen der Kompe tenz und dem Lesen in der freien und universellen Form der Verbreitung des geschriebenen Diskurses herstellen. Folglich stellen diese Zeitschriften, Gesellschaften und Akademien die j enige Instanz dar - welche, historisch betrachtet, im 18. Jahr hundert so wichtig war und welcher Kant so große Bedeutung
auch innerhalb seines Textes beimißt -, die jenem Begriff des Publikums entspricht. Das Publikum war selbstverständlich nicht das Hochschulpublikum, das sich erst im Laufe des r 9· Jahrhunderts mit der Neubildung der Universitäten kon stituiert. Dieses Publikum ist offenbar auch nicht diejenige Art ,·on Publikum, an die man denkt, wenn man soziologische Un tersuchungen der Medien in der Gegenwart anstellt. Das Pu blikum ist eine Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die durch die Existenz j ener Institutionen, nämlich der wissenschaftlichen Gesellschaften, der Akademien, der Zeitschriften begründet und gestaltet wurde und sich innerhalb dieses Rahmens be "·egt. Einer der relevanten Punkte des Textes und der Grund, warum es mir wichtig war zu erwähnen, daß er in einer solchen Zeitschrift veröffentlicht wurde, daß er ein Teil dieser Art von 1/eröffentlichung war, besteht darin, daß er den Begriff des Pu blikums, an das sich die Veröffentlichung richtet, ins Zentrum seiner Analyse stellt. Das war der erste Grund, weshalb ich den Kontext, diese Frage des Ortes und des Datums des Textes, hervorgehoben habe. Der zweite Grund, warum mir Ort und Datum so wichtig ware n, besteht natürlich darin, daß Mendelssohn auf dieselbe Frage >>Was ist Aufklärung ? « in derselben Zeitschrift, in der selben Berlinischen Monatsschrift, im September 1 784 geant w o rt et hatte. Aber tatsächlich hatte Kant, dessen Antwort erst im Dezember veröffentlicht wurde, keine Gelegenheit, Men delssohns Antwort, die im September erschienen war, als Kant g erade seinen eigenen Text zum Abschluß brachte, zu lesen. -�'ir haben also zwei Antworten auf dieselbe Frage, zwei gleichzeitige oder zeitlich kaum verschobene Antworten, von denen j edoch weder der eine noch der andere etwas wußte. Die Begegnung dieser beiden Texte von Mendelssohn und von Kant ist natürlich von Interesse. Nicht deshalb, weil gerade in diesem Augenblick oder aus diesem Grund, nämlich um gera de auf diese Frage zu antworten, die berühmte Begegnung, die in der Kulturgeschichte Europas so wichtig war, zwischen der philosophischen Aufklärung oder der Aufklärung des christ23
liehen Milieus und der Haskala 12 (der jüdischen Aufklärung) stattfand. Sie wissen, daß man die Begegnung zwischen der christlichen oder teilweise reformierten und der jüdischen Aufklärung der Bequemlichkeit halber auf gut dreißig Jahre zuvor, auf etwa 1750, sagen wir auf die Jahre r754-55, datieren kann, nämlich als Mendelssohn Lessing trifft. Mendelssohns Philosophische Gespräche stammen aus dem Jahr r75 5,U also aus einer Zeit dreißig Jahre vor dieser zweifachen Antwort auf die Frage nach der Aufklärung. Vor kurzem ist eine Ü berset zung von Mendelssohns ]erusalem erschienen, deren Vorwort überaus interessant ist.14 Es gibt einen Text, an den ich mehr zur Unterhaltung erinnere und der sehr interessant im Hin blick darauf ist, die Wirkung des Erstaunens und - man kann nicht wirklich sagen, des Skandals - der Verblüffung zu verste hen und einigermaßen einzuschätzen, als j emand in Gestalt ei nes kleinen, buckligen Juden in die deutsche Kulturwelt, in das deutsche Publikum, wie ich es zuvor charakterisiert habe, ein drang. Es handelt sich um einen Brief von J ohann Wilhelm Gleim, der schreibt: »Der Autor der Philosophischen Gesprä che [der doch mit Moses unterzeichnet hatte und von dem man sich fragte, ob so etwas wirklich von einem Juden geschrieben werden konnte und ob es nicht entweder Lessing selbst oder j emand anders gewesen sei, und Gleim bestätigt; M. F.] ist ein wirklicher Jude, ein Jude der sich ohne Lehrer ein sehr ausge dehntes Wissen in den Wissenschaften angeeignet hat. « 1 5 Wir haben hier also einen Satz, der zum Ausdruck bringt, daß er unmöglich aufgrund seiner jüdischen Bildung all dieses Wissen erwerben konnte, sondern daß das nur ohne einen Lehrer möglich war, d. h. durch eine Verschiebung im Verhältnis zu seinem eigenen Ursprung und seiner Kultur und durch eine Art von Eingliederung, von unbefleckter Geburt, in die Uni versalität der Kultur. Und doch hat dieser Jude, »der sich ohne Lehrer ein sehr ausgedehntes Wissen in allen Wissenschaften angeeignet hat<<, »von Jugend auf seinen Lebensunterhalt in ei nem jüdischen Geschäft verdient«. Dieser Text stammt also aus dem Jahre r 755 und markiert das Eindringen oder vielmehr die 24
Begegnung, die Vereinigung der jüdischen und der, sagen wir, ::hristlichen Aufklärung. Es handelt sich um eine vorsichtige Hochzeit, wie man sieht, bei der der jüdische Partner, obwohl er als einer gekennzeichnet wird, der seinen Lebensunterhalt in einem jüdischen Geschäft verdient, nur unter der Bedingung a...i.::z eptiert und anerkannt werden kann, daß er ohne Lehrer sich ein sehr ausgedehntes Wissen in allen Wissenschaften an geeignet hat. Lassen wir diese Begegnung von 17 5 5 beiseite. Ich komme nun zum Jahr 1784 und zu jenen beiden Texten über die Aufklä rclng von Mendelssohn und Kant. Mir scheint, daß die Bedeu :ung dieser beiden Texte j edenfalls darauf beruht, daß beide, sowohl Kant als auch Mendelssohn, auf sehr deutliche Weise riebt nur die Möglichkeit, nicht nur das Recht, sondern die ;..;:o rwendigkeit einer absoluten Freiheit aufwerfen, und zwar ::icht nur des Gewissens, sondern des Ausdrucks in Bezug auf iegliche Ausübung der Religion, die als notwendig privat auf gefai�t wurde. In einem Text, der diesen Monaten von Septem2::::- bis Dezember 1784 vorangeht, in denen sie ihre beiden Texte über die Aufklärung veröffentlichen, schrieb Kant an ::.rendelssohn gerade mit Bezug auf ]erusalem, das soeben er �d:ienen war, und sagte ihm: >>Sie haben Ihre Religion mit ei ::em solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen ge -:>.-u.il-c, die man ihr gar nicht zugetraut hätte und dergleichen s:::h keine andere rühmen kann. Sie haben zugleich die Not7•·endigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreiheit zu jeder Religion so gründlich und hell vorgetragen, daß auch endlich .::e Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie al :es, was das Gewissen belästigen und drücken kann, von der ih :-igen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung ::er wesentlichen Religionspuncte vereinigen muß«;16 Kant :-idltet also sein Lob an Mendelssohn, weil Mendelssohn sehr p..:: gezeigt und betont hat, daß der Gebrauch seiner eigenen Religion nur ein privater Gebrauch sein könne, daß er in keiner ·,x-eise einen Bekehrungseifer - Kant geht zwar in diesem Text ::eicht darauf ein, aber für Mendelssohn ist dieser Punkt von
überragender Bedeutung - oder eine Autorität gegenüber j ener privaten Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft ausüben könne. Diese Einstellung des jüdischen Denkens gegenüber der jüdischen Religion, auf j eden Fall aber diese Einstellung des Denkens eines Juden gegenüber seiner eigenen Religion soll, so Kant, der Einstellung nützen, die j eder Christ gegen über seiner eigenen Religion haben sollte. Der dritte Grund, aus dem mir dieser Text interessant zu sein scheint, und zwar unabhängig von Ü berlegungen darüber, was das Publikum sein mag, und unabhängig von dem Aufeinan dertreffen von christlicher und jüdischer Aufklärung innerhalb der Ö ffentlichkeit, liegt darin, daß ich den Eindruck habe und das möchte ich nun besonders betonen -, daß in diesem Text ein neuer Typ von Frage im B ereich der philosophischen Reflexion auftaucht. Gewiß ist es nicht der erste Text in der Geschichte der Philosophie noch auch der erste Text Kants, der eine Frage zur Geschichte oder die Frage nach der Geschichte selbst thematisiert. Wenn wir uns nur an Kant halten, so wissen Sie sehr wohl, daß man bei ihm Texte findet, die die Frage nach dem Ursprung an die Geschichte richten, beispielsweise der Text über die Vermutungen, die Hypothesen zur Menschheits geschichte;17 oder auch bis zu einem gewissen Grad der Text über die Bestimmung des Rassenbegriffs.18 Andere Texte stel len an die Geschichte keine Ursprungsfrage, sondern eine Fra ge nach dem Abschluß, nach dem Punkt der Vollendung, so z. B . im selben Jahr r 784 >>Die Idee einer allgemeinen Ge schichte in weltbürgerlicher Absicht<<.19 Wieder andere stellen die Frage nach der inneren Zweckhaftigkeit, die die geschicht lichen Prozesse bestimmt - den Geschichtsprozeß in seiner inneren Struktur und seiner stetigen Zweckhaftigkeit -, wie z. B. der Text, der dem Gebrauch teleologischer Prinzipien ge widmet ist.20 Die Frage nach dem Beginn, die Frage nach der Vollendung und die Frage nach der Zweckhaftigkeit und der Teleologie durchziehen Kants Analysen der Geschichte. Von den erwähnten Texten scheint sich mir der Text über die Auf klärung sehr zu unterscheiden, denn er stellt keine dieser Fra-
gen, zumindest nicht direkt. Ganz gewiß nicht die Frage nach dem Ursprung, aber auch nicht, wie Sie trotz allem Anschein sehen werden, die Frage nach dem Abschluß, nach dem Punkt der Vollendung. Und die Frage nach der Teleologie, die dem Geschichtsprozeß selbst innewohnt, wird nur relativ unauffäl lig und beinahe beiläufig gestellt. Streng genommen, werden Sie sehen, daß er selbst dieser Frage aus dem Wege geht. Im Grunde, so scheint mir, ist die Frage, die zum ersten Mal in Kants Texten auftaucht - ich sage nicht, daß sie nur ein einziges Mal auftaucht, denn wir werden später einem anderen Beispiel begegnen -, die Frage nach der Gegenwart, nach der Aktuali tät. Es ist die Frage: Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses »Jetzt«, in dem wir uns b efinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreib e ? Natürlich finden wir in der philosophischen Reflexion nicht zum ersten Mal B e züge auf die Gegenwart, auf die Gegenwart als bestimmte ge schichtliche Situation, die für die philosophische Reflexion wertvoll sein kann. Immerhin, als Descartes zu Beginn des Dis cours de la metho de über seine eigene Laufbahn und die Ge samtheit seiner philosophischen Entscheidungen berichtet, die er zugleich für sich selbst sowie für die Philosophie getroffen hat, bezieht er sich ganz ausdrücklich auf etwas, das als histori sche Situation im Bereich der Erkenntnis, der Wissenschaften, der Institution des Wissens selbst in seiner eigenen Zeit be trachtet werden kann. Stellen wir j edoch fest, daß es sich bei dieser Art von B ezügen immer darum handelt - dasselbe könn te man b eispielsweise auch bei Leibniz finden -, in dieser Kon stellation, die als gegenwärtig bezeichnet wird, ein Motiv für eine philosophische Entscheidung zu entdecken. Weder bei Descartes noch, denke ich, bei Leibniz, werden Sie eine Frage von folgender Art finden: Was ist diese Gegenwart eigentlich, der ich angehöre ? Nun scheint mir j edoch die Frage, auf die Mendelssohn geantwortet hat und auf die Kant antwortet - auf die er übrigens antworten muß, weil man es von ihm verlangt: es handelt sich um eine öffentlich gestellte Frage -, eine andere zu sein. Sie besteht nicht einfach in folgendem: Wodurch ließe
sich in der gegenwärtigen Situation diese oder jene philosophi sche Entscheidung bestimmen ? Die Frage zielt darauf ab, was diese Gegenwart eigentlich ist. Sie zielt zunächst auf die Be stimmung eines bestimmten Bestandteils der Gegenwart ab, der unter allen anderen erkannt, unterschieden und entziffert werden soll. Was ist in der Gegenwart eigentlich ein sinnvoller Gegenstand für die philosophische Reflexion ? Zweitens geht es in der Frage und in der Antwort, die Karrt zu geben ver sucht, darum zu zeigen, inwiefern dieser Bestandteil Träger oder Ausdruck eines Prozesses ist, eines Prozesses, der das Denken, die Erkenntnis und die Philosophie betrifft. Schließ lich geht es drittens innerhalb dieser Reflexion auf diesen Be standteil der Gegenwart, der Träger eines Prozesses oder sein Ausdruck ist, darum zu zeigen, wodurch und wie derj enige, der als Denker, als Gelehrter oder als Philosoph spricht, selbst zu diesem Prozeß gehört. Aber die Situation ist noch komple xer. Er muß nicht nur zeigen, inwiefern er diesem Prozeß zuge hört, sondern welche Rolle er als Teil dieses Prozesses, als Ge lehrter, Philosoph oder Denker in diesem Prozeß zu spielen hat, in dem er sich zugleich als B estandteil und als Handelnder vorfindet. Kurz, mir scheint, daß in Kants Text die Frage nach der Gegen wart als philosophischem Ereignis erscheint, dem der Philo soph, der darüber spricht, zugehört. Wenn man also die Philo sophie als eine Form von Diskurspraxis auffassen will, die ihre eigene Geschichte hat, mit diesem Spiel zwischen der Frage >>Was ist Aufklärung ? « und der Antwort, die Karrt geben wird, dann scheint mir, daß man sieht, wie die Philosophie - und ich glaube, daß ich nicht zu sehr übertreibe, wenn ich sage, daß das zum ersten Mal geschieht - zum Erscheinungsort ihrer eigenen Diskursgegenwart wird, einer Gegenwart, die sie als Ereignis befragt, als Ereignis, dessen philosophischen Sinn, Wert und Einzigartigkeit sie aussprechen und in dem sie zugleich ihre ei gene Existenzberechtigung und die Grundlage dessen, was sie sagt, finden soll. In dies em Sinne versteht man, daß die philo sophische Praxis oder vielmehr der Philosoph, der seinen phi-
losophischen Diskurs hält, es nicht vermeiden kann, die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu dieser Gegenwart zu stellen. Das bedeutet, daß sich für ihn nicht mehr bloß oder überhaupt nicht mehr die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu einer Lehre oder zu einer Tradition stellt, auch nicht mehr die Frage nach seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft im allge meinen, sondern die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu einer Gegenwart, wenn sie so wollen, seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten »wir«, zu einem >>wir«, das sich in einem mehr oder weniger weiten Sinne auf ein charakteristisches kulturel les Ganzes seiner eigenen Gegenwart bezieht. Dieses >>wir« ist es, das für den Philosophen zum Gegenstand seiner eigenen Reflexion werden muß oder schon wird. Gerade dadurch wird bestätigt, daß es unmöglich ist, darauf zu verzichten, daß der Philosoph seine einzigartige Zugehörigkeit zu diesem »wir« befragt. Die Philosophie als Erscheinungsort einer Gegenwart, die Phi losophie als Fragen nach dem philosophischen Sinn der Ge genwart, zu der sie selbst gehört, die Philosophie als Befragung dieses >>wir«, dem der Philosoph zugehört und gegenüber wel chem er sich verorten muß, das, scheint mir, zeichnet die Philo sophie als Diskurs der Moderne, als Diskurs über die Moderne aus. Ich würde die Dinge folgendermaßen darstellen. Natür lich tritt die Frage nach der Moderne in der europäischen Kul tur mit diesem Text nicht zum ersten Mal auf. Sie wissen zur Genüge, wie zumindest seit dem r 6. Jahrhundert - lassen wir den Rest beiseite -, durch das ganze 1 7. ]ahrhundert hindurch und auch zu Beginn des r 8 . Jahrhunderts die Frage nach der :V1oderne gestellt wurde. Wenn man sich sehr schematisch aus drücken möchte, ist die Frage nach der Moderne in der klassi schen Kultur in einer Ausrichtung gestellt worden, die ich als Längsschnitt bezeichnen würde. Die Frage nach der Moderne wurde im Sinne einer Polarität gestellt, als Frage nach der Pola rität zwischen Antike und Moderne. Die Frage nach der Mo derne stellte sich also entweder im Sinne einer Autorität, die anerkannt oder abgelehnt werden sollte (welche Autorität soll
akzeptiert, welches Vorbild befolgt werden ? usw.) oder in Form einer vergleichenden Wertung, die übrigens mit der er sten Frage einhergeht: Sind die Alten den Modernen überle gen ? Befinden wir uns in einer Periode der Dekadenz usw. ? Mir scheint, daß sich die Frage nach der Moderne in dieser Po larität der Antike und Moderne mit der Frage nach der anzuer kennenden Autorität und der Frage nach der Wertung oder der zu vergleichenden Werte gestellt hat. Mit Karrt aber kommt eine neue Weise zum Vorschein, diese Frage nach der Moderne zu stellen - ich glaube, daß man das in diesem Text über die Aufklärung ganz deutlich sieht -, nämlich nicht im Längs schnitt unserer Beziehung zu den Alten, sondern in etwas, was man eine sagittale oder vertikale Beziehung des Diskurses zu seiner eigenen Gegenwart nennen könnte. D er Diskurs soll seine eigene Gegenwart berücksichtigen, um erstens seinen ei gentlichen Ort zu finden, zweitens dessen Sinn zu besti �men, drittens die Wirkungsweise zu bezeichnen und anzugeben, die er in dieser Gegenwart realisiert. Was ist meine Gegenwart ? Was ist der Sinn dieser Gegenwart ? Und worauf beruht die Tatsache, daß ich von dieser Gegenwart spreche ? Darin be steht, wie mir scheint, diese neue Frage nach der Moderne. Das ist alles sehr schematisch. Es handelt sich, ich wiederhole es, um eine Fährte, die man etwas näher erforschen müßte. Mir scheint, daß man versuchen sollte, eine Genealogie zu schrei ben, und zwar nicht so sehr des B egriffs der Moderne, sondern . der Moderne als Frage. Selbst wenn ich Kants Text als Aus gangspunkt für das Auftauchen dieser Frage nehme, sollte es j edenfalls klar sein, daß er selbst Teil eines breiten und wichti gen historischen Prozesses ist, dessen Ausmaß man gerade be stimmen sollte. Außerdem finde ich, daß eine der interessanten Achsen für die Untersuchung des I 8. Jahrhunderts im allge meinen, aber insbesondere für das, was man die Aufklärung nennt, in der Tatsache besteht, daß die Aufklärung sich selbst Aufklärung genannt hat. Das heißt, daß wir es mit einem zwei fellos sehr einzigartigen kulturellen Prozeß zu tun haben, der sich sofort auf eine bestimmte Weise seiner selbst bewußt ge30
worden ist, indem er sich diesen Namen gegeben hat, indem er sich im Verhältnis zu seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und s einer Zukunft bestimmt und indem er mit diesem Namen der Aufklärung den Prozeß bezeichnet, ja mehr noch als den Prozeß die Operationen, die diese B ewegung in ihrer eigenen Gegenwart vornehmen soll. Ist die Aufklärung nicht die erste Epoche, die sich selbst einen Namen gibt und die, anstatt sich bloß selbst als Periode der Dekadenz, des Wohlstands oder des Glanzes usw. zu charakterisieren - was eine alte Gewohnheit, eine alte Tradition war -, sich nach einem bestimmten Ereignis benennt, dem der Aufklärung, das einer allgemeinen Geschich te des Denkens, der Vernunft und des Wissens untersteht und in welchem die Aufklärung selbst gerade ihre eigentliche Rolle spielen soll ? Die Aufklärung ist eine Periode, die sich selbst be zeichnet, eine Periode, die ihren eigenen Wahlspruch, ihre eige ne Satzung formuliert und die sagt, was sie selbst zu tun hat, und zwar sowohl im Hinblick auf die allgemeine Geschichte des Denkens, der Vernunft und des Wissens als auch im Hin blick auf ihre Gegenwart und die Formen der Erkenntnis, des Wissens, der Unwissenheit, der Täuschung, für die Institutio nen usw., innerhalb deren sie ihre geschichtliche Verankerung zu erkennen weiß. Aufklärung, das ist ein Name, eine Satzung, ein Wahlspruch. Und genau das werden wir in diesem Text »Was ist Aufklärung ?« zu sehen bekommen. Schließlich besteht der vierte Grund, weshalb ich diesen Text hervorheben möchte (Sie können ihn als einen Hauptorientie rungspunkt auffassen), darin, daß diese Fragestellung Kants bezüglich der Aufklärung - die doch dem allgemeinen Kontext der Aufklärung selbst zugehört, d. h. zu einem kulturellen Pro zeß, der sich selbst b ezeichnet, der sagt, was er selbst ist und was seine Ziele sind - nicht auf das I 8. Jahrhundert oder gar auf den Prozeß der Aufklärung beschränkt geblieben ist. In dieser Frage nach der Aufklärung läßt sich eine der ersten Manife stationen einer gewissen Art zu philosophieren erkennen, die seit zwei Jahrhunderten auf eine lange Geschichte zurück blickt. Immerhin scheint es mir, daß es eine der wichtigen und 3I
wesentlichen Funktionen der sogenannten » modernen« Philo sophie ist - deren Beginn und Entwicklung man auf das äußer ste Ende des r 8. Jahrhunderts, auf das 1 9. Jahrhundert datieren kann -, sich auf ihre eigene Gegenwart hin zu befragen. Man könnte die ganze Entwicklungslinie dieser Frage nach der Phi losophie verfolgen, indem man die Frage nach ihrer eigenen Ge genwart im Laufe des 19. Jahrhunderts und im Ausgang vom Ende des r8. Jahrhunderts stellt. Das Einzige, worauf ich j etzt aufmerksam machen möchte, ist, daß Kam diese Frage, die er 1 784 behandelt, eine Frage, die ihm von außen gestellt wurde, nicht vergessen hat. Kam hat sie nicht vergessen. Er wird sie erneut stellen und sie im Hinblick auf ein anderes Ereignis erneut zu beantworten versuchen, das ebenfalls eines dieser, wenn Sie so wollen, selbstbezüglichen Ereignisse war und sich immer wieder selbst zum Gegenstand einer Frage gemacht hat. Dieses Ereignis ist natürlich die Revo lution, die Französische Revolution. 1798 wird Kant gewisser maßen eine Fortsetzung des Textes von 1784 schreiben. 1784 stellte er die Frage oder versuchte, auf die ihm gestellte Frage zu antworten: Was ist diese Aufklärung, der wir angehören ? 1798 antwortet er auf eine Frage, die er sich selbst stellt. Ei gentlich antwortet er auf eine Frage, die ihm natürlich die Ge genwart stellte, die ihm aber auch zumindest seit 1794 die gan ze philosophische Diskussion in Deutschland stellte. Und diese andere Frage war: Was ist die Revolution ? Sie wissen, daß Fichte 1794 über die Französische Revolution geschrieben hatte.2 1 1798 schreibt Kam einen kleinen, kurzen Text über die Revolution, der zum Streit der Fakultäten22 ge hört - was eigentlich eine Sammlung von drei Abhandlungen über die Beziehungen zwischen den verschiedenen Fakultäten ist, die die Universität bilden. Die zweite Abhandlung des Streits der Fakultäten - das darf nicht vergessen werden - be trifft die Beziehungen zwischen der Fakultät der Philosophie und der Rechtsfakultät. Kant sieht das Wesentliche dieser kon fliktträchtigen Beziehungen zwischen der Philosophie und der Rechtswissenschaft genau im Umkreis der Frage: »Gibt es ei-
nen stetigen Fortschritt für das Menschengeschlecht ?« Bezüg lich dieser Frage, die also für ihn die wesentliche Frage nach den Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissen schaft ist, stellt er folgende Ü berlegung an. Im Abschnitt 5 sei ner Abhandlung sagt er: Wenn man die Frage beantworten will: »Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fort schreiten zum Besseren sei ?«, muß man natürlich bestimmen, ob ein solcher Fortschritt überhaupt möglich ist und was seine Ursache sein könnte. Wenn man aber, so Kant, einmal festge stellt hat, daß es eine Ursache eines möglichen Fortschritts gibt, kann man nur herausfinden, ob diese Ursache auch tat sächlich wirkt, indem man ein bestimmtes Ereignis freilegt, das beweist, daß die Ursache auch wirklich am Werke ist. Kant meint also, daß die Zuweisung einer Ursache immer nur mög liche Wirkungen bestimmen kann oder genauer: nur die Mög lichkeit von Wirkungen. Die Wirklichkeit einer Wirkung kann nur dann erwiesen werden, wenn man ein Ereignis isoliert, ein Ereignis, das man mit einer Ursache verknüpfen kann. Man kann also auf diese Frage durch ein Verfahren antworten, das die Umkehrung des Verfahrens ist, mit dem man die teleologi sche Struktur der Geschichte analysiert. Man soll also nicht dem teleologischen Gerüst folgen, das den Fortschritt ermög licht, sondern innerhalb der Geschichte ein Ereignis isolieren, ein Ereignis, das, so Kant, den Wert eines Zeichens haben wird. Ein Zeichen wovon ? Ein Zeichen der Existenz einer Ursa che,23 einer dauernden Ursache, die durch die gesamte Ge schichte hindurch die Menschen auf dem Weg des Fortschritts geleitet hat. Eine stetige Ursache, von der man zeigen muß, daß sie früher wirksam war, daß sie j etzt wirkt und in Zukunft wir ken wird. Das Ereignis, das uns folglich eine Entscheidung dar über gestatten könnte, ob es einen Fortschritt gibt, wird ein Zeichen sein, ein Zeichen, sagt Kant, >>rememorativum, de monstrativum, prognosticon« ,24 d. h. ein Zeichen, das uns zeigt, daß es immer schon so war (das Erinnerungszeichen); ein Zei chen, daß der Fortschritt sich gegenwärtig ereignet (das Hin weiszeichen); das Prognosezeichen schließlich, das uns mit33
teilt, daß es ständig so weitergehen wird. Und so können wir sicher sein, daß die Ursache, die den Fortschritt ermöglicht, nicht nur zu einer bestimmten Zeit gewirkt hat, sondern in ei ner Tendenz gründet und eine allgemeine Tendenz der gesam ten Menschheit gewährleistet, in die Richtung des Fortschritts zu marschieren. Deshalb stellt sich folgende Frage: Gibt es um uns herum ein Ereignis, das ein Erinnerungs-, Hinweis- und Prognosezeichen eines ständigen Fortschritts sein könnte, der die ganze Menschheit mit sich reißt ? Was ich Ihnen bereits gesagt habe, läßt die Antwort Kants zwar erraten. Ich möchte Ihnen aber doch die Passage vorlesen, in der er die Revolution als Zeichen dieses Ereignisses einführt. Am Anfang des Ab schnitts 6 sagt er folgendes: »Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Un taten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein, oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie, gleich als durch Zaube rei, alte glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von allem dem.«25 Zwei Dinge sind an diesem Text zu bemerken. Zuerst spielt er natürlich, wenn Sie so wollen, auf die Analyseformen an, auf Bezüge, die traditionellerweise in dieser Debatte hergestellt wurden, um zu entscheiden, ob die menschliche Gattung einen Fortschritt gemacht hat oder nicht. Im Klartext: Der Umsturz von Kaiserreichen, die großen Katastrophen, durch die die am besten eingerichteten Staaten verschwinden, alle diese Schick salswendungen, wodurch das, was groß war, klein wird und umgekehrt. All das weist er zurück, zugleich aber sagt er: Seid auf der Hut, wir dürfen das Erinnerungs-, Hinweis- und Pro gnosezeichen des Fortschritts nicht in den großen Ereignissen suchen, sondern in den Ereignissen, die gleichsam unmerklich sind. Das bedeutet, daß man unsere eigene Gegenwart nicht auf ihre Bedeutungswerte untersuchen kann, ohne eine Her meneutik oder eine Entzifferungsmethode zu bemühen, die es gestattet, dem anscheinend B edeutungs- und Wertlosen die wichtige Bedeutung und den hohen Wert zuzuschreiben, wo34
nach wir suchen. Was ist nun aber dieses Ereignis, das kein gro ßes Ereignis ist ? Nun, es ist die Revolution. Endlich, die Revo lution . . . Man kann jedenfalls nicht sagen, daß die Revolution kein lautstarkes, sich aufdrängendes Ereignis ist. Ist sie nicht gerade ein Ereignis der Umwälzung, die das Große klein macht und das Kleine groß und die die scheinbar stabilsten Struktu ren der Gesellschaft und der Staaten abschafft und verschlingt ? Es ist jedoch nicht die Revolution an sich, so Kant, die die Be deutungsfunktion erfüllt. Was sie erfüllt und was das Ereignis konstituiert, das einen Erinnerungs-, Hinweis- und Prognose wert hat, ist nicht das revolutionäre Drama selbst, nicht die re volutionären Heldentaten, nicht die revolutionäre Gebärde. Was diese Bedeutungsfunktion ausübt, ist die Art und Weise, wie die Revolution als Schauspiel erscheint, die Art und Weise, wie sie rings herum von den Zuschauern aufgenommen wird, die nicht an ihr teilnehmen, die sie aber betrachten, die dabei sind und die sich zum Guten oder Schlechten von ihr mitreißen lassen. Nicht die revolutionäre Gebärde macht den Fortschritt aus. Es ist nicht nur so, daß die revolutionäre Gebärde nicht den Fortschritt konstituiert, sondern daß, wenn die Revoluti on noch einmal wiederholt werden sollte, man sie nicht wie derholen würde. Hier gibt es nun einen hochinteressanten Text: »Die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in un seren Tagen haben vor sich gehen sehen [es handelt sich also um die Französische Revolution; M. F.], mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen ange füllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde.«26 [ ] Erstens ist also der revolutionäre Prozeß selbst nicht wichtig. Es liegt wenig daran, ob er zum Erfolg führt oder scheitert. Das hat nichts mit dem Fortschritt zu tun oder zumindest mit dem Zeichen des Fortschritts, nach dem wir suchen. Das Scheitern oder der Erfolg der Revolution sind keine Zeichen des Fortschritts oder Zeichen dafür, daß es keinen Fortschritt gibt. Mehr noch, wenn j emand, der die Re• • •
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volution kennt und weiß, wie sie abläuft, die Möglichkeit hätte, sie sowohl in ihrem Wesen zu erkennen als auch sie erfolgreich abzuschließen, nun, dann würde dieser Mensch sie nicht ver anstalten, da er ihren notwendigen Preis berechnet hat. Die Revolution und was sich in ihr ereignet, ist also nicht von Be deutung. Mehr noch, die Veranstaltung der Revolution sollte besser unterlassen werden. Was dagegen j edoch wichtig ist, was eine Bedeutungsfunktion edüllt und was das Zeichen des Fortschritts ausmacht, ist, daß es um die Revolution herum, so Kant, »eine Teilnehmung dem Wunsche nach [gibt], die nahe an Enthusiasm grenzt« Y Was also an der Revolution von Bedeutung ist, das ist nicht die Revolution selbst, die ohnehin ein großes Durcheinander ist, sondern was in den Köpfen der Leute geschieht, die die Re volution nicht veranstalten oder die zumindest nicht deren Hauptakteure sind. Es ist die B eziehung, die sie selbst zu dieser Revolution haben, die sie nicht machen oder an der sie zumin dest nicht wesentlich beteiligt sind. Von Bedeutung ist die Be geisterung für die Revolution. Aber wofür ist diese Begeiste rung für die Revolution nach Kant ein Zeichen ? Sie ist erstens ein Zeichen dafür, daß alle Menschen der Auffassung sind, daß sie ein Recht haben, sich diej enige politische Verfassung zu ge ben, die ihnen angemessen ist und die sie wollen. Zweitens ist sie ein Zeichen dafür, daß die Menschen sich eine politische Verfassung geben wollen, die aufgrund ihrer eigenen Grund sätze j eglichen Angriffskrieg vermeidet.28 Genau das ist es nun, diese Bewegung auf eine solche Situation hin, in der die Men schen sich die politische Verfassung geben können, die sie wol len, und außerdem eine solche, die j eden Angriffskrieg verhin dert, dieser Wille ist es, der für Kant, in diesem Text, durch die Begeisterung für die Revolution angezeigt wird. Und es ist wohlbekannt, daß diese beiden Elemente (die von den Men schen nach freiem Ermessen gewählte politische Verfassung und eine Verfassung, die den Krieg vermeidet) den Prozeß der Aufklärung selbst ausmachen, d. h. daß die Revolution eigent lich den Prozeß der Aufklärung selbst vollendet und weiter-
führt. In diesem Sinne sind auch sowohl ·die Aufklärung als auch die Revolution Ereignisse, die man nicht mehr vergessen kann: »Nun behaupte ich, dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen unserer Tage, die Erreichung dieses Zwecks und hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänz lich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besse ren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können«,29 d. h. sie wird einen solchen Zustand erreichen, daß die Menschen sich die Verfassung geben können, die sie wollen, und eine Verfas sung, die Angriffskriege verhindern wird. Die in die Zukunft weisenden Zeichen unserer Epoche zeigen uns also, daß der Mensch dieses Ziel erreichen wird und daß zugleich seine Fortschritte von nun an nicht mehr in Frage gestellt werden. »Denn ein solches Phänomen in der Men schengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum B esseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Na rur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschen geschlechte vereinigt, aber was die Zeit betrifft, nur als unbe stimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte. Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch j etzt nicht erreicht würde, wenn die Revolution, oder Reform, der Verfassung eines Volkes gegen das Ende doch fehlschlüge, oder nachdem diese einige Zeit gewähret hätte, doch wiederum alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde (wie Politiker j etzt wahrsagern), so verliert j ene philosophische Vorhersagung d och nichts von ihrer Kraft. - Denn j ene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflusse nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu aus gebreitet, als daß sie nicht den Völkern, bei irgend einer Veran lassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden soll te; da dann, bei einer für das Menschengeschlecht so wichtigen Angelegenheit, endlich doch zu irgend einer Zeit die beabsich tigte Verfassung diejenige Festigkeit erreichen muß, welche die 37
B elehrung durch öftere Erfahrung in den Gemütern aller zu bewirken nicht ermangeln würde. «30 Ich glaube, daß dieser Text äußerst interessant ist, und zwar natürlich nicht nur inner halb der Ö konomie des Kamsehen Denkens, sondern in seiner Rolle als Vorhersage, als Prophezeiung über den Sinn und Wert, den nicht die Revolution als solche haben wird, die ohnehin Gefahr läuft, am Wegesrand liegenzubleiben, sondern die Re volution als Ereignis, als eine Art von Ereignis, dessen Inhalt selbst unwichtig ist, dessen Existenz in der Vergangenheit j e doch ein dauerndes Wirkungsvermögen begründet und für die zukünftige Geschichte die Garantie des Nichtvergessens und der Kontinuität einer Bewegung in Richtung des Fortschritts gibt. Ich wollte diesen Text Kants über die Aufklärung nur für Sie einordnen. In der folgenden Stunde werden wir versuchen, ihn ein wenig gerrauer zu lesen. Ich wollte diesen Text aber doch für Sie im Hinblick auf den Kontext einordnen, in dem er steht, im Hinblick auf seine Beziehung zum Publikum, seine Bezie hung zur Aufklärung im Sinne Mendelssohns, im Hinblick auf die Art von Fragen, die er stellt, und die Tatsache, daß er gewis sermaßen am Ursprung, am Ausgangspunkt einer ganzen Dy nastie philosophischer Fragen steht. Denn mir scheint, daß die se beiden Fragen (Was ist die Aufklärung ? und Was ist die Revolution ?), welche die beiden Formen sind, in denen Kant die Frage nach seiner eigenen Gegenwart gestellt hat, nicht aufgehört haben, wenn schon nicht die ganze moderne Phi losophie seit dem I 9 · Jahrhundert, so doch zumindest einen Großteil dieser Philosophie zu beunruhigen. Immerhin hat die Aufklärung, und zwar sowohl als einzigartiges Ereignis, das die europäische Moderne eingeleitet hat, als auch als perma nenter Prozeß, der sich in der Geschichte der Vernunft, in der Entwicklung und Einsetzung von Formen der Rationalität und Technik, in der Autonomie und Autorität des Wissens manife stiert und ausprägt, dies alles, diese Frage nach der Aufklä rung - wenn Sie so wollen: nach der Vernunft und dem Ge brauch der Vernunft als historischem Problem - hat, so scheint
mir, das ganze philosophische Denken seit Kant bis heute durchdrungen. Die andere Gegenwart, der Kant begegnete, die Revolution - die Revolution sowohl als Ereignis, als Bruch und Umwälzung in der Geschichte, als Scheitern, und zwar als gleichsam notwendiges Scheitern, das aber zugleich einen Wert hat, und zwar einen operativen Wert für die Geschichte und den Fortschritt der Menschheit - ist ebenfalls eine große Frage der Philosophie. Und ich bin geneigt zu sagen, daß Kant im Grunde diese beiden Traditionen begründet hat, die beiden großen kritischen Traditionen, in die sich die moderne Philo sophie aufgeteilt hat. Ich verweise darauf, daß Kant in seinem großen kritischen Werk - dem der drei Kritiken und insbesondere in der ersten Kritik - diese Tradition der kritischen Philosophie gesetzt und b egründet hat, die die Frage nach den Bedingungen stellt, unter denen eine wahre Erkenntnis möglich ist. Und von da an kann man sagen, daß ein ganzer Teil der modernen Philosophie seit dem 1 9. ]ahrhundert sich als Analytik der Wahrheit dargestellt und entwickelt hat. Es ist diese Form der Philosophie, die man heute in der angelsächsischen analytischen Philosophie wie derfindet. Innerhalb der modernen und zeitgenössischen Philosophie gibt es j edoch eine andere Art von Frage, eine andere Weise der kritischen Fragestellung, nämlich die, die man gerade in der Frage nach der Aufklärung oder in dem Text über die Revoluti o n entstehen sieht. Diese andere kritische Tradition stellt nicht die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine wahre Er kenntnis möglich ist. Sie ist eine Tradition, die folgende Fragen stellt: Was ist die Gegenwart ? Was ist das gegenwärtige Feld unserer Erlebnisse ? Was ist das gegenwärtige Feld möglicher Erlebnisse ? Hier handelt es sich nicht um eine Analytik der Wahrheit, sondern um etwas, das man eine Ontologie der Ge genwart nennen könnte, eine Ontologie der Aktualität, eine Ontologie der Moderne, eine Ontologie unserer selbst. :\1ir scheint, daß die philosophische Entscheidung, mit der wir gegenwärtig konfrontiert sind, folgende ist. Entweder muß man 39
sich für eine kritische Philosophie entscheiden, die sich als ana lytische Philosophie der Wahrheit im allgemeinen darstellt, oder für ein kritisches Denken, das die Form einer Ontologie unserer selbst annimmt, eine Ontologie der Gegenwart. Diese Form der Philosophie, von Hegel bis zur Frankfurter Schule über Nietzsche, Max Weber usw., hat eine Form der Reflexion begründet, der ich mich natürlich, in dem Maße, wie ich es ver mag, anschließe.':· Das war's. Wenn Sie wollen, werden wir fünf Minuten Pause machen, und dann werde ich zu einer gewissenhafteren Lektü re dieses Textes über die Aufklärung übergehen, dessen Um feld ich zu skizzieren versucht habe.
Anmerkungen r
»Am 30. [November 1 9 69] beschließt die Professorenversammlung des College de France, Jean Hyppolites Lehrstuhl für die Geschichte des philosophischen D enkens in einen L ehrstuhl für die Geschichte der Ge
dankensysteme umzuwandeln<< (D . Defert, »Chronologie<<, in: M. Fou cault, Dits et E crits, 1954-1988, hg. v. D . Defert und F. Ewald umer Mit arbeit von J. Lagrange, Paris 1 994, Bd. I, S. 3 5; dt. »Zeittafel «, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Bd. I , Frankfurt/M. 2 00 1 , S . p). Zur Problema tisierung einer »Geschichte des D enkens << vgl . insbesondere »Preface a l'Histoire de la sexualite<<, a. a. 0 . , Bd. IV, Nr. 3 40, S. 5 79 - 5 8o; dt. »Vor wort zu Sexualität und Wahrheit«, a. a. 0 . , Bd. 4, Nr. 3 40 , S. 709 - 7 1 r . 2 M . Foucault, Histoire de la folie a l'age classique, Paris I 9 6 r ; dt. Wahn sinn und Gesellschaft, Frankfun/M. 1 9 7 8 . 3 M. Foucault, Les Mots et les Choses, Paris 1 9 66; dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1 9 7 1 . 4 M. Foucault, Surveiller e t Punir, Paris 1 9 7 5 ; dt. Überwachen und Stra fen, Frankfurt/M. 1 9 76. Zur Gouvernementalität vgl. M. Foucault, Se curite, Territoire, Population, hg. v. M . Senellart, Paris 2004; dt. Sicher heit, Territorium, Bevölkerung, Frankfun/M. 2004. 5 V gl. die Bände II und III der Histoire de la sexualite (L' Usage des plaisirs, Le Souci de soi), Paris 1 9 84; dt. Sexualität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste, Die Sorge um sich), Frankfurt/M. 1 9 8 6 . ,,. Mit Bezug auf Kant und sein Büchlein spricht das Manuskript von ei nem »Verankerungspunkt einer bestimmten Reflexionsform, der sich die Analysen anschließen, die ich unternehmen möchte<< .
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Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, a. a. 0 . I . Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt/M. 1 9 64, S. 3 1 - 5 0. Ebd. , S. 6 3 - 8 2 (erschienen im November 1 7 8 5 ) . Ebd., S. 8 3 - 1 02 (erschienen i m Januar 1 7 8 6) . I. Kant, »Rezension zu Johann Genfried Herders •Ideen zur Philoso phie der Geschichte der Menschheit< <<, ebd., S. 7 8 I - 8 o 6 (veröffentlicht im Januar I 7 8 5 in der Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung). I . Kant , Werke, Abhandlungen nach q81, Bd. VIII, B erlin I 9 6 8 , S. I 5 7I 8 4 (erschienen im Januar/Februar I 7 8 8 ) . Zu dieser Strömung vgl. M. Pelli, The Age of Haskala: Studies in Heb rew Literature of the Enlightenment in Germany, Leyden I 9 79; G. Schalem, Fidelite et Utopie. Essais sur le judai"sme contemporain, übers . v. B. Dupuy, Paris I 9 7 8 ; A. Altmann, Moses Mendelssohn: A Biograph ical Study, London I 97 3 ; D . B ourel, » Les re serves de Mendelssohn. Rousseau, Voltaire et Je juif de Berlin<<, in: Revue internationale de phi losophie, I 9 7 8 , Bd. 24- 1 2 5, S. 3 0 9 - 3 2 6 . Moses Mendelssohn, Philosophische Gespräche, Berlin I 7 5 5 . Moses Mendelssohn, ]erusalem ou Pouvoir religieux et]udai"sme, über setzt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen v. D. Bourel, mit einem Vorwort von E. Levinas, Paris I 9 8 2; dt.]erusalem oder über reli giöse Macht und Judentum, hg. v. M. Albrecht, Harn bu rg 200 5 . E s handelt sich u m e in en Brie f v om I 2. Februar 1 7 5 6, der an Johann Pe ter Uz adressiert ist. Eine vollständigere Fassung lautet: »Der Autor der philosophischen Gespräche und des kleinen Werkes über die Emp findungen ist kein eingebildeter Jude, sondern ein ganz wirklicher, noch sehr jung und von einer bemerkenswerten Geistesgröße. Er ist ohne Lehrer sehr weit in den Wissenschaften fortgeschritten, betreibt in seinen Mußestunden Algebra, wie wir Dichtung betreiben , und hat sein Brot seit seiner Jugendzeit in einem jüdischen Unternehmen ver dient. Das zumindest sagt mir Herr Lessing über ihn. Sein Name ist Moses. Maupertuis hat über ihn gescherzt, indem er sagte, daß es ihm zu einem großen Manne an nichts anderem als ein bißchen Vorhaut fehle« (zitiert in: D. Bourel, Moses Mendelssohn. La naissance du ju daisme moderne, Paris 2004, S. I 09)I . Kant, Kants Briefwechsel, Bd. I , Brief vom I 6. August I 7 8 3 , B erlin und Leipzig, I 9 69, S. 3 47 · Vgl . oben, Anm. 9 . Vgl. oben, Anm. 8 . Vgl. oben, Anm. 7 . V gl. oben, Anm. I r . J. G. Fichte , Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, Harn burg I 973 . Foucault verwendet hier die Ü bersetzung von S. Piobetta (in: Kant, La Philosophie de l'histoire, Paris 1 9 7 2 , S. I 6 3 - I 79 , dt. Der Streit der Fa-
kultäten, in: Kam, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt/M. 1 9 64, S. 3 5 r - 3 68). 23 »Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Da sein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise . . . ( Ebd. S. 3 5 7) 24 Ebd., S. 3 5 7· 2 5 Ebd. 26 A. a. O., S. 3 5 8 . 27 Ebd. 28 Ebd. 29 A. a. O., S. 3 6 r . 3 0 A. a. O., S. 3 6 1 -3 62. «
Vorlesung r (Sitzung vom 5 . Januar r 98 3 , zweite Stunde)
Die Idee der Unmündigkeit: weder natürliche Ohnmacht noch Beraubung von Rechten durch eine A�1torität. - Der Ausgang atJS dem Zustand der Unmündigkeit und die Ausübung kritischer Tätigkeit. - Der Schatten der drei Kritiken. - Die Schwierigkeit der Emanzipation: Faulheit und Feig heit; angekündigtes Scheitern der Befreier. - Die Triebfedern des Zustands der Unmündigkeit: Überlagerung von Ausübung und A bwesenheit ver nünftigen Denkens; Ver..vechslung von privatem und öffentlichem Ge brauch der Vernunft. - Die problematischen Wendungen am Ende von Kants Text.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zu diesem Text über die Aufklärung möchte ich nun mit einer genaueren Untersu chung zumindest einiger wichtiger Passagen beginnen. Ein gu ter Teil des Textes bezieht sich sehr eingehend auf die Probleme der Gesetzgebung, und zwar der Religionsgesetzgebung, die sich in Preußen zu j ener Zeit, d. h. um r 784, stellten, die ich aber beiseite lassen werde. Nicht weil sie nicht interessant oder nicht von Bedeutung wären, sondern weil wir hier ein Gebiet von Einzelheiten und historischer Präzisierung betreten wür den, das ich, offen gestanden, nicht beherrsche. Wir werden darauf also nicht eingehen. Statt dessen werde ich mich an eine Reihe von anderen, theoretischen Punkten halten. Lesen wir also den Text, zumindest den ersten Absatz: »Was ist Aufklärung ? [das war also die Frage, und die Antwort ist: Die Aufklärung ist - M. F.] Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. « 1 An dieser Stelle präzisiert Kant die beiden Bestandteile seiner Definition. Erstens bedeu tet Unmündigkeit: »das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Die Unmündigkeit ist selbstverschuldet, da »die Ursache derselben nicht am Man gel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner [des eigenen Verstandes; M. F.J ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«2 Das ist also der Inhalt des ersten Absatzes. 43
Ich möchte mich zunächst b eim ersten Wort aufhalten, das uns in der Definition der Aufklärung begegnet. Dieses erste Wort ist »Ausgang«. Darüber möchte ich eine Reihe von Bemerkun gen machen. Sehr schematisch können wir sagen, daß in den philosophischen Spekulationen über die Geschichte - und im r 8. Jahrhundert waren sie wahrhaft zahlreich - der gegenwärti ge Augenblick gewöhnlich auf drei mögliche Weisen bezeich net wurde. Entweder, indem man angab, in welchem Weltalter man sich gegenwärtig befand, ein bestimmtes Weltalter, das sich von den anderen durch irgendein eigentümliches Merkmal unterschied oder das sich durch ein bestimmtes dramatisches Ereignis auszeichnete. Gehört man beispielsweise einem Zeit alter der Dekadenz an oder nicht ?'' Zweitens konnte die Be zeichnung der Gegenwart durch den Bezug auf ein mehr oder weniger bevorstehendes Ereignis erfolgen, dessen Vorzeichen man sehen konnte: ein Zustand des ewigen Friedens, wie frü her das Reich der letzten Tage oder das dritte Weltalter. Oder aber man konnte die Gegenwart als einen Augenblick des Ü bergangs definieren, aber eines Übergangs, durch den man in einen stabilen, dauernden und vollendeten Zustand eintrat. Ei nen solchen Augenblick beschrieb beispielsweise Vico im letz ten Kapitel der Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die ge meinsame Natur der Völker. Das Kapitel trägt die Überschrift »Beschreibung der alten und neuen Völkerwelt, entworfen nach dem Plan der Prinzipien dieser Wissenschaft«.3 Er erin nert in diesem letzten Kapitel an das, was er als den allgemei nen Weg j eder Gesellschaft charakterisiert hatte: Aristokratie, dann Freiheit des Volkes, dann Monarchie. Zu B eginn dieses Kapitels erinnert er daran, wie Karthago, Capua, Numantia nicht in der Lage waren, diesen Weg zu Ende zu gehen. Allein Rom hätte es geschafft, und zwar zunächst durch einen Staat, in dem die Aristokratie herrschte, dann die Freiheit der Repu blik bis zu Augustus und schließlich eine Monarchie, die fort bestand, solange es möglich war, den inneren und äußeren UrManuskript zitiert Foucault hier als Beispiel für diese Möglichkeit den Staatsmann Platons.
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sachen zu widerstehen, die einen solchen Staat zerstören. Nun stehen wir heute, sagt Vico, an der Schwelle dieses Systems ei ner stabilen Monarchie, die genauso lange bestehen wird, wie innere und äußere Ursachen sie nicht zerstören. »Gegenwärtig scheint eine vollkommene Humanität über alle Nationen ver breitet, indem wenige große Monarchen diese Welt der Völker beherrschen«;4 und er beschreibt Europa als eine Art von zu sammengesetzter Figur, bei der es aristokratische Regierungen im Norden, Volksregierungen in den Schweizer Kantonen und den Niederlanden und schließlich ein paar große Monarchien gebe, die das Vorbild des Staates bilden, auf den wir zustreben. »Doch überall strahlt das christliche Europa von solcher Hu manität, daß es im Ü berfluß alle Güter besitzt, die das mensch liche Leben beglücken können, nicht weniger in B ezug auf das Behagen des Körpers als in Bezug auf die Ergätzungen des Geistes und des Gemüts.«5 Nun muß man sich darüber im kla r e n sein, daß das, was Kant als die Zeit der Aufklärung bezeich net, weder etwas ist, dem man zugehört, noch etwas, das be vorsteht oder das man schon erreicht hätte. Es ist nicht einmal ein Ü bergang von einem Zustand in einen anderen, was üb rigens, genau genommen, immer wieder mehr oder weniger darauf hinausliefe, eine Zugehörigkeit, ein B evorstehen oder etwas Erreichtes zu charakterisieren. Kant bestimmt die Ge genwart bloß als Ausgang, als eine B ewegung, durch die man sich von etwas befreit, ohne daß etwas darüber gesagt wäre, woraufhin man sich bewegt. Zweite Bemerkung: Dieser Ausgang ist der Ausgang, so Kant, des Menschen aus dem Zustand der Unmündigkeit heraus. ="Jun stellt sich auch hier ein Problem, das in der Frage besteht: \\Tas ist dieser Mensch, d er der Akteur des Ausgangs ist ? Mit anderen Worten, handelt es sich um einen aktiven oder um ei nen passiven Prozeß ? Wenn es in dem Text »der Ausgang des lvl enschen« heißt, kann das bedeuten, daß der Mensch sich durch einen Akt der Entscheidung dem Zustand, in dem er sich befand, tatsächlich entreißt. Es kann aber auch bedeuten, daß er in einem Prozeß befangen ist, der ihn mit sich führt und der 45
ihn von innen nach außen trägt, von einem Zustand in einen anderen. Und dann muß man sich natürlich die Frage stellen, was dieser Mensch ist, der einen solchen Ausgang unternimmt. Soll man darunter die Menschheit als Gattung verstehen ? Soll man die menschliche Gesellschaft als universelles Element auf fassen, innerhalb dessen sich die Vernunft der verschiedenen Individuen begegnet ? Handelt es sich um b estimmte menschli che Gesellschaften, die Träger dieser Werte sind ? Oder handelt es sich um Individuen, um welche Individuen usw. ? Der Text spricht bloß vom >>Ausgang des Menschen«. Die dritte Bemerkung und die dritte Fragestellung beziehen sich schließlich auf das Ende des Absatzes. Denn einerseits, wenn man den Anfang des Absatzes und den Anfang der Be stimmung betrachtet, wird die Aufklärung charakterisiert als
>>der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Un mündigkeit«. Und man hat den Eindruck, wenn man diesen Anfang liest, daß Kam hier eine Bewegung meint, eine Bewe gung des Ausgangs, eine B efreiung, die sich g erade vollzieht und die eben das bedeutsame Element unserer Gegenwart aus macht. Nun erscheint aber am Ende des Absatzes eine ganz an dere Art von Diskurs. Es handelt sich nicht mehr um einen be schreibenden Diskurs, sondern um einen vorschreibenden. Kam beschreibt nicht mehr, was sich ereignet, sondern er sagt: >>Sapere aude ! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ! ist also der Wahlspruch der Aufklärung«. Nun, wenn ich sage, daß das eine Vorschrift ist, dann ist es doch in Wirk lichkeit etwas komplizierter. Er verwendet das Wort >>Wahl spruch<<, was Motto oder Wappen bedeutet. Der Wahlspruch ist eigentlich eine Maxime, ein Gebot, eine Anordnung, die ge geben wird, und zwar den anderen und sich selbst. Zugleich ist er aber - und in diesem Sinne ist das Gebot des Wahlspruchs ein Motto und ein Wappen - etwas, wodurch man sich identifiziert und das erlaubt, sich von den anderen zu unterscheiden. Der Gebrauch einer Maxime als Gebot ist also zugleich eine Auf forderung und ein Unterscheidungszeichen. Was Kant meinen könnte, wenn er von der Aufklärung als >>Ausgang des Men-
sehen aus s einer Unmündigkeit<< spricht, erscheint durch das alles, wie Sie sehen, weder sehr leicht noch sehr klar. Das sind also einige Ü berblicksfragen. Versuchen wir nun, ein wenig mehr in den Text hineinzukommen und zu sehen, wie diese Beschreibung zugleich eine Vorschrift sein kann; was die ser Mensch ist, der den Ausgang vollziehen soll; und worin der Ausgang besteht, da das die drei Fragen waren, denen wir eben begegnet sind. Der erste Punkt, den wir aufhellen müssen: Was versteht Kant unter diesem Zustand der Unmündigkeit, von dem er spricht und von dem er sagt, daß der Mensch dabei sei, aus ihm her auszutreten, und von dem er ebenfalls sagt, daß der Mensch aus ihm heraustreten muß, da er den Menschen auffordert, aus ihm herauszutreten ? Erstens darf dieser Zustand der Unmün digkeit nicht mit einer natürlichen Ohnmacht verwechselt werden. Er ist nicht so etwas wie die Kindheit des Menschen. Weiter unten im Text gebraucht er einen Ausdruck, den die französischen Ü bersetzer (es gibt zwei französische Ü berset zungen6) nicht sehr gut wiedergegeben haben. Es handelt sich um das deutsche Wort >> Gän ge/wagen<<, das j ene kleinen Wa gen bezeichnet, die man im r 8 . Jahrhundert verwendete - um die Kinder abzusichern, setzte man sie in eine Art von Trapez mit Rädern, das ihnen das Laufen ermöglichte. Er sagt, daß sich die Menschen derzeit in einer Art von Gängelwagen befinden (es handelt sich keineswegs um den Schlitten [brancard] oder das Laufgitter [parc]/ von dem die Ü bersetzungen sprechen), was wohl nahelegt, daß der Mensch sich gegenwärtig noch im Zustand der Kindheit befindet. Kant sagt j edoch zu Beginn des zweiten Absatzes, daß dieser Zustand der Unmündigkeit, in dem der Mensch sich befindet, tatsächlich insofern kein Zu stand natürlicher Ohnmacht ist, als die Menschen völlig in der Lage sind, sich selbst zu steuern. Dazu sind sie im Prinzip voll und ganz fähig, und es ist nur ein bestimmter Faktor - den man bestimmen muß: ein Fehler, ein Mangel oder ein Wille bzw. eine bestimmte Form des Willens -, der dafür verantwortlich ist, daß sie eben faktisch nicht dazu in der Lage sind. Verwech47
sein wir also diesen Zustand der Unmündigkeit nicht mit dem, was manche Philosophen als Zustand der natürlichen Kindheit einer Menschheit bezeichnet haben, die noch nicht die Mittel und Möglichkeiten ihrer Selbstbestimmung erworben hat. Zweitens, wenn es bei diesem B egriff der Unmündigkeit nicht um eine natürliche Ohnmacht geht, handelt es sich dann wohl um einen juristischen oder politisch-juristischen B egriff, der sich auf die Tatsache bezieht, daß die Menschen derzeit der le gitimen Ausübung ihrer Rechte aufgrund irgendeines Umstan des beraubt sind oder daß sie absichtlich auf ihre Rechte in ei nem ursprünglichen Gründungsakt verzichtet haben oder daß man sie dieser Rechte durch irgendeine List oder durch Gewalt beraubt hat ? Aber auch hier muß bemerkt werden, daß das nicht die Dinge sind, von denen Kant spricht. Er sagt es übri gens selbst ausdrücklich: Wenn die Menschen sich in diesem Zustand der Unmündigkeit befinden, wenn sie sich der Lei tung anderer unterstellen, dann nicht deshalb, weil die anderen die Macht erobert hätten, und auch nicht, weil man ihnen diese Macht in einem grundlegenden Abkommen verliehen hätte. Der Grund der Unmündigkeit liegt darin, daß die Menschen nicht imstande sind, sich selbst zu führen oder es nicht wollen und daß andere entgegenkommenderweise sich erboten haben, sie unter ihre Führung zu stellen. 8 Er bezieht sich auf einen Akt oder vielmehr eine Einstellung, auf eine Verhaltensweise, eine Form des Willens, die allgemein und dauerhaft ist und die noch nicht gleich ein Recht schafft, sondern bloß eine Art von fakti schem Zustand, in dem manche durch Gefälligkeit und in ge wissem Sinne durch eine B ereitwilligkeit, die einen leichten Hauch von List und Schläue hat, einfach die Führung der ande ren übernommen haben. Was aber noch deutlicher zeigt, daß es sich nicht um die B eraubung eines Rechts handelt, daß es in keiner Weise um den Zustand juristischer Unmündigkeit geht, in dem die Menschen unfähig wären und der Fähigkeit be raubt, die Macht, die ihnen gehört, zu nutzen, sind die B eispie le, die Kant für diesen Zustand der Unmündigkeit gibt: »Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat«, » einen Seelsorger, der
für mich Gewissen (moralisches Gewissen) hat«, >>einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt«, so >>brauche ich mich ja nicht
selbst zu bemühen.«9 Und das illustriert für Kant den Zustand der Unmündigkeit. Ein Buch als einen Ersatz für den Verstand z u nehmen, einen Seelsorger als Ersatz für das Gewissen zu mehmen, einen Arzt zu nehmen, der die Diät vorschreibt, das charakterisiert, illustriert und manifestiert auf konkrete Weise, was es heißt, sich in einem Zustand der Unmündigkeit zu be finden. Sie sehen deutlich, daß es sich überhaupt nicht um eine natürliche Abhängigkeit handelt, und auch nicht um eine Si ruation, in der das Individuum sich seiner Rechte durch ir gendeine (juristische oder politische) Enteignung beraubt sähe. Sie sehen auch, daß es nicht einmal um eine Form von Autori :ät geht, die Kant selbst als illegitim ansehen würde. Er hat es nie als illegitim betrachtet, daß es Bücher gibt oder daß man welche liest. Er würde auch zweifellos nicht gemeint haben, daß es illegitim s ei, einen Seelsorger zu haben, und auch nicht, sich an einen Arzt zu wenden. Aber worin b esteht dann d er Zustand der Abhängigkeit ? In der Art und Weise, wie das Indi .-iduum diese drei Autoritäten gegenüber sich selbst ins Spiel bringt: die des Buches, die des Seelsorgers und die des Arztes; :n der Art und Weise, wie das Individuum seinen eigenen Ver s:and durch das Buch ersetzt, welches es an die Stelle seines ei genen Verstandes treten läßt. Es ist die Art und Weise, wie es das moralische Gewissen eines Seelsorgers, der ihm sagt, was es z u tun hat, an die Stelle seines eigenen Gewissens setzt. Und schließlich ist es eine bestimmte Art und Weise, sich des eige :: e n technischen Wissens für das eigene Leben zu bedienen, durch die es das Wiss en eines Arztes an die Stelle dessen s etzt, o;;;: a s es selbst über sein eigenes Leb en wissen, entscheiden und •.·orhersagen kann. Ich glaube nun, daß es keine Ü berinterpretation des Textes darstellt, wenn man meint, hinter diesen drei B eispielen, die a.."l s cheinend äußerst schlicht und gewöhnlich sind (das Buch, d er Seelsorger, der Arzt), die drei Kritiken wiederzufinden. Ei ::erseits wird die Frage nach dem Verstand gestellt; im zweiten 49
Beispiel die Frage nach dem Seelsorger, das ist das Problem des moralischen Gewissens; und in der Frage nach dem Arzt sehen Sie zumindest eines der Kernstücke, die später den charakteri stischen Bereich der Kritik der Urteilskraft bilden werden. Drei konkrete Beispiele, drei Beispiele ohne den gewöhnlich strahlenden philosophischen, juristischen oder politischen Sta tus, nämlich das Buch, der Seelsorger und der Arzt. Aber es sind die drei Kritiken. Mir scheint, daß man diese Analyse der Unmündigkeit mit Blick auf die drei Kritiken lesen muß, die in dem Text untergründig und implizit vorhanden sind. Und dann sehen Sie auch, wie das kritische Unternehmen und der Prozeß der Aufklärung sich gegenseitig ergänzen, aufein ander angewiesen sind und sich aufeinander berufen. Was ist denn in der Tat die Kritik der reinen Vernunft, wenn nicht das, was uns lehrt, von unserem Verstand einen rechtmäßigen Ge brauch zu machen. Wenn aber von unserem Verstand in den Grenzen Gebrauch gemacht werden soll, die von der Analytik der Vernunft aufgezeigt werden, dann müssen wir auch kon kret, persönlich und individuell von unserem Verstand einen selbstbestimmten Gebrauch machen, ohne uns auf die Autori tät eines Buches zu beziehen. Diese beiden Seiten - die Seite der Kritik und die der Aufklärung, sozusagen der Frage nach dem Verstand (seinen Verstand nur innerhalb der rechtmäßigen Grenzen zu gebrauchen, aber einen selbständigen Gebrauch von unserem Verstand zu machen) - diese beiden Notwendig keiten, Verpflichtungen, Prinzipien entsprechen einander, und zwar nicht nur in Form einer Komplementarität (überschrei ten Sie die Grenzen nicht, sondern gebrauchen Sie Ihren Ver stand auf selbständige Weise), sondern auch insofern, als man sich gerade deshalb auf eine Autorität beruft, weil man die rechtmäßigen Grenzen der Vernunft überschreitet, eine Auto rität, die uns gerade in den Zustand der Unmündigkeit verset zen wird. Die kritischen Grenzen zu überschreiten und sich der Autorität eines anderen zu unterstellen, das sind die beiden Seiten dessen, wogegen Kam sich in der Kritik erhebt, dasj eni ge, von dem der Prozeß der Aufklärung selbst uns befreien
s oll. Die kritische Reflexion und die Analyse der Aufklärung o der vielmehr die Einfügung der Kritik in den geschichtlichen Prozeß der Aufklärung wird hier zumindest andeutungsweise bezeichnet. Dasselbe könnte man über das zweite Beispiel, das des Seelsor gers, das des Gewissens sagen. Die Kritik der praktischen Ver nunft lehrt uns, daß wir unsere Pflicht nicht von unserem spä teren Schicksal abhängig machen dürfen. Zugleich sollen wir einsehen, daß wir unser eigenes Gewissen gebrauchen sollen, 'Jm unser Verhalten zu bestimmen. Auch hier fällt die Komple mentarität auf: Wenn wir unsere Pflicht nicht von der reinen Form des Imperativs, sondern von dem abhängig machen, was wir für unser späteres Schicksal halten, vertrauen wir in diesem Augenblick die Bestimmung unseres Verhaltens nicht uns seihst an, worin die Mündigkeit bestehen würde, sondern ei nem Seelsorger, einem Seelsorger, der uns in manchen Fällen nützlich sein kann, der aber nicht das Prinzip unseres Willens sein darf. Zu einem solchen Prinzip wird er jedoch, wenn wir -,-ersuchen, unser moralisches Verhalten auf das zu gründen, ,,-as unser späteres Schicksal sein mag. Man sieht also, wie sich auf deutliche, wenn auch unaufdringliche Weise die Beziehung zwischen der B egrenzung, die wir in der kritischen Reflexion ::ben sollen, und der Verselbständigung durch den Prozeß der Aufklärung abzeichnet. Der Ausgang aus der Unmündigkeit und die Ausübung der kritischen Aktivität sind, glaube ich, z"-ei miteinander verbundene Operationen, deren Verbindung in diesen drei Beispielen oder zumindest in den ersten beiden erscheint. Diese Beziehung der Zusammengehörigkeit zwischen der Kri :ik und der Aufklärung - eine implizite Beziehung - wird zwar :-,icht formuliert. Ich habe jedoch den Eindruck, daß man die '\Cirkungen und gleichsam den Widerhall durch den ganzen Text hindurch finden kann. Wenn Kant nachdrücklich betont, 3.:�;� d e r Zustand der Unmündigkeit seinen Grund nicht in an deren, sondern im j eweiligen Menschen selbst hat, haben wir hier, so scheint mir, einen Widerhall, etwas, das gleichsam in 51
empirischen Begriffen dem entspricht, was die Kritik zu analy sieren versuchte, als sie darauf abzielte, nicht die überkomme nen, eingewurzelten und geglaubten Irrtümer zu widerlegen, sondern zu zeigen, wie und aus welchen Gründen notwendi gerweise die Trugbilder entstehen, die wir uns machen. Eben so, wenn Kant in seinem Text über die Aufklärung sagt, daß die Menschen ihren eigenen Zustand der Unmündigkeit selbst verschuldet haben - bis zu einem solchen Grad, daß, wenn man sie befreite und sie irgendwie auf autoritäre Weise aus ihrem Gängelwagen (dem Wagen, der sie wie die Kinder leitet) her ausholte, sie in diesem Fall Angst hätten hinzufallen. Sie wären nicht in der Lage zu gehen und selbst die leichtesten Gräben zu überschreiten. Sie würden hinfallen. Mir scheint, daß wir hier so etwas wie das symmetrische und umgekehrte Bild des be rühmten Fluges der Vernunft haben, die, indem sie über ihre Grenzen hinausgeht, nicht einmal mehr weiß, daß kein Luft druck sie mehr stützen kann. Jedenfalls ist das System von Echos zwischen der Kritik und dieser Analyse der Aktualität der Aufklärung in dem Text ziemlich deutlich. Unaufdringlich zwar, aber deutlich. Wie dem auch sei, so können wir doch zumindest von diesen Beziehungen zwischen der Kritik und der Aufklärung, von die sem Anfang des Textes ausgehend, ganz allgemein als erstes festhalten, daß die Unmündigkeit, aus der die Aufklärung uns herausführen soll, sich durch eine Beziehung zwischen dem Gebrauch, den wir von unserer eigenen Vernunft machen oder machen könnten, und der Leitung der anderen bestimmt. Der Zustand der Unmündigkeit wird gerade durch diese B ezie hung, diese verdorbene B eziehung zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen charakterisiert. Zwei tens, woher rührt diese Ü berlagerung der Leitung der anderen über den Gebrauch, den wir von unserem eigenen Verstand oder Gewissen usw. machen könnten und sollten ? Sie geht nicht auf die Gewalt einer Autorität zurück, sondern hat ihren Ursprung nur in uns selbst, in einem bestimmten Verhältnis zu uns selbst. Und dieses Verhältnis zu uns selbst charakterisiert
Kant durch Ausdrücke, die dem Register der Moral entlehnt sind. Er spricht von »Faulheit« und »Feigheit«.10 Ich glaube, daß er damit - man sollte darauf näher eingehen - nicht morali sche Schwächen im Blick hat, sondern eine Art von Mangel im Verhältnis der Autonomie zu sich selbst. Die Faulheit und die Feigheit sind dasj enige, weshalb wir uns nicht selbst zu der Entscheidung, der Kraft und dem Mut durchringen, mit uns selbst j ene Beziehung der Autonomie zu unterhalten, die uns erlaubt, uns unserer Vernunft und unserer Moral zu bedienen. Folglich besteht das Ziel der Aufklärung gerade in der Neuver teilung der Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen. Wie sieht diese Neuverteilung, die bereits eingesetzt hat, nach Kant aus ? Wie vollzieht sie sich, und wie soll sie sich vollziehen - da wir es j a zugleich mit einer Beschreibung und einer Vorschrift zu tun haben ? An dieser Stelle nimmt nun der Text eine sehr seltsame Wen dung. Erstens stellt Kant fest, daß die Individuen aus sich s elbst nicht imstande sind, aus ihrem Zustand der Unmündigkeit herauszutreten. Warum sind sie dazu nicht imstande ? Genau aus denselben Gründen, die schon angegeben wurden und die erklären, warum man sich im Zustand der Unmündigkeit be findet und warum die Menschen diesen Zustand selbst ver schuldet haben. Nämlich weil sie feige und faul sind, weil es ihre eigene Angst ist. Ich wiederhole, selbst wenn sie von ihren Fesseln befreit werden, s elbst wenn sie von dem befreit wer den, was sie hindert, selbst wenn sie von dieser Autorität be freit werden, würden sie nicht die Entscheidung auf sich neh :nen, auf ihren eigenen Beinen zu gehen, und würden hinfallen, nicht weil die Hindernisse zu groß wären, sondern weil sie A.11g st hätten. Wir befinden uns im Zustand der Unmündig keit, weil wir feige und faul sind, und wir können diesen Zu Siand gerade deshalb nicht verlassen, weil wir feige und faul sind. Das ist dann die zweite Hypothese, die von Kant erwähnt ".. · ird: Wenn die Menschen nicht in der Lage sind, von sich aus
ic.l.ren Zustand der Unmündigkeit zu verlassen, gibt es dann In53
dividuen, die aufgrund ihrer Autorität, durch ihre Einwirkung auf die anderen in der Lage sind, sie aus dem Zustand der Un mündigkeit zu befreien ? Kant spricht von Individuen, die selbst denken, d. h. die als einzelne dieser Faulheit und Feigheit wirklich entkommen konnten und die, da sie selbständig den ken, die Autorität gegenüber den anderen übernehmen wür den, die diese gerade fordern. Es handelt sich also um j ene Leu te, die sich entgegenkommenderweise - sagte Kant weiter oben ironisch - der Leitung der anderen annehmen.1 1 Während sie sich aber der Leitung der anderen annehmen, indem sie sich auf ihre eigene Autonomie stützen, entschließen sich manche die ser Leute, die sich ihres eigenen Werts und »des Berufs j edes Menschen, selbst zu denken«, 12 bewußt sind, die Rolle von B e freiern gegenüber den anderen zu spielen. Sie denken also selbst und stützen sich auf diese Autonomie, um gegenüber den anderen die Autorität zu übernehmen. Aber dieser Autori tät gegenüber den anderen bedienen sie sich auf solche Weise, daß das Bewußtsein ihres eigenen Werts gewissermaßen aus strömt und zur Feststellung und Behauptung des Willens j edes Menschen wird, es ihnen gleichzutun, d. h. selbst zu denken. Nun sind j edoch diese Individuen, so Kant, die sich wie geisti ge oder politische Führer der anderen verhalten, in Wirklich keit nicht in der Lage, die Menschheit aus der Unmündigkeit herauszuführen. Warum sind sie dazu nicht in der Lage ? Gera de deshalb, weil sie damit begonnen haben, die anderen ihrer eigenen Autorität zu unterstellen, so daß diese anderen, da sie an das Joch gewöhnt sind, die Freiheit und Befreiung, die man ihnen zuteil werden läßt, nicht ertragen. Sie zwingen und nöti gen j ene, die sie befreien wollen, weil sie sich selbst befreit ha b en, sich diesem Joch zu unterwerfen, das sie aus Feigheit und Faulheit akzeptieren, diesem Joch, das sie als von einem ande ren ausgehend akzeptiert haben und dem sie ihn nun unterwer fen wollen. Folglich ist es ein Gesetz aller Revolutionen - das wurde 1 784 geschrieben -, daß diej enigen, die sie vom Zaun brechen, notwendigerweise unter das Joch j ener fallen, die sie befreien wollten. 54
Da es also nicht die Menschen selbst sind, da es nicht ein Teil der Menschen ist, der diesen Prozeß der Umwandlung, des Ausgangs aus dem Zustand der Unmündigkeit in einen Zu stand der Mündigkeit ausführt, nun, sagt Kant, um zu sehen, wie die Aufklärung, die Befreiung, der Ausgang aus der Un mündigkeit zu bewerkstelligen seien, muß man genau zusehen, was den Zustand der Unmündigkeit ausmacht. Und er sagt, daß der Zustand der Unmündigkeit sich durch die Bildung zweier nicht zusammenpassender und unrechtmäßiger Paa rungen auszeichnet: erstens die Paarung zwischen dem Gehor sam und d er Abwesenheit vernünftigen D enkens; zweitens die Paarung oder zumindest die Vermischung zweier Dinge, die voneinander unterschieden werden müssen: das Private und das Ö ffentliche. Zunächst zum ersten Paar, das in folgendem besteht. In den Gesellschaften, die wir kennen, räumt man ein - das wollen die Regierenden zumindest glauben machen, aber dieser Glaube ·wird auch von der Feigheit und der Faulheit der Regierten ge teilt -, daß es nur da Gehorsam geben kann, wo es an vernünf tigem Denken fehlt. Und Kam gibt drei B eispiele dafür an:D das Beispiel der Offiziere, die zu ihren Soldaten sagen: Räson niert nicht, sondern gehorcht; das Beispiel des Geistlichen, der z u den Gläubigen sagt: Räsonniert nicht, sondern glaubt; das B eispiel des Finanzbeamten, der sagt: Räsonniert nicht, son dern bezahlt. Das verwendete Wort ist Räsonnieren, das in den KTitiken, wie Sie wissen, aber vor allem in der Kritik der reinen \ "emunft den besonderen Sinn von »Vernünfteln<< 14 hat, das hier j edoch im Sinne von >>seine Fähigkeit zu vernünftigem D enken zu gebrauchen<< zu verstehen ist. In dieser Struktur des Zustands der Unmündigkeit haben wir also diese Zusammen gehörigkeit des Gehorsams und der Abwesenheit des Räson nieTens - des Gebrauchs der Fähigkeit zu vernünftigem Den ken. Tatsächlich gibt es, so Kant, nur ein einziges Wesen in der \);-'elt - er sagt nicht, welches - nur einen einzigen >> Herrn in der \\"elt<<, 1 5 der imstande wäre zu sagen: Räsonniert, so viel ihr ,,· ollt, ab er gehorcht. Natürlich stellt sich die Frage, wer dieser 55
Herr ist, dieser einzige Herr in der Welt, der sagt: Räsonniert so viel ihr wollt, aber gehorcht. Ist es Gott, ist es die Vernunft selbst, ist es der König von Preußen ? Sie werden sehen, daß es gewiß nicht der erste, teilweise die zweite und vor allem der dritte ist. Das zweite Paar, das den Zustand der Unmündigkeit charakte risiert, ist das Paar, das von den beiden B ereichen des Privaten und des Ö ffentlichen gebildet wird, des Privaten und des Pu blikums (j enes berüchtigten Publikums, von dem wir vorhin sprachen). Aber hier muß man große Vorsicht walten lassen. Wenn Kant das Private vom Ö ffentlichen unterscheidet, hat er keinesfalls oder zumindest nicht in erster Linie zwei Hand lungsbereiche im Auge, von denen der eine aus einer Reihe von Gründen öffentlich, während der andere aus entgegengesetz ten Gründen privat wäre. Das, worauf er die B ezeichnung »privat« anwendet, ist nicht ein B ereich von Dingen, sondern ein gewisser Gebrauch, und zwar ein Gebrauch von Fähigkei ten, über die wir verfügen. Und was er » öffentlich« nennt, ist weniger ein genau bestimmter B ereich von Dingen oder Tätig keiten, sondern eine bestimmte Art und Weise, von unseren Fähigkeiten Gebrauch zu machen und sie zur Anwendung zu bringen. Worin besteht der private Gebrauch dieser Fähigkeiten ? In b e zug worauf machen wir Gebrauch von den Fähigkeiten, den Kant den privaten Gebrauch nennt ? Nun, in unserer berufli chen Tätigkeit, in unserer öffentlichen Tätigkeit, wenn wir Be amte sind, wenn wir Bestandteile einer Gesellschaft oder Re gierung sind, deren Prinzipien und Ziele die des kollektiven Wohls sind. Mit anderen Worten - und hier gibt es einen klei nen Trick oder eine kleine Abweichung gegenüber der sonsti gen Verwendung derselben Wörter -, was er das Private nennt, ist im Grunde das, was wir den öffentlichen oder zumindest den beruflichen Bereich nennen würden. Und warum nennt er diesen Bereich privat ? Einfach aus folgendem Grund. Was sind wir eigentlich in allen diesen Tätigkeitsformen, bei dem Ge brauch, den wir von unseren Fähigkeiten als Beamte machen,
wenn wir einer Institution oder einer politischen Körperschaft angehören ? Wir sind bloß, so Kam, »Teile einer Maschine«. 1 6 Wir sind Teile einer Maschine, die sich an einem bestimmten Ort befinden und eine bestimmte Rolle spielen, während es an dere Teile der Maschine gibt, die andere Rollen zu spielen haben. In diesem Sinne fungieren wir nicht als universelles Subj ekt, sondern als Individuum. Und wir müssen einen genau bestimm ten Gebrauch von unserer Fähigkeit innerhalb eines Ganzen machen, das selbst eine globale und kollektive Funktion erfüllt. Darin besteht der private Gebrauch. \'fas ist nun aber der öffentliche Gebrauch ? Das ist gerade der Gebrauch, den wir von unserem Verstand und unseren Fähig keiten machen, insofern wir uns auf einen universellen Stand punkt stellen, insofern wir als universelles Subj ekt gelten kön nen. Nun ist j edoch klar, daß keine politische Tätigkeit, keine Verwaltungstätigkeit, keine Form ökonomischer Praxis uns in diese Lage des universellen Subj ekts versetzt. Unter welchen B edingungen konstituieren wir uns selbst dann als universelles Subjekt ? Nun, genau dann, wenn wir uns als vernünftiges Sub iekt an die Gesamtheit der vernünftigen Wesen richten. Bloß in dieser Tätigkeit, die gerade und schlechthin die des Schriftstel iers ist, der sich an den Leser wendet, in diesem Augenblick be gegnen wir einer Dimension des Ö ffentlichen, die zugleich die Dimension des Universellen ist. Oder vielmehr begegnen wir einer Dimension des Universellen, und der Gebrauch, den wir in dieser Situation von unserem Verstand machen, kann und muß ein öffentlicher Gebrauch sein. Folglich können wir j etzt sehen, worin die Unmündigkeit be s teht und worin der Ausgang aus der Unmündigkeit bestehen ,,·ird . Unmündigkeit liegt immer dann vor, wenn man das Prin zip des Gehorsams - der mit dem Nicht-Gebrauch der Ver rmDJt durcheinander gebracht wird - nicht nur dem privaten Gebrauch, sondern auch dem öffentlichen Gebrauch unseres Verstandes überlagert. Wenn Gehorchen mit dem Nicht-Ge brauch der Vernunft verwechselt wird und wenn man durch diese Verwechslung des Gehorchens und des Nicht-Gebrauchs 57
der Vernunft das unterdrückt, was der öffentliche und univer selle Gebrauch unseres Verstandes sein sollte, dann liegt Un mündigkeit vor. Dagegen liegt Mündigkeit vor, wenn gewisser maßen die richtige Gliederung zwischen diesen beiden Paaren wiederhergestellt wird: Wenn der vom Gebrauch der Vernunft wohl getrennte Gehorsam gänzlich und unbedingt für den Pri vatgebrauch gilt (d. h. wenn wir als Staatsbürger, als Beamte, als Soldaten, als Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft usw. ge horchen) und wenn andererseits der Gebrauch der Vernunft sich in der Dimension des Universellen abspielt, d. h. in der Ö ffnung auf ein Publikum, demgegenüber keinerlei Pflicht be steht oder vielmehr keinerlei Beziehung des Gehorsams oder der Autorität. In der Unmündigkeit gehorcht man in jedem Fall, sei es im privaten oder im öffentlichen Gebrauch, und folglich räsonniert man nicht. In der Mündigkeit entkoppelt man den Gebrauch der Vernunft und den Gehorsam. Man macht den Gehorsam im Privatgebrauch und die totale und unbedingte Freiheit des Räsonnierens im öffentlichen Ge brauch geltend. Sie sehen, daß wir hier die Definition der Auf klärung haben. Und Sie sehen, daß die Aufklärung, Kam sagt es selbst, das genaue Gegenteil der >>Toleranz« istY Was ist denn eigentlich die Toleranz ? Die Toleranz ist gerade das, was das Räsonnieren, die Diskussion, die Freiheit zu denken in ih rer öffentlichen Form ausschließt, und diese Freiheit nur im persönlichen, privaten und verborgenen Gebrauch akzeptiert bzw. toleriert. Die Aufklärung wird dagegen der Freiheit die Dimension der größten Ö ffentlichkeit in Form des Universel len geben und den Gehorsam nur in j ener Privatrolle, d. h. j e ner Sonderrolle aufrechterhalten, die innerhalb des Gesell schaftskörpers bestimmt ist. Darin soll also der Prozeß der Aufklärung, der Neuverteilung der Regierung des Selbst und der anderen, bestehen. Wie soll sich aber diese Operation vollziehen, was soll ihr Akteur sein ? An dieser Stelle wendet sich der Text um, und zwar derart, daß bis zu einem gewissen Punkt der größte Teil der Prinzipien, auf denen seine Analyse aufgebaut war, in Frage gestellt wird, was
bis zu einem gewissen Grad den möglichen Ort des Textes über die Revolution bezeichnet. Wie vollzieht sich also nach Kant der Ausgang ? Vollzieht er sich überhaupt schon ? Und wo ste hen wir mit ihm ? Welches ist in diesem Prozeß des Ausgangs der Punkt der Gegenwart ? Auf diese Frage gibt Kant eine voll kommen tautologische Antwort und drückt eigentlich nichts weiter als die Frage aus. Er sagt: Wir sind »unterwegs zur Auf klärung«. 1 8 Der deutsche Text sagt sehr genau: Wir leben in ei nem Zeitalter der Aufklärung. Auf die Frage: »Was ist die Auf klärung und wo stehen wir in diesem Prozeß der Aufklärung ? « begnügt e r sich damit, als Antwort z u geben: Wir befinden uns in einem Zeitalter der Aufklärung. Um j edoch dieser Frage einen solchen Inhalt zu geben, bringt Kant eine Reihe von heterogenen Elementen ins Spiel, die abermals die Grundanordnung seiner Analyse in Frage stellen. Erstens sagt er: Es gibt gegenwärtig Zeichen, die diesen Prozeß der Befreiung ankündigen, und diese Zeichen deuten darauf hin, daß »Hindernisse«19 im Wege stehen, die bisher dem Gebrauch der Vernunft durch den Menschen entgegenstan den. Nun wissen wir aber, daß es keine Hindernisse für den Gebrauch der Vernunft durch den Menschen gibt, da es der \lensch selbst ist, der durch seine Feigheit und Faulheit keinen Gebrauch von seiner Vernunft macht. Hier also macht Kant :mn das Bestehen von Hindernissen geltend. Zweitens, nach dem er ziemlich ausführlich gesagt und gezeigt hat, daß es kei ::en individuellen Akteur oder individuelle Akteure dieser Be ireiung geben kann, bringt er ausgerechnet den König von Preußen ins Spiel. Er bringt Friedrich von Preußen ins Spiel, ': o n dem er sagt - und in dieser Hinsicht ist Friedrich von Preu :3.m ein Akteur, der Akteur der Aufklärung selbst -, daß er in Rdigionsfragen keine Vorschriften gemacht hat. Das gilt auch �ir den B ereich der Wissenschaften und Künste,20 aber, sagt Kam, der ein b esonderes Problem mit der Religionsgesetzge6ung zu bereinigen hat, im Bereich der Wissenschaften und Künste werden dadurch nur wenige Probleme aufgeworfen, :.:nd es ist relativ einfach. Im B ereich der Religion also, wo viel 59
mehr Gefahren lauern, hat Friedrich von Preußen im Gegen satz zu seinem Nachfolger keine Vorschriften gemacht. Ande rerseits hat er aber die »öffentliche Ruhe« seines Staats durch eine starke und »wohldisziplinierte«2 1 Armee gesichert. In die ser völligen Freiheit, die Diskussion über die Religion zu füh ren, begleitet von der Einrichtung einer starken Armee, die die öffentliche Ruhe sichert, haben wir durch die Entscheidung Friedrichs von Preußen und s eine Art zu regieren genau j ene Justierung zwischen einer Regierung des Selbst, die sich in der Form des Universellen vollzieht (als öffentliche Diskussion, öffentliches Räsonnieren und öffentlicher Gebrauch des Ver standes), und andererseits dem Gehorsam, zu dem alle diej eni gen gezwungen sind, die einer bestimmten Gesellschaft, einem bestimmten Staat, einer bestimmten Verwaltung angehören. Friedrich von Preußen ist das Antlitz der Aufklärung selbst, ihr wesentlicher Akteur, der, wie es sich gehört, das Spiel zwi schen Gehorsam und Privatgebrauch, Universalität und öf fentlichem Gebrauch neu verteilt. Schließlich - und an dieser Stelle endet Kants Text - erwähnt er nach der Rolle Friedrichs von Preußen als Akteur der Aufklärung eine Art von Bündnis, welches das, was er gerade gesagt hat, auf eine dritte Weise in Frage stellt. Er hat es dadurch in Frage gestellt, daß er sagte, Hindernisse würden sich einstellen. Er hat seine eigene Ana lyse in Frage gestellt, indem er Friedrich von Preußen die Rolle eines einzelnen spielen ließ. Und nun in der Schlußfol gerung stellt er die genaue Aufteilung zwischen dem, was zur öffentlichen Diskussion und zum selbständigen Gebrauch des Verstands einerseits und zum Gehorsam und Privatgebrauch andererseits gehört, in Frage. Er erwähnt, was er für die wohl tuenden Wirkungen jener Ö ffnung einer öffentlichen Dimen sion für den Gebrauch der Vernunft hält. Und er sagt - in einer Textstelle, die übrigens recht dunkel ist, die man aber so inter pretieren kann -, daß gerade dadurch, daß man die Freiheit des öffentlichen Denkens so weit wie möglich anwachsen läßt, und dadurch, daß man diese freie und selbständige Dimension des Universellen für den Gebrauch des Verstandes eröffnet, dieser 6o
\·.erstand mehr oder weniger klar und eindeutig beweisen wird, da.G die Notwendigkeit zu gehorchen sich in der Ordnung der
b:irgerlichen Gesellschaft aufdrängt.22 Je mehr Freiheit man dt:n Denken lassen wird, umso sicherer kann man sein, daß der G -eist des Volkes zum Gehorsam gebildet wird. Auf diese Wei S·t zeichnet sich eine Ü bertragung des politischen Nutzens des ireien Vernunftgebrauchs auf den B ereich des privaten Gehor ab. Diese drei Lösungen oder vielmehr drei Definitionen des Pro zes s e s de r Aufklärung verschieben sich offensichtlich, wie Sie se::Cen, und widersprechen bis zu einem gewissen Grad dem Ga.nzen der Analyse, das sie in Frage stellen. Das Unbehagen, d.a.s Kant offenbar verspürt hat, den König von Preußen als den _\..,_:;: : eur der Aufklärung auftreten zu lassen, erklärt zweifellos s.<.:ns
zu.:n
Teil die Tatsache, daß das Agens der Aufklärung, der Pro
z.eS der Aufklärung selbst, in dem Text, von dem ich in der : e :zren Stunde gesprochen habe - der Text von 1 79 8 -, auf die
ReYolution übertragen wird. Oder genauer, nicht wirklich auf di e Revolution, sondern auf jenes allgemeine Phänomen, das sic:t um die Revolution herum abspielt und in der revolutionä :-e:: Begeisterung besteht. Die revolutionäre Begeisterung als c!.._ ;ens der Aufklärung, das ist in dem Text von I 79 8 der Ersatz ,:,der der Nachfolger dessen, was der König von Preußen in :iem Text von 1 7 8 4 war. Hören wir heute an dieser Stelle auf. In den folgenden Stunden -;:;;·erde ich dann das Problem der Regierung des Selbst und der �deren in einem ganz anderen Größenmaßstab, mit ganz an .:ie·en historischen Anhaltspunkten und ganz anderen Doku :::::: e m e n wieder aufnehmen. An dieser Stelle wollte ich Ihnen ::::r andeuten, wie diese Art von Problematik, die die Analyse d::r Gegenwart betrifft, in der Geschichte der modernen Philo5G?b.ie von Kant eingeführt werden konnte.
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Anmerkungen I »Qu' est-ce que les Lumieres ? <<, in: Kam, La Philosophie de l 'histoire, übers. V. s. Piobetta, a. a. 0., s. 46; dt. »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ?<<, in: Kam, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilo sophie, Politik und Pädagogik, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ M. I 9 64, S. 5 3 · 2 Ebd. 3 G. B. Vico, Principes de la philosophie de l'histoire, übers. v. J. Michelet, Paris I 96 3 ; dt. Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers. und eingel. v. Erich Auerbach, B erlin I 9 6 5 . (Vico schreibt »verbreitet<< anstatt »sich verbreiten<<). 4 A. a. O ., s . 4 I 6 . 5 A. a. O., s. 4 I 9. 6 Außer derj enigen von S. Piobetta, die er für diese Vorlesung verwendet, konnte Foucault die Übersetzung von J. Barni zu Rate ziehen (in: Ele ments de metaphysique de la doctrine du droit, Paris I 8 5 5). 7 Übers. v. S. Piobetta, Kant, » Qu 'est-ce que les Lumieres ?«, a. a. O., S. 47. 8 Kant, a. a. O., S. 5 3 · 9 Ebd. IO Ebd. I I »Daß der bei weitem größte Teil d er Menschen (darunter d as ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er be schwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht gütigst auf sich genommen haben« (A. a. 0., S. 5 3 ). I2 A.a.O., S. 54· IJ A. a. O., S. 5 5 · I 4 In der Kritik der reinen Vernunft kommt das Wort »Räsonnieren<< nicht vor. Dagegen hat dieser Begriff den Sinn von »Vernünfteln« bei Hegel, insbesondere in der Phänomenologie des Geistes: >>Das andere, das Räsonniren, hingegen ist die Freyheit von dem Inhalt, und die Ei telkeit über ihn« (G. W. F. Hege!, Gesammelte Werke, Bd. 9, Phänome nologie des Geistes, hg. v. Wolfgang B onsiepen und Reinhard Heede, Harnburg I 9 8o, S. 4 I). I 5 A . a . O . , S. 5 5 · I 6 A. a. O., S. 5 6. I 7 A. a. O., S. 6o. I 8 A. a. O., S. 5 9 · I 9 Ebd. 20 A. a. O ., S. 6o. 2I A. a. O., S. 6 r . 2 2 Räsonniert, s o viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht ! << (a. a. O., S. 5 5 ). »
( Sitzung vom
Vorlesun g 2 1 2 . } anuar 1 98 3 , erste Stunde)
,\ferhodische Rückbesinnung. - Bestimmung des Untersuchungsgegen s::mds des Jahres. - Parrhesia und Kultur des Selbst. - Galens Traktat über die Leidenschaften. - Die parrhesia: Schwierigkeiten der Begriffsbestim ,,-z;mg; bibliographische Anhaltspunkte. - Ein dauerhafter, vielschichtiger, nehrdeutiger Begriff - Platon vor dem Tyrannen von Syrakus: eine bei rcpielhafte Szene der parrhesia. - Ö dipus ' Echo. - Parrhesia versus Beweis/ Cm:erricht!Diskussion. - Das Element des Risikos.
Letztes Mal habe ich Sie kurz daran erinnert, worin das allge meine Proj ekt besteht, nämlich in dem Versuch einer Analyse dessen, was man die Brennpunkte oder Matrizen der Erfah rung nennen könnte, wie etwa der Wahnsinn, die Kriminalität, die Sexualität. Diese sollten dann entsprechend der Korrelati on der drei Achsen untersucht werden, die diese Erfahrungen ausmachen, nämlich der Achse der Bildung von Erkenntnis s en, der Achse der Narrnativität von Verhaltensweisen und schließlich der Achse der Konstitution von Seinsmodi des Sub ;ekts. Ich hatte auch schon versucht, Ihnen zu zeigen, welches die theoretischen Verschiebungen waren, die eine solche Ana l::se implizierte, sobald man damit beginnt, die Bildung von E rkenntnissen, die Narrnativität von Verhaltensweisen und die Seinsmodi des Subj ekts in ihrer Korrelation zu untersu ;: hen. Mir scheint nämlich, daß die Analyse der Bildung von Erkenntnissen, sobald man versucht, sie in dieser Perspektive darzustellen, nicht auf dieselbe Weise wie die Geschichte der \\"issensentwicklung durchgeführt werden darf, sondern im Ausgang von und aus der Perspektive der Analyse von Dis kurspraktiken und der Geschichte von Formen der Veridikti o n . Dieser Ü bergang, diese Verschiebung der Wissensentwick lung zur Analyse der Formen der Veridiktion bildete eine erste :heoretische Verschiebung, die zu leisten war. Die zweite zu leistende theoretische Verschiebung besteht darin, sich bei der A.11 a lyse der Narrnativität von Verhaltensweisen von einer all-
gemeinen Theorie der Macht oder von Erklärungen durch die Herrschaft im allgemeinen zu befreien und zu versuchen, die Geschichte und Analyse der Verfahren und Techniken der Gou vernementalität zur Geltung zu bringen. Schließlich besteht die dritte Verschiebung, die geleistet werden soll, im Ü bergang von einer Theorie des Subjekts, auf deren Grundlage man ver suchen könnte, die verschiedenen Seinsmodi der Subj ektivität freizulegen, zur Analyse der Modalitäten und Techniken der Selbstbeziehung oder auch zur Geschichte j ener Pragmatik des Subjekts in ihren verschiedenen Formen, für die ich Ihnen letz tes Jahr einige Beispiele zu geben versucht habe. Es geht also um folgendes: die Analyse der Formen der Veridiktion; die Analyse der Verfahren der Gouvernementalität; die Analyse der Pragmatik des Subj ekts und der Techniken des Selbst. Das sind die drei Verschiebungen, die ich skizziert habe. Ich habe Ihnen auch schon angedeutet, daß ich dieses Jahr eini ge der Fragen wiederaufnehmen wollte, die auf diesem Weg in der Schwebe gelassen wurden, indem ich gerade einige Aspek te, einige Fragen hervorheben möchte, die die Korrelation der drei Achsen besser kennzeichnen. Ich hatte mich abwechselnd vor allem der Untersuchung j eder dieser drei Achsen gewid met: der Achse der Bildung von Erkenntnissen und der Prakti ken der Veridiktion; der Achse der Narrnativität von Verhal tensweisen und der Technik der Macht; schließlich der Achse der Konstitution der Seinsmodi des Subjekts auf der Grundla ge von Praktiken des Selbst. Ich möchte nun versuchen zu se hen, wie man deren Korrelation feststellen kann bzw. wie sie entsteht, und einige Punkte, Elemente, B egriffe und Praktiken zu erfassen versuchen, die diese Korrelation kennzeichnen, und zeigen, wie sie eigentlich entstehen kann. Mit der Frage stellung nach der Regierung des Selbst und der anderen möchte ich versuchen herauszufinden, wie das Wahrsprechen, die Ver pflichtung und die Möglichkeit des Wahrsprechens in den Ver fahren der Regierung zeigen können, wie das Individuum sich in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen als Sub jekt konstituiert. Das Wahrsprechen in den Verfahren der Re-
gierung und die Konstitution eines Individuums als Subjekt für sich selbst und für die anderen: darüber möchte ich dieses Jahr sprechen. Die Vorlesung wird dieses Jahr also wohl etwas un zusammenhängend werden. Jedenfalls möchte ich einige As pekte dieses allgemeinen Problems untersuchen, indem ich mich auf einige besondere Begriffe und Praktiken beziehe. Der erste B ereich, die erste Akte, die ich öffnen möchte, ist die ienige, die uns letztes Jahr bei der Leitung des Gewissens und bei den Praktiken des Selbst in der Antike des I . u n d 2 . Jahr hunderts unserer Zeitrechnung begegnet ist. Sie erinnern sich, '"'·ir hatten j enen recht interessanten B egriff der parrhesia1 ken nengelernt [ . . .':J Eine der ursprünglichen Bedeutungen des griechischen Wortes parrhesia ist »alles sagen«. Man übersetzt ;es j edoch viel öfter mit Freimut, Redefreiheit usw. Dieser Be pi.ff der parrhesia, der für die Praktiken der Gewissensleitung große B edeutung hatte, war, Sie erinnern sich, ein reichhaltiger, mehrdeutiger und schwieriger Begriff, insofern er insbesonde re eine Tugend bezeichnete, eine Qualität (es gibt Menschen, die die Fähigkeit der parrhesia haben, und andere, die sie nicht traben); sie ist auch eine Aufgabe (vor allem in einer bestimm : e n Reihe von Fällen und Situationen muß man die Fähigkeit zur parrhesia in der Tat beweisen können); und schließlich ist sie eine Technik, ein Verfahren: Es gibt Menschen, die sich der pc< rrhesia zu bedienen wissen, und andere, die es nicht können. �-eichen Auftrag hat nun derj enige Mensch, den diese Tugend, Aufgabe und Technik unter anderem und vor allem charakteri sieren sollen ? Nun, die anderen zu leiten, und zwar insbeson dere die anderen in ihrem Bemühen und ihrem Versuch zu lei : e n , eine angemessene Beziehung zu sich selbst herzustellen. :.lit anderen Worten, die parrhesia ist eine Tugend, eine Aufga be und eine Technik, die man bei demjenigen findet, der das Gewissen der anderen leitet und ihnen hilft, eine Beziehung zu sich selbst herzustellen. Sie erinnern sich, daß wir letztes Jahr ;esehen haben, wie in der Antike, von der klassischen Epoche ,. �L F. :
Soll ich es vielleicht an die Tafel schreiben ? (Man hört Kreidege�äusche.)
bis in die Spätantike und insbesondere in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, eine gewisse Kultur des Selbst entwickelt wurde, die zu j ener Zeit ein solches Ausmaß angenommen hat, daß man von einem wahrhaft goldenen Zeit alter der Selbstkultur sprechen konnte.2 In dieser Selbstkultur, in dieser Selbstbeziehung konnte man die Entwicklung einer ganzen Technik und Kunst erkennen, die man lernen und aus üben kann. Wir hatten gesehen, daß diese Kunst des Selbst eine Beziehung zum anderen erfordert. Mit anderen Worten: Man kann sich nicht mit sich selbst befassen, sich um sich selbst sor gen, ohne eine Beziehung zu einem anderen zu haben. Die Rol le dieses anderen b esteht nun aber gerade darin, das Wahre zu sagen, das ganze Wahre zu sagen oder zumindest das ganze nö tige Wahre zu sagen, und zwar es in einer bestimmten Form zu sagen, die die parrhesia ist, die wieder mit Freimut übersetzt wird. Sie erinnern sich vielleicht im Zusammenhang dieser allgemei nen Thematik besonders an einen bestimmten Text, bei dem wir etwas verweilt haben: den Text Galens im Traktat über die Leidenschaften,3 der sehr interessant ist und in dem wir zu nächst der alten, ehemaligen, der traditionellen Thematik oder vielmehr der doppelten Thematik der Sorge um sich selbst und der Selbsterkenntnis begegnet sind: der Verpflichtung jedes In dividuums, sich um sich selbst zu sorgen, die unmittelbar mit der Selbsterkenntnis als notwendiger Bedingung verknüpft ist. Was uns auf die Fährte von etwas Interessantem gebracht hat, nämlich das berühmte und für uns so grundlegende Prinzip des gnoti seauton (der Selbsterkenntnis), beruht auf und ist zu gleich ein Bestandteil des im Grunde allgemeinsten Prinzips, sich um sich selbst zu sorgen. 4 In diesem Text Galens haben wir auch die Vorstellung gefunden, daß die Beschäftigung mit sich selbst nur auf eine kontinuierliche und beständige Weise erfolgen kann. Nicht wie in Platons Alkibiades nur zu der Zeit, wo der Jüngling ins öffentliche Leben eintritt und die Verant wortung für die Stadt übernimmt, sondern vielmehr sein gan zes Leben hindurch, von seiner Jugend an bis zur Vollendung 66
s�ines Alters soll sich der Mensch um sich selbst kümmern. 5 Im sdben Text Galens hatten wir also gesehen, daß die Sorge um si-:h selbst, die mühselig und kontinuierlich während des gan z e n Lebens entwickelt und geübt werden soll, nicht ohne die :..; rreilstätigkeit der anderen geschehen kann. Diejenigen, die 1:..::f das Urteil der anderen bei ihrer Meinungsbildung über sich s-elbst verzichten wollen, sinken, so Galen, oft herab. Dieser Gedanke wird in einem ganz anderen Zusammenhang in der :'::..-i s tlichen Spiritualität sehr häufig wieder aufgenommen: Jene, die auf die Leitung der anderen verzichten, fallen wie das l.. 2.ub im Herbst, 6 wird die christliche Spiritualität sagen. Nun, G2.len sagte schon: Wenn man das Urteil der anderen bei der :\ bnungsbildung über sich selbst nicht berücksichtigt, fällt :::' .m oft hin. Dagegen täuschen sich, so Galen, j ene nur selten, c.iie sich bei der Feststellung ihres eigenen Werts den anderen .:r:':errraut haben. I :::: Ausgang von diesem Prinzip sagte Galen, daß man sich ;;c ibsrverständlich an j emand anderen wenden solle, um sich : ·: i der Meinungsbildung über sich selbst und bei der Herstel "'"""'5 eines angemessenen Selbstverhältnisses zu helfen. Es ist isc notwendig, sich an j emand anderen zu wenden. Wer sollte ::: c:.n :iber dieser andere sein ? Hier lag eine der Ü berraschungen .: :: s Textes, denn Galen, Sie erinnern sich, stellte diesen ande �.:: :: . an den man sich wenden soll, nicht als einen Techniker ' •: r sei es als einen Techniker für die Heilung des Körp ers . >d ::r als einen Techniker für die Heilung der Seelen, einen Arzt �
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Begriffen und Themen: die Sorge um sich selbst, die Selbster kenntnis, die Kunst und die Ü bung des Selbst, die Beziehung zum anderen, die Regierung durch den anderen und das Wahr sprechen, die Pflicht zum Wahrsprechen seitens des anderen. Mit d em Begriff der parrhesia haben wir, wie Sie sehen, einen Begriff, der sich an der Kreuzung der Pflicht zum Wahrspre chen, der Verfahren und Techniken der Gouvernementalität und der Herstellung eines Selbstverhältnisses befindet. Das Wahrsprechen des anderen als wesentlicher B estandteil der Re gierung, die er über uns ausübt, ist eine der wesentlichen Be dingungen dafür, daß wir die angemessene B eziehung zu uns selbst bilden können, die uns Tugend und Glück verleihen wird. Das war also die allgemeine Thematik, die wir bei Galen im 2. ]ahrhundert unserer Zeitrechnung wiederfanden. Diese Thematik will ich nun als Ausgangspunkt nehmen, indem ich gleich bemerke, daß der Begriff der parrhesia, den wir in die sem Text und in ähnlichen Texten, die der individuellen Lei tung des Gewissens gewidmet sind, angetroffen haben, sehr weit über den Gebrauch und den Sinn hinausgeht, der auf diese Weise aufgefunden wurde. Wir können feststellen, daß dieser B egriff etwas Spinnenartiges hat, das, wie man zugeben muß, s ehr wenig untersucht wurde. Zunächst weil es, obwohl die Alten sich selbst oft auf ihn beziehen (wir werden eine ganze Reihe von Texten kennenlernen, wo von dieser parrhesia die Rede ist, und die Texte, die ich verwenden werde, sind natür lich bei weitem nicht erschöpfend), dennoch keine oder j eden falls nur wenig direkte Ü berlegungen zu diesem Begriff der parrhesia gibt. Der Begriff wird zwar verwendet und erwähnt, aber er wird nicht unmittelbar zum Gegenstand einer Reflexi on und als solcher thematisiert. Es gibt p raktisch unter den Texten, die uns bleiben, nur einen einzigen - welcher überdies noch Fragmentcharakter hat -, der tatsächlich eine der parrhe sia gewidmete Abhandlung ist. Diese Abhandlung ist die des wichtigsten Epikuräers der ersten Jahrhunderte unserer Zeit rechnung. Es ist die Abhandlung von Philodemos, von der 68
Bruchstücke erhalten sind, die veröffentlicht wurden und die Sie, übrigens unübersetzt, in der Sammlung von Teubner7 fin den können. Darüber hinaus sind wir nicht im Besitz einer direkten Reflexion der Alten selbst auf diesen Begriff der par rhesia. Andererseits handelt es sich um einen Begriff, der sich nicht auf identifizierbare und fest umschriebene Weise in die ses oder jenes Begriffssystem oder in eine philosophische Leh re eingliedert. Die parrhesia ist ein Thema, das von einem Sy stem zum nächsten, von einer Lehre zur nächsten läuft, so daß es sehr schwierig ist, ihren Sinn genau zu bestimmen und ihre genaue Ö konomie auszumachen. Zum Begriff der parrhesia gibt es noch eine bibliographische Frage. Außer dem Text von Philedernos gibt es kaum etwas, j e denfalls kenne ich kaum etwas anderes als erstens einen Auf satz in der Realencyclopädie (von Pauly/Wissowa),8 der der »parrhesia« gewidmet ist und der schon vor langer Zeit von Philippson9 geschrieben wurde, 1 9 3 8/39, also kurz vor dem Krieg. Zweitens ein wichtiges Buch, das von Scarpat in Italien geschrieben wurde und aus dem Jahre 1 964 stammt. 10 Darin finden Sie eine interessante und sorgfältige historische Darstel lung des B egriffs der parrhesia mit einer sehr sonderbaren Aus lassung aller Bedeutungen, Werte und Gebrauchsweisen, die gerade die individuelle Leitung betreffen. Alles, was den poli rischen Gebrauch des Begriffs angeht, aber auch seinen reli giösen Gebrauch, ist gute Arbeit. Dagegen ist das Werk völlig lückenhaft im Hinblick auf die Leitung des individuellen Ge v.i.ssens. Schließlich finden Sie in den Akten des 8 . Kongresses der Guillaume-Bude-Gesellschaft von 1 968 einen französi schen Aufsatz, der sich auf Philedernos und s eine Abhandlung über die parrhesia bezieht und der von Mareelle Gigante ge schrieben wurde.1 1 '•:\'as es von meinem Standpunkt aus verdient, das Interesse an iiesem Begriff der parrhesia zu bewahren, besteht zunächst :d: werde auf sehr elementare Dinge hinweisen - in der langen Geschichte des Begriffs, in seinem sehr ausgedehnten Ge Srauch die ganze Antike hindurch, denn Sie finden schon einen
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gefestigten und b estimmten Gebrauch dieses Begriffs - wir kommen darauf heute und das nächste Mal noch in weiteren Einzelheiten zurück - in den großen klassischen Texten von Platon oder Euripides und dann in einer Reihe von anderen Texten (Isokrates, Demosthenes, Polybios, Philodemos, Plut arch, Markus Aurelius, Maximus von Tyra, Lukian usw.); Sie finden den Begriff dann ganz am Ende der Antike in der christ lichen Spiritualität wieder, beispielsweise beim heiligen J ohan nes Chrysostomos in den Briefen an Olympias, 12 im Brief aus dem Exil13 oder der Abhandlung über die Vorsehung; 14 auch bei Dorotheus von Gaza1 5 findet man eine sehr wichtige, sehr reichhaltige und bis zu einem gewissen Grad auch neue Ver wendung des Begriffs der parrhesia. In den lateinischen Texten finden Sie, obwohl die Ü bersetzung des Ausdrucks parrhesia etwas schwankt und nicht völlig einheitlich ist, ganz eindeutig das Thema. Sie finden es bei Seneca, 16 natürlich auch bei den Historikern, ab er auch bei den Theoretikern der Rhetorik wie Quintilian.17 Man findet dann eine ganze Reihe von Ü berset zungen durch Wörter wie licentia, libertas, oratio libera usw. Der Begriff hat also eine große historische Tiefe. Zweitens gibt es eine Vielzahl von Registern, in denen sie den Begriff finden, weil man ihn sehr deutlich und wohl bestimmt in der Praxis der individuellen Leitung antrifft, aber auch im Bereich der Politik. Auch dort hat er eine Vielzahl von interes santen Bedeutungen, die sich von der Athenischen Demokratie bis zum Römischen Reich beträchtlich wandeln werden. Au ßerdem - das wird eines der Themen sein, die ich in den kom menden Vorlesungen behandeln werde - wird der Begriff auf der Grenze dessen verwendet, was man die individuelle Lei tung und den Bereich des Politischen nennen könnte, und zwar genau im Zusammenhang mit dem Problem der Seele des Für sten: Wie soll die Seele des Fürsten geleitet werden, und was ist die Form des wahren Diskurses, der zum einen dafür not wendig ist, daß der Fürst als Individuum zu sich selbst ein angemessenes Verhältnis herstellt, das seine Tugendhaftigkeit garantiert, zum anderen aber auch dafür, daß durch diese Un70
:erweisung aus dem Fürsten ein moralisch vollwertiges Indivi duum wird, ein Regierender, der sich nicht nur um sich selbst
kümmert und für sich verantwortlich ist, sondern auch für die anderen ? Was ist also die Art von Diskurs, die den Effekt hätte, d2!; der Fürst sich um sich selbst kümmern und sorgen könnte, ab er auch um die, die er regiert ? Wie soll der Fürst regiert wer den, so daß er sich selbst und die anderen regieren kann ? Das ist einer der Punkte, die ich hervorheben möchte. Sie finden den Begriff auch im Bereich der religiösen Erfahrung und The :n2tik, wo dieser B egriff der parrhesia eine sehr sonderbare und interessante Veränderung, Verschiebung und schließlich eine ::ahezu vollständige Umkehrung von einem Pol zum anderen e:fährt, da wir am Anfang die Bedeutung der Pflicht des Leh r ers haben, dem Schüler die ganze notwendige Wahrheit zu sagen, während wir ihn dann mit der Bedeutung wiederfinden, daß der Schüler die Möglichkeit haben soll, dem Lehrer alles 'iber sich selbst zu sagen. Wir haben also einen Ü bergang von cLnem Sinn dieses B egriffs, der auf die Pflicht des Lehrers ab ::-e bt, dem Schüler das Wahre zu sagen, zu der Pflicht des Schü lers, dem Lehrer zu sagen, wie es wirklich um ihn selbst s:-c ht. l:in dritter Grund, der schließlich für die Reichhaltigkeit dieses Begriffs verantwortlich ist, liegt darin, daß, was auch immer die ::-echt allgemeine und beständige Wertschätzung gewesen sein :::: a g (ich habe Ihnen gesagt, daß es sich um eine Tugend, eine
6esondere Qualität handelt), doch eine große Mehrdeutigkeit den Begriff herum herrscht. Die Wertschätzung der par �,;_,esia war also weder völlig beständig noch völlig einheitlich. \Ci r werden beispielsweise sehen, daß die kynische parrhesia, ier kynische Freimut weit davon entfernt ist, ein völlig eindeu :i ger Begriff und Wert zu sein. Und in der christlichen Spiritua ;i :är selbst werden wir sehen, daß die parrhesia auch sehr wohl .=..:n Sinn von Indiskretion haben kann, einer Indiskretion, bei ier man von sich selbst schwatzt. Jies alles mag Ihnen zugleich abstrakt, ungenau, skizzenhaft .::: :: d schwankend erscheinen. Versuchen wir also, etwas vor::m
wärtszukommen und ein wenig genauer zu sein. Hier möchte ich j edoch nicht Schritt für Schritt auf die Geschichte des Be griffs eingehen. Ich werde einen durchschnittlichen Text, einen durchschnittlichen Fall, ein durchschnittliches Beispiel einer parrhesia nehmen, das sich in der Geschichte genau auf halbem Wege zwischen dem klassischen Zeitalter und der großen ehrist liehen Spiritualität des 4 · und 5 . Jahrhunderts befindet, wo wir innerhalb eines Bereichs von einerseits traditioneller, anderer seits aber nicht genau abgegrenzter Philosophie das Spiel des Begriffs der parrhesia betrachten können. Ich kann Ihnen auch gleich sagen, daß es ein Text von Plutarch ist, einem durch schnittlichen Autor in jeder Hinsicht, dem ich das Beispiel der parrhesia entnehmen werde. Nun gibt es eine große Anzahl von Texten Plutarchs (worauf wir übrigens zurückkommen werden), die diesem Begriff der parrhesia gewidmet sind oder ihn vielmehr verwenden, da er, wie gesagt, nur selten eigens re flektiert wird. Diesen Text Plutarchs finden Sie in den Griechi schen Helden/eben, im >>Leben des Dion«, Abschnitt V, 96oa. Sie wissen ungefähr, wer Dion ist: Er ist der Bruder von Aristo mache. Sie wissen aber wahrscheinlich nicht, wer Aristomache war. Aristomache war eine der beiden offiziellen Frauen von Dionysios, dem Tyrannen von Syrakus. Dionysios hatte zwei Frauen. Eine davon war Aristomache, und der j üngere Bruder von Aristomache hieß Dion. Und dieser Dion - der im Leben von Syrakus, und zwar für Dionysios den Ä lteren, vor allem aber für Dionysios den Jüngeren eine beträchtliche Bedeutung haben wird - wird der Schüler, Briefpartner, Bürge, und Gast geber Platons sein, als Platon nach Sizilien kommt. Ü ber ihn läuft die wirkliche Beziehung Platons zum politischen Leben von Syrakus und zur Tyrannei des Dionysios. In diesem Text, der Dion gewidmet ist, erinnert Plutarch daran, daß Dion, der jüngere Bruder Aristomaches, ein begabter jun ger Mann mit vorzüglichen Eigenschaften war: Seelengröße, Mut und der Fähigkeit zu lernen. 1 8 Dennoch wurde er, da er als junger Mann am Hofe eines Tyrannen wie Dionysios lebte, all mählich an die Angst, die >>Dienstbarkeit« und die Vergnügun-
g.en gewöhnt. Und deshalb war er »voller Vorurteile«, d. h. daß die Beschaffenheit seines Wesens selbst zwar nicht angegriffen 'l':ar - hier haben wir einen offensichtlichen Bezug auf stoische ;::>der stoizistische Themen -, daß sich j edoch eine Reihe fal
scher Meinungen in seiner Seele bis zu jenem Tag abgelagert hatten, als der Zufall - eine wohlwollende » Gottheit« sagt Plutarch19 - Platon der Küste Siziliens zuführte. Dion lernt als o Platon kennen, unterzieht sich seinem Unterricht und z ieht Nutzen aus den Vorlesungen, die sein Lehrer ihm erteilt. In diesem Augenblick erscheint seine wahre und gute Natur ,;·on neuem und, sagt er - hier nähern wir uns dem Kern der Sa che -, »in seiner jugendlichen Arglosigkeit« hoffte Dion, daß Dionysios (sein Onkel, der Tyrann) »Unter dem Einfluß der selben Vorlesungen«, die er selbst empfangen hatte, »dieselben Gefühle« wie er selbst empfinden würde und »sich leicht für das Gute gewinnen ließe. Er bemühte sich daher und brachte es endlich wirklich dahin, daß dieser sich die Muße nahm und ?ersönlich mit Platon zusammenkam und diesen hörte.«20 Auf ier Bühne befinden sich j etzt Platon, Dion und Dionysios. ·Bei dieser Zusammenkunft nun wurden teils die Fragen nach der Tugend des Mannes überhaupt, ganz besonders aber die rrach der Mannhaftigkeit erörtert. Wie nun Platon darlegte, daß i:eder andere eher als ein Tyrann mannhaft sei und hierauf, zur Gerechtigkeit gewandt, zeigte, daß das Leben der Gerechten g:ücklich, das der Ungerechten dagegen elend sei [es handelte sich also um eine Vorlesung über die Tugend und die verschie denen Bestandteile der Tugend, um ihre verschiedenen For men: Mannhaftigkeit, Gerechtigkeit; M. F.], so war der Tyrann eben so unzufrieden über die Worte [bezüglich der Tatsache, J"« das Leben der Gerechten glücklich sei und das der Unge :-echten elend], die er gegen sich gerichtet glaubte, als er sich uber die Anwesenden ärgerte, welche den Mann mit Bewunde :ung hörten und von dem, was er sagte, bezaubert waren. End lich aber fuhr er zornig auf und fragte ihn, in was für Absicht er ::uch Sizilien gekommen sei. Platon erwiderte: um einen guten :,fann zu suchen. >Bei den Göttern<, fiel ihm j ener in das Wort, 73
>und einen solchen hast du offenbar noch nicht gefunden.< Dion und seine Freunde glaubten, daß sein Zorn hiermit aufs Höchste gestiegen sei, und suchten den Platon, welcher [selbst] drängte, auf einer Triere zu entsenden, welche den Spartiaken Pollis nach Griechenland [zurück] bringen sollte; Dionysios aber drang insgeheim in den Pollis, am liebsten zwar den Mann unterwegs zu töten, wo nicht, ihn j edenfalls zu verkaufen; denn er werde davon keinen Schaden haben, sondern durch seine Gerechtigkeit ebenso glücklich sein, auch wenn er Sklave werde. Daher soll denn Pollis den Platon nach Aegina gebracht und hier ans Land gesetzt haben. Aegina war nämlich mit Athen im Krieg begriffen und ein Volksbeschluß vorhanden, daß jeder Athener, der auf der Insel getroffen würde, verkauft werden solle. Gleichwohl verlor Dion deshalb bei Dionysios nicht an Achtung und Vertrauen, sondern diente ihm bei den wichtigsten Gesandtschaften und erntete unter anderem, als er zu den Karthagern geschickt wurde, vorzügliche Bewunde rung ein: Ja, er ertrug seine Freimütigkeit, da er allein seine Ge danken ohne Scheu zu äußern wagte, wie z. B. seine Rüge in Betreff des Gelon [Gelon war ein Syrakuser, der vor Dionysios die Macht ausübte; M. F.] . Da nämlich, wie es scheint, die Herr schaft Gelons durchgehechelt wurde und Dionysios äußerte, Gelon sei selber ein Gelächter Siziliens gewesen [das ist ein Wortspiel: Im Griechischen heißt lachen gelan und folglich Gelon: Gelön/gelan; Dionysios machte also einen albernen Witz über Gelons Namen, als er sagte, daß er das Gelächter Si ziliens gewesen sei], so taten die anderen, als ob sie den Witz bewunderten, Dion aber sagte voll Entrüstung: Und doch ver dankst du deine Herrschaft nur dem Vertrauen, das Gelon er worben hat; du dagegen wirst schuld sein, daß man keinem anderen wieder traut ! [Und Plutarch kommentiert diese par rhesiastische Erklärung von Dion an Dionysios; M. F.] Und in der Tat bietet eine Stadt unter der Alleinherrschaft des Gelon offenbar den schönsten, unter der des Dionysios dagegen den häßlichsten Anblick dar. «2 1 Nun, ich glaube, daß wir hier eine exemplarische Szene für das haben, was die parrhesia sein soll. 74
E in Mann erhebt sich vor einem Tyrannen und sagt ihm die Yfahrheit. \\"ir müssen die Dinge aber noch genauer betrachten. Sie sehen zunächst, daß die Szene gewissermaßen in zwei Teile geteilt ist. Zwei Individuen realisieren abwechselnd die parrhesia. Zu n:ichst i st da Platon. Platon sagt die Wahrheit, indem er seine große klassische und berühmte Vorlesung über das Wesen der Tugend, des Mutes, der Gerechtigkeit, das Verhältnis von Ge r-echtigkeit und Glück hält. Er sagt das Wahre. Er sagt es in sei rc t r Vorlesung und auch in j ener lebhaften Replik, die er an Dionysios richtet, als dieser, durch Platons Vorlesungen ge rt:zt, ihn fragt, zu welchem Zweck er nach Sizilien gekommen is:: Ich bin gekommen, um einen Ehrenmann zu suchen (wo :::i t e r zu verstehen gibt, daß Dionysios nicht dieser Ehren ::: a nn ist) . Sie sehen, daß der Begriff der parrhesia nicht in be z::g auf Platon verwendet wird, auch wenn wir uns in einer Art ·;·on U rszene der parrhesia befinden. Dann erscheint nach dem .\bgang Platons und dessen Bestrafung das zweite Element der Szene - oder vielmehr deren Fortsetzung -, nämlich Dion, 5-.:hüler von Platon, als derjenige, der tro t z dieser so offensicht :zchen und spektakulären Bestrafung und Züchtigung nichts iesroweniger weiterhin das Wahre sagt. Er sagt das Wahre und 2 -tti n det sich gegenüber Dionysios in einer etwas anderen Si :::.: ation als Platon. Er ist nicht der Lehrer, der unterrichtet. Er :s: d erj e nige, der an der Seite von Dio ny sios , als sein Höfling, sei n Angehöriger, sein Schwager, es auf sich nimmt, ihm die ':F
Ich möchte - da mir diese Idee letztlich sehr spät eingefallen ist (genauer gesagt, früh, nämlich heute morgen) - diese Szene mit einer anderen Szene vergleichen, in der die Verteilung der Per sonen ziemlich ähnlich ist, da es sich sowohl um einen Tyran nen als auch um den Bruder seiner Frau handelt, sowie um denj enigen, der die Wahrheit sagt. Ich weiß nicht, bis zu wel chem Punkt man sich die genauere Analyse der strukturellen Analogie zwischen den beiden Szenen ersparen kann. Sie ken nen diese Szene schon, wo der Schwager des Tyrannen diesem die Wahrheit sagt, der Tyrann diese Wahrheit nicht hören will und seinem Schwager sagt: Wenn du mir wirklich die Wahrheit sagen willst, dann jedenfalls nicht aus guten Gründen, sondern weil du meine Stellung einnehmen willst. Worauf der Schwager antwortet: Aber nein, sei dir nur erst über meinen Fall im kla ren, bedenke zunächst folgendes. »Ob du meinst, daß wohl mit Ä ngsten jemand lieber herrschen will als bei geruhigem Schlaf, wenn er dieselbe Macht doch hat. Nun bin ich weder selbst von solcher Art, daß ich möchte eher König sein als Königliches tun, noch irgendj emand sonst, wenn er vernünftig denkt. Denn j etzt empfang ich alles ohne Furcht von dir; doch herrscht' ich selbst, so müßt ich vieles ungern tun. Wie sollte das Königtum mir köstlicher als sorgenfreie Macht, als Rang und Geltung sein ? So weit verstieg ich mich in der Torheit nicht, um mehr zu wünschen als die Würde, die auch nützt. Jetzt freu' ich mich an allen, j eder grüßt mich j etzt; jetzt rufen, die nach dir verlan gen, mich heraus; denn ob es ihnen glückt, das hängt ganz hier von ab. Wie sollt ich denn nach jenem greifen, dies ver schmähn ? Schlecht werden kann ein Sinn, der rechtlich denkt, wohl nicht. Doch weder bin ich ein Verehrer j enes Geistes, noch wagt' ich es, mit andren solches je zu tun. «22 Er sagt also: Du hast nichts zu fürchten. Du wirfst mir vor, daß ich nach dei ner Stellung trachte, wenn ich sage, daß du die Wahrheit su chen sollst. Deine Stellung interessiert mich aber keineswegs. sehen Bestandteil mit dem Herrscher inmitten des Hofes; diese beiden Bestandteile verbinden sich in der traditionellen Diskussion über Tyran nei/Glück/Gerechtigkeit<< .
Ich fühle mich wohl an meinem Platz, da ich in dieser privile gierten Lage bin, einer der ersten der Stadt und an deiner Seite zu s e in Ich übe keine Macht, sondern nur Autorität aus, die !:!erkömmliche Autorität. Was nun dich betrifft, so magst du zunächst nach Pytho gehen und fragen, ob ich dir das Orakel gerrau berichtet habe. Suche selbst nach der Wahrheit. Ich habe sie dir gesagt, als ich von Pytho kam. Du glaubst mir nicht, also geh' selbst dorthin. Das ist selbstverständlich Kreon, der sich an Ö dipus wendet. Hier haben wir bis zu einem gewissen Grad .md auf gleiche Weise diese typische Situation, das Beispiel ei ::: es Tyrannen, der die Macht ausübt, den die Ausübung der \facht blind macht und an dessen Seite sich jemand b efindet, der zufällig sein Schwager ist (der Bruder seiner Frau) und der .:iie Wahrheit sagt. Er sagt die Wahrheit, und der Tyrann hört :lli'11 eben nicht zu. Diese Ö dipussche Szene finden wir also enva auf dieselbe Weise in Plutarchs Text entwickelt. Yersuchen wir nun diese parrhesia, von der in Plutarchs Text ii e Rede ist, genauer zu bestimmen. Wie wird sie charakteri s2ert ? Ich werde die Dinge vielleicht etwas breittreten. Sie wer ien mir aber verzeihen, da ich beabsichtige, sie so klar wie :::: ö glich darzustellen. Wenn es darum geht, das Wesen der par -rhesia zu definieren, muß man vorsichtig sein und Schritt für Schritt vorgehen. Weshalb kann Plutarch sagen, daß Dion die pczrrhesia praktiziert ? Er praktiziert die parrhesia, wie übrigens ?iaron auch, selbst wenn das von Platon nicht b ehauptet wird. � un, die parrhesia besteht zunächst in der Tatsache, daß man 2ie Wahrheit sagt. Gerade darin unterscheidet sich Dion von .: en Höflingen, die Dionysios umgeben, daß die Höflinge la :hen, wenn Dionysios einen albernen Witz macht, und so tun, Eis ob sie es für geistreich hielten, nicht weil es stimmt, sondern c::· eil sie Schmeichler sind. Der Parrhesiastiker ist derj enige, der 2ie Wahrheit sagt und der sich folglich von jeder möglichen Lüge oder Schmeichelei absetzt. parrhesiazesthai heißt, das •;x·ahre zu sagen. Es ist j edoch klar, daß die Weise, wie die Tsl.o.rheit gesagt wird, nicht beliebig ist. Es ist beispielsweise i-Jar, daß, wenn Platon in einem seiner Dialoge sagte, daß das .
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Leben der Gerechten glücklich und das der Ungerechten un glücklich ist - und er hat es weiß Gott oft gesagt -, das nicht notwendigerweise ein Fall von parrhesia war. Nur in dieser Si tuation und diesem bestimmten Zusammenhang handelt es sich um einen F all von parrhesia. Oder wenn Dion zu Diony sios sagt: Gelon flößte der Stadt Vertrauen ein, und die Stadt war glücklich; aber du flößt der Stadt kein Vertrauen mehr ein, und deshalb ist die Stadt unglücklich, dann liegt parrhesia vor. Wenn aber Plutarch selbst im folgenden S atz diesen Gedanken aufnimmt und sagt: Tatsächlich bot die von Gelon regierte Stadt den schönsten und die von Dionysios regierte Stadt den schrecklichsten Anblick, dann nimmt er eben nur das wieder auf, was Dion sagte. Er wiederholt es, übt aber selbst keine par rhesia aus. Man kann also sagen, daß die parrhesia eine be stimmte Weise des Wahrsprechens ist. Was für die parrhesia entscheidend ist, das ist nicht der Wahrheitsgehalt selbst. Die parrhesia ist eine bestimmte Weise, die Wahrheit zu sagen. Aber was heißt das: eine >>Weise, die Wahrheit zu sagen<< ? Und wie lassen sich die verschiedenen möglichen Weisen, die Wahr heit zu sagen, analysieren ? Wo sollen wir j ene Weise, die Wahr heit zu sagen, die für die parrhesia charakteristisch ist, einord nen ? Beginnen wir damit, rasch eine Reihe von Hypothesen auszu schließen. Wir können zunächst schematisch festhalten, daß die Weisen des Wahrsprechens gewöhnlich entweder anhand der Struktur der Rede oder anhand des Zwecks der Rede oder, wenn Sie so wollen, anhand der Wirkungen, die der Zweck der Rede auf die Struktur ausübt, bestimmt werden. In diesen Fäl len analysiert man die Rede anhand ihrer Strategie. Die ver schiedenen Weisen des Wahrsprechens erscheinen dann als ebenso viele Formen entweder einer Beweis-, einer Überre dungs-, einer Lehr- oder einer Diskussionsstrategie. Gehört die parrhesia zu einer dieser Strategien ? Ist sie eine Weise des B eweisens, des Ü berredens, des Lehrens, des Diskutierens ? Wir werden j ede dieser Fragen kurz behandeln. Es ist klar, daß die parrhesia keine Beweisstrategie ist. Sie ist
keine Weise, einen Beweis zu liefern. In Plutarchs Text, in dem es eine ganze Reihe von Beispielen für parrhesia gibt, sieht man das sehr gut. Platon ist natürlich mit einer Demonstration be schäftigt, wenn er seine große Theorie über das Wesen der Tu gend, das Wesen der Gerechtigkeit und des Mutes usw. auf srellt. In diesem Beweis übt er j edoch keine parrhesia aus. Seine _\ntwort auf Dionysios ist dagegen ein Fall von parrhesia . Was n u n Dion selbst angeht, so gibt er keinen B eweis, sondern be gnügt sich damit, Meinungen kundzutun, Aphorismen auszu sprechen, ohne irgendwelche Beweise zu entwickeln. Die par ,·besia kann also B estandteile eines B eweises verwenden. Und al s Galilei seine Dialoge schrieb, zeigte er ein Beispiel von par :besia in einem Text mit Beweischarakter. Aber weder der Be7:ei s noch die rationale Struktur der Rede sind für die parrhesia wesentlich. Zweitens, ist die parrhesia eine Strategie der Ü berredung ? Ge hört sie zur rhetorischen Kunst ? Hier liegen die Dinge natür lich etwas komplizierter, weil einerseits, wie wir sehen werden, die parrhesia als Technik, als Verfahren, als Art und Weise, die Dinge zu sagen, tatsächlich die Mittel der Rhetorik verwen den kann und oft auch muß; andererseits findet die parrhesia . der Freimut, die Wahrhaftigkeit) in bestimmten Rhetorik :tbhandlungen einen Platz, und zwar als recht paradoxe und merkwürdige Stilfigur. Aber wenn Quintilian - im 2. Kapitel .C: es IX. Buches, Absatz 27 - der parrhesia (der Wahrhaftigkeit, dem Freimut) unter dem, was er Denkfiguren nennt (wir wer den auf alle diese Dinge zurückkommen), einen Platz anweist, s:ellt er diese Denkfigur als die nüchternste aller Figuren dar. v:-as ist nüchterner, sagt er, als die wahre libertas ?23 Die parrhe ,,,·a i s t, vom Standpunkt Quintilians aus betrachtet, zwar eine Denkfigur, aber eher im Sinne des Nullpunkts der Rhetorik, an Jem die Denkfigur darin besteht, überhaupt keine Figur zu be nutzen. Dennoch gibt es, wie Sie sehen, zwischen der parrhesia ::nd Rhetorik eine ganze Menge von Fragen, ein ganzes Netz '-"On Wechselwirkungen, Nachbarschaftsbeziehungen, Verzah nungen usw., die man entwirren müßte. Allgemein läßt sich j e79
doch sagen, daß die parrhesia innerhalb des B ereichs der Rhe torik nicht einfach als rhetorisches Element definiert werden kann. Einerseits weil, wie wir gesehen haben, die parrhesia we sentlich und grundsätzlich als Wahrsprechen charakterisiert ist, während die Rhetorik eine Weise, Kunst oder Technik ist, die Bestandteile der Rede so anzuordnen, daß sie üb erredet. Ob diese Rede jedoch das Wahre sagt oder nicht, ist für die Rhetorik nicht wesentlich. Andererseits kann die parrhesia ganz verschiedene Formen annehmen, da sie sowohl in Platons langer Rede als auch in den kurzen Aphorismen oder Repliken Dions vorkommt. Die parrhesia hat keine bestimmte rhetori sche Form. Und vor allem geht es bei der parrhesia nicht so sehr um die Überredung oder j edenfalls nicht notwendig um Ü berredung. Gewiß, wenn Platon Dionysios die Leviten liest, versucht er schon, ihn zu überreden. Wenn Dion dem Diony sios seine Meinung sagt, dann doch mit dem Ziel, daß dieser sie befolgt. In dieser Hinsicht entspricht die parrhesia wie die Rhetorik dem Willen zu überreden. Sie kann sich auf Verfahren der Rhetorik berufen, und manchmal muß sie es. Das ist aber nicht zwangsläufig der Sinn und Zweck der parrhesia. Es ist klar, daß, wenn Platon Dionysios antwortet: Ich bin gekom men, auf Sizilien einen Ehrenmann zu finden, und unterstellt, daß er keinen gefunden hat, es hier so etwas wie eine Heraus forderung, Ironie, Beleidigung, Kritik gibt. Es geht nicht um Ü berredung. Ebenso, wenn Dion gegenüber Dionysios gel tend macht, daß seine Regierung schlecht ist, während die Ge Ions gut war, handelt es sich um ein Urteil, eine Meinung, und nicht um den Versuch, ihn zu überreden. Die parrhesia ist also, glaube ich, nicht vom Standpunkt der Rhetorik aus zu klassifi zieren oder zu verstehen. Sie ist ebenfalls keine Weise zu lehren, keine Pädagogik. Denn obwohl sich die parrhesia zwar immer an j emanden wendet, dem man die Wahrheit sagen will, geht es nicht zwangsläufig darum, ihn etwas zu lehren. Man kann ihn zwar etwas lehren. Platon wollte das tun. In den Szenen, die ich gerade erwähnt habe, gibt es j edoch eine Schroffheit, etwas Gewalttätiges, ei8o
nen rauben Aspekt der parrhesia, der sich völlig von einem pädagogischen Verfahren unterscheidet. Der Parrhesiastiker, derj enige, der in dieser Form Wahres sagt, wirft die Wahrheit seinem Gesprächspartner an den Kopf, ohne daß jene der Päd agogik eigentümliche Gangart zu finden wäre, die vom Be kannten zum Unb ekannten üb ergeht, vom Einfachen zum Komplexen, vom Teil zum Ganzen. Man kann sogar sagen, daß e s in der parrhesia bis zu einem gewissen Grad etwas gibt, was zumindest einigen Verfahrensweisen der Pädagogik entgegen gesetzt ist. Insbesondere gibt es nichts - das ist ein wichtiger Punkt, auf den wir zurückkommen müssen -, was weiter ent fernt wäre von der berühmten sokratischen oder sokratisch platonischen Ironie als die parrhesia. Worum geht es bei dieser sokratischen Ironie ? Nun, es handelt sich um ein Spiel, bei dem der Lehrer vorgibt, nicht zu wissen, und den Schüler dazu f'J.hrt, das zu formulieren, was er nicht zu wissen meinte. Als wäre sie eine wahrhafte Anti-Ironie, schlägt bei der parrhesia dagegen derj enige, der die Wahrheit sagt, diese Wahrheit sei nem Gesprächspartner ins Gesicht. Diese Wahrheit ist so hef ti g , so schroff und wird auf so einschneidende und endgültige Weise gesagt, daß der gegenüberstehende andere nur noch schweigen kann oder vor Wut erstickt oder Zuflucht zu einem ganz anderen Register nimmt, was im Falle von Dionysios in bezug auf Platon in einem Mordversuch besteht. Weit davon entfernt, daß derjenige, an den man sich wendet, durch die Iro nie in sich selbst die Wahrheit entdeckt, die er nicht zu wissen meinte, wird er hier mit einer Wahrheit konfrontiert, die er nicht akzeptieren kann, die er aber auch unmöglich zurück "·eisen kann und die ihn zur Ungerechtigkeit, Maßlosigkeit, zum Wahnsinn, zur Blindheit führt . . . Wir haben hier eine \\:"irkung, die gerade nicht nur anti-ironisch, sondern sogar a.."'1 t i-pädagogisch ist. Die vierte Frage: Ist die parrhesia nicht eine bestimmte Weise z u diskutieren ? Sie entspringt weder dem Beweis noch der fu"-etorik, noch der Pädagogik. Könnte man vielleicht sagen, daB sie der Eristik entspringt ?24 Ist sie nicht eine bestimmte 8r
Weise, einem Gegner die Stirn zu bieten ? Gibt es in der parrhe sia nicht eine agonistische Struktur zwischen zwei Personen, die sich gegenüberstehen und die j eweils in einen Kampf um die Wahrheit eintreten ? In einem gewissen Sinne nähern wir uns, glaube ich, schon viel mehr dem Stellenwert der parrhesia, wenn wir ihre agonistische Struktur hervorheben. Ich meine jedoch nicht, daß die parrhesia Teil einer Diskussionskunst ist, insofern die Kunst der Diskussion gestattet, dem, was man für wahr hält, zum Sieg zu verhelfen. Tatsächlich handelt es sich auch bei den beiden Figuren, die wir hier sehen - im Falle Pla tons angesichts des Dionysios oder im Falle Dions angesichts desselben Dionysios -, nicht so sehr um eine Diskussion, in der eine der Reden versuchte, die andere zu bezwingen. Auf der ei nen Seite steht ein Gesprächspartner, der die Wahrheit sagt und der im Grunde darauf aus ist, die Wahrheit so schnell wie mög lich, so laut wie möglich und s o klar wie möglich zu sagen; ge genüber steht der andere, der nicht antwortet oder mit etwas anderem als einer Rede antwortet. Wenn wir diese bedeutsame Episode zwischen Dionysios und Platon nochmals betrachten, sehen Sie, was sich ereignet. Einerseits ist Platon der Lehrende. Dionysios ist weder überredet noch belehrt, noch in der Dis kussion besiegt. Am Ende des Unterrichts ersetzt Dionysios die Sprache (die Formulierung des Wahren durch die Sprache) durch einen Sieg, der nicht der Sieg des Logos, nicht der Sieg der Rede ist, sondern der Sieg der Gewalt, der reinen Gewalt, denn Dionysios läßt Platon als Sklaven in Aegina verkaufen. Fassen wir zusammen (es hat etwas lange gedauert, aber ich glaube, daß es notwendig war, dies alles etwas auseinanderzu legen). Wir können sagen, daß die parrhesia eine bestimmte Weise ist, die Wahrheit zu sagen, und es ist wichtig zu wissen, um welche Weise es sich handelt. Sie entspringt weder der Eri stik und der Kunst der Diskussion noch der Pädagogik und der Kunst des Unterrichts noch der Rhetorik und der Kunst der Ü berredung noch etwa der Kunst des Beweisens. Man kann das Wesen der parrhesia auch nicht finden, glaube ich, man kann es nicht isolieren, nicht erfassen in der Analyse der inne-
Formen der Rede oder in den Wirkungen, die diese Rede erzielen beabsichtigt. Sie begegnet einem nicht in dem, was ::: ;.n Diskursstrategien nennen könnte. Worin b esteht sie also, -;;.- ::nn nicht in der Rede selbst und in ihren Strukturen ? Wenn :,:: z n die parrhesia nicht im Zweck der Rede auffinden kann, wo f:ann man sie dann verorten ? :\:" u n , betrachten wir noch einmal die Szene oder die b eiden Sz enen der parrhesia, indem wir versuchen, ihre wesentlichen Ekstandteile herauszuheben. Platon und Dion sind Menschen, i::nen die parrhesia zukommt, die in sehr vers chiedenen For :::: en Gebrauch von ihr machen - in Form von Vorlesungen, _::.,_ ?horismen, Repliken, Meinungen, Urteilen. Was aber auch i::-,mer die Formen seien, in denen diese Wahrheit ausgespro �::::n wird, was auch immer die Formen seien, die von dieser ,-:.: :rrb esia verwendet werden, wenn man auf sie zurückgreift, ;:br e s parrhesia immer dann, wenn das Wahrsprechen sich -:: n:er solchen Bedingungen vollzieht, daß die Tats ache, daß =-�an die Wahrheit sagt, und die Tatsache, daß sie ausgesprochen -:::. ·urde, kostspielige Konsequenzen für diej enigen, die die ·;:\a.hrheit gesagt haben, nach sich ziehen wird, kann oder muß. \Et anderen Worten, ich glaube, daß, wenn man das Wesen der ::: :. rrhesia bestimmen will, dann weder in b ezug auf die innere 5:ruktur noch in bezug auf den Zweck, den der wahre Diskurs :.::: Hinblick auf den Gesp rächsp artner zu erreichen sucht, son C:::rn in bezug auf den Sprecher oder vielmehr in bezug auf das ?..i siko, das das Wahrsp rechen für den Sprecher mit sich bringt. =::' i e parrhesia ist von der Wirkung aus zu bestimmen, die sein :::genes Wahrsprechen auf den Sprecher haben kann, von der 'i:J.ckwirkung aus, die das Wahrsprechen auf den Sprecher auf :;:-'.md der Wirkung ausübt, die es auf den Gesprächspartner :: :.:. 11it anderen Worten, das Sagen der Wahrheit in Gegen ,., . ,1!1: von Dionysios, dem Tyrannen, der in Zorn gerät, stellt für .: .:nj enigen, der die Wahrheit sagt, ein gewisses Risiko dar. Es c :-ingt eine Gefahr hervor, eine Gefahr, bei der es um die Exi ; : e n z des Sprechers selbst geht. Genau dieser Umstand ist für .:.:: : :: parrhesia wesentlich. Die parrhesia ist also in der B ezie� :: n
z·c
hung des Sprechers zu der Tatsache zu lokalisieren, daß er die Wahrheit sagt, und zu den Folgen, die sich daraus ergeben, daß er die Wahrheit gesagt hat. Platon und Dion üben in diesen Szenen das parrhesiazesthai, die parrhesia aus, und zwar inso fern sie einerseits wirklich die Wahrheit sagen und sich ande rerseits eben dadurch den Folgen aussetzen, die im Zahlen des Preises für das Sagen der Wahrheit bestehen. Offensichtlich ist es nicht irgendein Preis, den sie zu zahlen bereit sind, wobei sie diese Bereitschaft durch das Wahrsprechen bestätigen: Dieser Preis ist der Tod. Wir haben hier - gerade deshalb halte ich die se Szene für eine U rszene, die für die parrhesia beispielhaft ist den Punkt, an dem die Subj ekte absichtlich die Wahrheit sagen und absichtlich und ausdrücklich akzeptieren, daß dieses Sa gen der Wahrheit ihre eigene Existenz kosten könnte. Die Par rhesiastiker sind jene, die im Grenzfall den Tod um des Sagens der Wahrheit willen akzeptieren. Oder genauer, die Parrhesia stiker sind j ene, die das Sagen der Wahrheit zu einem unbe stimmten Preis auf sich nehmen, der im Grenzfall ihr Tod sein kann. Nun, darin scheint mir der Kern des Wesens der parrhe sia zu bestehen. Ich hätte es natürlich vorgezogen, daß wir uns nicht bei dieser etwas pathetischen Formulierung der Bezie hung zwischen dem Wahrsprechen und dem Risiko des Todes aufhalten, aber schließlich ist es genau das, was wir j etzt etwas aufklären müssen. Ich bin also in Verlegenheit. In dem, was ich meine, gibt es doch immerhin - ohne daß man wie Pierre Bellemare eine Wer beseite einschieben muß25 - einen natürlichen Höhepunkt. Wenn Sie wollen, machen wir nun fünf Minuten Pause und fahren dann fort. Denn ohne Pause besteht die Gefahr, daß ich noch eine halbe oder dreiviertel Stunde weitermache, und das ist vielleicht ein bißchen ermüdend. Wir treffen uns also in fünf Minuten wieder.
Anmerkungen : \"gl. die Vorlesung vom I o. März I 9 8 2, in: L'Hermeneutiq ue du sujet. CoHrs au College de France, 1981-1982 , hg. v. F. Gros, Paris 2oo i , S . 3 5 5 - 3 94; dt. Hermeneutik des Subjekts, übers. v. U . B okelmann,
Frankfurt/M. 2004, S. 4 5 3 - 5 0 1 . die Vorlesung vom 3 · Februar I 9 8 2, a. a. 0 . , S. 228-23 1 . Galen, Traite des passions de l'ame e t ses erreurs, übers. v. R . van der E ist, Paris I 9 I 4. Zu Foucaults Analyse dieses Textes, vgl. Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0 ., S. 482-487. Gber die Beziehung zwischen »Selbstsorge« und »Selbsterkenntnis<< ·:gl. die Vorlesungen im Januar I 9 8 2 (in: Hermeneutik des Subjekts). Gber diese Ausweitung der Sorge um sich selbst auf die Gesamtheit des Lebens vgl. die Vorlesung vom 2o. januar 1 9 8 2 (a. a. O.). D i e Metapher des Laubs geht auf Jesaja ( 6 4 ) zurück: »Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind. « Phi!odemos, Peri parrhesias, hg. v. A. Olivieri, Leipzig I 9 1 4. Z u einer Analyse dieses Textes vgl. Hermeneutik des Subjekts, S. 473 -47 5 . ?:ztdys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (Stutt gart I 894- 1 98o) ist ein grundlegendes deutsches enzyklopädisches \\"örterbuch. Manchmal wird sie mit PW, d. h. Pauly-Wissowa, dem :'\"amen der ersten Herausgeber, abgekürzt. Davon gibt es zwei hand lichere Neuausgaben: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Stuttgart, 5 Bde., 1 964- 1 9 7 5 ; Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart
::. Vgl.
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! 996-2002.
? In
der vollständigen Bibliographie der Schriften von Robert Philipp son findet man nichts Derartiges (in: R. Philippson, Studien zu Epikur :m d den Epikureern, Bildesheim 1 9 8 3 , S. 3 39-3 5 2). Es ist jedoch wahr scheinlich, daß Foucault sich hier auf den Artikel »Philodemos« be zi e ht (PW 1 9, 2, 1 9 3 8 , 2444-2482), wo von der Abhandlung des Philo demos über die parrhesia die Rede ist. : : G. Scarpat, Parrhesia. Storie del termine et delle sue traduzioni in Lati no, Brescia I 964. : : M. Gigante, »Philodeme et Ia liberte de parole«, in: Association Guil laume Bude, Actes du Vll/e congres, Paris 5 . -10. April 1968, Paris 1 970. Vgl. die Analyse dieses Textes in: Hermeneutik des Subjekts, S- 473477·
: :: Johannes Chrysostomos, Lettres a Olympias, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von A.-M. Malingrey, Paris I 94 7; dt. Kern der Briefe des heiligen Chrysostomos an die heilige Olympias, Köln : 842.
::;. J ohannes Chrysostomos, Lettre d'exil, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von A.-M. Malingrey, Paris I 964 ( Über den Sinn des Vertrauens: 3 - 5 5 S. 72, 1 6- p S. 1 3 8 , I 7-9 S. I 4o). =� Johannes C hrysostomos, Sur la Providence de Dieu, eingeleitet, über-
setzt und mit Anmerkungen versehen von A.-M. Malingrey, Paris I 96 r. Malingrey zufolge (Anm. 2, S. 66-67) hat der B egriff den dreifa chen Sinn einer vertrauenden Zuversicht (XI- I 2, S. 67), einer Rede freiheit dessen, der das Wort Gottes überbringt (XIV-6, S. 20 5 ) oder einer mutigen Zuversicht angesichts von Verfolgungen (XIX- I I, S. 24 I , XXIV- I , S. 272). I 5 CEuvres spirituelles par Dorothee de Gaza, Einleitung, griechischer Text, Ü bersetzung und Anmerkungen v. L. Regnault undJ. de Preville, Paris I 96 3 . Die parrhesia hat entweder den Sinn der vertrauenden Zu versicht ( I 6 I 3 B , S. I I2 oder I 66 I C, S. 226) oder der schuldhaften Un verschämtheit ( I 66 5 A-D, S. 2 3 5 - 2 3 6) . I 6 Z u einer Analyse der »libertas<< b e i Seneca vgl. Hermeneutik des Sub jekts, a. a. 0 . , S. 48 7-49 3 . I 7 Zur Definition der parrhesia (libertas) durch Quintilian vgl. unten, Anm. 2 3 . I 8 Plutarch, Vergleichende Lebensbeschreibungen, »Dion<<, Kap . 4 , übers. v. J. F. C. Campe, Stuttgart I 8 59, S. 2676. I9 >> [ ] vielmehr führte den Platon eine Gottheit, welche, wie es scheint, den Syrakusern von fern her die Freiheit anbahnen und den Sturz der Tyrannenherrschaft vorbereiten wollte, aus Italien nach Syrakus [ . }< (ebd.). 20 Ebd. 2I A. a. 0 . , S. 267 8 . 22 Sophokles, König Oidipus, S. 5 84-602, übers. v. Wilhelm Willige, Düs seldorf/Zürich I 999, S. 4 5 . 2 3 Quintilian, Ausbildung des Redners, Buch VII-XII, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt I 9 8 8 : »Das gleiche soll auch von der freimü tigen Rede gelten, die Cornificius >Freiheit< nennt, die Griechen >Par rhesie<; denn was ist weniger angenommene Figur als die echte Frei heit (der Rede) (quid enim minus figuraturn quam vera libertas) ? « (S. 2 8 I ) . 24 Darunter versteht man d i e Kunst der Kontroverse u n d d e s Streitge sprächs (vom griechischen eris: Streit, Zank; die Göttin Eris ist die Göt tin der Zwietracht), die insbesondere von der Schule von Megara ( 5 . bis 6 . Jahrhundert) entwickelt wurde. In einem berühmten Text (Kap . 2 der sophistischen Widerlegungen) unterscheidet Aristoteles didakti sche, dialektische, kritische und eristische Argumente (die als Argu mente definiert werden, welche zu ihrer Konklusion im Ausgang von Prämissen gelangen, die nur scheinbar wahrscheinlich sind). 25 Anspielung auf eine berühmte Fernsehsendung der Zeit (»Es war ein mal«), in der P. B ellemare auf dem Fernsehsender TF I sein Publikum fesselte, indem er atemberaubende Geschichten erzählte und an der spannendsten Stelle der Erzählung immer eine Werbeseite einschob. . . .
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Vorlesun g 2 (Sitzung vom r 2 . }anuar 1 98 3 , zweite Stunde)
·-�d;IZible Momente der parrhesiastischen Aussage gegenüber der perfor ····c:::·:·en Aussage: Eröffnung eines unbestimmten Risikos/öffentlicher Aus .; -:, :<: einer persönlichen Überzeugung/Einsatz des freien Mutes. - Dis ;, ,,,·:·s;"·agmatik und -dramatik. - Die klassische Verwendung des Begriffs ::· ,-� parrhesia· Demokratie (Polybios) und Staatsbürgerschaft (Euripides). L :n zu versuchen, die allgemeine und etwas unsichere Formel, 2 : :: ich Ihnen eben vorgeschlagen habe - indem ich als Grenz ;.::.;_; die Situation des Parrhesiasten betrachtet habe, der das
ergreift, gegenüber dem Tyrannen die Wahrheit sagt und •; .: in Leben riskiert - weiter aufzuklären, werde ich zur besse :-o: :: Orientierung (das ist inzwischen zur Eselsbrücke gewor '" :: o. , aber vielleicht ist es doch bequem) als Gegenbeispiel, als .\u.s sageform, die der parrhesia genau entgegengesetzt ist, das :: d:: m en, was man nun schon seit Jahren die performativen Aussagen nennt . 1 Sie wissen s ehr wohl, daß man für eine per :,: rm.ative Aussage einen bestimmten Kontext braucht, der ::::-, ::hr oder weniger streng institutionalisiert ist, eine Person, : : :: den erforderlichen Status besitzt oder sich in einer wohl de :::: :::.: erten Situation befindet. Wenn diese B edingungen für eine ?::formative Aussage erfüllt sind, kann eine Person diese Aus : r ch sich selbst den Sachverhalt herstellt, daß die Sitzung er :Snet ist. Oder auch, wenn j emand in einem viel weniger insti :·c::ionalisierten Kontext, der j edoch eine Reihe von Riten und \)"-,xt
::::-as :\lanuskript präzisiert: >>Das Performativum vollzieht sich ':;,;·ct:t, die sicherstellt, daß das Sagen das Gesagte verwirklicht.
in einer
eine wohl definierte Situation beinhaltet, sagt: »Ich entschuldi ge mich«, dann hat er sich tatsächlich entschuldigt, und die Äu ßerung »Ich entschuldige mich« bringt den ausgesagten Inhalt hervor, nämlich daß sich eine gewisse Person bei einer anderen entschuldigt hat. Betrachten wir nun erneut im Ausgang von diesem Beispiel die verschiedenen Bestandteile der parrhesia, dieser Äußerung einer Wahrheit, und vor allem die Szene, in der sich die parrhesia vollzieht. Mit dem Text Plutarchs befin den wir uns - hier haben wir bis zu einem gewissen Grad einen Bestandteil, den die parrhesia mit den performativen Aussagen teilt - in einer sehr typisierten, sehr bekannten, sehr institutio nalisierten Situation: der des Herrschers. Der Text zeigt das ganz gut: Der Herrscher ist da, umgeben von seinen Höflingen. Der Philosoph hat gerade seine Vorlesung gehalten, die Höf linge spenden Beifall. Die andere Szene, die in diesem Text ebenfalls gegenwärtig ist, ist ganz ähnlich und unterscheidet sich kaum: Wieder ist es der Tyrann Dionysios inmitten seines Hofes. Die Höflinge sind da, lachen über Dionysios' Witze, und j emand, nämlich Dion, erhebt sich und ergreift das Wort. Der Herrscher, die Höflinge, derj enige, der die Wahrheit sagt: eine klassische Szene (das war auch, wie Sie sich erinnern, die Szene des Ödipus). Es gibt jedoch einen Unterschied von größter Bedeutung. In einer performativen Äußerung sind die Bestandteile der Situa tion derart, daß sich, wenn die Ä ußerung vollzogen wird, eine Wirkung einstellt. Diese Wirkung ist im voraus bekannt, von vornherein geregelt. Es handelt sich um eine kodierte Wir kung, in der gerade der performative Charakter der Ä ußerung besteht. Während im Gegensatz dazu bei der parrhesia dasj eni ge, was die parrhesia ausmacht, darin besteht, daß die Einfüh rung oder der Einbruch der wahren Rede eine offene Situation bestimmt oder vielmehr die Situation öffnet und eine Reihe von Wirkungen ermöglicht, die gerade nicht bekannt sind, und zwar gleichgültig, was der gewöhnliche, vertraute, gleichsam institutionalisierte Charakter der Situation ist, in der sie sich vollzieht. Die parrhesia bringt keine kodierte Wirkung hervor, 88
k :l Cern eröffnet ein unbestimmtes Risiko. Und dieses unbe s-: : ::-.mte Risiko ist offenbar von den B estandteilen der Situa
abhängig. Wenn man sich in einer Situation wie dieser : <e:i:-,det, ist das Risiko gewissermaßen äußerst offen, da der C: :rrakter, die unbegrenzte Form der Macht des Tyrannen, das : :: e:-schwengliche Temperament Dionysios', die Leidenschaf ' L:::. die ihn beseelen, all das zu den schlimmsten Wirkungen i'S �":-en und anscheinend in der Tat zu dem Willen führen kann, .:: ':::o jc:nigen, der die Wahrheit gesagt hat, sterben zu lassen. Sie '�hen j edoch, selbst wenn es sich nicht um eine so extreme Si ::::. : :ion wie diese handelt, selbst wenn es nicht um einen Tyran ::: e ::: geht, der die Macht über Leben und Tod desj enigen hat, : c: r spricht, was für die Aussage der parrhesia charakteristisch : :::. w a s gerade die Äußerung der Wahrheit in Form der parrhe ' " u:ner den anderen Aussageformen und den anderen Äuße ::-:;:::,gen der Wahrheit zu etwas absolut Einzigartigem macht, :::'CS :eht darin, daß in der parrhesia ein Risiko eröffnet wird. In :.:: <: :: Schritten eines Beweises, der sich unter neutralen Umstän :.e::: vollzieht, gibt es keine parrhesia, obwohl es sich um eine _ i_mi erung der Wahrheit handelt, weil derj enige, der die Wahr t:. e:: auf diese Weise zum Ausdruck bringt, keinerlei Risiko einD as Aussprechen der Wahrheit eröffnet keinerlei Risiko, :;-,·.::ln man es nur als einen B estandteil eines B eweisvorgangs ::-�·:::achtet. Aber sobald das Aussprechen der Wahrheit, sei es ::::: : ::-. innerhalb - denken Sie etwa an Galilei - oder auch außer ;:::lc eines Beweisvorgangs, ein plötzlich hereinbrechendes Er :· ;·2s darstellt, das für das sprechende Subj ekt ein gar nicht : s � r nur wenig bestimmtes Risiko eröffnet, können wir sagen, -=-� ·;_ parrhesia vorliegt. In einem gewissen Sinne ist die parrhe ,:..; :!.so das Gegenteil des Pedormativen, wo die Äußerung von ,;·s<:;;.s in Abhängigkeit von einem allgemeinen Code und von ,':\ :: � m institutionellen Umfeld, in dem die performative Äuße :-:.:: ::.g hervorgebracht wird, ein völlig b estimmtes Ereignis her :;:-:-utt. Hier haben wir im Gegensatz dazu ein Wahrsprechen, L:::: plötzlich hereinbrechendes Wahrsprechen, ein Wahrspredas einen Bruch darstellt und ein Risiko eröffnet: Mög::>: r:
-
,
•
lichkeit, B ereich von Gefahren oder zumindest em unbe stimmtes Ergebnis. Das ist das erste Merkmal. Zweitens - immer noch im Vergleich mit der performativen Ä ußerung - wissen Sie auch, daß bei einer performativen Äu ßerung der Status des Subj ekts der Ä ußerung eine wichtige Rolle spielt. Wer die Sitzung durch die bloße Tatsache eröffnet, daß er >>Die Sitzung ist eröffnet« sagt, muß auch die notwendi ge Autorität haben und der Vorsitzende der Sitzung sein. Wer »Ich entschuldige mich« sagt, vollzieht nur dann eine perfor mative Äußerung, wenn er sich tatsächlich in einer solchen Si tuation befindet, daß er sich entschuldigen kann oder muß, vorausgesetzt daß er seinen Gesprächspartner beleidigt hat oder sich in dieser oder j ener Lage ihm gegenüber befindet. Wer » Ich taufe dich« sagt, muß auch den Status haben, der zu taufen gestattet, d. h. zumindest Christ sein usw. Aber auch wenn dieser Status für den Vollzug einer performativen Äuße rung unverzichtbar ist, kommt es für den Charakter der per formativen Ä ußerung nicht darauf an, ob es eine gewiss erma ßen p ersönliche Beziehung zwischen dem Sprecher und der Äußerung selbst gibt. Mit anderen Worten und völlig empi risch gesprochen, für den Christen, der »Ich taufe dich« sagt, indem er bestimmte Gesten macht, kommt es nicht darauf an, ob er an Gott oder an den Teufel glaubt. Sobald er diese Geste wirklich vollzogen und diese Worte unter den erforderlichen B edingungen wirklich ausgesprochen hat, hat er de facto die Taufe vollzogen, und die Ä ußerung ist performativ. Für den Vorsitzenden, der >> Ich eröffne die Sitzung« sagt, kommt es nicht darauf an, ob die Sitzung ihn anödet oder ob er döst. Er hat gesagt »Die Sitzung ist eröffnet«. Dasselbe gilt für die Ent schuldigung: Was »Ich entschuldige mich« zu etwas Performa tivem macht, liegt keineswegs darin, daß das Subj ekt aufrichtig ist, wenn es sagt »Ich entschuldige mich«. Vielmehr ist es die bloße Tatsache, daß es diesen Satz geäußert hat, auch wenn es zu sich selbst sagt: Ich warte auf dich an der Wegbiegung, und dann sollst du sehen. Dagegen ist bei der parrhesia und in ih rem Wesen eine solche Gleichgültigkeit nicht nur unmöglich,
;<:,, ::dem die parrhesia ist immer eine Art des Aussprechens der '7f:l-:rheit auf zwei Ebenen: die erste Ebene ist die der Äuße
-..::-,; der Wahrheit selbst (hier sagt man wie bei einem p erfor ::: :2:isen Akt, was der Fall ist, und damit basta); dann gibt es ::: :::: zweite Ebene des parrhesiastischen Akts, der parrhesiasti :.-: ie:: Außerung, die in der B ehauptung besteht, daß man die �;;· ·L':rheit, die man sagt, auch wirklich selbst für wirklich wahr .<1::. Ich sage die Wahrheit und denke auch s elbst wirklich, daß :.; die Wahrheit ist, und ich denke wirklich, daß ich die Wahr :� :i: sage, wenn ich sie sage. Diese Zweiteilung oder Verdopp ::: :: ; der Äußerung der Wahrheit durch die Äußerung der T;.!:-.:heit der Tatsache, daß ich diese Wahrheit denke und daß ;;:-::- . indem ich sie denke, sie sage, ist für den parrhesiastischen :1-.is: unverzichtbar. In Plutarchs Text, den ich als Beispiel ge :::< mmen habe, werden diese beiden Ebenen nicht ausdrücklich �:::. : e:-schieden, was übrigens meistens der Fall ist, und die ::: -:,-,·eire Ebene (die Ebene der B ehauptung, die sich auf die Be ::: ;: :'.lprung bezieht) bleibt sehr oft implizit. D ennoch sieht man ''··=�.:- deutlich, wenn man die B estandteile der Szene betrachtet, :iL :: für die parrhesia konstitutiv ist, daß es in diesen Bestandtei :::: etwas gibt, das diese B ehauptung bezüglich der B ehaup �..: :: g anzeigt. Und das ist im Wesentlichen der öffentliche Cha · :k:er dieser Behauptung, und zwar nicht bloß ihr öffentlicher ::::: I-:�akter, sondern die Tatsache, daß diese parrhesia sich hier .: :s ist nicht immer der Fall - in Gestalt einer Szene vollzieht, : : e folgendes beinhaltet: den Tyrannen, ihm gegenüber den �·?'recher, der sich erhoben hat oder der seine Vorlesung hält ::: ::3. der die Wahrheit sagt; und dann gibt es im Umfeld die :-:=ot1inge, deren Einstellung sich mit dem j eweiligen Zeit :-c: ::kr, der Situation, dem Sprecher usw. ändert. Dieses feier ; : . .: he Ritual des Wahrsprechens, in dem das Subjekt das, was es :: :-::ü-.r, sich im Gesagten zu eigen macht, indem es die Wahrheit .: ::ss.en, was es denkt, in der Äußerung des Gesagten bestätigt, -;;:·: :-.3. durch diese Szene, diese Art von Lanzenstechen, diese :::crausforderung dargestellt. Mit anderen Worten, ich glaube, 2:d e s innerhalb der parrhesiastischen Äußerung etwas gibt, 9I
das man ein Bündnis nennen könnte: das Bündnis des Subj ekts, das mit sich s elbst spricht. Dieses Bündnis weist nun selbst wieder zwei Ebenen auf: die Ebene des Äußerungsakts und dann die Ebene, die implizit oder explizit sein kann, durch die das Subjekt sich an den Inhalt der gerade gemachten Äußerung bindet, aber auch an die Ä ußerung selbst. In diesem Sinne han delt es sich um ein doppeltes Bündnis. Einerseits sagt das Sub j ekt in der parrhesia: Dies ist die Wahrheit. Es sagt, daß es diese Wahrheit wirklich denkt, und dadurch bindet es sich an die Äußerung und an ihren Inhalt. Es schließt aber auch dadurch ein Bündnis, daß es sagt: Ich bin der, der diese Wahrheit gesagt hat; ich binde mich also an die Äußerung und trage das Risiko all ihrer Folgen. Die parrhesia beinhaltet also die Äußerung der Wahrheit und außerdem über diese Äußerung hinaus ein im plizites Element, das man das parrhesiastische Bündnis des Subj ekts mit sich selbst nennen könnte, durch das es sich so wohl an d en Inhalt der Äußerung als auch an den Äußerungs akt selbst bindet: Ich bin der, der dies gesagt hat. In diesem Lanzenstechen, dieser Herausforderung, dieser großen Szene, in der sich ein Mann vor dem Tyrannen erhebt und vor den Augen und Ohren des ganzen Hofes die Wahrheit sagt, mani festiert sich dieses Bündnis. Der dritte Unterschied zwischen der performativen und der parrhesiastischen Ä ußerung: Eine performative Äußerung er fordert, daß der Sprecher einen Status hat, der ihm, wenn er seine Äußerung vollzieht, gestattet, das Gesagte zu verwirk lichen; um wirklich die Sitzung zu eröffnen, muß er Vorsitzen der sein; um zu sagen »ich verzeihe dir« und damit »ich verzei he dir« eine performative Äußerung ist, muß der Sprecher eine B eleidigung erfahren haben. Dagegen ist d as, was eine parrhe siastische Äußerung charakterisiert, nicht die Tatsache, daß das sprechende Subjekt diesen oder j enen Status hat. Es kann ein Philosoph sein, es kann der Schwager des Tyrannen sein, ein Höfling oder irgendj emand anderes . Der Status ist also nicht das, was wichtig und notwendig ist. Was die parrhesiastische Äußerung auszeichnet, liegt gerade darin, daß unabhängig vom
Status und von allem, was die Situation kodieren oder bestim men könnte, der Parrhesiastiker derjenige ist, der seine eigene Freiheit eines sprechenden Individuums geltend macht. Wenn schließlich Platon aufgrund seines Status seine eigene Philoso phie lehren sollte - was man von ihm erwartet hat -, so war er :ioch völlig frei, auf Dionysios' Frage nicht zu antworten: Ich ':) in nach Sizilien gekommen, um einen Ehrenmann zu finden ;, und - implizit - ich habe ihn nicht gefunden). Diese Antwort war gewissermaßen eine Zugabe zu Platons Statusfunktion als Lehrender. Auf dieselbe Weise sollte Dion als Höfling, Schwa ger des Tyrannen usw. Dionysios gute Ansichten und gute Rat schläge geben, damit dieser anständig regieren kann. Schließ li c h lag es nur in seiner Freiheit zu sagen oder nicht zu sagen: Als Gelon regierte, war es gut; und nun, da du regierst, befindet >ich die Stadt in einem verheerenden Zustand. Während die :;>erformative Äußerung ein bestimmtes Spiel definiert, in dem der Status des Sprechers und die Situation, in der er sich befin de!, genau vorschreiben, was er sagen kann und soll, existiert die parrhesia nur, wenn es eine Freiheit in der Äußerung der \X'ahrheit gibt, eine Freiheit der Handlung, bei der das Subj ekt J.ie Wahrheit sagt, aber auch eine Freiheit des Bündnisses, .:iurch das das sprechende Subj ekt sich an das Gesagte und die A uGerung der Wahrheit bindet. Und in diesem Sinne findet ::'!an im Zentrum der parrhesia nicht den sozialen und institu ::onellen Status des Subj ekts, sondern seinen Mut. Die parrhesia - und hier fasse ich zusammen und bitte Sie zu ::mschuldigen, daß ich so langsam war und auf der Stelle trat i s : also eine bestimmte Art zu sprechen. Genauer, eine Art, die \fa.,_'rrh eit zu sagen. Drittens eine solche Art, die Wahrheit zu >-:.<.gen, daß man für sich selbst durch die Tatsache, daß man die \i'�ah.rheit sagt, ein Risiko eröffnet. Viertens ist die parrhesia c::i.ne Weise, dieses mit dem Wahrsprechen verbundene Risiko z:: eröffnen, indem man sich selbst gewissermaßen beim Spre :nen als Partner seiner selbst konstituiert, indem man sich an iie geäußerte Wahrheit und an die Äußerung der Wahrheit :: indet. Schließlich ist die parrhesia eine Weise, sich in der geäu93
ß erten Wahrheit an sich selbst zu binden, sich frei und in Gestalt einer mutigen Handlung an sich selbst zu binden. Die parrhesia ist der freie Mut, durch den man sich selbst in der Handlung des Wahrsprechens bindet. Die parrhesia ist auch die Ethik des Wahrsprechens, insofern es sich dabei um einen riskanten und freien Akt handelt. In diesem Sinne kann man für den Begriff der parrhesia, der in s einem auf die Leitung des Gewissens beschränkten Gebrauch mit »Freimut« wiederge geben wurde, als Ü bersetzung den B egriff der »Wahrhaftig keit« vorschlagen. Der Parrhesiastiker, der von der parrhesia Gebrauch macht, ist der wahrhaftige Mensch, d. h. derj enige, der den Mut besitzt, das Aussprechen der Wahrheit zu riskie ren, und der dieses Aussprechen der Wahrheit in einem Bünd nis mit sich selbst riskiert, und zwar gerade insofern er der Ver künder der Wahrheit ist. Er ist der Wahrhaftige. Mir scheint (vielleicht können wir hierauf zurückkommen, ich weiß nicht, ob die Zeit reichen wird), daß die Nietzschesche Wahrhaftig keit eine gewisse Weise ist, diesen B egriff, dessen entfernter Ursprung auf den Begriff der parrhesia (des Wahrsprechens) zurückgeht, im Sinne eines Risikos für denj enigen aufzufass en, der die Wahrheit ausspricht, als Risiko, das von dem, der sie ausspricht, akzeptiert wird. Verzeihen Sie alle diese Verzögerungen. Es ging darum, die Frage nach der parrhesia in den dreifachen Kontext zu stellen, in dem ich sie untersuchen möchte. Erstens sehen Sie, daß, wenn man diese Definition der parrhesia annimmt, eine grund legende philosophische Frage auftaucht. Man sieht j edenfalls, daß die parrhesia eine philosophische Frage ins Spiel bringt, die nicht mehr und nicht weniger ist als die entstehende Ver bindung zwischen der Freiheit und der Wahrheit. Es handelt sich nicht um die wohlbekannte Frage, bis zu welchem Grad die Wahrheit die Ausübung der Freiheit begrenzt oder ein schränkt, sondern gewissermaßen um die umgekehrte Frage: Wie und inwiefern ist die Verpflichtung zur Wahrheit - das »sich der Wahrheit verpflichten« , das »sich durch die Wahrheit verpflichten und durch das Wahrsprechen« - selbst eine Aus94
:."ibung von Freiheit, und zwar eine gefährliche Ausübung ? In '::.-i e:iern ist die Tatsache, daß man sich der Wahrheit verpflichtet s ich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, sich durch die Wahr ��,.eir verpflichtet, durch den Inhalt dessen, was man sagt, und �urch die Tatsache, daß man es sagt), in Wirklichkeit die Aus :."ibung, und zwar die höchste Ausübung der Freiheit ? Vor dem
H�-::. t ergrund dieser Frage muß, glaube ich, jegliche Untersu :'::: :: ng der parrhesia entwickelt werden. z":eitens geht es um einen engeren methodologischen Zusam �e:1hang, der mehr mit der Analyse zu tun hat und den ich ;. ::rtr schematisch folgendermaßen zusammenfassen möchte. ö�Cenn man die allgemeine D efinition der parrhesia im Ausgang ·;·,:; n Plutarchs B eispiel annimmt, sieht man, daß die parrhesia :iso eine bestimmte Weise des Sprechens ist, die die Eigen s-:t,aft hat, daß das Gesagte und der Akt der Ä ußerung »Rück ".,, · irkungen« auf das Subjekt haben werden, die j edoch nicht in Gestalt einer Konsequenz auftreten. B ezüglich dieses Punktes T<:2r ich vielleicht nicht klar genug, aber die parrhesia ereignete ,:eh nicht deshalb, weil Dionysios Platon für das, was er gesagt �. 2:, de facto töten wollte. Die parrhesia existiert von dem Au ;:nblick an, in dem Platon das Risiko akzeptiert, verbannt, ge : :O :er, verkauft usw. zu werden, wenn er die Wahrheit sagt. Die .:' .:: '-rhesia ist also dasjenige, wodurch sich das Subj ekt selbst an :ie Aussage, an die Äußerung und an die Konsequenzen dieser _'\,ussage und dieser Äußerung bindet. Nun, wenn das das We ';;.:n der parrhesia ist, sehen Sie, daß wir hier möglicherweise .:�ne ganze Schicht von möglichen Analysen bezüglich der ');;-:rkung eines Diskurses haben. Die Probleme und die Unter :< 2 eidung zwischen der Analyse der Sprache und der sprach . : .:: h en Tatsachen und der Diskursanalyse sind ihnen wohlbe '-'"'"'"""l t . Was ist das, was man die Diskurspragmatik nennt oder r�:rindest so nennen könnte ? Nun, es ist die Analyse dessen, -;;· 25 in der tatsächlichen Situation eines Sprechers den Sinn und :: :n Wert der Aussage beeinflußt und verändert. In diesem Sin ::: :: 2<eruht die Analyse oder die Bestimmung von so etwas wie :L::er performativen Aussage eben auf einer Diskurspragmatik 95
Die Situation und das sprechende Subjekt sind so beschaffen, daß die Aussage »Die Sitzung ist eröffnet« einen bestimmten Wert und einen bestimmten Sinn hat, die nicht dieselben sind, wenn die Situation eine andere und wenn das sprechende Sub j ekt ein anderes ist. Wenn ein Journalist in der Ecke eines Rau mes sagt »Die Sitzung ist eröffnet<<, stellt er fest, daß die Sit zung gerade eröffnet wurde. Wenn der Vorsitzende der Sitzung sagt >>Die Sitzung ist eröffnet«, weiß man sehr wohl, daß die Aussage weder denselb en Wert noch denselben Sinn hat. In diesem Falle ist es eine performative Aussage, die die Sitzung tatsächlich eröffnet. All das ist bekannt. Sie sehen, daß die Ana lyse der Diskurspragmatik die Analyse der B estandteile und M echanismen ist, durch die die Situation, in der sich der Spre cher befindet, den Wert oder den Sinn des Diskurses ändert. Daß der Diskurs seinen Sinn in Abhängigkeit von dieser Situa tion und der Diskurspragmatik ändert, entspricht folgender Frage: Wodurch ändern oder beeinflussen die Situation oder der Status des sprechenden Subj ekts den Sinn und den Wert der Aussage ? Mit der parrhesia erscheint eine ganze Familie von Diskurstat sachen, die davon völlig verschieden sind, die nahezu die Um kehrung oder das Spiegelbild dessen sind, was man Diskurs pragmatik nennt. Bei der parrhesia handelt es sich in der Tat um eine ganze Reihe von Diskurstatsachen, b ei denen es nicht die wirkliche Situation des Sprechers ist, die den Wert der Aussage beeinflussen oder modifizieren. Bei der parrhesia beeinflussen die Aussage und der Akt der Äußerung zugleich auf die eine oder andere Weise die Seinsweis e des Subj ekts und machen ganz einfach - wenn wir die Dinge in ihrer allgemeinsten und neutralsten Gestalt betrachten -, daß der Sprecher das G esagte wirklich gesagt hat und daß er sich durch eine mehr oder weni ger explizite Handlung an die Tatsache bindet, daß er es gesagt hat. Diese Rückwirkung, die darin besteht, daß das Ereignis der Ä ußerung die Seinsweise des Subj ekts beeinflußt oder daß das Subjekt, indem es das Ereignis der Ä ußerung hervorbringt, seine Seinsweise als sprechendes Subj ekt modifiziert oder be-
stätigt oder zumindest bestimmt und präzisiert, zeichnet, glau be ic h einen anderen Typ von Diskurstatsachen aus, die sich von denen der Pragmatik völlig unterscheiden. Was man die »Dramatik<< des Diskurses nennen könnte, wenn man alles Pa theti s che von diesem Wort abstreift, ist die Analyse dieser D i s kurstatsachen, die zeigt, wie das Ereignis der Ä uß erung selbst das Sein des Sprechers beeinflussen kann. Augenscheinlich ist die parrhesia ganz genau das, was man einen Aspekt und eine Form der Dramatik des wahren Diskurses nennen könnte. Es g eht bei der parrhesia um die Art und Weise, wie man sich, in dem man das Wahre behauptet und im Akt dieser Behauptung selbst als derj enige konstituiert, der wahr gesprochen hat und der sich in demj enigen und als derj enige anerkennt, der wahr gesprochen hat. Die Analyse der parrhesia ist die Analyse die ser Dramatik des wahren Diskurses, die das Bündnis des spre chenden Subj ekts mit sich selbst im Akt des Wahrsprechens zur Erscheinung bringt. Ich glaube, daß man auf diese Weise eine ganze Analys e der D ramatik und der verschiedenen For men der Dramatik des wahren Diskurses unternehmen könnte: der Prophet, der Weissager, der Philosoph, der Wissenschaftler. Sie alle, was auch ihre sozialen Bestimmungen sein mögen, die ihren Status festlegen, bringen eine bestimmte Dramatik des wahren Diskurses ins Spiel, d. h. sie besitzen eine bestimmte Art, sich als Subj ekte an die Wahrheit dessen zu binden, was sie sagen. Es ist klar, daß sie sich nicht auf dieselbe Weise an die Wahrheit dessen binden, was sie sagen, wenn sie als Weissager, als Prophet, als Philosoph oder als Wissenschaftler innerhalb ei ne r wissenschaftlichen Institution sprechen. D i e sehr ver schiedene Art der B indung des Subj ekts an die Ä ußerung des Wahren würde, glaube ich, das Feld für mögliche Untersu chungen bezüglich der Dramatik des wahren Diskurses eröff nen. Nun komme ich also zu den Dingen, die ich dieses Jahr behan deln möchte. Wenn wir als allgemeinen Hintergrund die philo sophische Frage nach der Beziehung zwischen der Verpflich tung der Wahrheit und der Ausübung der Wahrheit nehmen ,
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und als methodologischen Gesichtspunkt das, was man die all gemeine Dramatik des wahren Diskurses nennen könnte, dann möchte ich gerne sehen, ob man nicht von diesem zweifachen (philosophischen und methodologischen) Gesichtspunkt aus die Geschichte, die Genealogie usw. des politischen Diskurses schreiben könnte . Gibt es eine po litische Dramatik des wahren Diskurses, und was könnten die verschiedenen Formen, die verschiedenen Strukturen der Dramatik des politischen Dis kurses sein ? Mit anderen Worten, wenn j emand sich in der Stadt oder im Angesicht des Tyrannen erhebt oder wenn der Höfling sich an denj enigen wendet, der die Macht ausübt, oder wenn der Politiker auf die Tribüne tritt und sagt: >> Ich sage euch die Wahrheit«, welchen Typus von Diskursdramatik rea lisiert er dann ? Was ich dieses Jahr tun möchte, ist als o eine Ge schichte des Diskurs es der Gouvernementalität zu entwickeln, die j ene Dramatik des wahren Diskurs es zum Leitfaden neh men wird und die versucht, einige der großen Formen der Dra matik des wahren Diskurs es zu bestimmen. Als Ausgangspunkt möchte ich eben die Art und Weise neh men, wie sich hier dieser B egriff der parrhesia bildet: Wie läßt sich in der Antike die Bildung einer bestimmten Dramatik des wahren Diskurses im B ereich der Politik ausmachen, nämlich im Diskurs des Ratgebers ? Wie gelangte man von einer parrhe sia, die, wie Sie gleich oder das nächste Mal sehen werden, den öffentlichen Redner charakterisiert, zu einer Vorstellung der parrhesia, die die Dramatik des Ratgeb ers auszeichnet, der an der Seite des Fürsten das Wort ergreift und ihm sagt, was er tun soll ? Das werden die ersten Figuren s ein, die ich untersuchen möchte. Zweitens möchte ich die Figur dessen untersuchen, die ich etwas schematisch - alle diese Aus drücke sind offen sichtlich recht willkürlich - die Dramatik des Ministers nennen will, d. h. j ene neue Dramatik des wahren Diskurses im Bereich der Politik, die um das r 6. Jahrhundert erscheint, als die Regie rungskunst Gestalt anzunehmen, autonom zu werden und ihre eigene Technik entsprechend dem Wes en des Staates zu be stimmen beginnt. Was ist der wahre Diskurs, mit dem sich der
»Minister<< ':- an den Monarchen wendet, und zwar im Namen von etwas, das sich Staatsräson nennt, und in Entsprechung zu einer bestimmten Form des \Vissens, nämlich des Staatswis sens ? Drittens könnte man, obwohl ich nicht weiß, ob ich dazu Zeit haben werde, eine dritte Figur der Dramatik des wahren Diskurses im B ereich der Politik auftauchen sehen, nämlich die Figur des » Kritikers << : Was ist der kritische Diskurs, der sich im Bereich der Politik bildet, im I 8. Jahrhundert j edenfalls einen gewissen Status annimmt und sich das ganze 1 9 . und 2o. Jahr hundert hindurch fortsetzt ? Schließlich könnte man natürlich noch eine v;erte große Figur in der Dramatik des wahren Dis kurses im B ereich der Politik ausmachen, nämlich die Figur des Revolutionärs. Wer ist der, der sich inmitten einer Gesellschaft erhebt und sagt: Ich sage die Wahrheit, und zwar sage ich die Wahrheit im Namen der Revolution, die ich und die wir ge meinsam veranstalten werden ? Das ist ungefähr der allgemeine Rahmen der Untersuchungen für dieses Jahr. Ich bin also gleichzeitig zu spät und zu früh. Zu spät im Hinblick auf das, was ich vorhatte, und zu früh, wenn ich an dieser Stelle hätte aufhören wollen. [ . . . ::- ''] Die erste Reihe von Untersuchungen oder die ersten Betrachtungen richten ,,_
Foucault präzisiert: in Anführungszeichen
•-•- M. F. fü gt hinzu: Bevor ich mit dieser Geschichte der parrhesia und der ersten Figur, der des Ratgebers, beginne, möchte ich zwar nicht eine Frage, aber doch eine Sache wiederaufnehmen, die ich letztes Mal ange schnitten hatte. Es handelt sich um die Möglichkeit, falls Sie es wün schen, sich mit denjenigen unter ihnen zu treffen, die Forschungen be treiben. Ich möchte noch einmal b etonen, daß es nicht darum geht, die anderen auszuschließen, sondern darum, Fragen zu stellen und Ar beitsverhältnisse zu haben, die sich von den Verhältnissen eines Sp ekta kels innerhalb der Vorlesung unterscheiden. Ich bin mir nicht sicher, könnten diejenigen von Ihnen, die mit einer Arbeit beschäftigt sind und die wünschen, daß man ihre A rbeit diskutiert oder die mich be züglich meiner Ausführungen, aber im Hinblick auf ihre eigene Arbeit fragen wollen, nächsten Mittwoch um viertel vor zwölf kommen ? Wir würden uns eine halbe Stunde für den Kaffee nehmen, und dann werde
ich versuchen, den Hörsaal neben diesem hier zu reservieren, d . h. Hör
saal 3, glaube ich. Wir würden uns einfach so treffen, zwanzig, dreißig, j edenfalls in kleiner Zahl . . . In Ordnung, wollen Sie, daß wir das tun ?
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sich auf die Art und Weise, wie sich diese Persönlichkeit gebil det hat, d. h. dies e Art von Diskursdramatik, die Dion in Plut archs Text veranschaulicht. Die Szene, auf die ich mich b ezo gen habe, stammt aus dem 4· Jahrhundert (sie wurde j edoch v o n Plutarch zu B eginn des 2 . nachchristlichen Jahrhunderts geschrieben). Man sieht darin die Figur des Ratgeb ers des Für sten, der sich, an seiner Seite und ihm nahestehend und sogar mit ihm durch ein Verwandtschaftsverhältnis verbunden, er hebt und ihm die Wahrheit sagt. Und zwar sagt er die Wahrheit in einem Diskursmodus, den Plutarch ausdrücklich parrhesia nennt. Ich habe versucht, Ihnen eine Art von allgemeinem Ü berblick über den Begriff und die Arten von Problemen zu geben, die er aufwerfen kann. Aber schließlich darf man doch nicht vergessen, daß, wenn man die diachrone Geschichte des Begriffs der parrhesia betrachtet, dieser B egriff in den klassi schen Texten, in den Texten des 4 · Jahrhunderts, den Sinn hat, den Plutarch ihm gibt und in dem er ihn im Hinblick auf Dion verwendet. Der Gebrauch des Wortes parrhesia in den klassi schen Texten ist etwas komplexer und recht verschieden da von. Ich möchte Ihnen heute und dann das nächste Mal einige dieser Verwendungsweisen angeben. Erstens, während die parrhesia in Plutarchs Text - übrigens in Entsprechung zu dem, was ich Ihnen gesagt habe, als ich ver suchte, den B egriff zu erläutern - an eine Tugend gebunden zu sein scheint, an eine persönliche Qualität, an den Mut (der Mut in der Freiheit des Wahrsprechens), beinhaltet das Wort par rhesia, wie es in der klassischen Epoche verwendet wird, zu mindest nicht in erster Linie und wesentlich dies e Dimension des persönlichen Mutes, sondern bezieht sich vielmehr auf zweierlei: einerseits auf eine b estimmte politische Struktur, die das Gemeinwesen auszeichnet; und zweitens auf den sozialen und politischen Status bestimmter Personen innerhalb dieses Gemeinwes ens. Erstens, die parrhesia als politische Struktur. Hierzu nur eine Quellenangab e, die übrigens nicht aus dem 4 · Jahrhundert stammt, da sie sich auf Polybias bezieht, die aber das Problem 1 00
einigermaßen lokalisiert. In Polybios' Text (Buch II, Kap. 3 6, Abschnitt 6) wird die Herrschaft der Achäer durch drei große Merkmale b eschrieben. Er sagt, daß es bei den Achäern Ge meinden gibt, in denen man folgendes findet: demokratia (die Demokratie); zweitens, isegoria; drittens, parrhesia.2 Demo kratia bedeutet die B eteiligung, nicht aller, sondern des ganzen demos, d. h. all derer, die als Bürger und folglich als Mitglieder des demos gelten können, welche an der Macht teilhaben sol len. Isegoria bezieht sich auf die Stru ktur der Gleichheit, nach der Recht und Pflicht, Freiheit und Verpflichtung dasselbe oder gleich sind, und zwar auch hier für alle, die dem demos an gehören und die folglich den Status des Bürgers haben. Das dritte Merkmal dieser Staaten ist schließlich die Tatsache, daß man in ihnen die parrhesia antrifft. Man findet dort die parrhe sia, d. h. die Freiheit der Bürger, das Wort zu ergreifen, und zwar im B ereich der Politik, der sowohl abstrakt (die politische Aktivität) als auch sehr konkret aufgefaßt wurde: das Recht, in der Versammlung, und zwar der vereinigten Versammlung, sich zu erheben, zu sprechen, die Wahrheit zu sagen, oder vor zugeben, daß man die Wahrheit sagt, und zu b ehaupten, daß man sie sagt, auch wenn man kein besonderes Amt b ekleidet, ;;.uch wenn man kein Magistrat ist. Das ist die parrhesia: eine politische Struktur. Dann gibt es eine ganze Reihe anderer Verwendungsweis en des Wortes parrhesia, die sich weniger auf j ene allgemeine Struktur des Gemeinwesens als vielmehr auf den Status der Individuen beziehen, wie dies recht deutlich in mehreren Texten von Euri pides zum Vorschein kommt. Erstens findet man in der Tragö die Ion, bei den Versen 668-67 5 , folgenden Text: »Find ich die :\1utter nicht, die mich geboren, leb ich nur halb . Ist mir ein \'('unsch verstattet, so wär' es der, daß aus Athen sie stammte ,�die Frau, die mich gebar und die ich suche, M. F.]. Dann könnt' ich frei von meiner Abkunft reden [hos moi genetai >n etrothen parrhesia: damit die parrhesia von meiner Mutter herrühre; M. F.] . Mischt in ein reines Volk der Fremde sich, mag nach dem Recht er Bürger sein, s ein Mund erwirbt nie IOI
ganz der freien Rede Stolz [ouk echei parrhesian : Er hat die parrhesia nicht; M . F.] .«3 Was ist das nun für ein Text, und was läßt sich in ihm erkennen ? Es geht um j emanden, der auf der Suche nach seiner Abstammung ist, der s eine Mutter nicht kennt und der dann wissen will, welchem Gemeinwesen und welcher Gemeinschaft er angehört. Warum will er das wissen ? Er will es gerade deshalb wissen, um zu erfahren, ob er das Recht, zu sprechen, hat. Und da er sich in Athen befindet und nach dieser Frau sucht, hofft er, daß die Mutter, die er schließ lich entdecken wird, Athenerin sei, also dieser Gemeinschaft angehört, diesem demos usw., und daß er entsprechend seiner Herkunft selbst das Recht hat, frei zu sprechen, d. h. die par rhesia auszuüben. D enn, so sagt er, in einer >>unbefleckten« Stadt, d. h. in einer Stadt, in der man die Traditionen bewahrt hat, in der die politeia (die Verfassung) weder durch Tyrannei noch durch Despotismus geändert wurde, auch nicht durch die übermäßige Eingliederung von Leuten, die keine echten Bür ger sind, nun, in einer Stadt, die unbefleckt geblieben ist und in der die politeia das blieb, was sie sein sollte, haben nur die Bür ger die parrhesia. Sie sehen, daß außer diesem allgemeinen The ma, das die Suche nach der mütterlichen Herkunft dieser ein zigartigen Persönlichkeit bildet, und das Recht, zu sprechen, an die Zugehörigkeit zum demos bindet, zwei Dinge festgehal ten zu werden verdienen. Erstens wird das Recht zu sprechen, die parrhesia, hier augenscheinlich durch die Mutter übertra gen. Zweitens sehen Sie auch, daß gegenüber den Bürgern, die das Recht zu sprechen haben, der Status des Fremden festge legt ist und in Erscheinung tritt, dessen Sprache die eines Leib eigenen ist, wenn die Stadt wirklich unbefleckt ist. Im griechi schen Text heißt es ausdrücklich: to ge stoma doulon (sein Mund ist der eines Sklaven) . Das bedeutet, daß das Recht zu sprechen, die Einschränkung der Freiheit des politischen Dis kurses total ist. Er hat die Freiheit des politischen Diskurses eben nicht, er hat keine parrhesia. Wir haben also die Zugehö rigkeit zu einem demos; parrhesia als Recht zu sprechen, das mütterlicherseits vererbt wird; und schließlich den Ausschluß 1 02
der Nichtbürger, deren Sprache die der Leibeigenen ist. Das kommt in diesem Text zum Vorschein. Ich möchte gerne an dieser Stelle aufhören, obwohl ich noch nicht ganz fertig bin. Ich spüre j edoch sehr deutlich, daß, wenn ich mit dem Vergleich zwischen diesen und anderen Texten von Euripides beginne . . . Wir werden also nächstes Mal wei termachen, danke. Anmerkungen r
Vgl. die folgenden b eiden wichtigen Quellenangaben: J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, übers. und bearb. v. Eike von Savigny, 2. Aufl., Stuttgart 2002 (How To Do Things with Words, Oxford 1 962); J. Searle, Sprechakte, übers. v. R. und R. Wiggershaus, 7· Auf!., Frankfurt/M. 1 997 (Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1 969)· :: »Eine reinere, von echterem Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung, der Meinungsfreiheit, kurz, einer wahren Demo kratie wird man nicht leicht finden, als sie bei den Achaeern b esteht<< (Polybios, Geschichte, Zweites Buch, 3 8, eingel. und übem. von H. Drexler, Zürich und Stuttgart 1 9 6 1 , S. 1 49). ;; Ion, 671-67 5 , in: Euripides, Tragödien, übers. v. Hans von Arnim, mit ei ner Einführung und Erläuterungen v. Bemhard Zimmermann, Zürich und München 1 990, S. 263 .
Vorlesung 3 (Sitzun g vom 1 9. ]anuar 1 9 8 3 , erste Stunde)
Die Person Ions in der Mythologie und Geschichte A thens. - Der politische Kontext von Euripides' Tragödie: der Friede des Nikias. - Geschichte der Geburt Ions. - Alethurgisches Schema der Tragödie. - Strukturvergleich zwischen Ion und König Ödipus. - Die Abenteuer des Wahrsprechens in Ion: die doppelte Halblüge.
Heute möchte ich die Untersuchung des B egriffs der parrhesia fortsetzen. Es handelt sich um einen B egriff, der in erster Nä herung einen recht großen Bereich abzudecken scheint, da der Ausdruck sich einerseits darauf bezieht, » alles zu sagen«, ande rerseits auf das >>Wahrsprechen« und drittens auf den >>Frei mut« . Alles sagen, Wahrsprechen, freimütig sprechen: Das sind die drei Achsen des Begriffs. Sie erinnern sich, daß ich diesen Begriff in dem besonderen Zusammenhang der Gewissenslei tung erwähnt hatte. Dieses Jahr möchte ich ihn im weiteren Kontext der Regierung des Selbst und der anderen untersu chen. Während der letzten Vorlesung hatte ich versucht, einige As pekte des B egriffs der parrhesia etwas zu umreißen, und zwar in dem Sinne, in dem er in einem gewissermaßen durchschnitt lichen Text, nämlich dem von Plutarch, vorkommt, der das parrhesiastische Aufeinandertreffen von zunächst Platon und dann von Dion mit dem Tyrannen Dionysios inszeniert. Von dieser ersten Skizze ausgehend, möchte ich nun weiter zurück gehen und der Geschichte bzw. den verschiedenen Schichten in der Geschichte des Begriffs der parrhesia in mehr Einzelheiten zu folgen versuchen, und zwar im wesentlichen vom Gesichts punkt seiner politischen B edeutungen aus. Unter den wichtig sten klassischen Texten zum Begriff der parrhesia findet man einige bei Euripides, und zwar insbesondere in vier seiner Stük ke: Ion, Die Phoinikierinnen, Hippolytos und Die Bakchen. Letztes Mal habe ich sehr kurz von dem Text gesprochen, den man in Ion findet und in dem die Hauptperson, Ion, erklärt, ! 04
daß er ein starkes Bedürfnis habe, zu wissen, wer seine Mutter sei, da er sie nicht kenne. Er hat nicht nur ein Bedürfnis zu wissen, wer sie ist, sondern er hätte gerne, daß sie Athenerin sei, um von seiner Mutter her (metrothen) das Recht zu er halten, frei zu sprechen, d. h. die parrhesia zu erhalten. Denn: »Mischt in ein reines Volk der Fremde sich, mag nach dem Recht er Bürger sein, sein Mund erwirbt nie ganz der freien Rede Stolz [sein Mund wird Sklave bleiben: stoma doulon; M. F.] . « 1 Das war der Text, auf den ich Sie letztes Mal hinge wiesen hab e. Zu diesem Text lässt sich gewiß einiges sagen. In der Bude Ausgabe von Euripides sagt Gregoire, der Autor der Einlei tung - die übrigens sehr interessant und meines Erachtens hi storisch nicht nur sehr akkurat, sondern auch sehr gut belegt ist, da ich trotz des Alters der Ausgabe (sie stammt aus dem Jahr 1 9 2 5 oder 1 9 3 0) feststellen konnte, daß die Literaturhisto riker nur wenig an dem ändern, was als historische Tatsache gilt -: Ion ist also ein j unger Mann, sehr prächtig, sehr lobens wert und sehr ehrenhaft, der eine » echte Inbrunst« und »zartes Empfinden« zeigt. Er hat einen »impulsiven Erkenntnis drang«, die »freudige Tätigkeit der Jugend « und »er legt Wert auf seinen Freimut im Reden«.2 Nun, mir scheint, daß dieses Problem des Freimuts etwas anders gelagert ist und andere Di mensionen aufweist als die psychologischen, auf die Gregoire in seiner Einleitung hinweist. Wenn ich mich für diesen Text iiJ.teressiere, dann deshalb, weil er gerade in der Mitte oder bes ser am Ende des ersten Drittels einer Tragödie steht, von der man wohl behaupten kann, daß sie gänzlich der parrhesia ge widmet ist oder zumindest durch und durch vom Thema der parrhesia (des Alles-S agens, des Wahrsprechens und des Frei muts) beherrscht wird. Betrachten wir ein wenig die Geschichte, die als Hintergrund der Tragödie fungiert. Ion ist eine Person, die keiner der gro ßen mythischen Einheiten des griechischen Erbes angehört und die keinen Platz in einer der bekannten kulturellen Prakti ken hat. Er ist ein Zuspätgekommener, eine künstliche Person,
die zunächst sehr diskret in den wissenschaftlichen Geneale gien aufgetreten zu sein scheint, die vor allem ab dem 7- Jahr hundert verwendet und im 5 . Jahrhundert häufig wiederb elebt wurden. B ei diesen wissenschaftlichen Genealegien ging es darum, die politische und moralische Autorität einiger großer Familiengruppen zu b egründen und zu rechtfertigen. Es ging auch darum, einem Gemeinwesen Vorfahren zu geben, die Rechte dieses Gemeinwesens einzufordern, eine bestimmte Politik zu rechtfertigen usw. In diesen politischen, künstlichen und verspäteten Genealegien erscheint Ion (ich möchte fast sa gen: wie sein Name schon sagt) als Vorfahre der Ionier. Man hat also den Namen Ions geschaffen, um den Ioniern, die schon lange mit diesem Namen benannt wurden, einen Vorfahren zu geben. So erklärt Herodot, daß die Ionier, als sie auf dem Pelo ponnes wohnten - d. h. in demj enigen Teil, der Achäa des Pelo ponnes hieß - sich nicht Ionier, sondern Pelasgier nannten. Aber zur Zeit des Ion, Sohn des Xuthos, nahmen sie den Na men der Ionier an.3 Ion ist also der namengebende Held der Io nier, er ist ihr gemeinsamer Vorfahr. D as ist, wenn Sie so wol len, das allgemeine Thema der Genealogien, die sich auf Ion beziehen. Ich lasse die verschiedenen Versionen und aufeinanderfolgen den Entwicklungen dieser Genealogie beiseite und möchte nur auf folgendes hinweisen: Ion, der Vorfahr der Ionier, hatte sei nen Ort also zuerst in Achäa. Je mehr aber die Macht Athens anwuchs, je stärker der Widerstreit zwischen Sparta und Athen wurde, je mehr Athen auch die Führerschaft über Ionien b e anspruchte und tatsächlich auch ausübte, in dem Maße war Athen auch immer mehr geneigt, sich als das Gemeinwesen der Ionier darzustellen und Ion als einen Athener zu betrachten, oder zumindest als einen der Hauptakteure der Geschichte Athens . Man sieht dann Ion allmählich von Achäa nach Athen auswandern, wo e� nach manchen Versionen der Legende als Einwanderer ankommt, aber als wichtiger, entscheidender Ein wanderer, da man ihm die erste große Revolution oder Reform der Athener Verfassung zuschreibt. Auf ihn soll folgende Ver!06
änderung zurückgehen: Nach der ersten Gründung Athens soll eine Art von Neugründung stattgefunden haben oder zumin dest eine innere N euorganisierung Athens, die das Athener Volk in vier Stämme aufgeteilt haben soll. Diese vier urzeit liehen Stämme sollen den Ursprung Athens und seiner poli :ischen Organisation gebildet haben. Das ist übrigens die Ver sion, die man bei Aristoteles in der Verfassung der A thener iindet, wo er die elf Revolutionen oder die elf großen Umbil dungen des Athenischen Staats aufzählt. In der ersten davon gründet Ion die vier Stämme.4 Aber Ion erscheint bei Aristote les als einer, der von Achäa kommt, nach Athen einwandert und Athen neu organisiert. Man sieht nur zu gut, welche Art von Problemen und Verlegenheiten eine solche Legende zu ei ner Zeit hervorrufen konnte, wo Athen für sich selbst Au rochthonie beanspruchte, d. h. die Tatsache, daß die B ewohner _'\rhens im Unterschied zu so vielen anderen Griechen nicht o;-on anderswo hergekommen, sondern aus ihrem eigenen Bo den hervorgegangen seien. Zu der Zeit also, da die Athener sich ·.-on den anderen Griechen unterscheiden wollen, indem sie diese ursprüngliche Autochthonie behaupten, in dem Augen :,lick, da sie den Anspruch erheben, die politische Herrschaft iber die ionische Welt auszuüben, wie kann man da zugeben, iaß ein eingewanderter Ionier Athen reformiert haben soll ? Hieraus ergibt sich die Tendenz, die beständige Neigung dieser ganzen Legende, Ion so eng wie möglich in die Geschichte Athens einzubinden. Im Rahmen dieser Bewegung, dieser Ten denz zur B earbeitung der Legende hat Euripides ' Tragödie ih :-cn Ort, außerdem auch eine Tragödie, die von Sophokles ge ;..:hrieben wurde und verlorengegangen ist, nämlich Kreusa, :.:nd die kurze Zeit vor Euripides ' Ion geschrieben worden zu sein scheint.5 Wahrscheinlich schon in Sophokles' Tragödie, :;:-.estimmt aber in Euripides' Ion wird mit der B earbeitung der L egende versucht, Ion eine angemessene B edeutung zu verlei C.::n. Das heißt, daß der entscheidende Punkt dieser tragischen 3earbeitung der Legende folgender sein wird: Wie läßt sich Lms Rolle als Vorfahr und Gründer gegenüber allen Ioniern
b ewahren, wenn zugleich die Geschichte Ions in Athen selbst eingebunden und verwurzelt sein soll und wenn Ion im Ge gensatz zur ursprünglichen Form der Legende zu j emandem gemacht werden soll, der ursprünglich aus Athen stammt ? Man muß Ion in Athen einbinden und ihm zugleich seine Rolle als Vorfahr aller Ionier bewahren. Dieser Umschwung, der die Herkunft Ions nach Athen verlegt und ihn zum Vorfahren aller Ionier macht, wird von Euripides vollständig und bis zu den äußersten Grenzen vollzogen, denn Euripides wird eine Hand lung erfinden, in der Ion ganz und gar Athener, oder genauer, von athenischem und göttlichem Blut sein wird. Er wird näm lich mütterlicherseits aus Kreusa und väterlicherseits aus Apol lon hervorgehen. Er wird also Athener sein. Durch s eine vier Söhne wird Ion zum Ursprung der vier urzeitliehen atheni schen Stämme werden. Durch seine vier Söhne wird er zum Vorfahren aller Ionier. Andererseits wird man ihm Achaios und Doros als Halbbrüder geben, die auf Kreusa, seine Mutter, und auf Xuthos zurückgehen. Achaios ist, wie sein Name schon ankündigt, der Vorfahr der Achäer, und Doros, wie man an seinem Namen ebenfalls erkennt, der Vorfahr der D orer. So sind also Ionier, Achäer und Dorer aufgrund der Verwandt schaftsbeziehung zwischen Ion, Kreusa, Xuthos usw. mitein ander verwandt, d. h. aufgrund von Personen, die sich in Athen selbst befinden. ::Diese B earbeitung des Gerüsts der Legende Ions, diese Umbil dung eines Einwanderers in einen Einheimischen, diese Art von genealogischem Imperialismus, der zum Ergebnis hat, daß schließlich alle Griechen (Achäer, Dorer, Ionier) von derselben Quelle abstammen, all dies - sowie eine Reihe weiterer, ver streuter Hinweise im Text - hat den Historikern, und insbe sondere Gregoire, ermöglicht, das Stück genau zu datieren. Das Datum, das von Gregoire vorgeschlagen wurde, ist bis heute beibehalten worden. Man nimmt an, daß das Stück 4 1 8 ,,. Das Manuskript enthält folgenden Schluß: » Kurz, die ganze Bevölke rung Griechenlands hat eine Wurzel in Athen.<< ro8
......- Chr. geschrieb en wurde, sehr wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte, und sicherlich während j ener kurzen Zeit, die man den Frieden des Nikias nennt, am Ende des ersten Teils des Peloponnesischen Krieges, in dem sich Spartaner und Athener gegenüberstanden. Sie wissen, daß der Sieg nach meh reren Schicksalswenden im Grunde eher an Athen ging. Jeden falls wurde der Frieden des Nikias unter Umständen besiegelt, als die Macht Athens noch nicht angegriffen war (die Kata strophe von Sizilien ereignete sich erst nach dem Bruch des Friedens des Nikias) . Die Macht Athens ist nicht b eeinträch tigt, vor allem ist sein Reich unberührt geblieben, und Athen versucht, von dieser Waffenruhe zu profitieren, um seine Bündnisse zu stärken, um seine Vormachtstellung zu behaup :en und vor allem, um eine Art von Bündnis mit den Ioniern herzustellen, die Ionier unter der Führung Athens zu vereinen. Die Vereinigung der Ionier ist seit geraumer Zeit einer der we sentlichen B estandteile der Strategie Athens. Sie ist es gewiß mehr als je zuvor während des Friedens des Nikias, als der Wi derstreit mit Sparta noch nicht beendet ist, sondern sich erst in seiner Anfangsphase b efindet. Man muß auch j ene Tatsache be rücksichtigen, die eine wichtige Rolle in dem Stück spielen wird, nämlich daß Deiphi - die Angehörigen der Amphiktyo :J.ie Deiphis, die ganze panhellenistische Bewegung, die sich ,·or dem ersten Teil des Peioponnesischen Krieges und vor dem Frieden des Nikias um D eiphi drehte - Sparta viel stärker zu geneigt war als Athen. Während des ganzen ersten Teils des Pe loponnesischen Krieges hatte es eine recht heftige Feindschaft des delphischen Zentrums gegenüber Athen gegeben. D er Frie de des Nikias stellte nun eine Art von Kompromiß, von B e schwichtigung zwischen Deiphi und Athen dar. Deiphi hatte mit Sparta sympathisiert, und der Friede des Nikias - das ist einer seiner Bestandteile - stellt eine Art von Versöhnung zwischen Athen und D eiphi dar. Im Ausgang von dieser le gendären Rahmenhandlung und dieser konkreten politischen Strategie wird Euripides sein Stück aufbauen. Als Handlung verwendet er folgendes Schema, das übrigens zu Beginn des 1 09
Stücks von Hermes erläutert wird, und zwar nach einem Ver fahren, das man in vielen Stücken von Euripides wiederfindet, und überhaupt in vielen Tragödien: Eine Person, manchmal ein Gott - offenbar ist es Hermes -, betritt die Bühne, erklärt, an welchem Punkt der Handlung man sich befindet, und er innert an den Hintergrund der Legende, auf dem das Stück be ruht. Euripides läßt Hermes nun folgendes sagen:6 Erechtheus - sei ner Herkunft nach Athener, auf Athenischem B oden geboren und folglich Garant j ener Autochtonie, auf die die Athener so großen Wert legen - hat eine Tochter namens Kreusa, die also ihrer Abstammung nach auch Athenerin ist, da sie durch ihren Vater eine Verbindung mit dem Boden Athens hat, auf dem je ner geboren wurde. Kreusa wird als junges Mädchen von Apollon verführt. Sie wird von ihm verführt und in den Grot ten der Akropolis begattet, d. h. in nächster Nähe des Tempels und des heiligen Ortes, der dem Kult der Athene vorbehalten war. Sie wird von Apollon auf den Hängen der Akropolis ver führt und gebiert einen Sohn, den sie, aus Scham und um ihre Schande zu verbergen, aussetzen und verlassen wird. Dieser Sohn verschwindet nun, ohne Spuren zu hinterlassen. Tatsäch lich hat Hermes den Sohn, der aus der Liebschaft seines Bru ders Apollon und Kreusa geboren wurde, entführt. Hermes entführt ihn auf Geheiß Apollons und bringt ihn in seiner Wie ge nach Delphi, wo er unter der Fürsorge von Hermes abge setzt wird. Als die Priesterin Apollons, Pythia, das Kind sieht und, obwohl sie doch Pythia ist, nicht weiß, daß es sich um das Kind Apollons handelt, hält sie es für ein Findelkind, nimmt es auf, ernährt es und macht aus ihm einen Tempeldiener. Nun ist also der Sohn Apollons und Kreusas ein b escheidener Diener geworden, der die Schwelle des Tempels fegen wird. Dieser Sohn ist Ion. Während dieser Zeit wurde Kreusa, von der nie mand in ihrer Umgebung weiß, daß sie von Apollon verführt worden war und einen Sohn von ihm hatte, von ihrem Vater Erechtheus mit Xuthos vermählt. Xuthos ist aber ein Fremder. Er wurde nicht in Athen geboren, sondern kommt aus Achäa, I IO
d. h. aus einem Teil des Pelop onnes. Aber Erechtheus hat ihn für Kreusa zum Gemahl bestimmt. Denn im Verlauf eines Er
ob erungskriegs von Euböa hat Xuthos der Armee Athens ge holfen, und damit Erechtheus. Als Belohnung für diese Hilfe erhält Xuthos Kreusa und ihre Mitgift. Das ist also die Situa !ion, die Euripides erfindet oder von Hermes zu Beginn des Stückes erfinden läßt. Ich möchte nun einen Augenblick innehalten, bevor ich mit der Analyse der verschiedenen Elemente des Stücks und deren Wirkungsweise beginne. Sie sehen sofort, worum es in dem Stück gehen wird: um die Entdeckung einer Wahrheit, der Wahrheit der Geburt Ions. In dem Stück wird es darum gehen, daß dieser namenlose Diener' des Tempels Apollons sich nicht als namenloses Kind, das in D elphi gefunden wurde, heraus stellen wird, sondern als j emand, der aufgrund dessen, daß er in Athen gezeugt und geboren wurde, nach Athen zurückkehren und dort die historische und politische Mission der Neubil dung des Staats vollenden kann, ja besser noch: der Gründung i ener langen Dynastie von Ioniern. Die Offenbarung der Wahr heit über die Geburt Ions ist eine dramatische Rahmenhand lung, die man in vielen anderen griechischen Theaterstücken findet. Wenn der Text erhalten geblieben wäre, würde man sie beispielsweise auch in einem anderen Stück von Euripides fin den, nämlich in Alexandros,l worin erzählt wird, wie Hekuba und Priamos, Herrscher von Troja, beschließen, ihren Sohn zu Yerlassen, ihn aussetzen und glaub en, daß er verschwunden sei, nachdem sie durch eine Prophezeiung erfahren, daß Paris oder Alexandros in Gefahr stand, die Katastrophe von Troj a auszu lösen. Und dann treffen sie ihn eines Tages wieder. Die Identi tät und die Herkunft von Alexandros-Paris werden offenbart. Woraufhin dann die Katastrophen Troj as stattfinden können. D as ist also ein b ekanntes Schema. B emerkenswert ist jedoch, daß dieses Zutagetreten der Wahrheit, dieses Ans-Licht-Kom men der Wahrheit über die Herkunft sich erstens an einem be stimmten Ort ereignet. Es ereignet sich tatsächlich nicht in Athen, sondern in Delphi, da Ion sich in Deiphi b efindet, verI li
borgen unter der Gestalt eines Tempeldieners. Die Offenba rung der Wahrheit ereignet sich in Delphi, wo, wie j eder weiß, das Wahre gesagt wird. Das Wahre wird in Form eines Orakels gesagt, in j ener Form, von der Sie wissen, daß sie zwar immer zurückhaltend, rätselhaft, schwer zu verstehen ist, in der aber doch unweigerlich gesagt wird, was ist und sein wird. Der ver borgene Gott, der Gott, der, wie Heraklit sagt, nur durch Zei chen spricht, 8 dieser Gott wohnt eben in D eiphi und in D elphi, genauer, ganz in der Nähe des Tempels, noch genauer, auf dem Vorplatz des Tempels wird diese Wahrheit ausgesprochen. Durch die Macht des Orakels ? Sie werden sehen, daß das nicht der Fall ist. Aber ganz nahe beim Orakel, in unmittelbarer Nähe des Orakels, vor dem Orakel und in gewissem Sinne ge gen das Orakel. Jedenfalls sind wir am entscheidenden Ort des orakelhaften Wahrsprechens in der griechischen Kultur. Zwei tens werden Sie b emerken, daß diese Alethurgie, diese Entdek kung der Wahrheit, dieses Hervorbringen der Wahrheit sich nur dann ereignen kann, wenn die beiden Partner j ener Verei nigung, die geheim und verborgen blieb - Kreusa, die Frau, Apollon, der Vater und Gott -, die Wahrheit über ihre geheime Vereinigung sagen. Sie müssen sagen, was sie getan haben, und zwar müssen sie es ihrem Sprößling sagen. Die Vereinigung der Frau und des Gottes, die Zeugung und die Geburt des Kindes, die Aussetzung durch die Mutter, die Entführung durch Ap ol lon, all das ist den Personen nicht bekannt und all das muß gesagt werden. Drittens muß die Entdeckung der Wahrheit Ion auch dazu führen, die Stadt Athen, wo er gezeugt und ge boren wurde, zu reintegrieren, und ihm gestatten, in Athen ein grundlegendes politisches Recht auszuüben: das Recht, zu sprechen, vom Gemeinwesen zu sprechen, eine Sprache der Wahrheit und der Vernunft an das Gemeinwesen zu richten, worin gerade eine wesentliche Stütze der politeia, der politi schen Struktur, der Verfassung Athens bestehen wird. Deshalb wird sich das Stück von dem Ort, an dem der Gott durch die orakelhafte und rätselhafte Rede das Wahre sagt - nämlich D ei phi - zu der politischen Bühne bewegen, auf der das OberII2
haupt mit vollem Recht seinen Freimut im Reden auf der Grundlage einer Verfassung gebraucht, die die Verfassung des ;"ogos selbst ist - und das ist Athen. Dieser Üb ergang von dem Ort, an dem orakelhaft die Wahrheit gesagt wird, zu der politi schen Bühne, auf der die vernünftige Sprache der Regierung stattfindet, kann sich nur dann vollziehen, wenn der Gott und C.ie Frau, der Mann und die Frau, der Vater und die Mutter im Eingeständnis ihrer Tat die Wahrheit über die Geburt ihres Sohnes sagen. Diese Reihe des dreimaligen Wahrsprechens - das des Orakels, das des Eingeständnisses und das des politischen Diskurses wird im Verlauf des Stückes erzählt. Es handelt sich um die Be gründung des wahren Diskurses im Gemeinwesen durch eine zweifache Operation oder eine zweifache B ezugnahme auf die Rede des Orakels - die, wie Sie sehen werden, eine sehr rätsel hafte und doppeldeutige Rolle zu spielen hat - und auf j ene Rede des Eingeständnisses des Vaters und der Mutter, des Got tes und der Frau. Diese Reihe bildet meines Erachtens den Leitfaden des Stückes. Insofern es sich um eine Tragödie des \\'"ahrsprechens handelt, um ein Drama des Wahrsprechens, um iene Dramatik des wahren Diskurses, über die ich letztes Mal gesprochen habe und die mir der Rahmen zu sein scheint, in ::erhalb dessen man das Wesen der parrhesia verstehen kann, ist das Stück Ion seine herausragendste Darstellung und Entwick }ung. lon ist eigentlich die dramatische Darstellung der Grund b.ge des politischen Wahrsprechens im Bereich der Athener Yerfassung und der Machtausübung in Athen. Das ist der erste Aspekt. Der zweite Punkt, bei dem ich innehalten möchte, bevor ich mit der Lektüre von Ion beginne, besteht in folgendem: Wie Sie s·e hen, weist das Stück offenbar eine Reihe von Analogien zu ,·ielen anderen von Euripides ' Theaterstücken auf. Außerdem scheint mir, daß es eine Reihe von recht genauen Analogien zu � inem anderen Stück enthält, das nicht von Euripides, sondern ·:on Sophokles stammt. Ich meine, daß man sich dieser Nähe b·edienen kann, um etwas genauer zu analysieren, wie die Dinge II3
im Ion vor sich gehen und wie die Wahrheit gesagt wird. [. .*] In Sophokles' Stück, das ich mit dem Stück von Euripides ver gleichen möchte, geht es natürlich ebenfalls um den Gott von Delphi, der die Wahrheit sagt und sie verbirgt. Es geht darin auch um die Eltern, die ihre Kinder aussetzen, um ein Kind, das verschwindet, für tot gehalten wird und wieder auftaucht. Ich muß Ihnen nicht sagen, daß das Stück, an das Ion erinnert, und zwar zwangsläufig, wie mir scheint, Ö dipus ist. Ö dipus ist gleichfalls ein Stück des Wahrsprechens, der Enthüllung der Wahrheit, der Dramaturgie des Wahrsprechens oder, wenn Sie so wollen, der Alethurgie. Ich glaube, daß man leicht viele gemeinsame Elemente zwischen Ö dipus und Ion feststellen könnte. Beispielsweise Elemente einer unmittelbaren Symmetrie. Es gibt eine kleine Szene, die ziemlich unauffällig ist . . . Ich möch te nicht überinterpretieren, aber schließlich sieht man im Ion schon sehr bald, fast zu Beginn, die erste B egegnung Ions mit der Person, die in gutem Glauben meint, sein Vater zu sein, nämlich Xuthos. Sie begegnen sich, und hier gibt es nun eine recht zweideutige Szene. Ich wiederhole, daß man sie gewiß nicht überinterpretieren darf, aber eine Reihe von Anhalts punkten lassen vermuten, daß Xuthos, der in gutem Glauben seinen Sohn in der Person Ions zu begrüßen meint, sich auf ihn stürzt, ihn umarmt und ihn mit väterlichen Liebkosungen überhäuft. Ion erwehrt sich mit der augenscheinlichen Scham eines j ungen Mannes, der sich von einem bärtigen Herrn be stürmt fühlt, und sagt ihm: Bist du bei Sinnen ( eu phroneis ) , 9 sei vernünftig. Und als Xuthos in väterlichem Eifer weiterhin sei ne Zuneigung zeigt, wird Ion zornig und droht, ihn zu töten. Ich glaube, man kann hier einen Anklang an die berühmte Sze ne von La1os und Ö dipus erkennen, die, wie Sie wissen, in vie0
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M. F. : Ich habe den Eindruck, daß es ein Geräusch im Mikrofon gibt, nein, ein Pfeifen ? - Das muß einer dieser Apparate sein, der nicht funk tioniert. - Meine Güte, wie soll man herausfinden, welcher . . . Stört Sie das sehr, nicht zu übermäßig ? Gut, es ist vorbei.
:::n Versionen (nicht in der von Sophokles, aber auf j eden Fall :n anderen) eine Verführungsszene ist. 10 Als Lai"os den jungen
Ö dipus, der auf dem Weg vorüberging, verführen wollte, rea gierte Ö dipus damit, daß er Lai"os tötete. Wir haben also dieses
Element. Andere Elemente scheinen jedoch viel überzeugender zu sein, insbesondere Elemente, bei denen die Symmetrie umgekehrt :s:. Tatsächlich lebt Ion, ohne zu wissen, wer er ist, im Tempel Apollons. Das heißt, er lebt bei seinem Vater, ohne es zu wis > e n , so wie Ö dipus bei einer Frau lebte, die seine Gattin war, o.· o n der er aber nicht wußte, daß sie seine Mutter war. Zweitens s-e hen wir hier eine absolut explizite Szene, in der aus verschie denen Gründen und nac}:l einigen Schicksalswendungen, die :.d2 Ihnen erzählen oder zusammenfassen werde, Ion zu einem c·e:stimmten Zeitpunkt seine Mutter töten will, ohne natürlich zu wissen, daß sie seine Mutter ist. Hier haben wir, glaube ich, iic gerraue Nachbildung des Mordes an Lai"os durch Ö dipus, i:e:s es Mal j edoch auf die Mutter bezogen. ; :b_ meine auch, daß man zwischen den beiden Stücken im :-Enblick auf den Mechanismus der Suche nach der Wahrheit, .:i:e sich gewissermaßen Stück für Stück vollzieht, Analogien ies•stellen kann. Sie erinnern sich, daß im ersten Teil von Ödi c· :rs ' ' die Wahrheit des Mordes an Lai"os entdeckt wird. Im Z "�'.-eiten Teil wird dann die Wahrheit über die Geburt von Ö di ?:JS entdeckt. Die Entdeckung des Mordes an Lai"os kann s elbst 7•-ieder in zwei Teile gegliedert werden, insofern wir zum einen i: e Erzählung von Ö dipus haben, der erzählt, wie er einen Un :·c;;_annten auf der Straße getötet hat, und andererseits die Er :.i hlung, aus der wir erfahren, daß dieser Unbekannte nur i:_.2os sein kann. Dasselbe gilt für die Geburt. Die Wahrheit ,,:::reitet stückweise vorwärts . Sie werden sehen, daß die Wahr ::·::: i: auch hier stückweise fortschreitet und daß wir zunächst i : e väterliche und dann die mütterliche Hälfte haben, bis die ':;e-samtheit dieser Elemente das Ganze der Wahrheit aus :::2cht. �
sowohl in den Episoden als auch in der Struktur des Stückes gibt, scheint mir doch ein Unterschied, ich würde sogar sagen: ein Gegensatz, zu bestehen zwischen der Dramaturgie des Wahrsprechens in Ö dipus und der Dramaturgie des Wahrspre chens in Ion. In Ö dipus wird das Wahrsprechen durch Ö dipus selbst vollzogen. Es ist Ö dipus, der die Wahrheit wissen will. Als Herrscher und um den Frieden und das Glück in seine Stadt zurückzubringen, muß er die Wahrheit wissen. Als was offen bart sich diese Wahrheit ? Nun, zunächst stellt sich heraus, daß er seinen eigenen Vater vernichtet hat, daß er also gewisserma ßen ein Loch in die Herrschaft, die über dem Gemeinwesen und in LaYos' Palast selbst ausgeübt wurde, geschlagen hat. Dann hat er sich selbst in diese leere Stelle hineingestürzt, in dem er s eine Mutter geheiratet und die Macht übernommen hat. Es ist die Entdeckung dieser Tatsache, die ihn schließlich dazu führt, vom Gemeinwesen ausgeschlossen zu werden und sich selbst auszuschließen. Er sagt es selbst am Ende des Stücks : »Mich - das sei nie verlangt von unsrer Vaterstadt, daß sie als lebenden Bewohner dulde mich ! « 1 2 Wegen der Entdek kung dieser Wahrheit, deren Auffindung er initiiert hat, wird er die Stadt also verlassen müss en. Es bleibt ihm künftig nur noch, in der Nacht seiner Blindheit durch die Welt zu irren, da er sich die Augen ausgestochen hat. Was bleibt ihm nun zur Orientierung auf dieser Erde, die er obdachlos und heimatlos durchstreifen wird ? Am Ende des Stückes sagt er auch das ganz klar: Nur die Stimmen seiner Töchter werden ihn leiten. Seine eigene Stimme hört er in der Luft wehen, ohne sie ver orten zu können, ohne zu wissen, wo er ist, ohne zu wissen, wo diese Stimme ist. Durch diese Irrfahrt, die nur vom Wech selspiel der Stimmen zwischen Vater und Töchtern geleitet wird, wird Ö dipus auf der griechischen Erde herumkommen, bis er den endgültigen Ort seiner Ruhe findet, nämlich in Athen. 13 Im Gegensatz dazu haben wir bei Ion einen Prozeß der Wahr heitsfindung, wo man einerseits und zunächst erkennt, daß nicht Ion s elbst die Wahrheit sucht, sondern seine Eltern. I I6
Zweitens besteht die Wahrheit, die Ion entdecken wird oder die vielmehr über Ion entdeckt wird, selbstverständlich über ::aupt nicht darin, daß er seinen Vater getötet hat. Er wird ent decken, daß er gewissermaßen zwei Väter hat, und am Ende des Stückes steht er mit zwei Vätern da: eine Art von legalem -.,_-ater, der bis zum Schluß glaubt, daß er der wirkliche Vater sei, r�i,.'Illich Xuthos; und dann ein zweiter Vater. Dieser zweite Va : e r ist Apollon. Apollon, der durch seine wirkliche Vaterschaft bi.l'lsichtlich Ions gewährleistet, daß er ganz und gar in Athen gezeugt wurde. Gerade aufgrund dieser doppelten Vaterschaft •:o n Xuthos und Apollon kann I on, ganz im G egensatz zu Ö dipus, in sein Vaterland zurückkehren, sich dort niederlassen :.:nd alle seine Rechte wiedererlangen. Dank dieser solcherma G.en wiedergefundenen fu'n damentalen Bindung, dank dieser '\fiedereingliederung in die Erde von Athen wird er das legiti .:::: e Recht der Rede, d. h. die Macht in Athen ausüben können. Sie sehen also, daß diese beiden Prozesse der Alethurgie bezüg Ech der Geburt, der Entdeckung der Wahrheit über die Geburt :C-, der Tat verschieden sind und genau zum entgegengesetzten E rgebnis führen. Der eine hatte einen Vater weniger und muß :e schließlich seine Heimat verlassen und heimatlos umherir ::-en, geleitet durch eine Stimme. Der andere entdeckt dagegen, caJ er zwei Väter hat, und wird dank dieser zweifachen Vater s-:!:laft seine Rede, seine Rede eines Mannes, der Befehle erteilt, :n das Land einbringen, auf das er ein Anrecht hat. Das ist, "·enn Sie so wollen, der Rahmen des Stückes. kh möchte Ihnen nun ein wenig zeigen, wie sich dieser Prozeß des Wahrsprechens und der Enthüllung der Wahrheit durch iie verschiedenen Verfahren des Wahrsprechens abspielt, und .z:-x-ar vor dem Hintergrund von Ereignissen, die ich Ihnen in Erinnerung gerufen habe und auf die Hermes ganz am Anfang i::.s Stückes hinweist, nämlich: die geheime Geburt Ions, die spätere Heirat von Kreusa und Xuthos, die Tatsache, daß Ion :.:::: •·erborgenen als Diener des Gottes in Deiphi lebt, ohne daß :emand seine Identität kennt, und schließlich die Tatsache, daß i�eusa und Xuthos am Anfang des Stückes noch nicht ihre I I7
b eiden Söhne haben, die ihnen erst nach den Episoden des Stückes geboren werden und um die es berechtigterweise in den letzten Versen geht, nämlich Achaios und Doros . 1 4 Sie sind also ohne Nachkommen, und genau deshalb begeben sie sich Xuthos als eingewanderter Kriegsherr, der Kreusa geheiratet hat, und Kreusa als von Erechtheus abstammmend - von Athen nach D elphi, um den Gott aufzusuchen und ihn zu fra gen, ob sie nicht doch einmal Nachkommen haben werden, die die zugleich historische und territoriale Kontinuität gewährlei sten könnten, die von Erechtheus begründet wurde, als er, ge boren auf attischer Erde, den Stadtstaat Athens gegründet hat. Das ist also der erste Punkt: Kreusa und Xuthos suchen den Gott auf. Sie suchen ihn auf, weil sie keine Kinder haben und diese Kontinuität herstellen wollen. Tatsächlich sehen wir j edoch, daß die Befragung für b eide Rat suchenden nicht dieselbe ist. Einerseits fragt Xuthos Apollon um Rat. Er befragt ihn nach den üblichen Regeln, um heraus zufinden, ob er wirklich keine Nachkommen haben wird. Das ist die B efragung des Orakels. Kreusa kommt anscheinend ebenfalls, um dieselbe Frage zu stellen: Werde ich keine Nach kommen haben ? Aber in Wirklichkeit stellt sie zugleich eine andere Frage. Denn sie weiß, daß sie ein Kind hatte. Und sie weiß, daß dieses Kind von Apollon war. Sie stellt also folgende Frage: Was ist nun aus dem Sohn geworden, den du mir gege ben hast, den du mit mir gezeugt hast und den ich ausgesetzt habe ? Lebt er noch, oder ist er tot ? Während j edoch die erste B efragung, die von Xuthos, zugleich eine gewöhnliche und öffentliche Frage ist - es ist die Frage eines gewöhnlichen Ratsuchenden -, ist Kreusas Frage (Was hast du mit dem Sohn gemacht, den du mir geschenkt hast ?) eine private Frage einer Frau an einen Mann oder vielmehr einer Frau an einen Gott. Da sie wegen dieser zweifachen Frage nach D eiphi kommen der offiziellen und der geheimen Frage -, da sie diese zweifache Frage stellen, begegnen Kreusa und Xuthos, als sie sich vor dem Tempel des Apollon einfinden, dem jungen Mann, der II8
Lorbeerzweige in den Händen hält, mit denen er die Schwelle des Tempels fegt, und der reinigendes Wasser vergießt, weil er, wie er sagt, das Recht hat, es zu vergießen, da er immer seine Keuschheit bewahrt hat. Natürlich kennt Ion seine wirkliche Identität nicht und kann deshalb auch seine Eltern nicht erken nen, j edenfalls nicht mehr, als seine Eltern ihn erkennen kön :-Ien. Wir haben also drei Unwissende, die j eweils die Antwort auf ihre Frage vor ihren Augen haben: Xuthos sucht einen Er oen, und in Wirklichkeit steht dieser vor ihm, ohne daß er es weiß; Kreusa sucht einen Sohn, den Sohn, den sie hatte, und dieser steht ebenfalls vor ihr; was Ion betrifft, so beklagt er s:ich übrigens ohne großen Nachdruck - darüber, daß er ein msgesetztes Kind ist, keine Heimat hat, weder Vater noch \Iutter. Nun stehen seine Mutter vor ihm und sein Vater, seine beiden Väter: Xuthos, der sein legaler Vater werden wird, und dann neben ihm, hinter ihm, sein wirklicher Vater, der Gott. '0/ir haben es also mit folgendem zu tun: einerseits im Hinter sru n d mit dem Tempel des Gottes, der alles weiß und der die w·ahrheit als Antwort auf die Fragen, die man ihm stellt, sagen ::: u ß; und dann im Vordergrund mit dem Publikum, mit dem Amphitheater, das von Hermes am Anfang des Stückes über ,.:iie ganze Wahrheit der Sache in Kenntnis gesetzt wurde. Zwi scnen diesen beiden wissenden Instanzen nun - dem Publi �:um, das von dem Gott Hermes in Kenntnis gesetzt wurde, '"'''d Apollon, der natürlich ebenfalls weiß -, zwischen diesen üeiden Instanzen der Wahrheit bleiben die drei Personen un -;;;·iss end. Sie erkennen einander nicht, und das ganze Stück "·:rd gerade in der Enthüllung der Wahrheit für diese drei Per oonen auf dem Bühnenraum bestehen. Es handelt sich also um die Alethurgie der Wahrheit. "IC1s wird nun die Triebfeder des Dramas sein ? Nun, sie wird ; e :r a d e in der Schwierigkeit bestehen, die Wahrheit zu sagen, : :::: wesentlichen Verschweigen einer Tatsache. Worauf beruht 5eses wesentliche Verschweigen ? Es beruht auf zwei Dingen, zd gerade darin liegt die Bedeutung und das Interesse dieses Theaterstücks Ion, glaube ich. Einerseits gibt es den strukturel-
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len, wesentlichen, fundamentalen und bes tändigen Grund, der dafür verantwortlich ist, daß, wenn die Menschen die Götter befragen, diese durch nichts gezwungen sind, ihnen so zu ant worten, daß die Antwort klar ist. Im Gegenteil ist es ein Merk mal des orakelhaften Wahrsprechens, daß die Menschen die Antwort verstehen oder nicht verstehen können. Jedenfalls wird der Gott niemals von den Menschen gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Seine Antwort ist mehrdeutig, und es steht ihm immer frei, sie zu geben, wenn er will. In der Klarheit der Ä ußerung selbst gibt es also ein Verschweigen. Es gibt auch ein Verschweigen in der dem Gott vorb ehaltenen Freiheit, zu spre chen oder nicht zu sprechen. Das gehört zum gemeinsamen Bestand. Es ist der gemeinsame und beständige Zug j edes ora kelhaften Spiels von Fragen und Antworten. Auf dieses we sentliche Verschweigen, das der orakelhaften Struktur alles Wahrsprechens durch die Götter, und insbesondere durch den Gott von Delphi, eigentümlich ist, spielt der Text häufig an. Beispielsweis e sagt Ion in den Versen 3 74 ff. zu Kreusa: »Was Phoibos bergen will, wird er's enthüllen ? « >>Denn Trotz und Ü berhebung wär' es doch, wenn wir durch Vogelflug und B lut der Schafe die Götter zwingen wollten, kundzutun, was zu verbergen sie entschlossen sind. « 1 5 Das ist der Hinweis auf die Tatsache, daß es dem Gott immer freisteht zu schweigen, wenn er will. An anderer Stelle sagt dann Ion zu Xuthos, der ihm eine Antwort des Gottes überbringt: Du hast dich getäuscht, als du über das Rätsel nachgedacht hast. 1 6 Die Antwort ist ein Rätsel, und deshalb kann man sich immer täuschen. All dies b ezieht sich also auf b ekannte Elemente. Es gibt j edoch in dem Stück einen besonderen und für die Hand lung eigentümlichen Grund, der dafür verantwortlich ist, daß die Verschwiegenheit des Gottes gewiss ermaßen durch eine an dere Klausel besiegelt wird. Denn wenn der Gott schweigt, dann offenbar nicht bloß deshalb, weil es ihm freisteht, nicht zu sprechen, nicht bloß deshalb, weil es zur Antwort des Ora kels gehört, ein Rätsel zu sein und nur durch Zeichen zu spre chen, wie Heraklit sagte . 1 7 Es ist ganz einfach so, daß Apollon,
als er Kreusa gewalts am beiwohnte und sie dann an den Hän -;en der Akropolis im Stich ließ, sich eines Vergehens schuldig
gemacht hat. Er hat Schuld auf sich geladen. Die Schuld des Gottes ist ein Thema, dem man durch das ganze Stück hin durch begegnet, vom Anfang bis zum Schluß. Als Ion erfährt i :h lasse die Einzelheiten der Handlung im Augenblick beisei :e daß Apollon ein Mädchen verführt und dann im Stich ge �assen hat, weiß er noch überhaupt nicht, daß es sich um s eine :\:lutter handelt. Er weiß nicht, daß es Kreusa war. Er hört ein fach von dieser Verführung, und er selbst, Ion, der doch der m:ue und auch der keusche Diener des Gottes ist, empört sich und sagt: » Tadel verdient der Gott, Mitleid die Frau.« 1 8 In dem selben Dialog, als er mit Kr,e usa spricht, hören wir folgendes. Ion fragt: »Was Phoibos bergen will, wird er's enthüllen ? « 1 9 K.reusa antwortet: »Sein Seheramt verpflichtet ihn dazu.«20 Ion erw idert: »Er schämt der Tat sich. Frag' ihn lieber nicht.« K.:eusa: »Und wenn sich j ene Frau zu Tode grämt ?«2 1 Ion kommt zu dem Schluß: >>Den Spruch wird niemand einzuho l en wagen. Denn wenn im eig'nen Haus so bloßgestellt, Phoi bos dafür den Künder büßen ließe, wär's zu verwundern ? :.;; ein ! Laß ab davon.«22 Sie spüren die Erschütterung der bei den Sätze und folglich das Problem, das aufgeworfen wird. Apollon war ungerecht (adikos), er hat sich eines Vergehens schuldig gemacht. Und er weigert sich »dikaios« (»zu Recht«), 23 zu sprechen und sich selbst als den Schuldigen anzuzeigen. Des halb kann die Antwort nicht von dem Gott kommen, und zwar ::-icht wegen der Struktur des Wahrsprechens des Orakels, son dern weil es nötig wäre, daß der Gott, der etwas Schlechtes ge : m hat, eingesteht, daß er etwas Schlechtes getan hat, und die Scham über seine schlechte Handlung überwindet. Diese Scham, die der Gott über sein schlechtes Handeln empfindet, isr einer der Leitfäden des Stückes. Ganz am Ende, wenn die Alethurgie sich vollendet, wenn die ganze Wahrheit gesagt sein wird wird sie dann von dem Gott gesagt, von Apollon, von iem, der doch dem Text zufolge allen Griechen die Wahrheit schuldet ? Keineswegs. Die Gottheit, die am Ende die Wahrheit -,
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sagen wird, ist jemand, der über dem Tempel Apollons er scheint, ihn überragt und üb ertrifft - und zwar natürlich aus politischen Gründen, aber auch aus Gründen, die damit zu tun haben, was ich Ihnen gerade erläutere -, nämlich Athene. Athe ne, die Göttin Athens, wird die ganze Geschichte in der Wahr heit verankern. Sie wird durch ihren eigenen Diskurs der Wahrheit die politische Struktur Athens begründen. Sie wird eingreifen und die Wahrheit sagen, die der Gott Ap ollon nicht sagen konnte, und sie erklärt im übrigen, warum sie es ist, die erscheint, und nicht der Gott. Sie sagt: Apollon will sich eurem Anblick nicht persönlich aussetzen, denn er fürchtet sich vor den öffentlichen Vorwürfen über das Vorgefallene und schickt mich, euch zu verkünden, daß . 24 Die gesamte Funktion des Wahrsprechens, die zugleich grundlegend und prophetisch ist, wird durch Athene sichergestellt, weil es ab ermals aus politi schen Gründen Athene sein muß, aber auch deshalb, weil der Gott nicht selbst die Wahrheit sagen kann. Mir scheint, daß wir hier einen der wesentlichen und charak teristischen Züge der Tragödie Ion haben: das Wahrsprechen eines Gottes, der zu den Menschen spricht und ihnen gemäß der Funktion des Orakels offenbart, was ist und sein wird, dieses Wahrsprechen muß im Fall von Ion auch das Wahrspre chen des Gottes über sich selbst und seine Vergehen sein. Das Schweigen des Orakels ist zugleich das Zögern, etwas einzuge stehen. Und diese Ü berlagerung des Räts els des Orakels mit der Schwierigkeit, ein Eingeständnis zu machen, des Wahr sprechens des Orakels mit dem Wahrsprechen des Eingeständ nisses, eine Ü berlagerung, die sich in dem Gott und in der Rede des Gottes vollzieht, ist eine der wesentlichen Triebfedern des Stückes. Wie wird nun die Wahrheit ihren Weg finden, wie wird das Wahrsprechen angestellt, und wie begründet es zu gleich die Möglichkeit einer politischen Struktur, innerhalb de ren man auf die Weise der parrhesia Wahres sagen kann, wo man es doch mit einer Situation zu tun hat, in der derj enige, der wahrsprechen soll, derjenige, dessen Funktion es ist, die Wahr heit zu sagen, derj enige, den man um des Wahrsprechens willen . .
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aufsucht, nicht die Wahrheit sagen kann, weil diese Wahrheit ein Eingeständnis seiner Schuld wäre ? Nun, das Wahrsprechen muß durch die Menschen geschehen. Die Menschen müssen kommen, die Wahrheit aufstöbern und das Wahrsprechen aus üben. In dieser Schwäche des Gottes, die Wahrheit zu sagen, in diesem dopp elten Verschweigen des Orakels und des Ein geständnisses, werden nun die Menschen versuchen, mit der ')7ahrheit zurechtzukommen. Wie stellen sie es an, das dop ?elte Siegel des orakelhaften Rätsels und der Scham vor dem Eingeständnis zu sprengen ? Ich glaube, daß man das Stück zusammenfassen, zumindest aber seine wesentlichen Bestand :eile nennen kann, wenn man sagt, daß es zwei große Momente
gibt.
Das erste Moment könnt e man das Moment der doppelten
Halblüge nennen. D enn es ist gerade auch einer der wesent Iichen Punkte dieses Stücks - man sollte darauf zurückkom men -, daß im Unterschied zu dem, was in Ö dipus geschieht, die Wahrheit hier nicht gesagt wird, ohne daß sie eine Dimensi ) :J. mit sich führte, eine zweifache Täuschung, die zugleich ihre ::orwendige Begleitung, ihre Voraussetzung und ihr vorausge '*;orfener Schatten ist. Es gibt kein Wahrsprechen ohne Täu ;.c hungen. Sehen wir j edenfalls zu, wie das geschieht. Der erste Teil wird also von zwei Halblügen gebildet: erstens der Halb l·:ige der Mutter und anschließend der Halblüge des Vaters, 2enn wie in Ö dipus werden die Dinge nach und nach in Gang ;:: bracht. Erstens seitens Kreusas. Kreusa, die Frau, und Xu :i:os, der Mann, kommen also nach D elphi. Xuthos will fragen, .:·b e r einen Sohn haben wird. Kreusa will dagegen fragen, was :.us ihrem Sohn geworden ist. Kreusa erscheint als erste auf der :t, ühne und begegnet als erste j enem jungen Mann, der mit Lor : e::rzweigen die Schwelle des Tempels fegt. Sie begegnet die �e m jungen Mann und sagt ihm, daß sie den Gott aufsuchen :::: ö chte. Ion fragt sie, worum es bei der Befragung denn gehe, <.)er natürlich wagt sie nicht, Ion die Wahrheit auf seine Frage :. -..: sagen. Sie wagt nicht, ihm zu sagen: Ich habe mich eines Ver ;;: hens mit dem Gott schuldig gemacht und will ihn nun fraI 23
gen, was er aus meinem Sohn gemacht hat. Sie wird also eine Halbwahrheit oder eine Halblüge sagen. Sie wird sagen, was j eder an ihrer Stelle sagen würde: Nun, ich hatte eine Schwe ster, die sich eines Vergehens mit einem Gott schuldig gemacht hat.25 Sie hat einen Sohn von diesem Gott bekommen und möchte gerne wissen, was aus ihrem Sohn geworden ist. An dieser Stelle sagt Ion - der übrigens guten Glaubens das, was Kreusa ihm sagt, für wahr hält (aber offenbar spielt es keine Rolle, ob es Kreusa oder die Schwester ist, denn für Ion ist die Antwort j edenfalls klar, oder vielmehr ist das Nicht-Ant worten des Gottes notwendig) - zu ihr: Da sich der Gott ei nes Vergehens schuldig gemacht hat, eines Vergehens mit dei ner Schwester, brauchst du nichts zu fürchten, denn er wird nicht sprechen. Die Menschen können den Gott nicht wider seinen Willen zum Sprechen zwingen. Und da er sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, da er adikos war, wird er j etzt dikaios (zu Recht) schweigen.26 Die Tatsache, daß er eine Un gerechtigkeit begangen hat, berechtigt ihn nun, zu schweigen. Also wird er nicht sprechen. Aber während oder nach diesem Dialog zwischen Ion und Kreusa stellt Xuthos seine viel direktere, viel einfachere und viel klarere Frage: Werde ich einen Sohn haben ? Während nun Kreusa nur die halbe Wahrheit Ion, den sie befragt, anvertraut, wird der Gott Xuthos, der eine aufrichtige und klare Frage an den Gott richtet, mit einer Halbwahrheit antworten. Das heißt, daß weder der Vater noch die Mutter, weder Kreusa noch Apol lon, wagen, die Wahrheit zu sagen, sondern nur Halbwahrhei ten und Halblügen sagen werden. [ ] Auf Xuthos' Frage »Werde ich einen Sohn haben ?« antwortet Apollon: Nichts einfacher als das. Wenn du aus dem Temp el heraustrittst, wird der erste, der dir entgegenkommt (ion: natürlich ein Wort spieF), dein Sohn sein. Erkenne ihn als deinen Sohn an. Und als Xuthos den Temp el verläßt, begegnet er dem Jungen, dessen Aufgabe es natürlich ist, dem Gott zu dienen, und der deshalb immer in der Nähe des Tempels ist, den er bewachen solL Die ser junge Mann ist Ion. An dieser Stelle ereignet sich j ene Sze. . .
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::e, in der sich Xuthos auf Ion stürzt, ihn umarmt und zu ihm s,1gt: Du bist mein Sohn. Und Ion, der etwas beunruhigt ist, er
"·idert: Hoho, halte an dich, sonst werde ich dich töten. Tat sJ.chlich war die Unwahrheit oder die Halblüge, die der Gott aussprach, nicht bloß die Verweigerung eines Eingeständnis sees . Oder vielmehr drückte sich die Verweigerung eines Einge5 :i11 d nisses in der normalen bzw. gewöhnlichen Mehrdeutig '":,eit des Orakels aus; der Gott sagte zu Xuthos: Ich gebe dir -:i oron«,28 ich gebe dir den Jungen, dem du beim Verlassen des Tempels begegnen wirst, als Geschenk. Als Geschenk geben :cedeutet nicht genau: Das wird dein Sohn sein, aber er versteht, :i ili das, was ihm als Geschenk gegeben wird, sein wirklicher Sol:-'-''1. sein wird, da er j a gekommen ist, um einen Sohn zu su.:.::.en.
Durch diesen Hinweis des Gottes, der zu Xuthos sagt: Der er '>:e,
dem du begegnen wirst, wird dein Sohn sein, ist Ion nun
:llso mit einem Vater versehen. D enn auch wenn er sich nur wi
d e rr,·illig von diesem bärtigen Herrn umarmen läßt, als dieser :::.: ihm sagt: Aber weißt du, der Gott hat mir diese Antwort ge ;eben und mir gesagt, daß ich den Jungen, dem ich beim Ver , assen des Tempels begegnen werde, als doron bekommen wer de, ist Ion offensichtlich gezwungen, sich zu verneigen und ein ;;:·er,ig zögernd anzuerkennen: Ja, das ist mein Vater. Aufgrund :2 ::: Halbwahrheit oder der Halblüge des Gottes hat Ion nun ziso eine Familie oder zumindest einen Vater. Die Familie, die ::::m auf diese Weise zuteil wird, empfängt er j edoch durch ei :: e :: \Vidersinn, ich würde fast sagen, seinem wirklichen Vater ::·:; "-ider, da er ja wirklich glaubt - und Xuthos glaubt es auch -, �>� sie Vater und Sohn sind, während es doch in Wirklichkeit :: ::�-lschen Xuthos und Ion keine Verwandtschaftsb eziehung ;-: : :. Die wirkliche Verwandtschaftsb eziehung besteht zwi <;d: en Kreusa und Ion, aber diese Beziehung tritt nicht in Er ::,,;: ieinung. Auf die verklausulierte Frage der wirklichen Mut :,e:-. die vorgab, nicht die Mutter, sondern die Schwester der \,f:: rr er zu sein, antwortete der Gott, indem er die Antwort, die o� dem Menschen gibt, verklausuliert: Er gibt ihm einen fal125
sehen Sohn. Schließlich könnte die ganze Geschichte hier en den, da Ion nun nach Athen zurückkehren kann. Xuthos ist nicht wirklich sein Vater, kann ihm aber als Vater dienen. Au ßerdem kann er mit Kreusa zusammenleben, von der er nicht weiß, daß sie seine Mutter ist. Aber die Dinge könnten sich ar rangieren lassen. Vereinfacht gesagt, sind wir der Wahrheit so nahe, daß die Sache sich so entwickeln könnte. Ü brigens ver steht Xuthos das Ganze gerrau auf diese Weise. Er ist mit dieser Lösung, die er wirklich für gut hält, völlig zufrieden. Zu Ion sagt er: Jetzt sind die Dinge klar. Du bist nicht mehr j enes ver lassene Kind, für das du dich hieltest. Ich wollte einen Sohn ha ben, und nun hab e ich ihn. »Verlaß des Gottes Boden, wo du Fremdling bist, und, gleichgesinnt dem Vater, eile nach Athen [koinophron patrP9 - hier haben wir wie in Ö dipus und in allen diesen Tragödien den doppeldeutigen Ausdruck: in vollem Einvernehmen mit deinem Vater. Xuthos glaubt, daß er s elbst der Vater sei, tatsächlich besteht das Einvernehmen j edoch mit Apollon oder sollte zumindest mit ihm bestehen; M. F.], wo dein der stolze Herrscherstab des Vaters harrt und großer Reichtum. Wenn dir eins von zwein gebricht: Nie wirst du doch unedel, wirst nicht arm genannt, nein, edel wirst du hei ßen und an Schätzen reich.30 D as Problem scheint als o gelöst zu sein. Ion hat Eltern gefun den - immerhin einen Vater. Xuthos hat einen Sohn gefunden und schlägt ihm vor, nach Athen zurückzukommen und j ene berühmte Macht auszuüben, die eine gewisse Kontinuität in Bezug auf die Gründungsdynastie von Athen sicherstellen soll - natürlich nur eine gewisse Kontinuität, da die Situation, wie Sie sehen, nur näherungsweis e stimmt. Um sie zu akzeptie ren, darf man nicht zu gerrau hinsehen. Man darf nicht s o gerrau hinsehen . . . und eben das tut Xuthos, der nicht so gerrau auf diese Wahrheit bzw. diese Halblüge schaut, die er guten Glau bens von dem Gott empfing und die er für die volle Wahrheit hält. Er sieht j edenfalls nicht gerrau hin, denn, als er zu Ion sagt: Ich bin dein Vater, du bist mein Sohn, erwidert Ion: Nun aber, aus welcher Vereinigung könnte ich denn dein Sohn sein ?31 I 26
_-\us der Vereinigung mit Kreusa ? Nein, nein, sagt Xuthos, :licht mit Kreusa. Aber wer hat mich geboren, da du mich nicht ganz alleine gemacht hast ? An dieser Stelle antwortet Xuthos: Höre, beunruhige dich nicht zu sehr. Vor allem brauchst du keine schändliche Geburt zu fürchten, denn ich, Xuthos, bin Sohn oder Nachkomme von Zeus, und von dieser Seite aus bist du geadelt. Was deine Mutter angeht Weißt du, ich hab e Jugendsünden begangen, bevor ich heiratete, jugendliche Wahn :aren. Da aber Ion aus Gründen, die Sie rasch verstehen wer den, dennoch genau wissen will, wer seine Mutter ist, von wem sie abstammt, welches ihre Herkunft, ihr Adel, ihr Ursprungs land ist, insistiert er und sagt: Aber wie ist es möglich, daß ich hier in D eiphi bin, wenn du mich in deinem jugendlichen '\\"a hn gezeugt hast ? Und hier beruft sich Xuthos auf einen �-\ufenthalt, den er während der Bacchusfeiern in Deiphi getä :igr hat. Er habe sich damals mit den Mänaden des Gottes in ::iner Art von Hierogamie vereinigt, die der wirklichen Hiero gamie zwischen Apollon und Kreusa entspricht, aber auf die \\'eise der Täuschung und der Lüge. Die Lösung, die Xuthos •:orschlägt, besteht also in folgendem: Nun gut, ich habe mit ei n e r der Mänaden des Gottes während einer rituellen Feier und i:1 Trunkenheit ein Kind gezeugt. Diese Erklärung, die vom Gesichtspunkt der Wahrheit nur sehr annähernd richtig ist, ist v o m Gesichtspunkt des Rechts eine Katastrophe. Aus wel chem Grund ist sie vom Gesichtspunkt des Rechts aus kata strophal ? Nun, ganz einfach deshalb, weil Xuthos aus Achäa kommt, ist er ein Fremder in Athen. Er wurde in Athen nur als \ 'erbündeter aufgenommen, und als Lohn für seinen Beistand und seine Hilfe, die er Erechtheus zuteil werden ließ, hat man ihm Kreusa gegeben. Wenn er also mit einem Sohn zurück kehrt, und zwar mit einem Sohn, der mit irgendeinem Mäd chen gezeugt wurde, auch wenn sie eine Mänade des Gottes s ei, kann der Sohn, der von einem nicht-athenischen Vater und ei n e r nicht-athenischen Mutter abstammt, in keinem Fall jene Gründungsfunktion in der Stadt ausüben, die doch genau die Rolle und Berufung Ions ist. Er kann diese Funktion nicht aus_ _ _
üben, und Xuthos' Annäherung an die Wahrheit drückt sich tatsächlich durch eine Art von juristischem Verbot oder juristi scher Unmöglichkeit aus. Ion wird sich selbst darüber klar, daß das nicht funktionieren kann und daß die Abstammung von Xuthos und einem fremden Mädchen ihm nicht erlauben wird, seine Macht zu begründen. Genau in dies em Augenblick macht er j ene berühmte Erklärung, von der ich gesprochen habe und in der er sagt: Ich kann aber nicht nach Athen zu rückkehren, wenn ich nicht weiß, von welcher Mutter ich ab stamme. Ich kann von dir die Macht, die du mir anbietest, nicht empfangen. Ich kann mich nicht auf den Thron setzen und das Szepter annehmen. Ich kann nicht das Wort ergreifen und die b efehlende Rede ausüben, wenn ich nicht weiß, wer meine Mutter ist.32 Diesen Text und die Erklärung von Xuthos möch te ich nachher etwas genauer betrachten. [ . ''·] . .
,,. M. F.: Wenn Sie wollen, machen wir fünf Minuten Pause . Ich möchte Ih nen etwas sagen. Letztes Jahr zur Zeit der Ereignisse in Polen hatte das College de France die glückliche Idee, eine Reihe polnischer Professoren zu Vorträgen hierher einzuladen. Die einen befanden sich in einer Lage von Unfreiheit, die anderen waren eher Außenseiter. Auf diese Einla dungen haben mehrere Professoren nicht geantwortet, aber es gab eine positive Antwort. Einer dieser Professoren konnte hierherkommen und hat seine Vorlesungen letzten Montag begonnen. Seine Vorlesung, seine Vortragsreihe bezieht sich auf die Geschichte des polnischen Nationalis mus im Laufe des 1 9 . ]ahrhunderts bis zum 2o. ]ahrhundert. Unglück licherweise - das ist meine Schuld, es gibt auch Dinge zu organisieren, die gar nicht von der Verwaltung des College herkommen, sondern mit verschiedenen Umständen zu tun haben, die Sie sich vorstellen können ist das nun etwas überstürzt. Er hat seine Vorlesung begonnnen. Aber ich glaube, daß es nicht sehr schlimm ist, wenn Sie die erste verpaßt ha ben. Wenn sie dieses Thema interessiert, sein Name ist M. Kieniewicz und seine Vorlesung über den polnischen Nationalismus findet montags um zehn Uhr morgens statt. Gut. Also, in zehn Minuten komme ich zu rück, und wir machen weiter. 128
Anmerkungen r
Euripides, Ion, 67 1 -67 5 , a. a. 0., S. 63. Der junge Tempeldiener hat die echte Inbrunst seines Berufs, ein zartes und eifersüchtiges Empfinden für den Go tt, der ihn nährt, einen impul siven Erkennmisdrang, die freudige Tätigkeit seiner Jugend [ ]. Er ist Athener, ohne es zu wissen, und legt als solcher vor allem Wert auf seinen Freimut im Reden<< (»Einleitung<< zu Ion von H. Gn!goire, in: Euripide, Tragedies, Bd. III, Paris 1976, S. 177- 1 7 8). 3 »Solange die Ionier auf der Peloponnes wohnten in dem Land, das j etzt Achaia heißt, und ehe Danaos und Xuthos in die Peloponnes kamen, hießen sie, wie die Hellenen sagen, Küsten-Pelasger, nach Ion, Xuthos Sohn, aber dann Ionier<< (Herodot, Geschichten und Geschichte, VII, 94, Zürich und München 1 9 8 3 , S. 1 76, zitiert von H. Gn!goire in seiner »Einleitung<<, a. a. O., S. 5 6) . 4 » E s war dies d i e elfte Verfassungsänderung. D i e erste war a m Anfang die Einwanderung Ions und seiner Mitkolonisten. Damals fand die Einteilung in die vier Stämme statt, und es wurden die Stammeskönige bestellt« (Aristoteles, Staat der Athener, XLI, 2 , übers. und eingel. v. Olof Gigon, Zürich 1 9 5 5 , S. 3 67). 5 Vgl. zu diesem Punkt die Einleitung zu Ion von H. Gregoire, a. a. 0., S. 1 6 1 - 1 63 . 6 Euripides, Ion, Verse r -8 1 , a . a . 0 ., S. 243-24 5 . 7 Vgl. zu dieser Tragödie, von der man nur Fragmente gefunden hat, die vollständige Einleitung von F. Jouan und H. Van Looy, in: Euripide, CEuvres, Bd. VIII: Fragments, r <:re partie, Paris 1 99 8 , S. 3 9- 5 8 . S »Der Herr, dem das Orakel i n Deiphi gehört, sagt nichts und birgt nichts, sondern er bedeutet.« In: Die Fragmente der Vorsokratiker, B XCIII, hg. v. W. Kranz, übers. v. H. Diels, 1 7. Au fl., Hildesheim u. a. 1 974, s . 87. 9 »Eu phroneis men (bist du bei Sinnen)« (Euripides, Ion, Vers p o, a . a. 0 . , S. 2 5 8). : � Zu den verschiedenen Versionen des berühmtesten Vatermords und allgemeiner zu der Person des LaYos vgl. T. Gantz, Early Creek Myth .4 Guide to Literature and Artistic Sources, Baitimare 1 993, S. 4 8 8 -494. : : Foucault hatte schon viele Male eine Analyse von Ö dipus vorgetragen: 1 9 7 1 (unveröffentlichte Vorlesung am College de France, »Der Wille zum Wissen<<), 1 972 (unveröffentlichter Vortrag in Buffalo über »Das Wissen Ö dipus' <<), 1 973 (Vorträge in Brasilien über »Die Wahrheit und die juristischen Formen<<, in: Dits et Ecrits, Bd. 2, Nr. r 39, S. 686-706), im Januar 1 9 8 0 (unveröffentlichte Vorlesung am College de France, »Die Regierung der Lebenden«) und im Mai 1 9 8 1 (unveröffentlichte Vorlesungsreihe mit dem Titel » Übles tun, Wahres sagen. Funktionen des Schuldbekenntnisses<<). Er ist schon sehr früh sensibel für die Struktur » der stückweisen Verschachtelung« . 2
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I 2 Sophokles, König Oidipus, Vers 1 4 5 0, a. a. 0 . , S . 97· I3 Sophokles, Ö dipus auf Kolonos, Verse 84-9 3 , übers. v . W Schadewaldt, Frankfurt 1 996, S. I 5 . 1 4 >>Doch auch von Xuthos wirst Du Söhne haben, den D oros, der i n aller Mund den Namen der D orer b ringt, und den das Küstenland der Pelo psinsel bis nach Rhion hin beherrschenden Achaios, dessen Name der Landschaft und dem Volke bleiben wird<< (Euripides, Ion, Verse I 5 90I 5 9 3 , a. a. 0 ., S. 2 89). 1 5 A. a.O., Verse 3 6 5 und 3 7 3 - 3 77, S . 2 5 3 - 2 5 4 · I 6 >>Dessen Rätselwort du mißverstandest« (ebd., Vers 5 3 3 , S. 2 5 8). 17 Vgl. oben, Anm. 8 . I 8 Euripides, Ion, Vers 3 5 5 , a. a. O., S. 2 5 3 . I 9 Ebd ., Vers 3 6 5 , S. 2 5 3 . 2 0 Ebd., Vers 3 66. 2I Ebd., Vers 3 68 . 2 2 Ebd., Verse 3 69-372. 2 3 Ebd ., Vers 3 70. Um die Ungerechtigkeit Apollons zu bezeichnen, ver wendet Ion tatsächlich das Adjektiv kakos (>>Denn wenn, im eig'nen Haus so bloßgestellt (kakos phaneis) Phoibos [Apollon] dafür den Künder büßen ließe, wär's zu verwundern ? (dikaios), ebd., Verse 3 703 72). 24 Ebd., Verse I 5 5 7- 1 5 5 9, S. 2 8 8 . 2 5 Ebd., Vers 3 3 8, S. 2 5 3 (Kreusa spricht lediglich von einer Freundin: »Sie sagt mir, Phoibos habe sie verführt. <<) z6 Vgl . oben, Anm. 2 3 . 27 >>Domon ton exionti tou theou« (beim Heraustreten aus dem göttlichen Tempel) (Euripides, Ion, Vers 5 3 5 , a. a. O., S. 2 5 9). Ausdrückliches Wortspiel im Vers 8o2 (Xuthos' Sohn, sagt der Chor, heißt >>Ion<<, weil er ihm als erster begegnet ist, ebd., S. 267) und im Vers 83 r (»Nachträg lich hat er dann den schönen Namen für ihn erdacht, hat Ion ihn ge nannt, weil unterwegs er ihm begegnet ist [Ion, ionti dethen hoti synen teto] <<, ebd., S. 268). 2 8 Ebd., Verse 5 36-5 37, S. 2 5 9. 29 Ebd., Vers 5 77, S. z6 1 . 3 0 Ebd., Vers 5 7 8 - 5 80. 3 1 Das ganze Gespräch spielt sich in den Versen 5 40- 5 60 des Stückes ab (ebd., S. 2 5 9-26o). 32 Ebd., Verse 669-676, S. 263 .
Vorlesun g 3 (Sitzung vom 1 9. ]anuar 1 98 3 , zweite Stunde)
Ion: Nichts, Sohn des Nichts. - Drei Kategorien von Staatsbürgern. - Fol gen des politischen Eindringens von Ion: privater Haß und öffentliche Ty
,·,mnei. - Auf der Suche nach einer Mutter. - Die parrhesia, nicht zurück ..::.i hrbar auf die effektive Ausübung der Macht und auf die Statussituation des Staatsbürgers. - Das agonistische Spiel des Wahrsprechens: frei und ris kant. - Historischer Kontext: die Auseinandersetzung zwischen Kleon und .\"ikias. - Kreusas Zorn.
Beginnen wir wieder mit der Lektüre des Textes. [ •=·] Im Zu sammenhang mit Ion und seiner Geburt haben wir Kreusa ge sehen, die die Wahrheit ein wenig verschob, indem sie vorgab, daß ihre Schwester von Apollon verführt wurde; dem Gott, der aus Scham nicht die wahre Antwort geben wollte und Xut hos einen Sohn bezeichnet hat, der in Wirklichkeit gar nicht seiner ist; und Xuthos, der sich gewissermaßen aus Nachlässig keit mit Wahrheiten begnügt, die zwar wahrscheinlich, aber nicht wirklich überprüft sind. Und genau dieses Spiel von Halblügen, Halbwahrheiten und Annäherungen lehnt Ion ab. Ion weigert sich, er will die Wahrheit. Er will die Wahrheit, .,.,·eil er ein Recht begründen will - wie die ganze Tirade zeigt, 0ei der wir nun etwas verweilen werden. Er will sein Recht, sein politisches Recht in Athen begründen. Er will das Recht j_aben, dort zu sprechen, alles zu sagen, Wahres zu sagen und . . .
'· ::-1. F.:
Ich möchte Sie daran erinnern, was ich Ihnen letztes Mal gesagt habe: Diejenigen unter Ihnen, die Studenten sind, d. h. die einen Studi engang belegen und mit einer akademischen Arbeit beschäftigt sind, sei es die Vorbereitung auf die Licence, die Doktorarbeit usw., und die aus dem einen oder anderen Grund ein wenig über ihre Arbeit, ü ber die Vor lesung sprechen und Fragen stellen wollen, können sich also nachher mit mir treffen, wenn Sie wollen, gegen viertel vor zwölf in Hörsaal 5, der geöffnet sein wird. Wir werden versuchen, ein kleines Treffen zur ersten Kontaktaufnahme zu veranstalten, damit wir jenseits der Alethurgie der Vorlesung Fragen und Antworten austauschen und dem Ganzen den :heatralischen Charakter etwas nehmen können. Kommen wir also zum Theater und zu Ion zurück. 131
seinen Freimut im Reden zu gebrauchen. Um seine parrhesia zu begründen, ist er darauf angewiesen, daß schließlich die Wahrheit gesagt wird, eine Wahrheit, die dies es Recht begrün den könnte. Deshalb sagt Ion, nachdem Xuthos ihn warmher zig umarmt und ihn mehr oder weniger davon überzeugt hat, daß er im Grunde mehr oder weniger sein Sohn ist: Ja, aber das geht nicht. >> Ganz anders zeigt sich die Gestalt der Dinge, so lang' sie fern, anders von nah' geschaut [>>von nah'<< : i c h glaube, man muß das in einer ganz örtlichen Bedeutung verstehen: in Athen; von D elphi aus ges ehen, kann man im Prinzip sagen, daß ich dein Sohn bin und daß ich zurückkehren werde, um dort die Macht auszuüben, aber in Athen ist das an ders; M. F.] . Ich segne freudig mein Geschick, das mich in dir den Vater heute finden ließ; doch höre mein Bedenken ! « 1 An schließend wird es gerade um diesen Ort selbst gehen, an dem die Macht ausgeübt werden s oll, nämlich Athen. »Man sagt, die stolze Stadt Athen sei von dem erdentsproßnen Urgeschlecht, dem niemals eingewanderten, bewohnt. Da dräng' ich nun mich ein, zwiefach b emakelt, als B astard eines Zugewanderten: Wenn so belastet ich im Dunkel lebte, würd' ich als Nichts, Sohn des Nichts gelten. Greif ich dagegen nach des Staates Steuer voll Ehrbegier, so werd' ich von den Schwachen gehaßt (den Ü berleg'nen liebt man nicht); von jenen, die, an Geist und Gaben reich, fern den Geschäften in der Stille leben, für einen Narr'n gehalten, weil ich nicht im schreckensvollen Staat mich still verhalte. Wenn ich die Redner gar und Volksb erater an An sehn üb ertreffe, werd' ich bald von Richterstimmen mich bela gert sehn. D enn das, mein Vater, ist der Lauf der Welt, daß, die im Staate Macht und Ansehn haben, im Mitbewerber stets den Feind erblicken. Auch trät als Fremder ich ins fremde Haus, wo deine kinderlose Frau den Schmerz, den sie bisher mit dir gemeinsam trug, nun, j eder Hoffnung bar, für sich allein, in Bitterkeit des Herzens tragen müßte. Ich zweifle nicht, daß sie mich hass en würde [ . . ] « .2 Ich werde auf dies e Passage zurückkommen. Ich möchte gerne den ersten Teil des Textes und der Erwiderung noch einmal le.
s e n . Was kann man den Erwiderungen, die Ion seinem Quasi Vater, seinem Pseudovater gegenüber macht, entnehmen ? Er srens, sagt er, ist Athen autochthon. Das ist der alte Anspruch Athens: Im Unterschied zu den anderen griechischen Völkern haben die Athener schon immer auf Attika gewohnt, sie sind ad dieser Erde geboren, und Erechtheus, der ebenfalls auf Athener Erde geboren wurde, ist der Gewährsmann dafür. Zweitens ist Athen nicht nur autochthon, sondern Athen ist irei von j eder Vermischung mit Fremden. D as bezieht sich 2.uch auf ein wichtiges Thema, das man bei Euripides wieder findet, beispielsweise in einem Fragment eines verlorengegan genen Stücks mit dem Titel Erechtheus. In den anderen Städ : e n , sagt Euripides, lebt man wie eine Spielfigur, die man im Stäbchenspiel oder im Tricktrack verschiebt; ständig werden ::: e ue Elemente eingeführt wie ein schlecht befestigter Dübel in ,e inem Holzstück.3 D as b ezieht sich tatsächlich auf eine ganz konkrete Gesetzgebung. Seit der Mitte des 5 . Jahrhunderts, seit 4 5 0-4 5 1 v. Chr., erkannte ein Gesetz, das für Athen charakteri s:isch war und das man in den meisten anderen griechischen Sradtstaaten nicht findet, das Recht der Staatsbürgerschaft für Kinder nicht an, die von einem athenischen Vater und einer rricht-athenischen Mutter abstammen.4 Mit anderen Worten, seit der Mitte des 5 . Jahrhunderts war die doppelte Athener _\bstammung erforderlich. Diese äußerst strenge Gesetzge bung, die, wie gesagt, für Athen typisch war, hatte zum Ziel, den starken Anstieg der Staatsbürger zu verhindern. Natür ::ch bewirkte sie auch, daß die Zahl der Staatsbürger geringer >n.1rde. In der zweiten Hälfte des Peloponnesischen Krieges, §: erade als Athen, das von der Pest, dem Krieg und den Nieder :e.gen geschwächt war, Staatsbürger gebraucht hätte, kommt :n�n auf diese Gesetzgebung zurück. Aber zu der Zeit, als Eu :ioides Ion schreibt, im Jahre 4 I 8, ist man noch nicht in dieser Lage, und das Gesetz ist weiterhin in Kraft. Entsprechend ei : : e m üblichen Verfahren der B earbeitung von Legenden macht :::: �n sogar geltend, daß dieses Gesetz sehr alt ist, während es in ':;('[rklichkeit erst vor kurzem verabschiedet wurde. Hier er-
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wartet man von Ion, daß er sich auf eine ganz ursprüngliche Athener Tradition beruft und sagt: Athen ist frei von j eder Ver mischung mit Fremden, d. h., j eder Bürger kann nur Eltern ha ben, die selbst athenische Staatsbürger sind. Er sagt nun: >>Da dräng' ich nun mich ein, zwiefach bemakelt, als Bastard eines Zugewanderten.«5 Er ist also nicht einmal Sohn eines Atheners und einer Fremden. Er ist der Sohn eines Nicht-Atheners, Xu thos, und eines dahergelaufenen Mädchens. Also: »Wenn so be lastet ich im Dunkel lebte, würd' ich als Nichts, Sohn des Nichts gelten.«6 Nichts, niemandes Sohn: Er würde ein Nichts sein. Hier beginnt eine zweite Entwicklung. Die Ü bersetzung wird hier, glaube ich, nicht ganz dem Text gerecht und gibt ihn nicht klar wieder, obwohl seine begriffliche Struktur doch relativ deutlich ist. Er sagt: Wenn ich in den ersten Rang aufsteigen will (eis to proton zygon: zum ersten Rangf - beachten Sie, daß es nicht darum geht, die Macht eines Tyrannen, eines Monar chen, eines Alleinherrschers auszuüb en; im ersten Rang sein bedeutet, zu j enen wenigen zu gehören, die den ersten Rang der Stadt bilden - werde ich es mit drei Kategorien von Staats bürgern zu tun haben (hier stelle ich die Dinge nur schematisch dar, aber der Text ist auf diese Weise konstruiert). Der Text sagt: >>So werd' ich von den Schwachen gehaßt (den Ü berleg' nen liebt man nicht); von j enen, die, an Geist und Gaben reich, fern den Geschäften in der Stille leben, für einen Narr'n gehal ten, weil ich nicht im schreckensvollen Staat mich still verhalte. Wenn ich Redner gar und Volksberater an Ansehn übertreffe [ . . ] « .8 Es ist also von drei Kategorien von Staatsbürgern die Rede. In einem anderen Text von Euripides, Die Schutzflehen den, ist auch von drei Kategorien von Bürgern die Rede: den Reichen, den Armen und den Mittleren.9 Wir haben ebenfalls eine Unterscheidung in drei Begriffe, die j edoch völlig ver schieden ist. D enn es handelt sich um drei Kategorien von Bür gern, die nicht nach ihrem Reichtum angeordnet sind, sondern danach, was Ion für sein Ziel oder sein hyp othetisches Ziel er klärt: dem ersten Rang der Stadt anzugehören. Mit Bezug auf die Verteilung der Macht, der Autorität, dem tatsächlichen .
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Einfluß in der Stadt gibt es drei Kategorien von Bürgern. Man muß sich also folgendes klarmachen: Es handelt sich hier nicht ·:.:m drei rechtliche Kategorien von Bürgern, die nicht densei hen Status der Wahlberechtigung hätten. Wir befinden uns in ier Athener Demokratie. Sondern es geht um die effektive 'Verteilung der politischen Autorität, der Ausübung der Macht : :1nerhalb und inmitten dieser Masse oder dieser Gesamtheit, iie von den rechtmäßigen Bürgern gebildet wird. Diej enigen, d.ie keine Rechte haben, weil sie entweder Sklaven oder Misch : :nge oder Fremde sind, werden nicht einmal erwähnt. Nein, 7, :r sind unter den Staatsbürgern, und unter diesen gibt es drei Kategorien. Ton men adynaton : 1 0 der Bereich j ener, die adynaton sind �ohnmächtig«). Ich glaube, daß man diesen Text durch einen . :o. :!deren Text erhellen muß, der sich ebenfalls in Die Schutzfle �o m den befindet und in dem es um Bürger geht, die fähig und �ompetent sind, die selbst und durch ihre Reichtümer etwas f:ir die Stadt ausrichten können. 1 1 Die erste Kategorie, die Ion >ci er erwähnt, besteht aus j enen, die nicht einmal diese Fähig ;,�eit haben, diese Macht, etwas selbst oder durch ihren Reich :"J. m für die Stadt auszurichten. Das heißt: Sie selbst haben ::-"icht einmal die Mittel, sich Waffen und eine Rüstung zu kau :i" =:J., um am Krieg teilzunehmen. Sie gehören auch nicht zu de :-.. en, die der Stadt Reichtümer verschaffen oder sie wohlhabend ::12chen. Diese unfähige Menge, diese Masse von Bürgern, die i.::: juristischen Sinne vollwertige Bürger sind, die j edoch nicht iieses »Mehr« haben, das die politische Autorität auszeich :: et, kann gegenüber j emandem wie Ion, der als Eindringling Ko mmt und durch seine uneheliche Herkunft gebrandmarkt is:, nur Neid und Wut empfinden. Diese Leute verabscheuen : :: denfalls immer die Stärksten, wer immer sie auch sein mögen .".. t so, sagt Ion, werde ich einer allgemeinen Feindseiligkeit der Ohnmächtigen oder j ener, die keine politische Autorität in un s e r e m Land besitzen, ausgesetzt sein. Ich werde aufgrund mei ::: er Herkunft auf ihre Feindschaft stoßen, eine Feindschaft, die -:;;· egen meiner Herkunft nur um so stärker sein wird. ..
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Die zweite Kategorie von Bürgern - das ist nun sehr interes sant - sind die Leute, die chrestoi und dynamenoi sind. Dyna menoi, 12 das sind diej enigen, die etwas können, denen ihre Herkunft, ihr Status, ihr Reichtum die Mittel verschafft, Macht auszuüben. Chrestoi, das sind die » guten Leute<<, diej enigen, die moralisch schätzenswert sind. Im Grunde ist es die Elite. Diesen Ausdruck chrestoi verwendet nämlich Xenophon oder vielmehr der Pseudo-Xenophon im Staat der Athener, um die Elite zu bezeichnen. 1 3 Nun, unter diesen Leuten, den dyname noi und chrestoi, gibt es welche, die zugleich sophoi sind (die weise sind). Und diese »sigosin kai ou speudosin eis ta pragma ta << : 1 4 Sie schweigen und kümmern sich nicht um ta pragmata (die Angelegenheiten des Staates). Wir haben also diese zweite Kategorie der Bürger, die zu den Guten und Fähigen gehören, zu denj enigen, die Reichtum, edle Geburt, Status haben, deren Weisheit j edoch dafür verantwortlich ist, daß sie sich nicht um die Politik kümmern. Sich nicht um Politik zu kümmern, sich nicht um die Angelegenheiten des Staates zu kümmern, bedeu tet auch zu schweigen. Wie werden diese nun reagieren, wenn sie sehen, daß ein unehelicher Eindringling versucht, in den obersten Rang zu drängen ? Nun, sie werden das ganz einfach lächerlich finden. Sie werden es lächerlich finden, daß dieser uneheliche Eindringling sich in der Stadt nicht einfach ruhig verhält (hesychazein ) . 1 5 Hier haben wir also ganz deutlich ein philosophisches Thema bezüglich jener Form der Zugehörig keit zu einem Staat, die darin besteht, gleichgültig ob man reich, fähig, von edler Geburt usw. ist, ein sophos16 zu sein, ein Weiser zu sein, der sich nicht um die Angelegenheiten des Staa tes kümmert und der die hesychia, die Ruhe, bewahrt und sich dem Müßiggang widmet, dem, was die Lateiner otium nennen werden. Die dritte Kategorie von Bürgern besteht eb enfalls aus reichen und fähigen, eb en aus guten Leuten. Aber im Gegensatz zu den sophoi (den Weisen), die schweigen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, handelt es sich hier um Leute, die »logo te chromenon te tei polei<<, 17 d. h. die die Politik und die
':emunft handhaben ( chromenon vom Verb chrestai: sich einer Sache bedienen, ausüben, sich kümmern um; und zwar sowohl ·:.:m den Iogos als auch um die polis: sie handhaben also Iogos ::: :1 d p olis; und sie repräsentieren natürlich die politische Auto �:ät). Sie sehen, daß diese dritte Kategorie von Bürgern Wort i::. r Wort der vorhergehenden Kategorie entgegengesetzt ist, )bwohl sie auch zu den guten Leuten gehören. Es gibt die Ka :·:gorie von guten Leuten, die schweigen und sich nicht um die :::·r:zgmata kümmern, und es gibt die Kategorie von Leuten, die ::i ":: h des Iogos bedienen, sich um ihn kümmern, ihn handhaben :c.nd üben ( d. h. sie schweigen nicht, sondern sie sprechen). Dasselbe gilt für die polis (sie kümmern sich um die Angelegen0.eiren der Stadt) . D er Gegensatz besteht hier, glaube ich, Wort :=-::: r Wort. D er Text sagt im übrigen, daß diese Leute die Stadt ::.aben, sie besitzen die Stadt und kontrollieren sie, und man b ::ingt ihnen Ehrungen entgegen. D eshalb würde man Gefahr :.::ufen, als Rivale mit ihnen zusammenzustoßen: Sie ertragen es ::icht, sagt er, daß man mit ihnen konkurriert, und durch ihr \'Drum versuchen sie j ene, die ihren Argwohn erregen, zu ver ::: :: eilen oder auszuschließen. :.::: der Stadt und im Hinblick auf diese drei Kategorien von ?'ersonen, die, wie gesagt, drei Kategorien rechtmäßiger Bür ;er darstellen - die Armen ohne Macht; und unter den Mächti ;:n, diej enigen, die schweigen und sich nicht um die Angele ;.=nheiten der Stadt kümmern, und die, die s owohl den Iogos als :c:..: c h die polis handhaben -, ist Ion auf j eden Fall als Eindring · :.rrg, Fremder und uneheliches Kind überflüssig. Welche Fol ;.=n ergeben sich nun hieraus ? Die Antwort steht in dem Text, :�tn ich Ihnen vorzulesen begann. 1 8 Selbst in dem Haus, in dem =·r wohnen wird ( d. h. im Haushalt von Xuthos und Kreusa), ,.cird er überflüssig sein, da er der uneheliche Sohn eines frem i e n Vaters ist. Kreusa, die einerseits als Tochter von Erech ::_:.eus Athenerin von Geburt ist und andererseits rechtmäßige ·� min, wird ihn nicht ertragen. Es wird also Haß im Haus der 2:-lerrscher geben, im Haus des Königs, des Monarchen und sei ::er Gattin, auf j eden Fall in diesem Haus, dessen Harmonie 1 37
und gutes Einvernehmen für die Harmonie der Stadt s elbst ab solut unverzichtbar ist. Entweder wird Xuthos die Partei sei nes unehelichen Sohnes gegen seine Frau ergreifen, was der Zerstörung des Hausfriedens gleichkäme; oder er wird die Par tei seiner Frau gegen seinen Sohn ergreifen und wird dann Ion verraten. Auf j eden Fall ist Ion im Hinblick auf dies e Struktur des Haushalts des Oberhaupts, dessen Harmonie für das öf fentliche Wohl und den Frieden der ganzen Stadt unverzicht bar ist, einer zuviel. Anderers eits ist er auch auf der öffent lichen Bühne einer zuviel. D enn er wird nur - das erscheint am Ende des Textes - eine einzige Macht ausüben können, nämlich die der Tyrannei, da er von außen kommt und sich mit s einer unrechtmäßigen Herkunft durch Gewalt aufzwängt. Er würde wie j ene Tyrannen s ein, die sich von außen den griechischen Stadtstaaten aufdrängten und unter dem Schutz von Zeus stan den. Nun ist es zufällig so, daß Xuthos ein Nachkomme von Zeus ist, die B ezüge zur Macht des Tyrannen sind also recht deutlich. Ion kann nur als Tyrann kommen und herrschen. Nun ist aber die Existenz des Tyrannen, sagt er, eine verach tenswerte Existenz, und er will auf keinen Fall ein s olches Le ben führen. 1 9 Er zieht es vor, bei dem Gott zu bleiben, wo er ein ruhiges und friedliches Leben führen wird. D eshalb sagt Ion, nachdem er die Vaterschaft akzeptiert hat, die Xuthos ihm andeutete, am Ende: Nein, ich will aus den genannten Gründen schließlich doch nicht nach Athen gehen. An dieser Stelle insistiert Xuthos und macht geltend, daß man sich noch arrangieren könne (bei Xuthos befinden wir uns im mer in der Welt des Arrangements) . Er sagt: Das ist ganz ein fach, wir werden nicht gleich sagen, daß du mein Sohn bist, noch auch mein Erbe, und auch nicht, daß ich dir die Macht ab treten werde, sondern wir werden das alles ganz behutsam und schrittweise tun. Wir werden die Gelegenheit, den Augenblick wählen, da wir es Kreusa mitteilen, so daß sie es ohne Kummer und ohne Schwierigkeit akzeptieren kann. Und dieses Arran gement wird von Ion akzeptiert.20 Er akzeptiert es, indem er zustimmt, mit Xuthos an einem Gastmahl teilzunehmen, bei
-d em man dem Gott für seine Offenbarung, die tatsächlich eine bge nhafte Offenbarung ist, danken wird. Anschließend wird
nach Athen fahren und die Gegenwart Ions im Heim von Kreusa und Xuthos allmählich durchsetzen. Ion akzeptiert, �ber nicht, ohne folgendes hin zu zufü g en, was in dem Text ent :-:al te n ist, den ich Ihnen erläutern wollte: Ich werde also gehen, ::ber das Schicksal (tyche) hat mir noch nicht alles gegeben.21 Er :sr damit einverstanden, na c h Athen zu gehen; aber »find ich i-:ne nicht, die mich geb ar, was ist mir dann das Leben ? [abio :o n hemin: es ist uns unm ö gl ic h zu leben; M. F.] Wenn ich wün >c:hen darf, sei meine Mutter B ürge ri rr aus Attika, daß ich als meiner Mutter Sohn frei reden mag. D enn dringt zu Bürgern ec h t e n Stamms ein Fremder ein, so mag er Bürger heißen, doch •:erstummt sein Mund als eines Knechtes, frei zu reden wagt er rricht. «22 Er wird die parrhesia nicht haben: ouk echei parrhesi , m . 2 3 Warum ist ihm die parrhesia so wichtig ? Warum b r i n gt das Fe hl e n der parrhesia d ie von Xuthos konstruierte annä hernde Verknüpfung zum Scheitern ? Warum ist Ion in dem Augenblick, da er diese annähernde Ve rkn ü pfu ng akzeptiert, nicht zufri ed en und will noch wissen, wer seine Mutter ist, um iie parrhesia zu erlangen ? Mir scheint, daß man in diesem :\1angel der parrhesia, der sich auf diese Weise manifestiert und der Ion so stört, ein [ . . . ''] erkennen kann. �. ian si eht sehr gut, daß die parrhesia nicht mit der Ausübung der M a ch t zu verwechseln ist. Denn Xuthos besitzt diese J. i a c ht, die Autorität über die Stadt, die Hoheitsgewalt - eine Hoh e itsg ew alt von monarchischem oder tyrannischem Ty ?US -, und ist völ lig bereit, sie auf seinen Sohn zu üb e rt r a gen . Die großartige Herkunft, die bis auf Zeus zurückgeht, die wi r kli che Macht, die er in Athen ausübt, die Re i c htüme r, die er m g es a m me lt hat, all dies genügt nicht und würde nicht ausrei c:hen, um Ion die parrhesia zu geben. Es geht also nicht um die A u sü b ung der Macht selbst.'''' A be r man sieht auch, daß es man
,. Unverständlich . .. ,, Das Manuskript präzisiert: »Die parrhesia ist nicht die Sprache des Be fehlens; sie ist nicht die Sprache, die die anderen unterj ocht.•< 1 39
ebenfalls nicht um den einfachen Status des Staatsbürgers geht. Gewiß, aufgrund der athenischen Gesetzgebung - der von 4 5 r , deren Gültigkeit aber bereits anerkannt wird - kann er kein Staatsbürger sein, weil er nicht von einer athenischen Mutter abstammt. Das Interessante in diesem Text ist j edoch, daß er gerade sagt: Selbst wenn das Gesetz aus j emandem einen Staats bürger macht, selbst wenn er also nach dem Gesetz Bürger ist, hat er darum noch nicht die parrhesia. Mit anderen Worten, die parrhesia kann er weder von seinem Vater erhalten, der ihm die Macht gibt, noch vom Gesetz, wenn ein solches existierte, das ihm den Status eines Bürgers verleihen würde. Er verlangt die se parrhesia von seiner Mutter. Heißt das, daß wir es hier mit dem Ü berbleibsel oder dem Ausdruck eines matriarchalischen Rechts zu tun haben ? Ich glaube, daß das gewiß nicht der Fall ist. Man muß sich nämlich daran erinnern, worin die besondere Situation Ions besteht. Er hat einen Vater, der auf athenischem B oden angenommen wurde, der j edoch ursprünglich kein Grieche ist. Zweitens weiß er nicht, wer seine Mutter ist. Und drittens will er Macht ausüben, er will im ersten Rang des Stadtstaats sein. Die Macht eines Tyrannen könnte er von sei nem Vater erhalten, aber diese Macht genügt ihm nicht für das, was er zu tun beabsichtigt. Er beabsichtigt nämlich, in den obersten Rang des Stadtstaats einzutreten. Und um im ersten Rang des Stadtstaats sein zu können - oder vielmehr: in Ver bindung mit diesem ersten Rang im Stadtstaat - braucht er die parrhesia. Diese parrhesia ist also etwas anderes als der einfache Status des Bürgers . Sie ist auch nicht mit der Macht eines Ty rannen gegeben. Was ist sie dann ? Nun, ich glaube, daß die parrhesia gewissermaßen ein Spre chen ist, das über dem Status des Bürgers liegt und das sich von der einfachen Ausübung der Macht unterscheidet. Es handelt sich um ein Sprechen, das die Macht innerhalb der Stadt aus übt, aber natürlich unter Umständen, die nichts mit einer Ty rannei zu tun haben, d. h. indem man den anderen die Freiheit der Rede läßt, die Freiheit derer, die ebenfalls im ersten Rang sein wollen und diesen Zustand auch durch diese Art von ago-
::istischem Spiel, das für das politische Leben in Griechenland '.I.nd vor allem in Athen charakteristisch ist, erreichen können. Es ist also ein von oben kommendes Sprechen, das aber die
Freiheit anderer Reden gewährt und das die Freiheit j ener be : �.Bt, die zu gehorchen haben, zumindest insofern sie nur dann �ehorchen müssen, wenn sie überzeugt werden können. Die Ausübung einer Rede, die j ene überzeugt, denen man be ;:ehlt, und die die Freiheit den anderen, die auch befehlen wol L:n, in einem agonistischen Spiel läßt, das ist, glaube ich, für die ;::.:z rrhesia entscheidend, und zwar mit allen Folgen, die mit ei :: e m solchen Kampf und einer solchen Situation verbunden sind. Erstens der Möglichkeit, daß die Rede, die man hält, nicht i:berzeugt und sich die Menge gegen einen wendet. O der dass .iie Rede der anderen, der man neben der eigenen einen Platz öinräumt, den Sieg über die eigene Rede davonträgt. Das ist das ;olitische Risiko der Rede, die den anderen Reden einen freien ?latz einräumt und sich zur Aufgabe macht, nicht die anderen iem eigenen Willen zu unterwerfen, sondern sie zu überzeu gen. Das macht das eigentliche Feld der parrhesia aus . Was ist ::•.m die Verwirklichung dieser parrhesia innerhalb der Stadt a.nderes als das, was vorhin gesagt wurde, nämlich den Logos :::nd die polis zu handhaben, sich um sie zu kümmern ? Die par - 0esia besteht in der Verwirklichung des Iogos in der polis - lo §'DS im Sinne der wahren, vernünftigen, überzeugenden Rede, :b: mit anderen Reden konfrontiert werden kann und die nur 1;2fgrund ihrer Wahrheit und ihrer Überzeugungswirkung an Gewicht gewinnt -, in der Verwirklichung der wahren, ver ::ünftigen, agonistischen Rede, in der diskussionsbezogenen Etede im B ereich der polis. Diese parrhesia kann, wie gesagt, ",·eder durch die effektive Ausübung einer tyrannischen Macht ::K,ch durch den einfachen Status des Bürgers gegeben wer..
kann dann überhaupt diese parrhesia geben ? An dieser ):elle macht Euripides, wenn schon nicht seine Lösung, so ioch zumindest seinen Vorschlag geltend. Er sagt: Sie muß von ier Mutter kommen. Aber, wie gesagt, es geht überhaupt nicht
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um irgendein matriarchalisches Recht, sondern um die Situati on Ions, der bis jetzt als nicht in Athen geb oren gilt, obwohl er einen hervorragenden Vater hat, da er von Zeus abstammt, und obwohl dieser Vater äußerst mächtig ist, da er die Macht in Athen ausübt. Nur die Zugehörigkeit zur Erde, die Autoch thonie, die Verwurzdung im Boden, die historische Kontinui tät auf der Grundlage eines Territoriums, nur dies kann die parrhesia verleihen. Mit anderen Worten, die Frage nach der parrhesia entspricht einem historischen Problem, einem äu ßerst konkreten politischen Problem zu der Zeit, als Euripides Ion schreibt. Wir befinden uns im demokratischen Athen, wo Perikles zehn Jahre zuvor starb, in diesem demokratischen Athen, wo das ganze Volk das Wahlrecht hatte und zugleich die B esten und der B este (Perikles) die politische Autorität und Macht ausübten. In diesem post-perikleischen Athen stellt sich die Frage, wer im Rahmen der rechtmäßigen Bürgerschaft tat sächlich die M acht ausübt. Vorausges etzt, daß das Gesetz für alle gleich ist (das Prinzip der isonomia), vorausgesetzt, daß j e der das Recht hat zu wählen und seine Meinung zu sagen (ise goria), wer hat dann das Recht der parrhesia, d. h. sich zu erhe ben, das Wort zu ergreifen und zu versuchen, das Volk zu üb erzeugen, zu versuchen, gegen die Rivalen zu gewinnen mit dem Risiko allerdings, dabei das Recht zu verlieren, in Athen zu leben, wie es geschieht, wenn ein politisches Ober haupt verbannt wird, oder gar das eigene Leben zu verlieren ? Wer soll überhaupt dieses Risiko der politischen Rede mit der damit verbundenen Autorität tragen ? Darum gingen die Aus einandersetzungen in Athen zu j ener Zeit zwischen Kleon, dem Demokraten, D emagogen usw., der behauptete, daß j eder diese parrhesia haben sollte, und der B ewegung mit aristokrati scher Tendenz um Nikias, der meinte, daß die parrhesia einer bestimmten Elite vorbehalten sein sollte. Während der großen Krise, die die zweite Hälfte des Peloponnesischen Krieges in Athen einleitete, wurden verschiedene Lösungen probiert. Zu der Zeit, da Euripides schreibt, hat die Krise noch nicht wirk lich begonnen, aber die Frage stellt sich. Eben um diese Zeit
bildet sich in Athen eine Reihe von neuen Verfassungsproj ek :cn heraus. Euripides will im Ion keineswegs eine Verfassungs lösung vorschlagen, um zu bestimmen, wer die parrhesia aus üben soll. Aber man sieht s ehr wohl, in welchem Kontext er die Frage nach der parrhesia formuliert: Wenn, wie der Text hier sehr deutlich zeigt, die parrhesia nicht als gewalttätige und ty rannische Macht ererbt werden kann, dann folgt sie auch nicht .e infach aus dem puren Status des Bürgers, dann muß sie etwas sein, was nur einigen vorbehalten ist und was man nicht ein fach so erlangen kann. Euripides' Vorschlag b esteht nun darin, daß die Zugehörigkeit zur Erde, die Autochthonie, die histori sche Verwurzdung in einem Territorium dem Individuum die Ausübung der parrhesia gewährt. 'X"as ich hier über den unmittelb aren politischen Zusammen hang dieses Problems und Themas der parrhesia im Ion sage, habe ich nicht aus dem abgeleitet, was ich vorhin gesagt hab e, als ich den grundlegenden Charakter dieser Tragödie als Tragö die, als Drama des Wahrsprechens und als eine Art von grund l egender D arstellung des Wahrsprechens ansprach. Ich glaube, daß dieses Stück in Wirklichkeit eine unmittelbare Reaktion auf ein konkretes politisches Problem war und daß es gleich zeitig das griechische D rama über die p olitische Geschichte des 'W'ahrsprechens, über die legendenhafte und wahre B egründung des Wahrsprechens im Reiche des Politischen ist. Die Tatsache, daß das Wesentliche, das Grundlegende der Geschichte über den feinen und dünnen Faden der Ereignisse verläuft, ist etwas, zu dem man sich durchringen oder vielmehr, dem man ent schlossen ins Auge s ehen muß . Die Geschichte, und zwar das \\"esentliche der Geschichte, verläuft durch ein Nadelöhr. In diesem eher unb edeutenden Verfassungskonflikt der Ausübung der Macht in Athen wird das große D rama des Ion als Drama der Formulierung des Wahren und der B egründung des p oliti schen Wahrsprechens mit B ezug auf das Wahrsprechen des Orakels entworfen. Wie gestaltet sich der Ü bergang vom \Vahrsprechen des Orakels zum politischen Wahrsprechen ? D as wird im zweiten Teil des Stückes noch klarer zur Darstel143
lung kommen. Da ist der Gott, der Wahres sagen sollte. Ich habe Ihnen gezeigt, warum und wie er sich weigerte, die Wahr heit zu sagen. Wie wird nun über die annähernde Wahrheit, die Xuthos Ion angetragen hat und der gegenüber Ion sich so zö gernd verhielt, hinausgegangen ? Wie wird das Geheimnis überwunden, das der Gott wegen seiner orakelhaften M ehr deutigkeit und auch wegen der Scham aufrechterhält, sein Ver gehen einzugestehen ? Nun, wir müssen uns hier an die Men schen wenden, denn der Gott wird stumm bleiben, er wird mehrdeutig und verschämt bleiben. Die Menschen werden da gegen die Strecke zum Wahrsprechen zurücklegen, zum Wahr sprechen über die Geburt Ions, der schließlich sein Recht, in der Stadt Wahres zu sagen, b egründen kann. Wie geschieht das ? Ich will versuchen, mich etwas zu beeilen. Zumindest werde ich mit der Analyse dieses zweiten Teils be ginnen. Genau wie in Ödipus sich die Wahrheit nach und nach offenbarte, werden wir hier Versatzstücke haben oder vielmehr zwei Gruppen von Versatzstücken. Wir hatten eine erste Grup pe, als wir sahen, wie Kreusa ihre ausweichende Frage stellte, wie Xuthos seine naive Frage stellte und wie der Gott eine aus weichende Antwort gab. Das ist der erste Punkt. Nun ist Ion praktisch damit einverstanden, dieses Spiel der ausweichenden Wahrheit oder der Halblüge zu spielen. Er hat es teilweise ak zeptiert, aber er ist nicht ganz zufrieden. Es bleibt ihm noch j e ner Rest, nämlich die Notwendigkeit, die parrhesia zu begrün den, was ihm noch nicht gelang. Die letzte Strecke wird auch hier in zwei Schritten überwunden. Einerseits durch die Frau und andererseits durch das Wahrsprechen - Sie werden sehen, wie widerstrebend und voller Anspielungen - des Gottes. Erstens, seitens der Frau. Damit die Geburt Ions sich in ihrer Wahrheit offenbart, müssen die beiden Partner, die Ion gezeugt haben, nämlich Kreusa und Apollon, die Wahrheit sagen. Fol gendes geschieht nun auf Kreusas Seite: Ion, der eher unwillig Xuthos' Lösung akzeptiert hat, entschließt sich, mit ihm an j e nem Dankesfestmahl teilzunehmen. Er verläßt also die Bühne, aber nicht ohne dem Chor Schweigen anempfohlen zu haben, 1 44
.: .z. zwar in ihrer Ü b ereinkunft festgelegt wurde, daß Ion ein : :.:n nach Athen zurückkehren s oll, die Wahrheit aber nach �::i nach gesagt werden wird und da es sich herausstellen wird, .:: .::) Ion tatsächlich Xuthos' Erbe ist, all dies, um Kreusa nicht .:: ·..: Ycrletzen. Es müssen also alle über das, was man für die ·x·z.hrheit hält, schweigen, und deshalb wird d em Chor emp : :•nlen z u schweigen. Woraus setzt sich aber d e r Chor zusam ::".�n ? Nun, aus Kreusas Dienerinnen, aus j enen, die Kreusa : n _-\then bis nach Deiphi zu ihrer B efragung des Orakels be ;:::iret haben. Der Chor, der natürlich auf Kreusas Seite steht, :.::: nichts Dringenderes zu tun, als Kreusa, sobald sie auf die :.. ;_: nnc zurückkehrt, zu sagen: Höre, was geschehen ist. Man �:�:l es dir nicht s agen, aber Xuthos hat einen Sohn gefunden. = : ::ser Sohn ist offensichtlich nicht deiner. Er wurde von Xu : _-_,::> s gezeugt, und Xuthos wird ihn bei dir einführen und wird . :rsuchen, ihn dir aufzudrängen. Daraufhin macht Kreusa na :-:irlich eine Szene. Sie gerät in Wut, in eine Raserei, in der sie : :-; ihrem Pädagogen begleitet wird, d em Greis, mit dem sie �2-.:h Deiphi kam und der, wie der Text sagt,24 der Pädagoge der �:i:1d er von Erechtheus ist. Warum gerät sie in Wut ? An dieser S :eile - man muß das b etonen, obwohl es im Hinblick auf un ,, : :-e n Zweck eher randständig ist, es überschneidet sich aber -:-.:: Dingen, die bereits gesagt wurden - handelt es sich keines-, · �gs u m eine gefühlsb etonte oder s exuelle Wut: M ein Gatte ·_;.: mich betrogen. Es ist die Wut einer Frau, die als Erbin einer :; cs chlechterfolge und als Gattin eines Mannes einen Sohn ih � =s 2v1annes kommen sieht, der sich im Haus niederlassen wird _:-_d einerseits als Erbe natürlich Macht in diesem Haus aus _ :::c :: n wird, vor allem aber sie ihrer Rolle als Hausherrin und .<::ner und ihrer Rolle als Stamm der Geschlechterfolge ent ·� ::idcn wird. Als Folge davon wird sie, da sie ihre Rechte ein ; ::Süßt hat, ein einsames, elendes und hilfloses Leben führen. = :es ist es, was b ei ihr die Wut hervorruft, und in dieser Wut � -::d sie folgendes sagen, was, wie ich meine, wesentlich ist: Da - :in Ehemann mir gegen meinen Willen und, ohne es mir zu :;en, einen Sohn aufdrängen will, der nicht einmal von mir ·,
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stammt, und mich demütigt, bin ich das Opfer seiner Unge rechtigkeit. Weshalb bin ich dies es Opfer ? Weil Ap ollon, weil der Gott ihm diesen Sohn b ezeichnet hat - denn Kreusa glaubt in diesem Augenblick immer noch wie Xuthos, daß der so be zeichnete Ion der natürliche Sohn von Xuthos sei. Mein Mann drängt mir auf den Hinweis des Gottes einen Sohn auf, der nicht meiner ist, auf den Hinweis des Gottes, der mir selbst ei nen Sohn gemacht hat, den ich nicht wiederfinden kann. Nun werde ich von zwei Ungerechtigkeiteil b edrängt: der Unge rechtigkeit des Ehemanns, der, obwohl er ein Fremder ist, ei nen Sohn nach Athen bringt, der nicht einmal Athener ist, der aber dort die Macht ausüb en und mich meines Status als Toch ter, als Erbin, als Erbtochter von Erechtheus berauben wird; andererseits geschieht das alles wegen eines Gottes, dessen Op fer ich war, da er mich im Stich läßt, nachdem er mir ein Kind gemacht hat. Und in dieser Wut wird Kreusa sprechen, und zwar in einer Szene, die, streng genommen, eine Doppelszene ist, die Szene eines Eingeständnisses, das sich nach zwei Registern vollzieht: das blasphemische Eingeständnis, das anklagende und gegen Apollon gerichtete Eingeständnis; und andererseits das gewis sermaßen menschliche Eingeständnis, das Eingeständnis, das sich in einem Dialog mit dem Pädagogen mühselig und Wort für Wort entringt. Dieses doppelte Eingeständnis wird eines der wesentlichen Elemente des Stückes sein. Um vom Schwei gen des Gottes des Orakels, der sich zu sprechen weigert, zum wahren Diskurs überzugehen, der für Ion die Möglichkeit be gründen wird, die parrhesia in Athen zu handhab en, wird die notwendige Entdeckung der Wahrheit durch ein einzigartiges Moment hindurchgehen, das in seiner Struktur, in seiner Funk tion, in seiner Organisation, in seiner Diskurspraxis vom Ora kel und vom politischen Diskurs ganz verschieden ist. Dieses vermittelnde, notwendige und zweischneidige Element des Eingeständnisses ist j ene Szene, in der Kreusa zu dem Gott, oder eher öffentlich, spricht, den Gott öffentlich an das Verge hen erinnert, das sie zusammen begangen haben: ein öffent1 46
liches Eingeständnis; und indem sie sich an den Pädagogen ''endet, gesteht sie ihm halblaut das Vergehen ein, das sie be gangen hat. Dieses doppelte Eingeständnis wird mit seinen b ei
den Teilen den Angelpunkt des Stückes bilden. Darüb er werde :eh lei de r erst nächstes Mal sprechen, da mir heute die Zeit nicht g e re i c ht hat, fertig zu werden. [. . . ':·]
Anmerkungen : Euripides, Ion, Verse 5 8 5 - 5 8 8 , in: Tragödien, a. a. 0 ., S. z6 r . Ebd., Verse 5 86-6 I I , S . 2 6 I - 2 6 2 . 3 -.Die anderen Städte werden wie Spielsteine auf einem Brett von Ele menten gebildet, die ursprünglich eingeführt worden sind. Wer sich, von einer fremden Stadt kommend, in einer anderen Stadt niederläßt, ist wie ein erbärmlicher Dübel, der in einen Balken eingetrieben wurde; dem :\amen nach ist er Bürger, in Wirklichkeit aber ist er keiner<< (in: Euripi des, CEuvres, Bd. VIII - 2 , Fragments, übers. v. F. Jouan und H. Van Looy, Paris 20oo, » E rechthee«, 1 4, Verse 9- 1 4, S. I 1 9). Foucau!t stützt sich hier auf die Übersetzung des Fragments, die von H. Gregoire vorgeschlagen ?.-urde, in Ion, a. a. O., Anm. r, S. 2o8. _. Auf einen Vorschlag von Perikles hin stimmt der Rat im Jahr 4 5 1 über ein Dekret ab, das die Zugangsbedingungen zur athenischen Staatsbür gerschaft beschränkt (Aristoteles, Staat der Athener, 42). Vorher genügte e s , einen athenischen Vater zu haben. In Zukunft muß man einen freien athenischen Vater und eine freie athenische Mutter haben, um vollgülti ger Staatsbürger zu sein. Nach den schweren militärischen Niederlagen im Jahr 4 I I stürzt ein erster Staatsstreich (der sogenannte Staatsstreich der Vierhundert, hoi tetrakosioi) die demokratische Regierung und be schränkt die Körperschaft der Staatsbürger auf die Reichsten. ' Euripides, Ion, Vers 5 9 2 , a. a. 0. , S. 26 1 . " Ebd., Vers 5 94· - ., Greif ich dagegen nach des Staates Steuer (en d'es to proton poleos hor >neteis zygon)« (ebd., Vers 5 9 5 ). Ebd., Verse 5 9 7-602. ::; Es handelt sich um die Verse 2 3 8 bis 24 5 : »Drei Arten Bürger gibt es j a: iie Reichen sind niemandem nütze, trachten immer nur nach mehr. D er /1.rme, dem des Lebens Unterhalt gebricht, ist ungestüm und schnödem :\ eide zugewandt, schnellt herber Zunge Stacheln auf Vermögende, von :
�I. F.: Ich werde zeigen, wie all das miteinander verknüpft ist. Für die, wollen, wir treffen uns gleich um Viertel vor zwölf.
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böser Führer trügerischem Wort getäuscht. Doch der in beider Mitte steht, beschirmt die Stadt, die Ordnung wahrend, die das Volk sich gab« (Euripides, Die Schutzflehen den, in: Sämtliche Tragödien, Bd . II, Stuttgart I 9 5 8 , S. 378; Kritikern zufolge wurden diese Verse nachträg lich eingefügt) . IO Euripides, Ion, Vers 5 96, a. a. 0 . , S. 26 I (»die Schwachen«). I I In der langen p olitischen Tirade des Theseus erscheint die Bedeutung der B esten (aristoi) auf negative Weise, wenn er geltend macht, daß der Tyrann sie haßt, während ein Stadtstaat, in dem das Volk regiert, sie be vorzugt (Die Schutzflehenden, Verse 442-446, S. 38 5 ) . I 2 »Hosoi d e chrestoi dynamenoi t e (zugleich gut und fähig) « (Euripides, Ion, Vers 5 9 8 , a. a. O., S. 26 I ) . I 3 »Was man nun den Athenern i n bezug auf ihre Verfassung vorwirft, daß sie sich für diese Form der Verfassung entschieden haben, so billige ich das freilich nicht, und zwar deshalb nicht, weil sie sich durch diese Entscheidung zugleich dafür entschieden haben, daß die Schufte besser daran sind als die Rechtschaffenen (chrestous) [ . . . ] . Wenn manche (und besonders unsere anwesenden Gäste) es verwunderlich finden, daß die Athener überall, zu Hause und in den Bundesstädten, den Schuften und armen und den gemeinen Leuten das Ü bergewicht geben über die Rechtschaffenen (chrestois) [ . . . ]. D enn wenn die Rechtschaffenen ( chrestoi) allein redeten und ratschlagten, so wäre das freilich für ihres gleichen und für sie selbst ein guter Zustand, für die niedem Stände aber kein guter Zustand« ([Pseudo-]Xenophon, Der Staat der Athener, Kap . r , § I , 4 und 6, übers. v. H. Müller-Strübing, Philologus, Zeitschrift für das klassische Altertum, r 8 8o, Suppl. Bd. IV, Heft I , S. I 5 5 - I 5 7 ) . 14 Euripides, Ion, Vers 5 9 9 , a. a. 0., I 5 Ebd. (»auch hesychazein en polei phobou plea«: nicht still bleiben im schreckensvollen Staat, Vers 6o i ) . r 6 Ebd., Vers 5 9 8 (»ontes sophoi«). 1 7 Ebd., Vers 6o2. I8 Ebd., Verse 607-647, S. 2 6 I - 2 6 2 . I 9 »Mit Unrecht wird der Fürstenstand (tyrannidos) gepriesen: Schön ist die Front, im Innern der Gemächer wohnt Kummer« (ebd., Verse 62 I 622, s . 2 6 2 ) .
Ebd., Verse 6 5 o-667, S. 26 3 . 2 1 Ebd. Vers 678, S. 2 6 3 . 22 Ebd. Verse 669-67 5 , S. 263. 2 3 Ebd., Vers 67 5 . 2 4 Ebd., Verse 7 2 5 -726, S . 2 6 5 . 20
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. januar 1 9 8 3 , erste Stunde)
hmetzung und Schluß des Vergleichs zwischen Ion und Ö dipus: Die Tahrheit geht nicht aus einer Untersuchung hervor, sondern aus dem Auf ::•::mderprallen der Leidenschaften. - Die Herrschaft von Trugbildern und ::'e r Leidenschaft. - Der Aufschrei des Eingeständnisses und der Anklage. i'J. Dumezils Analysen zu"Apollon. - Erneute Betrachtung der auf Ion an ��:,;·andten Kategorien Dumezils. - Tragische Modulation des Themas der S::imme. - Tragische Modulation des Themas des Goldes. -
-'X-enn Sie einverstanden sind, werden wir die Lektüre von Ion iortsetzen, und zwar in der folgenden Richtung: Wir können d1es e Tragödie als eine Tragödie des Wahrsprechens, der pa r rhesia, der Begründung des Freimuts im Reden lesen. Sie er z ählt die Geschichte j enes verborgenen Sohnes, der aus der ·-·erborgenen Liebschaft zwischen Kreusa und Apollon her •:orgegangen ist. Er wurde verlassen und ausgesetzt. Er ver schwand, wurde für tot gehalten, und seine Mutter, die nun ,;·on ihrem rechtmäßigen Ehemann Xuthos begleitet wird, er kundigt sich bei Apollon von Deiphi nach ihm. In dem Augen b lick, als sie sich, von Xuthos begleitet, bei Apollon nach ihrem S.Ohn erkundigt oder danach, was wohl aus diesem verschwun2enen Sohn geworden ist, steht er plötzlich vor ihr. Er steht z:'l'.·ar vor ihr in Gestalt eines Tempeldieners, aber sie weiß ::-:i..:: ht, daß es ihr Sohn ist. Auch er selbst weiß nicht, daß er sei ::e Mutter vor sich hat, da er seine eigene Identität nicht kennt. Das ist also die Geschichte, eine Geschichte, die, wie Sie sehen, s:arke Züge der Geschichte des Ö dipus trägt, wie die des aus ;esetzten, verlorenen Sohnes , der dann seinen Erzeugern oder ;ceiner Erzeugerirr gegenüb ersteht, ohne zu wissen, wer sie ist. Diese Geschichte gleicht der des Ö dipus bis auf einen Unter �.:hied - ich hatte versucht, diesen Punkt hervorzuheben, Sie �nnnern sich -, nämlich daß Ö dipus, da er entdeckte, wer er o;;;.· ar, aus seiner Heimat vertrieben wurde, während die Situati Xl im Falle Ions genau umgekehrt ist, weil er wiss en muß, wer 1 49
er ist, um als Herrscher nach Hause zu kommen und dort die grundlegenden Rechte des Redens auszuüben. Ab dem Zeit punkt, da er entd eckt haben wird, wer er ist, wird er heimkeh ren können. Die Ö dipusgeschichte bildet also zwar eine Ma trix, hat j edoch eine genau umgekehrte Bedeutung, Polarität oder Richtung. Ich bin mir im klaren darüb er, daß, wenn ich Ihnen diese Ge schichte des jungen Mannes erzähle, der nur um den Preis Zu gang zum Wahren und zum Wahrsprechen hat, daß er das Ge heimnis seiner Herkunft lüftet, man die Auffassung vertreten kann, daß wir es hier mit einer Invariante zu tun hab en: D er Zugang zur Wahrheit führt für das Kind über das Rätsel seiner Herkunft. Es ist j edoch klar, daß mein Interesse an diesem Stück Ion nicht darin besteht, eine solche Invariante freizule gen (um sprechen zu können, braucht man immer eine Mut ter) . Im Gegenteil geht es mir darum, zu versuchen zu verste hen, welches die ganz besonderen B estimmungen sind, die in diesem Stück von Euripides", und man kann sagen im klas sischen Athen, durch ein bestimmtes Prinzip vorgenommen wurden, ein Prinzip der juristischen, politischen und religiösen Ordnung, nämlich daß das Recht und die Pflicht des Wahr sprechens - Recht und Pflicht, die für die Ausübung der Macht wesentlich sind - nur unter zwei B edingungen begründet wer den können: Einerseits muß eine Genealogie enthüllt und zur Sprache gebracht werden, und zwar im doppelten Sinn der historischen Kontinuität und der Zugehörigkeit zu einem Ter ritorium; andererseits muß dieses Wahrsprechen der Genealo gie, dieses In-die-Wahrheit-treten der Genealogie in einem be stimmten Verhältnis zu der von dem Gott geäußerten Wahrheit stehen, auf die Gefahr hin, daß diese Wahrheit ihm gewaltsam entrissen würde. Das Stück erzählt dieses Entreißen der Wahrheit und der Ge nealogie, und ich möchte auf die Stelle der Handlung zurück kommen, wo wir letztes Mal angelangt waren. Sie erinnern sich '' Foucault sagt hier »Euridipe«
das, was geschah: Xuthos und Kreusa waren gekommen, den Gott Apolien zu befragen. Kreusa hatte ihrerseits deutlich gesagt, wonach sie suchte. Ihr Anliegen war nicht da selbe wie das von Xuthos. Sie hatte j ene Halblüge erfunden, ::ämlich daß sie im Namen ihrer Schwester komme, um zu fra .;en, was aus dem unehelichen Sohn ihrer Schwester geworden ":ar. Eine Halblüge, um die Wahrheit zu erfahren. Währenddes s e n hatte Xuthos, d e r seine eigene B efragung unternahm, den Gott gefragt, ob er nicht eines Tages einen Nachkommen ha :,en werde. Der Gott hatte ihm mit folgender Halbwahrheit :;eantwortet, die nahezu symmetrisch zur halb falschen Frage hl"eusas ist, indem er zu Xuthos sagte: Ich werde dir den ersten ;eben, dem du begegnen wirst. Der erste, dem Xuthos begeg ::et, als er aus dem Tempel heraustritt, ist natürlich Ion. Der Gott hatte also eine Antwort gegeb en, die nur zu einem gerin :;en Teil wahr war. Er hatte Xuthos und Kreusa zwar j emanden gegeben, der ihnen als Sohn dienen könnte, aber schließlich ;var das Wahrsprechen des Gottes doch zumindest ungenau. :.. !an kann sagen, daß der Gott, streng genommen, eine unehe liche Lösung vorgeschlagen hatte. Nun leidet diese uneheliche Lösung - Ion als Sohn von Kreusa und Apollon, den Apolien fälschlicherweise als unehelichen Sohn von Xuthos darstellt ,:ber offensichtlich an einem Mangel, da, falis Ion wirklich :X:uthos' Sohn ist, er die altüberlieferten Rechte der Ausübung ,:ier politischen Macht nicht genießen kann, weil Xuthos in \\'irklichkeit ein Zugewanderter in Athen ist und nur aufgrund c:ines Sieges, zu dem er den Athenern verholfen hat, und auf g;rund der Heirat mit Kreusa, die man ihm als B elohnung gab, �= den athenischen Staat eingegliedert wurde. Ion ist sich des s ::n völlig bewußt. Als Xuthos ihn erkennt oder ihn als seinen Sohn zu erkennen glaubt, gibt sich Ion, wie Sie sich erinnern, >ehr zurückhaltend, sehr zögerlich und sagt: Wenn ich j edoch �s Xuthos' unehelicher Sohn nach Athen zurückkehre, werde ich entweder überhaupt nichts s ein (>>Nichts, Sohn des Nichts«) .:·der ein Tyrann. Jedenfalis kann er unter diesen Umständen :::i cht j enes Mehr genießen, das ihm gestatten würde, im ersten .m
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Rang zu stehen ( »proton zygon« ) , und das in der Ausübung der Macht über die Stadt besteht, indem er sich der vernünftigen und wahren Rede bedient. Diese gemeinsame Handhabung des Logos und der poLis, die Regierung der poLis durch den Logos kann ihm nicht rechtmäßig zukommen. Damit die parrhesia, damit die Handhabung der Stadt und der vernünftigen und wahren Rede ihm zukomme, müssen wir also einen Schritt über die uneheliche und trügerische Lösung hinausgehen, die das Orakel zunächst nahegelegt hat. Wir müssen einen weite ren Schritt machen und zum endgültigen Grund der Wahrheit vordringen. Diesen zweiten Teil möchte ich heute analysieren. Der zweite Teil des Stückes ist genauso komplex, bewegt (»voller L ärm und Raserei«), genauso von Leidenschaften durchdrungen und von Wendepunkten skandiert, wie der erste Teil im Gegensatz dazu ruhig, hieratisch, einfach und etwas sophokleisch war. Vergleichen wir an dieser Stelle noch einmal Ion und König Ödipus. In König Ödipus gibt nicht das Orakel, wie Sie wissen, das G eheimnis der Herkunft preis. Das Orakel hat Ö dipus nur etwas gepeini gt: Einerseits sind da die sehr alten prophetischen Worte, die der Gott ausgesprochen hat und denen sowohl Ö di pus als auch seine Eltern entkommen wollten; und dann gibt es die gegenwärtigen Zeichen, die der Gott gesandt hat, nämlich zum einen offenbar die Pest und zum anderen die Antwort, die Kreon gegeben wird. Zwischen diesen beiden Gesamtheiten von Formeln, Sentenzen, D ekreten und Zeichen, die der Gott geschickt hat, bleibt nichts anderes übrig, als Ö dipus zu befra gen und daß er sich selbst befragt. Angestachelt durch diese verschiedenen Zeichen, die der Gott in der Vergangenheit aus gesandt hat und die er j etzt noch aussendet, entschließt sich Ö dipus, die Untersuchung selbst zu leiten. Sie erinnern sich, d aß der ganze Text von Sophokles sehr deutlich zeigt, mit wel cher Verbissenheit Ö dipus entscheidet, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, wie hoch der Preis auch sei, den er zu zahlen habe. Der Text sagt es von Anfang an. Im Ion dagegen, und trotz der genannten Analogien in der Anlage, wird der Prozeß I J2
der Entschleierung der Wahrheit, das Verfahren der Alethurgie
keinen Hauptakteur haben. Er wird keinen zentralen Akteur wie im Ö dipus haben. In Wirklichkeit wird die Wahrheit ge
wiss ermaßen gegen den Willen der beteiligten Pers onen ans Licht kommen. Gegen den Willen des Gottes und der anderen Personen. Zumindest sind es nicht so sehr die P ersonen, die die \f"ahrheit ans Licht zu bringen versuchen - bei dieser Wahr heirsarbeit gibt es keinen Architekten -, sondern es ist das Auf einanderprallen der Leidenschaften verschiedener Personen, und zwar im wesentlichen das Aufeinanderprallen der Leiden schaften Kreusas und Ions, die miteinander insofern zusam ;nenstoßen, als sie sich nicht erkannt haben und glaub en, daß ;ie füreinander Feinde sind . Dieses Aufeinanderprallen der L eidenschaften bringt in einem b estimmten Augenblick die W'ahrheit ans Licht, ohne Architekten, ohne den Willen, diese \\7ahrheit zu suchen, ohne daß j emand die Untersuchung in die Hand nimmt un d sie zum Ziel führt. Einer der großen Un :erschiede zwischen Ion und König Ö dipus b esteht in der B e ziehung zwischen aletheia und pathos (zwischen Wahrheit und Leidenschaft). Im Falle von Ö dipus unternimmt es Ö dipus selbst, mit seinen eigenen Händen und seiner eigenen Macht, :1ach der Wahrheit zu suchen. Als er sie schließlich findet, fällt er dem Schlag des Schicksals anheim, und deshalb erscheint seine ganze Existenz als pathos (Leiden, Leidenschaft) . Im Falle von Ion haben wir dagegen eine Anzahl von Personen, die aufgrund ihrer Leidenschaften aufeinanderstoßen. Aus dem Aufeinanderprallen, aus dem Blitzstrahl dieser Leiden schaften entsteht gewissermaß en, ohne daß sie es ausdrücklich woilen, zwischen ihnen die Wahrheit; eine Wahrheit, die gera de die völlige Besänftigung dieser L eidenschaften herbeiführen wird.
Sehen wir nun aber zu, wie sich diese Alethurgie vollzieht. Ich glaube, daß man zwei große Momente erkennen kann. D enken wir hier noch einmal an Ö dipus. Sie wissen, daß in Ö dipus, als es nicht um die Entdeckung des Verbrechens, sondern um die Entdeckung der Herkunft von Ö dipus ging, einerseits der DieI 53
ner aus Korinth kommen und sagen mußte, daß Ö dipus tat sächlich nicht in Korinth geboren wurde, sondern daß er ihn von jemand anderem empfangen habe, von j emand, der aus Theben stammte. Im zweiten Teil, genauer im zweiten Teil des zweiten Teils sagte der alte Diener des Kitheron, der alte The baner: Nun j a, ich habe Ö dipus aus den Händen J okastes emp fangen, und deshalb ist es wohl Ö dipus. Wir haben also zwei Hälften. Ebenso werden wir auch im Ion zwei Hälften haben. Eine Hälfte der Herkunft wird von Kreusa ausgesprochen werden, die sagt: Ja, ich hatte ein Kind, bevor ich Xuthos heira tete. Ich hatte ein Kind mit Apollon, der mich verführt hat und das auf den Hängen der Akropolis geboren wurde. Anschlie ßend wird noch eine zweite H älfte benötigt, um die Wahrheit zu vervollständigen, nämlich daß Apollon dieses Kind, das auf den Hängen der Akropolis geboren wurde, entführt hat oder von Hermes entführen ließ, es nach Deiphi gebracht und dort zu seinem Diener gemacht hat. In diesem Augenblick ist es wirklich Ion. Die zwei Hälften der Wahrheit verklammern sich miteinander, und wir haben j ene berühmten zwei Hälften der Tessera, die das symbolon bilden, von dem in König Ö dipus die Rede war. 1 Betrachten wir die erste Hälfte, die Hälfte Kreusas. Wie wird Kreusa dazu gebracht, j ene Wahrheit zu sagen, die sie am An fang des Stückes nicht zu äußern gewagt hatte, als sie einen Umweg um die Wahrheit machte und sagte: Ich komme im Namen meiner Schwester, die eine kleine Affäre und einen Sohn hatte, den ich hier für sie wiederfinden möchte ? Wie wird sie dazu gebracht zu sagen: Ja, ich hatte einen Sohn ? Ich glau be, letztes Mal sind wir ungefähr bis zu dieser Stelle gekom men. Der Mechanismus, der Kreusa dazu bringen wird, ihren Sohn wiederzuerkennen, ist folgender: Sie erinnern sich, daß Xuthos, als er seinen Sohn Ion erkannte oder erkannt zu haben glaubte, mit diesem übereingekommen war, daß er nach Athen zurückkehren solle, ohne die ganze Wahrheit zu sagen. Und um Kreusa nicht zu verletzen, hatten sie beschlossen, zu ver stehen zu geben, daß Ion, nun j a, »einfach so«, als Diener und 1 54
Gefährte von Xuthos mitkäme. Allmählich würde man dann sagen: Nun, Ion ist wirklich der Sohn Xuthos'. Diese Lüge, die aus den allerbesten Motiven erdacht wurde, war vor dem Chor geplant worden, der also die ganze Unterhaltung mitangehört hatte und dem Xuthos nahelegt: Sagt vor allem Kreusa nichts davon. Unser Geheimnis muß wohlgehütet werden. Nun be steht der Chor aber aus Kreusas Dienerinnen, d. h. aus Athene rinnen, aus Frauen des Gynäceums, Frauen, zu deren Status und Rolle es gehört, zu bewahren. Als Hüterinnen des Ortes der Frauen, als Hüterinnen der Geburten, auch als Hüterinnen :hrer Sitten stehen diese Frauen aufgrund ihres Status' auf der Seite Kreusas und auf der Seite j ener Abstammungslinie, die bis auf Erechtheus zurückgehen muß, jene athenische und au :ochthone Abstammungslinie. Deshalb ist es offensichtlich, daß die Dienerinnen Kreusas nichts dringender zu tun haben, als Kreusa die Wahrheit zu sagen und sie zu warnen: Sieh' dich ,;·or, der junge Mann, den man nach Athen bringen wird, soll dir als Xuthos' Sohn aufgedrängt werden. Du wirst bei dir also einen fremden Stiefsohn haben, der dir von deinem Ehemann aufgedrängt wird. Und genau das geschieht auch: Sobald Kreu s a die Bühne betritt, nachdem Xuthos abgegangen war, warnt der Chor Kreusa entgegen dem Xuthos gemachten Verspre chen und enthüllt ihr, was Xuthos eigentlich vom Orakel des Gottes erfahren hat, d. h. j ene Pseudowahrheit, daß Xuthos ei ::en Sohn gefunden hat und daß dieser Sohn jener junge Mann, .:l.er Tempeldiener, ist, den man zu Beginn des Stückes gesehen hat. Kreusa nimmt diese Offenbarung des Chors natürlich für bare Münze und gerät in Raserei. Warum gerät sie in Raserei und Verzweiflung ? Nun, weil sie an einem isolierten Wohnsitz und in Einsamkeit wird leben müssen. Sie wird das Opfer der E rniedrigung sein, die in j eder adligen griechischen Familie die '. mfruchtbare Frau brandmarkt, einer Erniedrigung, die durch die Tatsache verstärkt wird, daß nicht nur sie, Kreusa, steril ist, sondern ihr Mann jemanden bringt, den man ihr als Sohn ihres \fannes aufzwingen will. Kreusa ist umso mehr erzürnt, als der 2..\ r e Pädagoge, der sie begleitet und der als Erzieher der Kinder
von Erechtheus ebenfalls die Abstammungslinie bewahrt und über sie wacht, der Nachricht, die der Chor üb erbracht hat, seine eigene Interpretation hinzufügt, eine boshafte und tücki sche Interpretation. Denn der Alte unterläßt es nicht zu sagen: Das ist ja alles ganz nett. Nun, da Xuthos einen Sohn mitbrin gen wird, gibt er vor, daß das Orakel ihm diesen Sohn bezeich net hat. Er wird sogar zu verstehen geben, daß er diesen Sohn früher gezeugt haben muß - Sie erinnern sich an die Mänaden des Tempels, den er in jungen Jahren besucht hat -, aber in Wirklichkeit wird das nichts weiter als eine Komödie sein. Weißt du, sagt der alte Pädagoge zu Kreusa, was wirklich ge schah ? Nun, Xuthos hat einfach mit einer Sklavin ein Kind ge zeugt. Er schämt sich, hat den Jungen nach Delphi geschickt und dann dich unter dem Vorwand, das Orakel befragen zu wollen, nach Delphi gebracht.2 Aber er wollte überhaupt nicht das Orakel befragen, sondern seinen Sohn wiederbekommen und dich glauben machen, daß das Orakel ihn bezeichnet hat, während er ganz einfach gekommen ist, um seinen kleinen Ba stard zu suchen, den er einer Dienerin in einem Winkel des Hauses gemacht hatte. All das, sagt der Alte, ist nicht schön, und du kannst es nicht akzeptieren ! An dieser Stelle werden wir nun die wahre Rede Kreusas, ihr Eingeständnis hören. Sie sehen j edoch zunächst, daß man den Höhepunkt - oder den Tiefpunkt - der Leidenschaft erreicht hat. Kreusa befindet sich in der schlimmsten aller möglichen Situationen, die sich für eine adlige Griechin von hoher Ge burt ergeben kann, die die Abstammungslinie ihrer Vorfahren fortzusetzen hat: Sie hat keine Nachkommen, und ihr Mann zwingt ihr den Nachkommen einer Sklavin auf. Das ist eine ab solute Erniedrigung. Andererseits muß man jedoch sehen, daß, wenn wir am Tiefpunkt der Leiden angelangt sind, wir gleich falls am Tiefpunkt aller Trugbilder und Lügen stehen, die sich um Kreusa verdichtet haben und schließlich zu ihrer wahren Rede führen werden. Die wahre Rede wird gegenüber dem Hintergrund dieser Trugbilder und gewissermaßen in der Un rast dieser Trugbilder erstrahlen. Weshalb Trugbilder ? Nun,
aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zuerst hatte der Chor Xuthos versprochen, Kreusa zu belügen und die scheinbare \'aterschaft zu verschweigen, an die Xuthos glaubte, da der Gott, wie er meinte, sie ihm offenbart hatte. Der Chor bricht sein Versprechen, indem er preisgibt, was Xuthos gesagt hat, indem er offenbart, was der Gott gesagt hat, als er anscheinend ::: i ne Vaterschaft offenbart, die der Chor im besten Glauben für -r,vahr hält. Es gibt nur eine Unannehmlichkeit, nur ein Pro blem, nämlich daß das, was der Chor, indem er sein Verspre chen bricht, Kreusa als Wahrheit präsentiert, in Wirklichkeit eine Lüge ist. Aber der Chor weiß das nicht. Zweitens erfährt Kreusa die Neuigkeit, daß Xuthos' Sohn ihrem Haus aufge Z\\'Ungen werden soll. Sie glaubt, daß dieser Sohn der ihres �1annes und nicht ihr eigener ist. Als sie sich entschließt, diesen aufgezwungenen Sohn abzulehnen, ist sie sich nicht darüber im klaren, daß sie, als wäre es für sie eine Demütigung und die Unterwerfung unter den Zugewanderten, den Sohn ablehnt, der doch die Freude und der Stolz der Mutter sein sollte, weil er der Sohn eines Gottes ist. Sie täuscht sich also völlig über das, was sich gerade ereignet. Ihr Zorn ist anscheinend begrün det, und sie muß sich tatsächlich gedemütigt fühlen. Aber alle diese Gefühle und Leidenschaften beruhen auf dem Irrtum, in dem sie gefangen ist. Was den Pädagogen betrifft - der seine Geschichte erzählt, als er sagt: Weißt du, Xuthos hat einer Skla ·,·in ein Kind gemacht usw. -, so glaubt er, daß er die Wahrheit sagt, zumindest eine Art von wahrscheinlicher Wahrheit, die \\t"ahrheit des Skeptikers, die man allen denjenigen entgegen halten kann, die naiverweise an Orakel glauben. Sehr oft, sagt er - j edenfalls liegt das seiner Erklärung zugrunde -, ist das, was man das Orakel nennt, nichts anderes als ein kleines, billi ;es Mittel der Menschen, die, da sie an diese oder j ene Wahrheit �lauben machen wollen, sich von den Göttern sagen lassen, was sie die anderen glauben machen wollen. Sie sehen, daß der Pädagoge, indem er dies sagt und dieses skeptische Argument des gesunden Menschenverstandes dem sogenannten Orakel des Gottes, dem Xuthos geglaubt hat, gegenüberstellt, sich ei-
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nerseits völlig irrt, da das üb erhaupt nicht die Wahrheit der Ge schichte ist, andererseits ab er der Wahrheit der Geschichte ganz nahekommt, weil es ja tatsächlich jemanden gibt, der die anderen täuschen und eine so und so beschaffene Geschichte arrangieren wollte, während sie in Wirklichkeit genau umge kehrt ist. Der, der das getan hat, ist der Gott selbst. Und die schäbige, kleine, schamhafte Lüge, die der Pädagoge Xuthos zuweist, wer ist denn für diese schäbige, kleine, schamhafte Lüge verantwortlich ? Natürlich Apollon ! Apollon hat sich, aus Scham und weil er das Kind, das er Kreus a gemacht hat, nicht offenbaren wollte, einfallen lassen, es einem anderen un terzuschieben. Sie sehen also, daß sich der Pädagoge in einem bestimmten Sinne völlig täuscht und daß er, indem er sich täuscht, der Wahrheit ganz nahe kommt. Wir befinden uns je denfalls sowohl s eitens des Chores als auch seitens Kreusas und des Pädagogen in einer Welt von Halbwahrheiten und Trugbildern. In diesem Augenblick, auf dem Höhepunkt der Täuschung und der Demütigung, wird nun Kreusa die Wahrheit erstrahlen lass en. Man muß jedoch sehen, daß sie die Wahrheit nicht des halb erstrahlen läßt, um ihrem eigenen Recht zum Sieg zu ver helfen, um die Geburt eines glorreichen Sohnes zu enthüllen. Sie tut es nur aus Scham, D emütigung und Zorn. Kreusa wird die Wahrheit keineswegs zu dem Zwecke sagen, die Situation zu ihren Gunsten zu wenden, denn in dem Zustand, in dem sie sich befindet, und an dem Punkt, den die Handlung mittler weile erreicht hat, kann sie nicht wissen, daß sich ihre Lage zu ihren Gunsten wenden wird. Da sie aber durch alles, was bis her geschah, schon völlig gedemütigt ist, wird Kreusa ihrer De mütigung noch eine weitere hinzufügen. Ich bin nicht nur un fruchtb ar, sagt sie, hab e nicht nur keinen Sohn von Xuthos bekommen und Xuthos zwingt mir nicht nur einen Sohn auf, der nicht meiner ist, sondern darüber hinaus hab e ich mich vor der Hochzeit mit Xuthos eines Vergehens schuldig gemacht, und dies es Vergehen werde ich nun aussprechen. Dieses Einge ständnis Kreusas, j edenfalls der erste Teil von Kreusas Einge-
>:indnis - denn wie Sie sehen werden, gibt es zwei Teile -, diese Form des Eingeständnisses wird durch folgende Zeilen L:",gekündigt: »Entschwand nicht die Hoffnung, die lang' ich ;ehegt, es erblühe mir doch vielleicht noch ein Glück, wenn S.einer erführe von meinem Fehl und von der Geburt des Kin ,:ies ? Nein. Nein ! Dem Sternenpalaste des Zeus, der Göttin, die c.·0hnt auf der Burg von Athen, und dem heil' gen Gestade, von Fimen bespült des tritonischen Sees, nicht länger verhehl' ich's, i amit mein Herz von der Bürde befreit und erleichtert sich �ül:-Jt. Die Träne rinnt mir die Wange hinab und es krampft sich schmerzend im Busen das Herz, das sie beide betrogen, der Mensch und der Gott. Ich kann es beweisen: sie handeln an :::-ir als undankbare Verräter ! «3 Es ist also eine Rede über die Demütigung, die Tränen, eine Rede in Tränen, eine Rede über ias Vergehen, in der gerade die Ungerechtigkeit der anderen zc:r Sprache kommen muß (wir werden gleich darauf zurück5.-3mmen). Aber, wie gesagt, wenn man die Ungerechtigkeit der 2-nderen zur Sprache bringt, dann keineswegs zu dem Zweck, iie Situation zu seinen Gunsten zu wenden, sondern um in ge c;-;issem Sinne alle Übel und alle Ungerechtigkeiten, deren Op :.:: r man war, auf sich zu ziehen und die Umstehenden daran zu =nnnern. _4,.n dieser Stelle beginnt nun das erste Eingeständnis Kreusas. �- ."-·] Sie spricht zu Apollon und sagt ihm folgendes: »Dich G ott, der das siebenfach tönende Spiel der Leier beherrscht, iie gebildet aus Horn, dem seelenlosen, ertönen läßt der Mu sen melodische Lieder, dich, Sohn der Leto, klag ich an. Die Sonne soll es hören. Du kamst im Strahlenschimmer der Lok ;;.en, als ich in des Kleides Bausch die Blätter des Safrans ?Bückte, goldhelle Gewänder zu färben. An den zarten Gelen,t :-sre
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Diese Stelle habe ich für Sie kopieren und austeilen lassen, wenn Sie also die Blätter nicht allzusehr für sich selbst in Anspruch nehmen würden . . . Damit es nicht wie in der Grundschule zugeht, wo bloß die guten Schüler der ersten Reihe ein Recht auf die Wahrheit haben. Lassen Sie also die Blätter herumgehen, das wäre nett. Wenn Sie wollen, werden wir nun den Text, wo Kreusa spricht, gemeinsam lesen. 1 59
ken der Hände mich fassend, zum Bett in der Höhle fort schlepptest du mich, die >Mutter, hilf ! Hilf, Mutter ! < schrie und weinte. Ein Gott liebesstark, von Scham nicht berührt, willfahrtest du der K ypris. Und ich gebar ein Knäblein, das ich, bang vor dem Zorne der Mutter, hintrug zu deinem Bette, wo du mich armes Mädchen verführt, der Tor die Törin. Weh mir ! Nun ist er verschollen, von gierigen Vögeln zerrissen, mein Sohn und auch der deine, indessen du zur Zither die frommen Lieder singest. Erscheine, Sohn der Leto, der Losorakel spen det von gold'nem Seherthrone am Erdmittelpunkt, daß ich ins Ohr dir schreie: Hei, ungetreuer Buhle ! Was soll's, daß meinem Gatten, der nichts dir, nichts zu Gefallen getan, den Sohn du, den Erben bescherest, dieweil auf Nimmerwiedersehen mein Sohn und der deine, von Vögeln geraubt, aus den Wickeln und Windeln der Mutter verschwand. Nun haßt dich der delische Lorbeerhain und die grünende Palme, die Zeugin war, als dem herrlichen Sohn, Zeus' Liebesfrucht, das Leben Leto schenk te. «4 Ich möchte nun diesen Text ein wenig erläutern. Ich möchte zunächst auf die Art und Weise eingehen, in der sich Kreusa an Apollon wendet, da Kreusas Eingeständnis sich an denj enigen richtet, der weiß, der besser als irgendein anderer weiß, da ja ApoBon selbst sie verführt hat und der Vater des Kindes ist. Sie richtet also eine Wahrheit an Apollon, die dieser genau kennt. Wie und warum wendet sie sich mit dieser Wahr heit an ihn ? Oder vielmehr, wenn man wissen will, warum sie sich mit ihr an ihn wendet, muß man wissen, wie sie sich mit ihr an ihn wendet - wie sie sich an ihn wendet, wie sie ihn an spricht, anruft und nennt. Es gibt zwei Passagen in dem Text, die Anrufungen Apollons selbst sind. Ganz zu Beginn: >>Dich, Gott, der das siebenfach tönende Spiel der Leier beherrscht, die gebildet aus Horn, dem seelenlosen, ertönen läßt, der Mu sen melodische Lieder, Dich, Sohn der Leto, klag ich an. Die Sonne soll es hören. Du kamst im Strahlenschimmer der Lok ken. « Und im Vers 906, zu Beginn des letzten Drittels dieser Anrufung, sagt sie zu ihm: >> [l]ndessen du zur Zither die from men Lieder singest. Erscheine, Sohn der Leto, der Losorakel 1 60
r e:n det von gold ' nem Seherthrone am Erdmittelpunkt. « Sie 5chen, daß Apollon in diesen beiden Passagen auf dieselbe Wei o;,:; an gerufen wird: Er ist einerseits der singende Gott, der Gott der Leier; zweitens ist er der goldene Gott, der gleißende Gott, i ::r Gott mit den goldenen Haaren; und schließlich ist er - das erscheint erst bei der zweiten Anrufung - derj enige, der im �· E ttelpunkt der Erde den Menschen die Orakel spendet und iie Wahrheit sagen muß. Der Gott als Sänger, der goldene Gott, der Gott der Wahrheit. An dieser Stelle möchte ich mich auf die Studien beziehen, die G e o rges Dumezil zu Apollon durchgeführt hat, und zwar ins cesondere auf jene in dem Buch mit dem Titel Ap o llon sonore. 5 In der zweiten dieser Studien untersucht Dumezil einen Hym :!US auf Apollon, einen alten Hymnus, viel älter als Euripides, einen homerischen Hymnus auf Apollon, dessen erster Teil :-.eicht dem Apollon von Delphi, sondern dem Apollon von De :os g ew idme t ist. In diesem Hymnus auf den Apollon von De :os wird der Gott zum Zeitpunkt seiner Geburt folgenderma Sen dargestellt. Als er gerade erst geboren wurde und noch ein :;a.'1.z kleines Baby ist, spricht er schon und sagt: » >Man gebe :rir meine Leier und meinen gewundenen Bogen . Ich werde in :::: e inen Orakeln auch die unfehlbaren Absichten des Zeus of i :: n b a ren. < Bei diesen Worten setzte er sich auf den breiten Stra Scn d er Erde in Bewegung, der Bogenschütze Phoibos mit den ::::1.gfräulichen Haaren. Alle Unsterblichen bewunderten ihn :.:::;d ganz Delos [Delos: die Insel, auf der er geboren wurde, die Erde seiner Geburt; M . F.] bedeckte sich mit Gold, als sie den S?roß des Zeus und der Leto betrachtete, [ . . . ] sie blühte wie iie Baumkrone eines Berges, wenn sein Wald in Blüte steht.«6 b. seinem Kommentar zu diesem apollinischen Hymnus be c'Tierkt Dumezil, daß der Gott und sein S t atus sich durch drei Dinge auszeichnen. Erstens verlangt der Gott nach seiner Leier ':.:ri.d s einem Bogen. Zweitens zeichnet er sich als derjenige aus, dier den Willen Zeus' durch das Orakel offenbart: Er sagt das Wa..h.r e. Und drittens, kaum beginnt er auf der Erde von D elos z:.1 gehen, als diese Erde sich mit einem goldenen Mantel bes
deckt und der Wald erblüht. Diese drei Merkmale des Gottes beziehen sich, Dumezil zufolge, auf die drei indo-europäi schen Funktionen der Mythologie, die er untersucht. Erstens, das Gold muß auf die Funktion der Befruchtung, auf den Reichtum bezogen werden. Der Bogen des Gottes stellt die Funktion des Kriegers dar. Was die anderen beiden Elemente (die Leier und das Orakel) betrifft, so stellen sie gemeinsam die magisch-politische Funktion dar oder, wie Dumezil sagt, die Verwaltung des Heiligen. Reichtum und Fruchtbarkeit, das ist das Gold; die Funktion des Kriegers, das ist der Bogen; die Ver waltung des Heiligen, das sind die Leier und das Orakel. An dieser Stelle erklärt Dumezil, daß das Sagen der Wahrheit und das Singen (die Kopplung von Orakel und Leier) zwei komple mentäre Funktionen sind, und zwar in dem Sinne, daß das Orakel die Form der Stimme ist, die Wahres sagt und durch die sich der Gott an die Menschen wendet, während der Gesang dagegen dasj enige ist, wodurch sich die Menschen an die Göt ter wenden, um das Lob der Götter zu singen. Das Orakel und der Gesang verhalten sich also komplementär wie zwei Rich tungen im Austausch zwischen Menschen und Göttern. In die ser Verwaltung des Heiligen, in diesem Spiel des Heiligen, das sich zwischen den Menschen und Göttern vollzieht, sagt der Gott durch das Orakel Wahres, und der Mensch dankt den Göttern durch den Gesang. Daher rührt die Kopplung von Gesang und Orakel. Das ist das erste Element, das man in Du mezils Analyse findet. Zweitens führt Dumezil diese Genealogie Apollons oder zu mindest der Funktionen Apollons in der Studie, die der gerade genannten vorangeht - in der ersten Studie der Sammlung7 auf ein Thema zurück, das man in der vedischen Literatur fin det, und zwar insbesondere auf einen b estimmten Hymnus des zehnten Buches des Veda - ich habe diesen Text selbst nicht ge lesen -, in dem die Fähigkeiten der Stimme besungen werden. Dumezil will nun zeigen, daß Apollon gewissermaßen die mit den Normen und Regeln der griechischen Mythologie über einstimmende Version einer alten, zugleich göttlich und ab-
strakten Entität ist, die man im Veda findet und die die Stimme selbst ist. Apollon ist der Gott der Stimme, und in diesem vedi schen Hymnus sieht man oder hört man vielmehr die Stimme, die sich selbst in ihren drei Funktionen erklärt: Durch mich, sagt die Stimme im vedischen Hymnus, ernährt sich der Mensch; zweitens, wen ich liebe, sagt sie, wer es auch sei, den mache ich stark (die magisch-politische Funktion); drittens, ich spanne den Bogen, damit der Pfeil den Feind des B rahmanen tötet, ich kämpfe den Kampf für die Menschen (die Funktion des Krie gers).8 Das dritte Element, das ich den Analysen Dumezils entnehme, ist schließlich folgendes: Von diesen drei Funktionen, die die alte indo-europäische Struktur aufwies und die in der apollini schen Mythologie, in der Mythologie des Phoibos, gewisser maßen moduliert wird, ist die dritte Funktion, nämlich die der Fruchtbarkeit, am brüchigsten, und zwar aus einer Reihe von Gründen, die Dumezil erklärt (vielleicht ist es im Augenblick nicht nötig, darauf einzugehen) . Dumezil zeigt nun, daß diese dritte Funktion des Gottes, der die Erde gedeihen läßt und den \\iald zum Blühen bringt, sehr bald verschwindet. Die Seite, der Aspekt oder die Funktion der Fruchtbarkeit wird bei Apol lon und in dessen Umgebung nur noch in den Riten des Ge schenks, des Naturaliengeschenks oder des Metallgeschenks, des Goldgeschenks erscheinen, das dem Gott von Delos oder dem Gott von D eiphi dargebracht wird. Diese apollinische Funktion wird sich eher im Austausch von Gold oder im Ge schenk von Gold als in einer natürlichen B efruchtung der Erde manifestieren. Dumezil bemerkt, daß Apollon für die natürli che B efruchtung nicht der richtige Gewährsmann ist, denn tat sächlich ist er - das ist eine Konstante in allen apollinischen :\1 ythen - eher der Gott der Liebe zwischen Männern als der Liebe zwischen Männern und Frauen. Es ist eine Tatsache, daß er sehr wenige Kinder hat, zumindest was die mythologischen Akten Apollons angeht. Ion ist eine seltene Ausnahme, was bis zu einem gewissen Grad die Vorsicht oder vielmehr das Schweigen erklären mag, das er an den Tag legt, wenn es darum
geht, sich als Vater Ions zu bekennen. Ü brigens sagt Ion, als Kreusa ganz zu Beginn des Stückes das Kind erwähnt, das ihre Schwester von Apollon gehabt haben soll: Von einer Frau ? Das würde mich wundern ! 9 Ap ollon ist also nicht der Gott der Be fruchtung, der Fruchtbarkeit, aber gerade um dieses Problem der Geburt und der Fruchtbarkeit wird sich die Gesamtstruk tur drehen. Es ist klar, daß die apollinische Struktur, von der Dumezil in Apollon sonore spricht, gegenwärtig ist. Sie ist zunächst in Form der ersten Funktion, der magisch-politischen, der Funk tion der Verwaltung des Heiligen gegenwärtig, denn Kreusa und Xuthos wenden sich in der Tat an den G ott des Orakels, an den Gott, der die Wahrheit sagt. Zweitens finden wir auch die dritte Funktion wieder, weil es die Sache der Fruchtbarkeit und der Geburt ist, die die beiden Ratsuchenden vor das Orakel führt. Es ist, wenn Sie so wollen, die Konfrontation der orakel haften Funktion des Wahrsprechens mit der Funktion der B e fruchtung, die das Zentrum des Stückes bildet. Die zweite Funktion, die Funktion des Kriegers, erscheint in dem Stück aus einer Reihe von Gründen nur sehr spärlich und s ehr dis kret. Aus zeitgeschichtlichen p olitischen Gründen, da Delphi in dieser Friedensperiode, dieser Zeit des Waffenstillstands im Peloponnesischen Krieg, die Rolle des Friedensstifters spielt, und andererseits, weil in der Handlung selbst die beiden Funk tionen I und 3 (Wahrsprechen und B efruchtung) die wichtig sten sind. Die kriegerische Funktion erscheint in einigen Be griffen, einigen Wörtern und einigen Situationen (am Anfang des Stückes erscheint Ion als B ogenträger, als Träger j enes Bo gens, der eben ein Zeichen der kriegerischen Funktion Apol lons ist; und dann gibt es die Epis oden, von denen ich gleich sprechen werde, in denen Ion die Frau verfolgt, von der er nicht weiß, daß sie s eine Mutter ist, und die er töten will) . Was das Stück j edoch ausmacht, was ihm Biß verleiht, sind im we sentlichen die Funktionen I und 3: das Wahrsprechen und die B efruchtung. Zweitens und immer noch auf der Linie dessen, was Dumezil gesagt hat, ist die dritte Funktion, die Funktion
der Befruchtung, am problematischsten. Im Grunde ist sie es, die das Problem aufwirft. In gewisser Weise bildet das Unbe hagen Apollons über seine eigene Fruchtbarkeit und seine ei gene Vaterschaft die Triebfeder des Stückes. Drittens schließ lich ist es klar, daß man das ganze Stück hindurch auf das Problem der Stimme stößt. Dieses Thema der Stimme, das Du mezil zufolge den Hintergrund der apollinischen Mythologie .ausmacht, ist das gap.ze Stück hindurch absolut grundlegend. Im Hinblick auf diese Stimme, von der der vedische Hymnus sagte, daß man ihr vertrauen kann, und die die Stimme des Gottes ist, fragt Euripides, ob man ihr vertrauen kann oder ob nicht die Menschen, die Sterblichen - im vorliegenden Fall die Frau gegen die schweigende Stimme des Gottes, der seine eige ne Vaterschaft nicht anerkennt -, ihre eigene Stimme erheben soll. Gewiß moduliert die Tragödie dieses Thema, diese Struk :ur, die leicht zu erkennen ist und sich vollkommen in die apol :inische Mythologie eingliedern läßt. Alles, was ich Ihnen hier gesagt habe, ist gewissermaßen das Gerüst des Mythos. Nun geht es darum zu sehen, worin die Ö konomie des tragischen Prozesses besteht, die Ö konomie der tragischen Entwicklung. Hier kann man erkennen, daß diese verschiedenen Themen, die ich gerade anhand des von Dumezil vorgeschlagenen Rasters erwähnt habe, moduliert werden: eine tragische Modulation :nythischer Themen. Erstens, die tragische Modulation des Themas des Gesangs und des Orakels. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß in den von Dumezil erwähnten alten Strukturen das Orakel dasj enige ist, was die Götter zu den Menschen sagen. Es ist der wahre Dis ;:urs, den die Götter an die Menschen durch die Vermittlung Apollons richten. Was den Gesang betrifft, die Leier, so ist das :ii e Art und Weise, wie sich die Menschen ihrerseits an die Göt :er wenden, da Apollon der Gott der Leier und des Gesangs ist, i.:."'lsofern er die Menschen den Gesang gelehrt und ihnen den Gebrauch der Leier beigebracht hat. Hier verhalten sich, wie Sie sehen, die Dinge jedoch nicht ganz so, und diese Aufteilung zwischen dem Wahrsprechen des Gottes und dem Gesang der
Dankbarkeit der Menschen findet nicht statt. Im Gegenteil, es ist offensichtlich, daß der Gesang und das Orakel in dem ge samten Stück auf derselben Seite stehen. Der Gott ist zwar der Gott des Orakels, aber eines reichlich schweigsamen Orakels. Er ist auch der Gott des Gesangs, und dieser Gesang ist eben falls auf gewisse Weise abgewandelt. Sein Stellenwert und seine B edeutung sind verändert: Es ist nicht der G esang der Dank barkeit der Menschen gegenüber den Göttern. In diesem Ge sang besingen nicht die Menschen den Gott, sondern es ist der Gott, der für sich selbst singt, gleichgültig gegenüber den Men schen, gleichgültig gegenüb er dem Unglück der Menschen, das er selbst hervorgerufen hat. Es ist viel eher der Gesang der U n gebundenheit des Gottes als der Gesang der Dankbarkeit der Menschen. Gesang und Orakel gehen also zusammen, und ihre Verbindung ist auch verständlich, da das Orakel, das sich seiner eigenen Ungerechtigkeit b ewußt ist, nicht wagt, die Dinge ganz auszusprechen. Es bedeckt sich, es b ekleidet sich gewis sermaßen mit diesem Gesang der Gleichgültigkeit gegenüber der Sorge der Menschen. In dem Text, den ich Ihnen vorhin vorlas, wird von den Menschen angesichts des singenden Orakels, angesichts dieses gleichgültigen Gesangs und dieses schweigsamen Orakels, kein Gesang mehr ausgehen; der ist auf die Seite der Götter und in die Gleichgültigkeit umge schwenkt. Was wird sich nun seitens der Menschen erheben ? Nicht der Gesang, sondern der Aufschrei: der Aufschrei gegen das Orakel, das sich weigert, die Wahrheit zu sagen, gegen den Gesang des Gottes, der Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit zum Ausdruck bringt, erhebt sich eine Stimme. Noch eine Stimme. Sie sehen, es handelt sich immer um die Stimme, aber um die Stimme der Frau, die gegen den fröhlichen Gesang den Aufschrei des Schmerzes und der Anklage erheben wird und die gegen das Schweigen des Orakels dazu übergehen wird, die Wahrheit auf brutale und öffentliche Weise auszusprechen. Gegen den Gesang stehen nun Tränen; gegen das schweigsame Orakel das Aussprechen der Wahrheit selbst, der schonungslo sen Wahrheit. Diese Konfrontation, diese Verschiebung, die J 66
den Effekt hat, daß der Gesang nicht mehr zum Bereich des ?v1enschlichen, sondern zu dem des Göttlichen gehört und daß sich seitens der Menschen ein Aufschrei erhebt, und zwar ge gen den Gesang und das Orakel des Gottes, erscheint nun ganz ohne weiteres im Text selbst. Leider erscheint das deutlicher im griechischen als im französischen Text. Aber lesen wir den französischen Text noch einmal, und Sie werden sehen, was ge schieht: >>Dich, Gott, der das siebenfach tönende Spiel der Lei er beherrscht, die gebildet aus Horn, dem seelenlosen, ertönen läßt der Musen melodische Lieder. << Der Gott ist der Gott des Gesangs. >>Dich, Sohn der Leto, klag' ich an. << Hier müssen wir uns an den griechischen Text wenden. Wir haben also den Gott des Gesangs, der angerufen wird, und zwar von der anklagen den Frau . Es geht nicht um den Gott des Orakels. Anscheinend geht es nicht um ihn. D enn, wenn sie den griechischen Text an schauen, so lautet dieser: >>Soi momphan, o Lathous pa i, pros tad'augan audaso « . 1 0 Audaso : ich werde hinausschreien. Pros tad'augan: gegen dieses Licht, dieses Strahlen. Es ist das Strah len des Gottes, der der Gott der Sonne, des Tages usw. ist. Ge gen und im Angesicht von: tad'augan, diesem Strahlen, das deines ist und das hier ist, das das Licht des Tages ist, aber auch das Licht des Gottes, der dort im Tempel gegenwärtig ist. Au daso: ich werde hinausschreien. Was werde ich hinausschreien ? Die Ergänzung steht im vorangehenden Vers, nämlich m o m pban: den Vorwurf. Das Wort momphan ist bis auf einen Buch staben mit omphan identisch, was »Orakel« bedeutet. »Soi momphan, o Lathous pai« zu dir, oh Sohn der Leto, momphan d er Vorwurf, was man aber beinahe als Orakel verstehen kann -, das werde ich dir entgegenhalten und im Angesicht dei nes Lichtes hinausschreien. Es gibt hier eine Art von Alliterati onsspiel zwischen Vorwurf und Orakel, welches darauf hin deutet, daß gerade an der Stelle, an der das Orakel nichts sagt, \\·o es schweigt und sich zurückzieht, die Frau ihren Vorwurf dem Gott des Gesangs und dem Orakel, das sich entzieht und nicht sprechen mag, entgegenschleudert. Da, wo es keine omphe gibt, schreit die Frau ihre momphe heraus. 1 1 Das wird,
denke ich, durch den Text und diese Passage recht deutlich na hegelegt. Und diese Konfrontation/Ersetzung des Aufschreis der Frau mit dem schweigenden Orakel findet man in der zweiten An rufung wieder, von der ich vorhin gesprochen habe, in der drit ten Strophe, im dritten Teil, als sie sagt: »Und du, du spielst die Leier und singst bloß deine Lobgesänge ! Dich rufe ich an, Sohn der Leto, der du auf deinem Thron aus Gold im Mittel punkt der Erde sitzest und Orakel spendest: Der Schrei, den ich ausstoße, möge dein O hr erreichen ! « Hier gibt es nun et was, das ich Ihnen nicht erklären kann, denn ich habe nieman den finden können, der hinreichend kompetent ist, um mir ei nen Hinweis zu geben. Es handelt sich um das griechische Verb, das im Französischen übersetzt wird durch: »Orakel spendest. « 1 2 Beachten Sie, daß wir hier >> o mp han « (das Wort » Orakel«) haben, das in der ersten Anrufung nicht ausgespro chen wurde und das wie eine Art von Echo gegenüber mom phan wirkt, was weiter oben verwendet wurde. Das Orakel wird nun »gespendet«. Das griechische Verb, das hier verwen det wird, ist j edoch »kleroo«, was >>auslosen« bedeutet. Nun weiß ich nicht, ob dieses Verb hier im strengen und nachdrück lichen Sinn aufgefaßt werden soll, mit einer starken B edeutung von: In Wirklichkeit spendest du deine Orakel auf völlig belie bige Weise. Als ob man sie als Lose zöge, sagen sie nicht die Wahrheit. Sie sind, wie wir sagen würden, zufallsbedingt; oder ob es sich um einen technischen Begriff handelt, der bedeutet: Die Orakel gehen aus dem Mund des Gottes hervor, ohne daß wir Menschen genau wiss en, woher sie kommen, was sie j e doch nicht daran hindert, die Wahrheit zu sagen. Ich werde mich weiterhin bei sachverständigen Leuten erkundigen, und wenn ich eine Antwort habe, werde ich sie Ihnen sagen. Ich hätte natürlich gern, daß die erste Möglichkeit zutrifft, d. h. daß das Orakel durch den zufallsbedingten Charakter s einer Verkündung in gewisser Weise disqualifiziert und annulliert wird: Es sagt nicht das Wahre, sondern wird wie ein Los zufäl lig gezogen. Selbst wenn man dem Wort klerois den Sinn zu168
v.·eist: Du sp endest Orakel, bleibt doch die Frage, was die Frau diesem Orakel entgegensetzen wird. Ihren eigenen Schrei. Die se Umkehrung, die darin besteht, daß, anstelle des Gottes, der z u den Menschen sprechen sollte, die Menschen sich statt des ; e n an die Gottheit, an den Gott wenden, zeichnet sich im Vers g r o ab. »Eis hous audan karyxo «: ich werde schreien, ich werde ausrufen, ich werde mich an dich wenden und deinen Ohren :neine Klage verkünden. Hier wird der Gott, der der sprechen de Gott sein sollte, der Gott, der der Gott des Mundes sein sollte, zum Gott des Ohres, dem man sich zuwendet. Das Verb ist >>keryxo« ; »keryx« ist der Herold, die feierliche und rituelle Verkündigung, durch die man j emanden juristisch zu einer Er klärung auffordert. Der Gott des Orakels wird also durch den Aufschrei der Frau juristisch zu einer Erklärung aufgefordert. Zuvor hatte man das Orakel und die Gesänge, das Orakel, ciurch das der Gott zu den Menschen spricht, den Gesang, durch den die Menschen zu den Göttern sprechen. Nun ist al les umgekehrt. Jedenfalls wechselt der Gesang auf die Seite des Gottes und wird zum Gesang der Gleichgültigkeit; und seitens de r Menschen entwickelt sich die Rede zu etwas, das die Ober hand über das Orakel gewinnt. In dem Augenblick, wo er s.:: hweigt, wo er nicht spricht, richtet man einen Aufschrei an ihn, einen wohl b erechneten, rituellen Schrei: den Schrei der Beschwerde, den Schrei der Anschuldigung. Auf diese Weise "''· ird das erste allgemeine Thema der Stimme in diesem Text moduliert. Die zweite Modulation ist die Modulation des Themas des Goldes. Apollon ist doch der Gott des Goldes, und die Gegen ;vart des Goldes drängt sich im Text auf. Sie kehrt j edenfalls immer wieder: »Du kamst zu mir im Strahlenschimmer dei ne r goldenen Locken«; und etwas weiter, am Ende des Textes: · dich rufe ich, Sohn der Leto, der du auf deinem goldenen Thron sitzest im Mittelpunkt der Erde und Orakel spendest. « In der ersten Anrufung finden wir also das Thema des Goldes ganz deutlich ausgedrückt, aber, wie Sie sehen, auch hier durch ;;ine Modulation. Der Gott erscheint als der goldene Gott: der
funkelnde Gott, der Gott mit goldenem Haar, der die Welt er hellt und der in diesem Licht und in diesem Strahlen das junge Mädchen verführen wird. Betrachten und lesen wir nun, was über dieses junge Mädchen gesagt wird und wie Kreusa sich selbst in dem Augenblick beschreibt, als sie verführt wird. »Du kamst zu mir [sagt sie zu dem Gott; M. F.] im Strahlenschim mer deiner goldenen Locken, während ich in die Falten meines Kleides Safranblüten pflückte, Blüten, die wie Gold schim mern, um damit Girlanden zu flechten. « 1 3 Das junge Mädchen steht gleichfalls im Zeichen des Goldes. Ihre Position ist zu der des Gottes symmetrisch, oder vielmehr steht sie in kontinuier lichem Austausch mit dem Gott. Der Gott verklärt sie, aber sie trägt ebenfalls das Zeichen des Goldes. Sie hält goldene Blüten in ihren Händen, die sie dem Gott darbringen soll und will. Das Gold ist hier in der Tat j enes Vehikel der Opfergabe, von dem ich sprach und das Dumezil analysiert hatte. Man sieht je doch, daß sich diesem Thema der Opfergabe des Goldes - dem Thema der Kommunikation zwischen Menschen und Göttern, das zugleich in der Großzügigkeit des Gottes, der die Welt er hellt, aber auch in der Opfergabe der Menschen in Form der Blüte besteht - ein anderer Sinn der Opfergabe und des Aus tauschs überlagert: der Austausch zwischen dem Gott, der das junge Mädchen verführt, und diesem Mädchen, das bereit ist, seinen Körper darzubringen, und das, wie sie sagt, ihre >>wei ßen Handgelenke« 14 dem Gott darbietet, der sie ruft. In diesem Licht, diesem Strahlen, dieser Weiße, diesem Gold des Gottes der Blüten und in der Weiße des Körpers der Frauen vollzieht sich ein anderer Austausch als der, der bloß durch das Thema des Goldes angedeutet wurde. Dieser Austausch der Liebe und der sexuellen Vereinigung wird - das erhellt aus der nächsten Strophe - sich nicht im Licht des Tages und im Schimmern des Sonnenlichts ereignen, sondern in der Finsternis der Höhle. Sie gehen in eine Höhle, sagt sie: »Mich fassend, zum Bett in der Höhle fortschlepptest du mich. << Die Finsternis bedeckt die Schamlosigkeit des Aktes: >>Von Scham nicht berührt, willfahr test du der K ypris, und ich gebar ein Knäblein, das ich, bang
;-or dem Zorne der Mutter, hintrug zu deinem B ette, wo du mich armes Mädchen verführt, der Tor die Törin. Weh mir ! « 1 5 E s wird also genau angegeben - offenbar sind weder Chrono logie noch Schicksalswendungen von Bedeutung -, daß die Verführung in einer Höhle stattfindet und daß in genau dersel ben Höhle so und soviel Zeit später Ion geboren wird. In jener Höhle, j ener Nacht und Finsternis wird auch das Kind ausge setzt, wird es entführt und verschwinden und, wie Kreusa glaubt, als Folge davon sterben. Es wird also nicht in den Ge nuß j enes Tageslichts kommen, j enes Schimmerns der Sonne, das sie selbst genossen hat oder wodurch sie zumindest ver führt wurde. Auf diesem Weg durch die Nacht, durch die ungerechte Vereinigung und durch die Geburt, auf die das Ver schwinden und der Tod folgen, wird nun das Thema des Gol des gewissermaßen gebrochen werden. Tatsächlich ist in der dritten Strophe, als das Thema des Goldes wieder auftaucht t "Erscheine, Sohn der Leto, der Losorakel spendet von gold' nem Seherthrone am Erdmittelpunkt«), das Gold nicht mehr i enes Element der Kommunikation, das vom Göttlichen zum :\lenschlichen übergeht, vom Gott mit dem schimmernden Haar zum jungen Mädchen, das ihm goldene Blüten darbietet. D as Gold ist nur noch der Verweis auf den Gott. Es ist der Thron, auf dem er sitzt und von dem aus er in seiner Allmacht herrscht, während ihm gegenüber - ihm, dem Gott der Sonne, dem Gott, der über der Erde, der in D elphi thront und der im mer und überall auf dem goldenen Thron sitzt - eine Frau ;;:eht, eine unheilvolle, verfluchte, unfruchtbare Frau, die ihr Kind verloren hat und die gegen ihn aufschreit. Dieses Mal ist das Gold j enes des Gottes, und gegenüber gibt es nur diese kleine schwarze Silhouette. Auf diese Weise wird das Gold moduliert. Das dritte Thema ist das der Fruchtbarkeit . . . Wenn Sie einver sranden sind, machen wir eine kleine Pause und nehmen das anschließend wieder auf.
Anmerkungen I »Als Fremder steh ich vor dem neuen Spruch wie vor der alten Tat, und fände nie als spät erkorner Bürger eurer Stadt ganz ohne Zeichen die verborgne Spur (ouk echon ti symbolon)<< (Sophokles, König Oidipus, übers. und mit einem Nachwort versehen v. Ernst Buschor, Stuttgart I 9 8o, S. I 2- I 3 . Zwei zusammenpassende Hälften einer zerbrochenen Keramik dienten als Erkennungszeichen (symballein: zusammenfü gen). Die gesamte Analyse, die Foucau!t in seiner Vorlesung am College de France vom I 6. Januar I 98o durchführt, beruht darauf, die dramati sche Struktur von Sophokles' Tragödie als eine geregelte Anpassung von Veridiktionen zu verstehen. V gl. unten, Anm. I I . 2 Euripides, Ion, Verse 8 I 5 - 8 2 1 , in: Tragödien, Zürich und München 1 990, S. 267-268. 3 Ebd., Verse 866-8 8o, S. 269. 4 Ebd., Verse 8 8 1 -922., S. 269-270. 5 G. Dumezil, Apollon sonore et autres essais. Vingt-cinq es q uisses de mythologie, Paris 1 9 8 2. 6 Ebd ., S. 26-27. 7 »Vac«, ebd., S. 1 3 -24. 8 Ebd., S. r s - I 6. 9 Euripides, Ion, Verse 3 3 9 und J 4 I , a. a. 0., S. 2 5 3 . r o Ebd., Verse 8 8 5 - 8 8 6, S. 269. I I Ompha und mompha sind die dorischen Formen von omphe und momI2 I3 14 I5
phe. » O mphan klerois« (Euripides, Ion, Vers 908, a. a. O., S. 270). Ebd., Verse 8 8 7-890, S. 269. Ebd., Vers 89 r . Ebd., Verse 8 9 5 -900.
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. januar 1 98 3 , zweite Stunde)
Tragische Modulation des Themas der Fruchtbarkeit. - Die parrhesia als \'erwünschung: das öffentliche Anprangern der Ungerechtigkeit des Mäch rigen durch den Schwachen. - Kreusas zweites Eingeständnis: die Stimme des Bekenntnisses. - Letzte Schicksalswend1mgen: vom Mordplan zum Er scheinen A thenes.
Wir werden also die Untersuchung der Umwandlung, der tra gischen Modulation des Themas der Fruchtbarkeit fortsetzen. Ich glaube, daß man beachten sollte, daß während des ganzen Textes, den wir vorhin lasen, Apollon immer als Sohn der Leto angerufen wird. Daran ist überhaupt nichts Außergewöhn liches, es entspricht vollkommen dem Anrufungsritual. Diese Anrufung dient jedoch in diesem Text gewissermaßen als ge strichelte Linie für einen Leitfaden, der zu den letzten Zeilen und Versen des Textes führen wird, als Kreusa, die immer noch gegen Apollon gewandt ist, zu ihm sagt: >>Nun haßt dich der delische Lorbeerhain und die grünende Palme, die Zeugin war, als dem herrlichen Sohn, Zeus' Liebesfrucht, das Leben Leto schenkte. « 1 In dieser Geschichte der B efruchtung und in der Zurückhaltung Apollons, seinen Sohn Ion anzuerkennen, gibt es nämlich etwas, das Kreusa nur als ungerecht empfinden kann. Sie wissen, daß in der Apollon-Legende Apollon der Sohn Letos ist. Leto ist eine Frau, die von Zeus verführt wurde und die sich auf die Insel Delos geflüchtet hat, um zu gebären, um alleine zu gebären. Auf dieser Insel Delos wurden die bei den unehelichen Kinder Apollon und Artemis geboren. Apol !on ist also genau wie Ion der uneheliche Sohn der Liebschaft zwischen einer Sterblichen und einem Gott. Genau wie Ion vmrde Apollon allein und verlassen geboren. Und genau wie die Mutter Apollons, wie Leto, hat Kreusa das Kind alleine und von allen verlassen zur Welt gebracht. Dieses Thema er scheint durch die verschiedenen Anrufungen des Sohnes der Leto hindurch und bricht am Ende in j ener Verwünschung 1 73
hervor, in der der Lorbeer von Deiphi und die Palme von Delos miteinander verglichen werden und in der Kreusa die Geburt Apollons als » erhabene Niederkunft« erwähnt, die sie leicht der schändlichen Niederkunft entgegenstellen kann, die die Geburt Ions war. Diese Rede, die sie dem Ohr des Gottes, der hätte sprechen sollen, entgegenschleudert, dieser Vorwurf, den sie feierlich wie ein Herold hinausschreit und gleichsam ein rammt, dieser Vorwurf (momphe), der an die Stelle des Orakels ( omph e) tritt, das nicht gesprochen hat, nun diese Rede, diese kreischende Rede, die sich gegen den Gott wendet und s einem Ohr entgegengeschleudert wird, ist die feierliche Verkündi gung - deshalb der Bezug auf den Herold (keryx) - einer be gangenen Ungerechtigkeit, einer Ungerechtigkeit im strengen Sinn des Wortes, im juristischen und philosophischen Sinn des Begriffs »Ungerechtigkeit«, denn es handelt sich um ein Ver hältnis, das nicht b eibehalten wurde. Die Homologie der bei den Geburten, der Apollons und der Ions, ergibt, daß Kreusa sich im Grunde gegenüber Leto in einer symmetrischen Positi on befindet. Und Apollon, der Vater Ions, ist ebenfalls in einer symmetrischen Position gegenüber Ion. Apollon und Ion sind beide unehelicher Herkunft. Kreusa, die in gewissem Sinne die eingeheiratete Schwiegertochter Letos bzw. die Liebhaberin ihres Sohnes ist, befindet sich in der gleichen Lage wie Leto selbst. Sie sehen also: Es gibt eine Analogie zwischen Leto und Kreusa (Kreusa hat eine Beziehung zu Apollon, die derj enigen ähnlich ist, die Leto zu Zeus hatte; und Ion entsteht aus ihrer Vereinigung, wie Apollon selbst entstand) . Diese Homologie, dieses Verhältnis, das im Text betont wird, ist genau das, was Apollon nicht respektieren wollte. Denn er, der aus der Liebe zwischen einer Sterblichen und einem Gott entstand, der aus dieser Liebe als uneheliches Kind hervorging und zum Gott des Lichts wurde, war schon immer der Nutznießer eines Strahlens, das gewissermaßen zu seinem Wes en gehört. Er steht dem Leben der Sterblichen vor, er b efruchtet die Erde mit seinem Feuer und soll allen die Wahrheit sagen. Dagegen ist Ion, der genau auf dieselbe Weise geboren wurde und sich im 1 74
Verhältnis zu Apollon in einer absolut symmetrischen Position befindet, dem Unglück, der Finsternis, dem Tode geweiht und die Beute der Vögel (das Thema der Vögel taucht hier auf, wir begegnen ihm später wieder, die Vögel sind aber Apollons Vö gel). Apollon hat ihn also verlassen. ApoBon hat ihn unterge hen lassen. Vielleicht hat er gar seine Vögel geschickt, um ihn sterben zu lassen. Schlimmer noch - das wird am Ende des Tex tes angedeutet, weiJ.n sie sagt: »Was soll's, daß meinem Gatten, der nichts dir, nichts zu Gefallen getan, den Sohn du, d en Er ben bescherest«2 - darüber hinaus drängt er j etzt auch noch der unglücklichen Kreusa durch ein Orakel, das er gespendet hat, einen Sohn auf, der nicht ihr eigener ist. Die ganze Ordnung der Proportionen wird hier auf den Kopf gestellt. In dieser Un gerechtigkeit, die noch einmal vollkommen bestimmt wird und im Text im Vergleich der beiden Geburten zum Ausdruck kommt, in dieser Ungerechtigkeit, die als Nichtrespektieren der Symmetrie und als das durcheinandergebrachte und von dem Gott verkannte Verhälmis bestimmt wird, besteht das Eingeständnis Kreusas . Dieser Sprechakt nun, durch den man die Ungerechtigkeit ei nem Mächtigen gegenüber verkündet, der diese Ungerechtig keit beging, während man selbst schwach, verlassen und ohn mächtig ist, diese Anschuldigung wegen einer Ungerechtigkeit, die dem Mächtigen durch den Schwachen entgegengeschleu dert wird, ist ein Sprechakt, eine Art von gesprochener Inter i'ention, die in der griechischen Gesellschaft, aber auch in einer Reihe anderer Gesellschaften gängig oder zumindest vollkom men ritualisiert ist. Der Arme, der Unglückliche, der Schwa che, derj enige, der nichts als seine Tränen hat - Sie erinnern sich, mit welchem Nachdruck Kreusa in dem Augenblick, als sie mit ihrem Eingeständnis beginnt, sagt, daß sie nichts ande res als ihre Tränen besitzt - nun, was kann der Arme, der Un glückliche, der Schwache tun, wenn er das Opfer der U nge rechtigkeit geworden ist ? Es bleibt ihm nur eines: sich gegen den Mächtigen zu wenden. Ö ffentlich, vor allen, im Antlitz des Tages, im Antlitz j enes Lichts, das sie erhellt, wendet er 1 75
sich an den Mächtigen und sagt ihm, was dessen Ungerechtig keit war. In diesem Diskurs über die Ungerechtigkeit, die von dem Schwachen gegenüber dem Mächtigen verkündet wird, gibt es eine gewisse Weise, sein eigenes Recht zur Geltung zu bringen, auch eine Weise, den Allmächtigen herauszufordern und ihn gewissermaßen in ein Lanzenstechen mit der Wahrheit über seine Ungerechtigkeit zu verstricken. Dieser rituelle Akt, dieser rituelle Sprechakt des Schwachen, der die Wahrheit über die Ungerechtigkeit des Starken sagt, dieser rituelle Akt des Schwachen, der eine Anschuldigung im Namen seiner eigenen Gerechtigkeit gegen den Starken erhebt, der diese Ungerechtig keit begangen hat, ist ein Akt, der vergleichbar ist mit einer Rei he anderer ritueller Akte, die nicht notwendigerweise sprach liche Rituale sind. Sie wissen, daß es beispielsweise in Indien das Ritual des Hungerstreiks gibt. Der Hungerstreik ist der ri tuelle Akt, durch den derjenige, der nichts vermag, gegenüber demj enigen, der alles vermag, geltend macht, daß er, der nichts vermag, Opfer einer Ungerechtigkeit seitens des Mächtigen wurde. Bestimmte Formen des Selbstmords in Japan haben ebenfalls diesen Wert und diese Bedeutung. Es handelt sich um eine Art von agonistischem Diskurs. D as einzige Kampfmittel für den, der zugleich Opfer einer Ungerechtigkeit und völlig schwach ist, besteht in einem agonistischen Diskurs, der j e doch um diese ungleiche Struktur herum gebildet ist. Dieser Diskurs über die Ungerechtigkeit, der die Ungerechtig keit des Starken im Munde des Schwachen geltend macht, hat nun einen Namen. Oder vielmehr wird er einen Namen erhal ten, den man in etwas späteren Texten findet. In keinem der klassischen Texte, in keinem der Texte aus dieser Periode (Pla ton, Euripides usw.) findet man dieses Wort in dieser Bedeu tung. Man findet es jedoch später in den Abhandlungen über die Rhetorik der hellenistischen und römischen Periode. Der Diskurs, durch den der Schwache trotz seiner Schwäche das Risiko auf sich nimmt, dem Starken die Ungerechtigkeit vor zuwerfen, die dieser begangen hat, wird nun gerade parrhesia genannt. In einem Text, der von Schlier zitiert wird - ich habe
natürlich nicht selbst nach ihm gesucht; ich habe vergessen, Ih nen zu sagen, daß es in der Bibliographie, die ich Ihnen zuvor gegeben habe, einen Artikel gibt, der der parrhesia gewidmet ist, und zwar in Kittels Theologischem Wörterbuch, ein Artikel, der sich wie alle Artikel des Theologischen Wörterbuchs auf die Bibel, auf das Alte und vor allem auf das Neue Testament be zieht -, dort finden Sie einige Hinweise auf die klassischen griechischen oder die hellenistischen Verwendungen.3 In die sem Artikel über die parrhesia zitiert Schlier einen Papyrus von Oxyrhynchus (in dem die Gesellschaft, die Praxis und das grie chische Recht in Ä gypten festgehalten wurden),4 worin gesagt wird, daß man im Fall der Unterdrückung durch Vorgesetzte den Präfekten aufsuchen und zu ihm meta parrhesias5 sprechen soll. Der Schwache, Opfer der Unterdrückung durch den Star ken, soll mit parrhesia sprechen. In diesem Text, der den Titel Rhetorik an Herennius trägt, wird die licentia, die lateinische Ü bersetzung von parrhesia, als etwas b estimmt, das darin be steht, daß sich j emand an Personen wendet, die er fürchten und ehren soll. 6 Indem er zugunsten seines eigenen Rechts spricht, wirft er den Leuten, die er fürchten und ehren sollte, ein Ver gehen vor, das diese mächtigen Personen begangen haben. Die parrhesia besteht also in folgendem: Es gibt einen Mächtigen, der sich eines Vergehens schuldig gemacht hat; dieses Vergehen stellt eine Ungerechtigkeit für einen Schwachen dar, der keine Macht hat, der kein Mittel zur Vergeltung hat, der nicht wirk lich kämpfen kann, der sich nicht rächen kann und sich in einer zutiefst ungleichen Situation befindet. Was bleibt ihm also zu tun übrig ? Nur eines: das Wort zu ergreifen und sich auf sein eigenes Risiko und eigene Gefahr vor dem zu erheben, der das Unrecht begangen hat, und zu sprechen. Dann wird seine Rede parrhesia genannt. Andere Rhetoriker, Theoretiker der Rheto rik, geben eine ziemlich ähnliche Begriffsbestimmung. Wie gesagt, in den klassischen Texten findet man diese Art von Diskurs nicht, der als parrhesia gilt. D ennoch ist es sehr schwer, in diesem Text, in dieser Verwünschung Kreusas ge genüber Apollon, nicht das zu erkennen, was genau zum Be1 77
reich der parrhesia gehört, umso mehr als Kreusa im Vers 2 5 2 von Ion, ganz z u B eginn, als sie zum ersten Mal erscheint, fol gendes sagt (sie hat Ion, den sie noch nicht wiedererkannt hat, gerade berichtet, daß sie Apollon um Rat ersuchen will): »Ü Jammerlos der Frau'n ! 0 dreiste Taten der Götter ! [Sätze, die sich für sie offenbar auf das beziehen, was ihr zugestoßen ist und was Ion nicht verstehen kann, weil er noch nichts von dem weiß, was geschehen ist; und Kreusa - was gewissermaßen das Zeichen, das Motto des Stückes ist und wodurch alle Reden ge kennzeichnet sind, die sie anschließend halten wird, insbeson dere die große, auf Apollon gerichtete Verwünschung - sagt: (M. F.)] Wer verschafft uns unser Recht, wenn die Gebieter selbst uns frevelnd kränken ! « 7 Nun, wenn die Gebieter uns frevelnd kränken und man Gerechtigkeit einfordern soll, was kann man da tun ? Man kann genau das tun, was Kreusa tut, was sie das ganze Stück hindurch tut und was sie gerade in der Passage tut, die wir erläutern, nämlich die parrhesia walten las sen. Diese Art von Diskurs, der noch nicht parrhesia genannt wird, was erst später geschieht, antwortet eigens auf die Frage, die Kreusa in dem Moment stellt, als sie die Bühne betritt: »Wer verschafft uns unser Recht, wenn die Gebieter selbst uns frevelnd kränken ?« Ich glaube, daß wir in diesem Diskurs der Verwünschung ein B eispiel dafür haben, was parrhesia genannt werden wird. Das ist mir aus mehreren Gründen wichtig. Der erste besteht natür lich darin, daß eine ganze Alethurgie nötig ist, eine ganze Reihe von Verfahrensweisen und Prozessen, die die Wahrheit enthül len, damit j ene Wahrheit ausgesprochen werden kann, nach der von Beginn des Stückes an gesucht wird, j ene Wahrheit, die Ion schließlich gestatten wird, das Rederecht zu erlangen, die par rhesia - die parrhesia im politischen Sinn des B egriffs, parrhesia verstanden als das Recht des Stärksten, den Staat durch seine Rede vernünftig zu führen -, damit also Ion dieses Recht er langt, dieses Recht, das im Text parrhesia genannt wird. Unter diesen Verfahren erscheint die Rede des gegenüber der Unge rechtigkeit ohnmächtigen Opfers, das sich gegen den Mächti-
gen wendet und das mit parrhesia spricht, an erster Stelle und 'lvird das Zentrum des Stückes bilden. Das Mehr an Macht, das Ion braucht, damit er den Staat ordentlich leiten kann, ist nicht der Gott, nicht die Autorität des Gottes, nicht die Wahrheit des Orakels, wodurch dieses Mehr begründet werden könnte. \\'as diesem Mehr durch das Aufeinanderprallen der L eiden schaften zur Erscheinung verhilft, wird j ener Diskurs der Wahrheit sein, j ener Diskurs der parrhesia in einem anderen Sinn, in dem es sich um beinahe eine umgekehrte Art von Diskurs handelt: den des Schwächsten, der sich an den Stärk sten wendet. Damit der Stärkste vernünftig regieren kann, muß der Schwächste zum Stärksten sprechen - das ist j eden falls der Leitfaden des Stückes - und ihn mit seinen wahren Reden herausfordern. Das ist der Grund, warum es mir wichtig war, denn wir haben hier eine grundlegende Mehrdeutigkeit. Diese liegt nicht in dem Wort parrhesia, das hier nicht verwendet wird, sondern es handelt sich um zwei Formen der Rede, die sich gegenüber stehen oder vielmehr tief miteinander verbunden sind: der ver nünftige Diskurs, durch den die Menschen regiert werden, und der Diskurs des Schwachen, der dem Starken s eine Ungerech tigkeit vorwirft. Diese Kopplung ist sehr wichtig, weil wir ihr :nsofern wiederbegegnen werden, als sie eine vollständige Ma :rix des politischen Diskurses bildet. ':· Als sich in der Kaiserzeit das Problem der Regierung, und zwar nicht nur der Stadt, son dern des ganzen Reiches stellte, als diese Regierung in den Hän den eines Souveräns liegen sollte, dessen Weisheit ein absolut grundlegender Bestandteil des politischen Handeins sein sollte, brauchte er, der allmächtig ist, im Grunde einen Iogos, eine Ver nunft, eine vernünftige Art und Weise, die Dinge zu sagen und zu denken. Um j edoch seine Rede abzustützen und ihr einen iesten Grund zu geben, braucht er als Führer und Garant die ,. Das Manuskript fügt hinzu: »Wir haben hier auch eine vollständige Ma trix des philosophischen Diskurses: D er j eder Macht beraubte Mensch äußert dem Tyrannen gegenüber mit Nachdruck, worin die Ungerech tigkeit besteht; der Kyniker.<< 1 79
Rede eines anderen, eines anderen, der notwendigerweise der Schwächste oder zumindest schwächer als er selbst sein sollte und der die Gefahr auf sich nehmen sollte, sich gegen ihn zu wenden und ihm, wenn es nötig sei, zu sagen, welche Unge rechtigkeit er begangen hat. D er Diskurs des Schwachen, der die Ungerechtigkeit des Starken zur Sprache bringt, ist eine notwendige Bedingung, damit der Starke die Menschen nach dem Diskurs der menschlichen Vernunft regieren kann. Diese Kopplung - die den politischen Diskurs erst viel später, im Kaiserreich, strukturiert - zeichnet sich in dieser Passage, im Spiel von Kreusas Eingeständnis ab, das in der Form der Ver wünschung, der Anschuldigung erscheint und eine notwendi ge Bedingung für die Begründung von Ions Recht ist. Soviel zum ersten Eingeständnis Kreusas. Tatsächlich gibt sich Kreusa j edoch - ich hatte letztes Mal damit b egonnen, es Ihnen vorzulesen, es war j edoch etwas ungeordnet und schematisch mit der Anschuldigung des Gottes zufrieden. Kurze Zeit nach dieser Ans chuld igung wird sie e i n zweites Mal dieselbe Ge schichte erzählen. D enn, ohne daß es dafür einen offensicht lichen Grund in der dramatischen Organisation der Szene und ihrer Wendungen gäbe, nachdem sie den Göttern eine Wahr heit gesagt hat, die jedermann völlig versteht: Du hast mir ei nen Sohn gemacht; an jenem Ort hast du uns verlassen; ich habe meinen Sohn ausgesetzt, er ist tot, er ist verschwunden, und nun tust du nichts anderes, als weiter zu singen und den Schimmer deines Goldes, deines Ruhmes und deines Lichts zu verbreiten - jedermann kann das verstehen, man braucht keine weitere Erklärung -, nachdem sie dies also gesagt hat, wendet sich Kreusa an den Pädagogen an ihrer Seite und beginnt von neuem. Sie beginnt von neuem in einer ganz anderen Form, die nicht mehr der Gesang der Verwünschung oder die Form des Verhörs ist. Auch nicht das Eingeständnis des Schwachen ge genüber dem Starken in Form der verkündeten Ungerechtig keit des Starken, sondern ein Spiel von Fragen und Antworten, das ich Ihnen kurz vorlesen möchte. Kreusa: »Ich schäme mich und muß es doch b ekennen. [Sie beginnt zu sprechen, aber ! 80
das neue Eingeständnis beginnt hier ebenfalls wie das vorhe :-ige der Anschuldigung gegenüber dem Gott mit : Ich schäme
:nich; das Sprechen muß also das Hindernis der Scham über winden; M. F.] - Pädagoge: Tu's ! mit den Meinen teil' ich treu den Schmerz. - Kreusa: So höre denn ! Kennst du des Kekrops herges nördliche Grotte, die man Makrai nennt ? - Pädadoge: Ich kenne sie - nah' b ei des Pan Altar. - Kreusa: Dort hab' ich schweren Kampf gekämpft . - Pädagoge: Mit wem ? Die Tränen kommen mir ins Auge. - Kreusa: Dort hat Apollos Liebe mich sezwungen. - Pädagoge: Das also war's, was damals ich be merkt ! - Kreusa: Was ? Wenn du recht vermutest, sag' ich 3.ir's. - Pädagoge : Geheime Krankheit schuf dir bittre Pein. Kreusa: Die Krankheit war's, die ich j etzt offenbare. - Pädago ge: Gelang es dir zu bergen, was geschehn ? - Kreusa: Ein Kind gebar ich ! Hör' es mit Geduld. - Pädagoge: Wo ? Sprich ! Wer s:and dir bei ? Littst du allein ? - Kreusa: Allein ! Wo mich Apoll bezwungen. - Pädagoge: Das Kind - wo ist's ? Du bist nicht kinderlos ! - Kreusa: Tot, Alter, tot ! den Tieren preisge g e ben. « 8 \\'as auch immer ihr historisches Schicksal gewesen sein mag das begreiflicherweise lang sein wird -, werde ich mich bei die s e r Form des Eingeständnisses viel kürzer aufhalten als bei der Y orangehenden . Ich möchte nur folgendes bemerken: Wie Sie sehen, wird dieses Bekenntnis dem Alten gegenüber von den Tränen des Pädagogen begleitet, die s tändig vorkommen und erwähnt werden. Während der Gott, an den man sich für die große Anschuldigung gerichtet hat, stumm bleibt und weiter singt, hört der Alte, dem man sich anvertraut, nicht auf, zu seufzen und zu weinen (>>Ü Tochter, blick ich dir ins Ange sicht, ergreift mich's; außer mir gerat ich ganz.«, >> Tu's ! mit den ).1einen teil' ich treu den Schmerz.«, »Mit wem ? Die Tränen kommen mir uns Auge.«9 und Kreusa, die sich an den Pädago gen wendet: >>Warum verhüllst du dein Gesicht ? du weinst ? Pädagoge: Trifft doch, was dich trifft, deinen Vater mit. « 10). Zweitens vollzieht sich dieses B ekenntnis, wie Sie s ehen, in ganz anderer Form als die große Anschuldigung gegen das r8r
Schweigen Apollons . Es ist ein Spiel von Fragen und Antwor ten, Vers für Vers. Auf eine Frage des Alten folgt eine Antwort Kreusas - mit einem Moment der Beugung -, was zugleich be deutsam, interessant und schön ist und was, wie Sie wissen, in den B ekenntnissen der Phaidra sein Ebenbild hat. Das ist der Augenblick, als Kreusa, die schon begonnen hat, zu sprechen und auf die Fragen des Alten zu antworten, sagt: >>Dort hab' ich schweren Kampf gekämpft. - Pädagoge: Mit wem ? Die Tränen kommen mir ins Auge. - Kreusa: Dort hat Apollos Lie be mich bezwungen. - Pädagoge: Das also war's, was damals ich bemerkt ! << Wir kommen zum Kern des Geständnisses. Der Alte hat nicht verstanden oder hat geheuchelt, nicht zu verste hen, was sie sagte: »mit Apollon « . Sie beginnt also von neuem: Ich war mit Apollon vereinigt. »Pädagoge: Das also war's, was damals ich b emerkt ! - Was ? Wenn du recht vermutest, sag' ich dir's.« 1 1 Im Augenblick des Geständnisses verlangt sie also von dem, der sie befragt und dem sie antworten soll, Antwort zu geben. Sie selbst sagt mit einem Zeichen des Kopfes oder mit einem Wort: Ja, das ist es, »du sprachst es aus, nicht ich ! « 12 Dieses Bühnenspiel, diese Beugung im System des Eingeständ nisses, wo derjenige, dem gegenüber man das Eingeständnis macht, den Kerninhalt des Eingeständnisses sagen soll, finden wir sowohl im Hippolytos1 3 als auch im Ion. Die dritte Bemer kung ist folgende: Während des ganzen Dialoges zwischen dem Alten und Kreusa ist das, was in Frage steht, nicht wie in der großen Verwünschung Apollons die Ungerechtigkeit des Gottes. Von der Ungerechtigkeit des Gottes ist überhaupt nicht die Rede, sondern im Gegenteil von dem Fehltritt Kreu sas. Immer wieder sagt sie: Ich habe einen Fehler gemacht, und ich schäme mich, ich habe einen furchtbaren Kampf gekämpft, »Die Krankheit war's, die ich j etzt offenbare. « 1 4 Das Einge ständnis des Fehltritts wird also direkt als Fehltritt derj enigen, die spricht, und überhaupt nicht als Ungerechtigkeit dessen, an den man sich wendet, dargestellt. Dieses Eingeständnis des Fehltritts ist jedoch auch zugleich mit der Behauptung des Un glücks verbunden. Der begangene Fehltritt wird als Unglück r 82
6:e hauptet. Eine Anklage gegen Apollon gibt es in dieser gan zen Folge von Erwiderungen Kreusas nicht. Es ist der Alte, der Y.On Zeit zu Zeit sagt, daß Apollon ungerecht ist. Der Vertraute '..: n d nicht die, die ihn ins Vertrauen zieht, nennt Apollon ,, A_pollon ho kakos« (Apollon der Böse, der Schlechte, der Tük ;,Usche ) . 1 5 Es ist auch der Alte, der, zu Kreusa gewandt, sagt: Du 7>arst zweifellos schuldig, aber der Gott mehr noch als du. 1 6 L: h wollte Ihnen die Eingeständnisse Phaidras i n Euripides' Hippolytos vorlesen, um Ihnen die Analogie der beiden For men zu zeigen - ich habe den Text vergessen, das ist aber nicht s,chlimm, denn Sie können ihn selbst lesen. 1 7 Ü brigens ist Raci ::es Text eine fast lineare Ü bersetzung des Textes von Euripi3.es. l 8
Jedenfalls haben wir hier zwei Weisen, dieselbe Wahrheit ein zugestehen, von denen die eine überhaupt nicht die Funktion hat, die andere zu ergänzen, da sie genau dasselbe sagen, und das, was als Verwünschung den Göttern gesagt wurde, nur "'·örtlich wiederholt wird. Es ist klar, daß bei diesem doppelten Eingeständnis die Notwendigkeit auf dem Spiel steht, nach ei ::em bestimmten Modus des Wahrsprechens, dem Modus der L:ngerechtigkeit - der Ungerechtigkeit, deren Opfer man ist :md die man gegen denjenigen einwendet, der dafür verant7:ortlich ist - einen anderen Typ von Eingeständnis erscheinen z u lassen, bei dem man im Gegensatz zum ersten sowohl sein ::igenes Vergehen als auch das Unglück dieses Vergehens auf 5eine eigenen Schultern nimmt. Man vertraut sich dann nicht dem an, der mächtiger ist als man selbst, und dem man Vorwür ie zu machen hätte, sondern demj enigen, dem man beichtet, iemj enigen, der uns führt und hilft. Der Diskurs der Verwün schung und der Diskurs des Geständnisses: Diese beiden For men der parrhesia werden sich anschließend in der Geschichte ·;oneinander trennen. Hier sehen wir gewissermaßen ihre Ur :-ormen. Da wir uns beeilen und mit dem Ion fertigwerden müssen, möchte ich j etzt eine schnellere Gangart einschlagen, um mit d:em Ende des Stückes abzuschließen. Wir haben hier also mit
Kreusas doppeltem Eingeständnis - dem Eingeständnis als Verwünschung und dem Geständnis als Anvertrauen, dem Eingeständnis als Zornesgesang und dem Geständnis als Dia log mit dem Pädagogen - eine Hälfte der Wahrheit. Nichts weiter als eine Hälfte der Wahrheit, denn wir wissen j etzt, daß Kreusa einen Sohn hatte, einen unehelichen Sohn von Apollon, der verscholL Wir wissen aber noch nicht, daß es Ion ist. Das Ende des Stückes wird nun der Aufgabe gewidmet sein, diese Halbwahrheit, die durch Kreusa zur Sprache kam, gewisser maß en angesichts der Wirklichkeit, die wir vor uns sehen, die Kreusa vor sich sieht und die sie nicht erkennt, nämlich diesen jungen Mann, der sich Ion nennt und der ihr Sohn ist, zu ver vollständigen. Kreusa hat ihre ganze Wahrheit gesagt, aber wer wird die andere Hälfte der Wahrheit sagen können, nämlich daß dieser Sohn nicht tot ist, daß er nach Deiphi geführt wurde und daß er in Deiphi Diener des Gottes ist ? Kreusa kann es nicht, denn sie kennt sie nicht. Und im Ion gibt es nichts Ver gleichbares wie im Ödipus, nämlich den Diener des Kitheron, der im Grunde alles wußte und der wegen dieses Wissens sol che Angst bekam, daß er sich in die Wälder geflüchtet und ver steckt hat. Am Tag, als man ihn auf die Bühne bringt, wird er es j edoch sagen können. Hier gibt es kein Subjekt, das Inhaber der ganzen Wahrheit wäre. Oder vielmehr gibt es natürlich eines, nämlich Apollon. Apollon ist in einer ähnlichen Situation wie der Hirte des Kitheron im Ödipus. Er weiß alles, und deshalb muß man ihm das letzte Stückehen Wahrheit entreißen. Durch ihn und nur durch ihn sollten sich die Wahrheit, die Kreusa zweimal gesagt hat, und die Gegenwart Ions zusammenfügen können und folglich auch seine Thronbesteigung ermöglichen, und zwar nicht mehr als mutmaßlicher Sohn von Xuthos, son dern als wirklicher Sohn von Kreusa und Apollon. Obwohl Apollon und nur er allein diese Verbindung herstellen kann - denn kein Mensch ist im Besitz dieser Wahrheit -, wer den wir sehen, daß man weder zu sehr auf die Götter vertrauen soll noch auf die Funktion des Wahrsprechens, das die Eigenart wenigstens eines von ihnen, und zwar von Apollon, ist. Auch
hier sind es die Menschen, ist es die Leidenschaft der Men schen, die das Prinzip, der Antrieb, die Kraft sein wird, die die Schwierigkeit des Wahrsprechens beiseite schieben und die Scham der Menschen, Wahres zu sagen, und die Zurückhal :ung des Gottes, ein klares Orakel zu verkünden, überwinden wird. Der Antrieb dieses neuen Fortschritts, dieses letzten Fortschritts zur Wahrheit, wird noch einmal die Leidenschaft sein, noch einmal der Zorn, der Zorn Kreusas, dem der Zorn Ions antworten wird. Was wird Kreusa denn nun tun, nachdem sie die Wahrheit gesagt hat oder zumindest j ene Hälfte der \\'ahrheit, die alles ist, was sie von der Wahrheit kennt ? Die Si mation dieser Halbwahrheit kann durch keinen weiteren Um schwung aus sich selbst heraus bewegt werden. Sie ist gewis sermaßen eine blockierte Wahrheit: Ja, sie hatte ein Kind, das i edoch verschwunden ist. Wie soll man aber wissen können, daß es sich um Ion handelt ? An dieser Stelle geschieht ein Umschwung, der ebenfalls mit dem vergleichbar ist, den man in Phaidra findet. Der Vertraute ;:das Gegenstück zu unserer abscheulichen Oinone), j ener be rii chtigte, etwas lasterhafte Pädagoge - der gerade unangeneh :ne Gerüchte über Xuthos verbreitet hatte und dem sich Kreu sa, wie wir sahen, anvertraut -, sagt zu Kreusa: Da du so von dem Gott getäuscht wurdest, der dich mißbraucht, dir ein Kind gemacht hat und es sterben ließ, mußt du dich rächen. Im selben Atemzug fügt er hinzu: Brenne also den Tempel Apol lons nieder (Rache). 1 9 Worauf Kreusa in einem einzigen Vers erwidert: Ach, ich habe auch so schon genug Ärger, ich brau che nicht noch mehr. Der zweite Rat: Töte also deinen Mann.20 Sie antwortet: Weißt du, wir haben uns früher geliebt. Und we gen dieser Gewogenheit, dieser Zuneigung will ich das nicht :un, er war ein guter Mann. Der dritte Rat des Pädagogen: Dann töte ganz einfach Ion, du kannst ihn doch niedermetzeln iassen.21 Worauf sie sagt: Das Eisen gefällt mir nicht als Waf fe. - Dann vergifte ihn (Mord der Frau)P Sie nimmt den Rat an und schlägt vor, mit der Ausführung des Mordes zu warten, bis e r in Athen ist. Da sagt der Pädagoge: Es ist nutzlos zu warten,
bis er in Athen ist, denn dann würden alle wissen, daß du es in deinem eigenen Haus getan hastP Es ist besser, ihn gleich zu vergiften. Darauf sagt sie: Sehr gut, das ist in der Tat besser. Dann findet sie in ihrer Handtasche zwei Tropfen Gift [Ge lächter in der Zuhörerschaft]. Nun, ich scherze, das ist etwas geschmacklos, zugegeben . . . Wir müssen die Sache j edoch schematisch darstellen, weil hier sehr interessante und bedeut same mythische Elemente ins Spiel kommen: D as Gift, das sie aus ihrer Tasche zieht, ist aus dem Blut der Gorgo gemacht, j e ner Gorgo, mit deren Hilfe Minerva Athen verteidigt hat. Wir sind also mitten in der athenischen Mythologie, wobei es wich tig wäre, diese zu analysieren. Aber das ist j etzt nicht mein Pro blem. Jedenfalls verläßt der Pädagoge die Szene mit diesem Gift und wird wieder bei dem Festmahl auftauchen, das Xu thos darbringt, um zu feiern, was er für das Wiedersehen mit seinem Sohn hält. Der Pädagoge begibt sich dorthin und schüt tet in den Kelch Ions einen Tropfen von dem Gift, das ihn töten soll. Und hier geschieht nun etwas: Einer der Diener, die die Teilnehmer des Festmahls umringen, macht eine gotteslästerli che Geste, die nicht weiter beschrieben wird, die j edoch von Ion - gerade weil Ion Apollon nahe ist und die Regeln und Ri ten des Tempels kennt - als schlechtes Vorzeichen gedeutet wird. Deshalb soll der Wein, der für das große Trankopfer in die Kelche gegossen wurde, auf den Boden geschüttet werden, weil es ein schlechtes Vorzeichen ist: Man darf das Trankopfer nach diesem schlechten Vorzeichen nicht vollziehen. Hier ha ben wir also ein Eingreifen, wenn auch nur ein minimales Ein greifen des Gottes: Er hat es einfach veranlaßt, daß ein be stimmtes Zeichen gemacht werde, ein nicht-rituelles Zeichen, das im Gegensatz zum Ritus steht, ihn unterbricht und zum Ergebnis hat, daß der Wein auf den Boden geschüttet wird. Die Tauben Apollons - auch hier haben wir ein kleines Element, das auf den Gott hinweist - kommen, um zu trinken und sich an dem verschütteten Wein zu berauschen. Alle Tauben sind entzückt außer derj enigen natürlich, die von dem getrunken hat, was aus der Schale Ions zu Boden floß und vergiftet war r 86
Jie Taube stirbt. Sie stirbt, und sofort wird man sich dessen be >-:ußt, daß Ions Kelch vergiftet war. Es ist nicht schwer heraus zufinden, daß der Alte, der hinter Ion steht, das Gift in seinen Kelch geschüttet hat. So wird also der Alte entlarvt. D as ist ein typisch euripideischer Umschwung, der für uns in sofern interessant ist, als man sieht, in welcher Form und nach v:elcher Art von Ö konomie der Gott eingreift. Er greift kei neswegs dadurch ein, daß er die Wahrheit sagt; es ist nicht ein mal sein Orakel, s o ndern einfach das Spiel der Zeichen, das Spiel der quasi-natürlichen Zeichen (der Tod einer Taube), das '
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weiß er sehr wohl, daß er sie nicht berühren kann, solange sie auf dem Altar ist. Hier ist die Situation erneut blockiert. Die eine ist unberührbar; der andere will sie nicht berühren. Ion b elagert gewissermaßen den Altar. Es gibt hier also eine neue Intervention des Gottes. Aber Sie sehen auch, wie ökonomisch und geringfügig sie ist. In diesem Moment, als die Situation völlig blockiert ist, öffnen sich die Tore des Tempels, und Py thia kommt herein, sie, die hätte die Wahrheit sagen sollen, de ren Funktion immer darin besteht, die Wahrheit zu sagen. Sie kommt wortlos und trägt in ihren Händen nur einen Korb, den Korb von Ions Geburt. Sie sagt: Sieh her, seht her; mehr sagt sie nicht. In diesem Moment sagt Ion zu ihr: Aber warum hast du mir nicht früher den Korb gezeigt, in dem ich nach Deiphi ge bracht wurde ? Weil der Gott es mir verboten hat, sagt Pythia. Kreusa, die sich vorbeugt, um zu sehen, was das für ein Korb ist, erkennt sofort, daß es derj enige ist, in dem sie Ion ausge setzt hat. Sie erkennt eine Reihe von rituellen Gegenständen auch in seinem lnnern, unter denen sich folgende befinden: das Halsband mit Schlangen, das man den athenischen Kindern umhängte, um sie zu beschützen, und das sich auf die Schlan gen des Erechtheus b ezog, d. h. auf die berühmte Dynastie, aus der Kreusa selbst hervorgegangen ist - eine B estätigung der Kontinuität also -; der grüne Zweig der Athene; und drittens eine Webearbeit, die sie mit eigenen Händen begonnen hatte und die unvollendet blieb . Angesichts dieses Gegenstands sagt Kreusa: Das ist so wertvoll wie ein Orakel.25 Hier bemerkt man nun, daß die Entdeckung der Wahrheit sich vollzieht, ohne daß Pythia gesprochen hat. Die Pythia ist stumm. Es ist nur ein Gegenstand, ein Gegenstand, der mit Ions Geburt zu tun hat. Es gibt göttliche Zeichen: Zeichen der Tradition des Erechtheus, das Zeichen Athenes. Und dann ein spezifisch menschlicher Gegenstand. Apollon hat streng genommen kei ne Spur hinterlassen. Von allen diesen Zeichen, von d enen zwei göttlichen Ursprungs sind und das dritte einfach die Arbeit ei ner Frau ist, hebt Kreusa letzteres hervor und sagt: Das ist so wertvoll wie ein Orakel. Anstelle des stummen Orakels des !88
Gottes muß man die Arbeit der Menschen, die Stimme der :\'I enschen, die Hand der Menschen anrufen, damit die Wahr heit ans Licht kommt. Nun hat Ion endlich eine Mutter. Er er ;,.ennt sie, und dann ist alles zu Ende. In Wirklichkeit ist jedoch noch nicht alles zu Ende. Es gibt hier noch eine Reihe von Schubladen, und die Schwierigkeit, die ganze Wahrheit als eine ununterbrochene Kette darzustellen, ist um vieles größer, als man glaubt. Es gibt noch eine Menge kleiner Zweifel, die hervortreten, eine Menge kleiner Lücken, die man schließen muß, weil Ion j etzt eine Mutter hat. Er glaubte in der Person von Xuthos einen Vater empfangen zu haben. Alles sollte sich arrangieren lassen. Ü brigens glaubt er, daß es arrangiert ist, und sagt zu Kreusa: Nun wohl, du bist meine Mutter. Und da Xuthos mein Vater ist (siehe den ersten Te il des Stückes), habe ich Mutter und Vater. Also können wir gehen. Nur stimmt das eben nicht, denn Ion ist nicht Xuthos' Sohn. Daraufhin sagt ihm Kreusa, die die Wahrheit sagen will, denn die ganze Wahrheit soll ans Licht kommen: Höre, nein, das stimmt nicht. In Wirklichkeit bist du nicht sein Sohn, son dern der Sohn Apollons. Und dies, sagt sie, ist viel besser, denn dadurch sind deine Rechte in Athen viel besser begründet, als von einem Zugewanderten wie Xuthos abzustammen. Nur findet Ion das sehr dubios, weshalb er sagt: Wenn du mir er zählst, daß ein Gott dir ein Kind gemacht hat, könnte es dann in Wirklichkeit nicht so sein, daß du dich von einem Sklaven in einem Winkel des Hauses hast schwängern lassen26 - der glei che Zweifel, der gegenüber Xuthos erhoben wurde. Was be weist mir, daß ich wirklich Apollons Sohn bin ? Es gibt also eine Diskussion, und Ion läßt sich beinahe überzeugen, aber nicht ohne daß sie ihm sagt (was ein wesentlicher B estandteil des Stückes ist): »Ich reime mir die Sache so zusammen: Für sorglich bringt Apoll dich in ein edles Geschlecht und Haus. «27 Folgendes, sagt Kreusa, ist also geschehen: Phoibos fand es leichter, dich über Xuthos in ein edles Haus zu bringen. Und Ion antwortet: »So leicht kann ich mich nicht zufriedengeben. Ins Haus Apolls geh' ich und frag' ihn s elbst, ob mich ein
Mensch erzeugt hat oder er.«28 Die B eteuerungen seiner Mut ter, das, was sie ihm über seine göttliche Herkunft gesagt hat, genügen ihm nicht. Er kann sich mit einer >>so dürftigen Unter suchung« nicht zufriedengeben, er braucht die letzte Wahrheit, die ihm versichern wird, daß er von Apollon und Kreusa ab stammt, und nicht von Kreusa und Xuthos oder von Kreusa und einem Sklaven oder sonst irgendwem. Er muß die Wahr heit wissen, und er ist im Begriff, den Tempel zu betreten, um schließlich den Gott zu befragen, der seit dem Beginn des Stük kes ununterbrochen schwieg. In dem Augenblick, da er als Sohn Apollons, er als Priester oder zumindest Tempeldiener Apollons, er, der von den Göt tern als Gebieter in Athen inthronisiert werden soll, im B egriff steht, diesen Zug zu machen, um diesem Gott, von dem am Anfang des Stückes gesagt wird, daß er allen Griechen die Wahrheit sagen muß, endlich die Wahrheit zu entreißen, ereig net sich eine weitere Wendung. Die mechane2 9 kommt auf die Bühne herab - und man sieht . . . Wen ? Apollon ? Keineswegs, man sieht Athene erscheinen, die sich mit ihrem Streitwagen auf dem Tempel Apollons niederläßt und ihre Autorität der jenigen des Gottes überlagert, der nicht sprechen wollte. Sie wird nun die Rede über die Wahrheit und das Recht halten, die Rede über die Wahrheit der Herkunft Ions und über das Recht Ions, j etzt die Macht in Athen auszuüben. Athene hält also eine große Rede, eine athenisch-apollinische Rede oder zumindest eine Rede, in der die apollinische Vorhersage genannt werden wird.30 Athene sagt: Folgendes wird geschehen. Du wirst nach Athen zurückkehren, du wirst König von Athen sein, du wirst vier Stämme gründen, und aus diesen vier Stämmen werden alle Ionier hervorgehen. Dann wirst du Halbbrüder von Xu thos und Kreusa haben, von denen der eine, Doros, das Volk der Dorer begründen wird, von denen der andere, Achaios, das Geschlecht der Achäer begründen wird. Eine prophetische Rede, aber auch eine Rede, die, insofern sie von Athene, der Göttin der Stadt und der Vernunft, gehalten wird, das Recht in der Stadt grundlegt. Das Wahrsprechen des Gottes, zu dem der
Gott s elbst nicht in der Lage war, übernimmt nun die Grün dungsgöttin der Stadt, die denkende Göttin, die überlegende Göttin, die Göttin des Logos und nicht mehr des Orakels. Sie sagt diese Wahrheit, und mit dieser Wahrheit wird sich der gan ze Schleier über dem Geschehenen lüften. Wird auch das Recht begründet ? Noch nicht, es gibt zunächst noch etwas anderes . Was macht man mit dem Problem der zwei Väter, vor dem Ion jetzt steht - des wjrklichen und göttlichen Vaters Apollon und des scheinbaren Vaters Xuthos ? An dieser Stelle gibt die Göt tin folgenden Rat: Sagen wir Xuthos nichts; er mag weiterhin glauben, daß er der Vater dieses Sohnes sei. Du wirst nach Athen zurückkehren, und Xuthos wird überzeugt sein, daß du sein Sohn bist. Er wird dir die Macht eines Tyrannen geben, ei nes Tyrannen, weil Xuthos als Zugewanderter und Sproß des Zeus über diese Stadt nur eine gewisse Macht ausüben kann, nämlich die des tyrannos. Du wirst mit ihm zusammen zurück kehren und dich auf den Thron setzen, den Thron des Tyran nen, so der Text.31 Und dann wirst du die athenischen Stämme gründen, d. h. daß die Demokratie oder vielmehr die p olitische Organisation Athens sich aufgrund deiner erechtheischen und apollinischen Herkunft entfalten wird, aber unter dem Deck mantel der Abstammung von Xuthos, deren Trugbild wir eine Zeit lang herrschen lassen werden. Auf diese Weise spielt sich also das ganze Stück ab: vom Schweigen des wahrsprechenden Orakels aufgrund des Vergehens des Gottes; über den Auf schrei des menschlichen Wahrsprechens (Aufschrei der Ver wünschung oder Aufschrei des Eingeständnisses, des Vertrau ens); bis hin zur Verkündung - das ist der dritte Schritt, das dritte Moment - nicht durch den Gott des Orakels, sondern durch den vernünftigen Gott, eines Wahrsprechens, das einer seits zwar über der Wahrheit einer teilweise Täuschung herr schen läßt, aber um den Preis dieser Täuschung selbst jene Ordnung begründet, in der die befehlende Rede eine Rede der Wahrheit und der Gerechtigkeit sein kann, eine freie Rede, eine parrhesia. Damit sind wir am Ende von Ion angelangt.
Anmerkungen I Euripides, Ion, Verse 9 I 8-92 I , in: Tragödien, München und Zürich I 990, s. 270. 2 Ebd., Verse 9 I 3 -9 I 5 . 3 H. Schlier, »Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel, Hg., Theologi sches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart, I 949- I 979, S. 8 698 84. 4 Was »Papyrus von Oxyrhynchus<< genannt wird, umfaßt eine Gesamt heit von alten griechischen Papyri, die aus der hellenistischen Periode stammen und ab I 896 in der ägyptischen Stadt Oxyrhynchos bei Aus grabungen gefunden wurden. Die Universität Oxford hat schon sieb zig Bände publiziert, etwa vierzig sind aber noch herauszugeben. 5 Papyrus von Oxyrhynchos, VIII, I r oo, I 5, zitiert von Schlier, »Parrhe sia, parrhesiazomai«, a. a. 0., S. 8 7 I . 6 » Eine Freimütigkeit liegt vor, wenn wir vor denen, die wir scheuen oder fürchten müßten, dennoch etwas für unser Recht sagen, wodurch wir den Eindruck erwecken, wir würden sie oder diej enigen, die sie lie ben, für irgendeinen Irrtum zu Recht tadeln . . . « ( [Anonym], Rhetorica ad Herennium, Buch IV, § 48 , hg. v. Theodor Nüsslein, München und Zürich, I 994, S. 269-270. 7 Euripides, Ion, Verse 2 5 2- 2 5 4, a. a. 0., S. 2 5 0. 8 Ebd., Verse 9 3 4-948, S. 27 1 . 9 Ebd., Verse 9 2 5 , 9 3 5 und 940. I o Ebd., Verse 967-968, S. 272. I I Ebd., Verse 9 4 I -94 3 , S. 2 7 1 . I 2 Vgl. unten, Anm. I 7 und I 8 . I 3 Vgl. unten, Anm. I 7. I 4 Euripides, Ion, Vers 945, a. a. 0 . , S. 27 1 . I 5 Ebd., Vers 9 5 2· I 6 Ebd., Vers 9 60. I 7 »Amme: Ist's möglich, Kind, du bist verliebt ? In wen ? - Phaidra: Wie nenn ich ihn den Sohn der Amazone ? - Amme: Hippolytos ? - Phaidra: Du sprachst es aus, nicht ich ! << (Euripides, Hippolytos, Verse 3 5 0-3 p, in: Tragödien, München und Zürich I 9 90, S. uo). I 8 Es handelt sich um die dritte Szene des ersten Akts. Phaidra: Den die Skytin getragen. Du kennst ihn, den lang' ich von mir verbannt. - Oi none: Hippolytos ? Götter ! - Phaidra: Du hast ihn genannt« (Racine, Dramatische Dichtungen, Geistliche Gesänge, Darmstadt u. a. I 9 5 6, s. I 47). I 9 Euripides, Ion, Vers 974, a. a. O., S. 222. 20 Ebd., Vers 9 76. 2I Ebd., Vers 978. 22 Tatsächlich hat Kreusa die Idee des Vergiftens (ebd ., Vers 9 8 5 , S. 272). 2 3 Ebd., Vers I 024. »
14 Ebd., Vers I I I 2, S. 276 (man beachte, daß im Vers I 222 auch davon die
Rede ist, sie von einem Fels zu stürzen). ::; Tatsächlich spricht Ion diese Worte (»So sieht das Tuch aus, das im Korb ich finde . . . Es ist wahr wie ein Orakel.« Ebd., Vers I 424, s. 2 3 9)· 26 Ebd., Vers I 472, S. 8 6 (Ion ist weniger präzise und spricht nur von einer unehelichen Herkunft). 17 Ebd., Verse I 5 3 9 - I 5 40, S. 2 8 8. ::S Ebd., Verse I 5 46 - I 5 4 8 . .29 Eine mechane bez.e ichnet im Griechischen eine Theatermaschinerie, die am häufigsten zur Erscheinung der Götter verwendet wird. p Euripides, Ion, Verse I 5 7 5 - I 5 8 8, a. a. 0., S. 289. 3 r "Nimm deinen Sohn mit dir in Kekrops Land und setze dort ihn auf den Thron, Kreusa, als König (thronotiS tyrannikous)« (ebd., Verse I 5 7 I - I 5 72, S. 289).
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2 . Februar r 9 8 3 , erste Stunde)
Erinnerung an Polybios' Text. - Rückkehr zu Ion: göttliches und mensch liches Wahrsprechen. - Die drei Formen der parrhesia: politisch-statusbezo gen; gerichtlich; moralisch. - Die politische parrhesia: ihre Beziehung Utr Demokratie; ihre Verankerung in einer agonistischen Struktur. - Rückkehr zu Polybios' Text: das Verhältnis isegoria/parrhesia. - Politeia und dyna steia: die Auffassung der Politik als Erfahrung. - Die parrhesia bei Euripi des: Die Phoinikerinnen; Hippolytos; die Bakchen; Orestes. - Orestes' Pro zeß.
Ich möchte mit der Wiederholung einer Reihe von Dingen be ginnen, die ich die letzten Male in bezug auf Ion und den Be griff der parrhesia gesagt habe, da mehrere von Ihnen mir Fra gen gestellt oder bemerkt haben, daß das, was im Laufe der Lektüre von Ion im Hinblick auf die Struktur und die Bedeu tung des B egriffs der parrhesia herausgearbeitet wurde, viel leicht nicht völlig klar war. Wenn ich so lange von diesem Text Euripides' gesprochen habe, dann um eine Frage zu beantwor ten, die in einem Text von Polybios gestellt wird, den ich Ihnen ganz am Anfang der Vorlesung zitiert habe und der bekannt, berühmt und für den Begriff der parrhesia nahezu kanonisch ist. Es handelt sich um j enen Text von Polybios (im 2 . Buch, Kapitel 3 8), 1 wo er bei der B esprechung des Wesens und der Form der Regierung der Achäer sagt, daß die Achäer sich unter den Griechen dadurch auszeichneten, daß ihre Verfassung ise goria (etwa: Gleichheit der Rede, gleiches Recht, Reden zu hal ten), parrhesia und allgemein alethine demokratia beinhaltet. Das bedeutet, daß Polybios' Text zwei Begriffe ins Spiel bringt, deren Sinn wir untersuchen müssen und die er auf die Demo kratie im Allgemeinen bezog. Polybios' D efinition und Cha rakterisierung der Regierung der Achäer ist aus folgenden Gründen interessant. Zunächst, weil die Demokratie im allge meinen von ihm nur durch diese b eiden Elemente, diese beiden B egriffe (isegoria und parrhesia) bestimmt wird; im Anschluß daran müssen wir versuchen, einerseits herauszufinden, was 1 94
die Beziehung zwischen diesen beiden B egriffen und der Ge samtheit demokratischer Abläufe ist, und andererseits, worin der Unterschied zwischen der isegoria (Gleichheit der Rede, gleiches Recht, Reden zu halten) und der parrhesia besteht, die wir untersuchen werden. Es ist bekannt, daß die morphologische Definition der Demo kratie in den theoretischen Schriften Platons, Aristoteles ' usw. relativ leicht zu g �winnen ist, zumindest durch die Entgegen setzung und Unterscheidung von der Monarchie, der Aristo kratie und der Oligarchie. Es handelt sich um die Regierung des demos, d. h. der Gesamtheit der Bürger. Andererseits wis sen Sie, daß, auch wenn diese morphologische D efinition der Demokratie relativ einfach ist, die B estimmung dessen, worin die Demokratie besteht - ihre Charaktere, ihre notwendigen Bestandteile für ein gutes Funktionieren, ihre Qualitäten - in den griechischen Texten viel weniger fixiert ist. Im allgemeinen bringt man zur Charakterisierung der inneren und funktiona ien B estandteile der Demokratie eine Reihe von B egriffen ins Spiel, wie z. B . den der eleutheria (der Freiheit), der sich auf die nationale Unabhängigkeit, auf die Unabhängigkeit eines Stadt staats von der B eherrschung durch einen anderen bezieht; eleutheria bezieht sich auch auf die innere Freiheit, d. h. auf die Tatsache, daß die Macht nicht auf despotische oder tyrannische Weise in der Hand eines einzigen Herrschers liegt. Die Bürger sind frei. Das ist eine Bestimmung. Sie wissen, daß die Demo kratie sich auch durch die Existenz eines nomos auszeichnet, d. h. durch die Tatsache, daß die Regel des politischen Spiels und der Machtausübung sich im Rahmen von so etwas wie Ge setzen, Traditionen, einer Verfassung, einem Grundprinzip usw. vollzieht. Man bezieht die Demokratie auch auf die isono mia, oder vielmehr macht man die isonomia zu einem Merkmal der Demokratie. Insbesondere rühmt sich die athenische De mokratie damit, die isonomia zu praktizieren, d. h. allgemein gesprochen, die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Das andere \Ierkmal, das erwähnt wird, ist j ene isegoria, d. h. aus etymolo gischer Sicht: die Gleichheit der Rede, die j edem Individuum I95
zustehende Möglichkeit, vorausgesetzt, es gehört zum demos, zu den Bürgern, die Zugang zur Rede haben, wobei >>Rede« in verschiedenerlei Sinn zu verstehen ist. Es kann sich um die ge richtliche Rede handeln, wenn man vor einem Gericht spricht, sei es um anzuklagen oder um sich zu verteidigen; es kann auch das Recht sein, seine Meinung kundzutun, sei es im Hinblick auf eine Entscheidung oder aber bei der Wahl der Herrscher; die isegoria ist schließlich das Recht, das Wort zu ergreifen, sei ne Meinung im Verlauf einer Diskussion oder einer Debatte zu äußern. Wenn das die isegoria ist, was ist dann die parrhesia ? Was ist das für ein B egriff, der sich auf das Ergreifen des Wortes be zieht ? Wie kommt es, daß Polybios, der die Demokratie im all gemeinen, die wahrhafte Demokratie, so knapp wie möglich charakterisieren wollte, ihr nur zwei Merkmale zuspricht, die offenbar beide das Problem der Rede (isegoria und parrhesia) berühren ? Warum b enutzt er diese beiden Begriffe, die sich so ähnlich sind und anscheinend nur schwer voneinander unter schieden werden können ? Was ist der Unterschied zwischen dem verfassungsmäßigen Recht eines j eden, das Wort zu er greifen, und jener parrhesia, die ein Zusatz zu diesem verfas sungsmäßigen Recht ist und die das zweite wichtige Merkmal ist, durch das man die Demokratie charakterisieren kann ? Was haben diese beiden Begriffe mit der Demokratie zu tun, wie soll man sie im Hinblick auf den politischen Gebrauch der Rede unterscheiden ? Diese Dinge möchte ich heute gerne auf klären. Es wird bestimmt etwas langwierig werden, aber ich glaube, daß die Dinge wichtig genug sind, um auf sie etwas nä her einzugehen. Ich glaube nämlich, daß der Text des Ion, obwohl es ein ganz li terarischer und dramatischer Text ist, eine Reihe von Elemen ten zum theoretischen Gehalt des B egriffs der parrhesia bei steuern kann. In einem gewissen Sinn sagt Ion in seinem dramatischen Ablauf mehr als die kurze und rätselhafte Formel des Polybios. Ich werde nun zweierlei tun: einerseits den Weg, den wir mit der Lektüre von Ion zurückgelegt haben, noch ein-
mal etwas systematisieren; und dann gleichzeitig eine Reihe von Markierungssteinen setzen, um das Feld dieses B egriffs et "·as festzulegen, um es einzugrenzen. Wir konnten in diesem Stück, das als Tragödie des Wahrsprechens betrachtet werden kann, einen zentralen Kern oder Leitfaden ausmachen. Der Leitfaden ist sehr einfach, ich gehe kurz darauf ein. Ion, der !unge Mann, der ein verkannter Nachkomme der alten Erech :heischen Dynastie Attikas und Athens ist, ein Nachkomme "�"On Erechtheus, der in den Grotten der Akropolis geboren -...�u.rde, von jenem Geschlecht des Erechtheus, in dem sich schon die Götter, die Erde, die Menschen vermischten, und Ion, der verkannte und verbannte Ureinwohner, kann und will �uch nur dann nach Athen zurückkehren, um dort die mit sei r-:er Abstammung verbundene Macht auszuüben, wenn er ein bestimmtes Recht innehat. Dieses Recht und diese Macht sind 2...'1 einen bestimmten Status gebunden, der von seiner Geburt ;.bhängt. Das Recht, die Macht und der Status führen zu oder münden in einem bestimmten Element, das ganz wichtig ist und ausdrücklich erwähnt wird, nämlich in der parrhesia: die Freiheit, das Wort zu ergreifen und darin den Freimut im Re den auszuüben. Das ist der Leitfaden des Stückes. :\run habe ich versucht, Ihnen zu zeigen, daß - da die drama :ische Triebfeder des Stückes in der Frage bestand, wie Ion als verbannter Ureinwohner zurückkehren und auf seiner eigenen Erde das Recht zu sprechen in Form der freimütigen Rede erlan gen kann - diese parrhesia nicht deshalb erlangt wird, weil der Held irgendeine Großtat begeht, diese oder j ene Prüfung be s:eht oder einen Sieg erringt. Nicht einmal ein Urteil, das Strei ngkeiten schlichtet und Rechte austeilt, wird Ion schließlich auf den Thron bringen. Dadurch wird der Held seine parrhesia nicht erlangen, sondern durch eine Reihe von Manifestationen der Wahrheit, eine Reihe von Operationen und Verfahren, durch die die Wahrheit gesagt wird. Allgemein betrachtet, zeichnen sich diese Verfahren durch folgende Eigenschaft aus: Der Aufschrei der Menschen, der dem schweigsamen Gott die Rede entreißt, mußte die Macht des Sprechens begründen. I 97
Um diesen allgemeinen Kern des Stückes herum wird sich nun der dramatische Ablauf als Aufeinanderfolge dieser verschie denen Rituale der Wahrheit, der Veridiktion anordnen, die schließlich notwendig sind, damit Ion in seine Heimat zurück kehren und sein Recht zu sprechen erlangen kann. Es handelt sich bei diesen verschiedenen Elementen der Veridiktion, wie Sie sich erinnern, in der Tat nicht um eine Entdeckung der Wahrheit durch Nachforschung und Untersuchung wie in König Ödipus. Vielmehr geht es um schwierige, kostspielige Sprechakte, die, trotz der Scham, durch die Lebhaftigkeit der Leidenschaften mühsam hervorgebracht werden, und zwar unter solchen Umständen, daß das Wahrsprechen immer von seinem Doppelgänger wie von einem Schatten begleitet wird: Lügen, Verblendungen, Täuschungen der Personen. Schema tisch gesehen, lassen sich vier große Episoden oder vier große Formen dieser Veridiktionen erkennen, die Ion Schritt für Schritt aus seinem anonymen Exil in Deiphi in seine gewisser maßen sprechende Heimat Athen bringen werden. Diese vier Elemente der Veridiktion sind folgende. Erstens haben wir die Veridiktion des Gottes, des Gottes von Delphi, des Gottes des Orakels. Eine Veridiktion, die, wie Sie sich erinnern, blockiert ist, verhindert durch den Fehltritt Apollons, durch die Ungerechtigkeit, die er begangen hat und auch durch die Scham, die er empfindet, diese Ungerechtigkeit eingestehen zu müssen. Das Orakel kann sich jedoch nicht schämen. Oder besser, wegen der Tatsache, daß der Gott des Orakels sich schämt, wird das Orakel nicht sprechen, es wird schweigen, mit der Ausnahme jedoch, daß es erstens Xuthos eine verklausulierte Antwort gibt und anschließend auf dem Weg Ions und Kreusas, dem Weg der menschlichen Leiden schaften und ihrem Treiben, eine Reihe von Zeichen ausstreut, die der Wahrheit gestatten, ans Licht zu kommen. Wir haben also eine blockierte und verhinderte Veridiktion der Götter. Zweitens haben wir die erste Veridiktion Kreusas in Form ei ner heftigen Verwünschung, die an den Gott gerichtet ist. Es ist die Verwünschung des Schwachen, der die Gerechtigkeit auf
seiner Seite hat und der dem Mächtigen seine Ungerechtig keit vorwirft. Diese erste Veridiktion vollzieht sich in der Ver zweiflung, der Verzweiflung Kreusas, die sie daran hindert zu erkennen, daß Ion ihr Sohn ist. In dieser Verblendung ge schieht die erste Veridiktion Kreusas. Die zweite Veridiktion Kreusas ist nicht mehr die Veridiktion der Verwünschung, son dern die Veridiktion des Eingeständnisses , das Eingeständnis gegenüber einem Vertrauten in einem Vertrauensverhältnis, das j edoch selbst durch die Tatsache geplagt, verb ogen und ver fälscht ist, daß der Vertraute Kreusa allmählich von ihrer Ver zweiflung zum Zorn führt und vom Zorn zur Absicht, Ion zu röten, den sie nicht als ihren Sohn erkennt. Aus diesem Vorha ben, ihren eigenen Sohn zu töten, wird nun schrittweise die \17ahrheit geboren. Schließlich die vierte, endgültige und tri umphierende Veridiktion, die eine Weihe vollzieht. Es ist die Yeridiktion der Götter, die Veridiktion Athenes und Apollons, in der die Macht der Vorhersage von Apollon auf Athene über geht und in der die Zukunft Athens aus dem Mund Athenes prophezeit und als eine Art von großem Prozeß erklärt wird, der sich von der Tyrannenmacht, die Ion von seinem Vater er hält, bis zur Organisation von Athen in vier Stämmen und bis z u einer Art von Elternschaftsvorrecht erstreckt, das die Stadt zunächst über die Ionier, dann aber auch über die Achäer und D orer ausüben kann. All dies soll natürlich vor dem Hinter grund der Täuschung geschehen, die Xuthos und die anderen "l':eiterhin glauben läßt, daß Ion nicht Apollons, sondern Xu rhos' Sohn ist. ::-\un wird aber (vielleicht ist es diese Stelle, wo das, was ich Ih nen letztes Mal gesagt habe, nicht ganz klar war) keine dieser Yier Veridiktionen - weder die der Götter, Apollons oder Athenes, noch die beiden menschlichen Veridiktionen Kreu sas , die Verwünschung und das Eingeständnis - im Text als parrhesia bezeichnet. Nur das wird, wie gesagt, parrhesia ge nannt, wonach Ion sein B estreb en richtet oder was zumind est für ihn eine Bedingung für seine Rückkehr nach Athen dar srellt. Nur dies, dieses politische Recht, in seiner Stadt den 1 99
Freimut im Reden auszuüben, wird parrhesia genannt. Keine der anderen Veridiktionen wird als parrhesia bezeichnet. Was ich Ihnen letztes Mal andeuten wollte, besteht einfach darin, daß die beiden Veridiktionen Kreusas (die Veridiktion der Ver wünschung und die Veridiktion des Eingeständnisses), die Eu ripides nicht parrhesia nennt, erst später mit diesem Begriff bezeichnet werden. Die Verwünschung des Starken durch den Schwachen, wobei der Schwache seine Gerechtigkeit gegen den Starken, der ihn unterdrückt, einfordert, wird später par rhesia genannt werden, wie man auch j ene vertrauensvolle Ö ff nung des Herzens parrhesia nennen wird, durch die man seine Fehler demjenigen eingesteht, der in der Lage ist, einen zu lei ten. In diesem Text j edoch wird das Wort parrhesia nur jenem Recht vorbehalten, das schließlich von Ion erlangt wird. Zusammenfassend läßt sich also folgendes sagen: Einerseits ist keiner der Götter Inhaber der parrhesia. Weder das so schweig same Orakel Apollons noch das verkündende Sprechen Athe nes am Ende des Stücks gehören dem Bereich der parrhesia an, und niemals werden die Götter in der griechischen Literatur mit parrhesia ausgestattet. Die parrhesia ist eine menschliche Praxis, sie ist ein menschliches Recht, ein menschliches Risiko. Zweitens stellt uns der Text des Ion drei Praktiken des Wahr sprechens vor. Eine davon wird von Euripides selbst in diesem Text parrhesia genannt. Wir können sie die politische oder po litisch-statusbezogene parrhesia nennen: Das ist das berühmte Statusvorrecht, das an die Geburt geknüpft ist und in einer be stimmten Art und Weise besteht, die Macht durch die Rede und das Wahrsprechen auszuüben. Das ist die politische par rhesia. Dann haben wir eine zweite Praxis, die an eine Situation der Ungerechtigkeit gebunden ist. Weit davon entfernt, das durch den Mächtigen über die Mitbürger ausgeübte Recht auf ihre Führung zu sein, ist es im Gegenteil der Schrei des Ohn mächtigen gegen denj enigen, der seine Gewalt mißbraucht. Dies wird in diesem Text noch nicht parrhesia genannt, son dern erst später. Man könnte es die gerichtliche parrhesia nen nen. Schließlich findet man in dem Text eine dritte Praxis des 200
\i;'ahrsprechens, die darin ebenfalls nicht als parrhesia bezeich ::et wird, sondern erst später. Diese Praxis könnte man die :noralische parrhesia nennen. Sie besteht darin, den Fehler ein zugestehen, der das Gewissen belastet, und zwar demjenigen ': inzugestehen, der einen leiten und einem helfen kann, aus der \�erzweiflung oder dem Gefühl herauszukommen, das man .:em eigenen Fehler gegenüber hat. Das ist die moralische par rhesia. Ich glaube also, daß wir in diesem großen Ritual der ver schiedenen Arten des Wahrsprechens, das das Grundgerüst des gan zen Stückes bildet, einerseits die Vorstellung erkennen können, die ausdrücklich politische parrhesia genannt wird, und andererseits die beiden Schemata oder Skizzen von Prakti ken der Wahrheit, die man später parrhesia nennt: die gericht \i.che und die moralische parrhesia. Diese B emerkungen soll : e n , wenn auch nur schematisch, aufklären, was man in dem Stück über die parrhesia findet. Ich möchte j edoch noch auf die politische parrhesia eingehen, da sie ja im Zentrum des Stückes steht - die beiden anderen (die gerichtliche und die moralische) dienen nur als Mittel und werden nicht einmal parrhesia ge nannt. Kommen wir also auf das, was auf dem Spiel steht, auf das Zentrum des Stückes zurück, auf jene politische parrhesia, ,:Ee Ion braucht, um nach Athen zurückzukehren. Worum geht es dabei ? E!"stens glaube ich, daß die parrhesia, die Ion so dringend be :�.ötigt und die für seine Rückkehr notwendig ist, zunächst eine :iefe Verbindung zur Demokratie hat. Man kann sagen, daß es eine Art von Zirkularität zwischen Demokratie und parrhesia gibt, denn zu welchem Zweck will Ion nach Athen zurückkeh ren, wenn es sein Schicksal ist, das zu tun ? Nun, er soll die Um wandlung vollziehen, mit der sein Name verbunden sein wird, d. h. die Gliederung von Athen in vier Stämme gemäß j ener Verfassungsform, die den verschiedenen Einwohnern Athens das Recht verleihen wird, ihre Meinung über Probleme zu äu Bern, die die Stadt betreffen, und die Führer zu wählen. Damit Ion nach Athen zurückkehren und die Demokratie begründen kann, braucht er die parrhesia. Die parrhesia wird folglich in 20 1
der Person Ions die Grundlage der D emokratie selbst sein, zu mindest aber ihr Ursprungs- oder Ankerpunkt. Damit die De mokratie möglich ist, muß es parrhesia geben. Aber umgekehrt ist die parrhesia, wie Sie wissen - und der Text von Polybios, den ich vorhin zitiert habe, zeigt das auch -, einer der charakte ristischen Züge der Demokratie. Sie ist eine der wesentlichen Dimensionen der Demokratie. Das bedeutet aber, daß die De mokratie notwendig ist, damit die parrhesia möglich wird. Für die Demokratie ist die parrhesia notwendig, und für die par rhesia ist die Demokratie notwendig. Wir haben hier eine we sentliche Zirkularität, und in diese Zirkularität möchte ich nun eintreten und versuchen, die Beziehungen zu erhellen, die zwi schen der parrhesia und der Demokratie bestehen, d. h. ganz einfach, das Problem des Wahrsprechens in der Demokratie in Angriff zu nehmen. Zunächst muß das begriffliche Feld - immer noch in diesem Stück Ion, seien Sie b eruhigt, ich werde bald damit fertig sein -, mit dem dieser Begriff verknüpft ist, etwas in Erinnerung ge bracht werden. Sie erinnern sich, daß Ions große Tirade mit folgender B ehauptung endete: Wie dem auch sei, ich möchte jedenfalls nach Athen zurückkehren, aber nicht, ohne zu wis sen, wer meine Mutter ist. Ich muß wissen, wer meine Mutter ist, weil ich in Athen keine parrhesia haben werde, wenn ich das nicht weiß. In dieser großen Tirade, die wir vor zwei Wo chen erläutert haben, war j ene Notwendigkeit, j enes Bedürfnis Ions nach der parrhesia an eine Reihe von Dingen gebunden. Erstens an den Willen Ions, im ersten Rang unter den Bürgern zu sein. Er verwendet den Ausdruck »proton zygon«, was » er ster Rang« bedeutet.2 Unter » erstem Rang« muß man, wie ge sagt, nicht verstehen, der erste vor allen anderen zu sein, son dern eher: in der kleinen Gruppe von Leuten zu sein, die die erste Reihe der Bürger ausmachen. Es ist, glaube ich, wichtig, das Bild einer Reihe von Soldaten an vorderster Front im Ge dächtnis zu behalten. Es handelt sich um eine Gesamtheit von Individuen, die im ersten Rang stehen. Wenn er die parrhesia ha ben will, dann deshalb, um in diesem » ersten Rang<< zu sein.
z"",reitens war der Wille, die parrhesia zu erlangen, in dieser Ti .:-ade mit einer sehr interessanten Klassifikation der Bürger ver bunden, die in einem anderen von Euripides'3 Stücken nicht in _;bhängigkeit vom Reichtum, sondern in Abhängigkeit vom Problem der dynamis (von der Gewalt, von der ausgeübten :\facht, der Machtausübung) vorgenommen wurde. Er unter schied drei Kategorien von Bürgern: die adynatoi (die, die kei ::e lviacht haben, die keine Macht ausüben und die, kurz gesagt, iie Leute des Volkes sind); zweitens diejenigen, die hinrei chend vermögend und von hinreichend edler Herkunft sind, u m sich um die Angelegenheiten des Staats zu kümmern, die sich aber tatsächlich nicht darum kümmern; und dann drittens diej enigen, die sich wirklich um den Staat kümmern.4 Die er sten sind also die Ohnmächtigen. Die zweiten sind die soph oi die Weisen). Und die anderen, nun, das sind die Mächtigen, d i e sich um den Staat kümmern. Es ist klar, daß die parrhesia diese dritte Kategorie betrifft, da einerseits j ene, die unfähig und ohn mächtig sind, das Wort nicht ergreifen dürfen; über diej enigen, iie sich nicht um die Angelegenheiten des Staats kümmern, sagt :.ier Text ganz deutlich, daß sie schweigen. Und wenn sie schwei g:oen, dann gebrauchen sie auch die parrhesia nicht. Die parrhe :is betrifft also jene, die sich um den Staat kümmern. :Jrittens warf der Gebrauch der parrhesia in demselben Text :Hensichtlich eine Reihe von Problemen auf oder setzte viel ,-nehr denjenigen, der sich auf die parrhesia stützte, einer Reihe ·;·on Risiken und Gefahren aus, nämlich dem Haß der Leute aus iem Volk, dem Haß der adynatoi (der Ohnmächtigen); dann dem Gelächter der sophoi (der Weisen); und schließlich der Ri ·:alität und Eifersucht j ener, die sich um den Staat kümmern. :\hn kann also sagen, daß die parrhesia eine bestimmte Posi :ion bestimmter Personen in der Stadt charakterisiert, eine Po s i rion, die nicht einfach durch die Bürgerschaft oder durch den S:arus festgelegt ist. Vielmehr zeichnet sie sich durch eine Dy namik, eine dynamis aus, durch eine bestimmte Ü berlegenheit, die auch im Ehrgeiz und in dem B emühen besteht, eine solche Position zu erreichen, in der man die anderen lenken kann. 20 3
Diese Ü berlegenheit ist keinesfalls mit d er d es Tyrannen iden tisch, welcher gewissermaßen die Macht ohne Rivalen ausübt, auch wenn er Feinde hat. Die Ü berlegenheit, die mit der par rhesia verbunden ist, ist eine Ü berlegenheit, die man mit ande ren teilt, aber in Form der Konkurrenz, der Rivalität, des Kon flikts, des Lanzenstechens. Es ist eine agonistische Struktur. Ich glaube, daß die parrhesia viel eher als an einen Status an eine Dynamik und einen Kampf oder Konflikt geknüpft ist, auch wenn sie einen bestimmten Status impliziert. Die parrhesia hat also eine dynamische und eine agonistische Struktur. Wir sehen nun aber, daß die parrhesia in diesem agonistischen Feld, in diesem dynamischen Prozeß, durch den ein Indivi duum gewissermaßen innerhalb des Staats seinen Ort wechselt, um dort den ersten Rang einzunehmen, in diesem andauernden Lanzenstechen mit seinesgleichen, in diesem Prozeß, in dem sich der Vorrang der ersten Bürger innerhalb eines agonisti schen Feldes behauptet, überall in diesem Text ausdrücklich mit einer Art von Aktivität verknüpft ist, die folgendermaßen bezeichnet wird: polei kai logo chrestai.5 Polei chrestai bedeu tet, sich um die Stadt zu kümmern, ihre Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Logo chrestai bedeutet, sich der Rede zu be dienen, aber der vernünftigen und wahren Rede. Ich glaube also, daß man dies alles so zusammenfassen kann, daß die par rhesia viel weniger einen Status, eine statische Position, ein klas sifikatorisches Merkmal bestimmter Individuen in der Stadt charakterisiert als eine Dynamik, eine B ewegung, die j enseits der reinen und bloßen Zugehörigkeit zur Körperschaft der Bürger das Individuum in eine Position der Ü berlegenheit ver setzt, in der es sich um die Stadt mittels der Ausübung des wah ren Diskurses kümmern kann. In einer Stellung der Ü berle genheit, wo man sich in ständiger Reibung mit den anderen befindet, Wahres zu sagen, um die Stadt zu regieren, das ist, glaube ich, mit dem Spiel der parrhesia verbunden. Kommen wir nun auf Polybios' Text zurück, zu diesem Text, der die Demokratie durch isegoria und parrhesia charakteri sierte. Mir scheint, daß das, was ich Ihnen etwas zu ausführ-
:.:eh in bezug auf Ion in Erinnerung gerufen habe und was das S:-ü.ck explizit über die parrhesia sagt, gestatten wird, die sehr
merkwürdige Aneinanderreihung von isegoria und parrhesia .l.ls grundlegende Merkmale der wahren Demokratie aus der Sicht von Polybias zu erklären. Was ist die isegoria ? Sie ist das R.echt zu sprechen, das statusb ezogene Recht zu sprechen. Sie oesreht darin, daß j eder in Abhängigkeit von der Vedassung cier Stadt (ihrer politeia) das Recht hat, seine Meinung abzuge Sen, wie gesagt, entweder, um sich vor Gericht zu verteidigen, ,_:.der durch die Wahl oder eventuell dadurch, daß er das Wort �rgreift. Dieses Recht, zu sprechen, ist für die Bürgerschaft �onstitutiv, und außerdem ist es einer der Bestandteile der Sradtvedassung. Andererseits ist parrhesia sowohl mit der po ,·:reia (mit der Vedassung der Stadt) als auch mit der isegoria ·,·erbunden. Es ist klar, daß es keine parrhesia geben kann, wenn dieses Bürgerrecht nicht existiert, das Wort zu ergreifen, die �-1einung durch die Stimmabgabe auszudrücken, vor Gericht 2ls Zeuge aufzutreten usw. Damit parrhesia möglich ist, muß es =lso diese politeia geben, die j edem das gleiche Recht zu spre chen verleiht (die isegoria ). Aber die parrhesia ist etwas ande res . Sie ist nicht einfach das verfassungsmäßige Recht, das Wort z-u ergreifen. Sie ist ein Element, das innerhalb des notwendi ;en Rahmens der demokratischen politeia den Individuen ge s:attet, einen gewissen Einfluß aufeinander auszuüben, indem s!e allen das Recht zu sprechen verleiht. Sie ermöglicht be s:immten Individuen, unter den ersten zu sein und, indem sie s ich an die anderen wenden, ihnen zu sagen, was sie denken, <-·as sie für wahr halten, was sie wirklich für wahr halten - das ist die Bedeutung von chrestai logo - und dadurch, daß sie das Wah re sagen, das Volk durch gute Ratschläge zu überzeugen, um auf diese Weise die Stadt zu leiten und sich um sie zu kümmern. Die isegoria legt nur den verfassungsmäßigen und institutio rdlen Rahmen fest, in dem die parrhesia als freie und daher mutige Handlung von einigen auftritt, die sich hervortun, das \\'ort ergreifen, die anderen zu überzeugen und zu leiten versu chen, und zwar mit allen Risiken, die das mit sich bringt. .
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Wenn ich nun lange auf dieses Spiel der parrhesia eingegangen bin und diesen Text des Ion etwas schleppend gelesen habe, dann deshalb, weil man darin recht deutlich die Art und Weise erkennt, wie sich zwei Gruppen von Problemen trennen, un terscheiden und miteinander verbinden. Erstens die Gruppe von Problemen, die man Probleme der politeia nennen kann: der Verfassung, des Rahmens, der den Status der Bürger, ihre Rechte, die Art und Weise ihrer Entscheidungsfindung, die Wahl ihres Herrschers usw. festlegt. Zweitens die Grupp e von Problemen, die man Probleme der dynasteia nennen könnte, um sie von denen der politeia zu unterscheiden. Das griechi sche Wort dynasteia bezeichnet die Macht, die Ausübung der Macht - später nimmt es den Sinn der Oligarchie an. Sie wer den leicht einsehen, warum. Aber nehmen wir das Wort in sei nem allgemeinsten Sinn: Es handelt sich im Grunde um die Ausübung der Macht oder um das Spiel, durch das die Macht in einer Demokratie tatsächlich ausgeübt wird. Die Probleme der politeia sind die Probleme der Verfassung. Ich würde sagen, daß die Probleme der dynasteia die Probleme des politischen Spiels sind, d. h. der Bildung, Ausübung, Begrenzung, auch der Garantie des Einflusses, der von bestimmten Bürgern auf an dere ausgeübt wird.6 Die dynasteia ist auch die Gesamtheit der Probleme der Verfahrensweisen und Techniken, durch die diese Macht ausgeübt wird (in der griechischen bzw. atheni schen Demokratie sind das im wesentlichen: die Rede, die wahre Rede, die wahre Rede, die überzeugt). Schließlich ist das Problem der dynasteia die Frage, was der Politiker in sei nem Wesen, in seiner eigentlichen Person, in seinen Eigen schaften, in seiner B eziehung zu sich selbst und zu den ande ren, in seiner Moral, in seinem ethos ist. Die dynasteia ist das Problem des politischen Spiels, seiner Regeln, seiner Instru mente, des Individuums, das es ausübt. Es ist das Problem der Politik - ich möchte sagen als Erfahrung, d. h. der Politik, ver standen als eine bestimmte Praxis, die bestimmte Regeln befol gen muß, welche auf gewisse Weise die Wahrheit anzeigen, und die seitens desj enigen, der dieses Spiel spielt, eine bestimmte 206
:?o:-m der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen erfor:\Er scheint, daß um diesen Begriff der parrhesia ein ganzes fdd politischer Probleme entsteht oder daß mit diesem Begriff
z:.:mindest Probleme verbunden sind, die sich von den Proble ::n e: n der Verfassung, des Gesetzes, also der Organisation der S:adr unterscheiden. Es gibt diese Probleme der Verfassung der S:adt, die Probleme der politeia. Sie haben ihre eigene Form, sie erfordern eine bestimmte Art von Analyse, und sie befinden ;ich am Ursprung einer Erscheinungsform politischer Reflexi :c n darüber, was das Gesetz ist, was die Organisation einer Ge ;dlschaft ist und was der Staat sein soll. Zweitens sind die Pro bleme der dynasteia, die Probleme der Macht im strengen Sinn, Probleme der Politik, und nichts erscheint mir gefährlicher als :c-ner berüchtigte Ü bergang von der Politik zum Politischen ::nir sächlichem Artikel (»das« Politische), der mir in vielen zeirgenössischen Analysen7 dazu zu dienen scheint, das Pro :. : em und die Gesamtheit der besonderen Probleme zu verdek ken, nämlich die Probleme der Politik, der dynasteia, der Aus :ibung des politischen Spiels, und zwar des politischen Spiels ;ls Erfahrungsfeld mit seinen Regeln und seiner Normativität, z.ls Erfahrung, insofern dieses politische Spiel an das Wahrspre :1-:en geknüpft ist und insofern es seitens derj enigen, die es be :-reiben, eine bestimmte Beziehung zu sich selbst und zu den "-'""- d eren erfordert. Das ist die Politik, und mir scheint, daß das Problem der Politik (ihrer Rationalität, ihrer B eziehung zur Wahrheit, der Person, die sie ausübt) im Umfeld der Frage ::ach der parrhesia entsteht. Außerdem können wir sagen, daß die p arrhesia eigentlich ein Begriff ist, der eine vermittelnde Rolle zwischen der politeia und der dynasteia spielt, zwischen dem Problem des Gesetzes und der Verfassung sowie dem Pro blem des politischen Spiels. Die Stellung der parrhesia wird dur c h die politeia festgelegt und garantiert. Die parrhesia, das '\X"ahrsprechen des Politikers, gewährleistet aber auch das ange ::nessene Spiel der Politik. In dieser Vermittlungsrolle scheint mir die Bedeutung der parrhesia zu bestehen. Jedenfalls meine 207
ich, daß hier die Problematik der immanenten Machtbeziehun gen in einer Gesellschaft verwurzelt ist, die im Unterschied zum juristisch-institutionellen System dieser Gesellschaft be wirkt, daß sie effektiv regiert wird. Die Probleme der Gouver nementalität erscheinen - erstmals in ihrer B esonderheit, in ih rer komplexen Beziehung, aber auch in ihrer Unabhängigkeit im Hinblick auf die politeia - im Umfeld dieses Begriffs der parrhesia und der Machtausübung durch den wahren Diskurs und werden in diesem Umfeld formuliert. Nach dieser Feststellung möchte ich nun den Text des Ion ver lassen und zur Analyse einer Reihe weiterer Texte übergehen, die uns gestatten werden, das Proj ekt etwas weiter fortzufüh ren, das man »die Genealogie der Politik als Spiel und als Er fahrung« nennen könnte. Ich möchte zunächst den Text des Ion mit einer Reihe anderer Texte von Euripides vergleichen, die ich viel knapper behandeln werde, in denen ebenfalls von der parrhesia die Rede ist und in denen die Verwendung des Wortes parrhesia einerseits ermöglicht, eine Reihe von Dingen zu bestätigen, die ich im Hinblick auf Ion gesagt habe, und an dererseits weitere Themen oder weitere Probleme hervorzuhe ben. In den übrigen Texten von Euripides gibt es vier weitere Verwendungsweisen des Wortes parrhesia, vier weitere Texte, in denen das Wort parrhesia verwendet wird. Die erste Verwendung haben wir in einem Stück, das den Titel Die Phoinikierinnen trägt und in dem Euripides die berühmte Dynastie des Ö dipus schildert (die von Eteokles und Polynei kes ), worin den Tatsachen oder der Handlung zufolge, die er als Vorlage nimmt, Polyneikes im Grunde die Demokratie, die Position des Demokraten, und Eteokles im Gegensatz dazu die Position des Tyrannen vertritt. Nach der Handlung, die er als Vorlage wählt, lebt J okaste noch immer. Sie steht zwischen ih ren beiden Söhnen, dem Demokraten und dem Tyrannen. Die Handlung schreibt nun vor, daß Polyneikes, der aus Theben verbannt wurde - während Eteokles dort geblieben ist und die Macht ausübt -, Jokaste begegnet. Jokaste b egegnet ihrem Sohn Polyneikes und befragt ihn darüber, wie er die Verban208
':ung empfindet. >>Der Heimat fern zu sein«, fragt sie, >>fällt es iir schwer ? << Polyneikes antwortet: >>Sehr schwer ! Viel schwe
als ich sagen kann. « Jokaste: >>Worin denn liegt's ? Was pei :-C.:gr den Verbannten ? « Polyneikes: >>Vor anderm eins<< : auch :: ::hei parrhesian (er hat die parrhesia nicht; >>ihm fehlt der Rede F .:-c: ih ei t << heißt es in der Ü bersetzung). J okaste: >> Ein Sklav', der, v.·;s er denkt, nicht sagen darf (me legein ha tis phronei).<< Poly :::. cikes : >>Des Mächt'gen Unverstand muß er ertragen« (wenn s:m verbannt ist und also keine parrhesia hat). Jokaste fügt (inzu: >>Schrecklich, dem Narren helfen, Narr zu sein ! «, j eden ::lls nicht weise sein zu können, wenn man unter der Macht ier Unweisen steht (tois me sophois).8 Wie gesagt, ich möchte :-eicht zu lange auf diese Passage eingehen, sondern nur auf fol gendes hinweisen: Sie sehen, daß es hier - was schon im Ion :;mz deutlich war - eine notwendige Verbindung zwischen der ::czrrhesia und dem Status einer Person gibt. Wenn j emand aus s ;:iner Stadt verj agt wurde, wenn er nicht mehr zuhause ist, ::: enn er also verbannt ist, kann er dort, wo er als Verbannter : ::bt, natürlich nicht die Rechte eines Bürgers zu Hause und 2-:.:ch keine parrhesia haben. Im Ion fanden wir noch etwas V.:'eiteres, nämlich daß man von dem Moment an, wo man die pczrrhesia nicht mehr hat, wie ein Sklave (doulos) ist.9 Es gibt j e ioch im Vergleich mit Ion etwas Neues, nämlich Folgendes: 'X:"enn man die parrhesia nicht mehr hat, so der Text, ist man ge nvungen, die Dummheit der Mächtigen zu ertragen. Und es gibt nichts Schlimmeres als mit den Verrückten selbst verrückt, sit den Dummköpfen selbst dumm zu sein. Was zeigt nun und was bedeutet die Erwähnung der Tatsache, daß man ohne par .,J;esia gewissermaßen den Wahnvorstellungen der Mächtigen c:merworfen ist ? Nun, sie zeigt, daß die Funktion der parrhesia gerade darin besteht, die Macht der Mächtigen begrenzen zu �önnen. Wenn es parrhesia gibt und der Mächtige anwesend ist der Mächtige, der verrückt ist und s einen Wahnsinn den l..""l d eren aufzwängen will -, was tut dann derj enige, der die par :rhesia ausübt ? Er erhebt sich, ergreift das Wort und sagt die \\"ahrheit. Gegen die Dummheit, gegen den Wahnsinn, gegen �::r,
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die Verblendung des Mächtigen wird er die Wahrheit sagen und dadurch den Wahnsinn des Mächtigen begrenzen. Wenn es keine parrhesia gibt, sind die Menschen, die Bürger und alle an deren dem Wahnsinn des Mächtigen ausgeliefert. Und dann ist nichts schmerzhafter, als gezwungen zu sein, den Wahnsinn der Wahnsinnigen mitzumachen. Die parrhesia wird also den Wahnsinn des Mächtigen durch das Wahrsprechen dessen be grenzen, der zwar gehorchen muß, der aber gegenüber dem Wahnsinn des Mächtigen berechtigt ist, ihm das Wahre entge genzuhalten. Der zweite Text, in dem man den Begriff der parrhesia findet, ist ein Text aus der Tragödie Hippolytos, und zwar am Ende der Geständnisse von Phaidra, am Anfang des Stückes. Phaidra ge steht den Fehler oder vielmehr die Liebe ein, die sie für Hippo lytos empfindet. Sie bekennt sie, wie Sie wissen, gegenüber ihrer Dienerin, j ener, die zur Oinone der Racineschen Komö die wird. Es kommt ein Zeitpunkt, wo sie nach diesem Einge ständnis ihren eigenen Fehler anerkennt und gewissermaßen das Bewußtsein dieses Fehlers besiegelt und alle Frauen ver flucht, die ihr Bett entehren. 1 0 Diesen Fluch rechtfertigt sie auf dreierlei Weise. Erstes Argument: weil die Frauen, die so ihr Ehebett entehren, ein schlechtes Beispiel geben; wenn die edlen Frauen nicht zögern, solche Schande zu begehen, dann werden die anderen es erst recht tun.1 1 Zweites Argument: Wie soll man seinem Lebensgefährten, seinem Gatten, den man betrügt, ins Gesicht sehen ? Die Nacht selbst könnte reden. Man muß die offensichtliche, öffentliche Entehrung fürchten, die man seinem Gatten antut. 1 2 Drittens schließlich das Problem der Kinder. Sie sagt: >>als freie Männer freimütig (parrhesia), furchtlos sollen sie die Stadt Athen bewohnen, stolz auf ihre Mutter. Selbst der Beherzte wird ein feiger Sklav', wenn er um seiner Eltern Schande weiß . « 1 3 Das bedeutet, daß die parrhesia in einem solchen Fall als Recht erscheint, das man ausüben kann, aber nur unter der B edingung, daß die Eltern sich keines Vergehens schuldig gemacht haben. Was für ein Vergehen ? Es handelt sich dabei keineswegs um ein solches Vergehen, das ei210
des Bürgerstatus berauben könnte, das jemanden und sei Eltern also mit einer rechtlichen Schmach belegen könnte. \-:elmehr ist es ein moralisches Vergehen. Die bloße Tatsache, 3.aß jemand, ein Sohn, sich der Vergehen einer Mutter oder ei ::: e s Vaters bewußt sein könnte, so der Text, macht ihn zum Sklaven. Das bedeutet abermals, daß gemäß dem Prinzip, wo ::: c. ch es für einen Edelmann dem Sklaventurn gleichkommt, ::icht sprechen zu dürfen, das B ewußtsein des Vergehens des \-aters oder der Mutter hinreicht, einen Mann zu einem Skla ,,- � n zu machen und ihn des Freimuts im Reden zu berauben. Hier ist es vollkommen klar, daß die parrhesia nicht einfach iurch den Status verliehen wird. Auch wenn der Status des l}:irgers für die parrhesia notwendig ist, wird noch etwas mehr ;�fordert: Die moralische Qualität der Nachkommen, die mo ::-:;.lischen Qualitäten der Familienmitglieder - und daher auch der Vorfahren - sind ebenfalls erforderlich. Es handelt sich also :: m eine persönliche Qualifikation, die notwendig ist, um die ::arrhesia genießen zu können. Den dritten Text finden wir in Die Bakchen. Dort gibt es eine -, -erwendung des Wortes parrhesia, die zwar noch randständiger :;:: als in den vorangehenden Texten, die aber dennoch interes SJ.nt ist. Dieses Mal wird das Wort von einem Boten verwendet, 3._ h. von einem Diener, der Pentheus eher unangenehme N ach :-ishten überbringt, die sich auf die Ausschweifungen der B ak .:::: en beziehen. Der Diener tritt also vor Pentheus und sagt ihm :olgendes: Ich möchte wissen, ob ich dir diese Nachrichten ;; b er die Ausschweifungen der B akchen) in völliger Offenheit p:rrrhesia) berichten oder ob ich meine Zunge zügeln soll.14 Denn >>ich fürchte mich vor deiner raschen, zornmüt'gen, allzu ;,;öniglichen Art. « Worauf Pentheus erwidert: »Sprich nur ! \,-on mir wird dir kein Haar gekrümmt. « 1 5 In der Tat werden J.ann die Bakchen bestraft. Hier haben wir also eine Verwen i:lng des Wortes parrhesia, die sich dieses Mal nicht auf den S::<.tus des Regierenden oder des Mannes bezieht, der sich unter im ersten Bürgern hervortut, das Wort ergreift und die ande :-en überzeugt und leitet. Es ist die parrhesia des Dieners, aber ,-,� n
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eben des Dieners, der in einer ähnlichen Situation ist, in der wir Kreusa gesehen haben. Er ist schwach. Er steht vor j emandem, der mächtiger ist als er, und insofern geht er ein Risiko ein. Er geht das Risiko ein, den Zorn dessen heraufzubeschwören, an den er sich wendet, und er möchte nicht sagen, was er zu sagen hat, wenn er sich nicht sicher ist, daß der Freimut, mit dem er es sagen wird (seine parrhesia), nicht bestraft werden wird. Pentheus antwortet nun als guter und weiser Herrscher: Mir liegt daran, die Wahrheit zu wissen, und du wirst niemals da für bestraft werden, daß du mir die Wahrheit gesagt hast. Du kannst sprechen, du hast nichts von mir zu befürchten, »von mir wird dir kein Haar gekrümmt« . Der Diener, der die Wahr heit sagt, tut seine Pflicht. Pentheus garantiert ihm, daß er nicht bestraft werden wird. Das könnte man das parrhesiastische Abkommen nennen: Wenn der Mächtige ordentlich regieren will, muß er akzeptieren, daß diejenigen, die schwächer sind als er, ihm die Wahrheit sagen, selbst wenn diese unangenehm ist. Schließlich ist der vierte Text, der zweifellos wichtiger als die drei vorangehenden ist und in dem das Wort parrhesia eben falls verwendet wird, die Tragödie Orestes, und zwar in den Vers en 866 ff. Worin geht es in dem Stück und an dieser Stelle der Handlung ? Orestes hat Klytaimnestra getötet, um den Tod Agamemnons zu rächen. Nach dem Mord an seiner Mutter wurde Orestes von den Argivern und j enen, die auf der Seite Klytaimnestras stehen, ergriffen. Er wird nun vor Gericht ge führt, d. h. vor die Versammlung der Bürger von Argos. Und die Bürger von Argos sollen über ihn richten. Sie sollen über ihn richten, und der Prozeß wird nun in dem Stück von einem Boten geschildert, d er die Nachricht an Elektra überbringt: »Als Argos' Menge vollgedrängt im Kreise war, trat auf ein He rold und begann: >Wer unter euch verlangt zu reden, ob Ore stes sterben soll, der Muttermörder ?< [das ist genau die Formel, die vor der athenischen ekklesia gebraucht wurde, wenn es dar um ging, j emanden für ein so schweres Verbrechen zu verurtei len. Die Formel >>Wer will das Wort ergreifen ? « ist also rituell.
Janach werden sich nacheinander vier Personen erheben; !>L F.] Da stand auf Talthybios, der deinem Vater [Agamem ::on; M. F.] Ilion zerstören half [Talthybios ist bei Homer der Herold von Agamemnon, der das Wort der Mächtigen verkün ::iet, der für sie spricht; M. F.]. Er redet doppelsinnig, denn er irönte stets den Machtbegabten: deinen Vater pries er hoch, 2och deinen Bruder lobt er nicht, sein böses Wort in gutes hül .: end; denn er hab in seiner Tat ein schlimmes Vorbild aufge s:ellt: und immerfort warf er Aigisthos' Freunden zu den fro :: e n Blick. Das ist j a dieser Menschen Art: den Glücklichen ·0. mschwärmen stets Herolde; wer die Macht besitzt, wen hohe 'X"ürden schmücken, der ist ihnen wert. Nach ihm erhob sich Diomedes, Argos' Fürst [Diomedes ist bei Homer zugleich der Held des Mutes und der Held des guten Rates; M. F.] . Er scimmte wider deinen [Elektras; M. F.] und des Bruders [Ore s:es'; M. F.] Tod; wenn euch Verbannung strafe, s ei das Volk gesühnt. Beifallend riefen viele laut, er rede wohl; die anderen ;,;:halten. Und nach ihm stand einer auf von zügelloser Zunge, ;:ark durch frechen Mut, gezwungen nur Argeier, nicht aus Argos s elbst, auf lauten Beifall pochend und auf törichten Frei ::: u t [Sie sehen: ich glaube hier ist die Ü bersetzung etwas wi cersinnig], beflissen, Schmach zu häufen auf das Volk. Der riet, Orestes auf den Tod zu steinigen und dich: er sprach als einer, 2er auf euren Mord es abgesehen, von Tyndareos aufgestellt. !:: in andrer, nun auftretend, sprach entgegen ihm [dem mit der zügellosen Zunge; M. F.], nicht lieblich zwar im Äußern, doch eL.'1 edler Mann [ein mutiger Mann: andreios; M. F.]; die Stadt b·e sucht er selten und des Marktes Rund, sein Feld bestellend Jutourgos) - was allein das Land erhält - doch auch erfahren, ";enn er will, im Redekampf; unsträflich lauter wandelt er s ein Leben lang. Er riet, Orestes, Agamemnons Heldensohn, zu kränzen, der den Vater rächt aus eignem Trieb und j enes schnö de, gottvergessne Weib erschlug, das j edem Mann sich den ,\rm zu waffnen wehrt und aus der Heimat auszuziehn in fer n e n Krieg, wenn, die zu Hause blieben, ihm des Hauses Hut, sein Weib, verführen und des Gatten Bett entweihn. Und edle 213
Männer fanden gut, was er gesagt . « 1 6 Die edlen Männer gaben ihm Recht. Aber Sie werden sehen, daß die Angelegenheit da mit nicht erledigt ist. Wir haben hier also das typische Bild, die getreue Darstellung eines Prozesses mit anerkannten rituellen Formeln. Es gibt vier Redner, die das Wort ergreifen (logo chrestai: sich des Iogos be dienen) . 1 7 Zuerst Talthybios, der Herold also, d. h. der offiziel le Sprecher, der Nachrichten überbringt und der im Namen der Machtausübenden spricht, als Botschafter im Ausland, Spre cher in der Stadt usw. Definitionsgemäß ist seine Rede nicht frei, da er ja gerade die Funktion hat, die Rede derer zu über mitteln, die schon Macht ausüben. Deshalb kann er sich nicht in seinem eigenen Namen und für sich selbst erheben und sa gen: Ich werde euch meine Meinung und meine Gedanken kundtun. Seine Rede ist die eines Leibeigenen, sie gehorcht, sie ist die Rede der bereits bestehenden Macht. Es ist merkwürdig, daß der Text verschweigt, welchen Rat er der Versammlung gibt. Es wird bloß gesagt, daß seine Worte dichomytha 1 8 sind: doppeldeutige Worte, die der Dynastie von Agamemnon, Orest und Elektra usw. entgegenkommen, da sie noch die Mächtigen sind; andererseits müssen sie aber auch Ä gisthos gefallen. Und deshalb ist dieser Rat, dessen Inhalt wir, wie gesagt, nicht ken nen, dichomythos (eine doppeldeutige Rede). Ihm gegenüber haben wir Diomedes, der ebenfalls ein Held aus der Ilias ist, ein mythischer Held, der ein Vorbild an Mut und ein hinreißendes B eispiel von Sprachgewalt ist. Er wird - hier ist der Gegensatz zur vorangehenden Person sehr deutlich und sehr interessant - eine maßvolle Meinung abgeben. Während der eine eine doppeldeutige Sprache verwendet, wird Dieme des gewissermaßen den mittl eren Weg, den gemäßigten Weg zwischen den beiden Extremen wählen. Während der eine die beiden Extreme vorstellt und die beiden Ratschläge einander überlagert, um jedermann zufriedenzustellen, wird Diomedes den mittleren Weg einschlagen. Er wird zwischen den Anhän gern des Freispruchs und den Anhängern des Todesurteils eine gemäßigte Entscheidung vorschlagen, nämlich die weise Ent214
-;,:heidung des Exils. Während Talthybios' dichomytha dazu .; ::macht sind, j edermann zufriedenzustellen, wird Diomedes' ;::mäßigte und mittlere Rede die Zuhörerschaft dagegen in z,<;ei Teile spalten. Es gibt, so der Text, diej enigen, die ihm zu ;:i mmen, und j ene, die ihn tadeln. Der eine will von allen Zu s:immung erhalten. Das ist natürlich der Schmeichler. Dann gibt es j ene, die den mittleren Weg einschlagen und dadurch die \�ersammlung in die Zustimmenden und die Tadelnden auf SDalten. '3Tir haben hier zwei homerische Persönlichkeiten, zwei Perso :: e n , die der Legende entstammen. Die beiden folgenden Per ; .o n e n sind dagegen unmittelbar aus der Geschichte Athens c ::rlehnt, und zwar zu der Zeit, als das Stück geschrieben wur .i e . Das Stück wurd e 408 geschrieb en - wir werden gleich dar "-d zurückkommen -, d. h. zehn Jahre nach Ion . Während die >.e r zehn Jahre hat das Problem der parrhesia, das Problem der ? Jliteia und der dynasteia, das Problem der Machtausübung in ier athenischen Verfassung, eine neue Dimension, Intensität :.:nd Dramatik angenommen. Jedenfalls haben wir es mit zwei Personen zu tun, die sich wie eine bürgerliche oder gar bour ;•e oise und zeitgemäße Nachbildung oder Wiederholung der c;:iden homerischen Personen ausnehmen (der Held und der Herold, Diemedes und Talthybios). Worin bestehen ihre nach .;ebildeten Eigenschaften ? 'X"ie wird der mit der ungezügelten Sprache, der Scholiast iie griechische Ü berlieferung sagte, daß diese Person mit der :.:ngezügelten Sprache die Nachbildung, die Karikatur des be :-"jchtigten Demagogen Kleophontes1 9 sei - nun charakteri ·;iert ? Er wird durch seine Heftigkeit und Kühnheit charakte ::siert. Er wird durch die Tatsache charakterisiert, daß er kein \"ollargeer ist und der Stadt gewaltsam aufgedrängt wurde. Wir ;: nden also folgendes Problem wieder: Der wahre Parrhesiast, .i.;:r die richtige parrhesia gebraucht, muß ein Vollbürger, ein ::l:eingesessener Bürger sein. Er muß, wie in der Dynastie des E rechtheus, vor Ort geboren sein. Jene, die später das Stadt cecht erworben haben und die nachträglich assimiliert wurden, 21 5
ohne daß ihre Familie zur Körp erschaft der Bürger gehört, können nicht wirklich angemessen und ordentlich die parrhe sia ausüben. Die parrhesia der dritten Figur ist amathes, heißt es im Text, d. h. ungebildet, grob, ungeschliffen. 20 Sie ist eine parrhesia, die, wenn sie amathes ist, sich nicht an der Wahrheit orientiert. Sie ist nicht in der Lage, in einem vernünftigen und der Wahrheit verpflichteten logos ausgesagt zu werden. Was kann sie dann nur tun ? Nun, sie kann dem Text zufolge überre den (pithanos).21 Sie kann auf die Zuhörer einwirken, sie kann sie mitreißen, sie kann zu einer Entscheidung führen. Aber sie führt nicht dazu, weil sie Wahres sagt. Sie kann zu einer Ent scheidung führen, obwohl sie nichts Wahres zu sagen weiß, und zwar durch die Verfahren der Schmeichelei, der Rhetorik, der Leidenschaft usw. Das ist es, was ins Unglück führen wird. Die vierte Person ist ebenfalls eindeutig ein Zeitgenosse, dem man keinen Namen gegeben hat, weil es sich um eine typische Persönlichkeit handelt, um eine gesellschaftliche Persönlich keit. Ihre Beschreibung ist sehr b emerkenswert. Erstens handelt es sich um j emanden, der anscheinend nicht schmeichlerisch ist. Er wird daher nicht sein Aussehen, seine Ansehnlichkeit in Anschlag bringen können. Dagegen kann er für sich in An spruch nehmen, andreios zu sein: Er ist mutig. Dieser Mut be zieht sich auf zweierlei: einerseits auf den körperlichen Mut, wie es der Text darstellt, auf den Mut des Soldaten, der in der Lage ist, sein Land zu verteidigen (so heißt es im Text); außer dem ist er b ereit, an Redewettkämpfen teilzunehmen. Es han delt sich also um den militärischen Mut gegenüber den Fein den, aber auch um die Zivilcourage gegenüber den Rivalen, angesichts von inneren Feinden der Stadt, angesichts derer, die immer dazu bereit sind, dem Pöbel zu schmeicheln. Sein zwei tes Merkmal b esteht darin, akeraios22 zu sein, d. h. er ist rein, ohne Makel, untadelig. D as b ezieht sich zugleich auf die Inte grität seines Lebenswandels und auf seine Sorge um Gerechtig keit. Schließlich ist er xynetos, er ist klug.23 In der Klugheit ( ei ner Qualität des Verstandes), der moralischen Qualität und der 2!6
::: :genschaft des Mutes haben wir die drei grundlegenden, tra dicionell anerkannten Tugenden. Aber diesen drei Tugenden, i:e der wahren und richtigen parrhesia zugrunde liegen, wird c :n interessantes gesellschaftliches und politisches Merkmal ::.:nzugefügt. Sie erinnern sich, daß in dem Text von diesem :,Iann, der alle Tugenden in sich vereinigt, erstens gesagt wird, iaß er sehr selten in die Stadt und sehr selten auf die agora geht. Das bedeutet, daß er nicht immer dort herumsitzt und um je den Preis seine Meinung zum B esten geben will, indem er sich ;.eibst und seine Zeit in endlosen Diskussionen verliert. Zwei :e:ls ist er ein autourgos: einer, der mit seinen Händen arbeitet. Er is t keineswegs ein Landarbeiter noch ein Diener, sondern ein Kleinbauer, der die Hand an den Pflug legt, der Land be s.i:zr, ein Stück Erde, das er bestellt und für das er sich einsetzt. Davon ist die Rede im Text, wenn es heißt: Er gehört zu j ener Kategorie von Leuten, die ihr Land (ge) erhalten. Hier gibt es eL"len Gegensatz zwischen agora und ge : agora, das ist der Ort ier häufig fruchtlosen politischen Diskussion, die oft mit ge iährlichen Auseinandersetzungen verbunden ist; ge ist die Erde, iie man kultiviert, der Reichtum des Bodens, für den man be reit ist, sich zu schlagen. Daß nun dieser autourgos, dieser Kleinbauer, der imstande ist, für sein Land zu kämpfen, Euri :;des' positiver politischer Bezugspunkt ist - ein Bezug, der si:h natürlich auf den Peloponnesischen Krieg richtet und auf : H e vergangenen Kämpfe -, wird durch das Hauptargument ::estätigt, das dieser autourgos zugunsten Orests vorlegt: Orest :C:ar, indem er Klytaimnestra tötete, alle Soldaten gerächt, die YOn ihren Frauen betrogen werden, während sie in den Krieg -�=zogen sind. Man könnte meinen, daß dieses Argument im Hinblick darauf, was in der Tradition der griechischen Tragö .i:e über Orest gesagt wurde, insbesondere bei Aischylos, et ?.." as prosaisch ist. Dennoch ist es insofern sehr interessant, als idurch eine Kategorie von Kleingrundbesitzern bezeichnet "·ird, denen eine regelrechte politische B ewegung, die zu j ener Zeit in Athen sehr bedeutsam war, die effektive Ausübung der �-, facht vorbehalten wollte. Was Euripides in dieser Passage
deutlich zeigt, ist, daß die dynasteia in der Stadt, daß die wirk liche Ausübung von Macht nicht j enen anvertraut werden soll, die den ganzen Tag auf der agora herumhängen oder in der Stadt spazierengehen, sondern daß diese dynasteia tatsächlich den autourgoi vorbehalten sein soll, j enen, die mit ihren Hän den ihr eigenes Feld bearbeiten und bereit sind, die Stadt zu verteidigen. Ü brigens drehten sich zu j ener Zeit um diesen Punkt viele Reformprojekte, die man reaktionär nennt, weil sie gegen die athenische Demokratie oder Demagogie gerichtet waren, insbesondere war das das Reformproj ekt des Therame nes.24 Was wird nun aber nach dieser Auseinandersetzung zwi schen den vier Personen (den beiden mythischen Personen ei nerseits und den beiden wirklichen Personen, dem Demagogen und dem kleinen Grundbesitzer) - an diesem Punkt werde ich vorerst stehenbleiben - geschehen, und wie wird die Versamm lung entscheiden ? Der autourgos hat also gerade gesprochen. >>Und edle Männer fanden gut, was er gesagt. Und keiner sprach mehr. «25 Dann tritt Orest hervor und trägt seine eigene Verteidigung vor. Hier haben wir nun den Ausgang und das Urteil. Orest »schien [er] wahr zu reden, doch das Volk war taub, und j ener Ü ble siegte, der zur Menge sprach, für deines Bruders stimmend und für deinen Tod. «26 So wird Orest zum Tode verurteilt. Warum ? Nun, weil der Sieg an den schlechten Redner ging, an den, der von einer ungebildeten p arrhesia Ge brauch machte, von einer p arrhesia, die sich nicht am logos der Vernunft und Wahrheit orientiert. Dieser Sieg bringt in diesem Stück, das, wie gesagt, zehn Jahre nach Ion geschrieben und aufgeführt wurde, das üble Gesicht der parrhesia, ihr dunkles und teuflisches Profil zum Vorschein. Diese parrhesia hatte Ion lange gesucht, und ohne sie wollte er nicht nach Athen zurück kehren, da sie die Demokratie begründen sollte, welche ihrer seits der parrhesia einen Platz einräumen sollte. Nun also löst sich der positive Zirkel, der Zirkel, der für die richtige Demo kratie konstitutiv ist, nämlich zwischen der parrhesia und der Verfassung des Staats, auf. Das Band zwischen der parrhesia und der Demokratie ist ein problematisches, ein schwieriges, 2!8
:i:: gefährliches Band. Eine falsche parrhesia ist im Begriff, die Demokratie zu überwältigen. Auf dieses Problem der Ambi ;uirät der parrhesia, das auf diese Weise im Text gestellt wird, ::: ö chte ich nachher eingehen.
Anmerkungen - · Eine reinere, von echterem Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung, der Meinungsfreiheit, kurz, einer wahren Demo kratie wird man nicht leicht finden, als sie bei den Achaeern besteht
Jsegorias kasi parrhesias kai katholou demokratias alethines systema .:eai proairesin eilikrinesteran ouk an heuroi tis tes para tois Akaiois hy ?archouses)<< (Polybios, Geschichten, 2. Buch, übers. v. Hans Drexler, Zürich und Stuttgart 1 96 1 , 3 8, 6, S. 1 49). Vgl. den ersten Hinweis auf diese Passage in der Vorlesung vom 1 2 . Januar. � Euripides, Ion, Vers 5 9 5 , in: Tragödien, a. a. 0., S. 26 r . : Euripides, Die Schutzflehenden, Verse 23 8 -24 5 , in: Sämtliche Tragödien, Bd. 2, a. a. 0., S. 3 7 8 . � Euripides, Ion, Verse 5 9 7-602, a. a. 0., S. 26 r . ; Ebd., Verse 6o2-6o 3 . 6 \ian kann hier a n das v o n Foucau!t im September 1 972 vorgestellte Projekt einer »Dynastik des Wissens« erinnern (Untersuchung der ·B eziehung, [die] zwischen diesen großen Diskurstypen [besteht], die man in einer Kultur beobachten kann, und den historischen, wirt schaftlichen und politischen Bedingungen ihres Auftretens und ihrer B ildung« [»Von der Archäologie zur Dynastik«], in: Dits et Ecrits, 11, Nr. I I 9, S. 5 06). - Diese Unterscheidung wird insbesondere von Claude Lefort ausgear beitet, beispielsweise in » Permanence du theologico-politique ?« 1 r 9 8 1 ), (dt.: Fortdauer des Theologisch-Politischen, Wien 1 999), und ·La Question de la democratie<< ( 1 9 8 3 ) . Diese Texte werden in Essais sur le politique (Paris 1 9 86) wieder aufgenommen. ; Euripides, Die Phoinikierinnen, Verse 3 8 8 - 3 94, in: Tragödien, Zürich \!nd München 1 990, S. 4o8. :� ,. Ein Sklav' (doulo tod' eipas), der, was er denkt, nicht sagen darf« (ebd., Vers 3 92). ::: ,.fluch sei der ersten Frau, die einst gewagt, ihr Ehebett zu schänden mit fremdem Mann ! << (Euripides, Hippolytos, Verse 409-4 1 2, in: Tragö dien, a. a. O., S. 1 22). : : , Vornehme Häuser machten mit dieser Pest der Frauenwelt den An fang . Wenn Hochgebor'nen Schimpfliches beliebt, hält's b ald für schön auch das gemeine Volk« (ebd., Verse 409-4 1 2) . : : •Wie finden nur sie, Meeresherrin Kypris, d e n Mut, i n s Auge dem Ge2 19
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mahl zu sehen und bangen nicht, die ihnen half, die Nacht, j a, selbst des Hauses Wände möchten reden ? « (ebd., Verse 4 1 5 -4 1 8). Ebd., Verse 42 1 -42 5 . Euripides, Die Bakchen, Vers 668, in: Tragödien, a . a . 0., S . 5 2 5 · Ebd., Verse 669-673 Euripides, Orestes, Verse 8 8 4-930, in: Sämtliche Tragödien, Stuttgart
1 9 5 8, s. 270-27 ! . 1 7 »[ . . .] trat auf ein Herold und begann: >Wer unter euch verlangt zu reden (tis chrezei legein)< « (ebd., Vers 8 8 5 , S. 27o). r8 »Er redet doppelsinnig (dichomytha), denn er frönte stets den Macht begabten« (ebd., Verse 8 89-890, S. 270). 1 9 Vgl. zu dieser Person die »Einleitung<< zu Orestes in: Euripide, Oreste, CEuvres completes, übers. v. F. Chapouthier und L. Meridier, Paris 1973, S. 8, wo er als »geschickter Redner<< bezeichnet wird, >>der mütter licherseits thrakischen Ursprungs war und, wie Eschinos sagt, sich die Bürgerrechte erschwindelt hat«. 20 »[ ] auf lauten Beifall pochend und auf törichten Freimut (kamathei parrhesia)<< (Euripides, Orestes, Vers 90 5 . a. a. O., S. 2 70). 21 »[ . . . ] beflissen (pithanos), Schmach zu häufen auf das Volk« (ebd., Vers . . .
906). 22 » [ . . .] unsträflich lauter (akeraios) wandelt er sein Leben lang« (ebd., Vers 922). 23 »[ . . ] doch auch erfahren (xynetos de), wenn er will, im Redekampf<< (ebd., Vers 9 2 1 ) . 24 Als athenischer Politiker war Theramenes einer der Führer der konser .
vativen Partei, die Perikles gegenüber feindlich eingestellt war. Er nimmt nach dem Staatsstreich von 4 1 1 an der Gestaltung der neuen Verfassung teil. 25 Euripides, Orestes, in: Sämtliche Tragödien, Stuttgart 1 9 5 8 , Vers 930,
s. 2 7 1 . 26 Ebd., Verse 9 4 3 -94 5
·
(Sitzung vom
2.
Vorlesung 5 Februar r 9 8 3 , zweite Stunde)
:J.zs Rechteck der parrhesia· formale Bedingung/faktische Bedingung/ Be dingung der Wahrheit/ moralische Bedingung. - Beispiel für das korrekte "�;mktionieren der demokratischen parrhesia bei Thukydides: drei Reden : a n Perikles. - Die falsche parrhesia bei Isokrates.
Ich möchte nun kurz das Problem ansprechen, das man die Entstellung der parrhesia oder die Entstellung der B ezie hungen zwischen der parrhesia und der D emokratie nennen könnte. Zum Zweck der schematischen Darstellung und zum Verständnis der Dinge könnte man etwa vom konstitutiven Rechteck der parrhesia sprechen. },_n eine Ecke des Rechtecks könnte man die Demokratie stel len, verstanden als allen Bürgern zugestandene Gleichheit und iolglich auch j edem eingeräumte Freiheit zu reden, seine Mei nung zu äußern und auf diese Weise an den Entscheidungen mitzuwirken. Ohne eine solche Demokratie gibt es keine par ..-.hesia. Die zweite Ecke des Rechtecks könnte man das Spiel des Einflusses oder der Ü berlegenheit nennen, d. h. das Pro6lem derjenigen, die, indem sie das Wort vor und über den an deren ergreifen, sich Gehör verschaffen, die anderen überzeu gen, sie leiten und über sie ihre Befehlsgewalt ausüben. Wir haben also einen Pol der Demokratie und einen Pol des Ein t1usses. Die dritte Ecke des Rechtecks wird vom Wahrsprechen gebildet. Damit eine parrhesia, und zwar die richtige parrhesia, möglich ist, braucht man nicht bloß eine Demokratie (die for male Bedingung) und nicht bloß einen Einfluß, der, wenn Sie s o wollen, die faktische Bedingung ist. Außerdem müssen der Einfluß und das Ergreifen des Wortes mit einem bestimmten Wahrsprechen ausgeübt werden. Der Iogos, der seine Macht und seinen Einfluß geltend macht, der Iogos, der von j enen vor getragen wird, die ihren Einfluß auf die Stadt ausüben, muß ein ;.vahrer Diskurs sein. Das ist die dritte Ecke. Die vierte Ecke besteht schließlich in folgendem: Da die freie Ausübung des 22 I
Rechts zu sprechen, wo man durch einen wahren Diskurs zu überzeugen versucht, sich gerade in einer Demokratie vollzieht (beachten Sie die erste Ecke), geschieht sie in Form der Ausein andersetzung, der Rivalität, der Konfrontation mit der notwen digen Konsequenz für diejenigen, die die Sprache der Wahrheit sprechen wollen, daß sie ihren Mut demonstrieren müssen (das ist die moralische Ecke). Die formale Bedingung ist also die D emokratie. Die faktische Bedingung besteht im Einfluß und der Ü b erlegenheit einiger. Die B edingung der Wahrheit ist die Notwendigkeit eines vernünftigen Iogos. Schließlich wird die moralische Bedingung vom Mut, vom Mut in der Auseinan dersetzung gebildet. Dieses Rechteck mit einer verfassungsmä ßigen Ecke, der Ecke des politischen Spiels, der Ecke der Wahrheit und der Ecke des Muts macht, glaube ich, die parrhe sza aus. ( . . . ] Wie denkt man zu der Zeit, die wir gerade betrachten d. h. gegen Ende des Peloponnesischen Kriegs, da einerseits äu ßere Katastrophen, andererseits innere Kämpfe zwischen den Verfechtern einer radikalen Demokratie und den Anhängern einer gemäßigten Demokratie oder der aristokratischen Reak tion in Athen toben -, über die richtige parrhesia nach ? Wie analysiert man die Bedingungen, unter denen es ein angemes senes Verhältnis zwischen politeia und parrhesia, zwischen der Demokratie und der parrhesia gibt ? Und wie erklärt man, daß die Dinge im argen liegen und daß es zwischen parrhesia und Demokratie üble Wirkungen geben kann, die in Euripi des' Orestes im Jahre 40 8 festgestellt und angeprangert wur den ? Erstens, das richtige Funktionieren der parrhesia. Wie funktio niert sie, worin besteht sie, wie lassen sich die richtigen Ver hältnisse zwischen der Demokratie und der parrhesia b eschrei ben ? Nun, ich glaube, daß wir hier ein sehr explizites Vorbild haben, denn wir finden dazu eine sehr genaue B eschreibung in den Texten Thukydides', die Perikles und der perikleischen D emokratie gewidmet sind, obwohl das Wort parrhesia in die ser Reihe von Passagen nicht verwendet wird. Mir scheint, daß
iie perikleische Demokratie als Vorbild für eine Ordnung dar ?estellt wurde, in der die demokratische politeia das politische S?iel, das völlig von einer parrhesia bestimmt war, die sich :' c:bst dem Iogos der Wahrheit verpflichtet fühlte, perfekt auf
;;inander abgesti mmt sind. Jedenfalls handelt es sich bei dieser -\� stimmung der demokratischen Verfassun g auf das Wahr ' ?rechen durch das Spiel der parrhesia um folgendes Problem: '�(-ie kann die D emokratie die Wahrheit ertragen ? - was, wie Sie sich vorstellen können, kein unbedeutendes Problem ist. >Z un, die drei großen Reden (die Rede über den Krieg , die Rede über die Toten und die Rede über die Pest), die Thuky iides Perikles in den Büchern I und II des Pelop onnesischen L-ieges in den Mund legt, geben uns ein Beispiel dafür, was Thukydides sich als gut abgestimmtes Verhältnis zwischen po!iteia und Wahrsprechen vorstellte. Lassen wir das offen sichtliche Problem beiseite, inwieweit es sich um die Rede •,· o n Perikles oder von Thukydides handelt. Im Hinblick auf ias, was ich Ihnen s agen will, hat das keine sehr große B edeu ::.I::lg. Mein Problem ist die D arstellung des Zusammenspiels z"·ischen Demokratie und parrhesia am Ende des 5. J ahrhun _
�'erts.
::: rstens, die Rede über den Krieg . Sie finden sie in den Kapiteln : 3 9 ff. des ersten Buchs des Peloponnesischen Kriegs. Wie Sie s;ch erinnern, handelt es sich darin u m fol g endes: Die Bot ; chafter aus Sparta sind n a ch Athen gekommen und haben \·on den Athenern nicht nur verlangt, ihre eroberten Städte auf Griechenland zu begrenzen, sondern sogar auf bestimmte die ; er Eroberungen zu verzichten . Es handelt sich um eine Art "-o n Ultimatum. Man beruft die Versammlung ein, und Thuky i.ides g ibt folgende B eschreibung : »da brachten die Athener in .: i r:er geschlossenen Volksversammlung die ganze Sache zur Beratun g und gedachten dann ein für allemal die Antwort zu ;eben. Da traten viele auf zu reden und waren geteilter Mei :::,m g : der Krieg sei nötig, und: wenn nur j ener B eschluß das Hindernis für den Frieden sei, so solle man ihn aufheben«;1 :-iier haben wir die D arstellung bzw. einen Hinweis darauf, 223
was ich die Ecke der politeia im Spiel der parrhesia genannt habe. Athen funktioniert als Demokratie mit einer Versamm lung, wo die Leute zusammenkommen und wo es jedem der Teilnehmer freisteht, das Wort zu ergreifen. In dieser Passage geht es im Grunde um die politeia und die isegoria. Nachdem nun j eder seine Meinung abgegeben hat und die Meinungen ge teilt sind, »stand Perikles Xanthippos Sohn auf, zu j ener Zeit der erste Mann in Athen, gleich mächtig im Reden wie im Han deln, und gab ihnen folgendes zu bedenken«:2 Hier haben wir nun die zweite Ecke des Rechtecks, von der ich eben sprach, die Ecke des Einflusses. Im Spiel der D emokratie, dessen Rah men durch die politeia abgesteckt wird, die j edem das Rede recht zugesteht, kommt nun einer, um seinen Einfluß geltend zu machen, einen Einfluß, den er im Reden und Handeln aus übt. Es wird gesagt, daß dieser Mann den größten Einfluß in Athen hat. Sie werden mir sagen, daß wir es hier nicht genau mit dem Spiel zu tun haben, auf das ich vorhin hinwies, da ich auf der Tatsache bestand, daß niemals nur die Macht einer ein zigen Person in der parrhesia zur Ausübung kommt. Damit es parrhesia gibt, muß es eine Auseinandersetzung zwischen ver schiedenen Personen geben. Es darf sich nicht um die Macht ei nes Monarchen oder Tyrannen handeln, sondern im ersten Rang muß es mehrere Leute geben, die den größten Einfluß ha ben. In der Tat ist es eben - wir kommen gleich darauf zurück, und Thukydides sagt es auch - sowohl das Paradox als auch das Genie von Perikles, es so eingerichtet zu haben, daß er allein zugleich der einflußreichste Mann war, daß aber die Art und Weise, wie er seine Macht durch die parrhesia ausübte, weder die eines Monarchen noch eines Tyrannen, sondern ganz de mokratisch war. D eshalb ist Perikles, auch wenn er der einzige ist, auch wenn er der Einflußreichste ist, und nicht nur einer unter den Einflußreichsten, das Vorbild für das richtige Funk tionieren, für die richtige Art, politeia und parrhesia aufeinan der abzustimmen. Nun kommt also Perikles: das ist die Ecke des Einflusses, die Perspektive des Einflusses im Spiel der par rhesia. Seine Rede beginnt folgendermaßen: >>An meiner Mei224
nung, Athener, halte ich unverändert fest, den Pelop onnesiern nicht nachzugeben, obwohl ich weiß, daß die Menschen die Stimmung, in der sie sich zu einem Krieg bestimmen lassen, nicht durchhalten in der Wirklichkeit des Handelns, sondern mit den Wechselfällen auch ihre Gedanken ändern. So sehe ich auch j etzt Anlaß, meinen Rat gleich oder ähnlich zu wiederho len. « 3 Perikles sagt: Ich gebe euch meine Meinung. Es ist nun schlechterdings meine Meinung, daß man den Peloponnesiern nicht nachgeben darf. Die Ratschläge, die ich euch geben muß, sind immer dieselben. Er wird also vor den Athenern nicht nur eine Rede der politischen Vernunft, eine wahre Rede, halten, sondern eine Rede, die er gewissermaßen als seine eigene bean sprucht, mit der er sich identifiziert. Oder vielmehr hält er eine Rede, in der er sich als jemand darstellt, der in seinem eigenen Namen und sein ganzes Leben lang dem Diskurs der Wahrheit \"erpflichtet war und es immer noch ist. Er ist zweifellos das Subj ekt, das während seiner ganzen politischen Karriere diese Wahrheit sagt. Hier haben wir die dritte Ecke, die Ecke des wahren Diskurses. Die Einleitung der Rede geht folgenderma gen weiter: »[ . ] und wer von euch meine Meinung annimmt, der sollte, finde ich, auch wenn wir einmal Unglück haben, zum gemeinsamen Beschluß stehn, oder aber auch bei Erfolgen sich am klugen Plan keinen Anteil beimessen. Denn es kommt Yor, daß die Zufälle der Wirklichkeit ebenso sinnlose Wege ge hen wie die Gedanken des Menschen - darum pflegen wir j a auch, sooft Dinge unsere Berechnungen kreuzen, d e m Schick sal schuld zu geben. « 4 Worum geht es am Ende dieser Einlei tung der Rede des Perikles ? Nun, es geht eben um das Risiko. Von dem Augenblick an, wo jemand sich erhebt, redet, die Wahrheit sagt und äußert: Das ist meine Meinung, und die Ent scheidung der Versammlung und der Stadt auf seine Seite zieht, werden natürlich bestimmte Ereignisse stattfinden, und es kann sein, daß diese Ereignisse nicht so ausfallen, wie man es erwartet. Was soll in einem solchen Fall geschehen ? Sollen sich die Bürger gegen den wenden, der den Mißerfolg heraufbe schworen hat ? Ich akzeptiere wohl, sagt Perikles, daß ihr euch . .
im Falle eines Miß erfolgs gegen mich wendet, aber nur unter der Bedingung, daß ihr euch nicht das Verdienst des Sieges zuschreibt, wenn wir erfolgreich sind. Mit anderen Worten: Wenn ihr wollt, daß wir im Falle des Sieges zusammenhalten, müssen wir auch bei Mißerfolg zusammenhalten. Deshalb sollt ihr mich nicht für eine Entscheidung bestrafen, die wir gemein sam getroffen haben, nachdem ich euch durch meine der Wahr heit verpflichtete Rede überzeugt habe. Sie sehen, wie hier das Problem des Risikos auftaucht, das Problem des Mutes, das Problem dessen, was zwischen dem geschehen wird, der die Entscheidung erwirkt hat, und dem Volk, das ihm gefolgt ist. Dieses Spiel des Risikos, der Gefahr und des Mutes wird durch dieses parrhesiastische Abkommen angedeutet, das in gewissen Zügen dem entspricht, was wir zuvor in Euripides' Stück her ausgearbeitet haben. Es ist ein parrhesiastisches Abkommen: Ich sage euch die Wahrheit; befolgt sie, wenn ihr wollt; aber wenn ihr sie b efolgt, seid euch darüber im klaren, daß ihr ange sichts der Folgen, wie immer sie auch ausfallen mögen, zusam menhaltet und ich nicht der einzige bin, der die Verantwortung trägt. Sie sehen, daß wir hier in dieser Rede - oder eher in den Präli minarien zu dieser Rede, in der Art und Weise, wie sie in Thukydides' Text und in der Einleitung eingeführt wird - die vier Elemente finden, die das ausmachen, was ich das Recht eck der parrhesia genannt habe. Man könnte sagen, daß diese Rede bzw. ihre Einleitung die Bühne der richtigen und gro ßen parrhesia ist, wo im Rahmen der politeia d. h. der re spektierten Demokratie, in der j eder sprechen darf -, die dy nasteia, der Einfluß der Regierenden, in einem Diskurs der Wahrheit ausgeübt wird, der ihr persönlicher Diskurs ist und mit dem sie sich identifizieren, auf die Gefahr hin, daß sie eine Reihe von Risiken eingehen, die der Ü berzeugende und die Üb erzeugten durch ein Ü bereinkommen teilen. Das ist die richtige parrhesia, die richtige Art, Demokratie und Wahrspre chen aufeinander abzustimmen. Soviel zur Rede über den Krieg. -
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Es folgt die Rede über die Toten, als Athen nach einem Kriegs jahr seine Toten bestattet und für sie eine Gedenkfeier abhält. Diese Rede ist vielleicht im Hinblick auf das Problem der par r.h es ia weniger interessant. Sie steht am Beginn des zweiten Bu ches, im Kapitel 3 5 ff. Athen bestattet also seine Toten und hat Perikles als einflußreichsten Mann der Stadt damit beauftragt, eine Lobrede auf die Toten zu halten. Während er nun diese Lobrede hält oder vielmehr zum Zweck dieser Lobrede, be ginnt Perikles mit einer Lobrede auf die Stadt. In dieser Lobre de auf die Stadt erinnert Perikles erstens daran, daß »nach dem Gesetz in dem, was den Einzelnen angeht, alle gleichen Teil [haben] [das ist das Prinzip der isonomia: die Gesetze sind für alle gleich; M. F.], und der Geltung nach hat im öffentlichen \\lesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehn erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst. «; Das ist genau das Spiel zwischen der isegoria und der parrhesia, von dem ich vorhin gesprochen habe, wobei die isegoria sicherstellt, daß das Recht, zu sprechen, nicht einfach v o n der Geburt, vom Vermögen, vom Geld abhängt. Jeder darf reden, aber dennoch ist es das p ersönliche Verdienst, das b ei der Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten und in diesem Spiel um die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten manchen einen Einfluß sichert. Es ist gut, daß sie diesen Ein fluß ausüben, weil darin die Ü berlebensgarantie der Demokra tie besteht. Und es ist bemerkenswert, daß Perikles gerade vor dieser Passage gesagt hat, daß Athen den Namen der Demo kratie verdient. Warum verdient Athen diesen Namen ? Weil, so Perikles, die Stadt im Interesse der Allgemeinheit verwaltet wird und nicht in dem einer Minderheit.6 Sie sehen, daß Pe rikles die D emokratie bemerkenswerterweise nicht dadurch definiert, daß die Macht gleichmäßig auf alle verteilt ist. Er de iiniert sie auch nicht dadurch, daß j eder sprechen und seine :VI einung äußern kann, sondern dadurch, daß die Stadt im In teresse der Allgemeinheit verwaltet wird. Perikles bezieht sich also auf diesen großen Bogen, auf diesen großen Weg der par ;·.hesia, von dem ich gesprochen habe, wo auf der Grundlage 227
einer demokratischen Struktur ein rechtmäßiger Einfluß, der durch einen wahren Diskurs und durch eine Person ausgeübt wird, die den Mut hat, diesen wahren Diskurs geltend zu ma chen, effektiv sicherstellt, daß die Stadt die besten Entschei dungen für alle trifft. Deshalb kann man das Demokratie nen nen. Die Demokratie ist, insgesamt betrachtet, j enes Spiel, das auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung im enge ren Sinne einen gleichen Status für alle festlegt. Der Weg der parrhesia: Einfluß, wahre Rede, Mut und daraus folgend die Formulierung und das Annehmen eines allgemeinen Interes ses. Das ist der große Bogen der Demokratie und das Zusam menspiel von politeia und parrhesia . Die dritte Rede des Perikles bei Thukydides ist die dramatische Rede über die Pest. Die Pest ist gerade im Begriff, Athen zu verheeren, und die Mißerfolge und militärischen Fehlschläge mehren sich. Die Athen er wenden sich gegen Perikles. Wir be finden uns also bei der vierten Ecke des Risikos. Das parrhesia stische Abkommen, das Perikles den Athenern in der Einlei tung zur ersten Rede, zur Rede über den Krieg, vorgeschlagen hatte, droht zu zerbrechen. Die Athen er sind Perikles böse und wollen ihn verfolgen. Sie entsenden Botschafter direkt zu den Lakedaimoniern, um hinter Perikles' Rücken Frieden zu schlie ßen. In diesem Augenblick beruft Perikles, der noch Feldherr ist, die Versammlung ein - die Rede beginnt in Kapitel 6o des zweiten Buches der Geschichte des Peloponnesischen Krieges und sagt: >>Nicht unerwartet kam mir dieser euer Zorn gegen mich [das war das eingegangene und ausgesprochene Risiko, obwohl er es am Beginn der Rede über den Krieg abwenden wollte; M. F.], (denn ich sehe seine Gründe), und deswegen habe ich die Volksversammlung berufen, um euch zu gemah nen [gemahnen an die vorgetragene Rede und auch an die Ge schichte Athens und das gute Funktionieren der Demokratien; M. F.] und um es euch vorzurücken, wenn ihr nicht ganz im Recht mir grollt oder euch dem Unglück beugt.«7 Diese Passa ge ist deshalb interessant, weil man darin genau sieht, wie der Politiker, der den parrhesiastischen Bund in der ersten Rede 228
Yorgeschlagen hatte, in dem Augenblick, wo man sich gegen ihn wendet, sich gegen seine Mitbürger stellt und ihnen Vor ·würfe macht, anstatt ihnen zu schmeicheln oder die Verant wortung auf etwas anderes oder eine andere Person umzulen ken. Ihr macht mir Vorwürfe, aber ich habe euch auch etwas ,-orzuwerfen. Ihr werft mir die getroffenen Entscheidungen und die Mißgeschicke des Krieges vor, und jetzt wende ich mich ohne j egliche Schmeichelei gegen euch und werde euch meine eigenen Vorwürfe machen. Diese mutige Wendung des Mannes, der die Wahrheit spricht, als der parrhesiastische Bund, den er geschlossen hat, von den anderen gebrochen wird, ist eine charakteristische Eigenschaft dessen, der wahrhaft einen Sinn für die parrhesia in der Demokratie hat. Weiter unten wird Perikles den Athenern sein eigenes Bild dar stellen. Er sagt (immer noch in der Passage über die Vorwürfe): "Und doch ? Wem zürnt ihr ? Einem Manne, glaube ich, der keinem anderen nachsteht [eine klassische Formel in Gestalt eines Litotes, um zum Ausdruck zu bringen: ich bin überle gen - der B ezug auf einen Einfluß; M. F.] in der Erkenntnis des ?'-Jötigen und der Fähigkeit, es auszudrücken, der sein Vater land liebt und über Geld erhaben ist. «8 In diesem Satz werden eine Reihe von Eigenschaften des Politikers, D emokraten und Parrhesiasten angesprochen: Er weiß genau, was das öffent liche Interesse ist, und ist in der Lage, seine Gedanken in der Rede auszudrücken. Es handelt sich also um den Parrhesiasten, insofern er Inhaber des wahren Diskurses ist und diese Rolle zur Leitung der Stadt ausübt. Dann entwickelt Perikles die ge nannten Eigenschaften, die er sich selbst zugeschrieben hat: ,., wer nämlich die Einsicht hat und sich nicht klar verständlich macht, ist gleich, wie wenn ihm der Gedanke nicht gekommen wäre. « Damit meint er folgendes: Es ist zwar ganz gut, wenn ein Politiker weiß, wo das Gute liegt. Er muß es aber auch sagen und seinen Mitbürgern klar vor Augen stellen, d. h. den :\1ut haben, es zu sagen, auf die Gefahr hin, daß es mißfällt, und er muß die Fähigkeit besitzen, es in einem Iogos auszudrücken, in einem Diskurs, der genügend Ü berzeugungskraft hat, damit
die Bürger gehorchen und sich einigen. »Wer nämlich die Ein sicht hat und sich nicht klar verständlich macht, ist gleich, wie wenn ihm der Gedanke nicht gekommen wäre; und wer b eides hat [das öffentliche Interesse erkennen und auch die Fähigkeit, es ordentlich auszudrücken; M. F.], aber seinem Land nicht das Beste wünscht, wird schwerlich raten wie ein Freund [wissen, was gut ist, es auch ausdrücken können und, die dritte B edin gung, den Mut haben, es zu sagen, keine schlechten Absichten gegenüber seinem Vaterland hegen und sich daher für das öf fentliche Interesse aufopfern; M. F.] . Fehlt ihm auch dies nicht, aber er ist schwach vorm Geld, so wird ihm alles miteinander für dies eine feil sein.«9 Nicht nur diese drei B edingungen (das Wahre wissen, in der Lage sein, es auszudrücken, sich für das öffentliche Wohl aufopfern) müssen erfüllt sein, man muß auch moralisch zuverlässig und integer sein und unempfäng lich für Bestechungen. Wenn der Politiker diese drei Eigen schaften hat, kann er durch seine parrhesia den Einfluß aus üben, der nötig ist, damit der demokratische Staat trotz allem regiert werden kann - trotz oder wegen der Demokratie. Wenn, so Perikles, »ihr mir also nur einigermaßen dies [nämlich in der Lage sein zu sprechen, dem Wohl des Staates hingegeben und unbestechlich zu sein; M. F.] vor anderen zusprachet [noch ein mal die Forderung des Einflusses; M. F.], als ihr euch zum Krieg bestimmen ließet, so gebührte mir auch j etzt kein Vor wurf, als hätte ich ein Unrecht begangen . « 1 0 Auf diese Weise stellt Perikles in dieser dramatischen Lage, in der er von den Athenern bedroht wird, die Theorie des angemessenen Zusam menspiels der Demokratie und der Ausübung der parrhesia und dem Wahrsprechen auf, welche Ausübung, wie gesagt, notwendig den Einfluß der einen über die anderen einschließt. Das ist das Bild, das Thukydides von der richtigen parrhesia zeichnet.''. ,,. Das Manuskript führt weiter aus: »Die Risiken und Gefahren der par rhesia: Eine echte Demokratie (alethine demokratia) sollte so sein, daß, wenn allen das Rederecht verliehen wird, das Spiel auf solche Weise er öffnet werden muß, daß manche sich abheben und einen Einfluß aus-
);ur gibt es eben auch das Bild der falschen parrhesia, derjeni gen, die keinen Ort in einer Demokratie hat und die ihren eige n e n Prinzipien nicht treu bleibt. Dieses Bild der falschen par �hesia wird die Gemüter von Perikles' Tod an verfolgen, da Perikles immer als der Mann des richtigen Zusammenspiels zwischen parrhesia und Demokratie galt. Nach Perikles' Tod wird sich Athen selbst als eine Stadt vorstellen, in der das Spiel der D emokratie und der parrhesia, der Demokratie und des '\vahrsprechens, nicht zusammengehen und nicht auf geeignete Weise einander angepaßt werden, so daß das Ü berleben dieser Demokratie sichergestellt wird. Diese Vorstellung, dieses Bild des falschen Zusammenspiels zwischen Demokratie und Wahr heit, Demokratie und Wahrsprechen finden wir in einer gan z e n Reihe von Texten, von denen mir vor allem zwei besonders wichtig und klar zu sein scheinen. Der eine steht bei Isokrates , der Anfang von peri tes eirenes, der Rede über den Frieden) und der andere bei Demosthenes, nämlich am Beginn der drit ren Philippika. Es gibt aber auch viele andere. Ich möchte Ih nen einige Passagen vom Anfang der Rede des Isokrates Über den Frieden vorlesen, wo er zeigt, wie und warum die Dinge im argen liegen. Sie werden sehen, wie ähnlich dieser Text der Vor stellung der falschen parrhesia ist, die ich vorhin aus Euripides' Tragödie Orest entnommen habe. üben können. Nun wird dieses Spiel aber natürlich nicht von der Tyran nenherrschaft geduldet (vgl. Eteokles/Polyneikes). Es gibt aber auch Demokratien, die das nicht gestatten: Der Mann, der sich gegen das wendet, was die Mehrheit denkt, wird verbannt oder bestraft. Wir kön nen jedoch festhalten, daß die Verlagerung des Problems des Einflusses des mutigen Parrhesiasten von der Demokratie auf die Autokratie (wo es darum geht, auf die Seele des Fürsten den nötigen Einfluß auszuüben, außerdem um den wahren Diskurs, den man ihm während seiner Erzie hung nahebringen soll, und um das Risiko, das der B erater eingeht, in dem er sich dem Fürsten widersetzt und ihn zu einer möglicherweise fal schen Entscheidung veranlaßt) zum großen Teil durch den Philosophen vollzogen wurde. Daher hat sich das Problem der parrhesia zur Regie rungskunst entwickelt, die mit der Staatsräson im 1 6. und I 7. Jahrhun dert von der Moral und der Erziehung des Fürsten unabhängig gewor den ist. «
Ganz zu Beginn dieser Abhandlung, wo über einen möglichen Frieden, der den Athenern vorgeschlagen wird, gesprochen werden soll, sagt Isokrates, der ein Verfechter des Friedens ist, folgendes: »Ich mache allerdings die B eobachtung, daß ihr nicht allen Rednern die gleiche Aufmerksamkeit schenkt [er wendet sich an die Versammlung; M. F.], sondern daß ihr den einen aufmerksam zuhört, bei anderen nicht einmal ihre Stim me ertragen könnt. Doch euer Verhalten ist keineswegs ver wunderlich. Denn auch sonst seid ihr es ja gewöhnt, alle Red ner von der Rednerbühne zu verweisen, außer solche, die euch nach dem Mund reden. « 1 1 Die parrhesia ist also falsch, wenn gegen bestimmte Redner Maßnahmen ergriffen werden oder wenn sie mit diesen Maßnahmen bedroht werden, wie z. B. mit der Ausweisung - was j edoch bis zur Verbannung, bis zum Ostrazismus und in manchen Fällen (Athen hatte diese Erfah rung schon gemacht und wird sie noch weiterhin machen) auch bis zum Tod führen kann. Wenn die Redner mit dem Tod be droht werden, was natürlich das Äußern der Wahrheit belastet, gibt es die richtige parrhesia nicht und daher auch kein richti ges Zusammenspiel zwischen der Demokratie und dem Wahr sprechen. Etwas weiter, im Paragraphen 14 der Rede über den Frieden sagt Isokrates folgendes: »Freilich weiß ich, daß es schwierig ist, euren Ansichten entgegenzutreten und daß trotz unserer demokratischen Verfassung Redefreiheit hier in der Volksversammlung nur den Unvernünftigsten gewährt wird und denen, die keinerlei echtes Interesse an euch haben, im Theater aber nur den Komödiendichtern. Das Allerschlimmste dabei aber ist: Ihr zeigt euch den Leuten, die die Fehler unserer Polis bei allen Griechen verbreiten [d. h. die Komödienauto ren, diejenigen also, die die Fehler des Staats vor den Augen der Griechen ausbreiten; M. F.], dankbarer als euren Wohltätern. Auf eure Kritiker und Mahner aber seid ihr so schlecht zu spre chen wie auf Leute, die der Polis schaden. « 1 2 Mit anderen Wor ten, die Frage, die hier gestellt wird, ist die Frage nach dem Ort der Kritik. Isokrates wirft den Athenern vor, eine bestimmte Vorstellung ihrer eigenen Fehler, Mängel und Irrtümer zu ak-
zeptieren, vorausgesetzt daß sie auf dem Theater und in Form einer Komödie stattfindet. Diese Art von Kritik akzeptieren die Athener, während sie sie doch in den Augen aller Griechen lächerlich macht. Umgekehrt ertragen die Athener im Rahmen der Politik keine Kritik in Form eines Vorwurfs, der von einem Redner direkt an die Volksversammlung gerichtet wird. Sie entledigen sich der Redner oder der Politiker, die das tun. Das ist der erste Grund, warum die parrhesia und die Demokratie sich nicht mehr gut miteinander vertragen und sich nicht mehr gegenseitig fordern, was das Ideal der Tragödie des Ion war oder sich zumindest in deren Horizont befand. Dieser negativen Seite, diesem negativen Grund müssen nun auch positive Gründe hinzugefügt werden: Wenn es zwischen der parrhesia und der Demokratie nicht mehr j enes gute Ein vernehmen gibt, dann nicht nur deshalb, weil das Wahrspre chen abgelehnt wird, sondern weil für etwas anderes Raum ge schaffen wird, das die Imitation des Wahrsprechens ist, nämlich das falsche Wahrsprechen. Dieses falsche Wahrsprechen besteht gerade in den Reden der Schmeichler. Was ist nun die schmeich lerische oder demagogische Rede ? Auch hier können wir uns auf Isokrates' Text beziehen, in dem die Schmeichler erwähnt werden: »Euer Verhalten hat j edoch dazu geführt, daß Redner sich nicht darum kümmern oder sich Gedanken machen, was der Polis nützt, sondern wie sie euch zu Gefallen reden kön nen. Auch j etzt hat die Mehrzahl unter ihnen sich dazu hinrei gen lassen. Allen war nämlich klar: Ihr werdet mehr Gefallen an Rednern finden, die euch zum Krieg ermuntern, als an de nen, die euch zum Frieden mahnen. « 1 3 Ich werde kurz auf die se und andere Elemente, die im selben Text genannt werden, eingehen. Worin besteht nun im Grunde die falsche parrhesia, die wie Falschgeld an die Stelle der richtigen parrhesia tritt und diese vertreibt ? Erstens zeichnet sie sich durch die Tatsache aus, daß j edermann sprechen darf. Es sind nicht mehr j ene alten Ahnenrechte der Geburt und vor allem der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Erde - welche den Adel auszeichnet, aber auch j ene Kleinbau233
ern, wie wir vorhin gesehen haben -, nicht mehr die Zugehö rigkeit zur Erde und zu einer Tradition, aber auch nicht mehr j ene Eigenschaften, die Perikles besaß (persönliche Qualitäten, moralische Qualitäten der Integrität, der Erkenntnis, der Hin gabe usw.), die j emanden zum Reden qualifizieren und ihm Einfluß verleihen. In Zukunft kann j eder sprechen, das ist in den Verfassungsrechten verankert. Aber es wird auch tatsäch lich j eder reden und durch das Reden seinen Einfluß geltend machen. Sogar die frisch gebackenen Bürger können, wie im Falle Kleophontes', diesen Einfluß geltend machen. Das sind also die Schlimmsten, und nicht mehr die Besten. So wird der Einfluß pervertiert. Zweitens: Was der falsche Parrhesiast, der von irgendwoher kommt, sagt, sagt er nicht deshalb, weil es seine Meinung wäre, nicht deshalb, weil er denken würde, daß seine Meinung wahr sei, nicht deshalb, weil er einsichtig genug ist, damit seine Meinung wirklich der Wahrheit und dem Wohl der Stadt entspricht. Er redet nur, weil das, was er sagt, die gän gigste Meinung, d. h. die der Mehrheit, vertreten wird. Mit an deren Worten, anstatt daß der Einfluß durch die eigentümliche Abweichung der wahren Rede ausgeübt wird, kommt nun der schlechte Einfluß von jedem b eliebigen durch die Ü berein stimmung mit den Reden und den Gedanken j edes beliebigen anderen zustande. Das dritte Merkmal der falschen parrhesia besteht schließlich darin, daß die falsche wahre Rede nicht durch den einzigartigen Mut dessen gewappnet ist, der es wie Perikles vermag, sich gegen das Volk zu wenden und ihm sei nerseits Vorwürfe zu machen. Anstelle dieses Mutes finden wir Leute, denen es nur um eines geht: ihre eigene Sicherheit und ihren eigenen Erfolg durch das Vergnügen, das sie ihren Hö rern verschaffen, sicherzustellen, indem sie ihnen in ihren Ge fühlen und Meinungen schmeicheln. Die falsche parrhesia, die die richtige vertreibt, ist also das >>j edermann<<, das »jeder belie bige<<, das alles und j edes sagt, wenn es nur von j edermann wohlwollend aufgenommen wird. Das ist der Mechanismus der falschen parrhesia, die im Grunde die Auslöschung der Ab weichung des Wahrsprechens im Spiel der Demokratie ist. 234
\\"as ich Ihnen heute sagen wollte, läßt sich also folgenderma ßen zusammenfassen. Ich glaube, daß das neue Problem der f;Jschen parrhesia an der Wende vom 5 · zum 4- Jahrhundert ::.1nd allgemeiner das Problem der parrhesia überhaupt, sei sie ::un richtig oder falsch, im Grunde das Problem der notwendi gen, aber fragilen Abweichung ist, das durch die Ausübung der wahren Rede in der Struktur der Demokratie eingeführt wird. Einerseits kann es nur insoweit wahre Rede, freies Spiel der wahren Rede und Zugang aller zur wahren Rede geben, wie es Demokratie gibt. Aber - und an dieser Stelle wird die B ezie �1 u n g zwischen wahrer Rede und Demokratie schwierig und ?roblematisch - man muß verstehen, daß diese wahre Rede sich in der Demokratie nicht entsprechend der Form der isego ,·ia gleich verteilt. Die Tatsache, daß jedermann reden kann, be deutet nicht auch, daß jedermann das Wahre sagen kann. Die wahre Rede führt eine Abweichung ein oder ist vielmehr in ih ren B edingungen und Wirkungen an eine Abweichung gebun den: Nur einige wenige können die Wahrheit sagen. Wenn nur einige die Wahrheit sagen können, wobei dieses Wahrsprechen im Umfeld der D emokratie stattfindet, entsteht ein Unter schied, nämlich der des Einflusses, der von den einen auf die anderen ausgeübt wird. Die wahre Rede und das Auftreten der wahren Rede gehört zur Wurzel des Prozesses der Gouverne mentalität. Wenn die Demokratie regiert werden kann, dann deshalb, weil es wahre Rede gibt. :\un sehen Sie, wie hieraus ein neues Paradox entsteht. Das er sre war: Nur in einer Demokratie kann es wahre Rede geben, aber die wahre Rede führt in die Demokratie etwas ganz ande res ein, was sich nicht auf ihre egalitäre Struktur zurückführen }ägt. Insofern es sich wirklich um wahre Rede, um die richtige pmThesia handelt, ermöglicht diese wahre Rede die Existenz 3er Demokratie. Damit die Demokratie tatsächlich ihren Lauf fortsetzen kann, damit sie durch Wandlungen, Ereignisse, Aus c: :nandersetzungen und Kriege aufrechterhalten werden kann, :nuß es einen Platz für die wahre Rede geben. Die Demokratie oesteht also nur durch die wahre Rede fort. Andererseits aber 23 5
und insofern die wahre Rede in der Demokratie nur in der Aus einandersetzung, im Konflikt, in der Rivalität auftritt, wird die wahre Rede auch immer von der Demokratie b edroht. Das ist das zweite Paradox: Es gibt keine Demokratie ohne wahre Rede, denn ohne wahre Rede würde sie untergehen; aber das Ende der wahren Rede, die Möglichkeit des Endes der wahren Rede, die Möglichkeit, die wahre Rede zum Schweigen zu bringen, ist der Demokratie wesentlich. Keine wahre Rede ohne D emokratie, aber die wahre Rede führt Unterschiede in die D emokratie ein. Keine Demokratie ohne wahre Rede, aber die D emokratie bedroht die Existenz der wahren Rede. Das sind, glaube ich, die beiden großen Paradoxa, die sich im Zen trum der Beziehungen zwischen der parrhesia und der politeia befinden: eine dynasteia, die an die wahre Rede gekoppelt ist, und eine politeia, die an die genaue und gleiche Verteilung der Macht gekoppelt ist. Nun, zu einer Zeit, nämlich der unseren, in der man die Probleme der Demokratie so gern in Begriffen der Machtverteilung, der Selbstbestimmung j edes einzelnen in der Ausübung der Macht, in Begriffen der Transparenz und Undurchsichtigkeit, des Verhältnisses zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat stellt, ist es vielleicht gut, an diese alte Frage zu erinnern, die gleichzeitig mit dem Funktionieren der athenischen Demokratie und ihrer Krisen aufkam, nämlich der Frage nach der wahren Rede und der notwendigen, unver zichtbaren und empfindlichen Zäsur, die die wahre Rede un vermeidlich in eine Demokratie einführt, eine Demokratie, die diese wahre Rede zugleich ermöglicht und sie unablässig be droht. Das war's, danke.
Anmerkungen : Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, eingel. und übers. v. Georg Peter Landmann, Zürich und Stuttgart I 9 6o , S. I o8�
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Ebd. Ebd., Kap. 1 40. Ebd., S. I o9. Ebd., Buch II, Kap. 3 7, S. 1 40. »Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft« (ebd.). Ebd., Kap. 6o s . I s 6. Ebd., s. I 5 7· Ebd. Ebd. Isokrates, Rede über den Frieden, 3 , in: Sämtliche Werke, Bd. I, übers. v. Christine Ley-Hutton, eingeleitet und erläutert v. Kai Brodersen, Stuttgart 1 99 3 , S. I 5 r . Ebd., q , S. I 5 3 . Ebd., s , s . I 5 1 · ,
Vorlesun g 6 (Sitzun g vom 9· Februar 1 9 8 3 , erste Stunde) Parrhesia: die übliche
Verwendung des Begriffs; die politische Ver&endung des Begriffs. Erinnerung an drei beispielhafte Szenen: Thukydides; lsokra tes; Plutarch. - Entwicklungslinien der parrhesia. - Die vier großen Pro bleme der antiken politischen Philosophie: der ideale Staat; die geteilten Verdienste der Demokratie und der Autokratie; die Wendung an die Seele des Fürsten; die Beziehung zwischen Philosophie und Rhetorik. - Studie dreier Texte Platons.
Aufgrund der Ferienzeit und weil ich gerade in meinem Brief fach den Einwand eines Hörers erhalten habe, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um vielleicht ein oder zwei Dinge gerrauer auszuführen für den Fall, daß es Unklarheiten gab. Der Ein wand ist jedenfalls interessant. Der Hörer schreibt, daß er mit dem, was ich über die parrhesia gesagt habe, nicht sonderlich zufrieden ist und weist mich auf eine gewissermaßen kanoni sche Definition der parrhesia hin, die, wie er meint, auf allge meine Weise j egliche Form der Redefreiheit zum Ausdruck bringt; und zweitens ist die parrhesia im Rahmen des demokra tischen Staats und im politischen Sinne des Begriffs die Rede freiheit, die j edem Bürger zusteht, natürlich nur denen, die Bürger sind, aber allen Bürgern, selbst wenn sie arm sind. Bezüglich dieser beiden Aspekte der Definition der parrhesia möchte ich an folgendes erinnern. Erstens, es versteht sich von selbst, daß der Ausdruck parrhesia einen üblichen Sinn hat, der in der Redefreiheit besteht. Ge koppelt an diesen Begriff der Redefreiheit, wo man alles sagt, was man will, ist der Begriff des Freimuts. Man redet also nicht nur frei und sagt alles, was man will, sondern in der parrhesia gibt es auch die Vorstellung, daß man das sagt, was man wirk lich denkt, was man wirklich für wahr hält. In diesem Sinn isr die parrhesia Freimut. Man könnte auch sagen: Sie ist das Aus sprechen der Wahrheit. Nun werde ich die übliche Definition des Wortes parrhesia korrigieren, indem ich sage: Es handelt 2) 8
sich nicht nur um die Redefreiheit, sondern um den Freimut, das Aussp rechen der Wahrheit. Vor diesem Hintergru nd ist es
selbstverständlich, daß dieser B egriff, dieser Ausdruck parrhe :ia manchmal, ja häufig sogar in einem völlig geläufigen Sinn :.:.nd außerhalb j edes Kontexts, j eder technischen oder politi ,,: hen Hülle verwendet wird. In den griechischen Texten findet :-nan sehr häufig Personen, die sagen: Hör' mal, offen gestan den . (»parrhesia«: mit parrhesia), etwa so wie wir sagen: um ganz offen mit dir zu reden. Wenn wir sagen »offen miteinan ier reden « ist das natürlich ein geläufiger, stereotyper Aus druck, der keinen bedeutenden Sinn hat. Dennoch ist die Re Jefreiheit ein politisches Problem, ein technisches und auch ein j_istorisches Problem. Ich werde also dasselbe im Hinblick auf iie parrhesia s agen: Es gi bt einen geläufigen, zeitgemäßen ver :rauten und offensichtlichen Sinn; dann ab er gibt es noch den :echnischen und p räzisen Sinn. Zweitens: Gerade was diesen präzisen und technischen Sinn :ngeht, glaube ich nicht, daß man einfach die B edeutungen und die Probleme, die mit dem Begriff der parrhesia verbunden sind, zusammenfassen kann, indem man sagt, daß die parrhesia die Redefreiheit ist, die j edem Bürger in einer Demokratie zu steht, ob er nun reich oder arm sei. Warum glaube ich nicht, .:iaß das ausreichend wäre ? Erstens, weil man, wie gesagt - hier 1':eise ich Sie darauf hin, was ich letztes Mal gesagt habe -, in ier Definition der Demokratie die beiden B egriffe der isegoria :.md parrhesia findet (ich verweise Sie auf den Text von Poly oios, es gibt aber auch andere). Die isegoria ist das institutio nelle Verfassungsrecht, das juristische Recht, das j edem Bür ger zusteht, zu reden, das Wort zu ergreifen, und zwar in allen Formen, die die Ergreifung des Wortes in einer Demokratie :_nnehmen kann: politische Wortergreifung, juristische Wor :ergreifung, Anfrage usw. Was macht nun den Unterschied zwi sehen der isegoria, durch die j emand das Recht hat zu reden :.md alles zu sagen, was er denkt, und der parrhesia aus ? Ich glaube, daß dieser Unterschied darin besteht, daß die parrhesia, die natürlich in der isegoria wurzelt, sich auf etwas anderes be. .
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zieht, nämlich die effektive politische Praxis. Wenn es wirklich zum Spiel der Demokratie gehört, wenn es ein wesentliches Gesetz der D emokratie ist, daß jedermann das Wort ergreifen kann, dann stellt sich ein gewisses technisches, politisches Pro blem: Wer wird das Wort ergreifen, wer wird tatsächlich seinen Einfluß auf die Entscheidung der anderen ausüben, wer wird in der Lage sein zu überzeugen und wer wird den anderen da durch ein Führer sein können, daß er ausspricht, was er für die Wahrheit hält ? Insofern glaube ich nicht, daß die Probleme, die von der parrhesia aufgeworfen werden, bloß die gleiche Vertei lung des Rederechts auf alle Bürger der Stadt, Arme und Rei che, betreffen. In diesem Sinne scheint mir j ene Definition der parrhesia unzureichend zu sein. Zweitens - das werden wir heute beginnen zu erklären zu versuchen - sollte man keines wegs glauben, daß sich die Frage der parrhesia - in diesem poli tischen Sinn: Wer wird sprechen, das Wahre sagen, Einfluß auf die anderen ausüben, üb erzeugen und daher im Namen der Wahrheit und aufgrund der Wahrheit regieren ? - bloß im Um feld der Demokratie stellt. Im Gegenteil werden wir sehen, daß die parrhesia, selbst innerhalb des Spiels der autokratischen Macht, p olitische Probleme, technische Probleme aufwirft, nämlich die folgenden: Wie kann man sich an den Fürsten wen den, wie kann man ihm die Wahrheit sagen ? Auf welcher Grundlage, nach welcher Ausbildung, wie soll man seine Seele beeinflussen ? Was ist eigentlich der B erater des Fürsten ? Ich meine also, daß der Begriff der parrhesia im Umfeld der Demo kratie etwas enger gefaßt ist als der Begriff der isegoria. Er wirft zusätzliche Probleme auf und erfordert zusätzliche Bestim mungen gegenüber dem Begriff der isegoria, d. h. der gleichen Verteilung des Rederechts. In einem anderen, weiteren Sinne geht es nicht bloß um das Spiel der Wahrheit oder um das Spiel des Rederechts in der Demokratie, sondern um das Spiel des Rederechts und das Spiel der Wahrheit in j eglicher Form von Regierung, auch in der autokratischen. Ich antworte auf diesen Einwand erstens, weil ich es s ehr mag, wenn mir Einwände gemacht werden. Das ist sehr schön. Vor
dem Hintergrund der Schwierigkeiten des Austauschs, die es in einem solchen Auditorium gibt, sind die einen darauf ange wiesen zu schreiben, während die anderen mündlich antwor ten können. Zweitens glaube ich, daß dieser Einwand zweifel los eine Reaktion auf bestimmte Ungenauigkeiten in meinem Vortrag war. Jedenfalls denke ich, daß dieselben Einwände auch von and eren hätten gemacht werden können. Ich bin also froh, daß ich auf diese Weise antworten konnte. [ . ''] Ich möchte nun noch einmal von drei Texten oder drei Szenen ausgehen, denen wir schon in den vorhergehenden Referaten begegnet sind. Drei Texte, die drei Szenen des politischen Le bens in Griechenland schildern. Diese drei Szenen sind übri gens wirkliche Szenen, aber mir kommt es natürlich auf die Art und Weise an, wie diese Szenen von den Texten widergespiegelt werden, die sie darstellen. Die erste Szene oder vielmehr der erste Text ist, wie Sie sich er innern, der Text von Thukydides, der auf mehr oder weniger einfallsreiche, symbolische oder zumindest neu gestaltete Wei se die berühmte Debatte schildert, die in Athen stattfand, als die Spartaner eine Gesandtschaft nach Athen geschickt hatten, um ihnen eine Art von Ultimatum zu stellen, und wie sich dann die Frage stellte, ob man das Ultimatum annehmen oder ablehnen sollte, d. h. ob man Krieg beginnen oder Frieden hal ten sollte. Es handelt sich also um die berühmte Entscheidung, die in der Geschichte Athens und in der Geschichte ganz Grie chenlands von so großer Bedeutung war und durch die der Pe. .
,,. M. F. fügt hinzu: Ich weiß nicht . . . Wenn der betreffende Hörer, den ich
übrigens nicht persönlich kenne, mit dem, was ich gerade gesagt habe, nicht ganz zufrieden ist, dann soll er mir noch einmal schreiben [man hört eine Stimme aus der Zuhörerschaft antworten: Ich bin zufrieden] . Auf jeden Fall können wir die Diskussion, wie wir es früher schon ge macht haben, in einer der Sitzungen nach den Ferien fortsetzen. Sind Sie damit einverstanden ? Ich glaube, daß diese Praxis der geschriebenen Frage und der mündlichen Antwort, wie gesagt, eine der Möglichkeiten des Austauschs ist in einer Institution, die zu meinem Bedauern offen sichdich für den Dialog und die gemeinsame Arbeit nicht sehr geeignet ist.
loponnesische Krieg ausgelöst wurde. Thukydides' B eschrei bung bezog sich auf eine Reihe wichtiger Elemente. Erstens natürlich auf die Tatsache, daß die Volksversammlung auf die Ordnungsgemäßeste Weise einberufen wurde, daß j eder dort seine Meinung vortragen konnte (isegoria), daß diese Meinun gen verschieden waren und als Folge davon die Volksversamm lung in verschiedene Strömungen aufgeteilt hatten. In diesem Moment hatte sich Perikles erhoben, den Vordergrund der Szene b etreten - Perikles, von dem Thukydides sagt, daß er der einflußreichste Mann Athens war - und, nachdem er j eden sei ne Meinung hatte äußern lassen, gesagt, was er zu sagen hatte. Was er zu sagen hatte, kennzeichnete er als etwas, das er nicht nur für wahr hielt, sondern auch als etwas, das seine Meinung war. Es war das, was er dachte, was er gegenwärtig dachte, aber auch das, was er im Grunde immer schon gedacht hatte. Es war also nicht bloß der Ausdruck von Umsicht oder einer situati onsgebundenen politischen Weisheit. Er bekannte sich dazu, in dieser Lage die Wahrheit zu sagen, und er identifizierte sich mit diesem Bekenntnis der Wahrheit. Der letzte Aspekt dieser Sze ne war schließlich folgender: Von Beginn seiner Rede an zog er die Möglichkeit in Betracht, daß der Ausgang des Krieges nicht unbedingt günstig sein werde. Er sagte, daß, wenn das Unter nehmen tatsächlich nicht von Erfolg gekrönt sein werde, wenn man aber doch für den Krieg stimmen würde, das Volk, das ihn so unterstützt hätte, sich nicht gegen ihn wenden dürfe. Wenn das Volk tatsächlich bereit sei, mit ihm, Perikles, den mög lichen Erfolg zu teilen, dann sollte es auch die Niederlage und den Mißerfolg teilen, wenn diese sich einstellen sollten. Das ist j ener Aspekt des Risikos und der Gefahr, der mit dem Wahr sprechen in der Politik verbunden ist. Ich möchte noch einmal von dieser ersten Szene ausgehen. Dann möchte ich Sie an eine zweite Szene erinnern, der wir ebenfalls b egegnet sind, eine Szene, die historisch weniger real ist, obwohl sie sich auf Elemente bezieht, die in der histori schen Wirklichkeit eindeutig identifizierbar sind: Isokrates' Rede über den Frieden, die ich am Ende der letzten Vorlesung
ansprach und die sechzig bis siebzig Jahre später geschrieben wurde, um die Jahre 3 5 5 - 3 56. In dieser Rede ist es Isokrates' Aufgabe, für oder gegen einen Friedensvorschlag zu sprechen. Tatsächlich wurde Isokrates' Rede wie alle seine Reden nicht wirklich vor der Volksversammlung gehalten. Es handelt sich \"ielmehr um eine Art von . . . , nicht um ein Pamphlet, sondern um ein Manifest zugunsten des Friedens, das die Form einer möglichen Rede, einer eventuellen Rede vor der Volksver sammlung hat. In dieser Rede gibt es eine Einleitung, in der lsokrates daran erinnert, daß die Frage von Krieg und Frieden äußerst wichtig ist. Der Frieden und der Krieg hätten das größ te Gewicht im Leben der Menschen, und deshalb ist eine rich tige Entscheidung hierüber (orthos bouleuesthai: richtig ent scheiden) wesentlich. 1 Nun aber, fährt Isokrates in seiner Einleitung fort, werden nicht alle diejenigen, die sich für oder gegen den Frieden aussprechen, von der Volksversammlung auf gleiche Weise behandelt. Die einen werden freundlich emp fangen, während die anderen vertrieben werden. Warum wer den sie vertrieben ? Nun, weil sie nicht den Wünschen der Volksversammlung gemäß sprechen. Und weil sie nicht so sprechen, wie es die Volksversammlung wünscht, werden sie verj agt. Nun liegt hier aber ein völliges Unrecht vor, das das Zusammenspiel von Demokratie und Wahrsprechen trübt. Denn warum sollten sich jene, die im Sinne der Volksversamm lung sprechen, die Mühe geben, vernünftige Argumente zu suchen und zu formulieren ? Es genügt ihnen, das zu wieder holen, was die Leute, die anderen, sagen. Sie müssen nur diese gemurmelte Meinung wiedergeben. Während j ene, die etwas anderes als das denken, was die Volksversammlung im All gemeinen wünscht, gezwungen sind, nach Argumenten, nach vernünftigen und wahren Argumenten zu suchen, um die Volksversammlung zu überzeugen und um deren Meinung zu ändern. Deshalb sollte eine Versammlung viel eher jene anhö ren, die gegen ihre eigene Meinung sprechen, als j ene, die nur das wiederholen, was sie selbst schon denkt. Die dritte Szene, die ich erwähnen möchte, der dritte Text, ist 24 3
ein Text und eine Szene, von denen ich schon am Anfang der Vorlesung gesprochen habe, in der zweiten Sitzung, glaube ich. Es handelt sich um jene berühmte Szene, in der Platon am Hofe Siziliens erscheint, am Hofe Dionysios' des Jüngeren, und durch Dion mit dem Tyrannen konfrontiert wird.2 Diese Szene wird von Plutarch berichtet, also viel später als zu der Zeit, auf die ich mich im Augenblick beziehe. Erzählt wird j edoch eine Szene, die sich genau zu dieser Zeit ereignet, d. h. im Laufe der ersten Hälfte des 4 · Jahrhunderts. Was sahen wir in dieser Szene ? Nun, wir sahen zwei Personen: Dion, den Schwager von Dionysios dem Jüngeren, und Platon, den Phi losophen, der auf Geheiß Dions gekommen war, um die Seele von Dionysios dem Jüngeren zu bilden. Sowohl der eine als auch der andere stehen dem Tyrannen gegenüber, und beide machen Gebrauch von der parrhesia (vom Wahrsprechen, vom Freimut). Indem sie das tun, nehmen sie offensichtlich das Ri siko auf sich, den Tyrannen zu verärgern. Wir sehen die beiden folgenden Ergebnisse: Einerseits wird Platon, den Dionysios tatsächlich vertreibt, nicht nur mit dem Tod bedroht, sondern Dionysios stiftet auch ein Komplott, um ihn zu töten, während Dion eine zeitlang weiterhin seinen Einfluß über Dionysios behält und ihn als einziger am ganzen Hofe und in Dionysios' ganzer Umgebung noch beeinflussen kann. Wenn ich an diese drei Szenen etwas ausführlicher erinnert habe, dann aus folgendem Grund. Mir scheint, daß man aus ih rem Kontrast die Entstehung der Definition bzw. die Abzeich nung eines bestimmten politischen, historischen und philoso phischen Problems erfassen kann. Erstens, was finden wir in diesen drei Szenen ? Wir finden eine Reihe von grundlegenden Elementen, die sich gleichen. Erstens vollzieht sich die parrhe sia in diesen drei Szenen in einem konstituierten politischen Raum. Zweitens besteht die parrhesia darin, daß eine bestimm te sprachliche Äußerung gemacht wird, eine Äußerung, die vorgibt, das Wahre zu sagen, und in der derj enige, der Wahres sagt, bekennt, die Wahrheit zu sagen, und sich als derjenige zu erkennen gibt, der den wahren Satz oder die wahren Sätze ver2 44
kündet. Drittens geht es in diesen drei Szenen um den Einfluß, der durch den Sprecher, der die Wahrheit sagt, ausgeübt wird. Wenn man die Wahrheit sagt, dann j edenfalls um einen be stimmten Einfluß auszuüben, und zwar gleichgültig ob auf die Versammlung oder auf den Fürsten, einen Einfluß, der tatsäch lich eine Wirkung darauf hat, wie Entscheidungen getroffen werden und wie die Stadt oder der Staat regiert werden. Schließ lich ist das vierte Element, das allen diesen Szenen gemein ist, das eingegangene Risiko, d. h. die Tatsache, daß das Ober haupt, der Verantwortliche, der, der gesprochen hat, entweder vom Volk oder vom Fürsten je nach dem Erfolg des U nterneh mens, je nach dem, ob sein Wahrsprechen zu diesem oder je nem Ergebnis führt, oder einfach je nach der Stimmung der Versammlung oder des Fürsten belohnt oder bestraft wird. Wir haben also diese gleichen Elemente. Zugleich sehen Sie aber, daß die drei Szenen sich voneinander unterscheiden. Die erste Szene - die Szene, die von Thukydi des erzählt wird, wo Perikles vor die Volksversammlung tritt und das Wort ergreift - stellt die richtige parrhesia dar, wie sie funktionieren soll. Unter allen Bürgern, die das Recht zu spre chen haben und die auch wirklich ihre Meinung abgeben konnten und sie im übrigen auch durch ihre Stimme abgeben werden, unter allen diesen gibt es einen, der einen Einfluß aus übt, einen guten Einfluß, und der Risiken auf sich nimmt, in dem er genau erklärt, worin diese Risiken bestehen. Das ist die richtige parrhesia. Die beiden letzteren - die, die von Iso krates am Anfang von peri tes eirenes erwähnt wird, und die, die Plutarch anspricht, als er das Leben von Dion erzählt - sind falsche parrhesiai oder zumindest parrhesiai, die nicht den geplanten Erfolg haben, weil im einen Fall, der von Isokrates genannt wird, demjenigen, der die Wahrheit sagt, kein Gehör geschenkt wird. Ihm wird kein Gehör geschenkt zugunsten der Schmeichler, die, anstatt die Wahrheit zu sagen, nur die Meinung der Versammlung wiederholen. Im Falle von Diony sios hat der Tyrann, nachdem der Philosoph gesprochen hat, nichts Dringenderes zu tun, als ihn zu vertreiben und gegen 245
ihn ein Komplott auszuhecken, das ihm geradewegs den Tod bringen könnte. Nun, mir scheint, daß sich durch diese drei Szenen und durch ihre gemeinsamen und verschiedenen Ele mente die neue Problematik der parrhesia und ein ganzer Bereich politischen Denkens abzeichnet, das die Antike durch dringen und sich hartnäckig in ihr halten wird, und zwar min destens bis zum Ende des 2. Jahrhunderts oder bis zur großen Krise der Kaiserregierung in der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Ich glaube, daß diese fünf, sechs, sieben Jahrhunderte des antiken philosophischen Denkens bis zu einem gewissen Grad anhand des Problems der parrhesia betrachtet werden können. Im folgenden möchte ich genauer ausführen, was ich rneme. Erstens erscheint der Begriff der parrhesia, die sich in Euripi des' Ion als Privileg erwies, als ein Recht, das man legitimer weise anstreben kann unter der Bedingung, daß man Bürger ei nes Staats ist, und nach dem Ion so sehr verlangte, in den drei Szenen als zweideutige Praxis. Die parrhesia ist für die Demo kratie notwendig, und sie muß auch um den Fürsten herum herrschen: Die parrhesia ist eine notwendige Praxis. Zugleich ist sie gefährlich, oder vielmehr birgt sie die Gefahr in sich, so wohl wirkungslos als auch gefährlich zu sein. Wirkungslos, weil es keinen Beweis dafür gibt, daß sie wirklich richtig funk tionieren wird, daß sie nicht zu einem umgekehrten Ergebnis relativ zu dem angestrebten führen wird. Andererseits kann sie für den, der sie ausübt, immer lebensgefährlich sein. Wir haben also eine Problematisierung der parrhesia, eine Zweideutigkeit ihres Werts. Das ist die erste Wandlung, die man sieht, wenn man die drei Szenen miteinander vergleicht. Zweitens erkennt man eine zweite Wandlung, die die Lokali sierung der parrhesia betrifft. In Euripides' Text war klar und wurde ausdrücklich gesagt, daß die parrhesia wesentlich zur D emokratie gehörte, und zwar in Form einer Zirkularität, die wir angesprochen haben: Ion mußte die parrhesia haben, damit die athenische Demokratie verankert werden konnte; anderer seits konnte die parrhesia innerhalb der Demokratie eine Rolle
spielen. Parrhesia und D emokratie gehörten wesentlich zu sammen. Nun sehen Sie aber in der zuletzt erwähnten Szene (der Szene, die Plutarch schildert, und in der Platon, Dion und Dionysios auftreten), daß die parrhesia überhaupt nicht mehr wesentlich zur Demokratie gehört. Die parrhesia hat eine posi tive Rolle, die sie dazu bestimmt, innerhalb eines ganz anderen Typs von Macht wirksam zu werden, nämlich der autokrati schen Macht. Wir haben also eine B ewegung der parrhesia von einer demokratischen Struktur, mit der sie verbunden war, zu einer nicht-demokratischen Regierungsform. Drittens sieht man anhand der letzten, von Plutarch geschil derten Szene so etwas wie eine Aufspaltung der parrhesia in dem Sinne, daß die parrhesia als etwas Notwendiges im eigent lichen politischen B ereich erscheint. Die parrhesia ist ein direk ter politischer Akt, der entweder vor der Volksversammlung oder vor dem Oberhaupt, dem Regierenden, dem Souverän, dem Tyrann usw. ausgeübt wird. Sie ist ein p olitischer Akt. An dererseits ist die parrhesia aber auch ein Akt - das geht deutlich aus Plutarchs Text hervor -, eine Weise zu sprechen, die sich an eine Person, an die Seele einer Person richtet und die die Art und Weise der Bildung dieser Seele betrifft. Die Seelenbildung des Fürsten, die Rolle, die die Umgebung des Fürsten zu spie len hat, und zwar nicht direkt in der politischen Sphäre, son dern für die Seele des Fürsten, da er es ist, der die politische Rolle spielen wird, macht deutlich, daß die parrhesia sich ge wissermaßen von ihrer streng politischen Funktion ablöst und daß zur p olitischen parrhesia eine weitere parrhesia hinzu kommt, die man psychagogisch nennen könnte, weil es bei ihr darum geht, die Seele der Menschen zu führen und zu lenken. Wir haben hier also eine Aufspaltung der parrhesia. Viertens schließlich - und das ist natürlich das Wichtigste - se hen wir in der Szene, die Plutarch schildert, mit der parrhesia eine neue Persönlichkeit auftreten. Womit hatten wir es bisher beim Spiel der parrhesia zu tun ? Wir hatten es mit dem Staat zu tun, mit den Bürgern und im Hinblick auf die Bürger mit der Frage, welche die einflußreichsten sein könnten oder sollten. 2 47
Wir hatten es mit dem Oberhaupt zu tun und im Grenzfall mit dem Herrscher, dem despotischen oder tyrannischen Herr scher. Erst mit der Szene, die Plutarch schildert - wie gesagt, sie ereignet sich ebenfalls am Anfang des 4- Jahrhunderts -, sehen wir Platon auftreten, d. h. den Philosophen, der jetzt in dieser Szene der parrhesia eine wesentliche Rolle zu spielen hat. Zwar ist es nicht das erste Mal, daß der Philosoph als solcher eine we sentliche Rolle im Staat zu spielen hat. Es war eine sehr alte Tradition, die im 5. Jahrhundert schon völlig anerkannt war, daß der Philosoph für den Staat entweder ein Gesetzgeber (ein Nomothet) oder ein Friedensstifter sein konnte oder sollte. Letzterer sollte das Gleichgewicht des Staates auf solche Weise regeln, daß es keine Zwistigkeiten, inneren Kämpfe und Bür gerkriege gibt. Gesetzgeber und Friedensstifter der Staaten, darin bestand die Rolle des Philosophen. Aber in der Szene, wo Platon an der Seite von Dion Dionysios gegenübersteht, sehen wir den Philosophen als Parrhesiast auftreten, als einer, der die Wahrheit auf der politischen Bühne sagt, und zwar innerhalb einer bestimmten politischen Konstellation, und um entweder die Politik des Staats oder die Seele dessen zu leiten, der die Po litik des Staats steuert. Kurz, durch die Nebeneinanderstellung und den Kontrast der drei Szenen (der Szene des Thukydides, die aus der zweiten Hälfte des 5 . Jahrhunderts datiert, und der beiden anderen: der von Plutarch geschilderten und derj enigen, die in Isokrates Rede erwähnt wird, welche aus der ersten Hälfte des 4· Jahr hunderts stammen) kann man erstens sagen, daß die Praxis der parrhesia problematisiert wird; zweitens, daß sie zu einem all gemeinen Problem für alle politischen Staatsformen wird (für alle politeiai, seien sie nun demokratisch oder nicht); drittens, daß sie sich aufspaltet in ein eigentlich politisches Problem und ein Problem der psychagogischen Technik, obwohl diese bei den Dinge sehr eng miteinander verknüpft sind; und schließ lich, daß sie zum Gegenstand und Thema einer philosophi schen Praxis im eigentlichen Sinne wird. Nun, ich glaube, daß man hier sehen kann, wie sich die vier großen Probleme des an-
riken politischen Denkens herausbilden, die bei Platon schon ausformuliert sind. Erstens, gibt es eine Staatsform, eine Organisation, eine poli teia des Staats, so daß die Koppelung dieser Staatsform an die Wahrheit auf das immer gefährliche Spiel der parrhesia ver zichten kann ? Oder anders ausgedrückt: Kann man ein für allemal das Problem der Beziehungen zwischen der Wahrheit und der Organisation des Staats lösen ? Kann der Staat ein für allemal eine klare, bestimmte, grundlegende und in gewissem Sinne fixierte Beziehung zur Wahrheit haben ? Das ist in gro ben Zügen das Problem des idealen Staats. Der ideale Staat, den Platon und andere nach ihm versuchen werden zu entwerfen, ist, glaube ich, ein Staat, in dem gewissermaßen das Problem der parrhesia im voraus gelöst wird, da die Gründer des Staats diesen in einem solchen Verhältnis zur Wahrheit gegründet ha ben, daß dieses Verhältnis künftig unauflöslich und unabtrenn bar ist und daß alle Gefahren, alle Zweideutigkeiten, alle Ge fahren, die für das Spiel der parrhesia charakteristisch sind, dadurch aufgelöst werden. Das ist das erste Problem und das erste Thema. Zweitens erscheint im antiken politischen Denken ein anderes Thema, das ebenfalls an das vorliegende anknüpft: Was ist bes ser ? Wenn das Staatsleben richtig an die Wahrheit gekoppelt werden soll, ist es dann besser, in einer Demokratie das Wort allen zu überlassen, die sprechen können oder wollen oder sich dazu imstande fühlen ? Oder ist es dagegen besser, der Weisheit eines Fürsten zu vertrauen, der von einem guten Ratgeber auf geklärt wird ? Ich glaube, daß hier einer der Hauptzüge liegt, die man festhalten sollte, nämlich daß die große Debatte im an tiken D enken zwischen der D emokratie und der Monarchie nicht bloß eine Debatte zwischen der D emokratie und der autokratischen Macht ist. Vielmehr findet die Auseinander setzung zwischen zwei Paaren statt: dem Paar, in dem die De mokratie enthalten ist, wo die Leute sich erheben, um die Wahrheit zu sagen (daher haben wir: Demokratie und Redner, Demokratie und den Bürger, der das Recht zu sprechen hat 2 49
und es ausübt), während das andere Paar aus dem Fürsten und seinem Berater besteht. Die Auseinandersetzung bzw. der Ver gleich zwischen diesen beiden Paaren steht, glaube ich, im Zen trum einer der großen Problematiken des politischen Denkens in der Antike. Drittens sieht man das Problem der Seelenbildung und der See lenführung auftauchen, das für die Politik unerläßlich ist. Die Frage erscheint natürlich deutlich im Zusammenhang mit dem Fürsten: Wie soll man auf die Seele des Fürsten einwirken, wie soll man sie b eraten ? Aber noch bevor man sie beraten kann, wie soll die Seele des Fürsten gebildet werden, damit sie für je nen wahren Diskurs empfänglich wird, den man unablässig während der Ausübung seiner Macht an ihn richten soll ? Die selbe Frage stellt sich auch im Hinblick auf die D emokratie: Wie kann man diej enigen Bürger bilden, die die Verantwor tung zu sprechen und die anderen zu leiten übernehmen sol len ? Das ist also die Frage der Pädagogik. Und schließlich ist das vierte große Problem folgendes: Wer ist in der Lage, j ene parrhesia, j enes Spiel der Wahrheit auszuüben, das für das p olitische Leben unerläßlich ist - und das man sich sowohl in einer idealen Verfassung am Fundament des Staates als auch im Spiel der Demokratie mit den Rednern oder des Fürsten mit s einem B erater vorstellen kann und dessen Vortei le miteinander verglichen werden können -, j ene parrhesia, je nes Wahrsprechen, das notwendig ist, um die Seele der Bürger oder die Seele des Fürsten zu leiten ? Wer ist in der Lage, der Meister der parrhesia zu sein ? Worin besteht das Wissen oder die techne, was ist die Theorie oder die Praxis, was ist die Er kenntnis, aber auch was ist die Ausübung, was ist die mathesis und was ist die askesis, die die Ausübung dieser parrhesia er möglichen ? Handelt es sich um die Rhetorik oder um die Phi losophie ? Diese Frage nach der Rhetorik und Philosophie wird ebenfalls das ganze F eld des politischen D enkens durch ziehen. Auf diese Weise kann man, wie mir scheint, eine Reihe von Entwicklungen verstehen, die für diese Form des D enkens wesentlich sind, nämlich ausgehend vom Schicksal, von der
Entwicklung dieser Praxis und dieser Problematik der par rhesia. Das sind die Probleme, die ich in den folgenden Vorlesungen behandeln werde: das Problem der Philosophie im Vergleich mit der Rhetorik, das Problem der Psychagogie und der Erzie hung im Hinblick auf die Politik, die Frage der j eweiligen Ver dienste der Demokratie und der Autokratie und die Frage nach dem idealen Staat. Bevor ich mich j edoch in den folgenden Vorlesungen diesen verschiedenen Fragen widme, möchte ich in der heutigen Sitzung das betrachten, was man den platoni schen Kreuzweg nennen könnte, d. h. den Moment, in dem sich diese verschiedenen Probleme voneinander absetzen und ausbilden werden.':· In einem gewissen Sinne könnte man natürlich meinen, daß die ganze Philosophie Platons in diesem Problem gegenwärtig ist und daß es schwierig ist, in bezug auf Platon von »Wahrheit und Politik« zu sprechen, ohne vorher ein allgemeines Referat, eine allgemeine erneute Lektüre seines Werkes zu geben. Ich möchte einfach einige Stichproben machen und mich auf vier oder fünf große Passagen des platonischen Werks beziehen, in denen man das Wort parrhesia in diesem technischen, poli tisch-philosophischen Sinn findet. Man findet manch andere Erwähnungen des Begriffs, und zwar gerade im gewöhn lichen Sinn: offen sprechen, frei sprechen usw. Dagegen gibt es eine Reihe von Texten, in denen der Begriff der parrhesia in'' Das Manuskript führt hier weiter aus: »Sich an den platonischen Kreuz weg versetzen, dorthin, wo man die Kritik der falschen parrhesia er kennt, die der Demokratie und der Redner, der Rhetorik, um sich dann der Problematik der richtigen parrhesia anzunehmen, der des weisen Beraters, der des Philosophen; tatsächlich könnte man viele Texte Pla tons unter diesem Gesichtspunkt lesen; die ganze platonische Philoso phie könnte unter dem Gesichtspunkt des Problems des Wahrsprechens im B ereich politischer Strukturen und im Hinblick auf die Alternative zwischen Philosophie und Rhetorik betrachtet werden. Da es hier um die Genealogie der Regierungskunst und der Herausbildung der The matik des Fürstenberaters geht, werde ich mich kurz Platon zuwenden, indem ich einige Texte hervorhebe, in denen das Wort parrhesia tatsäch lich Verwendung findet.
nerhalb eines bestimmbaren theoretischen Zusammenhangs vorkommt und die dort gestellten Probleme erhellt. Der erste Text, auf den ich hinweisen möchte - ich werde sie nicht in chronologischer Reihenfolge zitieren, oder vielmehr werden die drei ersten in chronologischer Reihenfolge stehen und dann werde ich zuletzt einfach einen Text aus dem Gor gias zitieren, der folglich früher geschrieben wurde, aber aus Gründen, die Sie rasch verstehen werden, werde ich ihn zuletzt b ehandeln -, er steht im Buch VIII des Staats, 5 5 7a-b ff. Es han delt sich um die B eschreibung des Üb ergangs von der Oligar chie zur Demokratie und um die Entstehung und Entwicklung des demokratischen Staats und des demokratischen Menschen. Ich erinnere kurz an den Zusammenhang. Es geht um die Ent stehung der Demokratie. Diese Entstehung der Demokratie vollzieht sich, so Platon im Staat, im Ausgang von einer Olig archie, d. h. von einer Situation, in der nur wenige die Macht und den Reichtum innehaben, j ene b erühmten Leute, die die dynasteia ( d. h. den politischen Einfluß auf die Stadt) aufgrund ihres Status, aufgrund ihres Reichtums und aufgrund der Aus übung der politischen Macht, die sie sich selbst vorbehalten, innehaben. Wie wird die Oligarchie zur D emokratie ? Nun, Sie erinnern sich an ihre Entstehung:3 Sie ist im Wesentlichen öko nomischer Natur, da die Machthaber in einer Oligarchie kei nerlei Interesse oder Lust haben, die anderen um sie herum an der Verarmung zu hindern, im Gegenteil. Je weniger Reiche es um sie herum gibt, umso geringer wird die Zahl derer sein, die in der Lage sind, mit ihnen die Macht teilen zu wollen. Die Ver armung der anderen ist also notwendiges Gesetz oder zumin dest das natürliche Ziel j eder Oligarchie. Um die zunehmende Verarmung den anderen gewissermaßen zu erleichtern, tragen die Oligarchen dafür Sorge, daß keine Gesetze gegen den Lu xus verabschiedet werden: Je mehr die Leute ausgeben und sich für ihren Luxus und ihr Vergnügen in wahnsinnige und über flüssige Ausgaben stürzen, umso besser. Die Oligarchen verab schieden auch keine Gesetze, die Schuldner vor Gläubigern schützen. Im Gegenteil lassen sie die Gläubiger erbittert gegen
die Schuldner kämpfen, so daß diese immer ärmer werden, was zur Folge hat, daß sich j ener b erüchtigte Gegensatz zwischen den ganz Reichen und den ganz Armen ergibt, der in einer be rühmten Textstelle beschrieben wird.4 Wenn die Bürger eines oligarchischen Staates sich bei religiösen Liturgien, Militärver sammlungen oder Bürgerversammlungen treffen, sind es die ganz Reichen und die ganz Armen. Dann entzündet sich die Eifersucht, und so beginnen Bürgerkriege, die zur Folge ha ben, daß die Ä rmsten und Zahlreichsten, während sie gegen die anderen kämpfen und nach Verbündeten rufen, die von außen kommen, am Ende die Macht ergreifen und die Oligarchie stürzen. Die Demokratie, sagt Platon, » entsteht also, wenn die Armen siegen und ihre Gegner töten oder verbannen, alle übri gen aber nach gleichem Recht an Verfassung und Ä mtern teil nehmen lassen. <<5 Es geht um das, was er >>ex isou metadosi poli teias kai archon<< nennt: die gleiche Teilhabe an der politeia (an der Verfassung, an der Bürgerschaft und an den zugehörigen Rechten) und an den archon (den Ämtern). Hier haben wir ge nau die Definition j ener berühmten demokratischen Gleich heit, von der die der D emokratie wohlgesonnenen Texte im mer gesagt haben, daß sie die Grundlage des demokratischen Staates bilde. Die Demokratie zeichnet sich durch isonomia und isegoria aus. Während aber die positiven Definitionen der Demokratie diese Gleichheit als eine Art von fundamentaler Struktur ausgeben, die dem Staat durch einen Gesetzgeber oder zumindest durch eine Gesetzgebung, die den Frieden im Staat gewährleistet, verliehen wurde, wird hier im Gegensatz dazu die demokratische Gleichheit nicht nur durch den Krieg errungen, sondern trägt auch weiterhin die Spur und das Mal des Krieges und des Konflikts an sich, da die Ü brigbleibenden nach ihrem Sieg und nachdem sie die Oligarchen verbannt ha ben, Regierung und Ä mter wie eine Siegesbeute teilen. Die Gleichheit beruht daher auf diesem Krieg und auf diesem Kräf teverhältnis. Jedenfalls entsteht so die isonomia, zwar unter schlechten Bedingungen, aber immerhin entsteht sie. Was geht aus dieser isonomia hervor ? Zwischen den Zeilen von Platons
Text finden wir die konstitutiven Elemente der Demokratie. Die erste Folge dieser Demokratie ist eleutheria (die Freiheit). Platon beschreibt sie unmittelbar mit ihren beiden klassischen Komponenten: Erstens, die parrhesia: die Redefreiheit. Aber auch die Freiheit zu tun, was man will, und nicht nur, seine Meinung abzugeben, sondern die Entscheidungen, die man will, wirklich zu treffen, die Freiheit, all das zu tun, wozu man Lust hat.6 Diese Struktur, dieses Spiel der Freiheit in der so ver faßten Demokratie muß man auf dreierlei Weise verstehen. Erstens handelt es sich um die Freiheit im genannten Sinne, zu tun und zu sagen, was man will. Es handelt sich aber auch um eine Freiheit, verstanden im streng politischen Sinn dieses Be griffs, bei der in der Demokratie j eder für sich selbst seine eige ne politische Einheit ist. Weit entfernt davon, daß die parrhesia oder daß die Freiheit, das zu tun, was man will, die Bedingung darstellt, auf deren Grundlage sich eine gemeinsame Meinung bildet, ist in der parrhesia und in der eleutheria, die die so ver faßte Demokratie charakterisieren, j eder gewissermaßen sein eigener kleiner Staat: Er sagt, was er will, und er tut, was er will, für sich selbst. Nicht gezwungen zu sein, in diesem Staat zu be fehlen, auch wenn man dazu in der Lage ist, auch nicht ge zwungen zu sein zu gehorchen, wenn man nicht will, nicht ge zwungen zu sein, in den Krieg zu ziehen, wenn die anderen es tun, nicht gezwungen zu sein, Frieden zu halten, wenn die an deren ihn halten und wenn man keinen Frieden wünscht; an dererseits ein Amt oder eine Richterstelle einzunehmen, wenn einem danach zumute ist, in Mißachtung des Gesetzes, das ei nem j edes Amt und j ede Richterfunktion verbietet: Solche Prakt1ken sind also mit der so verfaßten D emokratie verbun den. Sind diese Praktiken, fragt der Gesprächspartner ironisch, >>nicht gottvoll und wonnig für den Augenblick ? <<7 In einer so funktionierenden Demokratie ist die parrhesia nicht das Ele ment der Konstitution einer gemeinsamen Auffassung, son dern die Garantie dafür, daß j eder für sich selbst politisch auto nom ist und seine eigene politische Identität und Besonderheit hat. 2 54
Eine weitere Folge der so verstandenen Freiheit ist, daß die Re defreiheit j edem b eliebigen gestattet, sich zu erheben und so zu sprechen, daß die Menge sich geschmeichelt fühlt. »Dazu die Sorglosigkeit und Geringschätzung, ja Verachtung, die dieser Staat unserem als wichtig betonten Grundsatz für die Staaten gründung entgegenbringt: wer nicht eine überragende Anlage habe, werde niemals ein tüchtiger Mann, wenn er nicht schon von Kindheit auf in Spiel und Ernst mit dem Schönen umgehe. Mit welch erhabner Pose läßt die Demokratie dies alles weit unter sich und kümmert sich nicht um die Verhältnisse, aus de nen ein Politiker kommt, sondern schätzt jeden, wenn er nur seine gute Gesinnung dem Volke gegenüber beteuert.«8 Jeder ist also seine eigene politische Einheit. Andererseits kann man sich an die Menge wenden und, indem man ihr schmeichelt, das bekommen, was man will. Das ist der zweifache negative As pekt der parrhesia in der so begründeten Demokratie: Jedem geht es nur um seine eigene Identität, und j eder kann die Men ge führen, wohin er will. Während das Spiel der richtigen par rhesia gerade darin besteht, die Unterscheidung des wahren Diskurses einzuführen, der es ermöglicht, indem man Einfluß nimmt, den Staat ordentlich zu leiten, haben wir hier dagegen eine Struktur mangelnder Unterscheidung, die dazu führen wird, den Staat auf die schlechtest mögliche Art zu leiten. Dieser Beschreibung der Entstehung des schlechten demokra tischen Staates entspricht in Platons Text die Beschreibung der Seele des demokratischen Menschen, die nach dem Bild des de mokratischen Staats geformt ist. Was ist nun aber dieses Bild der politischen Demokratie in der Seele des Menschen ? Nun, es ist das, was mit Wünschen und Vergnügungen geschieht. Platon bezieht sich auf eine klassische Unterscheidung zwi schen notwendigen und überflüssigen Wünschen, die nicht für ihn persönlich kennzeichnend ist. Eine Seele, die ordentlich gebildet ist, weiß ganz genau zwischen notwendigen und über flüssigen Wünschen zu unterscheiden. Dagegen ist eine demo kratische Seele gerade eine solche, die den Unterschied zwi schen den einen und den anderen nicht kennt. Sie ist eine Seele, 25 5
in die die überflüssigen Wünsche nach B elieben Einzug halten und den notwendigen Wünschen widerstreiten können.9 Da nun aber die überflüssigen Wünsche unendlich viel zahlreicher als die notwendigen Wünsche sind, werden sie die Oberhand gewinnen. In diesem Spiel der Wünsche haben wir also das Ab bild, das anaLogon zu dem, was sich in j ener Revolution ereig nete, durch die die Demokratie eingerichtet wurde. Es sollte j edoch klar sein, daß es in diesem Text nicht bloß um eine Ähn lichkeitsbeziehung oder um eine Analogie geht. Tatsächlich ist es derselbe Mangel, der im demokratischen Staat die p olitische Anarchie hervorbringt und der in der Seele für die Anarchie der Triebe verantwortlich ist. Wenn im Staat Anarchie entsteht, dann ganz einfach deshalb, weil die parrhesia nicht richtig angewendet wird. Die parrhesia ist dann nichts anderes als die Freiheit, beliebige Dinge zu sagen, anstatt dasjenige zu sein, wodurch sich die Zäsur des wahren Diskurses vollzieht und wodurch der Einfluß der vernünftigen Männer auf die anderen ausgeübt wird. Was fehlt nun in einer demokratischen Seele, in einer Seele, in der die Anarchie der Wünsche herrscht ? Was ist dafür verantwortlich, daß die Anarchie der Wünsche so domi nant geworden ist ? Es ist die Tatsache, so Platon, daß der Logos aLethes (der Diskurs der Wahrheit) aus der Seele vertrieben wurde und man ihn nicht wieder in die Burg eindringen läßt.10 Dieser Mangel an wahrem Diskurs wird den grundlegenden Charakter der demokratischen Seele ausmachen, ebenso wie das schlechte Spiel der parrhesia im Staat j ene Anarchie her vorgebracht hat, die der schlechten Demokratie eigentümlich ist. Der Text geht aber noch weiter. Zwischen dem demokrati schen Staat und der demokratischen Seele gibt es nicht nur die se allgemeine Analogie und auch nicht nur denselben Mangel an wahrem Diskurs. Darüber hinaus gibt es noch eine direktere Verschränkung der demokratischen Seele und des demokrati schen Staates. Der demokratische Mensch ist nämlich gerade derj enige, der mit dieser Seele - dieser Seele, der der Logos aL ethes, der wahre Diskurs, fehlt - in das politische Leben der
Demokratie eindringt und dort seine Wirkung und Macht aus übt. Was wird der demokratische Mensch, dem der Iogos al ethes fehlt, nun tun ? In der Anarchie seiner eigenen Wünsche verfangen, wird er immer größere Wünsche befriedigen wollen. Er wird versuchen, die Macht über die anderen auszuüben, j ene Macht, die an sich selbst erstrebenswert ist und die ihm Zugang zur B efriedigung aller seiner Wünsche verschafft. »Oft treibt er Politik, springt auf, hält Reden, setzt Taten - wie es ihm ge fällt ! [Beschreibung der falschen parrhesia; M. F.] Er stürzt sich in den Kampf, wenn Krieger - ins Geschäft, wenn Händler sei nen Ehrgeiz wecken. Kein ordnender Zwang waltet über sein Leben«, 1 1 und er reißt den übrigen Staat mit sich fort. In die sem Text, in dem der Begriff der parrhesia eine wesentliche Rolle spielt, ist der Mangel an wahrem Diskurs in dem Einfluß, auf den er ein Anrecht hat, das wesentliche Ü bel in der zweifa chen Beschreibung des demokratischen Menschen und des de mokratischen Staats. Das Fehlen des alethes Iogos ist dafür ver antwortlich, daß im demokratischen Staat j eder B eliebige das Wort ergreifen und seinen Einfluß ausüben kann. Dieses Feh len ist ebenfalls dafür verantwortlich, daß in der demokrati schen Seele die Wünsche einander widerstreiten, miteinander im Kampf liegen können, so daß der Sieg an die schlimmsten Wünsche geht. Das bringt uns also auf die Spur der Aufspaltung in die beiden Formen von parrhesia (jene, die für das Leben des Staates notwendig ist, und jene, die für die Seele des Menschen unverzichtbar ist). Die bürgerliche parrhesia, die politische parrhesia, ist mit einer parrhesia verbunden, die sich von ihr unterscheidet, obwohl beide aufeinander angewiesen sind. Es ist diese parrhesia, die den alethes Iogos in die Seele des Men schen eindringen lassen soll. Diese zweifache Abstufung der parrhesia erscheint, glaube ich, ganz deutlich in diesem Text. Der zweite Text, über den ich sprechen möchte, steht in den Gesetzen, im dritten Buch, Paragraph 694a. Dieser Text ist sehr interessant, weil er uns ein ganz anderes Bild der parrhesia nahelegt und sie in einem ganz anderen Zusammenhang zeigt, als was wir bisher gesehen haben. In diesem Text der Gesetze, 257
Buch III, finden wi r die Beschreibung des Königr e ichs von ros, das, so Platon, die » rechte
K y M itte « zwischen der Knecht
schaft und d e r Freiheit darste!lt. 1 2 Sie wissen, daß in einer Reihe
von Krei sen, denen ü b ri gen s sowohl Platon als auch X en o phon a ngehö r ten, di e p e r s is ch e Monarchie des Kyros als das Vorbild der guten und g e r ec h ten politischen
Verfa s s ung galt.
Xenophons Kyropädie i s t diesem Thema gewidmet , und in den
Gesetzen s owi e in einer Reihe von Platons späteren Te xt e n fin det man sehr posi tiv e Verwei se auf das p e rsi s ch e Reich oder zumindest auf j ene P h a se oder Ep isode - die für di e G ri ec hen ü b ri g e ns ei nen ganz m ythisc h e n Charakter hatte - des persi schen Reichs, die in der Herrs c h aft Kyros' b estand. Ky ros '
Herrschaft war als o ein wichti g er p olitischer Mythos für diese Meinungsrichtung
zu
j e ne r Zeit. Wie b e s chr e i bt nun a be r Pla
ton in den Gesetz en das Reich de s Ky ro s ? Erstens habe sich
Kyros, als er die großen Siege erru ng e n hatte, die ihn an die
Sp i tz e s eines
Rei c h e s brachten, davor ge h ü t et , die
Sieger eine
unbegrenzte Macht über die B e s ieg t e n a u s ü b e n zu lassen. An
statt sich wie die schl echten Herr sch e r
zu
verhalten, di e g egen
über d en B esi egten eine des p otis c he Herrschaft ihrer eigenen Famili e oder ihrer eigenen Freunde e i n richt e n, hat Kyros an
die n atü rl i chen Oberhäupter,
an
die schon existierenden Ober
häupter der bes i e gten Völker app e lliert . Diese Ob e rhäup t e r
wurden nun erstens
K yro s '
Freunde und dann seine Abgeord
neten bei den besiegten Völkern . Ein Reich, in dem die Sieger
den besiegten Oberhäup tern d en se lb e n Rang einräumen, den sie se lbs t innehab en, ist ein a ng e m e sse n regiertes Reich. Zwei tens, so Platon, war K yr os ' Reich ein gutes Reich, weil das Heer so eingerichtet war, daß die Soldaten die
F reu nde
der
Oberhäupter waren und als solche b ereit waren, sich auf d e ren
B efehl Gefahren auszus etzen. Schließlich b estand das dritt e Merkmal von Kyro s ' Reich darin, daß, wenn es in der Umge bung des Herrschers jem a n d en gab , der klug war und gute Rat schläge geben konnte, d er König, d er in d i e s er Hinsicht frei
von jeglicher Eifersu cht war, ihm die volle Redefreiheit verlieh
(d i e parrhesia).
Er gab ihm nicht nur volle Redefreiheit, son-
:::m
er belohnte und ehrte alle diej enigen, die sich als fähig er
"· i es en, ihn o rdentl ich zu beraten. Dadurch, durch diese den
i:iügsten Beratern verliehene F reihe i t zu s p rechen , wie sie woll � ;:- ;:1 ,
bot er die Möglichkeit, die Fähigkeiten s e in e s Beraters im
I :::: r eresse aller herauszustellen. Von da an, so schließt der Text,
;-:dieh all es bei den Persern, nämlich dank de r Freiheit (eleu : �'e'-ia), der Freunds chaft (philia) und der Gemeinsamkeit der ,.'insichten und der Zusammenarbeit ( d e r koinonia). 1 3 :eh glaube, daß dieser Text sehr interessant ist, weil man i n ihm s<)wohl di e Beibehaltung einer Reihe von Werten, die Beibehal ::mg ei n e r bestimmten Thematik, die für die parrhesia eigen :-ümlich ist, als auch die Verschiebung, die Umwandlung die s er Thematik erk e nn t , die es g estattet, sich an ei n en ganz an de ren ?ol itischen Zu s ammenh a n g anzupass en, nämlich d en der aut o '"" a tischen Macht. Im Falle der demo k ratis c hen parrhesia hatte : eder das Recht zu sp re c h e n . Es war j edoch auß e r d e m notwen dig, daß die, die spreche n , auch di e Fähigste n sind. Und das 'var eines der P r ob l e m e , die für das Funktionieren der Demo ;;:ratie we s entlich sind. Hier haben wir d as s el b e Problem und dasselbe Thema: Unter den B eratern des Fürsten gibt es man :he, die fähiger sind als die and e r e n . Und es wird gerade di e .-\ufga b e und Funktion des Fürsten sein, d e nj e ni gen unter sei :1en B era t ern herauszufinden, der der fähigste, der klügste, der rauglichste ist. Zweitens bestand in der demokratischen parrhesia - das war die wesentliche Gefahr d ieser parrhesia
-
für denj e ni g e n , der
das Wort ergriff, das Risiko, daß se i n e Unternehmungen nicht
den erwarteten Erfolg hatte n . Au ß erdem g ab es das Risiko, das noch schwerwiegender oder unmittelbarer un d gefährlicher war, d e r Volksversammlung zu mißfallen und aus gewiesen zu werden, mö g licherweise aus der Stadt v erbannt oder v e rj agt zu werden un d sei n e B ü rg e rrech te zu verlieren usw. Dieselbe Ge fahr bestand im Kontext der autokratischen Macht, u nd es wird ge ra d e die Aufgabe des Fürste n sein - genau das tut Ky ros -, daß der, der vor ihm und in seiner G e g en w a rt das Wort ergreift, nicht von seiner eigen e n Redefreiheit bedroht wird. 259
Kyros verlieh »volle Redefreiheit«, und er »ehrte j eden, der fä hig war, ihn zu beraten. «14 Wir begegnen hier der Vorstellung dessen, was man den parrhesiastischen Bund nennen könnte. Der Herrscher soll einen Raum eröffnen, innerhalb dessen das Wahrsprechen seines Beraters erscheinen und sich vollziehen kann, und er soll sich durch die Eröffnung dieser Freiheit dazu verpflichten, seinen Berater nicht zu maßregeln und nicht ge gen ihn durchzugreifen. D as dritte wichtige Element, an das ich erinnern möchte, ist folgendes: Es machte den eigentümlichen Charakter der demo kratischen parrhesia aus, daß sie nur unter der Bedingung eine wirkliche Rolle spielen kann, daß sich manche Bürger von den anderen unterscheiden, und daß sie die Volksversammlung dort, wo es nötig ist, leitet, indem sie Einfluß auf sie nimmt. In nerhalb der demokratischen Gleichheit war die parrhesia ein Prinzip der Differenzierung, eine Zäsur. Wir sehen hier nun, daß in Kyros' gutem Kaiserreich die parrhesia die hervor stechendste Form eines ganzen Prozesses ist, der, Platon zufol ge, das richtige Funktionieren des Kaiserreichs gewährleistet, nämlich daß alle hierarchischen Unterschiede, die es zwischen dem Herrscher und den Soldaten, zwischen seiner Umgebung und den übrigen Bürgern, zwischen den Offizieren und den Soldaten, zwischen den Siegern und den Besiegten geben mag, durch die Bildung einer Reihe von Beziehungen gewisserma ßen gemildert oder ausgeglichen werden, die den ganzen Text hindurch als Freundschaftsbeziehungen b ezeichnet werden. Die philia wird Sieger und B esiegte vereinen, sie vereint Solda ten und ihre Offiziere. Mit derselben philia, derselben Freund schaft hört der Souverän den Berater an, der ihm die Wahrheit sagt, und dieselbe philia b ewirkt auch, daß der B erater sich notwendigerweise aufgerufen oder zumindest geneigt fühlt, zu sprechen und dem Fürsten die Wahrheit zu sagen [ . . ]. Auf die se Weise, so der Text, kann das ganze Kaiserreich funktionie ren, nämlich nach den Prinzipien der »eleutheria« (einer Frei heit), deren Form nicht die verfassungsmäßige der geteilten politischen Rechte ist, sondern die Redefreiheit. Diese Rede.
260
ireiheit gibt Raum für eine philia (eine Freundschaft). Und diese Freundschaft garantiert im ganzen Kaiserreich die koino r.ia 1 5 zwischen Siegern und Besiegten, Soldaten und Offizie ren, Höflingen und anderen Bewohnern des Kaiserreichs. Die s e Redefreiheit, diese parrhesia ist also die konkrete Form der Freiheit in der Autokratie. Sie ist das Fundament der Freund schaft, der Freundschaft zwischen den verschiedenen Hierar (:hieebenen des Staates und der Zusammenarbeit, der koinonia, die die Einheit des ganzen Reiches sicherstellt. Der dritte Text steht gleichfalls in den Gesetzen, in Buch VIII, Paragraph 8 3 5 ff. Es handelt sich um einen recht eigenartigen Text. Sie erinnern sich, daß das im VIII. Buch der Gesetze be handelte Problem die Frage ist, wodurch die moralische, die religiöse und die bürgerliche Ordnung im Staat garantiert werden soll. Der ganze erste Teil des VIII. Buchs ist der Veran staltung religiöser Feiern, der Veranstaltung von Chören und Chorgesängen, den Militärübungen gewidmet und dann der Gesetzgebung und der B eherrschung der Lüste und insbeson dere des Geschlechtslebens. Die Passage über die parrhesia steht im Zentrum dieser Betrachtungen, nämlich zwischen dem, was die religiösen Feiern und die Militärübungen einer seits angeht, und der Ordnung des Sexuallebens andererseits. Eine Stelle ganz am Anfang des Buches weist daraufhin, daß diese Praktiken (religiöse Feiern, Chorgesang, Militärübungen ;;sw.) für den Staat völlig unverzichtbar sind und daß dort, wo sie fehlen, die politeiai (die Stadtstaaten) kein wirkliches Ge meinwesen bilden, sondern Mengen von Individuen sind, die sich miteinander vermischt haben und die in Form der »Par :ei« 1 6 miteinander streiten. Damit der Staat eine zusammen hängende Organisation ist, muß es also folgende Elemente ge ben: religiöse Feiern, Chorgesang, Militärübungen und auch das wohlgeordnete Sexualleben. Was ist nun für diese Einheit, diese einheitliche und tragfähige soziale Organisation, nötig ? Es muß eine Autorität geben, so der Text, die gutwillig über dem Volk ausgeübt wird, das sie ebenso gutwillig akzeptiert, eine Autorität, die so b eschaffen sein soll, daß die Bürger ihr
gehorchen können und ihr auch wirklich gehorchen wollen. Es geht also darum, daß die Bürger persönlich von der Gültigkeit des ihnen auferlegten Gesetzes überzeugt sind und daß sie diese Gültigkeit auf ihre eigene Rechnung setzen. In diesem Moment wird die parrhesia notwendig. Die parrhesia ist jene wahre Rede, die von j emandem innerhalb des Staates gehalten werden soll, um die Bürger von der Notwendigkeit zu gehor chen zu überzeugen, zumindest in j enem Teil der Staatsord nung zu gehorchen, der am schwierigsten zu verwirklichen ist, nämlich im individuellen Leben der Bürger und in ihrem See lenleben oder vielmehr im Leben ihres Körpers, d. h. im Leben ihrer Wünsche und Lüste. Am Beginn der Analyse der Sexual gesetzgebung schreibt Platon: »Um so mehr kommt es dage gen auf folgenden Punkt an, wo die Ü berredungskraft leicht versagt, so daß eigentlich hier nur ein Gott zu helfen imstande wäre, wenn es nur möglich wäre, unmittelbar Anweisungen von ihm zu erhalten; so aber bedarf es, wie es scheint, irgend eines unerschrockenen Menschen, der mit unvergleichlichem Freimut das, was ihm für Staat und Bürger das B este zu sein scheint, ausspricht und die sittlich verwahrlosten Gemüter zu Schicklichkeit und Anstand, wie sie dem Gemeinwesen zie men, zurückruft als Bekämpfer der mächtigsten Begierden, ohne dabei auf den B eistand irgendeines Menschen rechnen zu können, sondern ganz auf sich selbst gestellt und nur der eige nen Einsicht folgend. << 1 7 Das ist ein eigenartiger Text, weil wir, wie gesagt, bei der Beschreibung eines idealen Staats sind, wo man gerade erwarten kann, daß die Organisation des Staats selbst, die vorgesehenen Gesetze, die Hierarchie der Ä mter, die Weise, wie die Funktionen bestimmt werden, gewissermaßen die grundlegende Verknüpfung zwischen der Organisation des Staats und der Wahrheit ausmacht. Die Wahrheit war im Geiste des Gesetzgebers gegenwärtig, und wenn er einmal sein Ge setzsystem formuliert hat, wozu braucht man dann noch einen anderen, der die Wahrheit sagt ? Genau dieser Punkt erscheint in diesem Text. Wir haben es mit einem System von Gesetzen zu tun, alles wurde geregelt, die Ä mter sind genau so, wie es 262
nötig ist. Und hier, wo man es mit dem Leben der Individuen, :nit dem Leben ihres Körpers und ihrer Triebe zu tun hat,
braucht man nun einen anderen. Vielleicht einen Gott, aber wenn der Gott nicht beispringt, braucht man eben einen Men schen. Was wird dieser Mensch tun ? Nun, er wird sich, mög licherweise völlig allein und ohne irgendwelche Hilfe, an die Einzelnen wenden, indem er einzig im Namen der Vernunft spricht, und ihnen in aller Offenheit die Wahrheit sagt. Eine Wahrheit, die sie überzeugen soll, und zwar davon, daß sie sich s o verhalten, wie sie sollen. Hier haben wir, glaube ich, die Vor stellung einer Art von Ergänzung zur parrhesia, die die Orga nisation des Staats und die Ordnung der Gesetze, wie vernünf tig sie auch sein mögen, niemals sicherstellen können. Auch wenn es einen idealen Staat gibt, wenn die Ordnung vollkom :nen ist, wenn die Ä mter so gut wie möglich eingerichtet sind, wenn ihre Funktionen so genau wie nötig ausgeführt werden, muß es dennoch, damit die Bürger sich in der Ordnung des Staats richtig verhalten und j ene zusammenhängende Organi sation bilden, die der Staat für sein Ü b erleben braucht, einen zusätzlichen Diskurs der Wahrheit für die Bürger geben. Je mand muß sich in aller Offenheit an sie wenden, die Sprache der Vernunft und der Wahrheit ergreifen und sie dadurch über zeugen. Das ist der zusätzliche Parrhesiast als moralischer Führer der Individuen, aber der Individuen in ihrer Gesamt heit. Diese Art von hohem moralischen Staatsbeamten sehen wir in diesem Text dargestellt. Auch hier läßt sich deutlich er kennen, daß die parrhesia in ihrer Komplexität oder in ihrer zweifachen Gliederung erscheint: Die parrhesia ist in der Tat dasj enige, was die Gesellschaft nötig hat, um regiert zu werden, aber auch das, was auf die Seele der Bürger einwirken muß, da mit sie tadellose Bürger in diesem Staat sind, auch wenn er gut regiert wird. Gewiß hätte ich Ihnen heute morgen auch den Text des G o r gias1 8 erklären wollen. Wir kommen aber auf j eden Fall auf ihn zu sprechen, wenn wir vom Problem der Leitung der einzelnen Seelen handeln werden. In diesem Text wird die parrhesia gera-
de völlig vom politischen Problem entkoppelt. Sie wird hier nur als Prüfung der Seele gegenüber einer anderen dargestellt, als das, wodurch die Wahrheit von einer Seele an eine andere weitergegeben werden kann. Jedenfalls wollte ich Ihnen in die sen drei Texten Platons, von denen ich gesprochen habe, wenn wir vielleicht noch den Text des Gorgias dazunehmen, zeigen, daß sich ein ganzes Problemspektrum der parrhesia eröffnet bzw. abkoppelt. Die bürgerliche, politische parrhesia, die mit der Demokratie und mit dem Problem des Einflusses auf die anderen verbunden ist, dieses Problem der parrhesia nimmt in den Texten Platons neue Aspekte an. Einerseits erscheint das Problem der parrhesia in einem anderen Zusammenhang als dem der Demokratie. Dann wird das Problem der parrhesia als Handlung dargestellt, die nicht nur gegenüber dem ganzen Staatskörper, sondern auch gegenüber der Seele der Indivi duen, sei es der Seele des Fürsten oder der Bürger, ausgeführt werden soll. Schließlich erscheint das Problem der parrhesia als das Problem des philosophischen Handelns im eigentlichen Sinne. Dieser Punkt wird in einer Reihe von anderen Texten Platons sehr klar entwickelt, über die ich in der zweiten Stunde spre chen möchte: Die Briefe Platons sind Texte, die sehr gut zeigen, wie man die parrhesia als Philosoph und von der Philosophie aus entfalten kann. Das werde ich Ihnen in wenigen Minuten zu erklären versuchen.
Anmerkungen I >>Wir sind nämlich zusammengekommen, um über Krieg und Frieden zu debattieren. Beides hat auf das Leben der Menschen größten Einfluß, und zwangsläufig muß es denen, die hierin die richtigen Entscheidungen (orthos bouleuomenos) treffen, besser gehen als allen anderen. So bedeu tend also ist der Gegenstand, zu dessen Beratung wir zusammengekom men sind« (lsokrates, Rede über den Frieden, a. a. 0., 2, S. I 5 I ). 2 Vgl. oben, Vorlesung vom I 2 . Januar, S. 72-84. 3 Platon, Der Staat, Buch VIII, 5 5 5 b- 55 7a, eingel. und übers. v. Kar! Vrets ka, Stuttgart I 9 8o, S. 3 63 - 3 6 5 .
4 Ebd., 5 5 6c-d, S. 3 6 5 . 5 E bd . , 5 5 7a, S . 3 6 5 . 6 »Fürs erste sind die Menschen frei, der Staat quillt über i n der Freiheit der Tat (eleutheria) und der Freiheit des Worts (parrhesia), und jedem ist erlaubt zu tun, was er will ! « (ebd., 5 5 7b, S. 3 66). 7 Ebd., 5 5 8 a, S. 3 67. 8 Ebd., 5 5 Sb. 9 E b d., 5 5 8d- 5 6 1 b, s. 3 66- 3 7 1 . r o »Aber ein wahrhaftiges Wort (logon alethe) empfängt er nicht, noch läßt er es in seine Burg« (ebd., 5 6 1 b, S. p). r r Ebd., 5 6 1 d, S. 3 3 · r 2 Platon, Gesetze, Buch III, 694a. Foucault verwendet hier die Überset zung von L . Robin (CEuvres completes, Bd. II, Paris 1 940, S. 73 2; dt. Werke, Bd. IX, 2, Nomoi [Gesetze], Übersetzung und Kommentar v. Klaus Schöpsdau, Göttingen 1 994, S. So). 13 »Als die Perser zur Zeit des Kyros noch mehr das rechte Maß in der Knechtschaft und in der Freiheit einhielten, da wurden sie zuerst frei und dann Herren über viele andere. Denn da die Herrschenden denen, über die sie herrschten, Anteil an der Freiheit gaben und sie zur Gleich heit hinführten, waren die Krieger mit den Heerführern enger befreun det und zeigten sich kampfeswilliger in den Gefahren; wenn es ande rerseits unter ihnen einen verständigen Mann gab, der Rat zu erteilen fähig war, so konnte er, da der König nicht neidisch war, sondern Rede freiheit gewährte (didontos parrhesian) und diej enigen ehrte, die zu et was einen Rat beizusteuern fähig waren, die Fähigkeit seines Denkens in den Dienst der Gemeinschaft stellen, und so gedieh bei ihnen alles durch Freiheit (eleutherian), Freundschaft und Gemeinsamkeit der Vernunft (philian kai nou koinonian)« (ebd., 694a-b). ! 4 Ebd. 1 5 Vgl. oben, Anm. 1 3 . 1 6 Platon, Gesetze, Buch VIII, S 3 2c, übers. und erläutert v. Otto Apelt, Leipzig 1 9 1 6, S. 3 24· 1 7 Ebd., 8 3 5 b-c, S. 3 2 S - 3 29· r 8 Siehe unten, S. 4 5 7-468, die Textanalyse in der Vorlesung vom 9· März.
Vorlesun g 6 (Sitzun g vom 9· Februar r 9 8 3 , zweite Stunde)
Platons Briefe: Einordnung. - Studie des V. Briefs: die phone der Verfas sungen; Gründe für die Nicht-Beteiligung. - Studie des VII. Briefs. - Ge schichte Dions. - Platons politische Autobiographie. - Die Reise nach Sizi lien. - Warum Platon den kairos, die philia und das ergon annimmt.
[ ''" ] Ich möchte jetzt über mehrere Texte sprechen, die man in Platons Briefen findet oder Platon zugeschrieben werden. Sie sind deshalb interessant, weil es sich um Dokumente handelt, die, wenn schon nicht die wirkliche Rolle der Philosophen aus der Schule Platons im politischen Leben Griechenlands, so doch zumindest die Art und Weise beleuchten, wie sie über ein mögliches Eingreifen nachgedacht haben und inwiefern ihnen die Anerkennung ihrer Rolle als Verkünder der Wahr heit in der griechischen Politik wichtig war. Sie wissen, daß Platons Briefe äußerst umstritten sind, daß sie in der Antike re lativ spät zusammengetragen wurden, nämlich zu einer Zeit, zu der Sammlungen von fiktiven oder wirklichen Briefen eme . . .
,,. Die Vorlesung beginnt folgendermaßen: - Ich möchte j etzt nicht auf einen theoretischen Einwand, sondern auf eine praktische Frage antworten. Jemand sagte mir letztes Mal: Diese beiden Stunden dauern ohnehin schon sehr lange; wenn man dann eine Pause von fünf Minuten macht und danach fortfährt, wird alles zerrissen usw. Was halten Sie davon ? Ich neige dazu, dieses Format beizubehal ten. - Ihre Einteilung ist annehmbar. Es ist besser, wenn man sich etwas er holen kann. - Sind Sie also für zwei Stunden mit einer kleinen Unterbrechung ? Wir hätten auch die Möglichkeit von anderthalb Stunden ohne Unterbre chung . . . Nein, was ziehen Sie vor ? Denken Sie bitte daran, daß das für das Opfer jedenfalls ziemlich anstrengend ist ! [er lacht]. Wir werden also wie bisher weitermachen. Ich bin übrigens mit dem, was ich Ihnen heute morgen erzähle, nicht sehr glücklich. Es handelt sich nämlich um Textanalysen, die erfordern würden, daß man sie eher in einer Privatsit zung bespricht. Über Texte zu reden, die Sie nicht vor Augen haben, über die man nicht diskutieren kann, ist etwas . . . 266
":ichtige Gattung bildeten. Eine Zeitlang, nahezu das gesamte ' 9 · Jahrhundert hindurch, wurde die Echtheit aller dieser Brie ie von der Kritik heftig abgelehnt. Inzwischen räumt man im allgemeinen ein, daß der VI. Brief, vor allem der große VII. Brief und auch der VIII. Brief echt seien oder zumindest aus Kreisen hervorgegangen sind, die Platon selbst äußerst nahe standen, während andere sicherlich viel später entstanden und ":eder von Platon noch von seiner unmittelbaren Umgebung �eschrieben wurden. Die Gesamtheit der Briefe ist dennoch in :eressant, und zwar insofern es sich um Texte handelt, die alle .2 u s platonischen Kreisen hervorgingen und die Art und Weise zum Ausdruck bringen, wie man in der Akademie, sei es zu P!atons Lebzeiten, sei es nach seinem Tod, der Auffassung war, daß die philosophische Tätigkeit nicht nur ein Brennpunkt des Nachdenkens über die Politik, sondern auch sozusagen ci er politischen Reflexion und des politischen Handelns sein konnte. Das ist übrigens eine beglaubigte Tatsache, die Plutarch in sei ;)_ e m anti-epikuräischen Text Wider Kolotes1 erzählt, wo er dar2.!."1 erinnert, daß, während die Epikuräer sich immer über Poli :Ik lustig gemacht haben, ein Philosoph wie Platon und seine Schüler - und darin besteht ihr Wert - sich viel mehr darum sorgten, ins politische Leben einzugreifen und ihren Zeitge ::ossen Ratschläge zu geben. Er erinnert an die verschiedenen Schüler, die Platon zu seinen Lebzeiten ausgesandt hat, um ver schiedenen Herrschern Ratschläge zu erteilen. Betrachten wir llso diese Texte unabhängig von allen Problemen der Echtheit .Us Zeugnisse dieser politischen Intervention, indem wir j edoch �,ervorheben, daß diese platonischen, aber vor allem nachpla :;Jnischen politischen Interventionen in einem politischen Zu52mmenhang des Verfalls der griechischen Stadtstaaten und De :nokratien stattfinden. Es ist die Epoche der Bildung der großen C.ellenistischen Monarchien, in denen gerade die politischen ?robleme völlig von der Funktion der agora auf die Funktion :ier ekklesia übertragen werden. Auch wenn die städtische De :nokratie noch eine Rolle spielt, werden die wesentlichen poli-
tischen Probleme von der agora, die gewissermaßen kommu nalisiert wurde, auf den Hof der Herrscher übertragen. Auf dem Spiel steht nun die Rolle der Philosophie am Hofe der Herrscher. Die Bühne ist der Herrscher, der Hof, die U mge bung des Herrschers. Hier wird j edenfalls für Jahrhunderte die wichtigste politische Bühne s ein. Von diesen Briefen möchte ich mich mit zweien oder dreien beschäftigen. Der erste, der zwar nicht Platon zugeschrieben wird, aber recht alt sein dürfte, ist meiner Meinung nach äußerst interes sant. Es handelt sich um den V. Brief. Es ist kein Brief Platons, es ist offensichtlich auch kein wirklicher Brief, was j edoch nicht bedeutet, daß er nicht von Platonikern geschrieben wur de. Sondern dieser Brief ist, wie gewiß auch der VII. Brief, der Platon zugeschrieben wird, ein fiktiver Brief, d. h. daß er dafür gedacht war, als Manifest, als kleine Abhandlung, als eine Art von offenem Brief zu zirkulieren, mit dem man die Ö ffentlich keit oder zumindest die gebildete Ö ffentlichkeit als Zeugen an rief. Dieser V. Brief ist aus folgendem Grund interessant: Er war an Perdikkas, den Bruder Philipps, gerichtet, der eine ge wisse Zeit über Makedonien regierte. Der Brief legt nahe, daß Platon ihm seinen Schüler Euphraios geschickt hatte. Ich sage »legt nahe«. Platon hatte zwar tatsächlich seinen Schüler Eu phraios geschickt, es ist aber sehr wahrscheinlich, es steht sogar fest, daß der Brief nicht wirklich an Perdikkas zu der Zeit ge schickt wurde, zu der Platon seinen Schüler gesandt hatte. Es ist ein späterer Text, der eine Handlung rechtfertigt, die Platon wirklich getan hatte, indem er seinen Schüler zu Perdikkas schickte. In diesem Brief werden wir zwei Fragen aufwerfen, die die Rolle der Philosophie und des Philosophen als eines po litischen Beraters betreffen. Die erste Frage: Was bedeutet es, Verfassungen und Regierungen, die sich sehr voneinander un terscheiden, Ratschläge zu erteilen ? Würde die Rolle des B era ters nicht eher darin bestehen zu sagen, was die beste politeia (die beste Verfassung) ist ? Diese Frage wird in dem Text nicht einfach so, direkt und unvermittelt gestellt, es ist j edoch klar, daß der Text auf diesen Einwand antwortet. Ist es angemessen, 268
einer beliebigen Art von Regierung, auch wenn sie monar chisch oder autokratisch ist, Ratschläge zu erteilen ? Besteht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, zu sagen, was die be ste Regierungsform ist ? Um auf diese impliziten Fragen, die den Text durchziehen - der übrigens recht kurz ist, er umfaßt nur drei Seiten -, zu antworten, sagt Platon folgendes: Man muß jede Verfassung (j ede politeia) mit einem Lebewesen ver gleichen. Wie j edes Lebewesen hat auch jede politeia ihre eige ne Stimme (phone ) . Sie hat ihre eigene Stimme, und wenn eine politeia ihre eigene Stimme, j ene, die ihr von Natur aus zu kommt, zum Sprechen verwendet, wenn die politeia mit ihrer eigenen phone spricht, um sich an die Menschen oder an die Götter zu wenden, dann gedeiht die politeia, und sie behauptet sich. Sie ist gerettet. Wenn dagegen eine politeia die phone (die Stimme) einer anderen politeia nachahmt, dann geht sie un rer.2 Diese Stelle ist vor allem dann interessant, wenn man sie mit ei nem Text aus dem Staat vergleicht, wo ebenfalls von der phone und der politeia die Rede ist oder j edenfalls von der phone und von der Art und Weise, wie das, was als Stimme in der politi schen Körperschaft erscheint, gehört werden soll. Es handelt sich um einen Text, der im VI. Buch des Staats steht (49 3 a ff.). In diesem Text wird gesagt, daß die Gesamtheit der Bürger (der plethos, die Masse) wie ein Tier ist und daß diej enigen, die diese Bürgermasse regieren wollen, die Pflicht haben, die Stimme dieses Tieres, das die Masse der Bürger ist, zu erlernen. Man muß sein Grollen, seine Wutausbrüche, seine Begierden verstehen, dann kann man es führen.3 Doch hier in diesem Text des Staats hat die Analyse der Rolle, die der Regierende im Hinblick auf diese phone spielen soll, die Form einer kritischen Beschreibung. Sie ist insofern kritisch, als es sich erstens nicht genau um die politeia, um die Verfassung im eigentlichen Sinne handelt. Vielmehr geht es um die Masse, den plethos, um eben jene amorphe oder vielmehr polymorphe, kunterbunte Masse, die die Versammlung der Bürger darstellt, die Masse der Bür ger, wenn sie sich versammelt. Was ist nun die Stimme, die von
dieser Masse ausgeht ? Es ist die Stimme der Wut, so der Text, die Stimme der Begierden, d. h. die Stimme all dessen, was nicht vernünftig ist. Und der schlechte Führer ist gerade derj enige, der, da er das Vokabular der Begierden gelernt hat, dieser Stim me Widerhall verleiht und die Masse in die Richtung leitet, die sie begehrt. Im Verhältnis zu diesem Text ist der, den man im V. Brief findet, wie Sie sehen, anders, und zwar trotz des Vergleichs mit der Masse. Denn in diesem Text des V. Briefs sieht man erstens, daß nicht von »plethos«, sondern von »politeia« die Rede ist, d. h. von der Verfassung, von der Verfassung, in der Punkt für Punkt ihre j eweilige Form dargelegt ist, sei es eine Demokra tie, eine Aristokratie, eine Oligarchie oder eine Monarchie. Es geht um die politeia, die politeia in ihrer Struktur. Diese poli teia hat nun eine phone, die mit dem Wesen der politeia über einstimmen soll. Wenn aber die phone, anstatt mit dem Wesen der politeia s elbst übereinzustimmen, das Vorbild einer ande ren Verfassung nachahmt oder sich von diesem verleiten läßt, mit anderen Worten, wenn sich j emand in einem solchen Staat erhebt und die Sprache einer anderen Verfassung spricht, dann werden die Dinge ins Schleudern geraten und die Stadt oder der Staat untergehen. Wenn dagegen die phone sich immer nach der politeia richtet, dann wird der Staat ordentlich funk tionieren. Nun kann man sich fragen, warum Platon solche Ausführungen in diesem recht kurzen Brief macht, in dem er Perdikkas die Entsendung seines Beraters tatsächlich oder ver meintlich ankündigt. Man muß den Text auf diesen verschiede nen B edeutungsebenen verstehen. Im wirklich vorliegenden Text, der nicht für Perdikkas, sondern für den Hörer geschrie ben wurde, geht es natürlich darum zu sagen: Ja, ich bin dazu in der Lage und finde es völlig folgerichtig und normal, einen Be rater an eine Regierung zu entsenden, auch wenn sie monar chisch oder autokratisch ist, denn das Problem besteht nicht so sehr in der B estimmung der besten Verfassung, sondern es zu bewerkstelligen, daß j ede der politeiai gemäß ihrem eigenen Wesen funktioniert. Hier sehen wir also in aller Deutlichkeit
das Thema, das ich vorhin erwähnte: Die parrhesia hat ihre Rolle nicht nur im Rahmen der Demokratie zu spielen, son dern es gibt sozusagen ein parrhesiastisches Problem, ein Pro i:llem der parrhesia, das sich für jegliche Form der Regierung STellt.
Zweitens sehen Sie, daß die Entsendung des B eraters, des Phi :osophen, von Platons Schüler, sich an der Stelle findet, wo sich d.ie Frage nach der Stimme stellt. Die Frage nach der Stimme ist folgende: Welche Funktion hat der B erater, den er an Perdikkas entsendet ? Obwohl es im Text nicht ausdrücklich gesagt wird, zeigt doch das Vorkommen bzw. das Vorhandensein der Aus führungen über die phone, daß die Rolle des entsandten Philo sophen darin bestehen soll, darüber zu wachen, daß die phone, die sich in der politeia, in der Verfassung, artikuliert, mit dem \'\"esen dieser Verfassung übereinstimmt. Das ist die Aufgabe der Philosophen: das, was in einem Staat gesagt wird, so zu for mulieren und zur Sprache zu bringen, daß das Gesagte wirk lich mit dem Wesen des Staates üb ereinstimmt. Nur ein Philo soph kann das tun, da nur er allein weiß, worin das Wesen j edes Staates besteht. Seine Rolle ist aber anscheinend nicht so sehr zu sagen, welches der beste Staat ist, selbst wenn er diese Fra ge anderweitig stellen kann. Als Berater muß er die Frage ::ach dem besten Staat beiseite lassen und die Natur und das W'esen j eder politeia im Blick behalten, und er soll bewerk stelligen - darin besteht seine parrhesia, sein Wahrsprechen -, iaß die Stimme, die sich in den Diskussionen, in den Debatten, in den verschiedenen ausgedrückten Meinungen, in den getrof :7enen Entscheidungen bildet, wirklich mit der politeia überein s:immt. Er ist der Wächter der Stimme j eder Verfassung. Im W"achen darüber, daß diese Stimme mit dem Wesen der Verfas sung übereinstimmt, besteht das Wahrsprechen des Philoso ?hen und des Beraters. Er sagt keine Wahrheiten über die Na :-ur der Staaten, sondern sein Wahrsprechen ist so, daß das, was :n einem Staat gesagt wird, mit der Wahrheit dieses Staates 'ibereinstimmt. In demselben Brief wird noch eine zweite Frage aufgeworfen,
ein weiterer Einwand, der offenbar Platon oder den Platoni kern gegenüber gemacht wurde und auf den der Brief antwor ten sollte. Die erste Frage war also: Wie kann man nur einen Philosophen als Berater an einen Autokraten entsenden ? Die Antwort darauf kennen Sie nun. Die zweite Frage ist: Warum wurden Athen selbst keine Ratschläge erteilt ? Wenn ihr in Athen (Platon oder die Mitglieder der Akademie) schweigt, warum wendet ihr euch dann an einen König, um ihm Rat schläge zu erteilen ? Die Antwort, die der Verfasser des Textes Platon unterschiebt, ist nun: In Athen hat das Volk seit so lan ger Zeit schon so schlechte Gewohnheiten angenommen, daß es nicht mehr möglich ist, es zu reformieren. Wenn Platon ei nem athenischen Volk, das j etzt so weit von der Wahrheit ent fernt ist, Ratschläge erteilen wollte, würde er sich umsonst in Gefahr begeben.4 Hier haben wir also das Bild und den Hin weis auf die falsche parrhesia in einem demokratischen Staat. Im demokratischen Stadtstaat Athens sind die Dinge an dem Punkt angelangt, wo man die Sprache nicht mehr aufrecht hal ten kann, wo man nicht mehr darüber wachen kann, daß die phone mit dem Wesen der Demokratie übereinstimmt. Es ist so weit gekommen, daß derj enige, der versuchen würde, der Stimme der wahren Demokratie, die in dieser Demokratie künf tig keine Hoffnung mehr hat, Geltung zu verschaffen, das Ri siko aller Parrhesiasten teilen würde, ein Risiko, das es nicht mehr wert ist, eingegangen zu werden, weil es keine Möglich keit des Handelns, keine mögliche Veränderung mehr gibt. Man würde sich für nichts in Gefahr begeben, und gerrau das weigert sich Platon zu tun. Deshalb schweigt er in Athen, wo die parrhesia unmöglich geworden ist. Aber er schickt seinen Schüler zu Perdikkas bzw. man nimmt das zumindest an, denn dort hofft er, der phone der wahren Monarchie einem Monar chen gegenüber Gehör verschaffen zu können, der bereit ist, den Diskurs des Philosophen zu hören. Das also finden wir im V. Brief. Ich möchte nun zum VII. Brief übergehen, zu dem großen Brief, in dem Platon einerseits erzählt, was seine wirkliche
Laufbahn als politischer Berater war, und andererseits eine Theorie darüber aufstellt, was der politische Rat eines Philoso ?hen an einen Tyrannen sein kann und soll. Sehen Sie es mir bitte nach, daß ich ganz knapp an den historischen Kontext er i.nnern werde, der etwas verwickelt ist. Ich werde versuchen, :nich nicht zu sehr darin zu verlieren. Sie wissen, daß es sich um die Beziehungen zwischen Platon und Dionysios von Syra kus, zwischen Platon und Dionysios dem Jüngeren handelt. Sie erinnern sich an j ene Situation. Es gab also den Tyrannen von Syrakus in Gestalt Dionysios' des Ä lteren, der auf Syrakus eine despotische, tyrannische Macht ausgeübt hatte und der übri ;ens dazu gelangt war, ganz Sizilien oder einen Teil davon zu beherrschen. Dionysios der Ä ltere hatte im Alter eine junge Frau geheiratet, deren noch ganz junger Bruder Dion war. Wir haben also die folgenden beiden Personen: Dionysios der Äl :ere und Dion, sein ganz junger Schwager. Dionysios stirbt und Dion, den Platon schon bei einer frühe ren Reise nach Sizilien k enn en g e l e rnt hatte, bittet Platon, nach Sizilien zu kommen, um als politischer Berater und Pädagoge zugleich für Dionysios den Jüngeren, Sohn von Dionysios dem Alteren und Erbe der Macht, zu dienen. Das ist die zweite Rei s e Platons. Ich lasse die Wendepunkte beiseite. Wie Plutarch erzählt, ist diese Reise in der Tat sehr unglücklich verlaufen. Ich habe diese Episode zuvor erwähnt. Dion wird verbannt, Platon fährt nach Griechenland zurück, und nach einiger Zeit wendet sich Dionysios der Jüngere erneut an Platon, indem er zu ihm sagt: Nun ja, ich habe Dion tatsächlich verbannt, aber ich werde ihn zurückrufen. Ich rufe ihn j edoch nur unter der Bedingung zurück, daß du ebenfalls zurückkommst. Platon geht also das dritte Mal nach Sizilien und zum zweiten Mal als Berater von Dionysios. Das wird sein letzter Aufenthalt in Sizilien sein. Auch hier verlaufen die Dinge sehr unglücklich. Platon fährt ab, ohne daß die Vereinbarung mit Dionysios je mals eingehalten wurde, ohne daß Dion nach Syrakus zurück gekehrt wäre oder seine Rechte wiederhergestellt worden wä ren. Platon fährt also nach diesem dritten Aufenthalt ein drittes 27 3
Mal zurück. Der Kampf zwischen Dionysios und Dion geht weiter. Schließlich wird Dionysios verjagt und Dion ergreift die Macht. Ein neuer Wendepunkt: Dion wird im Verlauf ver schiedener innerer Auseinandersetzungen, die sich zu j ener Zeit in Syrakus ereignen, getötet. Die Familie Dions und seine Freunde schreiben Platon erneut oder nehmen zumindest Kon takt mit ihm auf, um ihn darum zu bitten, daß er eingreift, und zwar als Berater, gewissermaßen zum vierten MaL Zuerst war er der Lehrer Dions. Dann kam er zweimal, um Dionysios zu beraten. Und nun bitten ihn Dions Angehörige nach dessen Tod zu kommen. In diesem Zusammenhang steht nun der Brief. Es handelt sich also um einen Brief, der ganz am Ende all dieser sizilianischen Episoden Platons geschrieben wurde und der eine Art von Bi lanz ziehen wird. Platon erzählt, was seit seiner Jugend gesche hen ist, seine ganze politische Laufbahn und warum er getan hat, was er tat. Zugleich stellt er eine Theorie der politischen Beratung auf. Ich glaube nun, auch wenn die Lektüre des Staats und die Lektüre der Gesetze für die Geschichte der Philoso phie und des politischen Denkens absolut unverzichtbar sind, daß die Lektüre von Platons Briefen und insbesondere dieses VII. Briefs überaus interessant ist, weil er uns einen anderen Aspekt des politischen Denkens vor Augen stellt, dessen Ge nealogie ich hier etwas ausführen möchte. Es handelt sich um das politische Denken als Rat zum politischen Handeln, das politische Denken als Rationalisierung des politischen Han deins und nicht so sehr als Grundlage des Rechts oder als Grundlage der Ordnung des Staats. Das politische Denken, nicht aus der Perspektive des Grundvertrags betrachtet, son dern aus der Perspektive der Rationalisierung des politischen Handelns, die Philosophie als B eratung. Nun, wenn man eine solche Geschichte schreiben würde, dann wäre der VII . Brief dafür sicher wichtig. Ich werde nun zusammenfassen, was in diesem VII. Brief steht: erstens die ganze Seite von Platons politischer Autobiographie. Er erwähnt das, was man seine zweifache Enttäuschung nen2 74
könnte, als er als junger Athener, der einerseits der oberen Aristokratie angehörte und andererseits Schüler von Sokrates war, eine Reihe von Vorfällen um sich herum geschehen sah, und zwar gerade die beiden großen Ereignisse, die zwei For men der Regierung exemplifizieren: erstens die Herrschaft der Dreißig; zweitens die Rückkehr zur Demokratie. Als seine er ste politische Erfahrung - zu einer Zeit, zu der er noch äußerst jung sein mußte - erwähnt er die Tatsache, daß die athenische Demokratie, die durch die nachhallenden Mißerfolge des Pelo ponnesischen Krieges geschädigt wurde, von einer Gruppe YOn Aristokraten gestürzt wurde, unter denen sich Kritias und Charmides befanden, d. h. Verwandte Platons. Charmides war gewiß einer seiner Verwandten und Kritias . . . Ich erinnere mich nicht mehr,5 zumindest handelte es sich um Schüler von Sokrates, um Leute, die dem Kreis um Sokrates nahestanden. Diese Leute ergreifen nun also die Macht. Platon erklärt, wie sehr er von dieser neuen Form des politischen Lebens in Athen bestrickt oder doch zumindest an ihr interessiert ist, wie sehr er aber sogleich von ihr enttäuscht wurde. Er wurde unmittel bar enttäuscht durch die Gewalt, die unter dieser Regierung entfesselt wurde, und insbesondere durch die Tatsache, daß man zu willkürlichen Festnahmen überging. Um ihn zur Mit wirkung bei einer solchen willkürlichen Festnahme zu veran lassen, verlangen die Tyrannen von Sokrates, an einer illegalen gerichtlichen Handlung teilzunehmen. Aber Sokrates weigert sich. Er weigert sich und gibt dadurch als Philosoph ein Bei spiel für den philosophischen Widerstand gegenüber der p oliti schen Macht, ein B eispiel von parrhesia, das lange Zeit ein Vor bild für die philosophische Einstellung gegenüber der Macht sein wird: der individuelle Widerstand des Philosophen. Auch hier erinnert Platon daran, wie sehr er anfänglich mit der De mokratie sympathisiert hat. Das zweite Ereignis ist nun aber negativ und symmetrisch zum ersten, und es dreht sich aber mals um Sokrates: Dieses Mal ist es nicht Sokrates, der sich weigert, der Regierung zu gehorchen, und ein Beispiel des Wi derstands gibt, sondern im Gegensatz dazu wird Sokrates von nen
der demokratischen Regierung aufgrund angeblicher Bezie hungen zur vorherigen Regierung verfolgt. Trotz des Wider stands, den er gezeigt hatte, wird Sokrates verhaftet und zum Tode verurteilt. Beide Erfahrungen (mit der Oligarchie und mit der Demokratie) sind negativ. Aus diesen beiden Erfahrungen, an die Platon erinnert, zieht er in seinem Brief folgende, sehr interessante Schlußfolgerung: Nach diesen beiden Erfahrungen wird ihm klar, wie er sagt, daß es nicht mehr möglich sei, politisch zu handeln. Es ist nicht mehr möglich, politisch zu handeln, weil zwei Dinge fehlen. Erstens fehlen die Freunde (die philoi, die hetairo�), d. h., daß in einem schlecht regierten Staat die persönlichen Freundschafts beziehungen, die Beziehungen, die die Menschen miteinander verbinden und sie gewissermaßen in Interessengruppen zu sammenschließen, mit deren Hilfe man die Macht erringen und den Staat leiten könnte, nicht mehr möglich sind.6 Zweitens, so Platon, fehlen die Gelegenheiten (kairo�). Die Gelegenheit, das ist der richtige Augenblick, und der richtige Augenblick wird bestimmt durch die Tatsache, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt so etwas wie eine vorübergehende Wetterbesserung, eine Aufhellung, einen günstigen Moment geben könnte, um die Macht zu ergreifen. Nun entwickeln die Dinge sich aber vom Schlechten zum Schlimmeren, und eine solche Gelegen heit wird es nie geben.7 Folglich kann man auch ohne Freunde, ohne j ene freie Gemeinschaft von Menschen und ohne die durch die Umstände bestimmte Gelegenheit nicht versuchen, politisch zu handeln. Was soll man also tun ? Nun, sagt Platon, da er verstanden hat, daß ein Handeln im Staat ohne Freunde und ohne Gelegenheit unmöglich ist, muß man wohl zu fol gender Schlußfolgerung gelangen, die fast wörtlich mit dem berühmten Text aus dem V. Buch des Staats, 473d, überein stimmt, nämlich daß jetzt die Philosophen an die Macht kom men müßten (eis archas: ein technischer Ausdruck, der die Ausübung eines Amtes bezeichnet; die archai sind die Ämter, die politischen Verantwortlichkeiten) . Die Philosophen sollen also die politische Verantwortung übernehmen, und die Füh-
rer, diejenigen, die die dynasteia haben (der Text spricht von dynasteuontes), sollen ernsthaft mit dem Philosophieren be ginnen.8 Allein die Anpassung der Ausübung und Praxis der Philosophie an die Ausübung und Praxis der Macht wird künf :ig das ermöglichen, was in der Oligarchie oder der Demokra :ie unmöglich gemacht wurde. Ich glaube nun, daß man hier vor allem eines verstehen muß, nämlich daß Platon diesen Rückgriff auf die Philosophie, dieses erwünschte Zusammenfallen der Ausübung der Philo sophie mit der Ausübung der Macht im Text - das ist von Be deutung - als Folge einer Unmöglichkeit darstellt, d. h. als die Tatsache, daß das bis zu diesem Zeitpunkt gewöhnliche politi sche Spiel der parrhesia (des Wahrsprechens) im B ereich der Demokratie oder im Bereich des athenischen Staats nicht mehr möglich ist. Das Wahrsprechen hat seinen Ort nicht mehr allei ne im Bereich der Politik. Was bedeutet, daß alles, was recht klar in Euripides' Text oder danach b ei Isokrates formuliert 'vurde, nämlich daß die parrhesia, die das Handeln bestimmter Bürger als Bürger gegenüber den anderen charakterisieren soll te, nun künftig nicht mehr von der Bürgerschaft geleistet wird und auch nicht mehr ein moralischer oder gesellschaftlicher Einfluß bestimmter Menschen auf andere ist. Die parrhesia [ . ] , das Wahrsprechen im Bereich der Politik kann nur auf die Philosophie gegründet werden. Die parrhesia, das Wahrspre chen soll sich nicht nur auf einen äußerlichen philosophischen Diskurs beziehen, sondern das Wahrsprechen im Bereich der Politik kann gar nichts anderes sein als das philosophische Wahrsprechen. Das philosophische und das politische Wahr sprechen müssen zusammenfallen, insofern keiner der politi schen Abläufe, deren Zeuge Platon war, das richtige Spiel die ser parrhesia gewährleisten kann. Dieses gefährliche und halsbrecherische Spiel, von dem ich gesprochen habe, ist un möglich geworden. Der absolute Anspruch der Philosophie auf den politischen Diskurs ist in Platons Auffassung offen sichtlich zentral. :\lach dieser autobiographischen Erinnerung an seine Jugend, . .
an seine politischen Erfahrungen und an die Schlußfolgerung, die er daraus für das Verhältnis zwischen der Macht und der Philosophie zieht, kommt Platon auf seine ersten beiden Rei sen nach Sizilien zu sprechen. Er erzählt von der ersten Reise, die er gewissermaßen als Privatperson gemacht hat, als er Dion begegnete, und davon, daß Dion, der noch jung war und unter der Herrschaft von Dionysios dem Ä lteren stand, sich für die Philosophie interessierte. Er erinnert daran, wie sehr er einer seits vom Zustand der Ausschweifung, der Unzucht, der mora lischen Erschlaffung, in der Syrakus und die Umgebung von Dionysios lebten, verblüfft war und wie er im Gegensatz dazu von der Tugend und den Qualitäten des jungen Dion beein druckt wurde.9 Dann erwähnt er den Prozeß, den Dion nach dem Tod von Dionysios dem Ä lteren an seiner Seite durchge macht hat, als Dionysios der Jüngere nach dem Tod seines Va ters die Macht ergriffen hatte. Dion wendet sich also an Platon und (das wird von Platon erwähnt) sagt ihm zunächst, daß Dionysios der Jüngere (der neue Tyrann, der neue Despot oder zumindest der neue Monarch von Syrakus) und seine U mge bung bereit sind, die Lehren der Philosophie zu hören.10 Und, so Platon, der das, was Dion gesagt hat, zitiert oder sich zu mindest indirekt darauf bezieht: Niemals waren die Umstände so günstig, daß man nun dank Dionysios dem Jüngeren und seiner Umgebung die Vereinigung von Philosophen und Herr schern großer Staaten in derselben Person 1 1 realisieren könne. Hier haben wir also genau die Bestimmung des kairos, der in den Erfahrungen der Demokratie und der Oligarchie in Athen gefehlt hat. Wir haben einen kairos, 12 bei dem wir, da ein j unger Monarch an die Macht gekommen und bereit ist, der Philoso phie zuzuhören, die Vereinigung des Ausübens der Philoso phie und der Ausübung der Macht verwirklichen können, von der Platon glaubt, daß sie jetzt die einzige Möglichkeit sei, wie das Wahrsprechen einen Einfluß auf den Bereich der Politik haben könne. Dieser günstigen Gelegenheit fügt Platon zwei weitere Betrachtungen hinzu, um diese Reise zu erklären, die zwar seine zweite nach Sizilien, aber seine erste politische Rei-
sc
ist. Die eine bezieht sich auf die Freundschaft zu Dion. Er
s;:.gt, daß, wenn er, Platon, Dionysios' Einladung abgelehnt I:ätte, und wenn er es abgelehnt hätte, Dionysios zu belehren, sich Dionysios, da er nicht entsprechend gebildet worden
'll · äre, gegen Dion hätte wenden und Unheil über ihn bringen �önnen, und durch ihn über den ganzen Staat. Platon mußte ,;:)so versuchen, Dionysios zu bilden. 1 3 Zweitens, so Platon, hat ihn eine weitere Ü berlegung dazu bewogen, der Einladung Di ons nachzukommen. Diese Ü berlegung ist interessant. Er ;,•ollte nämlich nicht als bloßer Iogos, als bloßer Diskurs er ;cheinen. Platon möchte nicht bloß Iogos sein und als solcher betrachtet werden. Er will zeigen, daß er auch zur Mitwirkung, z u r Beteiligung am ergon (am Handeln) fähig ist.14 Gewiß, wir naben in diesem Text die ganz klassische, im griechischen Wortschatz ganz geläufige Gegenüberstellung von Iogos und ergon. Wir haben die Gegenüberstellung von logo und ergo: im Reden und in der Wirklichkeit, im Diskurs und im Handeln u s w. Man sollte sich aber daran erinnern, daß es hier gerade um die Philosophie geht, und zwar um die Philosophie im Bereich der Politik. Platon ist sich im klaren darüber, daß, wenn er nur J.er Philosoph ist, der den Staat geschrieben hat, d. h. der sagt, was der ideale Staat sein soll, er nichts weiter ist als der Iogos. Der Philosoph kann nun aber im Hinblick auf die Politik nicht bloß Iogos sein. Um nicht ein »bloßer Vertreter der Theorie« zu sein, 15 muß er mitwirken und sich direkt an die Tat (ergon) her anwagen. Ich glaube, daß wir hier eine äußerst wichtige Mahnung vor uns haben, die in gewisser Weise - man sieht das übrigens ganz klar im Text selbst - allem entspricht, was man in den ersten platonischen Dialogen bezüglich der Philosophie findet, die nicht bloß mathesis, sondern auch askesis sein soll. Wenn es richtig ist, daß die Philosophie nicht nur im Erlernen eines Wissens besteht, sondern auch eine Lebensform, eine Seins weise, ein bestimmtes praktisches Selbstverhältnis sein soll, durch das man sich entwickelt und an sich selbst arbeitet, wenn es richtig ist, daß die Philosophie also askesis (Askese) sein soll, 2 79
kann auch der Philosoph, wenn er nicht nur das Problem seiner selbst, sondern auch das des Staats behandeln soll, sich nicht damit begnügen, einfach nur Iogos zu sein, nur der zu sein, der die Wahrheit sagt, sondern er muß derj enige sein, der mitwirkt, der sich an das ergon heranwagt. Worin besteht nun diese Mit wirkung am ergon ? Sie besteht darin, d er wirkliche B erater ei nes wirklichen Politikers im B ereich politischer Entscheidun gen zu sein, die er wirklich treffen muß. Ich glaube, daß, wenn der Iogos sich tatsächlich auf die Bildung des idealen Staats be zieht, das ergon, das die Aufgabe des Philosophen gegenüber der Politik vervollständigen soll, in Wirklichkeit jene Aufgabe des politischen Beraters ist und der Entwicklung der Rationali tät der wirklichen Staatsführung gilt, die über die Bildung der Seele des Fürsten verläuft. Aufgrund der direkten Mitwirkung an der Verfassung, am Fortbestand und der Ausübung einer Regierungskunst durch die parrhesia wird der Philosoph im Bereich der Politik kein bloßer Iogos sein, sondern entspre chend dem Ideal der griechischen Rationalität wird er sowohl Iogos als auch ergon sein. Der Iogos ist in Wirklichkeit nur dann vollständig, wenn er in der Lage ist, zum ergon zu führen und es gemäß den notwendigen Prinzipien der Rationalität zu ge stalten. Aus diesem Grund, so Platon, mußte er Dion treffen. Nächstes Mal werde ich den VII . Brief abschließen und zu den anderen Problemen übergehen, die von der Geschichte der parrhesia und ihren Praktiken aufgeworfen werden.
Anmerkungen I
»Wider Kolotes«, in: Plutarch, Moralische Schriften, Bd. I, übers., mit Einleitungen, Anmerkungen und Registern versehen von Otto Apelt, Leipzig 1 926. 2 »Jede Staatsverfassung hat nämlich, wie gewisse Klassen von Tieren, ihre besondere Tonweise (estin gar de tis phone ton politeion hekastes katha perei tinon zoon), eine andere die Demokratie, eine andere die Oligar chie, eine andere wieder die Monarchie. [ . . . ] Demj enigen Staatswesen nun, das den ihm eigenen Ton Göttern und Menschen gegenüber einhält und in seinen Maßnahmen diesem Tone entsprechend verfährt, ist dau280
emde Blüte beschieden, demjenigen dagegen, das aus seiner Natur her austretend sich auf Nachahmung einer anderen Verfassung verlegt, der Untergang« (Platon, V. Brief, 3 2 1 d-e, in: Platons Briefe, übers. und er läutert v. Otto Apelt, Leipzig 1 9 1 8 , S. 40). ;, � G erade so, wie wenn einer ein großes und starkes Tier aufgezogen und dessen Triebe und Leidenschaften erkannt hat - wie man sich ihm nä hern, wie man es anfassen darf, wann es schwer zu behandeln, wann es sanft ist und wieso, unter welchen Umständen es jeweils Laute (phonas) ,·on sich gibt, auf welche Laute eines anderen es sich beruhigt oder wild wird -; gerade so als ob er, der dies alles durch den Umgang mit dem Tier und mit dem Lauf der Zeit erlernt hat, dies nun Weisheit nennte<< (Pla ton, Der Staat, a. a. 0., S. z 8 8 ; Platon kritisiert hier die Sophisten, die ihre Technik der Manipulation der Massen Wissenschaft nennen) . "- >•Wer das hört, wird nun vielleicht sagen: >Platon (der Bürger des demo kratischen Athen), so scheint es, stellt sich, als verstehe er sich auf das Wesen der Demokratie, und doch ist er niemals öffentlich als Redner aufgetreten, obschon es ihm freistand vor dem Volk zu reden und ihm die besten Ratschläge zu erteilen.< Darauf wäre folgendes zu erwidern: Platon ist zu spät für sein Vaterland geboren worden; er fand sein Volk bereits in absteigender Lebenskraft; durch die Schuld der früheren Staatsmänner war es an ein Verhalten gewöhnt, das sich mit vielem, was er geraten hätte, nicht in Einklang befand. Ihm wäre nichts lieber gewe sen, als einem Volke so getreulich wie seinem eigenen Vater mit seinem Rate zu dienen, doch sagte er sich, daß er sich damit nur für nichts und wieder nichts Gefahren aussetzen und keinen Nutzen schaffen würde« (Platon, V. Brief, a. a. 0 . , S. 4 1 ) . :; Charmides war Platons Onkel mütterlicherseits (er war einer der Zehn, die mit der politischen Aufsicht Piräus' betraut waren) und Kritias der Cousin seiner Mutter (er war einer der unumstrittenen Führer des extre mistischen Zweigs der Dreißig) . Beide starben 403 bei einer Schlacht, in der die Demokraten versuchten, Piräus zurückzuerobern. 6 »Je eingehender ich also dies alles mit prüfendem Blicke betrachtete und je mehr ich an Jahren heranreifte, desto mehr Bedenken stiegen in mir auf gegen die Richtigkeit meines Vorhabens, mich der Staatsverwaltung zu widmen. Denn einerseits, so sagte ich mir, ist die Ausführung eines solchen Planes nicht möglich ohne die Hilfe von Freunden und zuver lässigen Genossen (aneu philon andron kai hetairon piston)« (Platon, \'II. Brief, 3 2 5d, a. a. O, S. 47). - »Dabei fuhr ich zwar fort darüber nachzudenken, wie sich in dieser Hinsicht und im gesamten staatlichen Leben überhaupt ein Um schwung zum B esseren finden ließe, für das eigene praktische Eingreifen wollte ich aber auf den günstigen Zeitpunkt (tau de prattein au perimen ein aei kairous) warten<< (Ebd., 3 2 5 d-p6a, S. 48). 3 »Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Lei den erlöst werden, bis entweder die berufsmäßigen Vertreter der echten z8r
und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate (eis archas elthe tas politikas) gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt (ton dy nasteuonton) in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen« (ebd., 3 26a-b, S. 48). 9 Ebd., 3 27a-b, S. 49 f. I o Ebd., p6c. I I Ebd., p8b. 1 2 »>Auf welche Umstände<, heißt es da, >günstiger (tinas gar kairous) als die j etzt durch irgend welche göttliche Fügung eingetretenen, wollen wir denn warten ?<« (ebd., 3 27e, S. 5 0). 13 Ebd., p8b, S. 5 1 und p8d-e, S. 5 2 · I 4 » S o erwog ich denn die Sache hin und her, aber trotz alles Schwankens, ob ich die Reise antreten und dem Ruf folgen sollte oder wie, siegte doch die Ü berzeugung von der Notwendigkeit der Sache: wenn man jemals daran gehen wollte, meine Entwürfe für Gesetzgebung und Staatsordnung zu verwirklichen (apotelein egcheiresoi), so sei j etzt der Zeitpunkt, wo man den Versuch wagen müßte; denn hätte ich nur den Einen völlig für mich gewonnen, so wäre damit alles erhoffte Gute glücklich erreicht. Erfüllt von solchen Gedanken segelte ich in gutem Vertrauen von der Heimat ab, von ganz anderen Beweggründen be stimmt als sie mir von manchen unterlegt wurden. Vor allem bestimmte mich dabei die Achtung vor mir selbst: ich wollte vor mir selbst nicht so schlechthin als ein bloßer Vertreter der Theorie erscheinen (me do xaimi pote emauto pantapasi logon monon atechnos einai), der sich aus freien Stücken niemals an die Tat heranwage (ergou de oudenos an pote hekon anapsasthai)« (ebd., p 8b-c, S. 5 I f.). 1 5 Ebd.
Vorlesung 7 (Sitzung vom 1 6. Februar 1 9 8 3 , erste Stunde)
:\:s philosophische ergon. - Vergleich mit dem Alkibiades. - Die Wirklich e :: der Philosophie: die furchtlose Ansprache an die Macht. - Erste Bedin ; ,, "g der Wirklichkeit: die Anhörung, der erste Zirkel. - Das philosophi .>:: � e Werk: eine Wahl; ein Fortgang; eine Anwendung. - Die Wirklichkeit
�<.,. Philosophie als A rbeit an sich selbst (zweiter Zirkel).
I.. e rztes Mal waren wir bei der Analyse des VII. Briefs ange s:.·:>mmen, der von Platon verfaßt wurde bzw. ihm zugeschrie ':oen wird. Jedenfalls handelt es sich um einen Text, der besten �:.!ls aus Platons Altersperiode stammt oder schlimmstenfalls :.d seine allerersten Nachfolger zurückgeht. Sie wissen, daß iieser Text die Form eines Briefes hat, der an Platons siziliani >--:he Freunde gerichtet sein soll, d. h. an die Umgebung Dions, i:. e r j edenfalls nach Dions Tod geschrieben wurde. Der Brief :-ichtet sich offenbar an Dions Freunde und ist tatsächlich eine An von politischem Manifest, von offenem Brief, in dem der .J... u tor insgesamt drei Gruppen von Ü berlegungen anstellt. Er .;:ens berichtet er von der Reihe von Ereignissen, die sich zu ;=tragen hat, um sein Verhalten in Sizilien und gegenüber Dio :-::.-sios zu rechtfertigen: Einladung, Reise, Aufenthalt, die von :>ionysios erlittenen Ungerechtigkeiten, die falschen Verspre :nungen, die Platon und Dion gemacht wurden usw. Die zwei :;: Gruppe von Betrachtungen neben denj enigen, die sich auf iie Ereignisse bezogen, besteht in einer Art von politischer Autobiographie, in der Platon den Weg beschreibt, den er seit ,: einer Jugend und insbesondere seit den beiden großen Ent :iuschungen, die er in Athen erlebte, zurückgelegt hat. Zuerst ::.: n ter der aristokratischen Herrschaft der Dreißig und an ;-:: h ließend bei der Rückkehr der Demokratie, um deren Willen S.okrates' Verurteilung zum Tode sanktioniert worden war. Schließlich erklärt Platon in der dritten Gruppe von Betrach :ungen in allgemeineren B egriffen, was es für ihn bedeutet, ei :: e m Fürsten Ratschläge zu erteilen, was es für ihn bedeutet, in
den B ereich der politischen Tätigkeit einzutreten und dort bei den Machtausübenden die Rolle bzw. die Person des symbou los, des Beraters in politischen Angelegenheiten zu spielen. Wir waren also an j enem Punkt angelangt, wo Platon erklärt, wie und warum er dazu geführt wurde, nach Sizilien zu fahren, sei ne chronologisch zweite Reise nach Sizilien zu unternehmen, die j edoch seine erste politische Reise war. Bei seiner ersten Reise hatte er nur Dion kennengelernt, wie Sie sich erinnern. Er war von dessen Intelligenz bezaubert, hatte ihn Philosophie gelehrt und war dann nach Athen zurückgekehrt. Als er nach Griechenland zurückgekehrt war, hatte er eine Aufforderung von Dion erhalten, um ein zweites Mal nach Sizilien zu kom men, dieses Mal jedoch in einer relativ genau bestimmten poli tischen Rolle, auf j eden Fall mit einer politischen Aufgabe oder Mission, da es darum ging, als politischer Berater zu dienen, und zwar genauer als Pädagoge für den Machterben in Syra kus, nämlich für Dionysios den Jüngeren. Die Frage, die Pla ton in der Passage des Briefs, die ich j etzt erläutern möchte, be antworten will, ist folgende: Warum war er bereit zu gehen, warum hat er die Aufforderung und das politische Spiel, das man ihm vorschlug, angenommen ? Warum war er in Syrakus bei j ener Person, die doch der Erbe eines Despotismus war, dessen Prinzip gegenüber Platon j edenfalls feindlich eingestellt war ? Warum hat er eingewilligt zu kommen ? Um diese Erklärung zu geben, hatte Platon zwei Gruppen von Ü berlegungen geltend gemacht. Überlegungen, die sich auf die Gelegenheit beziehen, auf das, was er den kairas nennt (die Gelegenheit). Sie erinnern sich vielleicht: Im Hinblick auf die Tatsache, daß er auf die Mitwirkung an j eglicher politischen Tätigkeit in Athen verzichtet hatte, hatte Platon als Grund an gegeben, daß er in einer so schlimmen Situation, in der Athen sich befand, keine Aufhellung, keine Besserung für möglich hielt. Zu keiner Zeit hatte er geglaubt, daß sich so etwas wie ein kairos, eine Gelegenheit bieten würde. Vielmehr ist es nun das Heraufkommen eines neuen Monarchen, die Jugend dieser Person, Dionysios', die Tatsache, daß Dion ihn Platon als je-
:nanden vorstellt, der sich wirklich der Philosophie widmen -::<:ill. Außerdem ist es j emand, dessen Umgebung, die von Dion
inspiriert wird, sowohl der Philosophie als auch Platon gegen :iber gänzlich wohlgesonnen ist. Und schließlich besteht das :erzte wichtige Argument - weil wir diesem sehr häufig in der Theorie des Fürstenberaters bzw. der Beratung des Fürsten be gegnen - in der Tatsache, daß im Gegensatz zu einer Demokra :�e, in der man viele, d. h. die Masse (plethos) überzeugen muß, es hier im Falle einer Monarchie genügt, einen einzigen Men schen zu überzeugen. Einen einzigen Menschen überzeugen, :md die ganze Arbeit ist erledigt. 1 Das steht in Platons Text. Und es ist das Prinzip bzw. das Motiv, das dafür verantwortlich ist, daß, wenn der Fürst tatsächlich eine Reihe von ermutigen den Zeichen gibt, man darin einen kairos erblicken kann. Eine e i nz ige Person, die zu überzeugen ist, und dazu noch eine Per s o n , die sich überzeugen lassen will. Das ist der Aspekt des kai ros. Nun zu Platon selbst, warum wollte er die sich dergestalt bietende Gelegenheit ergreifen ? An dieser Stelle nennt Platon, "'ie Sie sich erinnern, zwei Motive. Eines dieser Motive ist die _::hilia, s eine Freundschaft zu Dion. Das andere Motiv - genau .;.n diesem Punkt waren wir stehengeblieben - ist der Umstand, daß Platon, wenn er die von Dion vorgeschlagene Mission ab ;ehnen würde, wenn er es ablehnen würde, die ihm dargebote ::e Aufgabe in Angriff zu nehmen, den Eindruck hätte, daß er selbst nur Logos, einzig und allein Diskurs sei, während er doch Hand an das ergon (d. h. an die Aufgabe, die Arbeit) legen ;dl. An dieser Stelle waren wir letztes Mal also angekommen, und :�h glaube, daß hier ein wichtiger Punkt liegt. Es ist ein wichti ger Punkt, weil er eine Frage stellt, die zugleich sehr vertraut, ;.ehr naheliegend, leicht zu durchschauen, dann aber auch s ehr :;nklar ist, und andererseits, weil dieser Text, in dessen ganzem Yerlauf die Frage nach dem philosophischen ergon (nach der Aufgabe) gestellt wird, sie in Begriffen stellt, die, glaube ich, überraschen müssen, wenn man sie mit den anderen platoni schen Texten oder zumindest mit einem gewissen B ild und ei-
ner Interpretation vergleicht, die man gewöhnlich von Platon und dem späten Platonismus gibt. Um dieses Problem des philosophischen ergon (der philoso phischen Aufgabe) mit Bezug auf die Politik etwas genauer zu analysieren, möchte ich zum Zweck der Problemmarkierung einen Augenblick auf einen Text zurückkommen, über den wir letztes Jahr gesprochen haben, einen Text, der übrigens ganz rätselhaft war, weil seine Datierung viele Ungewißheiten auf weist und weil er von der philosophischen Aufgabe ein ganz anderes Bild zeichnet als das, womit wir es nun zu tun haben werden. Sie erinnern sich, dieser Text ist der Alkibiades, j ener Dialog, der sich im Hinblick auf eine Reihe von Aspekten als Jugendwerk darstellt - mit demselben Drehbuch, derselben Szenenmalerei, denselben Wendepunkten, derselben Art von Personen -, dann aber wieder in einer anderen Hinsicht eine große Anzahl von Elementen enthält, die auf die Spätphilo sophie Platons verweisen. Wie dem auch sei, Sie erinnern sich vielleicht an die Situation, die in diesem Dialog dargestellt wird. Es geht nämlich auch im Alkibiades um das Eingreifen des Philosophen auf der politischen Bühne.2 Was war nun die Gelegenheit, was war der kairos, der dafür verantwortlich war, daß sich Platon in diesem Dialog auf gewisse Weise in die Poli tik einmischte ? Die Situation bzw. die Gelegenheit war folgen de: Alkibiades, der ganz junge Alkibiades, gehörte aufgrund seiner Geburt, seiner Vorfahren, seines Vermögens, seines all gemeinen Status de facto natürlich den allerersten Bürgern des Staats an. Platon bemerkte jedoch sehr wohl, oder vielmehr ließ er diese Bemerkung Sokrates machen, daß Alkibiades in Wirklichkeit keineswegs die Absicht hatte, sein ganzes Leben (katabionai? unter den ersten zuzubringen, sondern daß er uneingeschränkt und ausschließlich der Erste sein wollte, und zwar als einziger nicht nur in seiner Stadt, die er überzeugen und in die Hand nehmen wollte, sondern auch im Hinblick auf alle anderen Herrscher, da er die Feinde Athens, wie Sparta oder den König von Persien, besiegen wollte, die er für seine persönlichen Rivalen hielt. Mit Bezug auf dieses Vorhaben,
-;;;·,ekhes haargenau das Problem der parrhesia im Kontext der Demokratie stellt, ergreift nun Sokrates das Wort. Ich sagte, - c;s handelt sich um das Problem der parrhesia im Kontext der :)e mokratie«, weil es gerade um folgendes geht: Obwohl j eder :<::sächlich das Recht hat, das Wort zu ergreifen, haben einige, ,: i:"'!llich die ersten, die Aufgabe, die Funktion oder Rolle, auf _ : e anderen Einfluß zu nehmen. Das Problem ist nun, ob es in C::esem agonistischen Spiel der ersten und der anderen und der ::-s ten untereinander möglich, legitim und wünschenswert ist, id es einen einzigen gibt - wie es übrigens Perikles war -, der _en Sieg über die anderen davonträgt. Da.s war das Problem der parrhesia. Wir haben es mit jener be ::ii c:: h tigten Krise, mit jener berüchtigten Problematik der par ,-(:,::sia zu tun, die ganz offensichtlich die Funktionsweise der I)emokratie charakterisiert und allgemein die Funktionsweise ::ner Reihe von politischen Institutionen Griechenlands zu j e ::er Zeit. In diesem Sinne fällt auf, daß wir es trotz der Ver teht also eine Analogie in der Situation trotz des unterschied � :::: h en politischen Kontextes. Dennoch scheint mir - das wird ::iner der Leitfäden sein, denen ich heute in meinem Referat :dgen werde -, daß zwischen dem Alkibiades (und der Rolle, ::2e Sokrates gegenüber Alkibiades spielt) und Platon (Platon in ;einer Rolle gegenüber Dionysios) eine ganze Reihe von äu �;;.:rst beträchtlichen Unterschieden bestehen, die so etwas wie ;:ine Spaltung in der platonischen Philosophie vorzeichnen.
Jedenfalls springt ein erster Unterschied unmittelbar ins Auge. Im Falle von Alkibiades und Sokrates mußte nämlich Sokrates ebenfalls auf die Frage antworten: Warum schaltest du dich bei Alkibiades ein ? Auf genau diese Frage antwortet der Anfang des Dialogs. Sokrates erklärte: Ich interessiere mich für Alki biades, obwohl ich mich zu der Zeit, als Alkibiades von so vielen anderen begehrt und bedrängt wurde, zurückgehalten hatte. Ich habe mich bis jetzt zurückgehalten, aber nun, da Al kibiades etwas älter geworden ist und die Liebhaber, die ihm nachstellen, weniger zahlreich sind und sich bald von ihm ab wenden werden, wage ich mich vor. Warum wage ich mich vor ? Nun eben weil Alkibiades die erste Stelle im Staat ein nehmen, in den ersten Rang vorrücken, ganz allein die Macht ausüben will. Das ist der kairos. Und wenn ich diesen kairas er greife, dann aus Liebe zu Alkibiades. Der eros, den ich für Al kibiades empfand und den ich auf die Weisung des Gottes bis j etzt behielt, ist derselbe, der j etzt bewirkt, daß ich diesen kai ras (diese Gelegenheit) ergreife, der im Willen Alkibiades' be steht, dem Staat vorzustehen und ihn zu führen. Wenn wir die se Situation und die sokratische Rechtfertigung in bezug auf Alkibiades vergleichen, sehen wir, daß der Unterschied b ei Pla ton bzw. in der Situation Platons gegenüber Dionysios hervor sticht. Zwar ergreift auch Platon den kairos, aber warum er greift er ihn ? Nicht aus einem Verhältnis, das von der Art des eros wäre, sondern aus einer Art von innerer Verpflichtung, die nicht so sehr als B egehren aus der Seele des Philosophen er wächst, sondern die Aufgabe der Philosophie selbst ist, die darin besteht, nicht bloß logos zu sein, sondern auch ergon. Oder genauer, der Philosoph selbst soll nicht bloß Iogos (Dis kurs, bloßer, reiner Diskurs) sein. Er soll auch ergon sein. Die se Verpflichtung, und nicht mehr der eros, ist es, was seitens des Philosophen den Grund dafür darstellt, daß er den kairas (die Gelegenheit) ergreift. Offensichtlich haben wir es hier nicht nur mit einer kleinen Verschiebung zu tun, die dafür verant wortlich ist, daß das Motiv, in den Bereich der Politik einzu greifen, nicht das Begehren des Philosophen gegenüber der
Person ist, an die er sich wendet, sondern die innere Verpflich :-c:ng der Philosophie als Iogos, darüber hinaus noch ergon zu s,�in. Das ist die erste Bemerkung, die ich machen wollte. Die zweite besteht in folgendem. Insofern ihn die Vorstellung
)c:unruhigt, er könne nichts weiter als Diskurs (Iogos) sein, scheint mir der Philosoph (Platon) ein Problem aufzuwerfen, e1nd zwar ein Problem, das, wie ich zuvor schon sagte, zugleich '
die Wirklichkeit ein ? Schematisch gesehen, scheint mir, daß sich in der Frage, die durch j ene B eunruhigung über die Philo sophie, die nicht nur logos, sondern auch ergon sein soll, ge stellt wird, auf sehr flüchtige, aber doch völlig entschiedene Weise nicht die Frage ausspricht, abzeichnet oder erhellt, was die Wirklichkeit ist, die zu sagen gestattet, ob die Philosophie das Wahre oder das Falsche sagt. Statt dessen: Was ist die Wirk lichkeit dieses philosophischen Wahrsprechens, was ist dafür verantwortlich, daß es sich dabei nicht bloß um einen vergeb lichen Diskurs handelt, gleichgültig ob dieser nun die Wahrheit sagt oder nicht ? Die Wirklichkeit des philosophischen Diskurses, darum geht es in dieser Frage. Und die Antwort, die in jenem einfachen Satz gegeben oder eher skizziert wird, an den ich letztes Mal erinnerte und mit dem ich nun wieder beginne - nämlich daß der Philosoph nicht bloß logos sein, sondern Hand an das er gon legen will -, die Antwort, die wir nun zu entwickeln ver suchen müssen, erscheint in ihrer ganzen Einfachheit: Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den sich die Philosophie als wirklich erweist, ist nicht der logos selbst, nicht das Spiel inner halb des logos selbst. Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den die philosophische Veridiktion sich als wirkliche erweisen wird, ist die Tatsache, daß sie sich an den wendet, wenden kann oder den Mut hat, sich an den zu wenden, der die Macht ausübt. Es soll hier kein Mißverständnis geben. Ich meine keineswegs, daß hier in diesem Text Platons eine bestimmte Funktion der Philosophie bestimmt würde, die darin bestünde, die Wahrheit über die Politik, die Gesetze, die Verfassung zu sagen und brauchbare und wirksame Ratschläge b ezüglich der zu treffen den Entscheidungen zu geben. Im Gegenteil werden wir bei spielsweise in diesem Text selbst sehen, wie Platon die Tat sache, daß der Philosoph Gesetze vorschlagen kann, beiseite schiebt oder zumindest an einen ganz besonderen und keines wegs zentralen Ort verlagert. Es geht nicht darum, die Wahr heit über die Politik zu sagen, nicht einmal darum, gebieterisch zu diktieren, was entweder die Verfassung der Staaten oder die
?":;lirik bzw. die Regierung der Staaten sein soll, wodurch der ?:-:il o sophische Diskurs seine Wirklichkeit erhält. Mir scheint, i 1.B d ie Philosophie für Platon in diesem Text ihre Wirklichkeit .:b dem Zeitpunkt unter Beweis stellt, wo sie in völlig verschie i tn a rtigen Formen in den politischen Bereich eintritt: Gesetze ;eben, einem Fürsten Ratschläge erteilen, eine Masse überzeu ;en usw. In diesen verschiedenartigen Formen, von denen kei r: e wesentlich ist, tritt sie in den polit i schen B ereich ein, indem ;:it j edoch immer gegenüber anderen Diskursen ihre eigene Be ;.onderheit verdeutlicht. Gerade dadurch unterscheidet sie sich ··:on der Rhetorik. Die Rhetorik - darauf werden wir viel au s �hrlicher zurückkommen müssen - ist von diesem Gesichts ?unkt der Philosophie aus nichts anderes als das Mittel, durch d.as derj enige, der die Macht ausüben will, nichts anderes tun �ann, als genau das zu wiederholen, was die Masse will oder ,_.-,·as die Führer oder der Fürst wollen. Die Rhetorik ist ein Mit :d, das ermöglicht, die Menschen von dem zu überzeugen, wo ,·on sie ohnehin schon überzeugt sind. Die B ewährungsprobe :ier Philosophie, die Realitätsprüfung (epreuve de realite) der Philosophie besteht im Gegensatz dazu nicht in ihrer politi schen Wirksamkeit, sondern in der Tatsache, daß sie mit ihrer :igenen Besonderheit in das Feld der Politik eintritt und ihr : igenes Spiel gegenüber der Politik v erfolg t Dieses eigen tüm ;iche Spiel gegenüber der Politik, diese Realitätsprüfung der Philosophie gegenüber der Politik möchte ich nun etwas erläu :ern, indem ich bloß folgendes festhalte - weil ich glaube, daß dies doch in der Geschichte des p hilosophischen Diskurses sehr wichtig ist: j ene kurze Passage des VII. Briefs, wo der Phi : os oph nicht bloß Iogos se i n, sondern auch Hand an die Wirk lichkeit legen will, scheint mir einen der Grundzüge dessen zu k ennzeichnen, was die Praxis der Philosophie im Abendland ist und sein wird. Es ist richtig, daß für lange Zeit und auch heute noch manche gedacht haben und denken, daß die Wirk lichkeit der Philosophie darauf beruht, daß die Philosophie die \\'ahrheit sagen kann, insbesondere über die Wissenschaft. L ange Zeit glaubte man und meint man immer noch, daß die
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Wirklichkeit der Philosophie im Grunde darin besteht, die Wahrheit über das Wahre, die Wahrheit des Wahren sagen zu können. Mir scheint j edoch, j edenfalls zeichnet sich das in Pla tons Text ab, daß es eine ganz andere Weise gibt, das zu kenn zeichnen, was die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklich keit der philosophischen Veridiktion sein kann, als daß diese Veridiktion, wie gesagt, das Wahre oder das Falsche sagt. Diese Wirklichkeit zeichnet sich dadurch aus, daß die Philosophie die Tätigkeit des Wahrsprechens, der Veridiktion gegenüber der Macht ist. Außerdem scheint mir, daß das seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden mit Sicherheit eines der beständi gen Prinzipien ihrer Wirklichkeit war. Jedenfalls möchte ich I hnen heute zeigen und sagen, wie dieser VII. Brief und seine _ verschiedenen Weiterentwicklungen als ein Nachdenken über die Wirklichkeit der Philosophie aufgefaßt werden können, die sich in der Veridiktion manifestiert, welche im Spiel der Politik ausgeübt wird. Ich werde diesen Brief, der sehr komplex ist, nicht in allen seinen Windungen und Einzelheiten verfolgen, sondern zum Zwecke der Schematisierung möchte ich seinen Gehalt unter zwei großen Fragen anordnen. Erstens scheint mir, daß dieser Brief in mehreren seiner Passagen, von denen die einen direkt aufeinanderfolgen, während die anderen auf diesen oder j enen Ort der Gesamtentwicklung verteilt sind, auf folgende Frage antwortet: Unter welchen Bedingungen kann der philosophi sche Diskurs sicher sein, daß er nicht bloß Logos ist, sondern wohl auch ergon im Bereich der Politik ? Mit anderen Worten, unter welchen Bedingungen kann der philosophische Diskurs seiner Wirklichkeit begegnen, seine Wirklichkeit vor sich selbst und den anderen bezeugen ? Die zweite Reihe von Fragen lau tet: Was hat die Philosophie in dieser Funktion der Wirklich keit, die sie ausübt, im Annehmen ihrer Wirklichkeit im Be reich der Politik wirklich zu sagen ? Diese zweite Reihe von Fragen ist tatsächlich so sehr mit der ersten verknüpft, sie leitet sich so unmittelbar von ihr ab, daß man sie recht knapp zusam menfassen kann, wie Sie sehen werden. Dagegen haben wir zur
.::-s ten Reihe von Fragen ( d. h. unter welchen B edingungen kann .: i n Iogos, der sich als philosophischer Diskurs versteht und be hauptet, die Hand an sein eigenes Werk legen; unter welchen Bedingungen kann er erfolgreich die Prüfung auf Wirklichkeit ::.:-stehen ?) drei oder vier Texte, die uns aufklären können. :Jer erste Text, über den ich sprechen möchte [ '�], steht bei ; ;. o c- 3 3 1 d. Damit der philosophische Diskurs tatsächlich sei :::: e Wirklichkeit finden kann, damit er als philosophische Veri iiktion wirklich s ein kann und nicht nur eitles Gerede ist, be :rifft die erste Bedingung - die paradox erscheinen mag - j ene, m die er sich richtet. D amit die Philosophie nicht einzig und z.llein Diskurs, sondern auch Wirklichkeit ist, muß sie sich ::::i cht an alle und j eden richten, sondern nur an diej enigen, die zuhören wollen. Hier sagt der Text folgendes, er beginnt so: \Ver einem kranken und gesundheitswidrig lebenden Mann •:or allem den Rat gibt, seine Lebensweise zu ändern, und erst dann, wenn der Kranke sich dazu bereit gezeigt hat, seinen ;;·eiteren Rat erteilt, im anderen Falle aber die B eratung eines derartigen Patienten ablehnt, den würde ich für einen wirkli chen Mann sowohl wie für einen Heilkundigen halten. «4 Das Ende des Absatzes lautet bei 3 3 1 d folgendermaßen: >>Er muß ;;eine Stimme vernehmen lassen [der Philosoph soll sprechen, wenn der Staat nicht gut regiert wird; M. F.], wenn ihm die S:aatsleitung auf falschem Weg zu sein scheint [ d. h. für den Fall, daß der Staat dem B erater, dem Philosophen nicht gut re giert zu werden scheint; M. F.], vorausgesetzt, daß er weder ·;ergeblich reden wird noch durch seine Rede sein L eb en ge �ährdet [um zu sprechen, muß der Philosoph also sicher s ein, daß er nicht vergeblich spricht oder sein Leben riskiert, d. h. er :nuß sich dessen sicher sein, daß s ein Diskurs j edenfalls nicht
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,.. ?>.1. F. fügt hinzu: Das ist nicht der Text, den ich Ihnen ausgeteilt habe. Den ausgeteilten werde ich versuchen, später zu kommentieren.
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sich nicht beikommen lassen, sondern sich ruhig verhalten und von den Göttern das Heil für sich und den Staat erflehen. «5 Angehört zu werd en und beim Zuhörer den Willen zu finden, den zu gebenden Rat zu befolgen, darin besteht die erste Be dingung der Ausübung des philosophischen Diskurses als Aufgabe, als Tätigkeit, als ergon, als Wirklichkeit. Nur denje nigen sollen Ratschläge erteilt werden, die auch bereit sind, sie zu befolgen. Andernfalls soll man es wie die Ä rzte machen, die weggehen, wenn die Kunden und die Kranken ihre Vorschrif ten nicht hören wollen. Sie werden nun sagen, daß das ziemlich banal ist, aber ich glaube, daß man diesen Text etwas erhellen kann, wenn man den Vergleich mit der Medizin weiter ver folgt, einen Vergleich, der ein Gemeinplatz ist, den man bei Platon sehr häufig antrifft, nämlich in einer ganzen Reihe von Texten, die den politischen Ratschlag mit der medizinischen Praxis vergleichen oder ihn auf diese Praxis beziehen. Insbe sondere ist das der Fall in der Passage des IV. Buches des Staats, 42 5 e6 und auch im IV. Buch der Gesetze, 720a F Was bedeutet dieser Bezug auf die Medizin aber genauer ? In erster Linie folgendes: Die Medizin wird im allgemeinen, nicht nur in den platonischen Texten, sondern in den griechischen Texten des 4· Jahrhunderts und später allgemein auf dreierlei Weise charakterisiert. Erstens ist die Medizin eine Kunst der günstigen Umstände und der Gelegenheit, aber auch der Ver mutung, da es anband der vorliegenden Anzeichen darum geht, die Krankheit zu erkennen, ihre Entwicklung vorherzusehen und folglich die angemessene Behandlung zu wählen. Eine Kunst der günstigen Umstände und der Vermutung, die sich natürlich auf eine Wissenschaft, eine Theorie, auf Erkenntnisse stützt, die j edoch zu j eder Zeit die b esonderen Bedingungen berücksichtigen und eine Praxis der Entzifferung zur Anwen dung bringen muß . Zweitens wird die Medizin auch so charak terisiert, daß sie nicht bloß ein theoretisches und allgemeines Vermutungswissen und eine Erkenntnis der günstigen Um stände ist, sondern auch eine Kunst, und zwar eine Ü berzeu gungskunst. Der gute Arzt ist auch derj enige, der in der Lage 2 94
i s t, seinen Kranken zu überzeugen. Ich verweise Sie beispiels o;:: e ise auf die berühmte Unterscheidung zwischen den beiden Heilkünsten in Platons Gesetzen, IV. Buch, Absatz 720 a-e.8 Die Heilkunst für Sklaven, die von den Sklaven, die entweder ,e ine Apotheke haben oder Hausbesuche bei den Kranken ma �hen, selbst ausgeübt wird, ist eine Medizin, die sich damit oegnügt, Vorschriften ZU machen, ZU sagen, was zu tun sei �Iedizin, Medikamente, Schröpfungen, Einschnitte, Amulette usw.). Außerdem gibt es die freie Medizin für freie M enschen, die von Ärzten ausgeübt wird, die selbst freie Menschen sind. Diese Medizin zeichnet sich durch die Tatsache aus, daß der Arzt und der Kranke miteinander sprechen. Der Kranke un :errichtet den Arzt, woran er leidet, was sein Diätplan ist, wie seine Lebensweise aussieht usw. Umgekehrt erklärt der Arzt dem Kranken, warum sein Diätplan nicht gut war, warum er krank wurde und was nun für die Heilung zu tun sei, bis er wirklich davon überzeugt ist, daß er sich auf diese Weise pfle gen sollte. Die gute Medizin, die große und freie Medizin ist also eine Kunst des Dialogs und der Ü berzeugung. Das dritte :\1 erkmal schließlich, das man im allgemeinen in Definitionen der Medizin findet, besteht in der Tatsache, daß sich die gute \Iedizin nicht nur mit dieser oder j ener Krankheit befaßt, die geheilt werden soll, sondern die gute Medizin ist eine Tätig keit, eine Kunst, die das ganze Leben des Kranken berücksich tigt und sich seiner annimmt. Man muß zwar auch Dinge ver schreiben, damit die Krankheit verschwindet, aber vor allem muß man eine ganze Lebensweise festlegen. Gerade im Hin blick auf diese Lebensweise wird die Aufgabe der Ü berzeu gung, die der Medizin und dem Arzt eigentümlich ist, zu etwas ganz Wichtigem und Entscheidendem. Damit der Kranke wirklich geheilt werde und damit er in Zukunft jede andere Krankheit vermeiden kann, muß er bereit sein, all es zu ändern, was seine Getränke, seine Nahrung, seine sexuellen Beziehun gen, seine körperlichen Ü bungen, seine ganze Lebensart an g e ht Die Medizin bezieht sich ebenso auf die Lebensweise wie auf die Krankheit. .
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Wenn wir diese drei Merkmale der Medizin betrachten, die in den platonischen Texten so oft zur Charakterisierung der Me dizin erwähnt werden, wenn wir also diese verschiedenen Fest stellungen b etrachten und sie auf die Frage beziehen, was die Aufgabe des Beraters sei, jenes politischen Beraters, von dem der Text des VII. Briefes sagt, daß er sich wie ein Arzt beneh men soll, dann sehen wir, daß es nicht die Rolle des politischen B eraters sein wird, die Funktion eines Regierenden auszuüben, der im normalen Verlauf der Dinge Entscheidungen zu treffen hat. Der Philosoph als politischer B erater soll nur dann ein greifen, wenn die Dinge schlecht laufen, wenn eine Krankheit auftritt [ . .] . In diesem Fall soll er diagnostizieren, worin das Ü bel des Staats b esteht, die Gelegenheit der Intervention er greifen und die Ordnung der Dinge wiederherstellen. Es han delt sich also um eine kritische Rolle in dem Sinne, daß sie ih ren Ort im B ereich der Krise oder j edenfalls im B ereich des Ü b els und der Krankheit und des B ewußtseins hat, das der Kranke, der Staat und die Bürger davon besitzen, daß die Din ge nicht gut laufen. Zweitens wird die Rolle der Philosophie und des Philosophen nicht wie die der Ä rzte der Sklaven sein, die sich damit begnügen zu sagen: Dies ist zu tun, j enes ist zu unterlassen, dies ist einzunehmen, jenes ist nicht einzunehmen. Die Rolle des Philosophen soll wie die der freien Ärzte sein, die sich an freie Menschen wenden, d. h. die zugleich überzeu gen und nicht nur vorschreiben. Gewiß muß er sagen, was zu tun ist, aber er muß auch erklären, warum es zu tun ist, und in sofern wird der Philosoph nicht bloß ein Gesetzgeber sein, der einen Staat darauf hinweist, wie er regiert werden und welche Gesetze er befolgen soll. Die Rolle des Philosophen wird es sein, die einen und die anderen zu überzeugen, die Regieren den und die Regierten. Schließlich soll der Philosoph nicht ein fach Ratschläge b ezüglich dieses oder jenes Ü bels erteilen, das den Staat b efällt. Er soll auch die Lebensweise des Staats voll ständig neu bedenken, er soll wie jene Ärzte sein, die nicht bloß daran denken, die gegenwärtigen Ü b el zu heilen, sondern die das gesamte Leben des Kranken b erücksichtigen und sich sei.
::;er annehmen wollen. Es ist also die gesamte Ordnung des Staats, seine politeia, die Gegenstand der Intervention des Phi losophen sein soll. �In einem gewissen Sinn kann man sich fragen, ob diese B estim mung der Aufgabe des philosophischen B eraters, der in das Ü bel des Staats durch Ü b erzeugung und auf solche Weise ein greifen soll, daß die ganze politeia in Frage gestellt wird, nicht ein bißchen dem Text widerspricht, den ich aus dem V. Brief zitiert habe,9 wo Platon sagt: Jedenfalls gibt es eine Reihe von politeiai, die sich voneinander unterscheiden. Es gibt die demo kratische Verfassung, die aristokratische Verfassung, die Ver fassung, die im Gegensatz dazu die Macht einem einzigen an Yertraut. In einem Brief, der zusammen mit einem B erater beim König von Makedonien (Perdikkas) eintreffen sollte, sag te er: Auf die politeia kommt es im Grunde nicht an. Das Pro blem ist vielmehr, die eigentümliche Stimme j eder politeia zu hören, zu verstehen und zu kennen, ihre phone, da das Ü bel für einen Staat im allgemeinen darin liegt, daß die phone (Stimme) der politeia nicht der Verfassung selbst entspricht. Hier scheint e s , daß das Problem, das der Berater zu lösen hat, nicht bloß darin besteht, die Stimme des Staats an seine Verfassung an zupassen, sondern die politeia rundweg neu zu denken. Wir können uns also einen Widerspruch zwischen dem, was im VII. Brief, und dem, was im V. Brief gesagt wird, vorstellen, ei nen solchen vermuten oder erahnen - mit der zusätzlichen Bemerkung natürlich, daß, da der V. Brief ganz offenbar apo kryph ist und später geschrieben wurde, dieser Widerspruch nicht zu problematisch sein sollte. Dagegen scheint es wohl, daß die Mahnung, die ganze politeia des Staats zu berücksichti gen und sich ihrer anzunehmen, auch in einem gewissen Wi derspruch zu anderen Texten steht, die man in demselben VII. Brief findet, insbesondere zu der so rätselhaften Stelle, an der ". Das Manuskript präzisiert hier: »Was der VII. Brief sagt, liegt sehr nahe bei dem, was im Staat 426a-42 7a gesagt wird. Es lohnt sich nur dann, die Heilung des Staates zu versuchen, wenn es möglich ist, die politeia zu än dern und die Weise, in der er politeuomene [regiert] wird . « 2 97
Platon sagt: Für d en Philosophen steht es jedenfalls außer Frage, daß er sich zum Nomotheten, zum Gesetzgeber, zum Verabschieder von Gesetzen eines Staates erhebt. Tatsächlich scheint mir, daß , wenn Platon hier von der Notwendigkeit für den guten Berater spricht, die ganze politeia zu berücksichti gen (wie ein guter Arzt die ganze Lebensweise berücksichtigt), er die politeia nicht in einem strengen und institutionellen Sinne des gesetzlichen Rahmens versteht, in dem der Staat exi stieren soll. Was er, glaube ich, unter politeia versteht, ist un zweifelhaft die Ordnung des Staats selbst, d. h. das durch die Gesetze selbst gebildete Ganze, aber auch die Ü berzeugung, die die Regierenden und die Regierten haben mögen, nämlich daß man die guten Gesetze befolgen soll, und schließlich die Art und Weise, wie diese Gesetze tatsächlich im Staat befolgt werden. Der politeia im strengen Sinne, die der institutionelle Rahmen des Staats ist, muß auch diese Ü berzeugung der Re gierenden und d er Bürger hinzugefügt werden. Es muß die Art und Weise hinzugefügt werden, wie sich diese Ü berzeugung in den Handlungen niederschlägt. All das macht die politeia im weiten Sinne aus . Mir scheint, daß, wenn Platon die Funktion des philosophi schen Beraters mit der des Arztes vergleicht und wenn er dann geltend macht, daß die ganze politeia vom Berater berücksich tigt werden muß, die politeia im weiten Sinn gemeint ist. Wor an soll sich der Berater im Grunde wenden ? Nun, mir scheint, daß der Berater, wie ihn Platon bestimmt, indem er ihn mit dem Arzt vergleicht, wesentlich j emand ist, der, wie gesagt, nicht sprechen soll, um - am Ausgangspunkt des Staats oder als seinen institutionellen Rahmen - die Grundgesetze aufzuerle gen, sondern daß er sich im Grunde an den politischen Willen wenden soll. Sei es nun der Wille des Monarchen, der der olig archischen oder aristokratischen Führer oder der der Bürger, er soll diesen Willen bel ehren. Man muß j edoch auch sehen, daß, wenn der Philosoph sich an den politischen Willen wendet, der die politeia zum Leben erweckt, der sich von den Gesetzen überzeugen läßt, der sie annimmt und als gut anerkennt und
der sie tatsächlich anwenden will, wenn sich der Philosoph an diesen politischen Willen wendet, er sich nur an ihn wenden kann, wenn er selbst in gewisser Weise gut ist, d. h. wenn der Fürst, wenn die Führer, wenn die Bürger tatsächlich den Wil len haben, der Philosophie zuzuhören. Wenn sie sie nicht hö ren wollen, d. h. wie es am Ende des Textes lautet, wenn man meint, daß das, was der Philosoph sagt, nur Schall und Rauch sei, oder schlimmer noch, wenn man den Philosophen tötet, hat man es in beiden Fällen mit einer Weigerung zu tun, und die Philosophie kann ihre Wirklichkeit nicht finden. Der Philo soph, der spricht, ohne angehört zu werden, oder gar der Phi losoph, der unter der Androhung des Todes spricht, tut im Grunde nichts anderes, als in den Wind und ins Leere zu spre chen. Wenn er will, daß sein D iskurs ein wirklicher Diskurs sei, ein Diskurs der Wirklichkeit, wenn er will, daß seine philoso phische Veridiktion tatsächlich dem Bereich des Wirklichen "'ngehöre, muß sein philosophischer Diskurs von denen ge hört, angehört und akzeptiert werden, an die er sich wendet. Die Philosophie existiert nicht allein schon in der Wirklichkeit unter der B edingung, daß es einen Philosophen gibt, der sie formuliert. Die Philosophie existiert nur dann in der Wirklich keit, die Philosophie findet nur dann ihre Wirklichkeit, wenn dem Philosophen, der seinen Diskurs hält, die Aufmerksam keit und das Zuhören desjenigen entsprechen, der von der Phi losophie überzeugt werden will. Ich glaube, daß wir es hier mit etwas zu tun haben, was man den ersten Zirkel nennen könnte (im Text gibt es noch weitere). Dies ist der Zirkel der Anhö rung: Die Philosophie kann sich nur an diejenigen wenden, die sie anhören wollen. Ein Diskurs, der nur Protest, Anfechtung, Aufschrei und Wut gegen die Macht und die Tyrannei wäre, wäre kein philosophischer. Ein Diskurs, der ein Diskurs der Gewalt wäre und in den Staat wie durch einen Einbruch hin einkäme und der folglich um sich herum Bedrohung und Tod verbreiten würde, fände ebenfalls nicht seine philosophische Wirklichkeit. Wenn der Philosoph nicht angehört wird, und zwar bis zu einem solchen Grad, daß er mit dem Tod bedroht 2 99
wird, oder auch, wenn der Philosoph gewalttätig ist, und zwar in einem solchen Maße, daß sein Diskurs den Tod von anderen zur Folge hätte, kann die Philosophi e in beiden Fällen ihre Wirklichkeit nicht finden. Sie verfehlt die Realitätsprüfung. Die erste Realitätsprüfung des philosophischen Diskurses ist das Gehör, das er findet. Von hier aus ergeben sich eine Reihe schwerwiegender und wichtiger Konsequenzen, die man nicht in Kürze entfalten kann: Die Philosophie setzt immer die Philosophie voraus, die Philosophie kann nicht nur mit sich selbst sprechen, die Philo sophie kann nicht als Gewalt auftreten, die Philosophie kann nicht als Gesetzestafel erscheinen, die Philosophie kann nicht als Schrift für alle b eliebigen Menschen geschrieben werden und in Umlauf gebracht werden. Die Wirklichkeit der Philoso phie besteht darin - das ist ihr erstes Merkmal -, daß sie sich an den philosophischen Willen wendet. Als letzte Konsequenz sehen Sie, worin die Philosophie sich gerade völlig von der Rhe torik unterscheidet (wir müssen das anschließend s elbstver ständlich wieder aufnehmen). Die Rhetorik ist gerade dasjeni ge, was unabhängig vom Willen der Zuhörenden angewendet und wirksam werden kann. Das Spiel der Rhetorik b esteht dar in, den Willen der Zuhörer gewissermaßen gegen ihren Willen zu fesseln und damit zu machen, was ihr beliebt. Also kann die Philosophie - in dieser Hinsicht ist sie keine Rhetorik und kann auch nur das Gegenteil der Rhetorik sein - bescheiden oder ge bieterisch, je nachdem, nur aufgrund der Tatsache existieren, daß sie angehört wird. Dieses Anhören, diese Erwartung der Philosophie, daß sie selbst gehört wird, ist Teil ihrer Wirklich keit. Das ist der erste Punkt, den man der ersten Erläuterung der Rolle des B eraters entnehmen kann, die Platon gibt. Wenn er nach Sizilien gefahren ist, dann deshalb, weil er das Versprechen hatte, angehört zu werden. Wenn sein Diskurs in Sizilien nur ein eitler logos bliebe, dann gerade deshalb, weil dieses Anhören nicht stattgefunden hat und das Versprechen, das man Platon gemacht hatte, von demjenigen gebrochen wurde, der zuhören sollte. Das ist das erste Thema, mit dem wir es zu tun haben.
Das zweite, das unmittelbar mit diesem verknüpft ist, besteht in folgender Frage: Wenn es richtig ist, daß die Philosophie ihre
Wirklichkeit nur dadurch erlangt, daß sie angehört werden kann, wie lassen sich dann diejenigen erkennen, die einen an hören werden ? Wie kann der Philosoph die Realitätsprüfung auf der Grundlage der Gewißheit annehmen, daß man ihm zu hören wird ? Das ist ein wichtiges Problem, das auch, wie Sie sich erinnern, das Problem des Sokrates ist. Auch Sokrates mußte sich fragen, ob es der Mühe wert sei, sich an diesen oder jenen jungen Mann zu wenden, um ihn zu überzeugen zu ver suchen. Sie wissen auch, daß Sokrates die Gewißheit, daß man ihm zuhörte, forderte und sie in der Schönheit der jungen Männer erblickte oder zu erblicken glaubte, zumindest aber in dem, was er am Gesicht und Blick eines jungen Mannes ablesen konnte. Hier haben wir aber offenbar ein ganz anderes Kriteri um, es geht um etwas ganz anderes. D er Test, der eine Ent scheidung darüber erlauben wird, ob einem zugehört wird oder nicht, wird von Platon in Absatz 34ob erläutert[ . . �·], den ich jetzt kommentieren möchte. Diese Passage ist in Platons Brief ziemlich weit von derj enigen entfernt, die ich vorhin vor gelesen habe, obwohl sie sich logisch recht deutlich darauf be zieht. Es handelt sich um eine Erläuterung, die sich nicht auf die erste politische Reise nach Sizilien ( d. h. chronologisch die zweite) bezieht, sondern auf die zweite (chronologisch die dritte). Um der Bequemlichkeit des Referats willen werde ich sie jedoch gemeinsam behandeln, denn ich glaube, daß diese Passage (dar über, wie man denjenigen, an den man sich wendet, erkennt, welchem Test man ihn unterzieht) direkt mit der Frage ver knüpft ist, die ich vorhin erwähnte: Es lohnt sich nicht zu spre chen, und die Philosophie kann kein wirklicher Diskurs, keine wirkliche Veridiktion sein, wenn sie sich nicht an jemanden wendet, der zuhören will. Frage: Wie erkennt man die, die zu.
". M. F. fügt hinzu: Diesen Text habe ich kopieren lassen und einige Exem-
plare davon aus geteilt. Entschuldigen Sie bitte, daß es nie genug sind, aber ich weiß nie, wie viele Sie sein werden . . . 301
hören können und wollen ? Lesen wir also kurz diesen Text: >>Nach meiner Ankunft hielt ich es für meine erste Aufgabe, Ge wißheit darüber zu erlangen, ob Dionysios in Wahrheit Feuer und Flamme für die Philosophie wäre oder ob nichts wäre an den vielen Gerüchten, die darüber nach Athen gekommen wa ren. <<10 Sie sehen, daß es direkt um das Problem des Zuhörens geht: Wie soll man es feststellen ? »Es gibt nun ein gewisses Verfahren dies auszuprobieren, ein Verfahren, das nichts Un ehrenhaftes hat, sondern bei Tyrannen in der Tat ganz ange messen ist, zumal bei solchen, die den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren. Daß dies auch bei Dionysios der Fall war, und zwar in ganz hohem Grade, das ward mir gleich nach der Ankunft klar. Man muß nämlich solchen Leuten die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahl reichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe [wir kommen gleich auf die griechischen Begriffe zurück bzw. auf die Art und Weise, wie wir diese Übersetzung etwas präziser machen können; aber lesen wir sie zunächst nur; M. F.] deutlich zu erkennen geben. Ist nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, innerlich mit ihr verwandt und als Gottbegeisterter berufen, sich mit ihr zu befassen, so glaubt er Kunde erhalten zu haben von einem Wege, der in ein Wunderland führt, das zu erreichen er fortab alle Kraft einset zen müsse: lieber will er auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel. Und so mutet er denn sich und dem Führer auf diesem Wege die äußerste Anstrengung zu und läßt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein. Von dieser An schauung durchdrungen und von diesem Triebe erfüllt, geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis und sein Denkvermögen bei innerer Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert, während die dieser entgegengesetzte ihm für immer 3 02
�:.1fs Tiefste verhaßt ist [der Text endet mit folgenden Worten, i:h lasse einige Zeilen aus; M. F.]. [.. . ] Das ist die klare und die
;icherste Art der Vergewisserung b ei Genußmenschen, die zu 2usharrender Anstrengung unfähig sind. So geprüft, können ;ie die Schuld nie auf den Führer schieben, sondern nur auf sich o:elbst, auf ihre Unfähigkeit nämlich, alles für die Erfüllung der Aufgabe Erforderliche zu leisten.«11 :Jas erste Element, das es an diesem Text hervorzuheben gilt, isr der sehr ausdrückliche, förmlich experimentelle und metho dische Charakter, den Platon diesem Kriterium verleiht. Es ':andelt sich nicht bloß wie bei Sokrates um eine Wahrneh ::lung, eine Anschauung, die ihn anband der Schönheit eines j:.mgen Mannes die Qualität seiner Seele erraten ließ. Hier han ielt es sich um eine Methode, eine klare Methode, die völlig rinreichend sein und unbezweifelbare Ergebnisse haben soll. Worin besteht nun aber diese Methode ? »Sie ist Tyrannen in der Tat ganz angemessen«, lautet der Text, »zumal bei solchen, iie den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philoso ;hischen Lehren. « Man muß den Tyrannen (hier folge ich der Übersetzung) »die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen 'C"mfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahl reichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe �zeigen].« Wenn man den griechischen Text sehr grob, unge schliffen und Wort für Wort übersetzt, ergibt sich folgendes: solchen Leuten, solchen Tyrannen muß man zeigen, was to 11 pragma ist (was die Sache ist, die Sache s �lbst - ich komme dar auf zurück); durch welche Tätigkeiten, Praktiken (di' hoson p ragmaton ) [sie ausgeübt wird]; und welche Mühe sie bedeutet und erfordert (kai hoson ponon echei). Sie sehen, daß das Wort pragma in diesem Text zweimal vor kommt. Nun hat dieses Wort im Griechischen zwei B edeutun gen. Pragma ist in den B egriffen der Grammatik oder Logik der B ezugsgegenstand eines Begriffs oder einer Aussage. Und hier sagt Platon ganz klar, daß man den Tyrannen zeigen muß,
Philosophie ist, sie kennen einige philosophische Wörter, ha ben ein paar Kleinigkeiten und Lappalien gehört und glauben, daß das die Philosophie ist. Man muß ihnen pan ta pragma zei gen: die Wirklichkeit der Philosophie in ihrer Gesamtheit, die ganze Wirklichkeit der Philosophie, was die Philosophie im ganzen als Gegenstand des B egriffs der Philosophie ist. Worin wird nun dieses pragma der Philosophie, diese Wirklichkeit der Philosophie, bestehen ? Man muß zeigen, »haian te kai di' hasan pragmatan kai hasan panan e chei « .Was aber ist dieses pragma ? Nun, es sind die pragmata. Was sind die pragmata ? Das sind die Angelegenheiten, die Tätigkeiten, die Schwierig keiten, die Praktiken, die Übungen, alle Formen von Prakti ken, in denen man sich üben und sich Mühe geben muß, um die man sich bemühen muß und die tatsächlich mühsam sind. Hier haben wir den zweiten Sinn des Wortes pragma, wonach es sich nicht mehr um den Gegenstand eines Begriffs oder einer Aussage handelt. Die pragmata sind die Tätigkeiten, all das, womit man sich beschäftigt, all das, wobei man sich Mühe ge ben kann. Pragmata in diesem Sinne ist schale entgegengesetzt, was Muße bedeutet. Eigentlich besteht aber die philosophische schale, die philosophische Muße, gerade darin, daß man sich mit einer Reihe von Dingen beschäftigt, die die pragmata der Philosophie sind. Jedenfalls haben wir in diesem Text ein doppeltes Verständnis des Wortes pragma. Dieses doppelte Verständnis ist folgendes: Man muß den Tyrannen oder denen, die die Philosophie zu kennen glauben, zeigen, worin die Wirklichkeit der Philoso phie besteht, worauf sich das Wort »Philosophie« wirklich be zieht, was es heißt zu philosophieren. Wodurch zeigt man ih nen das ? Dadurch, daß »Philosophieren« eben eine Reihe von Tätigkeiten und von pragmata ist, die die philosophische Pra xis ausmachen. Was der Text sagt, ist nicht mehr und nicht we niger als diese eine grundlegende Sache, nämlich daß die Wirk lichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit des Philosophierens, das, worauf sich der Begriff der Philosophie bezieht, eine Ge samtheit von pragmata (von Tätigkeiten) ist. Die Wirklichkeit
der Philosophie, das sind die Tätigkeiten der Philosophie. Was
sind nun diese Tätigkeiten ? Genau diese Frage entwickelt der Text von diesem Satz an. Es lassen sich drei Reihen von Hin weisen finden. Die Tätigkeiten der Philosophie werden dargestellt als ein Weg, der durchlaufen werden soll, ein Weg, den derj enige, den :nan prüfen und auf die Probe stellen will, sofort erkennen soll und von dem er, sobald man ihm diesen Weg vorgestellt hat, zeigen soll, daß er gerade ihn gewählt hat, ihn beschreiten will, an dessen Ende gelangen will und daß er nicht anders leben kann. »Ou bioton allos« : Es ist ihm nicht möglich, anders zu le ben. Diese philosophische Wahl, diese Wahl des philosophi schen Wegs ist eine der ersten Bedingungen. Zweitens soll sich der Kandidat, der dieser Prüfung unterzogen wird, im Aus gang von der philosophischen Wahl, die er getroffen hat, mit all seinen Kräften beeilen, und zwar auch unter der Leitung eines Führers, der ihm den Weg zeigt, an der Hand nimmt und ihn den Weg beschreiten läßt. Der Kandidat, der der Prüfung un rerzogen wird, soll sich mit ganzer Kraft beeilen und auch s ei nen Führer dazu drängen, so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Auch dad er in diesen Tätigkeiten (den pragmata der Philosophie) mit seiner Anstrengung nicht nachlassen, und bis zum Ende, bis zur Endstation des Weges soll er immer arbeiten und sich abmühen. Außerdem dad er erst dann - das ist ein weiterer Hinweis im Text - auf die Leitung dessen, der ihn führt, verzichten, wenn er genügend Kraft gesammelt hat, um sich ohne seinen Lehrer zu führen, d. h. um sein eigener Führer zu sem. Die zweite wichtige Reihe von Hinweisen folgt unmittelbar danach: »Von dieser Anschauung durchdrungen, und von die sem Triebe erfüllt, geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächt nis und sein Denkvermögen bei innerer Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert.«13 Dieser Text ist wichtig,
weil er zugleich anzeigt, daß die Wahl der Philosophie ein für alle Mal getroffen und bis zum Ende aufrechterhalten werden muß, d. h. bis zum Schluß nicht unterbrochen werden darf. Andererseits aber - das geht aus dieser Ü berlegung hervor - ist diese Wahl der Philosophie nicht nur vereinbar mit den ge wöhnlichen Handlungen, sondern besteht gerade darin, daß man selbst im gewöhnlichen Leben und bei den Handlungen, die man täglich zu verrichten hat, von der Philosophie Ge brauch macht und sie ins Spiel bringt. Man ist bis in seine ge wöhnlichen Handlungen hinein Philosoph, und diese Praxis der Philosophie drückt sich in drei Fähigkeiten aus, in drei Ar ten von Einstellungen und Fähigkeiten: Man ist eumathes, d. h., man lernt leicht; man ist mnemon, d. h., man hat ein gutes Gedächtnis und behält alles das, was man gelernt hat, dauerhaft und auf lebendige, gegenwärtige, aktive Weise im Geist, weil man eumathes war. Man ist also eumathes, man ist mnemon, und schließlich ist man logizestai dynatos (man ist in der Lage zu räsonieren, d. h., in einer gegebenen Situation und bei einer bestimmten Ü berlegung weiß man sich des Verstandes zu be dienen und ihn anzuwenden, um die richtige Entscheidung zu treffen). Wir haben also eine ganze erste Reihe von Hinweisen, die charakterisieren, worin die philosophische Wahl in ihrem Ursprung, ihrer Beständigkeit, ihrer ununterbrochenen An strengung bestehen soll, und andererseits eine ganze Reihe von Hinweisen, die zeigen, wie diese philosophische Wahl sich un mittelbar und kontinuierlich mit der alltäglichen Tätigkeit ver schränkt und mit ihr verschlungen ist. Wenn man nun diesen Text mit dem anderen Text des Alki biades vergleicht, über den ich vorhin gesprochen und den ich letztes Mal kommentiert habe, sieht man, daß die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Philosophie und etwa der poli tischen Tätigkeit sehr unterschiedlich ist. Alkibiades war, wie Sie sich erinnern, von dem Wunsch besessen, die Macht auszu üben, und zwar die einzige, ausschließliche Macht im Staat. An dieser Stelle packte ihn Sokrates, nahm ihn am Ärmel und sagte zu ihm: Aber weißt du auch, wie du diese Macht ausüben
kannst ? Darauf folgte ein sehr langer Dialog, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß Alkibiades, da er nicht wußte, was die
Gerechtigkeit oder die richtige Ordnung oder die richtige Har monie war, die er im Staat zur Herrschaft führen wollte, all dies lernen mußte. Er konnte dies alles aber nicht lernen, ohne sich zuerst und vor allem mit sich selbst zu befassen. Sich mit sich selbst zu befassen setzte jedoch voraus, daß er sich selbst kannte. Sich selbst zu kennen setzt nun aber die Wendung der _-\ufmerksamkeit auf die eigene Seele voraus, und in der Be :rachtung der eigenen Seele oder in der Wahrnehmung des göttlichen Elements seiner eigenen Seele konnte er die Grund lagen des Wesens der Gerechtigkeit wahrnehmen, und dadurch konnte er erkennen, was die Grundlagen und Prinzipien einer gerechten Regierung waren. Dort hatten wir also das Bild oder eher die B estimmung einer philosophischen Entwicklung, die, ;;::i e auch hier, für die politische Tätigkeit unverzichtbar ist. Diese philosophische Entwicklung hatte j edoch im Alkibiades di e Form der Rückkehr zu sich selbst, der Selbstbetrachtung der Seele und der Betrachtung der Wirklichkeiten, die ein ge rechtes politisches Handeln begründen können.14 Hier sind die philosophische Wahl, die philosophische Tätig keit, die philosophischen pragmata, die unbedingt notwendig sin d und das pragma (die Wirklichkeit) der Philosophie aus machen, die philosophischen Tätigkeiten, die die Wirklichkeit der Philosophie sind, ganz andere. Es handelt sich keineswegs um die Aufmerksamkeit, sondern um eine Entwicklung. Es handelt sich keineswegs um eine U mwendung, sondern im Gegenteil darum, einem Weg zu folgen, der einen Ursprung und ein Ziel hat. Und während dieser ganzen Entwicklung muß eine lange und mühsame Arbeit geleistet werden. Schließ lich ist die Anhänglichkeit, um die es in diesem Text geht, nicht die Anhänglichkeit an ewige Wirklichkeiten, sondern die Pra xis des Alltagslebens, jene Art von alltäglicher Tätigkeit, inner nalb deren das Subj ekt sich als eumathes (lernfähig), mnemon erinnerungsfähig) und logizesthai dynatos (fähig zu räsonie ren ) erweisen soll. Im Fall der großen Umwendung, die wir im
Alkibiades beschrieben sahen, ging es darum, wie das Subjekt, wenn es den Zeitpunkt erreicht hatte, wo es in der Lage war, die Wirklichkeit zu betrachten, wieder herabsteigen und das, was es gesehen hatte, im Alltagsleben effektiv anwenden konn te. Sie erinnern sich im übrigen auch, wie schwierig es im Staat war, diej enigen, die schon einmal die Wirklichkeit außerhalb der Höhle betrachtet hatten, wieder in die Höhle zurückzu schicken. Hier geht es um etwas ganz anderes. Es geht um eine Wahl, eine Wahl, die von Anfang an getroffen werden muß, eine Wahl, die ein für allemal getroffen und die anschließend entwickelt und entfaltet werden muß, um sich quasi in der em sigen Arbeit des Alltagslebens auszuprägen. Das ist ein ganz anderer Typ von Umwendung. Im Alkibiades hatten wir die Wendung der Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Hier geht es um eine Umwendung, die durch eine anfängliche Wahl, eine Entwicklung und eine Anwendung bestimmt ist. Es ist keine Wendung der Aufmerksamkeit, sondern der Entscheidung. Eine Wendung, die nicht nach der Betrachtung strebt, und zwar nach der Selbstbetrachtung, sondern die unter der Leitung ei nes Führers und am Leitfaden einer langen und mühsamen Entwicklung in der alltäglichen Tätigkeit Lernen, Gedächtnis und vernünftige Schlußfolgerungen ermöglichen soll. Daraus läßt sich offensichtlich eine Reihe von Folgerungen ziehen. Die erste besteht, wie Sie gesehen haben, darin, daß in diesem Text ein weiterer Zirkel bestimmt wird. Vorhin habe ich in bezug auf die vorangehende Passage den Zirkel der An hörung erwähnt, der darin besteht, daß das philosophische Wahrsprechen, die philosophische Veridiktion, beim anderen den Willen zuzuhören voraussetzt. Hier haben wir einen wei teren, davon ganz verschiedenen Zirkel, der nicht mehr der Zirkel des anderen, sondern der Zirkel des Selbst ist. Tatsäch lich handelt es sich um folgendes: Die Wirklichkeit der Philo sophie findet sich nur in der Praxis der Philosophie, wird nur dort anerkannt und vollzieht sich ebenfalls nur dort. Genauer noch, die Wirklichkeit der Philosophie, das ist die zweite Fol gerung, die wir ziehen müssen, ist nicht ihre Praxis als Praxis
ies logos. Das bedeutet, daß sie nicht die Praxis der Philoso ;hie als Diskurs ist, nicht einmal die Praxis der Philosophie als
Dialog. Es ist die Praxis der Philosophie als »Praktiken« im ?Iural, die Praxis der Philosophie in ihren Praktiken, in ihren ,;·erschiedenen Ausübungen. Die dritte Folgerung, die offen s:chtlich von großer Bedeutung ist, ergibt sich aus der Frage, worauf sich diese Ausübungen beziehen, worum es in diesen Praktiken geht. Nun, es geht ganz einfach um das Subj ekt selbst. Das b edeutet, daß die Wirklichkeit der Philosophie sich m der Selbstbeziehung, in der Arbeit an sich selbst, im Modus der Selbsttätigkeit bezogen auf sich selbst zeigt und bestätigt ,,·ird. Die Philosophie findet ihre Wirklichkeit in der Praxis der Philosophie, verstanden als die Gesamtheit der Praktiken, d:rrch die das Subjekt eine Beziehung zu sich selbst unterhält, sich selbst entwickelt und an sich arbeitet. Die Arbeit an sich selbst, darin besteht die Wirklichkeit der Philosophie. Das war also der zweite Text in diesem VII. Brief, den ich kom mentieren wollte. Einen dritten werde ich gleich kommentie ren. Er wird uns zu einem dritten Zirkel führen und zu einer dritten Bestimmung, einer dritten Annäherung an die Wirk lichkeit der Philosophie.
Anmerkungen : »,
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denn hätte ich nur den Einen völlig für mich gewonnen, so wäre da mit alles erhoffte Gute glücklich erreicht« (Platon, VII. Brief, 3 2 8 b, a. a. O., S. p). Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesungen vom Januar 1 982, in: Hermeneu tik des Subjekts, a. a. 0. »Ich würde nämlich, Alkibiades, wenn ich sähe, daß du dich mit dem, was ich dir eben vorrechnete, begnügtest und glaubtest, im Besitze des selben ruhig dein Ende abwarten zu können (en toutois katabionai), schon längst von meiner Liebe zu dir abgelassen haben . . . « (Platon, Al kibiades, I o4e- r o 5 a, übers. v. Franz Susemihl, Platon: Sämtliche Werke, Heidelberg, 1982, S. 8 r 6.) Platon, VII. Brief, 3 3 o c-d, a. a. 0., S. 5 5 · Ebd. 3 3 I d, s. 5 6 f. Platon, Der Staat, 42 5 e-426a, a. a. 0., S. 20 5 . • •
7 Vgl. unten, Anm. 8 . 8 Platon, Platons Gesetze, IV. Buch, übers. und erläutert v. Otto Apelt, a. a. O., S. 1 3 7 f. 9 Vgl. oben S. 267-273. ro Platon, VII. Brief, 34ob, a. a. 0., S. 70. rr Ebd., 340b-3 4 1 a, S. 70-7 1 . 1 2 Vgl. eine erste Analyse dieses Begriffs mit Bezug auf geistliche Übun gen und genauer auf das philosophische Zuhören in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0, S. 426 (siehe auch den Artikel von P. Hadot zu diesem Begriff in Concepts et Categories dans La pensee antique, hg. v. P. Au benque, Paris 1 9 80). r 3 Platon, VII. Brief, 3 4ob, a. a. 0., S. 70-7 1 . 1 4 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesungen vom Januar 1 982, in: Hermeneu tik des Subjekts, a. a. 0.
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 19 8 3 , zweite Stunde) Das Scheitern des Dionysios. - Die platonische Ablehnung der Schrift. )fathemata versus synousia. Die Philosophie als Praxis der Seele. - Die _�i;ilosophische A bschweifung des VII. Briefs: die fünf Elemente der Er
-
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�enntnis. - Der dritte Zirkel: der Zirkel der Erkenntnis. - Der Philosoph
:md der Gesetzgeber. - Abschließende Bemerkungen über die zeitgenössi _,chen Platoninterpretationen.
o:·J
[ Die erste Frage, die in dieser Reihe von Texten gestellt wird, die i.:h gerade analysiere, war die Frage nach der Bereitschaft zu .
.
.
�ören: Die Philosophie ist erst dann ein wirklicher Diskurs, 'venn sie angehört wird. Zweitens ist der philosophische Dis kurs nur dann wirklich, wenn er von einer Praxis begleitet und d.urch eine Reihe von Praktiken unterstützt und ausgeübt v.·ird. Die dritte Gruppe von Texten bezieht sich auf die Be -.,;·ährungsprobe, auf die Platon Dionysios gestellt hat, oder ·:ielmehr darauf, daß Dionysios nicht in der Lage war, positiv ;_uf die Bewährungsprobe, der er unterzogen wurde, zu ant worten. Der Text, den ich Ihnen vorhin ausgeteilt habe, zeigt c;anz deutlich, daß es sich um eine systematische Bewährungs probe handelte, die Platon als sicheres und unfehlbares Mittel darstellte. In den folgenden Zeilen und Seiten zeigt Platon, wie Dionysios an dieser Bewährungsprobe gescheitert ist. Diese iange Ausführung kann folgendermaßen auf den Punkt ge Qracht werden. Zuerst haben wir das Scheitern von Dionysios: '\�;.'ie und warum, durch welchen Fehler gegenüber der Philoso ?hie scheiterte Dionysios? Zweitens haben wir die positive Seite der Kritik an Dionysios bzw. seines Scheiterns, nämlich ::ine bestimmte Theorie der Erkenntnis. Zuerst die negative Seite: Wie scheiterte Dionysios an der Be währungsprobe der Philosophie, an der Bewährungsprobe des ,. :\1. F.: Nun, machen wir weiter? Zu dieser Zeit des akademischen Jahres sind wir alle schon etwas erschöpft. }II
pragma der Philosophie, an der Realitätsprüfung der Philoso phie, die in den pragmata bestehen muß, in den Praktiken der Philosophie selbst ? Platon stellt dieses Scheitern auf zweierlei Weise dar bzw. nennt dafür zwei Hinweise. Der erste Hinweis ist gänzlich negativ: Dionysios hat sich geweigert, den langen Weg der Philosophie zu wählen, der ihm gewiesen wurde. Kaum hatte er die erste Philosophievorlesung gehört, glaubte er schon, die wichtigsten Dinge (ta megista) zu wissen, für die Zukunft genug davon zu verstehen, und mochte sich nicht mehr weiterbilden.1 Das ist nicht weiter schwierig. Es gibt je doch noch etwas anderes, denn außer dieser Unfähigkeit, die Dionysios bewies, dem langen Weg der Philosophie zu folgen, d. h. den mühsamen Weg der Ü bungen und Praktiken einzu schlagen, hat Dionysios einen gewissermaßen direkten und un mittelbaren, einen positiven Fehler begangen. Dieser Fehler ist sehr interessant und sehr bedeutsam. Dionysios hat nämlich eine philosophische Abhandlung geschrieben.2 In der Tatsache nun, daß Dionysios diese philosophische Abhandlung ge schrieben hat, sieht Platon den Hinweis dafür, daß er nicht in der Lage war, die Wirklichkeit der Philosophie zu finden. Der Text, den Dionysios geschrieben hatte, wurde in Wirklichkeit nach Platons Besuch verfaßt, und Platon erwähnt ihn bloß als eine Art von Zeichen a posteriori, daß sein Besuch keinen Er folg haben konnte. Denn Dionysios sollte imstande sein, etwas später eine Abhandlung über die wichtigsten Fragen der Philo sophie zu schreiben, um seinen eigenen philosophischen Wert unter Beweis zu stellen und zu zeigen, daß die Irrtümer bei Platon lagen. Damit, sagt Platon, hat er zwei Fehler begangen. Erstens wollte er als Autor von Texten gelten, die in Wirklich keit nichts anderes waren als die Transkription von Vorlesun gen, die er gehört hatte. Aber darin besteht nicht die Haupt sache des Vorwurfs. Über diese philosophischen Fragen, und zwar die wichtigsten Fragen der Philosophie, schreiben zu wollen, kommt einem Beweis dafür gleich, daß man von der Philosophie nichts versteht. Dieser Text, der offensichtlich von großer Bedeutung ist, läßt sich mit einem anderen vergleichen, 312
3.er weithin bekannt ist und den man häufig als Beweis, Dar
�rellung und letzten Ausdruck von Platons großer Ablehnung ier Schrift zitiert. Dieser Text der heftigen Ablehnung der Schrift ist der Text aus dem li. B rief, der ganz am Ende steht '.md in dem Platon sagt: »Dies nimm dir zu Herzen und sieh dich vor, daß du nicht etwa später einmal es zu bereuen haben "''"i rst, jetzt so nichtswürdige Gedanken in die Welt gesetzt zu haben. Am sichersten b eugt man dem vor (megiste phylake), -:venn man nichts niederschreibt, sondern sich ganz ans Verste l::e nlernen hält. Denn was zu Papier gebracht worden ist, das entgeht auch nicht dem Schicksal der Veröffentlichung. Darum habe ich selbst noch nie etwas über diese Dinge niedergeschrie0en, und es gibt keine Schrift des Platon und wird auch keine -sehen. Was aber die jetzt mir beigelegten Schriften anlangt, so sind sie nichts anderes als Werke des Sokrates, des verfeinerten :md verjüngten Sokrates nämlich. Lebe wohl und folge mir, '.md verbrenne diesen Brief nach mehrmaligem Durchlesen. «3 Wir müssen uns immerhin daran erinnern, daß dieser li. Brief eindeutig später geschrieben wurde als der VII. Brief, den ich serade erläutere, und daß er bis ZU einem gewissen Grad schon eine gewissermaßen neuplatonische Zusammenfassung oder Version darstellt. Wenn man den älteren Text des VII. Briefs be :rachtet, scheint die Ablehnung der Schrift auf ganz andere Art :md Weise oder j edenfalls verhältnismäßig anders formuliert zu werden. Hier in dem späteren Text des II. Briefs, den ich ge rade vorgelesen habe, ist es klar - man müßte das genauer be erachten -, daß das allgemeine Thema die Esoterik ist. Es gibt ein bestimmtes Wissen, das nicht verbreitet werden soll. Wenn :nan es dennoch verbreitet, setzt man sich einer Reihe von Ge fahren aus. Kein sogenanntes Werk »von Platon« kann und darf als von Platon stammend angesehen werden. Selbst die Briefe, die er geschrieben hat, soll man verbrennen. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme der Esoterik, bei der zweifellos der py rhagoreische Einfluß am Werk ist. In den Texten des VII. .Briefs, die ich nun erläutern möchte, stellt sich diese Ableh nung der Schrift keineswegs auf diese Weise dar. 313
Dionysios hat also eine Reihe von Texten veröffentlicht, als de ren Autor er gelten wollte, und zwar über die grundlegendsten Fragen der Philosophie. Welche Form darf nun aber der philo sophische Diskurs nicht annehmen, damit man, so Platon, von diesen wesentlichen Dingen in der Philosophie sprechen und der Diskurs seine Wirklichkeit, sein ergon finden kann? Die Form von mathemata.4 Hier müssen wir das Wort mathemata in seiner doppelten B edeutung verstehen. Die mathemata, das sind bekanntlich die Erkenntnisse, aber auch die Formeln der Erkenntnis. Es handelt sich einerseits um die Erkenntnis in ih rem Gehalt und andererseits um die Art und Weise, wie diese Erkenntnis in Mathemen vorliegt, d. h. in Formeln, die zur ma thesis gehören, d. h. zum Erlernen einer Formel, die der Lehrer gibt, die vom Schüler gehört, von ihm auswendig gelernt und dadurch zu seiner Erkenntnis wird. Diese Vorgehensweise der mathemata, diese Formulierung der Erkenntnis in gelehrten, gelernten und bekannten Formeln, ist nicht der Weg, so Platons Text, auf dem sich die Philosophie wirklich bewegt. So gehen die Dinge nicht vor sich. Die Philo sophie wird nicht am Leitfaden der mathemata weitergegeben. Wie wird sie dann weitergegeben ? Nun, sagt Platon, man eig net sich die Philosophie durch »synousia peri to pragma« an.5 Etwas weiter verwendet er das Verb syzen.6 Synousia, das ist das B eisammensein, die Gemeinschaft, die Vereinigung. Das Wort synousia hat sogar im gewöhnlichen griechischen Wort schatz häufig die Bedeutung der sexuellen Vereinigung. Hier fehlt diese Konnotation völlig, und ich glaube nicht, daß man überinterpretieren und sagen sollte, daß es hier so etwas wie eine B eziehung der sexuellen Vereinigung zwischen dem Phi losophierenden und der Philosophie gibt. Derj enige aber, der sich der B ewährungsprobe der Philosophie unterziehen soll, muß mit ihr »zusammenleben«, mit ihr >>unter einem Dach le ben«, wobei hier ebenfalls die möglichen Bedeutungen des Ausdrucks >>Unter einem Dach leben« mitschwingen. Die Tat sache, daß der Philosophierende mit ihr unter einem Dach zu leben hat, macht die Praxis der Philosophie selbst und ihre
'X.irklichkeit aus. Synousia: unter einem Dach leben. Syzen: zu ;ammenleben mit. Was ergibt sich nun Platon zufolge auf ;:und dieser synousia, aufgrund dieses syzen ? Nun, das Licht c->phos«) sich entzündet (die Ü bersetzung sagt >>ein Blitz«7), d. h. wie ,eine Lampe sich entzündet, wenn man sie dem Feuer nähert. 3-:i der Philosophie sein, wie wenn man beim Feuer ist, bis sich J.ic Lampe in der Seele entzündet oder bis die Lampe sich wie eine Seele entzündet, darin und auf diese Weise findet die Phi Iosophie ihre Wirklichkeit. Wenn die Lampe einmal entzündet :sr, wird sie sich von sich selbst und ihrem eigenen Öl nähren m üssen, d. h. daß die Philosophie, die in der Seele entflammt, J.urch die Seele selbst genährt werden muß. Auf diese Weise, in Gestalt dieses Zusammenlebens unter einem Dach, des Lichts, :ias sich fortpflanzt und entzündet, des Lichts, das sich durch die Seele selbst nährt, wird die Philosophie leben. Sie sehen, iaiS das genau das Gegenteil dessen ist, was bei den mathemata geschieht. Bei den mathemata gibt es keine synousia, das syzen :sr n i cht notwendig. Es muß eine Gestaltung der Matheme, der ·,x·issensinhalte geben. Diese Matheme müssen weitergegeben v.·erden, und sie müssen im Gedächtnis bewahrt werden, bis ia.s Vergessen sie möglicherweise auslöscht. Hier haben wir im G e gensatz dazu keine Formel, sondern eine Koexistenz. Kein Erlernen der Formel durch eine Person, sondern ein sp rung �:aftes und plötzliches Entflammen des Lichts innerhalb der Seele. Und auch kein Einprägen und kein Aufbewahren einer :enigen Formel in der Seele, sondern die ständige Speisung der ?hilosophie durch das verborgene Öl der Seele. 1-Jsofern darf man nicht glauben, daß die Philosophie durch so e:was wie geschriebenes Material gelehrt werden könnte, das ::-cichts anderes als die Form der mathemata der Erkenntnis wäre, mathemata, die von einem beliebigen Lehrer an beliebige Schüler weitergegeben werden, die sie nur auswendig zu lernen hätten. Jedenfalls ist die Tatsache, daß die Philosophie nicht in Form von mathemata weitergegeben werden kann, Platon zu :olge der Grund dafür, daß er selbst, o bwohl, wie er sagt, er zu
diesem Zweck am besten geeignet gewesen sei, nie dazu bereit war, auch nur ein einziges Buch über die Philosophie zu schrei ben. 8 Gewiß, so fügt er hinzu, wenn es möglich wäre, das zu tun, und wenn die Philosophie wirklich in Form von Mathe men geschrieben und als solche weitergegeben werden könnte, dann wäre das die nützlichste Sache der Welt. Stellen wir uns vor, so Platon, daß man für alle ten physin (die Natur)9 ans Licht bringen könnte, dann wäre das sehr gut. Tatsächlich wäre es aber nutzlos oder gar gefährlich. Es wäre für diej enigen ge fährlich, die wirklich nicht wiss en, daß die Philosophie keine andere Wirklichkeit kennt als ihre eigenen Praktiken. Sie wür den glauben, daß sie die Philosophie kennen würden, darüber Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und Verachtung für die anderen ent wickeln, und das wäre gefährlich. Für die anderen, die genau wissen, daß die Wirklichkeit der Philosophie in ihrer Praxis und ihren Praktiken besteht, wären der Unterricht und die Weitergabe durch die Schrift vollkommen nutzlos. Diejenigen, die wissen, was die Wirklichkeit der Philosophie ist und die diese Wirklichkeit der Philosophie praktizieren, brauchen die explizite Unterweisung in Form von mathemata nicht. Ihnen genügt eine endeixis:1 0 ein Hinweis. Der Unterricht der Philo sophie kann anhand dieser Hinweisstrukturen vor sich gehen. All das finden wir in den Absätzen 3 4 1 b-342a.ll Soviel zur negativen Seite von Dionysios' B ewährungsprobe, die ihren Höhepunkt in der falschen Praxis der Schrift fand. Nun wird aber die Ablehnung der Schrift in einem Absatz er klärt und begründet, der unmittelbar auf denjenigen folgt, den ich gerade erläutert habe, der gewissermaßen die positive Seite darstellt und der die wahre B edeutung dieser Ablehnung ange ben soll. In der Tat schreibt Platon, nachdem er erklärt hat, wie die Philosophie nicht zu unterrichten ist - nachdem er gesagt hat: Für die einen ist es nutzlos, weil sie nur einen Hinweis brauchen, während die anderen >>dadurch [ . . ] teils mit einer übel angebrachten Verachtung der Philosophie erfüllt werden, teils mit einem ganz übertriebenen und hohlen Selbstbewußt sein« 12 aufgrund der Unterweisungen, die sie verstanden zu .
haben glauben -: »Doch empfiehlt es sich, wie ich mir sage, mich darüber noch etwas ausführlicher auszulassen. Denn ;-ielleicht dürfte meine obige Behauptung durch diese Ausfüh r-ung noch mehr Licht erhalten. Es gibt eine unwiderleglich wahre Gegeninstanz gegen jeden Versuch, irgend etwas der Art schriftmäßig zu behandeln, oft genug von mir schon früher be sprochen, doch wert, wie es scheint, auch jetzt wieder zur Sprache gebracht zu werden.«13 Es ist also völlig klar, daß diese Passage, die etwas weiter übrigens eine »Abschweifung«14 ge :Jannt wird, hier von Platon aufs deutlichste und ohne die ge :-i.ngste Zweideutigkeit als Erklärung seiner Ablehnung der Schrift eingeführt wird. Worin besteht nun diese Erklärung? Die Erklärung beginnt offenbar in großer Entfernung von der Schrift. Sie stellt sich als T heorie der Erkenntnis und der Wis senschaft (episteme) dar: »Für jedes Ding kommen als notwen dige Voraussetzungen seiner Erkenntnis drei Punkte in Be :racht.«15 Dieser Text ist sehr schwierig, und ich möchte hier bloß einige _\spekte hervorheben, die für unser Problem einschlägig sind. Wir können folgendes feststellen: Platon unterscheidet fünf Elemente hinsichtlich dessen, was die Erkenntnis der Dinge er möglicht. Die drei ersten sind: der Name (onoma); die Defini :ion (Iogos, verstanden im strengen Sinne, d. h. die Definition, die Namen und Verben enthält, wie Platon selbst sagt); das Bild :das eidolon) Dann gibt es noch zwei weitere Ebenen, zwei weitere Mittel der Erkenntnis: das vierte nennt er die Wissen schaft (die episteme, welche, so Platon, auch richtige Meinung ist- orthe doxa- und nous), und schließlich gibt es ein fünftes Element. Wenn man diesen komplexen Text schematisieren wollte, könnte man folgendes sagen: Die drei ersten Modi der Erkenntnis (durch den Namen, die Definition, das Bild) sind so, daß sie die Sache nur durch etwas Heterogenes oder, wie Platon in diesem auch Text sagt, der Sache Gegensätzliches er kennen lassen. Wenn wir das Beispiel des Kreises betrachten, so Platon, ist klar, daß der willkürliche Name (kyklos), den man zu seiner Bezeichnung verwendet, dem Kreis selbst ge.
genüber ganz gegensätzlich oder zumindest fremd ist. Dassel be gilt für die Definition des Kreises, welche nur aus Namen und Verben besteht. Drittens ist s elbst das Bild des Kreises, das man in den Sand zeichnet, diesem fremd. Es besteht aus Teilen, die nichts weiter als kurze gerade Linien sind, welche der Na tur des Kreises offensichtlich fremd sind. All dies (Name, Defi nition, Bild) ist also der Natur des Kreises fremd. Was das vier te Mittel der Erkenntnis betrifft, die episteme, die sowohl [orthe doxa] (richtige Meinung) als auch nous ist, so ist diese vierte Ebene, diese vierte Form der Erkenntnis im Unterschied zu den anderen nicht in der Außenwelt angesiedelt. Die Wör ter sind Geräusche, die gezeichneten Figuren sind materielle Dinge. Das vierte Element, die episteme, existiert nur in der Seele. Was gibt sie zu erkennen? Nichts, was der Sache s elbst fremd oder äußerlich wäre, sondern die Eigenschaften der Sa che. Aber sie läßt nicht erkennen, was das Sein der Sache selbst ist: to on, das, worin das Wesen der Sache besteht. Die fünfte Form der Erkenntnis ermöglicht, die Sache selbst in ihrem eigenen Sein (to on) zu erkennen. Worin besteht diese fünfte Form der Erkenntnis ? Hier finden wir etwas Wichtiges. Wer betreibt diese fünfte Form ? Wer ist ihr Akteur? Wodurch erlangen wir Zugang zur Wirklichkeit der Sache in ihrem Sein selbst ? Es ist der nous, j ener nous, von dem gesagt wird, daß er im vierten und vorangehenden Modus der Erkenntnis gegen wärtig ist, in der episteme und der orthe doxa. Zweitens, wie kann man Platon zufolge diese Erkenntnis bilden, die man sol chermaßen erwirbt und die es ermöglicht, das Sein der Sache selbst zu erfassen ? Nun, man kann sie durch das Hin und Her, den Auf- und Abstieg entlang der anderen vier Grade der Er kenntnis und durch die Mittel bilden, die die anderen Formen der Erkenntnis auszeichnen. Auf diese Weise, indem man vom Namen zur Definition aufsteigt, von der Definition zum Bild, vom B ild zur episteme (zur Erkenntnis), indem man dann wie der hinabsteigt und dann noch einmal aufsteigt, gelangt man schließlich dazu, in der fünften Form der Erkenntnis das Sein s elbst (das to on) des Kreises und der Dinge zu erfassen, die
man erkennen will. Damit aber diese Arbeit des Auf- und Ab sti egs entlang der anderen Grade der Erkenntnis uns wirklich zu
diesem fünften Grad führen kann, muß die Seele außerdem
noch von guter Beschaffenheit sein. Sie muß eine Affinität zur Sache haben, sie m uß syngenes mi t der Sache (to pragma) sein.16 \Venn die gut beschaffene Seele diese langsame, lange und harte Arbeit des Auf- und Abstiegs entlang der anderen Formen der Erk enn tnis vollzieht, wenn sie das praktiziert hat, w as Platon ;,·ibe nennt- un d was im strengen Sinne »Reib ung « bedeutet -, "·ird dadurch die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrem Sein selbst möglich.17 Das Wort »tribe« ist wich tig Materiell gese hen, ist es die Reibung Wir haben hier einen Widerhall und eine Erin nerung des Bildes des Feuers, das in der Seele wie bei einer Lampe en tzü nd et werden s oll Tribe is t auch in einem all gem einer en und abstrakteren Sinn alles, was zur Übung und zum Training gehört. All das, wodurch man sich an etwas ge .
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wöhnt und sich in etwas übt. Sie sehen also, daß die Erkenntnis der fünften Art von den anderen vier Graden der Erkenntnis ':öllig verschieden ist. Diese letzte Erkenntnis wird jedoch nur du rch eine k ontinui erl ich e Praxis erworben, durch eine Praxis, die ständig ausgeüb t wird, ein e Pr axis der R e i bung zwischen den anderen Modi der Erkenntnis. Ich schematisiere natürlich, denn dieser Text wirft in allen sei nen Formuli erun gen eine große Anzahl von Schwierigkeiten im Hinblick auf die platonische Theorie der Erkenntnis, die Bed eutung von Wörtern wie doxa, episteme, das ganze Pro blem der Konzeption des nous usw. auf. Der Aspekt, auf den es mir ankommt und unter dem ich hier diesen Text betrachten möchte, besteht darin, daß er alles, was wir bisher über die \\'irklichkeit der Philosophie gesagt haben, mit einem genauen und angemessenen Sinn erfüllt. Offens ic htlich bezieht er sich genau auf das Problem, das den ganzen VII. Bri ef bzw. des sen zentrale und theoretische Ausführungen zu dominieren sch eint, nämlich was die Philosophie ist, wenn man sie nicht bloß als Iogos, sondern als ergon verstehen will. Nun, mir
scheint, daß wir hier so etwas wie einen dritten Zirkel entdek ken können. Wir hatten den Zirkel des Zuhörens: Damit die Philosophie wirklich sein kann, damit sie ihre Wirklichkeit fin den kann, muß sie ein Diskurs sein, der gehört wird. Zweitens, damit die Philosophie ihre Wirklichkeit finden kann, muß sie tatsächlich in einer Praxis und in Praktiken bestehen (im Sin gular und im Plural). Die Wirklichkeit der Philosophie besteht in ihren Praktiken. Und schließlich hätten wir jetzt das, was wir den Zirkel der Erkenntnis nennen könnten, nämlich daß die philosophische Erkenntnis, die eigentlich philosophische Erkenntnis, sich in der Tat völlig von den anderen vier Formen der Erkenntnis unterscheidet. Dennoch kann die Wirklichkeit dieser Erkenntnis nur durch die eifrige und beständige Praxis der anderen Formen der Erkenntnis erreicht werden. Jedenfalls zieht Platon aus dieser T heorie der Erkenntnis, die von ihm, wie gesagt, ausdrücklich als Erläuterung des Grundes für die Ablehnung der Schrift vorgestellt wird, eine Reihe von Folgerungen, die in dem Text selbst genannt sind. Platon sagt: Wenn also die Erkenntnis so beschaffen ist, wenn es diese fünf Grade der Erkenntnis gibt und die Erkenntnis der Wirk lichkeit in ihrem Sein selbst sich nur durch die tribe (die Rei bung) der verschiedenen Erkenntnismodi aneinander vollzie hen kann, ist es für einen ernsthaften Mann (spoudaios) nicht möglich, diese Dinge schriftlich zu behandeln.18 Er kann diese Dinge nicht schriftlich behandeln aus Gründen, die zwar im Text nicht genannt werden, die aber dennoch klar in Erschei nung treten, da gerade die Schrift, indem sie dem Erkannten und dem zu Erkennenden die [Form::·] des Mathems, des ma thema, der mathemata gibt, die gewissermaßen das Instrument sind, das dem Erkennenden als Vehikel für die schon vollzoge ne Erkenntnis dient, da also die Schrift, die an die Form der mathemata selbst gebunden ist, in keiner Weise der Wirklich keit der philosophischen Erkenntnis entsprechen kann: der kontinuierlichen Reibung der Erkenntnismodi aneinander. Aus diesem Grundsatz, daß kein ernsthafter Mann die Dinge der Philosophie schriftlich behandeln kann, zieht Platon na32 0
rürlich zunächst die auf Dionysios bezogene Folgerung, daß Dionysios nichts von der Philosophie verstanden hat. Und er zieht daraus die weitere Folgerung, die für uns wichtiger ist und die in bezug auf Platon übrigens einen sehr paradoxen Charakter hat, nämlich daß, wenn die Philosophie wirklich ficht in Form von mathemata praktiziert und gelernt werden kann, die Rolle eines Philosophen niemals die eines Nomothe ren sein kann. Seine Rolle wird nie darin bestehen, eine Ge samtheit von Gesetzen vorzuschlagen, denen sich die Bürger eines Staats unterordnen sollten, damit der Staat ordentlich re giert werden kann. Am Ende dieser Passage, im Absatz 3 44c, sagt Platon ganz ausdrücklich: >>Kurz, es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Lehre: wenn man auf schriftliche Auslas sungen stößt, sei es von einem Gesetzgeb er zur Erläuterung Yon Gesetzen [en nomois, und es ist von einem >>nomothetes« die Rede; M. F.] oder sonst auf Schriften irgendwelcher Art, so war diese Schriftstellerei, wenn anders er selbst ein ernsthafter .\Iann ist, nicht sein voller Ernst, mag es auch unter dem, was ihm gehört, an den schönsten Platz gestellt sein; hat er das aber ":irklich in vollem Ernst als Schriftwerk veröffentlicht, dann haben - zwar nicht Götter, wohl aber - sterbliche Menschen ihn aller Besinnung beraubt. «1 9 Wir haben hier also einen Text, der vollkommen die Tätigkeit ablehnt, die darin besteht, einem Staat Gesetze vorzuschlagen, d. h. der zumindest scheinbar die Legitimität eines Textes wie Der Staat oder vor allem wie die Gesetze ablehnt, ein Text, der gerade über die Gesetze aus der Sicht des Nomotheten geschrieben wurde. Es wird gesagt, daß ein solcher Text nicht ernsthaft sein kann. Ich schlage nun die folgende einfache Hypothese vor: Kann man, so wie Platon über den myth os sagt, daß er nicht wörtlich zu nehmen sei und daß er in gewissem Sinn nicht ernsthaft ist bzw. daß man seine ganze Ernsthaftigkeit aufbieten muß, um ihn ernsthaft zu interpretieren, nicht dasselbe im Hinblick auf iene berühmten Texte der Gesetze oder des Staats sagen, die man oft als die Form interpretiert hat, die Platon idealerweise dem Staat gab, den er verwirklichen wollte ? Wäre die Tätigkeit J2 l
des Nomotheten, das Schema der Gesetze und der Verfassung, das im Staat und in den Gesetzen vorgeschlagen wird, in Pla tons Denken im Grunde nicht mit derselben Vorsicht zu be handeln wie ein Mythos ? Und liegt die Ernsthaftigkeit der Philosophie nicht anderswo ? Ist die Tätigkeit des Nomothe ten, die Platon in den Gesetzen und im Staat anscheinend an den Tag legt, nicht ein Spiel ? Ein Spiel wie der Mythos, wenn auch anders ? Was die Philosophie zu sagen hat, läuft natürlich über dieses nornethetische Spiel, wie es über das Spiel des My thos läuft, aber um etwas anderes zu sagen. Wenn man die Tex te des VII. Briefs unter der Voraussetzung liest, daß die Wirk lichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit der Philosophie in der Politik, etwas ganz anderes sei, als den Menschen Gesetze zu geben und ihnen die zwingende Form des idealen Staates vorzuschlagen, lassen sich daraus eine Reihe von Bemerkungen folgern. Zwei sozusagen kritische Bemerkungen und eine Bemerkung über den Sinn der gestellten Frage und der Antwort, die in die sem Brief darauf gegeben wird. Erstens, wenn man der Ableh nung wirklich den Sinn geben soll, den ich vorschlage, muß man in dieser platonischen Ablehnung der Schrift überhaupt nicht so etwas wie das Heraufkommen eines Logozentrismus in der abendländischen Philosophie sehen.20 Sie sehen, daß die Dinge komplizierter sind. D enn die Ablehnung der Schrift er scheint hier im ganzen Text des VII. Briefs keineswegs als Al ternative zur Annahme oder Wertschätzung des logos. Im Ge genteil ist es das Thema der Unzulänglichkeit des logos, das in diesem Brief verfolgt wird. Die Ablehnung der Schrift wieder um äußert sich als Ablehnung einer Erkenntnis, die sich über onoma (das Wort), logos (die Definition, das Spiel von Substan tiven und Verben usw.) vollzieht. All dies, Schrift und logos zu sammen, wird in diesem Brief rundweg verworfen. Die Schrift wird nicht verworfen, weil sie dem logos entgegengesetzt ist. Im Gegenteil, weil sie von derselben Art ist wie dieser und weil sie auf ihre Weise so etwas wie eine abgeleitete und sekundäre Form des logos ist. Umgekehrt geschieht diese Ablehnung der 322
Schrift, die Ablehnung der Schrift und des mit der Schrift ver bundenen logos oder des Iogos, dem die Schrift untergeordnet ist, im Namen von etwas Positivem, das also nicht der logos selbst ist (der wie die Schrift und noch vor der Schrift abgelehnt ;,·ird), sondern im Namen der tribe, im Namen der Übung, der :\1ühe, der Arbeit, im Namen eines bestimmten mühevollen Selbstverhältnisses. In dieser Ablehnung der Schrift ist keines wegs das Heraufkommen eines Logozentrismus zu erkennen, sondern das Erscheinen von etwas ganz anderem. Es handelt sich um das Erscheinen der Philosophie; einer Philosophie, de ren Wirklichkeit in der Selbstpraxis b esteht. In der gleichzeiti gen und gemeinsamen Ablehnung der Schrift und des Logos wird so etwas wie das abendländische Subjekt in die Pflicht ge nommen. Die zweite Folgerung und die zweite kritische B emerkung be srehen darin, daß j ede Interpretation Platons, die anhand von Texten wie Der Staat und die Gesetze in ihm so etwas wie die Grundlage, den Ursprung oder die Hauptform eines politi schen Denkens finden wollte- nämlich des >>totalitären« (um es kurz zu sagen, weil sich die Stunde dem Ende zuneigt) -, zweifellos völlig revidiert werden muß. Die ziemlich aus der Luft gegriffenen Interpretationen des guten Karl Popper2 1 be rücksichtigen natürlich nicht das Detail und das komplexe Spiel Platons im Hinblick auf das Problem der Nomothetie, der Setzung und Formulierung von Gesetzen. Platon zieht in diesem Brief gewissermaßen den Teppich weg, auf dem er zweifelsohne den Staat, ganz gewiß die Gesetze und jene no :nothetische Tätigkeit aufgebaut hat, die nun als nicht ernsthaft erscheint. Folglich vollzieht sich die B eziehung der Philosophie zur Poli :ik, die Realitätsprüfung für die Philosophie in bezug auf die Politik nicht in Form eines imperativischen Diskurses, durch den dem Staat und den Menschen die zwingenden Formen ge geben werden, denen sie sich unterordnen müssen, damit der Staat überleben kann. Sondern, nachdem dieses Spiel des Ideal staats ausgespielt ist, muß man sich daran erinnern, daß die 32 3
Ernsthaftigkeit der Philosophie anderswo liegt. Der Ernst der Philosophie besteht nicht darin, den Menschen Gesetze zu ge ben und ihnen zu sagen, wie der Idealstaat aussieht, in dem sie leben sollen, sondern darin, sie unablässig daran zu erinnern (zumindest jene, die zuhören wollen, weil die Philosophie ihre Wirklichkeit nur aus dem Zuhören bezieht), daß die Wirklich keit der Philosophie in j enen Praktiken besteht, die man an sich selbst ausübt; jenen Erkenntnispraktiken, durch die alle Er kenntnismodi, an denen man auf- und absteigt und die man aneinander reibt, einen schließlich mit der Wirklichkeit des Seins selbst vertraut machen. Wenn es richtig ist, daß die Realitätsprüfung für die Philoso phie in diesem Weg liegt, den Platon veranschaulichte, als er auf den Ruf Dions hin dem begegnete, der die politische Macht ausübt, wenn also hier die Realitätsprüfung für die Philosophie liegt, wenn die Philosophie der Gefahr, nur logos zu sein, da durch und an dieser Stelle entgeht, wenn sie dadurch Hand an das ergon legt, dann scheint uns aus der Sicht des VII . Briefs das ist jedenfalls die positive und vorläufige Konklusion, mit der ich schließen möchte - die Bewährungsprobe der Philoso phie in der Politik am Ende auf folgendes zu verweisen: Die Wirklichkeit der Philosophie besteht in einem Verhältnis von sich zu sich selbst. In diesem Text formuliert die Philosophie das, was ihr ergon ist, nämlich zugleich ihre Aufgabe und ihre Wirklichkeit, als Ausgestaltung des Problems der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen. ''· Das war's, danke schön. ,,_ D as Manuskript schließt folgendermaßen: »Was läßt sich aus all dem Gesagten folgern ? Für die Frage, die ich stellen wollte, nämlich nach der G eschichte oder der Genealogie des Wahrsprechens auf dem Feld der Politik, erkennt man nun eine doppelte Verpflichtung: Derj enige, der re gieren will, muß p hilosophieren; aber derj enige, der philosophiert, hat die Aufgabe, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Diese so formulierte doppelte Verbindung ist mit einer gewissen Neubestim mung der Philosophi e verknüpft, einer Neubestimmung der Philoso phie als pragma, d. h. als einer langwierigen Arbeit, die Folgendes ein schließt: die Beziehung zu einem Leiter; die ständige Ausübung der
Anmerkungen : Platon, VII. Brief, 3 4 1 b, a. a. 0., S. 7 r . Ebd. 3 Platon, Il. Brief, in: Platons Briefe, a. a. 0., 3 r 4b-c, S. 2 8 . 4 »Es [= die philosophischen Probleme] läßt sich nicht in Worte fassen (mathemata).« Platon, VII. Brief, a. a. 0., 3 4 r c, S. 72. 5 Ebd. 6 sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidme ten wissenschaftlichen Verkehr (ek polles synousias) und aus entspre chender Lebensgemeinschaft (syzen) tritt es plötzlich in der Seele her vor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht<< (Platon, VII. Brief, 3 4 1 c-d, S. 72). 7 Tatsächlich spricht die Übersetzung von einem »Funken<<, vgl. die vor angehende Anmerkung. 5 .-.So viel weiß ich indes, daß es am besten immerhin noch von mir selbst vorgetragen würde . . . << (Platon, VII. Brief, 3 4 r d, a. a. 0., S. 72). 9 . das Wesen der Dinge für alle ans Licht bringen« (ebd., S. 7 2). : ::: » . höchstens für die wenigen, die auf einen kleinen Wink hin (dia smikras endeixeos) selbst imstande sind, es zu finden« (ebd., 3 4 1 e). : r >•So viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausge ben über den Inhalt meiner p hilosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben. Denn es steht damit nicht so wie mit anderen Lehrgegenständen (mathema ta): Es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortge setztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr (syzen) tritt es plötzlich in der Seele hervor wie durch einen absprin genden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst (rheton gar oudamos estin hos alla mathemata, all' ek polles syn ousias gignomenes peri to pragma auto kai tau syzen exaiphnes, hoion apo pyros pedesantos exaphten phos, en te psyche genomenon auto heau to ede trephei)« (ebd., 3 4 r b-d, S. 72). : z Ebd., 34 r e, S. 72. :3 Ebd., 3 4 1 e-342a. 14 Ebd., 3 44d, S. 77· .c
». . .
». . . .
Erkenntnis; eine Form der Lebensführung, die sich bis auf das Alltagsle ben erstreckt. Dadurch werden zwei sich ergänzende Figuren abgewie sen: die des Philosophen, der seinen B lick auf eine andere Wirklichkeit richtet und vom Diesseits abgetrennt ist; die des Philosophen, der mit ei ner schon fertig beschriebenen Gesetzestafel auftritt. «
1 5 Ebd., 342a, S . 7 3 . r 6 »Und mag die Beschäftigung mit diesen Fragen auch i n alles einge drungen sein und sich immer wieder bald diesem bald j enem Punkt zu gewandt haben, so kommt es doch kaum dahin, daß sie ein wirkliches Wissen des seiner Natur nach Vollkommenen erzeugt und auch dies nur in einem von Natur reich beanlagten Geist. Wo es aber mit der na türlichen Anlage schlecht bestellt ist, wie es bei der großen Masse hin sichtlich der Empfänglichkeit der Seele für wissenschaftliche Beleh rung und für die sogenannte Sittlichkeit teils von Haus aus, teils infolge zerstörender Einflüsse der Fall ist, da kann auch ein Lynkeus dem trü ben Auge nicht zu voller Sehkraft verhelfen. Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit der Sache verwandt fühlt (ton me syngene tou prag matos), den kann auch Fassungskraft und Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen<< (ebd., 343e-344a, S. 7 5 -76). 17 »Und erst wenn alles Einzelne, Namen, Begriffsbestimmungen, sinn liche Anschauungen und Wahrnehmungen in mühsamer Arbeit nach ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander in einem trotz aller Wider legungen stets versöhnlichen Tone und ohne alle Gereiztheit bei Fra gen und Antworten durchgeprüft ist (mogis de tribomena) - erst dann lassen Einsicht und Vernunft ihr Licht erstrahlen (exelampse phronesis peri hekaston kai nous) über j eglichen Gegenstand, mit einer Kraft, die sich bis zur Grenze des für Menschen überhaupt Erreichbaren stei gert« ( ebd., 3 44b-c, S. 76). r 8 M. F.: die Formel (das ist die Übersetzung von mathema in der Bude Ausgabe) >>Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit entfernt, durch Veröffent lichung schriftlicher Auslassungen über hochernste Dinge, diese der Streitsucht und den Zweifeln preiszugeben<< (ebd., 3 44c). 1 9 Ebd., 344 C- d. 20 Ein sehr deutlicher Bezug auf die Thesen von Jacques Derrida, die in >>La Pharmacie de Platon« verteidigt werden (in: La Dissemination, Pa ris 1 972; dt. Dissemination, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995). 2 r K. Popper, Die offene Gesellschaft u n d ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber Platons, (ursprüngl. The Open Society and its Enemies, I: The Speil of Plato, London 1 94 5 ), übers. v. P. Feyerabend, Tübingen 1 992.
Vorlesung 8 (Sitzung vom 2 3 . Februar 1 9 8 3 , erste Stunde)
:Jie rätselhafte Schalheit von Platons politischen Ratschlägen. - Die Rat :.:.:,läge an Dionysios. - Die Diagnostik, die Ausübung des Überredens, der �: :;rschlag einer Herrschaftsform. - Die Ratschläge an Dions Freunde. ::::rdie des VIII. Briefs. - Die parrhesia am Ursprung des politischen Rat ;3,fags.
: . . . ':• ] Heute möchte ich das, was ich üb er den VII. B rief zu sagen b e �onnen habe, fortsetzen und abschließen. Sie erinnern sich, da!S wir in diesem Brief zwei Gruppen von Elementen ausge macht hatten. Zunächst Betrachtungen über die Tätigkeit des Philosophen, die darin besteht, einem Fürsten, d. h. j emandem, der die Politik ausübt, Ratschläge zu geben. Diese Betrachtun gen bezogen sich auf Umstände, unter denen es zweckmäßig sein mag, Ratschläge zu erteilen, bzw. auf die Gründe, weshalb m a n Ratschläge erteilen sollte. Am Leitfaden dieser Frage be züglich des Status des Ratschlags und des Beraters konnten wir 5ehen, wie sich eine viel grundlegendere Frage abzeichnete, da �s sich schließlich um nichts Geringeres handelte als um das, ;;;as man die Wirklichkeit der Philosophie nennen könnte. Un : := r welchen B edingungen kann die Philosophie etwas anderes 2-ls ein Iogos sein, ein bloßer Diskurs ? Ab wann und unter wel �hen Umständen kann sie die Wirklichkeit berühren ? Wie kann sie zu einer wirklichen Tätigkeit in dieser Wirklichkeit werden ? Nun, unter der Bedingung, daß sie eine bestimmte Beziehung zur Politik unterhält, nämlich eine solche, die durch iie symboule (den Ratschlag) bestimmt ist. Wir hatten also •-
:vL F.: Zunächst möchte i c h S i e bitten, mir z u verzeihen, weil i c h heute
ziemlich unter einer Grippe leide. Es wäre unhöflich von mir gewesen, Sie kommen zu lassen und selbst nicht zu erscheinen, also werde ich ver suchen, die Vorlesung zu halten. Wahrscheinlich wird es etwas schlapp werden, aber ich werde immerhin versuchen, bis zum Ende der zwei Stunden durchzuhalten.
letztes Mal dieses Verhältnis zur Politik als Realitätsprüfung für die Philosophie, für den philosophischen Diskurs betrach tet. Nun gibt es in diesem VII . Brief eine weitere Gruppe von Ele menten, die ich heute untersuchen möchte. Diese Elemente sind natürlich die Ratschläge selbst. Im VII. Brief - der zweifel los fiktiv an die Freunde Dions gerichtet ist oder vielmehr im wesentlichen ein offener Brief ist, in dem Platon, ob er sich nun tatsächlich an die Freunde Dions richtet oder nicht, seinen Le sern erläutert, warum und wie er zunächst Dion, dann Diony sios und anschließend die Freunde Dions beraten hat - gibt es Ü berlegungen zum Prinzip des Ratschlags selbst. Und außer dem gibt es [konkrete] Ratschläge. Platon gibt nämlich zumin dest skizzenhafte Beispiele von Ratschlägen, die er nacheinan der verschiedenen Syrakusanern gegeben hat, die ihn um seine Meinung gebeten hatten. Diese Ratschläge müssen wir nun in ihrer Form, ihrem Inhalt, in ihrer Natur, in dem, was sie sagen usw. untersuchen. Im Umfeld der Frage nach dem Inhalt der Ratschläge zeichnet sich ein anderes Problem ab, das nicht mehr die Frage nach der Wirklichkeit der Philosophie oder nach der Bewährungsprobe sein wird, durch die die Philosophie ihre Wirklichkeit bestim men kann. Was aus dem Inhalt dieser politischen Ratschläge selbst hervorgeht, ist nicht mehr und nicht weniger als der Seinsmodus des Herrschers, insofern er Philosoph sein soll. Nur sollten wir nicht zuviel erwarten, weil, wenn man sich die Ratschläge ansieht, die Platon erteilt, diese trotz der Bedeut samkeit des Problems ziemlich enttäuschend sind. Tatsächlich scheinen diese politischen Ratschläge Platons, die er sich rühmt, Dion, Dionysios und dann den Freunden Dions gegeben zu haben, bei näherer Betrachtung kaum mehr als eine Reihe von eher philosophischen als politischen Meinungen, eher mora lisch als wirklich politisch zu sein: Einige allgemeine Themen bezüglich der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit, bezüg lich des Nutzens, der sich j edenfalls aus der Ausübung der Ge rechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit ergibt, einige Ratp8
schläge der Mäßigung, Ratschläge, die man auch zwei anwe senden Parteien gibt, damit sie sich wieder versöhnen, Rat S-c hläge an die Herrscher, damit sie Freundschaft mit ihren :mtergebenen Völkern pflegen, anstatt sie mit Gewalt zu un :erwerfen usw. Nichts, was auf den ersten Blick eigentlich als sehr interessant erscheinen könnte. B etrachten wir ein Beispiel. Platon erklärt, daß er mit Dions Cnterstützung Dionysios ermahnte, » zunächst darnach [zu] s:reben sich unter seinen Verwandten und Altersgenossen an .:i.ere zu Freunden und gleichgestimmten B ewerbern um den Preis sittlicher Tüchtigkeit zu machen - vor allem aber diese Gleichmäßigkeit der Stimmung in sich selbst zur Herrschaft zu bringen; denn daran fehle es ihm in erstaunlichem Maße. Da mit platzten wir [Dion und Platon gegenüber Dionysios; M. F.] nun nicht so ohne weiteres heraus - denn das wäre einigerma ßen gefährlich gewesen -, sondern wir beschränkten uns auf Andeutungen und allgemeinere Ausführungen zur Erläute rung des Gedankens, daß bei solchem Verhalten jedermann sei nem eigenen Heil wie dem derer, deren Leitung in seiner Hand iiegt, am besten dienen wird, schlägt er aber einen anderen Weg ein, dann alles ins Gegenteil kehren wird. Wenn er [ Diony sios, M. F.] nun, auf dem von uns bezeichneten Wege wandelnd :.md so zu Einsicht und Besonnenheit herangereift, die verwü steten Städte Siziliens wieder herstelle und sie mit Gesetzen und Verfassungen ausstatte, die eine Bürgschaft der Einheit hö ren und dadurch sowohl ihm selbst wie auch gegenseitig einan der treu ergeben und verbunden wären, so werde er die Macht des vom Vater ererbten Reiches nicht nur um das Doppelte, sondern um wer weiß ein wie Vielfaches erhöhen. « 1 Sie sehen, daß wir bei dieser Art von Ratschlägen sehr weit von dem ent fernt sind, was eines Tages die Regierungskünste oder einfach nur politische Ü berlegungen sein werden, die j emand anstellen kann, der die Politik aus zuüben hatte und über sie nachdenken mußte. Wir sind weit entfernt von den Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena,2 weit entfernt vom Testament Richelieus,3 weit entfernt von Machiavelli. Wir sind sogar weit entfernt von der =
Rede, die Maecenas angeblich vor Augustus gehalten hat und über die Cassius Dia berichtet.4 Wenn man den Text Platons mit Zeitgenössischeren Quellen vergleichen will, kann man sich auf das beziehen, was einige Jahre zuvor Thukydides an läßlich der Ratschläge an die Athener Perikles in den Mund ge legt hatte. Sie erinnern sich an jene berühmte Rede, in der Peri kles den Athenern seine Meinung über die Zweckmäßigkeit des Krieges gegen Sparta mitteilt, als die Botschafter Spartas gekommen waren, um den Athenern ein Ultimatum zu stel len.5 Soll man einen Krieg beginnen oder nicht ? Nun, Perikles gibt Ratschläge, die sowohl diplomatisch als auch strategisch sind. Sie kennen die Art von Schlußfolgerungen, die er anstellt, die Dichte, die Reichhaltigkeit seiner Ü berlegungen über die Beziehungen, die einerseits zwischen einem Land mit seiner Geographie, seinen Ressourcen, seinen Gesellschaftsstruktu ren, seiner Art von Regierung und andererseits dem politi schen Verhalten bestehen, das man von ihm erwarten kann, der Art von Entscheidung, die es treffen kann, seiner Fähigkeit, militärischen Angriffen zu widerstehen, von welcher Art der politische Wille sein wird, den ein Land wie Sparta Athen auf grund solcher Ü berlegungen über die geographischen, sozia len, wirtschaftlichen Gegebenheiten entgegensetzen könnte. Es ist klar, daß wir hier einen Typus von politischer Analyse haben, die ungleich reichhaltiger und interessanter ist als diese wenigen »Schalheiten«, die ich Ihnen aus dem VII. Brief vorge lesen habe. Aber liegt nicht gerade hier das Problem ? Muß man sagen, daß Platon am Ende nichts anderes als ein etwas moralischerer, d. h. ein naiverer Ratgeber ist ? Gibt er als Philosoph dem Politiker weniger intelligente, weniger informierte, weniger durchdach te Ratschläge als Perikles oder jene, die Thukydides dem Pe rikles unterschiebt ? Oder gibt er nicht etwa eine andere Art von Ratschlägen ? Sind die Meinungen, die Platon gegenüber Dion, Dionysios und den Freunden Dions äußert, einfach von s chlechterer Qualität und von roherer politischer Gestaltung, oder sind sie von anderer Natur als jene, die Perikles geben 3 30
konnte ? Kurz, die Frage, die ich stellen möchte - Sie werden sofort sehen, in welchem Sinne ich eine Antwort darauf versu chen will -, ist folgende: Wenn Platon Ratschläge erteilt, wenn der Philosoph die Wirklichkeit seines Diskurses unter Beweis stellt, ist dann seine Rolle, seine Funktion, sein Ziel zu sagen, was im Bereich der politischen Entscheidung zu tun ist, oder sagt er etwas anderes ? Mit anderen Worten, besteht die Not wendigkeit, die Philosophie mit der Politik zu konfrontieren, besteht für die Philosophie die Notwendigkeit, ihre Wirklich keit in dieser Konfrontation mit der Politik zu suchen, darin, einen philosophischen Diskurs zu formulieren, der zugleich ein präskriptiver Diskurs für das politische Handeln sein soll, oder geht es um etwas anderes ? Und wenn j a, um was ? Diese Frage möchte ich heute zu klären versuchen. Dazu möchte ich drei Textpassagen untersuchen: Zwei Passagen stehen im VII. Brief und eine dritte im VIII. B rief. Diese drei Passagen sind keine Ü berlegungen mehr über die Notwendigkeit bzw. die Zweckmäßigkeit, der Politik Ratschläge zu erteilen. Sie sind politische Ratschläge. In der ersten Passage im VII. Brief - Sie erinnern sich daran, daß der VII . Brief nach den großen, dramatischen Ereignis sen geschrieben wurde, die zuerst das Exil und dann den Tod Dions zur Folge hatten und die auch zur Abreise Platons aus Sizilien führten - erinnert Platon an die Ratschläge, die er Dio nysios zu der Zeit gegeben hat, als er an dessen Hof war und als dieser so tat, als ob er sich für die Philosophie interessierte. Wir haben also eine erste Passage, in der Platon an diese Ratschläge erinnert. Dann gibt es eine zweite Passage, die ich anschließend untersuchen werde, eine Passage, in der er in der Gegenwart des Briefes spricht, den er gerade schreibt, und sagt: Da die Si tuation nun einmal so ist, daß meine ersten Ratschläge an Dio nysios gescheitert sind, daß Dion verbannt und dann getötet wurde und daß ihr nun alleine seid, welche Ratschläge kann ich euch nun geben ? Es handelt sich also um Ratschläge an die Freunde Dions nach dessen Tod und übrigens auch nach der Verbannung Dionysios' s elbst, der einige Zeit zuvor von Dion 33 !
verbannt wurde. Schließlich werde ich zu dieser Passage einen Text aus dem VIII. Brief hinzunehmen. Der VIII. Brief ist kürzer als der VII. Brief und enthält viel we niger philosophische Reflexionen, ist dafür jedoch politischer und antwortet unmittelbarer auf eine dramatische Situation, die sich in Syrakus in den Monaten entwickelte, die auf die im VII. Brief erwähnten Zusammenhänge folgten. Nach der Ver bannung Dionysios', der von Dion verj agt wurde, und dem Tod von Dion selbst, der in Syrakus ermordet wurde, bricht nämlich in Syrakus der Bürgerkrieg aus, und zwar stehen sich die beiden Parteien von Dionysios und von Dion gegenüber. In diesem Zusammenhang schreibt Platon den VIII. Brief. In ihm gibt er während des Bürgerkrieges gewissermaßen noch aktu elle Ratschläge, um zu zeigen, wie man aus dieser Situation herauskommen kann. Ich werde also zur Erläuterung der bei den Texte aus dem VII. B rief diese Passage des VIII. Briefs hinzuziehen: wegen ihrer B edeutung, wegen der Tatsache, daß diese Ratschläge in direktem Zusammenhang mit den beiden anderen Passagen stehen, und dann noch aus einem anderen Grund, der, wie Sie sehen werden, mit dem Status der parrhesia zu tun hat und uns zum Kern unseres Problems zurückführen wird. Die erste Passage des VII. Briefs beginnt im Absatz 3 3 r d: >>Demgemäß möchte ich euch den nämlichen Rat erteilen, den ich im Bunde mit Dion dem Dionysios gab: er möge vor allem sein alltägliches Leben so regeln [ . .] .«6 Diese Ratschläge also, von denen er sagt, daß er sie Dionysios gegeben hat, beziehen sich auf einen historischen Kontext, auf einen ganz konkreten Kontext von Ereignissen. Dionysios ist zu dieser Zeit noch ganz jung. Er hat von seinem Vater, Dionysios dem Ä lteren, gerade das Erbe der Macht in Syrakus empfangen, eine monar chische, tyrannische, autokratische Macht, die es jetzt zu ver walten gilt. Nun ist es äußerst bemerkenswert, daß Platon sich hütet, Ratschläge zu geben, die sich auf eine Änderung der Machtstruktur und der institutionellen Organisation des Staats beziehen. Er gibt keine Ratschläge bezüglich der politeia. Im .
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Grunde tut er nur das, was im V. Brief gesagt wird: die phone der politeia hören, wie sie in Syrakus existiert. Vorausgesetzt, daß man es mit einer autokratischen Macht zu tun hat, wie kann man sie am besten verwalten ? Zweitens schließt sich diese Passage unmittelbar an die Be trachtungen an, über die wir letztes Mal gesprochen haben, in denen Platon die Rolle des Beraters erläutert. Ganz konkret hat er gerade erklärt, daß ein politischer Berater wie ein Arzt sein soll. Sie erinnern sich, daß die Rolle des Arztes durch drei Dinge charakterisiert war. Erstens greift ein guter Arzt natür lich ein, wenn eine Krankheit vorliegt und es darum geht, die Gesundheit durch die B ehandlung der Gebrechen wiederher zustellen. Aber dazu muß man diese Gebrechen kennen. Der Arzt hat also eine Arbeit der B eobachtung und der Diagnostik zu leisten, er muß mit seinem Patienten sprechen, um heraus zufinden, wo das Übel liegt. Zweitens ist der gute Arzt nicht wie j ener Sklavenarzt, der seinen Kunden hinterherläuft und sich dann damit begnügt, Rezepte und Verordnungen auszu teilen. Der gute Arzt überzeugt, d. h., er spricht mit seinem Pa tienten und überzeugt ihn von der Krankheit, die ihm zu schaf fen macht, und von den Mitteln, um sie zu heilen. Schließlich ist der gute Arzt drittens nicht bloß einer, der diagnostiziert, in dem er überlegt, der überzeugt, indem er spricht. Durch seine Überzeugungskunst bringt er den Kranken auch zu der Ein sicht, daß es nicht genügt, Medikamente einzunehmen, son dern daß er seine Lebensweise, seine Diät völlig ändern muß. Das sind, glaube ich, die drei medizinischen Funktionen, die in dieser ersten Gruppe von Ratschlägen, die Platon Dionysios gegeben hat, ins Spiel gebracht werden. Mir scheint, daß man auf diesen zwei Seiten von Platons Text folgende drei Funktio nen ausmachen kann. Erstens versucht Platon das Üb el zu dia gnostizieren, an dem Syrakus leidet, j edoch zu einer Zeit, da die Krise noch nicht offen zutage liegt, da schließlich Diony sios die Macht ausgeübt, eine starke Autorität in Syrakus be gründet, um Syrakus herum ein ganzes Reich aufgebaut hat, das nahezu die Ausdehnung Siziliens besitzt oder zumindest 333
einen Teil Siziliens abdeckt, und sein Erbe hat gerade diese Macht erhalten. Anscheinend gibt es zwar keine Krise, aber doch eine Krankheit. Diese Krankheit, dieses Ü bel versucht Platon in einer ganzen Reihe von Ratschlägen sichtbar zu ma chen, die man den Ausführungen ab 3 3 rd entnehmen kann. An welchem Übel leidet nun Syrakus trotz des Anscheins gu ter Gesundheit ? Nun, Platon sagt folgendes: Dionysios der Ä ltere, den Dionysios der Jüngere gerade beerbt hat, hatte ein Reich aufgebaut. Wie hatte er es aufgebaut ? Indem er die sizili schen Städte wiedererrichtet bzw. wiederhergestellt hatte, die im Verlauf der Kriege gegen die Barbaren zerstört worden wa ren (gemeint sind in diesem Fall natürlich die Kriege gegen die Karthager). Nun hat er diese Städte, die er von den Karthagern zurückerobert und von ihnen befreit hatte und die dabei zer stört wurden, wiederaufgebaut. Aber - und hier tritt ein erstes Krankheitssymptom auf - Dionysios war nicht in der Lage, so der Text, politeiai pista? (Verfassungen, Regierungsformen, die zuverlässig und sicher sind, die Vertrauen erzeugen können) in diesen Städten aufzubauen. Diese Regierungsformen konnten kein Vertrauen erzeugen, und zwar weder, als er sie den Hän den von Fremden, noch denen seiner Brüder anvertraut hatte. An dieser Stelle wird klar, was mit politeiai pistai (zuverlässigen Verfassungen und Regierungsformen) gemeint ist. Zuverlässig bedeutet hier keineswegs, daß es sich um sichere, stabile Regie rungsfarmen handelte, die es den Bürgern ermöglichten, zu ihren eigenen Regierenden Vertrauen zu haben, oder umge kehrt den Regierenden, denen, die sie regieren, zu vertrauen. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Verhältnis der Treue und des Vertrauens zwischen den Städten - die unter der Leitung von Syrakus nach ihrem Wiederaufbau instand gehalten wur den - und der Metropole Syrakus selbst. Dionysios hat diese wiederaufgebauten Städte entweder der Leitung, der Verwal tung und der Regierung fremder Hände anvertraut oder seinen eigenen Brüdern, aus denen er reiche und mächtige Leute ge macht hat. Aber weder diese Fremden noch seine Brüder, noch die Verwaltung der einen oder der anderen waren in der Lage, 334
ein Verhältnis des Vertrauens zwischen Syrakus und diesen verschiedenen politeiai herzustellen. Platon entwickelt diesen Gedanken, indem er allgemein hinzufügt, daß Dionysios nicht in der Lage war, das herzustellen, was er koinonia archon nennt. 8 Koinonia archon ist die Gemeinschaft der Mächte, die Teilung der Mächte, etwas, das wir die Mächteverteilung nennen könn ten. Es gelang ihm nie, seine Untergebenen, denen er diese oder jene Verantwortlichkeit anvertraut hatte, oder die Bevölke rung, über die Syrakus seine Herrschaft ausüben sollte, an der Macht zu beteiligen. Er konnte diese Gemeinschaft der Mächte weder durch Überzeugung noch durch U nterri cht, noch durch Wohltaten, noch durch Verwandtschaften erreichen. Schließ lich formuliert Platon seine Diagnose folgendermaßen: Diony sios hat zwar seine Macht in Syrakus und die Macht von Syra kus über die anderen Städte bewahrt. Er hat sie bewahrt, aber nur mit Mühe. Warum ? Weil, so Platon, er aus Sizilien mia po lis (eine einzige Stadt) machen wollte und selbst keine Freunde oder Vertrauensleute hatte (philoi und pistoi).9 Ich glaube, daß diese kurze B eschreibung der Regierung des Dionysios und des Ü bels, an dem Sizilien leidet, interessant ist. Sie ist interessant, weil es bei dieser Diagnose keineswegs dar um geht, eine monarchische, autokratische oder tyrannische Regierung zu kritisieren. Auch wenn es implizit eine Kritik an der Tyrannei, an der Monarchie oder an der autokratischen Macht gibt, dann jedenfalls doch nicht an ihr selbst, an ihrer Struktur, an ihrem institutionellen System. Platon prangert Mängel an, zwei Mängel von Dionysios' Regierung, nämlich, daß er aus Sizilien eine einzige Stadt machen wollte, d. h. im Grunde, daß er nicht in der Lage war, ein Reich in einer plura len Form zu schaffen, weil er die Dimensionen und die Form dieser neuen politischen Einheit, die eine Art von Imperium sein sollte, nicht ordentlich bedacht hat. Der Rahmen der polis, i n dem sich die Machtverhältnisse ordentlich entwickeln, ein richten, institutionalisieren und vollziehen konnten, ist nicht geeignet und nicht in der Lage, die Macht im Maßstab dessen zu regeln, was zu j ener Zeit eine große politische Einheit im 335
Vergleich mit dem griechischen Stadtstaat war, nämlich so et was wie Sizilien. Das Modell der griechischen Stadt auf etwas relativ Großes und Komplexes anwenden zu wollen - für die Griechen und die griechische Stadt war das etwas äußerst Gro ßes und Komplexes, nämlich eine Gesamtheit von Städten im Maßstab Siziliens -, das war der Fehler. D er zweite Fehler, der übrigens das Gegenstück dazu und die Ursache dafür ist, lag darin, daß er keine B eziehungen der Freundschaft und des Ver trauens aufbauen konnte. B eziehungen der Freundschaft und des Vertrauens zu anderen Oberhäuptern, zu j enen, die die an deren Städte regierten - anstatt das Modell der einzigen und einheitlichen Stadt anwenden zu wollen -, hätten j eder Stadt erlaubt, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Und wenn j ede Stadt ihre Unabhängigkeit bewahrt hätte, dann hätte es Freundschafts- und Vertrauensbeziehungen zwischen den Oberhäuptern der untergeordneten, föderierten, kolonisierten Städte und ihm selbst, dem Oberhaupt von Syrakus, geben können. Die erzwungene Vereinigung (in Form von mia polis, der einzigen und einheitlichen Stadt) und das Fehlen einer Bin dung und Freundschaft, die die gerechte Verteilung von Macht ermöglicht hätte, welche durch Freundschaft und Vertrauen garantiert und besiegelt worden wäre, darin bestand Diony sios' Fehler und die Krankheit. Das ist die Diagnose, die Platon für die Krankheit Siziliens stellt. Sie sehen, daß das doch recht interessant ist, weil wir hier eine Reihe von politisch-histori schen Problemen berühren, die am Ende der ersten Hälfte des 4. }ahrhunderts sehr wichtig waren, d. h. genau am Vorabend j ener Zeit, zu der die polis, die griechische Stadt als politische Einheit, unter dem Ansturm der rasenden Entwicklung der großen Königreiche, insbesondere des makedonischen König reichs und des Weltreichs Alexanders, untergehen wird. Die zweite Ebene von Ratschlägen, die Platon nach dieser me dizinischen Diagnose gibt, die zweite Funktion des medizini schen sowie des philosophischen Ratgebers, ist es zu überzeu gen. Der gute Arzt diagnostiziert. Zweitens überzeugt er. Für diese Überzeugungsarbeit gibt Platon nun innerhalb der Reihe
YOn Ratschlägen, die er schon Dion gegeben hatte, Beispiele an. Gemäß den Prinzipien der Rhetorik und der Arbeit der Wahr heit in einem griechischen Diskurs hat das Beispiel die Funk tion zu überzeugen. Platon gibt zwei Beispiele: das Beispiel Persiens und das Beispiel Athens. Zunächst das Beispiel Per siens. Es ist interessant, daß Platon dieses Beispiel überhaupt anführt, denn Persien war lange Zeit, und insbesondere wäh rend des ganzen 5 . Jahrhunderts, ein gewissermaßen abstoßen des, negatives Beispiel für das griechische Denken: eine auto kratische, gewalttätige Herrschaft, ein großes Reich, das die anderen unterwirft usw. Persien ist nun aber im 4 · Jahrhundert im Begriff, zu einem positiven Beispiel zu werden, zumindest im Geiste einer Reihe von Leuten, die sich der traditionellen Demokratie entgegenstellen. Jedenfalls führt Platon dieses B ei spiel Persiens wiederholt in seinen späteren Schriften an. In den Gesetzen, insbesondere im dritten Buch, bezieht er sich auf die persische Regierungsform, und zwar konkret auf die Art und Weise, wie Kyros regiert. Sie erinnern sich - ich hatte diese Passage zitiert10 -, Platon erklärt, wie K yros dazu gelangte, der parrhesia in seiner eigenen Umgebung, an seinem Hof einen Ort einzuräumen, als er den besonnensten Leuten seiner Um gebung erlaubt hat, ihm in aller Offenheit die Ratschläge zu er teilen, deren er bedurfte. Dieses überaus positive Beispiel Per siens findet man auch in dem Dialog, über den ich gesprochen habe, nämlich im Alkibiades, von dem man, wie gesagt, nicht weiß, ob es sich um eine Spät- oder Frühschrift handelt. Dort gibt es einen positiven Verweis auf die Art und Weise, wie die Herrscher, die persischen Fürsten, erzogen werden, und den Kommentatoren zufolge wäre dieser Verweis auf Persien ein Zeichen dafür, daß d er Dialog eine Spätschrift ist.U Wie dem auch sei, j edenfalls ist das Thema Persiens zumindest in den späten Texten Platons gegenwärtig. Sie wissen auch, daß es im Werk Xenophons eine große Rolle spielt, da Xenophon eine ganze Kyropädie12 geschrieben hat. Auf einige Elemente davon werde ich gleich zurückkommen. Warum ist das Beispiel Per siens interessant ? Nun, weil eben Platon in Persien das Beispiel 337
eines kaiserlichen Systems sieht, das funktioniert, und zwar positiv funktioniert. Die Perser haben in der Tat, erklärt er in diesem Text, durch eine Reihe von Kriegen und Eroberungen, die insbesondere gegenüber den Medern errungen wurden, ein Kaiserreich gegründet. Aber sie haben das, so Platon, immer mit Hilfe von Verbündeten getan, die bis zum Schluß ihre Freunde geblieben sind. Platon bezieht sich hier also auf ein persisches System, oder er schreibt den Persern zumindest ein solches System zu, demzufolge die Eroberung sich nicht ein fach im Sinne einer Unterwerfung aller unter die alleinige Autorität der Perser vollzieht, sondern durch ein System von Verbänden und Bündnissen, dem es gelingt, komplexe Be ziehungen zwischen den Untergebenen, den Föderierten, den Verbündeten usw. zu begründen. Zweitens sagt Platon über die Perser, daß Kyros, nachdem sie ihre Eroberung abgeschlossen haben, Sorge dafür getragen hat, sein Königreich in sieben Teile aufzuteilen, sieben Teile, in denen er treue Mitarbeiter fand (bezüglich dieser sieben unterläuft Platon übrigens ein histori scher Irrtum, oder er bezieht sich zumindest auf eine Auftei lung, die anderswo nicht bestätigt wird, wie dem auch sei). Worauf Platon sich hier j edenfalls bezieht, ist die Möglichkeit einer kaiserlichen Regierung, die auf der Mitarbeit und der Zu sammenarbeit einer Reihe von Regierenden beruht, die lokal und vor Ort die Autorität vermitteln. Nach dem B eispiel Persiens und immer noch bezogen auf die Ü berzeugungsarbeit, die ein guter Arzt leisten soll, führt Pla ton das Beispiel Athens an. Nun ist es sehr interessant zu se hen, daß Platon bezüglich dieser Ü berzeugungsarbeit zuerst Persien und dann Athen anführt. Er bezieht sich nämlich auf zwei politische Regierungsformen, die völlig entgegengesetzt sind - bei der einen handelt es sich um eine autokratische Mon archie, bei der anderen um eine Demokratie -, und zeigt eben dadurch, daß sein Problem, zumindest bei dieser Art von Rat schlägen, nicht so sehr darin besteht, zwischen der Demokratie und der Autokratie zu wählen. Das Problem besteht vielmehr darin, herauszufinden, wie man die eine oder die andere auf ge-
eignete Weise zum Funktionieren bringen kann. Nun, so Pla geht aber das B eispiel Athens gänzlich in dieselbe Rich mng wie das B eispiel Persiens. Die Athener haben keineswegs zu errichten versucht, was wir jetzt Siedlungskolonien nennen, d. h. sie haben nicht versucht, Städte zu gründen, die außerhalb des athenischen Territoriums liegen, so etwas wie Teile der Stadt oder des Stadtstaats. Sie haben Städte eingenommen, die schon vollkommen bevölkert waren und zu j ener Zeit unter der Herrschaft der B arbaren standen - Platon bezieht sich auf die ionische Föderation, die die Athener schaffen wollten und die sie in der zweiten Hälfte des 5 - Jahrhunderts wirklich her gestellt haben -, sie haben die Bevölkerung dort gelassen, wo sie war, und haben die Macht in den Händen j ener belassen, die sie auf natürliche Weise ausübten oder ausüben sollten (was wir in unserem Vokabular die »lokalen Eliten« nennen wür den). Auf diese Weise, so Platon, konnten die Athener in all den Städten, die sie vom Joch der Barbaren befreit und in ihr Reich eingegliedert hatten, andras philous (befreundete Män ner, Vertrauensleute) gewinnen und bewahren und ihre Auto rität auf sie gründenP Das sind die Elemente, durch die Platon, nachdem er das Ü bel diagnostiziert hatte, an dem Syrakus unter der Herrschaft von Dionysios noch kaum wahrnehmbar litt, versucht, Dionysios den Jüngeren davon zu überzeugen, daß diese Art des Regie rens geändert werden müsse. Nun folgen in Platons Text die positiven Ratschläge, die er unmittelbar dem Dionysios er teilt - was, bezogen auf die medizinische Arbeit, auf die Rolle der Medizin, der Funktion entspräche, einen Diätplan aufzu stellen. Worin besteht der Diätplan, den Platon Dionysios vor schlägt ? Nun, so Platon, anstatt aus Sizilien eine einzige Stadt zu machen, muß man erstens jeder der Städte Siziliens ihre ei gene politeia (ihre eigene Verfassung, ihre eigenen Institutio nen, ihre eigene politische Regierungsform) geben. Außerdem muß man j eder von ihnen nomoi (Gesetze) geben. Zweitens muß man die Städte untereinander verbinden, sie mit Syrakus verbinden und mit demj enigen, der in Syrakus herrscht. Auch ton,
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das soll durch nomoi und politeiai geschehen. Es muß also so wohl Gesetze als auch lokale Regierungsformen geben. Außer dem muß es zwischen diesen verschiedenen Städten und der Stadt, um die herum sie föderiert sind und die ihnen als Metro pole dient, also zwischen j eder dieser so organisierten Städte und Syrakus, eine Reihe von geregelten B eziehungen geben, die durch so etwas wie eine politeia geregelt werden, eine poli teia, die zwischen den verschiedenen poleis vermittelt, eine Art von politischem Netzwerk, von politischer Institution j enseits der einzelnen Städte, die sie untereinander verbindet und sie an die Metropole anschließt. Schließlich, so Platon, wird diese ge wissermaßen plurale und differenzierte Einheit, in der es für jede Stadt Institutionen gibt, und zwar Institutionen, die die Beziehungen zwischen den Städten regeln, umso stärker sein, je mehr man sich ihrer bedient, um gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen, d. h. gegen die Barbaren, in diesem Fall die Karthager. Durch diesen frontalen Kampf mit den Barbaren wird die Einheit mit ihren Elementen der Pluralität aufrechter halten. Auf diese Weise, so Platon, wird Dionysios der Jüngere nicht nur das Reich von Dionysios dem Älteren verdoppeln, sondern sogar vervielfachen können. Diesen Ratschlägen, die die Organisation der Städte, der Städte an sich und der Städte untereinander und in bezug auf Syrakus betreffen, fügt Platon weitere Ratschläge hinzu. Diese betref fen Dionysios selbst, Dionysios als Person, und zwar als Per son, die zu regieren und ihre Macht auszuüben hat. Platon sagt, daß Dionysios an sich selbst arbeiten muß. Dabei verwendet er den Ausdruck apergazein (entwickeln, ausarbeiten, vervoll kommnen). Was soll er aber entwickeln, ausarbeiten, vervoll kommnen ? Sich selbst, und zwar so, daß er emphron und so phron (überlegt und klug, maßvoll)14 wird. Er soll in einem Verhältnis der Ü bereinstimmung, des Gleichklangs mit sich selbst stehen. Er soll symphonos mit sich selbst15 sein, genauso wie die Städte, die er zu regieren hat, auch in diesem Verhältnis des Gleichklangs sowohl mit Syrakus als auch miteinander ste hen sollen. Sie sehen, daß wir hier in diesem Thema des sym3 40
phonos und der symphonia j ene Idee wiederfinden, die eben falls im V. Brief vorkommt, nämlich daß jede Verfassung ihre phone, ihre Stimme hat. 16 Das Problem der guten Regierung besteht, wie gesagt, nicht darin, auf autoritäre Weise und ge mäß einer zuvor festgelegten Formel eine Verfassung in eine andere umzuändern, die als die beste gelten würde. Für eine gute Regierung geht es darum zu verstehen, was die phone, was die Stimme j eder politeia ist, und dann in Ü bereinstimmung mit dieser phone zu regieren. Sie sehen nun, daß sich hier diese Idee der symphonia in dem Sinne entwickelt, daß die phone jetzt als eine Stimme verstanden wird, die j ede Stadt haben soll. In der großen Föderation, die Dionysios um Syrakus herum organisiert, soll zwar j ede Stadt ihre eigene Stimme haben, aber alle diese Stimmen sollen sich zusammenschließen, um eine Harmonie und einen Gleichklang zu bilden. Es ist jedoch eben falls notwendig, daß das Oberhaupt selbst als Garant dieses Gleichklangs der verschiedenen Städte mit sich selbst sympho nos, d. h. im Einklang mit sich selbst ist. Um diesen Einklang mit sich selbst geht es nun von Beginn dieser Ratschläge an, wenn Platon daran erinnert, daß er Dionysios zunächst aufge fordert hat, j eden Tag so zu leben, daß er immer selbstbe herrschter wird (egkrates autos hautou)Y Dieser Ausdruck (egkrates autos hautou) ist interessant, weil egkrates im allge meinsten Sinne genau die Bedeutung hat, Gebieter zu sein, Ge bieter über sich selbst. Ü blicherweise bedeutet egkrates Selbst beherrschung, die Herrschaft über die eigenen Begierden und ganz besonders die Enthaltsamkeit im Hinblick auf das Essen, den Wein und die sexuellen Genüsse.1 8 Hier zeigt die Verstär kung des Ausdrucks egkrates autos hautou - jedoch an, daß er in einem allgemeineren Sinn gemeint ist, selbst wenn der b e sondere Sinn durchscheint. Das Oberhaupt, derj enige, der be fiehlt, der Herrscher soll sich in der Tat selbst beherrschen, und zwar in dem Sinne, daß er enthaltsam ist, daß er in der Lage ist, seine Begierden in den Grenzen des Schicklichen zu halten, sie zu mäßigen und daher alle Mißtöne zu vermeiden, die den Ein klang verhindern. Die Enthaltsamkeit wird j edoch erklärt als -
ein bestimmtes Machtverhältnis der Person sich selbst gegen über. Egkrates autos hautou: Gebieter über sich selbst in bezug auf sich selbst, wenn Sie so wollen. Diese Verdoppelung gegen über dem geläufigen Sinn von egkrates zeigt an, daß das, was hier angedeutet wird, nicht die Qualität, die Tugend der Ent haltsamkeit ist, wie sie im allgemeinen bestimmt wird, sondern vielmehr ein bestimmtes Machtverhältnis zu sich selbst. Eben dies wird gewissermaßen die richtige Regierung besiegeln, die Dionysios in Syrakus und über die Verbündeten von Syrakus herrschen lassen sollte. Das sind die Dinge, die man in dieser ersten Folge, der ersten Welle von Ratschlägen finden kann, die Platon im VII. Brief erteilt. B ei der zweiten Gruppe von Ratschlägen handelt es sich sozu sagen um aktuelle Ratschläge. An diej enigen, über die ich gera de gesprochen habe, erinnert er nur. Er erinnert daran, daß er sie Dionysios erteilt hat, als dieser als ganz j unger Tyrann von Syrakus den übrigens falschen Anschein erweckte, sich mit der Philosophie befassen zu wollen. Etwas weiter im Brief sagt Platon j etzt: Nach allen Unglücksfällen, die sich ereignet ha ben (die Verbannung Dions, der Bürgerkrieg, die Konfronta tion zwischen den Anhängern Dions und Dionysios', die Ver bannung Dionysios', Dions Rückkehr und sein Tod), welche Ratschläge kann ich nun in der gegenwärtigen Situation euch Freunden des Dions geben, jetzt, da er tot ist ? Diese Passage beginnt mit folgendem Hinweis, den man hervorheben sollte: Macht euch über die Ratschläge, die ich euch jetzt in dieser neuen Situation geben werde, keine Illusionen, denn es sind ge nau dieselben Ratschläge (he aute symboule), die ich euch noch feierlicher geben werde, als ob es sich um ein drittes Trankop fer handeln würde.19 Hier spielt Platon auf zwei Dinge an . Er stens auf die Tatsache, daß er meint, in Syrakus zuerst Dion und dann Dionysios Ratschläge erteilt zu haben (nämlich die, über die wir gerade sprachen), und j etzt wird er den Freunden Dions eine dritte Gruppe von Ratschlägen geben. [ . . ] Zwei tens spielt er auf j enes Ritual an, das fordert, daß das dritte Trankopfer bei einem Gastmahl das feierlichste ist. Es ist das .
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feierlichste, weil es an Zeus gerichtet ist oder, um genau zu sein, an Zeus als Retter, an Zeus, insofern er rettet. Nun, diese Rat schläge, die wie bei einem dritten Trankopfer wiederholt wer den, sollen Syrakus retten. Es sind dieselben Ratschläge, aber dennoch kann man bemerken, daß zwischen dieser Gruppe von Ratschlägen, die den Freunden Dions gegeben werden, und den Ratschlägen, die Platon Dionysios gab, so etwas wie eine Akzentverschiebung besteht. Eine Akzentverschiebung erstens, weil wenig über das kaiserliche System gesagt wird, über das Problem des Verhältnisses zwischen Syrakus und den anderen Städten. Platon begnügt sich einfach damit zu sagen, daß j ede Stadt ihre Gesetze haben muß. Andererseits - und das ist völlig normal, weil man sich zur Zeit der Rede in einer Si tuation befindet, in der der Bürgerkrieg in Syrakus kurz vor dem Ausbruch steht und wo die beiden Parteien aufeinander treffen (Dionysios ist zwar verbannt, versucht aber zurückzu kehren; die Freunde Dions sind zwar seiner Person beraubt, befinden sich aber in der Stadt) - ist in dieser Situation, in der der Bürgerkrieg droht, natürlich das Problem der politeia der Stadt selbst, die politeia von Syrakus, das wichtigste Element, die wichtigste Herausforderung bei den zu erteilenden Rat schlägen. An dieser Stelle skizziert Platon einige Maßnahmen, die zu er greifen wären und die tatsächlich die Institutionen und die Or ganisation der Stadt betreffen. Er sagt, daß man sich an einige weise Männer wenden solle, an Männer, deren Weisheit man an einer Reihe von klaren und offensichtlichen Zeichen erkennt. Um die Weisen zu erkennen, die man in einem Staat braucht, müssen sie zunächst »Frauen und Kinder« haben. Zweitens müss en sie »Nachkommen einer tüchtigen Abstammungs linie«, einer tüchtigen Familie sein. Schließlich müssen sie ein »ausreichendes« Vermögen haben.20 Insgesamt, so Platon, muß man etwa fünfzig Leute dieser Art pro Tausend finden. Von diesen Weisen wird man verlangen, die Gesetze vorzuschlagen. Sie sehen, daß Platon sich hier keineswegs selbst als Gesetzge ber darstellt. Die Ratschläge, die er erteilt, bestehen nicht darin 3 43
zu sagen: Hier sind die Gesetze, die die Stadt b efolgen sollte. Er begnügt sich damit, den Bewohnern der Stadt zu sagen: Ihr solltet die Sorge der Gesetzgebung jenen Personen, jenen Wei sen anvertrauen, die Frauen und Kinder haben, von tüchtigen Vorfahren abstammen und ein ausreichendes Vermögen besit zen. Zweitens, so Platon, wenn eure Konflikte bereinigt sind und wenn die beiden Gruppen, die sich gegenüberstehen (die Anhänger des verbannten Dionysios und die Anhänger des er mordeten Dion), sich wieder versöhnt haben, darf es keinen Unterschied zwischen den Siegern und den Besiegten geben. Die Sieger dürfen den Besiegten nicht die Gesetze vorschrei ben, sondern man muß koinos nomos (ein gemeinsames Ge setz) einrichten.21 Besser aber, so Platon, geht man noch weiter. Das Gesetz soll nicht nur gemeinsam sein, sondern diej enigen, die die Sieger sind und daher den größten Einfluß im Staat aus üben, sollen zeigen, daß sie den Gesetzen noch mehr als die Be siegten unterworfen sind. Das führt uns zu den wichtigsten Ausführungen dieser Passa g e, nämlich dem Problem der mora lischen Bildung der einzelnen. Wie sollten die Sieger in der Lage sein, sich den Gesetzen mehr zu unterwerfen als die Be siegten ? Nun, dazu ist zweierlei erforderlich: theoretische und morali sche Bildung. Zuerst die theoretische Bildung. In dieser Hin sicht ist der Text interessant, weil Platon, wie ich letztes Mal sagte, über die theoretischen und spekulativen Anmaßungen von Dionysios sehr verärgert war, als Dionysios zeigen wollte, wie viel er von der Philosophie verstand, indem er Texte schrieb, die einerseits durch die Tatsache, daß er sie überhaupt schrieb, zeigten, daß er den Sinn der Philosophie selbst nicht begriff, und andererseits, daß das philosophische Wissen, das er zur Schau stellte, nichts weiter als etwas von Platons eigenen Leh ren Abgeschriebenes war. Platon. hatte sich also dem gegen über, was man das theoretische Wissen dessen nennen könnte, der die politische Macht auszuüben hat, äußerst mißtrauisch gezeigt. Worin besteht nun aber die Art der theoretischen Bil dung, die er von den Anhängern Dions ins Spiel zu bringen 3 44
verlangt, damit sie, als Sieger, zeigen können, daß sie mehr den Gesetzen unterworfen sind als die Besiegten selbst ? Nun, die theoretische Unterweisung, die er gibt, ist sehr einfach. Sie ist nichts weiter als eine Variation über ein Thema, das man im Gorgias und in anderen Texten Platons findet, nämlich daß es immer besser ist, gerecht zu sein, auch wenn man unglücklich ist, als ungerecht zu sein, auch wenn man glücklich ist. Als Bei spiel dafür betrachtet er nun gerade Dion und Dionysios. Na türlich ist Dionysios nicht besonders glücklich, da er ja durch den Aufstand, der sich gegen ihn erhob, verbannt wurde. Aber immerhin lebt er. Dagegen kann Dion als unglücklich betrach tet werden, weil er am Ende in Syrakus ermordet wurde, ob wohl er Dionysios verj agt hat. Dennoch soll man sich bei der Wahl zwischen dem toten Dion, der gerecht war, und dem le benden Dionysios, der ungerecht ist, für das Schicksal Dions entscheiden und die Lebensweise Dions vorziehen. Die Unge rechtigkeit soll immer gemieden werden, auch wenn sie einem zum Glück verhilft. Die Gerechti gkeit soll immer bevorzu gt werden, auch wenn sie mit Unglück verbunden ist. Worauf stützt er nun dieses unspektakuläre Thema im VII. Brief, das sich, wie gesagt, durch so viele Dialoge Platons hindurchzieht ? Er stützt es auf eine Reihe theoretischer Betrachtungen. Zu nächst auf die Tatsache, daß die Seele, so Platon, nicht dasselbe ist wie der Körper, daß Seele und Körper zwei verschiedene Dinge sind, daß der Körper sterblich, die Seele dagegen un sterblich ist; daß die unsterbliche Seele nach dem Tod des Kör pers danach beurteilt wird, was sie zu ihren Lebzeiten getan hat und schrecklichen Züchtigungen und langen unterirdischen Reisen ausgesetzt wird, wenn sie während ihrer Existenz Un gerechtigkeiten begangen hat. Diese theoretische Lehre, die zumindest einfach ist, schlägt Platon den Freunden Dions als Grundlage für ihre politische Einstellung und für ihre äußerste Bemühung beim Befolgen der Gesetze vor. Es muß bemerkt werden, daß Platon im Text selbst diese Lehre keinesfalls als philosophische Lehre ausgibt, die seine eigene wäre und die ge wissermaßen das Herzstück seiner Lehre ausmachte. In dem 34 5
betreffenden Text sagt er, daß die Politiker, um sich anständig zu benehmen, und die Sieger, um den Gesetzen mehr unter worfen zu sein als die Besiegten selbst, folgende Lehre kennen sollten: »Doch muß man tatsächlich (d. i. im Gegensatz zu dem Wahne der Menge) stets den alten heiligen Ü berlieferungen Glauben beimessen, deren Spruch dahin lautet, die Seele sei unsterblich [ . .]. «22 Diese alten und heiligen Traditionen nennt der Text »tois palaiois te kai hierois logois« (jene Reden, die zu gleich alt und heilig sind), d. h. daß hier keineswegs das philo sophische Denken von Platon selbst dargestellt wird. Was ihre Autorität und den Grund ausmacht, weshalb diej enigen, die den anderen zu befehlen haben, sich den Gesetzen unterwerfen sollen, ist die Tatsache, daß es sich um alte, schon bekannte Re den handelt. Sie beziehen ihre Autorität aus ihrem Alter, zu gleich aber auch aus heiligen, religiösen Komponenten, durch die sie charakterisiert sind. Diese nicht-philosophischen Dis kurse, diese Diskurse religiöser Ü berzeugungen und heiliger Traditionen sind es, was den theoretischen Hintergrund aus machen soll, auf den sich der Politiker bezieht. Was seine prak tische Bildung betrifft, so wird sie in diesem Text von Platon kaum skizziert. Er begnügt sich mit dem Hinweis, daß die Po litiker so wie ihre Vorfahren leben sollen, nämlich so wie die Dorer. Diese Passage ist also ebenso wie die vorhergehende weder an politischem noch an eigentlich philosophischem De tail besonders reichhaltig. Was j edoch das allgemeinste und zweifellos das interessanteste Thema dieser Ratschläge aus macht, ist die Art und Weise, wie Platon durch sie zeigt, daß die moralische Bildung der Regierenden für die richtige Regierung des Staats unerläßlich ist. Nun gibt es eine Passage, die es verdient, festgehalten zu wer den, nämlich wenn er sagt, daß man gerade dann, wenn man diese alten und heiligen Traditionen zu respektieren weiß und wenn man j ene dorische Lebensweise, j ene unerläßliche Le bensweise nach der Art der Vorfahren wirklich vollzieht, or dentlich regieren kann. Ordentlich zu regieren soll bedeuten, daß man regieren kann, indem man sich zweier Quellen be.
dient.23 Erstens phobos (die Furcht). Die Regierenden sollen nämlich über den Regierten die Furcht herrschen lassen, und das tun sie, indem sie ihre Kraft zeigen (bia, wie es im Text heißt).24 Diese materielle Kraft muß tatsächlich gegenwärtig und sichtbar sein, dann wird die Furcht die richtige Regierung sicherstellen. Gleichzeitig - und das wird das zweite Mittel der Regierung sein - müssen die Regierenden aber aidos zeigen ( d. h. Scheu und Ehrfurcht). Diese aidos ist hier nicht direkt die Ehrfurcht, die die Regierten den Regierenden schulden, son dern sie soll gewissermaßen ein inneres Verhältnis der Regie renden zu sich selbst sein, eine Ehrfurcht der Regierenden ge genüber ihren Verpflichtungen, gegenüber dem Staat und gegenüber den Gesetzen des Staats. Diese aidos ist dafür ver antwortlich, daß man fähig ist, sich den Gesetzen wie ein Skla ve zu unterwerfen (Platon verwendet den Ausdruck douleu ein).25 Sklave des Gesetzes zu sein, sich zum Sklaven des Gesetzes machen zu wollen, das soll charakteristisch sein für die aidos (die Ehrfurcht) der Regierenden, für die Ehrfurcht gegenüber sich selbst, den Staat und den Gesetzen. Diese Ehr furcht wird dann die Ehrfurcht nach sich ziehen, die die ande ren - die Regierten - ihrerseits haben. Man muß also verstehen, daß >>aidos« eine Tugend ist, die das Verhältnis der Regierten zu den Regierenden kennzeichnet, die aber auch und vor allem die Einstellung der Regierenden zu sich selbst charakterisiert. Der dritte Text, über den ich sprechen möchte, ist der Text aus dem VIII. Brief, der etwas später als der VII . Brief verfaßt wur de, und zwar zu der Zeit, als der Bürgerkrieg, von dem Syrakus schon bedroht war, ausbrach. Dieser Text ist aus zwei Gründen interessant. Der erste ist natürlich, daß Platon hier in einen Be reich vorstößt, gegenüber dem er sich bisher sehr zurückhal tend und diskret gezeigt hat, nämlich die Organisation des Staats. Zweitens, weil diese Ratschläge durch eine allgemeine Ü berlegung zur parrhesia eingeführt und gestützt werden. An dieser Stelle begegnen wir unserem Problem wieder. Was sind nun in Kürze die Ratschläge, die Platon den Syrakusanern gibt, die gerade im Begriff sind, sich in einem Bürgerkrieg zu zer347
fleischen ? Erstens haben wir den Bezug zu einen Thema, das man bei Platon ebenfalls kennt. Dieses Thema wird im Gorgias 477b f.26 entwickelt, wo Platon, wie Sie wissen, sagt, daß man zwischen dem unterscheiden muß, was zur Seele, was zum Körper und was zum Vermögen gehört. Was zur Seele gehört, ist offensichtlich dasj enige, was die Regierenden selbst betrifft; was zum Körper gehört, betrifft die Krieger; und was zum Ver mögen gehört, betrifft natürlich die Tätigkeit der Händler und Handwerker. Die politeia, die Organisation eines Staats, so Platon, muß nun dieser Hierarchie Rechnung tragen und dem Körper keine größere Bedeutung schenken als der Seele und vor allem dem Vermögen keine größere Bedeutung schenken als dem Körper und der Seele. In bezug auf dieses allgemeine Thema schlägt Platon dann eine Organisation, eine politeia, im strengen Sinne vor. Wir dürfen, wie gesagt, nicht vergessen, daß Platon an dieser Stelle eine politeia (eine Verfassung) we gen des Bürgerkriegs vorschlägt. Der Staat, die Organisation des Staates, ist nämlich zusammen g ebrochen; deshalb schlägt er ein Organisationssystem für die Stadt vor. Dieses System läßt sich schematisch folgendermaßen darstellen. Es handelt sich erstens um eine Monarchie, aber nach der Art der spartani schen, d. h. in der die Monarchen in Wirklichkeit keine reale Macht haben. Ihnen gebührt vor allem die religiöse Macht, und aus einer Reihe von Gründen soll es nicht zwei Monarchen wie in Sparta geben - das schlägt er in diesem Text vor -, sondern drei. Platon will nämlich, und er sagt das auch, die Nachkom men von Dionysios dem Jüngeren einen anderen Nachkom men von Dionysios dem Ä lteren und den Sohn Dions verei nen. Deshalb soll es drei Könige geben, aber diese drei Könige haben im wesentlichen eine religiöse Funktion. Außer diesen drei Königen muß ein System eingerichtet werden, das zu gleich die Existenz der Gesetze und ihren Fortbestand sichert. Daraus ergeben sich nach seinem Vorschlag die Organisation und die Einrichtung einer Körperschaft, die er Gesetzeswäch ter nennt. Er schlägt 3 5 Gesetzeswächter vor,27 was auch das Modell sein wird, dem wir in den Gesetzen wieder begegnen,
bis auf den Unterschied, daß es in den Gesetzen nicht 3 5 , son dern 3 7 Wächter sind.28 Dieses kleine Detail gestattet den Kommentatoren zufolge, sowohl die Echtheit des Briefs zu be weisen als auch, ihn zu datieren; seine Echtheit, weil, wenn es sich um einen apokryphen Brief handeln würde, der nach Pla tons Tod geschrieben worden wäre und sich der Daten aus den Gesetzen bedient hätte, der apokryphe Autor offensichtlich die tatsächliche Zahl von 3 7 kopiert und nicht 3 5 angegeben hätte. Man kann daher plausiblerweise annehmen, daß Platon in diesem Brief das skizziert hat, was in den Gesetzen entwik kelt werden sollte, und zwar mit einer Reihe von Änderungen, insbesondere der Ä nderung von 3 5 Gesetzeswächtern in 37· Außerdem schlägt er eine Reihe von Gerichten vor, wobei man auch hier in wenigen Zeilen das wiederfindet, was in den Ge setzen ausführlich entwickelt wird. Wir haben in dieser Folge von Ratschlägen also zum ersten Mal Ratschläge, die man no mothetisch nennen könnte, bei denen man sich aber, wie ge sagt, daran erinnern muß, daß sie nicht so sehr von der all gemeinen Funktion des Philosophen für den Staat erfordert werden als vielmehr von der Situation des Staats selbst. Da der Bürgerkrieg ausgebrochen war und wütete, ist es zu diesem Zeitpunkt ganz natürlich, daß die Rolle des Philosophen nicht darin bestehen soll, dem regierenden Fürsten Ratschläge zu er teilen oder ihm bei der Errichtung eines Reiches zu helfen, sondern schlichtweg den Staat selbst wiederaufzubauen. Nun werden aber diese Ratschläge, die im VIII. Brief gegeben werden - diesen Punkt möchte ich nun betonen -, von einer Passage eingeleitet, die zwar eine reine Ü bergangspassage ist, die jedoch deutlich darauf hinweist, daß Platon diese Ratschlä ge auf das Konto seiner Funktion als Parrhesiast setzt. In ihnen übt er die parrhesia aus. Die Passage steht bei 3 54a des VIII. Briefs, wo er folgendes sagt: »Was mir aber im Ganzen sich j etzt empfiehlt, das will ich versuchen euch mit allem Freimut (ego peirasomai pase parrhesia) und mit einer Unparteilichkeit, die beiden Teilen gerecht wird, darzulegen. So übernehme ich denn sozusagen die Rolle eines Schiedsrichters und wende 3 49
mich mit meiner Rede an beide Parteien, [ ], indem ich, als wäre jede der beiden Parteien eine [gesonderte; M. F.] Person, ihnen meinen längst bekannten Rat (symboulen) erteile.<<29 Wir befinden uns also im Bereich der politischen symboule, die zugleich Manifestation und Ausübung der parrhesia ist. Ich glaube nun, daß, wenn man diese Passage betrachtet und eine gewisse Anzahl von Elementen verfolgt, die eben in den Rat schlägen enthalten sind, deren Inhalt ich gerade zusammenge faßt habe, man erkennt, daß es in der Tat um die parrhesia geht und daß Platon eine parrhesiastische Tätigkeit verfolgt. Wo durch ist dieser Diskurs des Erteilens von Ratschlägen gekenn zeichnet, und inwiefern handelt es sich dabei um eine parrhe sia ? Erstens betont Platon von den ersten Zeilen an, die ich gerade vorgelesen habe, aber auch durch den ganzen Text hindurch, daß er das, was er sagt, in seinem eigenen Namen sagt. Es ist seine Meinung, es sind seine Gedanken, es ist seine Ü berzeu gung, es ist das, was er selbst sagt. Es gibt eine ganze Reihe von Ausdrücken, die deutlich auf diesen ganz persönlichen Cha rakter der Äußerung hinweisen. Es ist nicht die Stimme des Staates oder die Stimme der Gesetze, jene, die beispielsweise zu Sokrates sprach und ihn dann überzeugte, daß er seinen Prozeß und seine Verurteilung hinnehmen müsse.30 Nein, Platon selbst gibt seine Meinung kund: »ho de moi phainetai<< (was mir selbst scheint); ich werde meinerseits versuchen, euch zu über zeugen, ich werde euch sagen, was eme symboule (mein Rat) ist.31 In 3 5 4c finden wir: »Das ist es denn auch, wozu meine jet zige Mahnung alle dringend auffordert.<<32 Es ist seine eigene Mahnung. Nun erscheint dieser persönliche Charakter der Mahnung an einer bestimmten Stelle wie durchbrachen oder umwunden durch die Tatsache, daß Platon, nachdem er in sei nem Namen gesprochen hat, sagt: Im Grunde ist es am einfach sten, wenn ich nicht selbst spreche, sondern Dion sprechen las se, oder vielmehr, wenn ich euch sage, was Dion, der jetzt tot ist und der vor einiger Zeit ermordet wurde, euch gesagt hätte. Ich werde euch zitieren, was Dion gesagt hätte. Ich rekonstru. . .
iere, was Dion euch unter den gegenwärtigen Umständen ge sagt hätte, weil wir im Grunde dieselbe Meinung teilen. Ich glaube, daß man hier erkennen kann, daß diese Intervention Dions, einer toten Person, entsprechend eines in der griechi schen Redekunst ganz bekannten rhetorischen Verfahrens (ei nen Toten auftreten zu lassen, um zu bestätigen, was man im Begriff ist zu sagen) für Platon nicht eine Weise darstellt, sich seiner Funktion als Parrhesiast zu entledigen, da er geltend macht, daß das, was Dion sagt, genau das ist, was er selbst denkt, und daß sie einer Meinung sind (koinos: es ist ein für Platon und Dion koinos logos33 - im übrigen hat er daran erin nert, daß Dion von ihm ausgebildet wurde; es handelt sich also um Platons eigene Meinung) Wenn er Dion über die rhe tori sche Konvention hinaus, die es gestattet, einen Toten auftreten zu lassen, um die Autorität dessen, was man sagt, noch stärker zu betonen, ins Spiel bringt, dann darf man eben nicht verges sen, daß Dion auch j emand ist, der das Wahrsprechen, das er Dionysios entgegensetzte und das er in Syrakus zur Geltung bringen wollte, mit seinem Leben bezahlt hat. Als Parrhesiast, der so weit ging, sein Leben zu riskieren, und der sein Wahr sprechen mit dem eigenen Leben bezahlt hat, bringt ihn Platon an seiner Seite ins Spiel. Zweitens muß man im Hinblick auf diesen Text bemerken, daß die parrhesia, die Platon entfaltet, von einer Art Spannung ge kennz eichnet ist, die sich einerseits auf den Charakter seines völlig besonderen und den Umständen entsprechenden Rat schlags bezieht Platon erinnert den ganzen Text hindurch im mer wieder daran, daß er seinen Rat in bezug auf die aktuelle Situation erteilt, so wie sie ihm j etzt erscheint (er verwendet den Ausdruck ta nyn: im Augenblick34) -, dabei handelt es sich auch um Ratschläge, die er auf den Kampf bezieht, auf den Bürgerkrieg, der sich gerade entwickelt, auf die Tatsache, daß er sich an eine Reihe von günstigen Umständen in der Ge schichte Siziliens erinnert. Diese parrhesia aber, die also in die sem Sinne ein auf Umstände und Gelegenhe iten bezogener Diskurs ist, wird zugleich auf allgemeine und beständige Prin.
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zipien bezogen. Er erinnert daran, daß das immer schon seine Meinung war. Seine symboule ist dieselbe geblieben, und er verwendet eine Reihe von allgemeinen Regeln oder Prinzipien. Beispielsweise erinnert er daran, daß die Knechtschaft und die Freiheit ein großes Ü bel darstellen, wenn sie beide übertrieben werden. Er verwendet Formeln der folgenden Art: Die Sklave rei (die douleia), die Untertänigkeit gegenüber Gott entspricht dem richtigen Maß, aber die douleia gegenüber dem Menschen ist immer maßlos.35 Wir haben also einen Diskurs der parrhe sia, der sich in einer Spannung zwischen dem Bezug auf allge meine Prinzipien und dem B ezug auf besondere Umstände be findet. Drittens ist diese parrhesia ein Diskurs, der an alle gerichtet ist, an beide Parteien der syrakusanischen Konfrontation. Er ist ein logos koinos. »Das ist es denn auch, wozu meine jetzige Mahnung alle dringend auffordert«, sagt er in 3 5 4c. In 3 5 F sagt er: Ich bitte die Freunde Dions, die Ratschläge, die ich er teile, allen Syrakusanern mitzuteilen. Und ganz am Ende des Textes sagt er (in 3 5 7b ) : Das rate ich allen (pasin symbouleuo ) , gemeinsam (koine) zu entscheiden und zu unternehmen; ich rufe alle an (parakalo pantas), diese Handlungen zu unterneh men. Aber auch wenn er alle anruft und sich an alle richtet, wendet sich der Diskurs der parrhesia doch auch an jeden ein zelnen der beiden Parteien. Das sagt Platon ganz am Anfang des Textes in der Passage, die ich zitiert habe: Ich spreche zu al len und zugleich spreche ich zu j edem von ihnen, als ob er al lein wäre.36 Das bedeutet, daß es sich nicht einfach um einen allgemeinen Diskurs handelt, der sich an den Staat wendet, um ihm Vorschriften und Gesetze aufzuerlegen, sondern vielmehr um einen Diskurs der Ü berzeugung, der sich an jeden einzel nen wendet, um von ihm ein bestimmtes Verhalten zu errei chen. Schließlich noch das vierte Merkmal dieser parrhesia: Platon sagt, daß, wenn er auf diese Weise spricht und sich an die bei den Parteien wendet, die sich auf Sizilien gegenüberstehen, dann in Gestalt eines diaitetes. Der Ausdruck »diaitetes« ist ein 352
juristischer Begriff, der im athenischen Recht den Schiedsrich ter bezeichnet, an den man sich wandte, um eine Streitsache zu regeln, anstatt vor Gericht zu ziehen. Der diaitetes ist also der Schiedsrichter, den man außerhalb eines Prozesses konsultie ren kann. Ü ber diesen diaitetes und seine Funktionen findet man bei Aristoteles (Politik, Buch II, Kap. 8, u68b f.) eine Rei he von Angaben.37 Diaitetes zu sein ist also eine Funktion, eine außergerichtliche Funktion, die j edoch durch die Institutionen Athens selbst definiert ist. Man darf nicht vergessen, daß diai tetes, wie die Etymologie deutlich zeigt, derjenige ist, der die Diät, den Diätplan verordnet. Die beiden Bedeutungen des Wortes diaitetes sind im Altgriechischen bezeugt. Die diaita ist das Schiedsverfahren, aber auch der medizinische Diätplan. Der diaitetes ist der Schiedsrichter, aber auch derjenige, der den Diätplan denen verordnet, die ihn nötig haben. Die Wechsel wirkung zwischen den beiden Bedeutungen (Schiedsverfahren und Diätplan) - die Etymologie des Wortes knüpft übrigens an dieselbe Wurzel an wie zen (leben) - ist offensichtlich, insofern die Diät gerade die Gesamtheit von Regeln ist, durch die man den Gegensatz zwischen den verschiedenen Qualitäten schlichten kann, zwischen dem Kalten und dem Heißen, zwi schen dem Trockenen und dem Feuchten, zwischen den ver schiedenen Säften, die den Körper ausmachen. In diesem Schiedsverfahren besteht die Diät, der medizinische Diätplan. Wenn Platon als Parrhesiast sagt, daß er diaitetes sei, dann ist er also zugleich Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Par teien und derjenige, der einen Diätplan verordnet (den medizi nischen Diätplan für den Staat), wodurch dann die Schlichtung zwischen diesen verschiedenen Mächten ermöglicht werden soll. Das letzte Merkmal dieser parrhesia besteht darin, daß sie sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen muß. Platon akzeptiert diese Herausforderung der Auseinandersetzung mit der Wirk lichkeit nicht nur wiederholt, sondern er hebt sie auch hervor und fordert sie. Bezüglich des Diskurses, den er hält, und der Ratschläge, die er gibt, akzeptiert er und verlangt sogar, daß die 353
Wirklichkeit zeigen soll, ob sie wahr oder falsch sind. Die Wahrheit, die ich euch rate, so Platon, besteht darin, daß, wenn ihr die Erfahrung meiner gegenwärtigen Behauptungen macht, ihr tatsächlich die Wirkung erfahrt. Ergo gnosesthe: Ihr werdet es in der Wirklichkeit erkennen. Denn, so Platon, sie ist der be ste Prüfstein (basanos) für alles.38 Die Wirklichkeit, der Beweis der Wirklichkeit, das soll der Prüfstein seines Diskurses sein. Am Ende der Ratschläge, die er den Syrakusanern erteilt, steht folgender. Ganz am Ende des B riefes (bei 3 5 7c) sagt er: >>Lasset aber vor allem sämtlichen Göttern sowie allen ihnen verwand ten Wesen die ihnen gebührende Ehre unter Gebeten zuteil werden, sodann wendet euch [tatsächlich ist das verwendete Verb peithomai, überreden; M. F.] mit euerer Überredungs kraft und eueren Mahnungen an Freund und Feind, freundlich und eindringlich, und werdet nicht müde, bis ihr die jetzt von mir gemachten Vorschläge [die Ratschläge, die Platon gerade gegeben hat [ . . ]; M. F.] als wären es Träume, an Wachende von einem Gott gesandt, zur vollen und glücklichen Wirklichkeit gemacht habt. «3 9 Der Philosoph erscheint also bei seinem Ge schäft der parrhesia und dem, was er sagt, in etwa so wie ein göttlicher Traum, der wachende Menschen heimsucht. Was der göttliche Traum für die Schlafenden ist, der den Menschen das Kommende und das, was sie tun sollen, verkündet, wird der Diskurs des Philosophen für die Wachenden sein. Der Philo soph ist geradezu ein Gott, der die Menschen heimsucht, der aber zu ihnen spricht, wenn sie wach sind. Dieser göttliche Traum aber behält seine Wahrheit und besteht die Bewäh rungsprobe seiner Wahrheit nur unter einer Bedingung: Wenn ihr meinen Rat in die Wirklichkeit umgesetzt habt (exergase sthe sagt der Text40), wenn ihr euch bemüht habt, bis die Dinge wirklich vollzogen sind und sie dann deutlich ihre glückliche Vollendung finden (bis sie eutyche sind). Die glückliche Voll endung, das, was das wirkliche Glück der Syrakusaner ausma chen wird, ist gerade die wirkliche Umsetzung dieses göttli chen Traums, den der Philosoph ihnen während ihres Wachens eingegeben hat. .
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Die parrhesia ist also diej enige Tätigkeit, die Platon am Ur sprung seiner Beratungstätigkeit erkennt und fordert. Er ist Berater, d. h. er macht von der parrhesia Gebrauch mit allen Merkmalen, die wir erkannt haben: Er engagiert sich selbst, es ist sein eigener Diskurs, seine eigene Meinung. Sie trägt zu gleich allgemeinen Prinzipien Rechnung als auch besonderen Gelegenheiten. Sie wendet sich an die Menschen als allgemei nes Prinzip, überredet sie jedoch als einzelne. All das ergibt einen Diskurs, dessen Wahrheit sich in der Tatsache erweisen muß, daß er Wirklichkeit wird. Der philosophische Diskurs bezieht die Garantie, daß er nicht bloß Iogos, daß er nicht bloß geträumte Rede ist, sondern in der Tat die Hand am ergon hat, aus der politischen Wirklichkeit, aus dem, was die Wirklichkeit selbst ausmacht. Hier haben wir eine Gruppe von Elementen, die das bestätigen, was ich versucht habe, Ihnen über die Funk tion des Parrhesiasten zu sagen. Im zweiten Teil der Vorlesung werde ich nun versuchen, diese Elemente wieder aufzunehmen. Entschuldigen Sie bitte, daß diese platonischen Ratschläge aber mals ziemlich banal wirken, was ihre Analyse etwas langweilig macht. Ich glaube j edoch, daß es möglich ist, wenn man sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus noch einmal liest, eine Reihe von Problemen oder Themen hervortreten zu sehen, die YOn großer Wichtigkeit für das Schicksal der Beziehungen zwi schen Philosophie und Politik im abendländischen Denken sind. Ich werde Ihnen das gleich zu erklären versuchen.
Anmerkungen r 2
Platon, VII. B rief, 3 3 2d-e, a. a. O., S. 5 8 - 59. E . de Las Cases, Le Memorial de Sainte-Helene [ r 842], Paris 1 999; dt.
Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena, Stuttgart r 8 2 3 - r 826. [ I 667], hg. v. F. Hildesheimer, Paris I 99 5 ; dt. Politisches Testament u n d kleinere Schriften, Berlin 1 926. + Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch LII, Kap. 1 4-40, Düsseldorf 2007. 5 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch I, Kap. 1 3 9 bis I 46, a. a. O., S . r o 8 - r r 4. 3 Richelieu, Testament politique
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6 Platon, VII. Brief, 33 r d, a. a. 0., S. 5 7· . ] ohne doch imstande zu sein nach Wiederaufbau derselben einer jeden durch ihm ergebene Männer die ihr angemessene feste Verwal tungsform zu verleihen (ouch hoios t 'en katoikisas politeias en hekastais katastesasthai pistas hetairon andron)« (ebd., 3 3 1 e- 3 3 2a). 8 »Aus keinem von diesen vermochte er [ ] einen wirklichen Mitarbei ter im Herrscheramt zu machen (touton koinonon tes arches oudena hoios t'en)« (ebd., 3 3 2a, S. 5 7). 9 »Dionysios dagegen, der ganz Sizilien zu einem einzigen Staate (eis mian polin) verschmolz, traute vor lauter Klugheit keinem Menschen, und so hielt er sich denn nur mit knapper Not über Wasser; denn er war arm an Freunden und zuverlässigen Helfern (andron philon kai pi ston)« (ebd., 3 3 2c, S. 5 8). 1 0 Platon, Gesetze, Buch III, 694a-b. Vgl. die Analyse dieser Passage in der Vorlesung vom 9· Februar, oben, S. 2 5 7-26 1 . I I Vgl. die Analyse des positiven Verweises auf die persische Erziehung, um die Unzulänglichkeiten von Alkibiades hervorzuheben, in: Herme neutik des Subjekts, a. a. 0., S. 5 7· 1 2 Xenophon, Kyropädie, hg. v. E. Kaminski, Leipzig 1 9 30. 13 »Neben dem Perserreich sind in dieser Beziehung die Athener zu nen nen. Es gelang ihnen, viele hellenische den Angriffen der Barbaren aus gesetzte Städte, die sie nicht selbst gegründet, sondern als bereits beste hende in ihre Gewalt bekommen hatten, siebzig Jahre l an g unter ihrer Herrschaft festzuhalten mit Hilfe befreundeter Männer (andras phi lous), die sie in j eder derselben gewonnen hatten« (Platon, VII. Brief, 3 3 2b-c, S. 5 7- 5 8). 1 4 »Wenn er nun auf dem von uns bezeichneten Wege wandelnd und so zu Einsicht und Besonnenheit herangereift (heauton emphrona te kai so phrona apergasamenos) [ . ] << (ebd., 3 3 2e, S. 5 8). r5 [ ] so müsse er, einmal angeregt nach dieser Seite hin, zunächst dar nach streben, sich unter seinen Verwandten und Altersgenossen andere zu Freunden und gleichgestimmten (symphonous) Bewerbern um den Preis sittlicher Tüchtigkeit zu machen - vor allem aber diese Gleichmä ßigkeit der Stimmung in sich selbst (auton hauto) zur Herrschaft zu bringen<< (ebd., 3 3 2d). 16 »Jede Staatsverfassung hat nämlich, wie gewisse Klassen von Tieren, ihre besondere Tonweise (estin gar de tis phone ton politeion hekastes kathaperei tinon zoon), eine andere die Demokratie, eine andere die Oligarchie, eine andere wieder die Monarchie. [ ] Demjenigen Staats wesen nun, das den ihm eigenen Ton Göttern und Menschen gegen über einhält und in seinen Maßnahmen diesem Tone entsprechend ver fährt, ist dauernde Blüte und Heil beschieden, demjenigen dagegen, das aus seiner Natur heraustretend sich auf Nachahmung einer anderen Verfassung verlegt, der Untergang« (Platon, V. Brief, 3 2 r d-e, a. a. O., 7 »[
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. . .
s. 4o).
1 7 »Demgemäß möchte ich euch den nämlichen Rat erteilen, den ich im Bunde mit Dion dem Dionysios gab: er möge sein alltägliches Leben so regeln, daß er dahin komme, sich möglichst selbst zu beherrschen (eg krates hautau autos) « (Platon, VII. Brief, 3 3 1 d, S. 5 7). 1 8 Vgl. M. Foucault, Histoire de la sexualite, Bd. II (L'Usage des plaisirs, Paris 1 984), Kap. »Enkrateia« (S. 74-90); dt. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2 (Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt 1 9 8 6, S. 8 4- 1 03 ) . 1 9 »Außerdem gebe ich noch einen Rat, denselben Rat (ten auten symbou len) und dieselbe Warnung, die ich schon zweimal gegeben habe; ihr seid j etzt die dritten, denen ich sie erteile<< (Platon, VII. Brief, 3 3 4c, S. 61 ) . 2 0 Ebd., 3 3 7b-c, S. 6 5 . 2 1 Ebd., 3 3 6a-3 3 7a, S. 6 3 -64. 22 Ebd., 3 3 5 a, S. 62. 2 3 »Vielmehr müssen die Sieger lernen, sich selbst zu beherrschen und müssen Gesetze geben, die allen zugute kommen und nicht weniger den Interessen der B esiegten als dem eigenen Interesse dienen. Die Be folgung dieser Gesetze aber müssen sie durch zwiefachen Druck errei chen, durch sittliche Scheu und durch Furcht« (ebd., 3 3 7a, S. 6 5 ) . 2 4 »Durch Furcht, denn s i e sind die Stärkeren i m Vergleich z u den Unter legenen und lassen demnach ihre Macht zum Zwange erkennen. (to kreittous auton einai deiknyntes ten bian) « (ebd.). 2 5 »Durch sittliche Scheu, denn sie zeigen sich als Sieger über die Verfüh run g en der Gelüste und als Männer, die den Willen und die Kraft ha ben, sich vielmehr den Gesetzen zu unterwerfen (mallon ethelontes te kai dynamenoi douleuein)« (ebd., 3 3 7a-b, S. 6 5 ). 26 »Also für drei, Vermögen, Leib und Seele, hast du dreierlei Schlechtig keiten, Armut, Krankheit, Ungerechtigkeit, angeführt ?« (Platon, Gor gias, 477b-c, übers. v. Julius Deuschle, in: Platon: Sämtliche Werke, Heidelberg 1 9 8 2, S. 344). 27 Platon, VIII. Brief, 3 5 6d, S. 9 5 . 2 8 Platon, Gesetze, Buch VI, 7 5 4d, a . a . 0., S . 1 79· 29 Platon, VIII. Brief, 3 5 4a, S. 9 r . 3 0 Es handelt sich um die berühmte » Prosopopöie der Gesetze«, die man im Kriton bei 5od- 5 4d findet. 3 1 Platon, VIII. Brief, 3 5 5 a, S. 9 3 · 3 2 Ebd., 3 5 4c, s. 92. 33 »Unter diesen Umständen beauftrage ich die Freunde des Dion, mei nen Rat allen Syrakusanern mitzuteilen, und zwar als den gemeinsa men Rat (koinen symboulen) von uns beiden, von Dion und mir« ( ebd., 3 5 5 a, s. 93)· 3 4 »Was mir aber im Ganzen sich jetzt empfiehlt ( h o de m o i phainetai p e ta nyn)« (ebd., 3 5 4a, S. 9 1 ). 3 5 »Das rechte Maß aber findet sich bei der Untertänigkeit gegen Gott, Maßlosigkeit dagegen bei der Untertänigkeit gegen Menschen« (ebd., 3 5 4e, S. 93). 3 57
3 6 »So übernehme ich denn sozusagen die Rolle eines Schiedsrichters (lego gar de diaitetou) und wende mich mit meiner Rede an beide Par teien, an die Vertreter der Tyrannengewalt und an die von ihr Verge waltigten, indem ich, als wäre j ede der beiden Parteien eine Person, ih nen meinen längst bekannten Rat erteile« (ebd., 3 5 4a). 37 »Auch das Gesetz über die Rechtsprechung ist nicht richtig, daß näm lich der, der richten soll, die Klage, die doch einfach formuliert ist, tei len soll und so aus einem Richter zu einem Schiedsmann (diaiteten) werde. In einem Schiedsgericht ist dies zwar auch bei den meisten mög lich (denn sie besprechen sich untereinander über das Urteil), aber bei den Gerichten geht es nicht« (Aristoteles, Politik, Buch II, VIII - 1 3, 1 268b, übers. v. Olof Gigon, Zürich 1 9 5 5 , S. r o 5 ). 3 8 >>Daß aber diese meine Mahnung der Wahrheit entspricht, das werdet ihr erfahren, wenn ihr das j etzt bloß in Worten über die Gesetze Gesag te in Wirklichkeit zu schmecken bekommt; denn sie, die Wirklichkeit ist der beste Prüfstein (basanos) für alles<< (Piaton, VIII. Brief, 3 5 5d, s . 93 f.). 3 9 Ebd., 3 5 7c-d, S. 97· 40 »Lasset aber vor allem sämtlichen Göttern sowie allen ihnen verwand ten Wesen die ihnen gebührende Ehre unter Gebeten zuteil werden, so dann wendet euch mit euerer Überredungskraft und eueren Mahnun gen an Freund und Feind, freundlich und eindringlich, und werdet nicht müde, bis ihr die jetzt von mir gemachten Vorschlä g e als wären es Träume, an Wachende von einem Gott gesandt, zur vollen und glückli chen Wirklichkeit gemacht habt (enarge te exergasesthe telesthenta kai eutyche)« (ebd., 3 5 7c-d, S. 97).
Vorlesung 8 (Sitzung vom 2 3 . Februar 1 9 8 3 , zweite Stunde)
Philosophie und Politik: eine notwendige Beziehung, aber eine unmögliche Kongruenz. - Das kynische und das platonische Spiel der Beziehung zur Politik. - Die neue historische Lage: der Gedanke einer neuen politischen Einheit jenseits des Staates. - Vom öffentlichen Ort zur Seele des Fürsten. Das platonische Thema des Philosophenkönigs.
Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Mir scheint, daß diese Ratschläge Platons - die abermals für j eden enttäuschend sind, der sie vom Standpunkt der Ü berlegung und politischen Analyse der Griechen liest, vor allem, wenn man sie mit dem vergleicht, was man bei Thukydides findet -, wenn man sie auf eine bestimmte Weise liest, drei wichtige Dinge hervortreten lassen. Erstens ein Merkmal, das für die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik grundlegend und konstant ist. Zwei tens eine besondere historische Lage, die trotz ihrer Partiku larität eine so große Reichweite besitzt, daß sie letztlich das Schicksal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik bis zum Ende der Antike bestimmt. Drittens schließlich - und das möchte ich besonders hervorheben - zeigen diese Ratschlä ge deutlich den Punkt an, an dem die Philosophie und die Po litik, das Philosophieren und die Tat zusammentreffen, den Punkt, an dem eben die Politik als Realitätsprüfung für die Philosophie dienen kann. Erstens, das grundlegende und durchgängige Merkmal der Be ziehungen zwischen Philosophie und Politik, das sich anband dieser Texte enthüllt, ist im Grunde ganz einfach, auch wenn man es richtig verstehen muß. Der schwache, banale, allgemei ne Charakter der Ratschläge, die Platon seinen Briefpartnern gibt - ich glaube, daß ich nicht übertrieben habe, als ich Ihnen zeigte, wie wenig diese Texte sowohl von einem politischen als auch von einem philosophischen Gesichtspunkt sagen -, zeigt :1icht, daß Platon in Sachen Politik naiv war. Er zeigt vielmehr, daß die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik nicht 3 59
in der Fähigkeit der Philosophie zu suchen sind, die Wahrheit über die beste Art und Weise der Machtausübung zu sagen. Schließlich gebührt es der Politik selbst, die besten Arten der Machtausübung zu kennen und zu definieren. Die Philosophie hat darüber nicht die Wahrheit zu sagen. Aber die Philosophie hat die Wahrheit zu sagen - wir konzentrieren uns für den Au genblick auf diesen Punkt und versuchen dann Genaueres zu sagen -, nicht über die Macht, sondern in bezug auf die Macht, in Beziehung zu ihr, in einer Art von Gegenüber oder Ü ber kreuzung mit ihr. Die Philosophie hat der Macht nicht zu sa gen, was zu tun ist, sondern sie hat als Wahrsprechen in einer bestimmten Beziehung zum politischen Handeln zu existieren. Nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutet natürlich nicht, daß diese Beziehung nicht genauer bestimmt werden kann. Sie kann j edoch auf verschiedene Weisen genauer bestimmt wer den, und diese Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zur politischen Praxis oder zur richtigen politischen Praxis kann viele Formen annehmen. Gerade zur Zeit Platons und unter den Nachfolgern von So krates, zu denen Platon selbst gehörte, findet man andere Wei sen, die Beziehung zur Politik zu bestimmen, die notwendige, unerläßliche, hartnäckige, eigensinnige B eziehung des philo sophischen Diskurses oder des philosophischen Lebens zur politischen Praxis. Betrachten wir j enen anderen Aspekt des sokratischen Denkens, den Aspekt, der so weit wie nur mög lich dem Platonismus entgegengesetzt ist, d. h. die Kyniker. Im Kynismus gibt es ebenfalls eine Beziehung, und zwar eine sehr bezeichnende, sehr betonte Beziehung zwischen dem philoso phischen Wahrsprechen und der politischen Praxis, aber in ei nem ganz anderen Modus. Es handelt sich, wie Sie wissen, um den Modus der Konfrontation, des Spotts, der Verhöhnung und der Behauptung einer notwendigen Unvereinbarkeit. Man muß sich daran erinnern, daß es neben Platon, der zu Diony sios geht, um dem Tyrannen Ratschläge zu erteilen, Diogenes gab. Diogenes, der von Philipp nach der Schlacht von Charo nia gefangengenommen wurde, steht dem Monarchen, dem
makedonischen Herrscher gegenüber. Und dieser sagt zu ihm: Wer bist du also ? Diogenes antwortet: »Ein Erkunder deiner Unersättlichkeit.« 1 Oder auch der berühmte Dialog desselben Diogenes mit dem Sohn Philipps, mit Alexander. Auch hier dieselbe Frage »Wer bist du ? « . Dieses Mal ist es j edoch Dioge nes, der die Frage an Alexander stellt. Und Alexander antwor tet: Ich bin der große König Alexander. Darauf antwortet Dio genes: Ich werde dir sagen, wer ich bin. Ich bin Diogenes, der Hund.2 Auf diese Weise wird die absolute Unvereinbarkeit der philosophischen und der königlichen Persönlichkeit behaup tet, genau im Gegensatz zu dem, was Platon vorschlägt. Was könnte weiter entfernt sein von dem Philosophenkönig, dem Philosoph, der König ist, als diese typisch, genau und Wort für Wort antiplatonische Replik ? Ich bin der große König Alexan der. Ich bin Diogenes, der Hund. Ohne anzugeben, ob die Er klärung Alexander oder ob sie nur im allgemeinen gegeben wurde, berichtet j edenfalls Diagenes Laertius, daß Diogenes, der Kyniker, seinen Aphorismus »ich bin ein Hund« dadurch erklärte, daß er sagte: »Die mir eine Gabe reichen, umwedle ich, die mir nichts geben, belle ich an, und die Schurken beiße ich.«3 Sie sehen nun das interessante Spiel zwischen der philo sophischen Behauptung (der philosophischen parrhesia) und der politischen Macht. Die philosophische parrhesia von Dio genes besteht im wesentlichen darin, sich in seiner natürlichen Nacktheit zu zeigen, außerhalb aller Konventionen und außer halb aller Gesetze, die künstlich vom Staat auferlegt werden. Die parrhesia von Diagenes liegt also in seiner Lebensweise selbst. Sie manifestiert sich auch in jenem Diskurs der Beleidi gung, der Anprangerung im Hinblick auf die Macht (Philipps Unersättlichkeit usw.). Nun, diese parrhesia zeigt sich gegen über der politischen Macht in einer komplexen Beziehung, weil Diagenes einerseits, indem er sagt, daß er ein Hund sei, auch sagt, daß er »diej enigen umwedelt, die ihm geben« . Folg lich akzeptiert er, indem er die umwedelt, die ihm Geschenke geben, eine bestimmte Form der politischen Macht. Er beugt sich ihr und erkennt sie an. Gleichzeitig bellt er j ene an, die ihm
nichts geben, und beißt diej enigen, die böse sind. Gegenüber der Macht, die er einerseits akzeptiert, fühlt er sich also frei, offen und mit Nachdruck zu sagen, was er ist, was er will, was er braucht, was wahr und was falsch ist, was gerecht und was ungerecht ist. Wir haben hier ein Spiel der philosophischen parrhesia, ein Spiel des philosophischen Wahrsprechens, ein Spiel des philosophischen Wahr-Seins gegenüber der Macht ausübung und der Identifikation einer Person mit ihrer Macht (ich bin der König Alexander), ein Spiel, das offensichtlich sehr weit von demj enigen Platons entfernt ist. Wieder sehr schema tisch können wir sagen, daß wir im Fall der Kyniker eine Weise der Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zum poli tischen Handeln haben, die sich in Gestalt der Unvereinbar keit, der Herausforderung und des Spotts vollzieht, während wir bei Platon eine B eziehung des philosophischen Wahrspre chens zur politischen Praxis haben, die eher mit Ü berschnei dung, mit Pädagogik und mit der Identifikation des philoso phierenden Subjekts und des machtausübenden Subj ekts zu tun hat. Es bleibt noch zu sehen, wie diese Beziehung sich ge staltet, doch in jedem Fall hat die Philosophie mit ihrem Wahr sprechen ihre Rolle nicht notwendig oder zwangsläufig als Aussage darüber, was das politische Handeln sein soll, nicht als politisches Programm, nicht als intrinsische politische Ratio nalität in der Politik zu spielen. Man könnte auch sagen: Der philosophische Diskurs in seiner Wahrheit, innerhalb des Spiels, das er notwendigerweise mit der Politik betreibt, um darin seine eigene Wahrheit zu finden, hat nicht vorzuzeichnen, was das politische Handeln sein soll. Er sagt nicht das Wahre des politischen Handelns, er sagt nicht die Wahrheit für das politische Handeln, sondern er sagt die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln, in bezug auf die Ausübung der Politik, in bezug auf die politische Persönlich keit. Genau das nenne ich ein wiederkehrendes, beständiges und grundlegendes Merkmal des Verhältnisses der Philosophie zur Politik. Mir scheint, daß diese Behauptung, die an diesem historischen Ort, an den wir uns stellen, schon sehr deutlich
wahrnehmbar ist, im Verlauf der gesamten Geschichte der Be ziehungen zwischen Philosophie und Politik wahr bleibt und ständig Gefahr läuft, nicht wahr zu sein. Wenn man j edoch die se Beziehungen wirklich verstehen will, muß man im Gedächt nis behalten, daß, wie gesagt, die Philosophie in bezug auf die Politik die Wahrheit zu sagen hat, während sie nichts darüber zu sagen hat, was die Politik wirklich tun soll. Wenn Sie eini ge der großen Formen des philosophischen Wahrsprechens in bezug auf die Politik in der Moderne betrachten, läßt sich dasselbe sagen. Die philosophische Theorie der Staatshoheit, die Philosophie der Grundrechte, die Philosophie als Gesell schaftskritik, alle diese Formen von Philosophie, alle diese Formen der philosophischen Veridiktion haben keineswegs zu sagen, wie regiert werden soll, welche Entscheidungen zu tref fen sind, welche Gesetze angenommen und welche Institutio nen eingerichtet werden sollen. Umgekehrt ist es j edoch für den Beweis der Wirklichkeit einer Philosophie unerläßlich heute wie zu Platons Zeiten -, daß sie die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln sagt, daß sie die Wahrheit entweder im Namen einer kritischen Analyse oder im Namen einer Phi losophie, einer Auffassung von Rechten oder im Namen einer Vorstellung der Staatshoheit usw. sagt. Für jede Philosophie ist es wesentlich, in bezug auf die Politik die Wahrheit sagen zu können. Für j ede politische Praxis ist es wichtig, in einem stän digen Verhältnis zu diesem Wahrsprechen zu stehen, wobei je doch vorausgesetzt ist, daß das Wahrsprechen der Philosophie nicht mit dem zusammenfällt, was die politische Rationalität sein kann und soll. Das philosophische Wahrsprechen ist nicht mit der politischen Rationalität identisch, aber es ist für eine politische Rationalität wesentlich, in einem bestimmten, noch zu bestimmenden Verhältnis zum philosophischen Wahrspre chen zu stehen, wie es für das philosophische Wahrsprechen wichtig ist, seine Wirklichkeit in bezug auf eine politische Pra xis zu beweisen. Ich glaube j edoch, daß diese notwendige und grundlegende Beziehung, die für die Philosophie und die politische Praxis im
Abendland zweifellos konstitutiv ist, ein für unsere Kultur ab solut einzigartiges Phänomen ist. Die Koexistenz und die Kor relation der politischen Praxis und des philosophischen Wahr sprechens dürfen niemals als erworbene Kongruenz oder als zu erwerbende Kongruenz verstanden werden. Mir scheint, daß das Unheil und die Zweideutigkeiten der Beziehungen zwi schen Philosophie und Politik zweifellos mit der Tatsache zu tun haben und hatten, daß die philosophische Veridiktion sich manchmal verstehen wollte als . . . , oder besser, daß man ihr Forderungen auferlegt hat, die in Begriffen einer Kongruenz mit den Inhalten einer politischen Rationalität formuliert wur den, und daß umgekehrt die Inhalte einer politischen Rationa lität ihre Autorität von der Tatsache ableiten wollten, daß sie sich als philosophische Lehre gebärdeten oder auf eine philo sophische Lehre beriefen. [ .] Philosophie und Politik sollen in einer Beziehung, in einer Korrelation stehen, niemals aber in einer Kongruenz.'� Das ist, wenn Sie so wollen, das allgemeine Thema, das man aus diesem Text Platons herauslesen kann. Wie gesagt, diese Ratschläge sind nicht vergleichbar mit den Formen politischer Rationalität, die Thukydides entwickelt. Das hat aber einen einfachen Grund, nämlich den, daß es für Platon und, wie mir scheint, für die abendländische Philoso phie im allgemeinen in Wahrheit niemals darum ging, den Poli tikern zu sagen, was sie zu tun haben. Es ging ihnen vielmehr immer darum, gegenüber den Politikern, gegenüber der politi schen Praxis, gegenüber der Politik als philosophischer Dis kurs und als philosophische Veridiktion zu bestehen. Das ist das erste Thema. Das zweite Thema, das man diesen platonischen Texten, die ich in der ersten Stunde vorgelesen habe, entnehmen kann, ist fol gendes: Man sieht, wie sich darin eine sehr besondere histori sche Lage abzeichnet. Diese ist zwar einzigartig, sie wird aber lange Zeit dominieren, und zwar, wie ich schon gesagt habe, bis zum Ende der Antike. In der Tat habe ich schon angedeutet, . .
,,. Foucault begann den Satz mit: Philosophie und Politik müssen kongruent sein.
daß bei diesen Ratschlägen - und vor allem b ei der ersten Folge von Ratschlägen, die Platon Dionysios erteilt - der Stellenwert, der der Organisation des Staats vorbehalten ist, der Stellenwert der Verfassung, der Gesetze, der Gerichte, ziemlich beschränkt ist und nicht von äußerster Wichtigkeit zu sein scheint. Was dagegen bei den Ratschlägen, die Platon Dionysios und dann den Freunden Dions erteilt, wichtig und dominierend zu sein scheint, ist ein Problem, das mit den Bündnissen zu tun hat, mit den Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten, mit den Beziehungen zwischen den verschiedenen föderierten Staaten, zwischen der Metropole und den Kolonien, mit der Art und Weise, wie die unterworfenen Städte regiert werden sollen, mit der Frage, wem die Macht übertragen werden soll, welche Ar ten von B eziehungen zwischen denen bestehen, die in der Staatsmetropole befehlen, und den anderen. Das bedeutet, daß die angesprochenen Probleme zum größten Teil Probleme des Reiches und Probleme der Monarchie sind. Zweifellos betref fen diese Probleme Sizilien, d. h. eine Welt, die der klassischen hellenischen Welt sehr nahesteht, die um kleine Einheiten, die Stadtstaaten, herum organisiert ist mit ihren Rivalitäten, Bünd nissen, ihrer Föderation und ihrem Kolonisierungssystem. Ich glaube aber auch, daß es sich um Probleme handelt, die zu der Zeit, als Platon schrieb, zwar noch undeutlich und ohne daß die Dinge schon völlig entschieden oder vorgezeichnet wären, im Begriff stehen, zu wirklichen politischen Problemen der hellenischen Welt und a fortiori der römischen Welt zu werden. Seit der Bildung der großen hellenischen Monarchien und ge wiß seit der Einrichtung eines römischen Kaiserreiches im ge samten Umkreis des Mittelmeers sieht man deutlich, daß das konkrete politische Problem, das übrigens ein ganz präzises war, das Problem sein wird, welche Art von politischer Einheit organisiert werden soll, so daß von da an der Stadtstaat, die Form, das Modell des Stadtstaats natürlich nicht mehr einem Typ der Machtausübung entsprechen kann, der geographisch, was den Raum und die Bevölkerung angeht, diese Grenzen un endlich überschreiten muß. Wie läßt sich also die politische
Einheit denken ? Der Körper des Stadtstaats ist nicht mehr das Modell. Die politische Einheit läßt sich nicht mehr als Körper des Stadtstaats oder der Bürger denken. Wie wird man also die politische Einheit denken können ? Zweitens, ein weiteres Problem, das sich unmittelbar an dieses anschließt, ist folgendes: Wie kann die Macht, die in ihren Ein heiten nur als eine Art von Monarchie vorgestellt wurde, wie kann diese Macht, die in einem bestimmten Sinne in den Hän den des Monarchen liegt, auf der gesamten Fläche dieser gro ßen politischen Einheit verteilt, aufgeteilt und hierarchisch geordnet werden ? Was ist der Existenzmodus dieser neuen po litischen Einheiten, die sich gerade abzeichnen, was ist der Mo dus der Aufteilung, der Verteilung, der Differenzierung der Macht innerhalb dieser Einheiten ? Das sind, wie Sie sehen, die politischen Probleme, die in den Texten Platons, die ich vorge lesen habe, zutage treten und die sich zu j ener Zeit natürlich in der Situation, in der sich Syrakus befand, zu stellen beginnen und sichtbar werden, die aber das ganze politische Denken bis zum Römischen Reich dominieren werden. Ich habe vorhin an die Rede von Maecenas an Augustus erinnert, wie sie von Cas sius Dio berichtet wird,4 an diese Rede, diesen Typ von politi scher Reflexion - welchen man auch bei Dion Chrysostomos in bezug auf den Monarchen finden wird5 und ebenso bei Plut arch -, das ganze politische Denken des r . und 2 . Jahrhunderts unserer Zeitrechnung dreht sich fortwährend um folgendes Problem: Was ist die Seinsweise dieser neuen politischen Ein heiten, die sich oberhalb der Stadtstaaten bilden, ohne sie völ lig zu zerstören, die jedoch einer anderen Ordnung als diese angehören ? Und zweitens: Was ist die Art von Macht, die der Monarch dort ausüben soll ? Das ist, wenn Sie so wollen, die politische Bühne, die sich für die griechisch-römische Welt ab zuzeichnen beginnt. Ich möchte keinesfalls die scharfsinnige, artikulierte, dichte und reichhaltige politische Rationalität von Thukydides in bezug auf die kleinen griechischen Stadtstaaten dem viel Schwankenderen platonischen Denken entgegenset zen, das sich an eine historische Wirklichkeit richtete, die gera-
de im Entstehen begriffen war. Ich glaube nicht, daß dieser Ge gensatz interessant ist. Mir scheint j edoch, daß das, was man in diesem platonischen Diskurs, in dem es um die Beziehung zwi schen der Philosophie und Politik geht, skizziert findet, neue politische Wirklichkeiten sind, jene neuen Wirklichkeiten näm lich, die dauerhaft sein werden, die noch acht Jahrhunderte bis zum Ende des Römischen Reiches fortbestehen werden. Diese neuen politischen Wirklichkeiten sind zum einen das Reich und zum anderen der Fürst oder der Monarch. Der dritte Punkt, den ich hervorheben möchte - der erste war das wiederkehrende Prinzip der nicht kongruenten Korrela tion zwischen politischer Praxis und Philosophie im ganzen abendländischen Denken; der zweite war jene neue historische und politische Lage, die sich zu der Zeit, als Platon schrieb, ab zeichnet -, besteht darin, daß man, wenn man diese beiden Dinge ins Spiel bringt, genau versteht, was Platon meint, wenn er darauf besteht, daß der Philosoph mit dem Herrscher spre chen soll oder, besser noch, daß der Herrscher selbst Philosoph sein soll. Wenn, wie ich vorhin gesagt habe, der philosophische Diskurs und die politische Praxis in einer bestimmten Bezie hung stehen sollen, die j edoch keine Beziehung der Kongruenz ist, was ist dann diese Beziehung für Platon, und wo wird sie hergestellt ? Man könnte die Frage auch so stellen: Wo vollzieht sich die Bewährungsprobe, durch die die Philosophie, wie ich letztes Mal sagte, sich ihre Wirklichkeit sichert, so daß sie nicht bloß Iogos ist ? Wo geschieht das Gegenübertreten von Philo sophie und Politik, das sowohl ihre notwendige B eziehung als auch ihre Inkongruenz beinhaltet ? Nun, ich glaube, daß hier ein großes Problem liegt. Ich habe vorhin die Lösung der Ky niker erwähnt, die im Grunde die Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der Ausübung politischer Macht an einen öffentlichen Ort verlegten. Die Kyniker sind Männer der Straße, Männer der agora. Sie sind Männer des öf fentlichen Platzes, aber auch Männer der Meinung. Der Ort der B eziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der Ausübung politischer Macht, die nun in den Händen
des Monarchen liegt, dieser neuen Persönlichkeit, dieser zu j ener Zeit neuen politischen Wirklichkeit, nahm die Gestalt der Konfrontation durch die Herausforderung und den Spott an, wofür Diogenes gegenüber Alexander ein Beispiel gab. Wo wird für Platon der Ort dieser notwendigen und inkongruen ten Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der politischen Praxis sein ? Nicht auf dem öffentlichen Platz. In diesem Sinne sind die Kyniker noch Männer des Stadtstaats, die bis ins Römische Reich hinein die Traditionen des Stadtstaats, des öffentlichen Platzes usw. fortführen. Für Platon ist der Ort dieser inkongruenten Beziehung nicht der öffentliche Platz, sondern die Seele des Fürsten. Hier rühren wir an etwas, das in der Geschichte des politischen Denkens, der Philosophie und der Beziehungen zwischen Poli tik und Philosophie im Abendland sehr wichtig ist. Mir scheint, daß die Polarität zwischen Kynismus und Platonismus etwas Wichtiges darstellte, was sehr früh schon spürbar, ausdrücklich und auch dauerhaft war. Platon und Diogenes sind einander entgegengesetzt. Diogenes Laertius bezeugt übrigens diesen Gegensatz: Diogenes, der Kyniker, wurde eines Tages von Pla ton beim Kohlwaschen beobachtet. Platon sieht ihn seinen Kohl abspülen und sagt zu ihm, indem er daran erinnert, daß Dionysios nach Diogenes gerufen hatte, daß aber Diogenes sich dem Ruf des Dionysios verweigert hatte: Wenn du mit Dionysios höflicher umgegangen wärest, bräuehrest du keinen Kohl zu waschen. Worauf Diogenes ihm antwortet: Wenn du die Gewohnheit angenommen hättest, deinen Kohl zu wa schen, »So hättest du dich nicht dem Dionysios dienstbar ge macht. «6 Nun, diese Anekdote von Diogenes Laertius ist, glau be ich, sehr wichtig und sehr ernst. Sie zeigt die b eiden Pole an, an denen schon sehr früh, seit dem 4· Jahrhundert, das Problem des Aufeinandertreffens zwischen einem philoso phischen Wahrsprechen und einer politischen Praxis zwei Ein satzorte gefunden hat: den öffentlichen Platz oder die Seele des Fürsten. Diese beiden Polaritäten ziehen sich durch die gesam te Geschichte des abendländischen Denkens. Soll sich der phi-
losophische Diskurs an die Seele des Fürsten wenden, um sie zu bilden ? Oder soll der wahre Diskurs der Philosophie auf dem öffentlichen Platz stattfinden und das Handeln des Für sten und das politische Handeln herausfordern, sich ihm ent gegenstellen, es verspotten und kritisieren ? Erinnern Sie sich an das, was wir in jenem Text über die Aufklärung gesehen hat ten, mit dem ich die diesjährige Vorlesung begonnen hatte. In seiner Theorie der Aufklärung versucht Kant, die beiden Din ge zu vereinen. Er versucht zu erklären, wie das philosophische Wahrsprechen gleichzeitig zwei Orte besitzt, die nicht nur mit einander vereinbar sind, sondern sich gegenseitig fordern: Ei nerseits hat das philosophische Wahrsprechen seinen Ort in der Ö ffentlichkeit; das philosophische Wahrsprechen hat aber auch seinen Ort in der Seele des Fürsten, wenn der Fürst ein aufgeklärter Fürst ist. Wir haben hier sozusagen einen Kanti schen Eklektizismus, der versucht zusammenzuhalten, was traditionell, seit der Geschichte mit dem Kohl zwischen Platon und Diogenes, das große Problem der B eziehungen zwischen Philosophie und Politik im Abendland war: Sollen sie auf dem öffentlichen Platz oder in der Seele des Fürsten stattfinden ? Kehren wir also zu Platon zurück, da er es ist, von dem wir sprechen. Es ist klar, daß sich für Platon die Beziehung zwi schen Philosophie und Politik in der Seele des Fürsten abspie len soll, aber es bleibt noch herauszufinden, wie diese Bezie hung eigentlich hergestellt wird. Sollte sie nicht die Gestalt der Kongruenz annehmen ? Wenn man sagt, daß der Fürst Philo soph sein soll, bedeutet das dann nicht, daß der Fürst nur auf der Grundlage eines philosophischen Wissens und philosophi scher Erkenntnisse, die ihm sagen, was zu tun sei, politische Entscheidungen treffen und als politischer Akteur handeln soll ? Nun, betrachten wir die Texte selbst, in denen Platon im VI I . Brief einerseits und im Staat andererseits von dieser Kon gruenz zwischen politischem Handeln und der Philosophie in der Seele des Prinzen spricht. Ich habe diese Passage letztes Mal zitiert, sie steht in 3 26b: »Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis ent-
weder die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Phi losophie [der griechische Text sagt genau: bevor die Gattung (to genas) j ener, die richtig und wahrhaft philosophieren; man kann das zwar mit >reinen und wahren Philosophen< überset zen, ich ziehe es j edoch vor, so nahe wie möglich an der ur sprünglichen Formulierung zu bleiben: daß die Gattung j ener, die richtig und wahrhaft philosophieren; M. F.] also zur Herr schaft im Staate gelangen oder bis die Inhaber der Regierungs gewalt in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschlie ßen. «7 Sie wissen, daß dieser Text nichts anderes als die Wiederho lung, das Echo, zwar mit einigen Variationen, aber doch das ge treue Echo dessen ist, was wir im Buch V des Staats bei 473 c finden - ein berühmter und grundlegender Text -, wo Platon schreibt (der Text des Staats wurde vor den Briefen geschrie ben): Es gibt kein Ende des Unglücks der Staaten und der Städ te (dasselbe Thema also: die Leiden der Menschen werden kein Ende finden; dort: die Leiden der Staaten werden kein Ende finden), >>wenn nicht die Philosophen in den Staaten Könige werden« oder >>die Könige, wie sie heute heißen, und Herr scher« (das ist die Ü bersetzung, die wir bei Vretska finden; dy nastai bedeutet eigentlich: diejenigen, die die Macht ausüben) >>echte und gute Philosophen werden« (auch hier sagt der grie chische Text: nicht auf authentische und hikanos, d. h. kompe tente Weise philosophieren) und >>wenn nicht in eine Hand zu sammenfallen die dynamis politike [die politische Macht; M. F.] kai philosophia (und die Philosophie).«8 Augenscheinlich ha ben wir die Bestimmung eines exakten Zusammenfallens. Die Philosop hen müssen Könige werden oder die Könige Philoso phen - was soll das heißen, wenn nicht, daß das, was im Herr scher Philosoph ist, ihm sagen wird, was er als Herrscher zu tun hat, und daß der Teil von ihm, der Herrscher ist, nichts an deres tun wird, als das, was ihm der philosophische Diskurs sagt, in Regierungshandlungen umzusetzen ? Tatsächlich aber, wenn Sie den Text anschauen - deshalb bestand ich auf einer
möglichst getreuen Ü bersetzung -, geht es nicht um eine Ent sprechung zwischen dem philosophischen Diskurs, dem phi losophischen Wissen und der politischen Praxis. Die Kongru enz, um die es geht, ist die Kongruenz zwischen denen, die die Philosophie praktizieren, die wahrhaft und kompetent philo sophieren, und denen, die die Macht ausüben. Was wichtig und zugespitzt ist und was von den beiden Texten zum Ausdruck gebracht wird, ist die Tatsache, daß derj enige, der philosophiert, auch derj enige sein soll, der die Macht aus übt. Aber hieraus, d. h. aus der Tatsache, daß derj enige, der die Philosophie praktiziert, zugleich auch derjenige ist, der die Macht ausübt, und daß der, der die Macht ausübt, auch jemand ist, der die Philosophie praktiziert, kann man überhaupt nicht schließen, daß das, was er von der Philosophie weiß, das Ge setz seines Handeins und seiner politischen Entscheidungen sein soll. Wichtig und erforderlich ist, daß das Subj ekt der po litischen Macht auch das Subjekt ist, das philosophisch tätig ist. Nun werden Sie mir aber sagen: Worin besteht da der Un terschied, und was bedeutet diese Identität zwischen dem Sub jekt der politischen Macht und dem Subj ekt der philosophi schen Praxis ? Warum soll man verlangen, daß derjenige, der die Macht ausübt, auch derj enige ist, der die Philosophie prak tiziert, wenn die Philosophie nicht in der Lage ist, dem, der sei ne Macht ausübt, zu sagen, was er tun soll ? Nun, ich glaube, daß die Antwort auf diese Frage in Folgendem liegt: Was in Frage steht, wie Sie deutlich sehen, ist die Philosophie als philo sophein. Der Text sagt es selbst: Die Regierenden müssen auch diejenigen sein, die philosophieren, die die Philosophie prakti zieren. Was ist aber diese Praxis der Philosophie für Platon ? Diese Praxis der Philosophie ist vor allem, wesentlich und im Grunde eine Weise, wie sich das Individuum als Subjekt gemäß einem bestimmten Seinsmodus konstituiert. Dieser Seinsmo dus des philosophierenden Subjekts ist es nun, der den Seins modus des Subjekts konstituieren soll, das die Macht ausübt. Es geht also nicht um die Kongruenz eines philosophischen Wissens mit einer politischen Rationalität, sondern um die 371
Identität zwischen dem Seinsmodus des philosophierenden Subj ekts und dem Seinsmodus des Subj ekts, das die Politik praktiziert. Wenn die Könige Philosophen s ein sollen, dann nicht deshalb, weil sie ihr philosophisches Wissen darauf befra gen könnten, was unter diesen und j enen Umständen zu tun sei. Es bedeutet vielmehr folgendes: Um einerseits ordentlich regieren zu können, muß man andererseits eine b estimmte Beziehung der Praxis zur Philosophie haben; der Schnittpunkt zwischen » ordentlich regieren« und »die Philosophie prakti zieren« wird dabei von ein und demselben Subjekt eingenom men. Es ist ein und dasselbe Subjekt, das einerseits ordentlich regieren und andererseits eine Beziehung zur Philosophie ha ben soll. Sie sehen, daß es kein Zusammenfallen der Inhalte gibt, eine Isomorphie der Rationalitäten, eine Identität des philosophischen und des politischen Diskurses, sondern eine Identität des philosophierenden Subjekts mit dem regierenden Subj ekt, was natürlich das Auseinandergehen oder die Unab hängigkeit der Achse, auf der man philosophiert, von der Ach se, auf der man die Politik praktiziert, offenläßt. Schließlich läuft das darauf hinaus, daß die Seele des Fürsten sich selbst ge mäß der wahren Philosophie regieren können muß, um die an deren gemäß einer gerechten Politik zu regieren. Wir können, und damit werde ich die heutige Vorlesung ab schließen, folgendes sagen: Politik ist, wie wir letztes Mal ge sehen haben, dasj enige, wodurch, auf dessen Grundlage und in Beziehung worauf das philosophische Wahrsprechen seine Wirklichkeit finden muß. Was ich Ihnen heute zeigen wollte, und zwar immer noch mit Bezug auf den VII. Brief, dessen Lektüre wir nun beenden, ist, daß das Philosophieren, das in seiner Beziehung zur Politik':· s eine Wirklichkeit findet, der Politik nicht vorschreiben darf, was sie zu tun hat. Sie soll für den Regierenden, den Politiker festsetzen, was er zu sein hat. Es geht um das Sein des Politikers, um seinen Seinsmodus. Die Philosophie wird also insofern ihre Wirklichkeit aus ihrer Be�- Im Manuskript steht »philosophie« (A. d. Ü.) 3 72
ziehung zur Politik schöpfen, als sie bestimmen kann - auf effektive Weise oder nicht, darin besteht ihre Bewährungspro be -, was der Seinsmodus des Politikers ist. Die Frage, die sich stellt, ist daher folgende: Was ist der Seinsmodus dessen, der die Macht in seinem Zusammenfallen mit dem philosophieren den Subj ekt ausübt ? Mir scheint, daß wir hier ein Problem haben, das in der gesamten Geschichte der Beziehungen zwi schen der Philosophie und der Politik in der Antike von ab solut grundlegender B edeutung war. Es genügt übrigens, Mark Aurel zu lesen, um deutlich zu sehen, daß sich ihm genau dieses Problem stellte9 und daß er sich dessen vollkommen bewußt war. Mark Aurel verstand sich als Philosophenherrscher und war sechs Jahrhunderte oder fünfeinhalb Jahrhunderte nach Platon der Philosophenkaiser. Mark Aurel ist genau das, woran Platon fünfeinhalb Jahrhunderte zuvor dachte: ein Mann, der die Macht in einer politischen Einheit auszuüben hat, die un endlich viel größer ist als die Einheit eines Stadtstaats. Folglich stellt sich im Herzen oder Zentrum des Imperiums ein Pro blem für den Monarchen, der nicht nur Herr über das Imperi um, sondern Herr über sich selbst sein soll. Mark Aurel war j e ner ideale Herrscher, aber nichts in den Texten Mark Aurels zeigt, daß er die Rationalität jemals der Philosophie entlehnt hätte, die in der Lage gewesen wäre, ihm sein politisches Ver halten im Hinblick auf diese oder jene Situation zu diktieren, sondern er hat fortwährend von der Philosophie verlangt, ihm zu sagen, was es bedeute, Herrscher zu sein. Das heißt, daß er die Philosophie gerade auf seinen Seinsmodus als Herrscher befragt hat. Kurz, was uns als Ort der grundlegenden Bezie hungen zwischen Philosophie und Politik aus diesen Texten Platons entgegentritt, als Ort, an dem sich die B eziehungen zwischen Philosophie und Politik knüpfen - Beziehungen, die, wie gesagt, solche der Ü berschneidung und nicht der Kongru enz sind -, ist die Seele des Fürsten. Dieses Problem und die Probleme, die mit der Frage nach der Seele des Fürsten verbun den sind, werde ich Ihnen nächstes Mal zu erklären versuchen.
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Anmerkungen I
Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch VI, § 43 , übers. v. Otto Apelt, Berlin 1 9 5 5 . S. 3 1 6. 2 »Als Alexander einst bei einem Zusammentreffen zu ihm sagte: >Ich bin Alexander, der große König<, sagte er: >Und ich bin Diogenes, der Hund< << (ebd., Buch VI, § 6o, S. 3 24) . 3 Ebd., S. 3 2 5 · 4 Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch LII, Kap . 1 4-40, Düsseldorf 2007. 5 Vgl. die Reden von Dion Chrysostomos >>Über das Königtum<<, in: Sämtliche Reden, eingel., übers. u. er!. von Winfried EHiger, Zürich u. Stuttgart 1 967. 6 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch VI, § 58, a. a. 0., S. 3 2 3 · 7 Platon, VII. Brief, 3 26b, a . a . 0 . , S. 4 8 . 8 ,, Wenn nicht die Philosophen in den Staaten Könige werden oder die Könige, wie sie heute heißen, und Herrscher echte und gute Philoso phen (philosophesousi gnesios te kai hikanos) und wenn nicht in eine Hand zusammenfallen politische Macht und Philosophie (dynamis te politike kai philosophia), und wenn nicht die Vielzahl derer, die sich heu te auf Grund ihrer Anlage nur der einen von zwei Aufgaben widmen, mit Gewalt davon ferngehalten wird, gibt es mein Glaukon, kein Ende des Unglücks in den Staaten, ja nicht einmal im ganzen Menschenge schlecht<< (Platon, Der Staat, Buch V, 473c-d, übers. von Kar! Vretska, a. a. O., S. z 6 5 ) . 9 Vgl. zu diesem Punkt d i e Vorlesung vom 3 · Februar 1 9 82, i n : Herme neutik des Subjekts, a. a. 0., S. 2 5 3 -2 5 6.
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2 . März 1 9 8 3 , erste Stunde) Wiederholende Bemerkungen zur politischen parrhesia. - Entwicklungs punkte der politischen parrhesia. Die großen Fragen der alten Philoso phie. - Studie eines Textes von Lukian. - Die Ontologie der Veridiktions diskurse. - Die Rede des Sokrates in der Apologie. Das Paradox der politischen Nichteinmischung des Sokrates. -
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Zu Beginn möchte ich heute einige Etappen des zurückgeleg ten Weges verdeutlichen [ . . . ':" ] . Der Leitfaden, den ich für die Vorlesung dieses Jahr gewählt hatte, war der Begriff der parrhesia, ein komplexer Begriff, der, wenn man ihn in seinen etymologischen oder zumindest in sei nen gängigen Bedeutungen versteht, auf zwei Prinzipien zu verweisen scheint: einerseits auf das Prinzip des freien Zugangs aller zur Rede; und andererseits auf das Prinzip der Freimütig keit, mit der man alles sagt. Bestünde dann die parrhesia alles in allem nicht darin, daß alle alles sagen können ? Das wird in gewissem Sinne von dem Wort selbst nahegelegt. Tatsächlich haben wir aber gesehen, wie Sie sich erinnern, daß die Dinge etwas komplizierter lagen. Zunächst weil die parrhesia nicht identisch mit der Redefreiheit ist, der Redefreiheit, die jeder mann eingeräumt werden mag. Tatsächlich erscheint die par rhesia als eine, wenn schon nicht gesetzlich gesicherte, so doch zumindest gewohnheitsmäßige Einrichtung, die an Privilegien des Rederechts gebunden ist. Zweitens stellt es sich heraus, daß die parrhesia auch nicht nur die Freiheit ist, alles zu sagen, son dern einerseits eine Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, und andererseits eine Verpflichtung, die von der Gefahr begleitet wird, die das Wahrsprechen mit sich bringt. Zur Analyse dieser '-· M . F. : Sie erinnern sich, daß wir uns entschieden hatten . . . Ich habe den
Eindruck, daß die Tonqualität noch schrecklicher als sonst ist . . . Wir werden versuchen, daran etwas zu ändern . . . Ist es so besser ? Ja ? Gibt es immer noch Vibrationen ? Warten Sie . . . Und so ? In Ordnung ? Die Callas ! 375
verschiedenen Dimensionen der parrhesia hatte ich mich auf zwei Texte bezogen. Der erste, den ich ausführlicher unter sucht hatte, war Euripides' Theaterstück Ion; der zweite war der Text, in dem Thukydides zeigt, wie Perikles von seiner par rhesia gegenüber dem Volk Athens Gebrauch macht, als er an läßlich der Frage von Krieg oder Frieden mit Sparta das Wort zu ergreifen hatte. Anhand dieser beiden Texte schien es, daß die parrhesia erstens an eine funktionierende Demokratie ge bunden war. Sie erinnern sich, daß Ion der parrhesia bedurfte, um nach Athen zurückkehren zu können und dort das po litische Grundrecht Athens zu begründen. Andererseits mach te Perikles von seiner parrhesia Thukydides zeigte das mit Nachdruck - innerhalb der Regeln der allgemeinen Funktions weise der Demokratie Gebrauch. Die parrhesia begründet die Demokratie, und die Demokratie ist der Ort der parrhesia. Zu erst haben wir also diese zirkuläre Zusammengehörigkeit von parrhesia und Demokratie. Zweitens hatte ich versucht, Ihnen zu zeigen, wie diese parrhe sia sodann eine präzise institutionelle Struktur erfordert, näm lich die der isegoria, d. h. das Recht, das Wort zu ergreifen, das tatsächlich durch das Gesetz, durch die Verfassung, durch die Form der politeia selbst allen Bürgern eingeräumt wird. Sie er innern sich, daß Ion nicht als uneheliches Kind nach Athen zu rückkehren wollte, weil er dann nicht das Recht, das gleiche Recht - das nur den Bürgern, aber allen Bürgern zuerkannt wurde - gehabt hätte, das Wort zu ergreifen. Und Perikles er griff das Wort erst, als alle anderen Bürger oder zumindest j ene, die das Wort ergreifen wollten, ihre Rechte tatsächlich geltend gemacht hatten. Perikles' Recht ist also ein Bestandteil dieses Spiels der isegoria. Das war der zweite Punkt. Der dritte Punkt besteht darin, daß, selbst wenn die parrhesia Bestandteil des egalitären Bereichs der isegoria ist, sie die Aus übung eines bestimmten Einflusses impliziert, nämlich eines politischen Einflusses, der von den einen auf die anderen aus geübt wird. Wenn Ion die parrhesia haben wollte, dann nicht bloß, um ein Bürger wie alle anderen zu sein, sondern um in -
den proton zygon (in den ersten Rang) der Bürger zu gelangen. Und wenn Perikles das Wort ergriff und dieses Wort dann auch die bekannten Wirkungen hatte, dann deshalb - daran erinnert Thukydides -, weil Perikles der erste Bürger Athens war. Das ist das dritte Merkmal der parrhesia. Schließlich fand, wie Sie sich erinnern, die parrhesia inner halb eines agonistischen Feldes statt, wo beständig die Gefahr herrschte, die die Ausübung der wahren Rede im Bereich der Politik mit sich bringt. Ion erwähnte den Neid des Volkes, den Neid der Mehrheit, den Neid der Zahlreicheren gegenüber je nen, die ihren Einfluß ausüben. Er erwähnte auch die Eifer sucht der Rivalen, die es nicht ertragen, daß einer von ihnen sich hervortut und Einfluß auf die anderen nimmt. Und Peri kles erwähnte zu Beginn seiner großen Rede an die Athener, wie die Niederlage Athens aussehen könnte. Und er verlangte, daß man im Falle des Mißerfolgs genauso zu ihm halte wie im Falle des Sieges. Das sind die vier Punkte, die vier Merkmale der parrhesia, wie sie in den beiden Texten erschien, im Text des Tragikers und im Text des Historikers. Im Ausgang von dieser Analyse scheint mir nun, daß wir eine Reihe von Verschiebungen, von Verwandlungen um diesen Begriff der parrhesia herum sehen konnten, und zwar in Texten, die aus der ersten Hälfte des 4· Jahrhunderts stammen, d. h. die später geschrieben wurden als die von Euripides oder sich j edenfalls auf eine spätere Situa tion als die beziehen, auf die sich Thukydides bezog. Thukydi des bezog sich auf die Situation Athens am Ende des 5 - Jahr hunderts. Euripides schrieb ebenfalls in jener Zeit. Mit Platon, Xenophon und Isokrates haben wir Leute, die in der ersten Hälfte des 4· Jahrhunderts schreiben und die sich auf die dama lige Situation beziehen. Was sehen wir da ? Wir sehen, daß es in diesen vier Punkten recht bemerkenswerte Veränderungen des Begriffs der parrhesia gibt. Erstens wird der Begriff verallgemeinert in dem Sinne, daß die parrhesia, die Verpflichtung und das Risiko, die Wahrheit im Bereich der Politik zu sagen, nicht bloß und ausschließlich mit
der Funktionsweise der Demokratie verbunden erscheint. Die parrhesia findet ihren Ort, oder vielmehr soll sie sich ihren Ort schaffen, in verschiedenen Regierungsformen, ob es sich nun um demokratische, autokratische, oligarchische oder monar chische Regierungsformen handelt. Die Herrscher sowie das Volk bedürfen der parrhesia. Und die guten Herrscher (das Beispiel von Kyros bei Xenophon und bei Platon, das Beispiel von Nikokles bei Isokrates) sollen dem Wahrsprechen ihrer Berater einen Platz einräumen, so wie die weisen Völker j e nen gebührend Gehör schenken, die ihnen gegenüber von der parrhesia Gebrauch machen. Es gibt also eine Verallgemeine rung des politischen Bereichs derparrhesia, oder sagen wir noch schematischer, daß die parrhesia, das Wahrsprechen wie eine notwendige und universelle, notwendig universelle Funktion im Bereich der Politik erscheint, wie auch immer die j eweilige politeia beschaffen sein mag. Die Politik, wie auch immer sie ausgeübt wird, durch das Volk, durch wenige oder durch eine einzige Person, bedarf dieser parrhesia. Das ist die erste Ver schiebung. Die zweite Verschiebung besteht sozusagen im Ü bergang des Begriffs zu einer gewissen Zweideutigkeit, einer D oppeldeu tigkeit des Werts, als ob der unmittelbar und eindeutig positive Wert der parrhesia, wie sie bei Euripides oder bei Thukydides in der Person Perikles' erscheint, sich einzutrüben beginnt. Die Funktionsweise der parrhesia erscheint in der Tat mit einer Reihe von Schwierigkeiten behaftet, und das übrigens unab hängig davon, ob es sich um eine demokratische oder um eine autokratische Regierung handelt. Zuerst wird durch die Tatsa che, daß die parrhesia allen, die das Wort ergreifen wollen, auch die Möglichkeit dazu gibt, dem Schlechtesten wie dem Besten, die Möglichkeit zur Rede einräumt. Zweitens, wenn das Wahr sprechen bei der parrhesia ein Risiko darstellt, wenn es wirk lich gefährlich ist, zu sprechen und die Wahrheit zu sagen, sei es vor dem Volk oder vor dem Herrscher, wenn das Volk und der Herrscher sich nicht hinreichend in der Gewalt haben, um diej enigen nicht zu ängstigen, die die Wahrheit sagen wollen,
wenn sie sie zu sehr bedrohen, wenn sie sich maßlos über die ärgern>:-, die die Wahrheit sagen, wenn sie zum Maßhalten ge genüber den Parrhesiasten, die ihnen gegenübertreten, nicht in der Lage sind, nun, dann wird j edermann schweigen, weil alle Angst haben werden. Das Gesetz des Schweigens wird dann herrschen, Schweigen vor dem Volk oder Schweigen vor dem Herrscher. Oder vielmehr wird dieses Schweigen erfüllt sein, erfüllt von einem Diskurs, der jedoch ein falscher Diskurs und wie eine mimesis (Nachahmung), eine schlechte mimesis der parrhesia sein wird. Das heißt, daß man den Anschein erwek ken wird, daß das, was man dem Herrscher oder dem Volk vor trägt, wahr sei. Derj enige, der spricht, weiß j edoch ganz gut, daß das, was er sagt, nicht wahr ist. Er weiß nur, daß das, was er sagt, genau mit dem übereinstimmt, was das Volk oder der Herrscher denkt oder was das Volk oder der Herrscher hören will. Mit der Wiederholung der vorgefaßten Meinung des Volks oder des Herrschers und mit der Darstellung dieser Meinung als Wahrheit haben wir eine Praxis, die der Schatten der parrhe sia ist, ihre trübe und schlechte Nachahmung. Und das nennt man Schmeichelei. Dieser Gegensatz von Schmeichelei und parrhesia (Schmeichelei gegenüber dem Volk, Schmeichelei gegenüber dem Herrscher) kann am Ende sozusagen als bloß moralisierender Gegensatz ohne große Bedeutung erscheinen. Mir scheint, daß die Kategorie der parrhesia und die Kategorie der Schmeichelei zweifellos zwei große Kategorien des politi schen Denkens während der gesamten Antike sind. Ob es sich um die so bedeutsame Theorie der Schmeichelei bei Sokrates und Platon 1 handelt, ob man bei Plutarch die Techniken be trachtet, die dem sehr wichtigen Problem gewidmet waren, zwischen einem Schmeichler und einem Parrhesiasten zu un terscheiden,2 ob man schließlich die Beschreibungen der Hi storiker bezüglich der Kaiser, ihrer Berater, ihres Hofs usw. nimmt, so sieht man, daß letztlich acht Jahrhunderte lang das ,. M. F. sagte: wenn sie diej enigen, die angeblich die Wahrheit sagen, nicht zu
sehr bedrohen, wenn sie sich nicht maßlos ärgern. 379
Problem der Schmeichelei, die der parrhesia entgegengesetzt ist, ein politisches, theoretisches und praktisches Problem war, etwas, das während dieser acht Jahrhunderte zweifellos genau so wichtig war wie das sowohl theoretische als auch technische Problem der Pressefreiheit oder der Meinungsfreiheit in Ge sellschaften wie der unseren. Es gäbe eine ganze politische Ge schichte des Begriffs der Schmeichelei und aller technischer Probleme zu schreiben, die sich in der Antike um ihn gedreht haben. Darin besteht die zweite Transformation: im Ü bergang vom Begriff der parrhesia zum Register der Zweideutigkeit mit dem Problem ihres schlechten Doppelgängers, der Schmeiche lei. Die dritte Umwandlung, die sich in diesen Texten vom Beginn des 4· Jahrhunderts abzeichnet, ist, grob gesagt, die Aufspal tung der parrhesia, ihre Differenzierung, insofern die parrhe sia die Ion nach seiner Rückkehr nach Athen ausüben wollte und die Perikles vor dem athenischen Volk ausübte - eine Wei se war, frei seine Meinung zu Fragen der Organisation des Staates, der Regierung des Staates, der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden usw. kundzutun. Die parrhesia wurde also im Hinblick auf den gesamten Staat und in einem unmittelbar politischen Feld ausgeübt. In den Texten Xenophons, Isokra tes' und vor allem Platons sieht man j edoch, daß die parrhesia eine doppelte Aufgabe hat, insofern sie sich zumindest genauso sehr an die einzelnen wie an das Kollektiv, die polis usw. richten soll. Für die parrhesia geht es darum, die Aufgabe in Angriff zu nehmen, den einzelnen zu zeigen - ob es sich nun um Bürger handelt, die ihre Meinung abgeben sollen, oder um einen Herr scher, der seine Entscheidungen durchzusetzen hat -, wie die einen und der andere sich selbst regieren sollen, um den Staat richtig zu regieren. Anstatt bloß eine Meinung zu sein, die dem Staat gegeben wird, um ihn richtig zu regieren, erscheint die parrhesia als eine Tätigkeit, die darin besteht, sich an die Seele derer zu wenden, die regieren sollen, so daß sie sich selbst rich tig regieren, wodurch dann auch der Staat richtig regiert wird. Diese Zweiteilung oder diese Verschiebung des Zieles der par-
rhesia - von der Regierung, an die sie sich direkt richtete, zur Selbstregierung, um die anderen zu regieren - stellt, glaube ich, eine wichtige Verschiebung in der Geschichte des Begriffs der parrhesia dar. Von da an wird die parrhesia sowohl zu einem politischen Begriff - der das Problem aufwirft, wie man in nerhalb einer Regierung, gleichgültig ob sie demokratisch oder monarchisch sei, für dieses Wahrsprechen Raum schaffen kann - als auch zu einem philosophisch-moralischen Problem. Das erste ist philosophisch-politisch. Das zweite ist philoso phisch-moralisch, d. h. welche Mittel und Techniken sollen an gewendet werden, damit die Regierenden durch die parrhesia ihrer Berater sich selbst richtig regieren können ? Das ist die dritte Wandlung des Begriffs der parrhesia, ihre Aufspaltung oder die Verschiebung ihres Zieles. Die vierte wichtige Modifikation in der Problematisierung der parrhesia ist schließlich folgende: Als Ion oder Perikles gegen über dem Staat als Parrhesiasten auftraten, was waren sie da ? Sie waren Bürger, und zwar die ersten Bürger. Jetzt, da die par rhesia in einer b eliebigen Regierungsform ausgeübt werden soll und insofern sie andererseits in einer gefährlichen B ezie hung - die schwierig zu entwirren ist - mit ihrer Doppelgänge rio (der Schmeichelei) ausgeübt werden soll, wo sich folglich das Problem stellt, zu unterscheiden zwischen dem Wahren und dem Illusorischen, von dem Augenblick an, da die parrhe sia dem Volk nicht bloß Ratschläge über diese oder j ene zu tref fende Entscheidung zu geben, sondern die Seelen der Regie renden zu leiten hat, wer wird nun zur parrhesia überhaupt noch in der Lage sein ? Wer wird die Fähigkeit der parrhesia ha ben, wer wird eventuell auch das Monopol über die parrhesia haben ? Genau an dieser Stelle beginnt sich gerade an der Wen de vom 5 . zum 4· Jahrhundert in der griechischen Kultur, oder zumindest in der Kultur Athens, j ene große Spaltung zwischen Mr Rhetorik und der Philosophie abzuzeichnen, deren Wir kungen acht Jahrhunderte lang anhalten werden. Die Rhetorik als Redekunst - Redekunst, die unterrichtet wer den kann, die zur Ü berredung der anderen verwendet werden
kann, und Redekunst, die nur dann vollendet und verwirklicht ist, wenn der Redner zugleich ein vir bonus (ein rechtschaffe ner Mann) ist -, diese Rhetorik kann sich als Kunst darstellen, die Wahrheit zu sagen, als Kunst der richtigen Rede und als Kunst der Rede in technischer Hinsicht, so daß dieses Wahr sprechen auch überzeugend ist. Insofern, als Kunst, die von einem rechtschaffenen Mann gemeistert wird, der, weil er die Wahrheit kennt, in der Lage ist, die anderen durch diese beson dere Kunst davon zu überzeugen, kann die Rhetorik tatsäch lich als die eigentliche Technik der parrhesia, des Wahrspre chens erscheinen. Aber angesichts dessen wird sich natürlich die Philosophie als einzige Sprachpraxis darstellen, die in der Lage sein wird, den neuen Erfordernissen der parrhesia zu ent sprechen. Denn im Unterschied zur Rhetorik, die sich per defi nitionem an mehrere, an die große Zahl, an die Versammlungen wendet und ihren Ort innerhalb eines institutionellen Feldes hat, kann sich die philosophische parrhesia an die einzelnen wenden. Sie kann Ratschläge erteilen, besondere Ratschläge für den Fürsten, individuelle Ratschläge für die Bürger. Zweitens wird sich die Philosophie im Gegensatz zur Rhetorik als allein fähig darstellen, zwischen dem Wahren und dem Fal schen zu unterscheiden. Denn wenn man bei der parrhesia deutlich zwischen dem Wahrsprechen und der Schmeichelei unterscheiden muß, wenn die parrhesia unablässig ihren eige nen Schatten vertreiben muß, der als Schmeichelei auftritt, wer kann dann diese Unterscheidung vornehmen, wenn nicht gera de die Philosophie ? Denn die Rhetorik hat zum Ziel, die Zu hörerschaft sowohl vom Wahren als auch vom Falschen, so wohl vom Gerechten als auch vom Ungerechten, sowohl vom Schlechten als auch vom Guten zu überzeugen, während es ge rade die Funktion der Philosophie ist, die Wahrheit zu sagen und das Falsche zu vertreiben. Schließlich wird die Philosophie als Inhaberin des Monopols der parrhesia auftreten, insofern sie sich als Einfluß auf die Seelen, als Psychagogie versteht. An statt eine Ü berredungskraft zu sein, die die Seelen von allem und jedem überzeugt, stellt sie sich als eine Tätigkeit dar, die
den Seelen ermöglicht, richtig zwischen dem Wahren und dem Falschen zu unterscheiden und durch die philosophische pai deia die notwendigen Mittel bereitzustellen, um diese Unter scheidung durchzuführen. Ich glaube, daß wir j etzt eine Reihe von großen Problemen des philosophischen Denkens, des politischen Denkens in der An tike hervorgehoben haben. Wenn ich nun diese skizzenhafte Zusammenfassung gegeben habe, die gegenüber dem, was ich in den vorhergehenden Vorlesungen gesagt habe, zu kurz und monoton ist, dann hauptsächlich aus zwei Gründen: Der erste besteht darin, daß wir auf dieser Grundlage eine Art von Vo gelperspektive auf einige der Hauptaspekte des antiken Den kens bis zur Entwicklung des christlichen Denkens haben. Man könnte - verzeihen Sie den schematischen Charakter - ei nige dieser Grundprobleme identifizieren. Ich sage nicht, daß alle Aspekte und alle Probleme des antiken Denkens hier ent halten sind, aber ich glaube, daß man im Ausgang von dem Problem der parrhesia eine Reihe solcher Themen identifizie ren könnte, die dann mögliche Untersuchungsgegenstände wä ren. Erste Frage: Was ist der Ort des Wahrsprechens ? Wo kann das Wahrsprechen seinen Platz finden, unter welchen Bedingun gen kann und muß man ihm Platz einräumen ? Diese Frage läuft auf folgendes hinaus: Welche politische Regierungsform ist für dieses Wahrsprechen am besten geeignet ? Die Demo kratie oder die Monarchie ? Oder vielleicht die autokratische Kaiserregierung, die ausgewogene Kaiserregierung, die ein Ge gengewicht durch den Einfluß und die Rolle des Senats erhält ? Betrachten wir beispielsweise den Dialog über die Redner von Tacitus:3 Es handelt sich dabei in einem gewissen Sinne um eine Reflexion über den Ort und die Bedingungen der parrhesia. Wenn man eine bestimmte Regierungsform zugrundelegt, wo hat dann das Recht des Wahrsprechens, die Möglichkeit des Wahrsprechens, die riskante Verpflichtung des Wahrsprechens ihren Ort ? Das ist auch das Problem der Erziehung des Für sten, das Problem des Ortes, an den j ener sich stellen wird, der
die Wahrheit sagt: Soll er im Vorzimmer des Fürsten sein, um ihn zu erziehen ? Soll er Teil einer Versammlung wie des Senats sein ? Soll er in einem politischen Zirkel, in einer philosophi schen Schule sein ? Oder soll er wie die Kyniker auf der Straße wohnen, die Passanten ansprechen und so die sokratische Ge ste wiederbeleben ? Dieses ganze Problem des Ortes des Wahr sprechens im politischen, politisch-sozialen Bereich scheint mir an eine Reihe von Fragestellungen gebunden zu sein, die man im antiken Denken findet, sei es bei den Philosophen, den Moralisten, den Historikern . . . Zweitens scheint mir, daß man auch im Ausgang von der Frage nach der parrhesia erkennen kann, wie sich die in der Antike ebenso grundlegende Frage nach den Beziehungen zwischen Wahrheit und Mut oder zwischen Wahrheit und Ethik ab zeichnet. Wer ist imstande, eine wahre Rede zu halten ? Wie läßt sich die wahre Rede von der schmeichlerischen Rede un terscheiden ? Und wie soll vom ethischen Standpunkt, vom Standpunkt seines Muts betrachtet, derjenige beschaffen sein, der diese Scheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen vollzieht ? Welche Erziehung ist dazu notwendig ? Ein techni sches Problem: Worin wird in der Erziehung dann der Punkt bestehen, den es besonders zu betonen gilt ? Eine weitere Reihe von Problemen, die im Ausgang von der Frage nach der parrhesia entsteht, wird durch das Problem der Regierung der Seele, der Psychagogie, aufgeworfen. Welche Wahrheiten sind nötig, um sich selbst und die anderen zu füh ren und um die anderen angemessen zu führen, indem man sich selbst angemessen führt ? Welche Praktiken und welche Techniken sind dazu erforderlich ? Welche Kenntnisse, welche Ü bungen usw. ? Schließlich sehen Sie, daß wir hier zu der Frage zurückgeführt werden, die ich vorhin erwähnt habe: An wen und an was soll man sich zur Bildung dieser parrhesia, zur Be stimmung sowohl des Ortes der parrhesia als auch der morali schen Bedingungen, unter denen man die Wahrheit sagen kann, und der Art und Weise der Seelenführung wenden ? Eher an den Rhetor oder an den Philosophen ? An die Rhetorik oder an
die Philosophie ? Schließlich haben wir hier das, was achthun dert Jahre lang die große Spaltung innerhalb der antiken Kultur ausmachen wird. Um diese allererste Skizze abzuschließen, möchte ich mich gerne zum Ende des z. Jahrhunderts begeben und einen Text von Lukian betrachten, der die Beziehungen zwischen Philo sophie und Rhetorik auf scherzhafte Weise erörtert. Sie wissen, daß Lukian j ener Bewegung angehört, die man die zweite So phistik nennt und die am Ende des z . Jahrhunderts die mehr oder weniger künstliche oder gekünstelte Neubelebung einer Reihe von grundlegenden Themen der klassischen griechischen Kultur darstellt. Lukian steht als Neo-Sophist, als zweiter So phist bzw. als Vertreter dieser Bewegung eher der Rhetorik nahe. Jedenfalls weist er gegenüber der Philosophie, gegenüber der philosophischen Praxis und gegenüber den Philosophen ein Mißtrauen auf, das nie abgeschwächt wird. Trotzdem lie gen die Dinge eigentlich etwas komplizierter, und es wäre un gerecht und unzureichend zu sagen, daß Lukian in bezug au f die große Spaltung zwischen der Rhetorik und der Philosophie im Grunde ein Anhänger der Rhetorik und ein Gegner der Philosophie war. Sie kennen vielleicht diesen Text Lukians man hat ihn vor einigen Jahren übersetzt, übrigens schlecht und mit einem unangemessenen Titel (Les Philosophes a l'en can [Philosophen zu versteigern]) -, der, wenn man genau übersetzen wollte, den Titel trägt: Die Messe der Existenzwei sen, der Markt der Existenzweisen.4 Diese Schrift hätte eine or dentliche Herausgabe verdient. Lukian hatte also diesen Text geschrieben, Der Markt der Existenzweisen, der eine Parodie, eine Satire auf j ene Philosophen war, die auf dem öffentlichen Platz den Käufern, gegen Bezahlung natürlich, verschiedene Lebensweisen anbieten, zwischen denen sie wählen können. In diesem Text preist j eder Philosoph die Existenzweise an, die er den eventuellen Käufern vorschlägt. Nachdem er diesen Text geschrieben hatte, der offenbar große Verärgerung hervorrief, schreibt Lukian einen zweiten Text, der den Titel Der Fischer oder die aus dem Hades zurückkehrenden Philosophen trägt
und in dem er sich vorstellt, daß die Philosophen einen Pro zeß gegen den Autor von Der Markt der Existenzweisen ange strengt haben. Den Autor, dem der Prozeß gemacht wird, nennt Lukian Parrhesiades (er ist der Mann der parrhesia). Lu kian stellt sich also in Gestalt des Parrhesiades als jemand dar, der die Wahrheit sagt. Wer wird nun in diesem Prozeß, den die Philosophen, die über den vorangegangenen Text verärgert sind, gegen Parrhesiades anstrengen, der Schiedsrichter zwi schen den Philosophen und Parrhesiades sein ? Nun, die Philo sophie. Und die Philosophie, die als Richterin zwischen den Philosophen und Parrhesiades angerufen wird, stellt sich nun ihrerseits eine Reihe von beigeordneten Richtern zur Seite. Diese beigeordneten Richter sind: Arete (die Tugend), Dikaio syne (die Gerechtigkeit), Sophrosyne (die Weisheit oder die Be sonnenheit), Paideia (die Bildung, die Erziehung). Schließlich gibt es noch einen fünften der Philosophie beigeordneten Rich ter: Aletheia (die Wahrheit). Die Wahrheit, die also als Richter ins Gericht berufen wird, dessen Vorsitz die Philosophie führt, um zu entscheiden, ob Parrhesiades wirklich schuldig war, als er die Philosophen auf üble Weise angriff, sagt, daß sie gern zum Gericht kommen wolle, um Parrhesiades zu richten, der von den Philosophen angeklagt wird. Sie verlangt jedoch, daß ihre beiden Gefährtinnen mit ihr kommen: Eleutheria und Parrhesia. Eleutheria ist die Freiheit im allgemeinen. Parrhesia ist die Freiheit des Redens mit dem Risiko, das ein solches Re den mit sich bringt. Interessanterweise willigt Eleutheria (die Freiheit) ein zu kommen. Sie ist nicht nur bereit zu kommen, sondern möchte ohne ihre anderen Gefährtinnen kommen, insbesondere Elenchos (die Argumentation, die Diskussion) und Epideixis (die Lobrede':· ). In diesem Moment meldet sich Parrhesia zu Wort und sagt, daß sie gerne käme, um Eleutheria zu begleiten, daß sie aber eine Reihe von Adjutanten bräuchte. Da nämlich die Philosophen, die es zu bekämpfen gilt - oder ,,. Foucault übersetzt » epi dei x is << hier mit »eloge", was eigentlich Lobrede bedeutet. Der Kontext (Argumentation und Diskussion) d eu tet jedoch darauf hin, daß eher ein Beweis gemeint ist (A. d. Ü.).
vielmehr die Philosophen, die Parrhesiades attackieren und ge gen die er sich zu verteidigen versucht -, Klugredner sind, gut argumentieren können und schwer zu widerlegen sind, bräueh re man Elenchos und Epideixis. Es spielt sich also der Prozeß des Parrhesiades gegen die Philo sophen ab, und zwar unter dem Schiedsgericht der Philosophie selbst und ihrem Gefolge von Richtern. Parrhesiades wird tat sächlich wie bei einem Prozeß verhört: Man fragt ihn nach sei nem Namen und seiner Herkunft. Er antwortet, daß er Par rhesiades alethinos sei (Parrhesiades, der Mann der Wahrheit), und bezeichnet sich als philalethes (Freund der Wahrheit), philokalos (Freund der Schönheit), philaploikos (Freund der Schlichtheit). Dann entfaltet er sein Plädoyer, in dem er erklärt, wie und warum er dazu kam, die Philosophen anzugreifen. Er erklärt, daß er wie j eder anständige junge Mann damit begann, die Rhetorik zu studieren. Sobald ich mir aber, so Parrhesiades, der niederträchtigen Eigenschaften bewußt wurde, die ein Red ner erwerben soll (nämlich die Lüge, die Unverschämtheit und das Aufbrausen der Stimme), wollte ich außerhalb der stürmi schen Auseinandersetzungen zur Philosophie zurückkehren und mein Leben unter ihrem Schutz in ruhigem Hafen ver bringen.5 Sie sehen, daß man in dieser Definition der Philoso phie - außerhalb der stürmischen Auseinandersetzungen, ruhi ger Hafen usw. - ein Thema findet, das sowohl den Epikuräern als auch den Stoikern und im allgemeinen j eder Moralphiloso phie des r . oder 2 . Jahrhunderts gemein ist. Die Metapher ist extrem verbreitet.6 Man sieht aber auch, daß dieser Rückgriff auf die Philosophie nicht am Anfang steht. Er kommt nach ei ner Enttäuschung durch die Rhetorik und die Mängel, die der rhetorischen Praxis und den Rednern wesentlich sind. Lukian wird daher nicht die Rhetorik wählen, weil er von der Philoso phie enttäuscht wurde, sondern weil er von der Rhetorik ent täuscht wurde, wendet er sich der Philosophie zu. Als er sich der Philosophie zuwendet, wird er sich jedoch eines anderen Mangels bewußt, der gewissermaßen das Gegenstück zu den Mängeln der Redner ist, die in der Lüge, der Unverschämtheit
und im Aufbrausen der Stimme bestehen. Nun, die Philoso phen weisen zweifellos eine völlig redliche Sprache auf, aber sobald man sieht, wie sie wirklich leben, offenbaren sie nur Streit, Ehrsucht, Geiz usw. Deshalb muß man sich von der Phi losophie abwenden, wie man sich von der Rhetorik abwendet. Ich habe Sie nur deshalb auf diesen Text hingewiesen, weil er unmittelbar vor der Verbreitung des Christentums und dem B eginn des großen U mschwenkens der antiken Kultur eine der klarsten und humorvollsten Äußerungen des großen Problems ist, das zur Zeit Lukians schon s echs Jahrhunderte hinter sich hatte: das Problem der Philosophie in ihrer Beziehung zur Rhetorik. In den letzten verbleibenden Vorlesungen möchte ich einige der Probleme, über die ich gesprochen habe, wieder aufneh men: das Problem der Seelenführung, das Problem der Unter scheidung zwischen Schmeichelei und parrhesia, auch das Pro blem des technischen Gegensatzes, der j edoch mehr als nur ein technischer ist, zwischen der Philosophie und der Rhetorik. Bevor ich beginne, über » Philosophie und Rhetorik« zu spre chen, möchte ich j edoch folgendes hervorheben. In diesem Problem der »Philosophie und Rhetorik<< ist gewiß eine Reihe von technischen Fragen gegenwärtig, denen wir uns auch stel len werden. Mir scheint aber auch - das möchte ich Ihnen je denfalls zeigen, - daß es sich nicht bloß um zwei gegensätzliche Techniken oder Weisen des Redens handelt, sondern wirklich um zwei Seinsweisen des Diskurses, die Anspruch darauf erhe ben, die Wahrheit zu sagen, und die vorgeben, die Wahrheit in Form der Ü berzeugung in der Seele der anderen zur Geltung zu bringen. Es handelt sich um die Frage nach der Seinsweise des Diskurses, der vorgibt, die Wahrheit zu sagen, und wenn ich mich bei dieser Frage nach der Seinsweise des Diskurses, der die Wahrheit sagt, aufhalte, dann deshalb, weil das im Grunde die Frage ist, die ich ständig stellen wollte. Was, wie mir scheint, eine Analyse verdient, und zwar eine Analyse, die nicht nur formal, sondern auch historisch ist denn im Hinblick auf diesen Punkt scheinen mir die histori-
sehen Analysen verhältnismäßig unzureichend, wenn nicht gar schweigsam zu sein -, ist das Problem dessen, was man die On tologie oder die Ontologien des Diskurses der Wahrheit nen nen könnte. Damit meine ich folgendes: Einen Diskurs, der vorgibt, die Wahrheit zu sagen, muß man nicht bloß an einer Geschichte der Kenntnisse messen, die gestatten würde zu be stimmen, ob der Diskurs die Wahrheit sagt oder nicht. Diese Diskurse der Wahrheit verdienen es, anders als mit dem Maß und vom Standpunkt einer Ideengeschichte aus gemessen zu werden, die sie daraufhin befragt, warum sie das Falsche sagen und der Wahrheit ermangeln. Ich glaube, daß man in einer Ge schichte der Ontologien des wahren Diskurses oder des Dis kurses der Wahrheit, in einer Geschichte der Ontologien der Veridiktion zumindest drei Fragen stellen müsste. Erstens, was ist die diesem oder jenem Diskurs unter allen anderen eigen tümliche Seinsweise, sobald er in die Wirklichkeit ein be stimmtes Spiel der Wahrheit einführt ? Zweite Frage: Was ist die Seinsweise, die dieser Diskurs der Wirklichkeit verleiht, über die er spricht, und zwar durch das Spiel der Wahrheit, das er vollzieht ? Dritte Frage: Welchen Seinsmodus erlegt dieser Diskurs der Veridiktion dem Subj ekt auf, das den Diskurs hält, und zwar so, daß dieses Subj ekt dieses bestimmte Spiel der Wahrheit richtig spielen kann ? Eine ontologische Geschichte der Wahrheitsdiskurse, eine Geschichte der Ontologien der Veridiktion hätte also an jeden Diskurs, der vorgibt, ein Dis kurs der Wahrheit zu sein und seine Wahrheit als Norm gel tend zu machen, diese drei Fragen zu richten. Daraus folgt, daß jeder Diskurs, und insbesondere jeder Diskurs der Wahrheit, jede Veridiktion wesentlich als Praxis zu verstehen ist. Zwei tens, daß j ede Wahrheit auf der Grundlage eines Spiels der Ve ridiktion verstanden werden soll. Und schließlich, daß j ede Ontologie als Fiktion analysiert wird. Das wiederum bedeutet: Die Geschichte des Denkens muß immer die Geschichte be sonderer Erfindungen sein. Oder auch: Die Geschichte des Denkens, wenn man sie von einer Geschichte der Kenntnisse unterscheiden will, die in Abhängigkeit von einem Index der
Wahrheit geschrieben werden würde, wenn man sie ebenfalls unterscheiden will von einer Ideengeschichte, die sich anhand eines Wirklichkeitskriteriums realisieren ließe, nun, diese Ge schichte des Denkens - eine solche möchte ich j edenfalls schrei ben - muß als Geschichte der Ontologien verstanden werden, die auf ein Prinzip der Freiheit bezogen wäre, wobei die Frei heit nicht als Recht zu sein, sondern als Fähigkeit des Handeins bestimmt wird. Gehen wir nun bei diesen Texten aus dem 4. }ahrhundert, d. h. im wesentlichen bei den Texten Platons, zur Bestimmung des Gegensatzes zwischen dem rhetorischen Diskurs und dem phi losophischen Diskurs über, die, wie gesagt, nicht bloß als Dis kurse zu verstehen sind, die gegensätzlichen Gesetzen, Prinzi pien, besonderen technischen Regeln gehorchen, sondern auch als Seinsweisen des Diskurses der Wahrheit, als Seinsweisen des Wahrsprechens. Um diese Frage zu untersuchen, um sie im platonischen Denken hervortreten zu s ehen, werde ich auf zwei Texte zurückgreifen. Der eine ist gewissermaßen der prak tische Text der parrhesia schlechthin. Jedenfalls ist es der Text, der als die unmittelbarste Darstellung der parrhesia des Sokra tes gilt. Es ist der Text, der sich auf j ene Situation bezieht, in der es für Sokrates zugleich am notwendigsten, aber auch am ge fährlichsten ist, die parrhesia zu praktizieren, in der die philo sophische parrhesia sich zu einem Konflikt auf Leben und Tod mit der traditionellen politisch-juristischen Redekunst zu spitzt. Es handelt sich natürlich um die Apologie. Der zweite Text, auf den ich mich beziehen möchte, um zu versuchen, j e nen Seinsmodus des philosophischen Diskurses auszumachen, der dem Seinsmodus des rhetorischen Diskurses entgegenge setzt ist, ist ein Text, der sich von der Apologie stark unterschei det. In einem gewissen Sinn ist es einer der theoretischsten, auf j eden Fall aber einer der verschnörkeltsten, der zwanglosesten und auch der komplexesten Texte. Es ist ein Text, der nicht als Spiel des Sokrates mit seinem eigenen Leben gegenüber der po litisch-juristischen Redekunst erscheint, die ihn töten will. Es ist ein Text, in dem sich die kritische Reflexion auf die Rhetorik 3 90
um das Spiel des eros dreht und nicht um Leben oder Tod. Es geht um eine Lobrede auf die Liebe und um zwei Weisen, die Lobrede auf die Liebe anzugehen, über die Liebe nachzuden ken, sei es mit den Mitteln der Rhetorik oder mit den Mitteln der Philosophie. Der erste Text ist also die Apologie, ein Text, der in gewisser Hinsicht am einfachsten, am leichtesten, aber, wie gesagt, auch am eindringlichsten ist, weil es sich um Sokrates' Tod handelt. In dieser Passage aus der Apologie des Sokrates - ich habe kei neswegs die Absicht, den gesamten Text zu analysieren - kann man das herausstellen, was für eine Analyse des philosophi schen Wahrsprechens im Gegensatz zur rhetorischen Rede re levant zu sein scheint. Mir scheint, daß man diesen Gegensatz zwischen d em philosophischen Wahrsprechen und dem rheto rischen Diskurs in drei Textabschnitten herausarbeiten kann. Ein erster Abschnitt betrifft den Diskurs selbst, die Art und Weise, wie Sokrates seine eigene Rede gegenüber der Rede der Ankläger vorträgt (die ersten Zeilen des Textes). In dem an deren Textabschnitt stellt Sokrates die Frage nach seiner poli tischen Rolle und versucht, auf den folgenden Einwand zu ant worten: Aber warum hast du, der vorgibt, die Wahrheit zu sagen, niemals vor einer Versammlung gesprochen ? Ein dritter Textabschnitt betrifft schließlich die Rolle, die er tatsächlich im Staat und in bezug auf die Staatsbürger gespielt hat und die, ohne eine unmittelbar politische Rolle zu sein, für den Staat dennoch wertvoll und wesentlich ist. Die erste Texteinheit ist also j ene, in der Sokrates seine eigene Rede als Reaktion auf die Rede der Ankläger vorträgt, nämlich ganz am Anfang der Apologie (auf den ersten Zeilen, 1 7a- r 8a). Von Anfang an beschreibt Sokrates seine Gegner als Leute, die immer nur Falsches gesagt haben. Dennoch haben diese Leute, die niemals ein wahres Wort gesprochen haben, eine Begabung. Sie haben eine Fähigkeit zum Reden, die so beschaffen ist, daß sie erstens ihre Zuhörer überreden können und daß sie sogar, sagt Sokrates lächelnd, ihn selbst beinahe überredet haben, da er gar nicht mehr recht wisse, wer er sei. Worin bestand nun 391
diese überredende Lüge, mit d er es diesen Leuten, die noch nie die Wahrheit gesagt haben, gelang, ihre Zuhörer und beinahe auch Sokrates selbst zu überreden ? Nun, sie bestand darin, die anderen glauben zu machen, daß Sokrates ein fähiger Redner sei, daß er geschickt in der Redekunst sei, daß er diese Kunst beherrsche. Wie stellt sich Sokrates nun im Gegensatz zu diesem von sei nen Gegnern gezeichneten Bild dar, das von Redekünstlern entworfen wurde, die nie etwas Wahres sagen, sondern denen es gelingt, alle und beinahe auch Sokrates selbst zu überreden ? Gerade als derjenige, der die Wahrheit sagt und der sie immer sagt, und zwar ohne diese Kunst und Technik, die durch das Sprechen ermöglicht, die anderen zu überreden. Sokrates stellt sich als Mann des Wahrsprechens außerhalb j eder techne dar. Wie stellt er das an ? Was sind die Merkmale dieses Wahrspre chens außerhalb j eder techne, das für ihn charakteristisch ist ? Erstens, sagt er, ist er siebzig Jahre alt. Er wurde noch nie vor Gericht geladen. Er war noch nie Angeklagter oder Ankläger. Damit spielt Sokrates einerseits auf folgendes an: Er gehörte nie einer der politischen Fraktionen an, die miteinander im Streit lagen und sich in Athen nach der Periode der Dreißig bei der Machtausübung abgelöst haben, nämlich nach der Ab schaffung und der Rückkehr der Demokratie. [ . ] Wenn er je doch sagt, daß er noch nie vor einem Gericht stand, bedeutet das auch, daß die Rede, die er halten wird, nicht die gewöhn lichen oder gar die konventionellen Formen der Redekunst vor Versammlungen oder Gerichten aufweist. Dabei verwendet er eine interessante Metapher. Er sagt nämlich: Da ich mich an diese Art von B eredsamkeit nie gewöhnt habe, da ich nie an diesem politischen und gerichtlichen Ort der Versammlungen und Gerichte gesprochen habe, erscheine ich nun vor euch wie ein Fremder (xenos).7 Er ist ein Fremder auf diesem politischen Feld. Hier muß man, glaube ich, achtgeben. Einerseits - das ist ein Thema, das in der Gerichtsliteratur der Zeit ganz verbreitet war, man findet es bei Nikias, bei Isokrates, jedenfalls in einer ganzen Reihe von Texten [ ) - beginnt derj enige, der sich vor . .
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einem Gericht einfindet, im allgemeinen mit den Worten: Ich wurde noch nie vor ein Gericht geladen, ich habe noch nie j e manden angeklagt, ich bin völlig außerstande zu sprechen, und man möge mich entschuldigen, daß ich mich wie ein Fremder vor euch fühle. Das ist ein Thema der Gerichtsliteratur, wo durch der Angeklagte geltend macht, daß er keine große Macht besitzt, daß er weder viele Freunde noch viele Feinde hat, daß er keiner Sippe angehört. Es ist auch ganz einfach eine Weise, das zu verbergen, was die Wahrheit j ener gerichtlichen Rede kunst war, nämlich daß der Redner im allgemeinen nichts an deres tat, als seine eigene Rede vorzulesen, übrigens auch wenn er diese Aufgabe nicht an andere delegierte. Das heißt, daß die Rede von einem anderen, einem Logographen, geschrieben wurde und daß folglich die Konvention gebot, daß dieser von einem Logographen geschriebene Diskurs folgendermaßen be ginnt: Ihr wißt, ich kann nicht besonders gut reden, ich erschei ne vor euch, ich bin ganz alleine, ich habe keine Freunde, und ich spreche, wie ich eben kann. Sokrates nimmt dieses Thema wieder auf, er gebraucht es und ahmt es mit folgendem Unterschied nach: In Sokrates' Fall ist es wahr, es ist seine eigene Rede, oder zumindest tut Platon so, als ob es wirklich seine eigene Rede sei, die er vorliest, und daß die fremdartige Rede, die Sokrates in diesem institutionellen politisch-gerichtlichen Rahmen halten wird, eine Rede ist, die diesem Bereich fremd ist. Auf welche Weise fremd ? Nun, So krates sagt es in einer Passage in r 7c d : Die Sprache, die ich spreche, ist die Sprache eines x e n o s (eines Fremden), warum ? Aus drei Gründen. Erstens ist es die Sprache, die ich j eden Tag auf dem öffentlichen Platz, bei den Händlern oder irgendwo anders verwende. Sokrates' Sprache unterscheidet sich also nicht im Wortschatz, in der Form, in der Konstruktion von der Sprache des Alltags. Das ist der erste Unterschied zur Sprache der Rhetorik. Zweitens ist Sokrates' Sprache, das wird in r 7c angedeutet, nichts anderes als die Folge der Wörter und Sätze, die in seinem Geist vorkommen. Ihr werdet mich, sagt er in r 7c, »reden hören in ungewählten Worten. « 8 Dieses Thema ei-
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ner Sprache, die nichts anderes tut, als unmittelbar und ohne Rekonstruktion, ohne Künstlichkeit der Architektur die Be wegung des Denkens selbst zu übersetzen, ist ein Thema, das man bei Platon oder Sokrates mehrfach findet. Im Gastmahl, in 1 99a-b, sagt Sokrates praktisch dasselbe mit nahezu densel ben Worten.9 Da er seinerseits nun auch eine Lobrede auf die Liebe halten soll, sagt er, daß es wirklich sehr schwierig ist, sol che Lobreden zu halten, bei denen von einem erwartet wird, die Sache, auf die man eine Lobrede hält, mit den schönsten Eigenschaften auszustatten. Er fühlt sich dazu außerstande. Statt dessen wird er Wörter (onomata) und eine Anordnung von Sätzen (die Konstruktion des Satzes selbst: thesis1 0 ) benut zen, wie sie gerade kommen (hopoia dan tis tyche epelthousa: wie sie gerade kommen 1 1 ) . Das dritte Merkmal dieser nicht rhetorischen Sprache des Sokrates (das erste war die Alltags sprache, das zweite die Sprache, wie sie einem in den Sinn kommt) ist folgendes: Es ist eine Sprache, in der er genau das sagt, was er denkt, eine Sprache, in der es im Kern, im Ur sprung der Äußerung selbst, einen Akt des Vertrauens gibt, so etwas wie eine Art von Pakt zwischen ihm selbst und dem, was er sagt (pisteuo dikaia einai ha lego: ich vertraue darauf, ich glaube daran, daß die Dinge, die ich sage, gerecht sind12). Wir haben also drei Merkmale: die Alltagssprache; die Sprache, wie sie einem in den Sinn kommt; die Sprache des Glaubens, der Worttreue und des Vertrauens (der pistis). Man muß nun bemerken - und ich glaube, daß das sehr wichtig ist -, daß diese drei Merkmale des nicht-rhetorischen Diskurses, diese drei Merkmale des philosophischen Diskurses als parrhesia, als Wahrsprechen von Platon oder Sokrates sehr eng miteinander verknüpft werden. Die Alltagssprache zu sprechen, zu sagen, was einem in den Sinn kommt, zu behaupten, was man für ge recht hält, sind drei Dinge, die für Sokrates unbedingt zusam mengehören. Eine Stelle bei I 7C sagt das sehr deutlich . . . Ich finde sie nicht im Text, aber ich habe das Zitat abgeschrieben ich hätte lieber das Zitat aus der Bude-Ausgabe gehabt als das, das ich der Pleiade-Ausgabe von Robin1 3 entnommen habe 394
und das etwas gewundener ist -: »ohne Schmuck des Wort schatzes und des Stils«, »Dinge, die geradewegs herausgesagt werden in Worten, die mir gerade in den Sinn kommen. Denn ich glaube, was ich sage, ist gerecht« . »Ü hne Schmuck des Wort schatzes und des Stils«, » Dinge, die geradewegs herausgesagt werden in Worten, die mir gerade in den Sinn kommen«, »an die Gerechtigkeit glauben«, sie sehen, daß diese drei Dinge von Sokrates als eine konstituierende Einheit zusammengestellt werden, eine Einheit, die für die parrhesia charakteristisch ist. Nun kann man sich natürlich folgende Frage stellen. Eine schmucklose Rede, eine Rede, die Wörter, Ausdrücke und Sät ze verwendet, die einem gerade in den Sinn kommen, eine Rede, die der Redner für wahr hält, all das würde für uns j eden falls eine aufrichtige Rede kennzeichnen, aber nicht notwendig eine wahre Rede; wie kommt es nun, daß für Sokrates oder für Platon das schmucklose Sagen der Dinge, das Sagen der Dinge, wie sie einem in den Sinn kommen, und das Sagen der Dinge in dem Glauben, daß sie wahr sind, ein Kriterium der Wahrheit sein soll ? Und warum soll der philosophische Diskurs, inso fern er diesen drei Kriterien genügt, ein Diskurs der Wahrheit sein ? Das ist die Frage, die sich stellt, und ich glaube, daß man sich hier auf eine Vorstellung beziehen muß - die man bei Platon findet, die j edoch den Rahmen der platonischen Philosophie bei weitem übersteigt und eine Art von allgemeiner Form der griechischen Auffassung der Sprache ist - des Iogos etymos. 1 4 Dieser Iogos etymos, dieser wahrhaftige Iogos bezieht sich auf j ene Idee, daß die Sprache, die Wörter, die Sätze in ihrer Wirk lichkeit selbst eine ursprüngliche Beziehung zur Wahrheit ha ben. Die Sprache, die Wörter, die Sätze tragen bei sich das We sen (die ousia ) , die Wahrheit des Wirklichen, auf das sie sich beziehen. Wenn das Falsche sich in den Geist des Menschen einschleicht, wenn die Täuschung die Wahrheit verdeckt oder ihr ausweicht, dann ist das nicht die eigentümliche Wirkung der Sprache als solcher, sondern geschieht im Gegenteil durch einen Zusatz, eine Umwandlung, einen Kunstgriff, eine Ver39 5
schiebung gegenüber der eigentlichen und ursprünglichen Form der Sprache. Die Sprache, insofern sie etymos ist, ich wollte gerade sagen, insofern sie etymologisch ist, diese Spra che, die frei von j edem Schmuck, jedem Beiwerk, j eder Kon struktion oder Rekonstruktion ist, diese Sprache im unbefleck ten Zustand ist der Wahrheit am nächsten, und in ihr drückt sich die Wahrheit aus. Das ist, glaube ich, einer der grundle gendsten Züge der philosophischen Sprache oder, wenn Sie so wollen, des philosophischen Diskurses als Seinsmodus im Ge gensatz zum rhetorischen Diskurs. Die rhetorische Sprache ist eine gewählte Sprache, auf solche Weise hergerichtet und kon struiert, daß sie ihre Wirkung auf den anderen ausübt. Der Seinsmodus der philosophischen Sprache ist es, etymos zu sein, d. h. in einem solchen Grade schmucklos und einfach zu sein, in einem solchen Grade mit der B ewegung des Denkens überein zustimmen, daß sie ohne Schmuck, so wie sie in Wahrheit ist, dem, worauf sie sich bezieht, angemessen ist. Sie wird dem, worauf sie sich b ezieht, angemessen sein, und sie wird auch mit dem übereinstimmen, was ihr Sprecher denkt und glaubt. Der Iogos etymos als Verbindungspunkt zwischen der aletheia, die sich in ihr ausspricht, und der pistis (dem Glauben, dem Ver trauen) dessen, der ihn äußert, kennzeichnet die philosophi sche Seinsweise der Sprache. Während die Seinsweise der rhe torischen Sprache darin besteht, einerseits nach einer Reihe von Regeln und Techniken (nach einer techne) konstruiert zu sein und sich andererseits an die Seele des anderen zu wenden, kommt die philosophische Sprache ohne diese Kunstgriffe, ohne diese technai aus. Sie ist etymos, und da sie etymos ist, sagt sie zugleich das Wahre des Wirklichen und auch das, was in der Seele dessen ist, der sie äußert, was seine Seele denkt. Eine Be ziehung zum sprechenden Subjekt und nicht eine Beziehung zum angesprochenen Subj ekt zeichnet die Seinsweise dieser philosophischen Sprache aus im Gegensatz zur rhetorischen Sprache. Hier haben wir also eine erste Gruppe von Hinweisen und Ü berlegungen, die man zum philosophischen Wahrspre chen in der Apologie des Sokrates finden kann.
Die zweite Gruppe von Ü berlegungen, hatte ich Ihnen gesagt, bezieht sich auf die politische Rolle, die Sokrates innehatte. Diese Textstellen finden Sie in 3 rc bis 3 2a. Sokrates soll eine Frage zu seiner politischen Rolle beantworten. Er nimmt an, daß seine Gegner ihm folgende Frage stellen: Wohlan, du gibst vor derj enige zu sein, der die Wahrheit sagt, aber wie kannst du diese Rolle des Wahrsprechens, des Parrhesiasten (das Wort kommt hier zwar nicht vor, aber auf genau diese Funktion wird abgezielt, wie Sie gleich sehen werden) in Anspruch nehmen ? Wie kannst Du sagen, daß du der Mann bist, der die Wahrheit sagt, während du doch niemals dem Volk und vor der Ver sammlung Ratschläge erteilen wolltest ? Du sagst, daß du die Wahrheit sprichst, und hast doch diese Funktion des Beraters, der Person, die sich vor der Versammlung hervortut, auf die Tribüne steigt, seine Meinungen kundgibt, niemals gespielt. Worauf Sokrates unmittelbar antwortet: Warum habe ich nie diese Rolle eines öffentlichen Ratgebers gespielt, warum bin ich nie ein politischer Parrhesiast gewesen ? Nun, sagt er, wenn >>ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umgekommen und hätte weder euch etwas genutzt noch auch mir selbst. « 1 5 In der Tat, fährt Sokrates fort, wenn man sich in einen heftigen Ge gensatz zu euch stellt, riskiert man sein Leben. Und wenn man seine eigene Existenz sichern will, muß man »ein zurückgezo genes Leben führen, nicht ein öffentliches. << 1 6 Sie sehen, daß wir hier noch einmal, ohne daß das Wort ausgesprochen wird, eines der grundlegendsten und der geläufigsten Themen dieser Zeit im Hinblick auf die parrhesia haben, nämlich daß die athe nische Demokratie nicht so funktioniert, wie sie sollte oder nur schlecht funktioniert, weil jene, die die Verpflichtung, die Rol le des Parrhesiasten zu spielen, spüren könnten oder sollten, so sehr in ihrem Leben bedroht sind, daß sie es vorziehen, darauf zu verzichten. Auf dieses schlechte Funktionieren der parrhe sia in der D emokratie - ein klassisches Thema j ener Zeit - be zieht sich Sokrates. Man wird bestraft, wenn man sich der Mehrheit widersetzt. Erinnern Sie sich, wir hatten in einem 3 97
Text von Isokrates genau dasselbe gefunden. Interessant ist nun aber, daß Sokrates keinerlei Interesse daran hat, sich der Gefahr auszuliefern, die die schlechte Demokratie für die par rhesia bedeutet. In seinen Augen lohnt sich die Mühe nicht, eine solche Gefahr zu riskieren. In einer Situation wie dieser stellt die parrhesia keine Verpflichtung dar. Und daher hat sich Sokrates nie bei der Versammlung eingefunden, um seine Mit bürger zu beraten und ihnen seine politischen Meinungen mit zuteilen. Nun sagt aber Sokrates - um diese fehlende Teilnah me, diesen Bruch des Spiels der parrhesia, diesen Verzicht auf die parrhesiastische Funktion zu erklären, die normalerweise die Rolle von jemandem sein könnte, der vorgibt, seinen Mit bürgern die Wahrheit zu sagen - sehr deutlich, daß, wenn er diese parrhesiastische Rolle nicht gespielt hat, dann deshalb, weil man ihm den Befehl gab, sie nicht zu spielen. Und derj eni ge, der ihm den Befehl gab, diese parrhesiastische Funktion, dieses Wahrsprechen in der Politik nicht zu spielen, ist sein daimon, jener daimon, von dem er in diesem Text, aber auch in anderen sagt, daß er ihm nie einen positiven Befehl erteilt, ihm nie sagt, daß er dieses oder j enes tun soll, sondern ihn bloß warnt, wenn er etwas nicht tun sollY Und gerade sein daimon hat ihn gewarnt, daß er nicht versuchen solle, die Wahrheit ge wissermaßen direkt und unmittelbar im Bereich der Politik zu sagen. Das ist einer der ersten Aspekte dessen, was Sokrates über seine politische Rolle sagt. Es gibt aber einen weiteren Aspekt, denn sogleich fügt er hin zu, daß er Mitglied des Rates gewesen war und im Namen sei nes Stammes der Antiochier die Funktion des Prytanen auszu üben hatte. Das sind keine Funktionen, die man fordert oder verlangt, sondern die einem durch das Los und durch die Rota tion der Funktionen zwischen den verschiedenen Stämmen zu fallen. Hier war er also gewissermaßen verpflichtet, eine be stimmte Funktion auszuüben. Und in diesem Rahmen mußte er etwas unter Beweis stellen, was wir gleich noch betrachten werden. Zweitens war er nach der zeitweiligen Aufhebung der Demokratie und während der vorübergehenden Diktatur der
Dreißig auch mit einer Mission beauftragt. Diese Mission be stand darin, j emanden zu verhaften. Nun hat er sich in diesen beiden Fällen, als er Ratsmitglied und sogar Prytane war und als er von den Dreißig mit einer Mission beauftragt wurde, einerseits geweigert, das zu tun, was die Mehrheit wollte, und andererseits das abgelehnt, was die Diktatoren ihm auferlegen wollten. Während die Mehrheit der Ratsversammlung zur Zeit, als er Prytane war, wollte, daß die Generäle, die nach der Schlacht bei den Arginusen die Leichen nicht begraben hatten, kollektiv verurteilt werden, will Sokrates diese Rechtswidrig keit nicht billigen - denn das athenische Recht sah diese Art von kollektiver Verantwortung nicht vor - und stellte sich ge gen die Mehrheit der Ratsversammlung. Als dann die Dreißig von ihm verlangten, jemanden auf Salamis zu verhaften (Leon von Salamis), haben diej enigen, die zusammen mit Sokrates be auftragt waren, diese Verhaftung durchgeführt, während er es vorzog, schlichtweg nach Hause zu gehen, anstatt diesen eben falls rechtswidrigen Befehl auszuführen. Das Interessante an diesen beiden Geschichten ist natürlich einerseits ihr Gegensatz zu dem, was zuvor gesagt wurde (darüber, daß sein daimon ihm gesagt hatte »mische dich nicht in die Politik ein«), und dann auch, daß in diesen beiden Ge schichten - derj enigen, die sich zur Zeit der Demokratie, und der anderen, die sich während der Tyrannei ereignet - der Ein satz oder das Problem im Grunde dasselbe war. Ob in der Demokratie oder in der Tyrannei - ob es sich um eine Regie rungsform von Parteien und Fraktionen handelt oder um eine Oligarchie -, befand sich Sokrates in einer bestimmten Situa tion, die insgesamt auf dasselbe hinauslief. Die parrhesiastische Funktion o der Rolle scheint hier von derselben Art zu sein, gleichgültig wie die Regierungsform (Demokratie oder Tyran nei, der Unterschied ist unwesentlich) beschaffen ist. Im einen wie im anderen Fall zeigt Sokrates deutlich, daß er sein Leben riskiert. Als er Prytane war und es darum ging, die Generäle der Schlacht bei den Arginusen zu verurteilen, sagte er: » [ . ] so glaubte ich doch, ich müßte lieber mit dem Recht und dem Ge.
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setz die Gefahr bestehen, als mich zu euch gesellen in einem so ungerechten Vorhaben aus Furcht des Gefängnisses oder des Todes. « 1 8 Und als es dann um den Befehl der Tyrannen ging: »Auch da nun zeigte ich wiederum nicht durch Worte, sondern durch die Tat, daß der Tod, wenn euch das nicht zu bäurisch klingt, mich auch nicht das mindeste kümmerte. « 1 9 Wir haben also dasselbe sowohl in der Demokratie als auch in der Tyran nei: Er war bereit, sein Leben zu riskieren. Dann kann man sich aber fragen, worin der Unterschied be steht, da Sokrates uns ja gerade erklärt hat, daß er weder seine Meinung dem Volk mitteilen noch ihm Ratschläge erteilen wollte, weil er dabei sein Leben riskiert hätte, während er nun zwei Situationen erwähnt (in der Demokratie und in der Ty rannei), wo er tatsächlich dazu bereit war, sein Leben zu riskie ren. Warum soll man es im einen Fall riskieren und im anderen Fall nicht ? Nun, ich glaube, daß der Unterschied leicht ein leuchtet, wenn man die Texte betrachtet und sieht, auf welche Situation sich die beiden Dinge beziehen. Wenn er im einen Fall sagt, daß er der Ratsversammlung keine Ratschläge ertei len wollte, weil es zu gefährlich sei, sich der Mehrheit zu wi dersetzen, handelt es sich um eine parrhesia, die wie eine direk te politische Macht ausgeübt wird, als Einfluß, den man auf die anderen nimmt. Es handelt sich um eine politische Tätigkeit als Eingreifen eines Bürgers, der sich, um den Ausdruck aus dem Ion von Euripides zu übernehmen, in den proton zygon (den ersten Rang) stellt.20 Dieses absichtliche politische Eingreifen, durch das der Mensch, der Parrhesiast, versuchen wird, einen gewissen Einfluß auf die anderen zu nehmen, um die Wahrheit zu sagen, gehört zur Politik und nicht zur Philosophie. Der Philosoph als solcher hat sich gerade nicht in diese Position zu begeben, die darin besteht, Einfluß auf die anderen zu nehmen, indem den politischen Akteuren ein politischer Rat innerhalb des Feldes der Politik gegeben wird. Hier begegnen wir wieder j enem Thema, das etwas später von Platon in seinem VII . Brief entwickelt werden sollte und bei dem wir gesehen haben, daß Platon dem Politiker keine politi400
sehen Ratschläge erteilte, die dieser in der Politik anwenden könnte. Wir sahen deutlich, daß Platons philosophischer Dis kurs kein Diskurs war, der gewissermaßen das Feld der Politik gestalten sollte, als ob die Philosophie im Besitz der Wahrheit über die Politik wäre. Platon lehnt es ab, im Bereich der Politik und vor der Ratsversammlung denen, die Entscheidungen tref fen sollen, Ratschläge zu geben. Die philosophische parrhesia wird also nicht von dieser Art sein. Im Bereich der Politik sagt sie der Politik die Wahrheit nicht. Dennoch - und das ist die zweite Einstellung, die er zur Politik hat - bleibt ihm die Rolle des Parrhesiasten zu spielen übrig, sogar um den Preis seines Lebens. Tatsächlich ging es in der er sten Situation nicht um eine direkte und unmittelbare Hand lung, durch die der Philosoph den Politikern gesagt hätte, was zu tun sei. Vielmehr war er innerhalb eines Systems, eines Spiels gefangen, nämlich des Spiels der politeia. Die Verfassung Athens, die gesellschaftliche und politische Struktur Athens, war dafür verantwortlich, daß er zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Stellung als Ratsmitglied und als Prytane innehatte. Außerdem wurde er während der Tyrannei - das läuft schließ lich auf dasselbe hinaus - dazu auserwählt, dieses und j enes zu tun. In diesem Moment, wo man innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen und politischen Feldes von ihm verlangt, et was zu tun, wo er also eine Tätigkeit auszuüben hat, die durch die Stellung bestimmt wird, die ihm zugeteilt wurde, ist die parrhesia möglich. Besser noch, sie ist notwendig. Denn, wenn er von dieser parrhesia keinen Gebrauch machen würde, was würde dann geschehen ? Dann würde er selbst eine U ngerech tigkeit begehen. Aufgrund der Sorge um sich selbst, indem er sich um sich selbst kümmert, aus Sorge darum, was er selbst ist, weigert er sich, diese Ungerechtigkeit zu begehen. Und gerade dadurch läßt er eine Wahrheit glänzen. Im ersten Fall hat der Philosoph als solcher den Staat nicht daran zu hindern, Dummheiten oder Ungerechtigkeiten zu begehen. Wenn er da gegen aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Staat - entweder als Bürger in einer Demokratie oder als Bürger oder Untertan 40 1
einer tyrannischen oder despotischen Macht - einen bestimm ten Auftrag hat, wenn das zu begehende Unrecht ein Unrecht wäre, das er s elbst beginge, und zwar entweder in seiner Rolle als Bürger oder als Untertan, dann muß der Philosoph nein sa gen. Der Philosoph muß nein sagen und muß sein Prinzip der Weigerung, das zugleich eine Manifestation der Wahrheit ist, ins Spiel bringen. Sie sehen, daß im ersten Fall, in der Form der direkten politi schen Tätigkeit, die sokratische parrhesia negativ und persön lich ist. Es geht darum, auf jeglichen Einfluß auf die anderen und auf die politische Macht zu verzichten. Andererseits muß der Philosoph in einem politischen Feld, das nicht durch den Einfluß bestimmt wird, den man auf die anderen nimmt, son dern durch die eigene Zugehörigkeit zum Inneren eines politi schen Bereichs, Parrhesiast sein, insofern die Formulierung und das Hervortreten jener Wahrheit vor dem bewahren kann, was es für ihn schlechthin zu vermeiden gilt, nämlich selbst Akteur der Ungerechtigkeit zu sein. Sie sehen, daß es hier Nachwirkungen hiervon kann man in dem finden, was ich letz tes Mal im Hinblick auf das regierende und das philosophie rende Subj ekt gesagt habe - wieder um die Frage nach dem Subj ekt, nach dem politischen Subj ekt geht. Die Philosophie kümmert sich nicht um die Politik, nicht einmal um die Ge rechtigkeit und die Ungerechtigkeit im Staat, sondern um die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit, insofern sie von j e mandem begangen werden, der ein handelndes Subj ekt ist, der als Bürger handelt, der als Subj ekt handelt und eventuell auch als Herrscher. Die Frage der Philosophie ist nicht die Frage der Politik, sondern die Frage des Subj ekts in der Politik. Ich möchte nur noch eines hinzufügen. In den beiden erwähn ten Fällen (der Schlacht bei den Arginusen und der Weigerung, im Sinne der Mehrheit abzustimmen, aber auch im Fall des von den dreißig Tyrannen erteilten Befehls, j emanden zu verhaften) habe ich gesagt, daß Sokrates von seiner parrhesia Gebrauch gemacht hat. Sie können mir entgegenhalten, daß es sich den noch um eine schweigsame parrhesia handelte, weil er gerade 4 02
nicht das Wort ergriffen hat. Er hat sich nicht hervorgetan und dem Volk erklärt, warum es ungerecht war, die Generäle der Schlacht bei den Arginusen zu verurteilen. Er hatte den drei ßig Tyrannen auch nicht öffentlich gesagt, daß die Verhaftung Leons von Salamis ungerecht war. Er hat sich damit begnügt, es zu zeigen. Übrigens sagt es der Text selbst: Ich habe mein Le ben ergo, nicht logo riskiert (nicht durch die Rede, sondern durch eine Tatsache),21 ein Ausdruck, der, wie Sie wissen, äu ßerst geläufig ist und der das, was man nur in Worten tut, dem entgegenstellte, was in Wirklichkeit getan wird. Hier meint So krates also, daß er sich nicht damit begnügt hat, nur geltend zu machen, daß er sein Leben riskierte, sondern er hat es wirklich riskiert. Es ist aber zu bemerken, daß er diese Wahrheit keines wegs logo - und hier verwende ich den Ausdruck im strengen Sinn - d. h. keineswegs durch den logos geltend gemacht hat, sondern ergo. Was in Frage steht, ist das ergon, d. h. was er ge tan hat. Er hat sich einerseits damit begnügt, gegen die Mehr heit zu stimmen. Im anderen Fall, als man ihm den Befehl er teilte, j emanden zu verhaften, ist er ganz einfach nach Hause gegangen. Er ist vor aller Augen nach Hause gegangen, nicht mehr und nicht weniger. Sie sehen, daß wir hier ein anderes wichtiges Element haben. Das erste war die Tatsache, daß die philosophische parrhesia, wie sie bei Sokrates erscheint, nicht direkt und unmittelbar eine politische parrhesia ist. Es handelt sich vielmehr um eine parrhesia, die gegenüber der Politik zurücksteht. Zweitens ist es eine parrhesia, bei der es um das Heil des handelnden Subj ekts geht, und nicht um das Heil des Staats. Schließlich ist der dritte Punkt, daß diese philosophi sche parrhesia weder notwendig noch ausschließlich über den logos, über das große Ritual der Sprache verläuft, durch das man sich an die Gesamtheit oder auch an einen einzelnen wen det. Schließlich kann die parrhesia auch in den Dingen selbst erscheinen, sie kann in den Weisen des Handeins und in den Weisen des Seins hervortreten. So ist dieses berühmte Thema verankert, das dann in der gan zen Geschichte des Denkens und vor allem in der antiken Phi-
losophie so wichtig werden wird, das Problem der philosophi schen Einstellung. Akteur der Wahrheit, Philosoph zu sein und als Philosoph für sich das Monopol der parrhesia in Anspruch zu nehmen, das bedeutet nicht nur zu beanspruchen, daß man die Wahrheit im Unterricht, in den Ratschlägen, die man er teilt, in den Reden, die man hält, äußern kann, sondern daß man wirklich, in seinem Leben, ein Akteur der Wahrheit ist. Die parrhesia als Lebensform, die parrhesia als Verhaltens modus, die parrhesia, die sich bis auf die Kleidung des Philoso phen erstreckt, stellen konstitutive Elemente dieses philoso phischen Monopols dar, das die parrhesia für sich in Anspruch nimmt. Sie erinnern sich vielleicht, als wir letztes Jahr über Epiktet sprachen, sind wir mehrmals j ener Person begegnet, die für Epiktet so charakteristisch ist, nämlich dem kleinen, jungen Mann, der etwas zu sehr frisiert, etwas zu sehr parfü miert, etwas zu sehr hergerichtet ist und der immer ein Rhetor ist. Er ist ein Rhetor, und er ist geschmückt, weil er als Rhetor gerade der Mann des Schmucks ist. In seiner Weise zu spre chen, in seiner Kleidung, in seiner Weise zu sein, in seinem Ge schmack und seinen Vergnügungen ist er jemand, der nicht die Wahrheit sagt, ist er ein anderer als er selbst. Er ist der Mann der Schmeichelei, der Mann des Parfüms, der verweichlichte Junge.22 Dagegen ist der Philosoph gerade derj enige, der in die sem Diskurs - dem etymos Diskurs - nicht nur die Wahrheit sagt, sondern auch derj enige, der die Wahrheit sagt, der sie ver körpert, der in seiner Seinsweise die Person der Wahrheit ist. Und diese Wahrheit wird natürlich auch ab [ . . . ':·] in der bärti gen Männlichkeit bestehen. Alle Themen des parrhesiastischen Philosophen - der Philosoph als j emand, der gegenüber der Politik zurücksteht, der sich um das Subj ekt und nicht um den Staat kümmert und der schließlich die Wahrheit durch das, was er ist, genauso sehr verkörpert, wie durch das, was er sagt (durch das ergo so sehr wie durch das logo) - erscheinen in die sen Texten der Apologie sehr deutlich. Ich werde dann nachher * Unverständlich.
das, was ich über die Apologie sagen wollte, abschließen, und wir werden, wenn mir Zeit bleibt, zum Phaidros übergehen.
Anmerkungen I Vgl. z. B . Gorgias 463 a, Phaidros 24ob, zu diesem Punkt aber auch die Vorlesung vom I o. März I 9 8 2 (in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., s. 4 5 6-46o). 2 Plutarch, »Comment distinguer le flatteur de l'ami (Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet)«, in: CEuvres morales, Bd. I-2, übers . v. A. Philippon, Paris I 9 89. 3 Tacitus, Dialog über die Redner, übers. v. H. Gugel, Stuttgart I 969. 4 Lukian, »Der Verkauf der philosophischen Sekten<<, in: Sämtliche Wer ke, Bd. r , München u. Leipzig, I 9 I I , S. I 5 3 -224 (zu einer weiteren Er wähnung des Textes vgl . Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. I 24). 5 >> Ich hatte die Profession eines gerichtlichen Redners nicht lange ge trieben, als mich die Erfahrung überzeugte, daß Betrug, Lügen, unver schämte Dreistigkeit, Geschrei, Schikanen und tausend solche häßliche Dinge von dieser Lebensart unzertrennlich sind. Ich machte mich also, wie billig, davon los, und angezogen von allem, was du, o Philosophie, Edles und Schönes hast, beschloß ich den Rest meines Lebens, gleich einem, der sich aus Sturm und Wogen in eine windstille Bucht gebor gen hat, unter deinem Schirme zu verleben« (Lukian, Der Fischer oder die wieder auferstandenen Philosophen, in: Sämtliche Werke, Bd. I , übers. v. C. M . Wieland, bearbeitet und ergänzt v. H . Floerke, München und Leipzig I 9 I r, S. 348). 6 Für eine erste Analyse dieser Metaphern vgl. Hermeneutik des Sub jekts, a. a. 0., S. 309-3 I r . 7 »Denn s o verhält sich die Sache: Jetzt zum erstenmal trete ich vor Ge richt, da ich über siebzig Jahr alt bin; ganz ordentlich also bin ich ein Fremdling in der hier üblichen Art zu reden (atechnos oun xenos echo tes enthade lexeos)« (Platon, Des Sokrates Verteidigung, qd, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Heidelberg I 982, S. 7-8). 8 Ebd. I 7C, S. 7. 9 »Aber die Wahrheit will ich euch vortragen, wenn ihr wollt, in meiner Weise, und nicht in der eurer Reden, damit ich nicht Lachen errege« (Platon, Das Gastmahl, I 99a- b, übers. v. Pranz Susemihl, Heidelberg I 9 82, s. 693)I O Ebd. I I Ebd. I2 Platon, Des Sokrates Verteidigung, I 7c, a. a. 0., S. 7· I 3 Platon, Apologie de Socrate, in: CEuvres completes, Bd. I, übers. v. L. Robin, Paris I 9 5 0, S. I 47 (»ni possedant non plus, comme le leur, toutes
les parures du vocabulaire et du style, mais plutöt des choses dites . . . ) dt.: >>keineswegs Reden aus zierlich erlesenen Worten, gefällig zusam mengeschmückt und aufgeputzt, wie dieser ihre waren, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hören in ungewählten Worten<<, I 7c, a. a. O., 5. 7. "unwahr ist diese Rede (ouk est ' etymos logos houtos) ! << (Piaton, Phai dros, 24 3 a, in: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 4, übers. v. Friedrich 5chlei ermacher, Harnburg I 9 5 8 , 5. 24, Zitat von 5tesichoros, das in 244a wie der aufgenommen wird, 5. 2 5 ) . Platon, Des Sokrates Verteidigung, 3 I e, a. a. 0., 5. 24. Ebd., 3 2a, 5. 24. Ebd., 3 I d, 5. 24· Ebd., pc, 5. 2 5 . Ebd., 3 2d, 5 . 2 5 · Euripides, Ion, Vers 5 9 5 , a. a. 0., 5. 2 8 . »Tüchtige Beweise will i c h euch hiervon anführen, nicht i n Worten (ou logous), sondern was ihr höher achtet, Tatsachen (erga)«, 3 2a, a. a. O., 5. 24. Epiktet, Entretiens, III, I, übers. v. Joseph 5ouilhe, Paris I 96 3 , 5. 5· Zur Analyse dieses Texts vgl. die Vorlesung vom 2o. ]anuar I 9 82, in: Her meneutik des Subjekts, a. a. 0., 5. I 30. «
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Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1 9 8 3 , zweite Stunde)
Abschluß der Studie von Sokrates ' Apologie: der Gegensatz parrhesia/ Rhetorik. - Studie des Phaidros: allgemeine Gliederung des Dialogs. - Die Bedingungen des richtigen Iogos. - Die Wahrheit als beständige Funktion des Diskurses. - Dialektik und Psychagogie. - Die philosophische parrhesia.
Ich möchte nun ganz kurz abschließen, was ich über die Apolo gie sagen wollte, da es sich dabei um Dinge handelt, die einer seits wohlbekannt sind und die andererseits letztes Jahr b ehan delt wurden. Ich wollte zeigen, daß die sokratische parrhesia keineswegs in dem Unternehmen besteht, das Wahre im Be reich der Politik über und in bezug auf politische Entscheidun gen zu sagen, sondern daß sie gewissermaßen eine Funktion der Trennung von der eigentlichen politischen Tätigkeit ist. Diese Trennung ist durch das Verbot des daimon gekennzeich net, zugleich aber auch durch die Verpflichtung, die Wahrheit gegenüber diesem Bereich der Politik ins Spiel zu bringen, so bald die Umstände im politischen Bereich es erfordern, daß derjenige, der sich in diesem Bereich bewegt, Gefahr laufen würde, selbst zum Subj ekt einer ungerechten Handlung zu werden. Das wird im Absatz 2 8 b deutlich gesagt: Ein Ehren mann darf nicht abwägen, wie groß die Gefahr für sein Leben ist. » [Er] müsse [ . . . ] vielmehr allein darauf sehen, wenn er et was tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob es eines recht schaffenen Mannes Tat oder eines schlechten. «;1 und in 2 8 d: »Wohin j emand sich selbst stellt [es handelt sich hier gerade um die Stellung, die Sokrates als Prytane innehatte oder um die Stellung der Autorität, die ihm von den Tyrannen verliehen wurde; M. F.], in der Meinung, es sei da am besten, oder wohin einer von seinen Obersten gestellt wird, da muß er, wie mich dünkt, j ede Gefahr aushalten und weder den Tod noch sonst ir gend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande.«2 Die Fra ge, die sich j etzt stellt, ist nun, ob die parrhesia sich darauf be schränkt, diese Zäsur gegenüber dem Bereich der Politik zu
kennzeichnen, und zwar durch einen Schnitt, in dessen Verlauf die Wahrheit sich entweder logo (durch den Dikurs) oder ergo (durch die Tat, die Tatsache, das wirkliche Verhalten) zeigen wird. Sie wissen, daß in der Apologie auf diese Frage eine ganze Reihe von Textstellen antworten, in denen gezeigt wird, daß es für den Philosophen eine parrhesiastische Rolle zu spielen gibt, die nicht darin besteht, vor der Ratsversammlung das Wort zu er greifen, die aber auch etwas anderes als die bloße, offensicht liche und ausdrückliche Weigerung ist, zu einer ungerechten Person zu werden. Es gibt eine eigentlich philosophische par rhesia, die, wie Sie wissen, beschrieben wird, wenn Sokrates von der Aufgabe spricht, die ihm nicht von dem daimon (der sich damit begnügt, negative Befehle zu geben, nämlich zu sa gen: tue nicht dieses oder jenes), sondern von dem Gott, den Orakeln, den Träumen und allen Hilfsmitteln anvertraut wur de, deren sich eine göttliche Macht bedienen kann.3 Es ist diese Aufgabe, die er sich entschlossen hatte, bis zu seinem letzten Atemzug zu verfolgen, an die er seine Existenz geknüpft hat, für die er j ede Bezahlung und Zuwendung ablehnt. Ich gehöre nicht zu jenen, die reden, wenn man sie bezahlt, und die nichts sagen, wenn man sie nicht bezahlt. Er steht j edermann zur Ver fügung, dem Reichen wie dem Armen, vorausgesetzt, daß er zuhören will. So wird dieser Pakt des Zuhörens, das notwendig ist, noch bevor die philosophische Aufgabe beginnt, und das schon vorausgesetzt wird, im Text bezeichnet. Wie wird nun der Philosoph auf dieses Zuhören und auf diese Forderung der anderen reagieren ? Auf Befehl des Gottes selbst wird er ant worten, indem er die, denen er begegnet, ermahnt, sich nicht um Ehren, Reichtümer oder Ruhm zu kümmern, sondern um sich selbst - das ist die epimeleia heauton, wie Sie wissen. Sich um sich selbst zu kümmern besteht zunächst und vor allem darin, zu wissen, ob man das, was man weiß, wirklich weiß oder ob man es nicht weiß. Philosophieren, sich um sich selbst kümmern, die anderen zu ermahnen, sich um sich selbst zu kümmern, und zwar dadurch, daß man untersucht, prüft und
auf die Probe stellt, was die anderen wissen und was nicht, dar in b esteht die philosophische parrhesia, die nicht einfach nur ein Diskursmodus, eine Diskurstechnik ist, sondern das Leben selbst. Ich muß, so Sokrates, »in Aufsuchung der Weisheit mein Leben [hinbringen] [zen philosophounta kai exetasonta emauton kai tous allous: und in der Untersuchung und Prü fung; M. F. ] und in Prüfung meiner selbst und anderer. «4 Das ist die philosophische parrhesia, und diese Prüfung s einer selbst und der anderen ist für den Staat nützlich, weil Sokrates als Parrhesiast inmitten des Staates diesen am Schlafen hindert. Und, so sagt er weiter, wenn ihr mich zum Tode verurteilt, wißt ihr sehr wohl, daß ihr den Rest eures Lebens schlafend verbrin gen werdet. Diese Funktion, die gar keine politische Funktion, sondern die im Hinblick auf die Politik notwendig ist, die zwar für das Funktionieren, für die Regierung des Staats nicht erfor derlich ist, aber für das Leben des Staates und für seinen Nicht Schlaf (für das Wachen des Staates, für das Wachen über den Staat), kennzeichnet die philosophische parrhesia. Sie s ehen auch, daß diese philosophische parrhesia Stück für Stück dem entgegengesetzt ist, was den rhetorischen Diskurs auszeichnet. Es geht bei der philosophischen parrhesia nicht um einen Diskurs, der im Bereich der Politik, am eigentlichen Ort der Politik, in den Versammlungen oder in den Gerichten auszuüben wäre. Es handelt sich um einen Diskurs, der gegen über dem Ort des rhetorischen Diskurses zurücksteht und von ihm abgetrennt ist, und dennoch ist es ein Diskurs, der sich eventuell und in bestimmten Fällen gegenüber den Entschei dungen der Politik zur Geltung bringen muß. Zweitens ist es ein Diskurs, der sich gewissermaßen nicht durch sein Ziel auszeichnet, das darin bestünde, die anderen zu überreden. Er zeichnet sich von seinem Ursprung her viel stärker durch die Tatsache aus, daß er etymos ist, d. h. daß er in seiner Spontanei tät und Einfachheit keine andere Form hat, als so nahe wie möglich an der Wirklichkeit zu sein, auf die er sich bezieht. Es ist ein Diskurs, der seine Kraft (seine dynamis) nicht der Tatsa che verdankt, daß er überredet. Er verdankt seine dynamis der
Tatsache, daß er zu dem Sein selbst gehört, das ihn hervor bringt. Schließlich ist der philosophische Diskurs drittens kein Diskurs, der Anspruch auf Wissen erhebt und, indem er einen solchen Anspruch erheben würde, den anderen, der nicht weiß, zu überzeugen versucht. Er ist im Gegenteil ein Diskurs, der sich in jedem Augenblick unablässig seitens desjenigen, der ihn hält, sowie desj enigen, an den er gerichtet ist, auf die Probe stellt. Er ist eine Prüfung sowohl seiner selbst als auch desj eni gen, der spricht, sowie desj enigen, zu dem man spricht. Das ist in groben Zügen das Thema der philosophischen parrhesia, die, wie Sie sehen, sich mit Themen überschneidet, die ich letz tes Jahr angesprochen habe. Ich habe diese Dinge nun kurz behandelt und möchte jetzt zum Phaidros kommen, dem anderen Text, bei dem ich verwei len möchte, um zu sehen, wie sich bei Platon der Gegensatz zwischen dem philosophischen und dem rhetorischen Diskurs abzeichnet. Gewiß gibt es bei Platon nicht nur die Apologie und den Phaidros, die von diesen Problemen handeln. In einem gewissen Sinn durchzieht das Problem von Philosophie und Rhetorik Platons gesamtes Werk. Um der Knappheit willen nehme ich diese beiden Texte, die ich aus den zuvor genannten Gründen ausgewählt habe: hier ist es gewissermaßen der prak tische Diskurs, in dem Sokrates seine eigene parrhesia im Hin blick auf sein eigenes Leben ins Spiel bringt; dort wird sich dagegen die Philosophie, die Kunst des Philosophierens ange sichts der raffiniertesten Formen dessen darstellen, was sich als Kunst der Rhetorik ausgibt. Es handelt sich also nicht um Le ben und Tod des Sokrates, sondern um die Liebe. Sie wissen verzeihen Sie, daß ich an diese Banalitäten erinnere -, daß der Phaidros, grob gesagt, um vier große Brennpunkte herum an geordnet ist. Zuerst haben wir die Rede des Lysias (j ene Rede, die Phaidros in seiner Tasche bzw. in den Falten seines Mantels hatte und die ihn, als er sie hörte, so stark bezaubert hatte, daß er sie auswendig lernen wollte). Neugierig geworden, bittet So krates Phaidros, ihm die Rede des Lysias vorzulesen, und diese Rede hat zum Thema, daß ein Knabe seine Gunst eher dem 410
Mann erweisen soll, der ihn nicht liebt, als dem, der ihn liebt. Auf diese widersinnige Rede des Lysias wird Sokrates antwor ten - j edoch nicht, ohne sich bitten zu lassen -, daß er selbst nicht wirklich in der Lage sei, so schöne Lobreden zu halten. Er hält aber eine Rede, die gewissermaßen die Antwort und das Gegenstück und bis zu einem gewissen Grad eine Nachah mung derjenigen ist, die er gerade aus Lysias' Mund vernom men hat. In dieser Rede bzw. dieser nachgeahmten Rede erklärt Sokrates nun - Lysias' Rede besagte, daß ein Knabe seine Gunst dem erweisen solle, der ihn nicht liebt -, daß ein Knabe nicht dem, der ihn liebt, seine Gunst erweisen soll, weil ein Lie bender bei dem, in den er verliebt ist, nur die niedrigsten und schändlichsten Eigenschaften liebt und weil ein Liebender, ein alter Mann, der in einen jungen Knaben verliebt ist, doch auf j eden Fall eine Nervensäge ist. Auf diese zweite Rede folgt eine weitere, dritte Rede, nämlich die zweite Rede des Sokrates, die nun die wahre Rede sein wird, d. h. eine Rede, die sehr komple xe Beziehungen zur Wahrheit aufweist, weil einerseits im Un terschied zu den ersten beiden Reden, in denen nur j ene gelobt wurden, die nicht lieben, und die Liebenden nur herabgewür digt wurden, die dritte Rede (Sokrates' zweite) eine Lobrede auf die wahre und echte Liebe ist. Zweitens ist diese Lobrede auf die wahre Liebe keine rhetorische Lobrede, die dazu ent schlossen ist, j emanden von einer verhältnismäßig schwer zu verteidigenden These zu überzeugen. Vielmehr kommt die Lobrede der wahren Liebe in einem wahren Diskurs zum Aus druck. Hier wird nun aber - die Beziehung zur Wahrheit ist also zweifach, weil es sich um eine wahre Lobrede auf die wah re Liebe handelt - der Diskurs der Wahrheit komplex und pro blematisiert selbst seine Beziehungen zur Wahrheit, weil er sich über eine Reihe von sogenannten Fabeln erstreckt: die Fa bel des Gespanns, die Fabel der Liebe, die Federn in der Seele wachsen läßt, usw. Das ist der dritte Bestandteil, der dritte Brennpunkt des Phaidros. Danach erreicht der Dialog seinen Höhepunkt oder sozusagen seine Vollendung in einer Ü ber legung, die direkt dem Problem der Kunst der Sprache und 4I I
der wahren techne im Verhältnis zum Iogos gewidmet ist. Ist das die Rhetorik oder etwas anderes als die Rhetorik ? Das zweite Problem, das mit diesem verknüpft ist, ist das Problem der Schrift: Gehört die Schrift zur techne des Diskurses oder nicht ? Ich habe nicht vor, auf die Einzelheiten dieses vierten Teils einzugehen, sondern möchte ihn nur vom Gesichtspunkt der Geschichte des Seinsmodus des wahren Diskurses und seiner Charakterisierung gegenüber der Rhetorik betrachten. In die sem letzten Teil des Phaidros möchte ich folgende Punkte fest halten. Erstens muß man sofort b emerken - denn das wird vom B eginn des vierten Teils des Phaidros an angedeutet -, daß Pla ton bei seinem Vorhaben, den philosophischen Diskurs vom rhetorischen Diskurs zu unterscheiden, den Anspruch der Rhetorik, eine Kunst zu sein, die Kunst (die techne) des Dis kurses (des Iogos) zu sein, zu beurteilen, bei seinem Vorha ben also, die Rhetorik mit ihrem wahren Maß zu messen, die mündliche Rede (den logos) auf die eine Seite stellt und die schriftliche Rede auf die andere. Man muß bemerken, daß den ganzen Text, den ganzen vierten Teil hindurch, das Wort logos sich manchmal auf die schriftliche Rede, manchmal auf die mündliche Rede und manchmal auf eine Rede bezieht, bei der es unbestimmt bleibt, ob sie schriftlich oder mündlich ist. Es gibt eine andere Passage, die für den Augenblick zumindest viel klarer und viel expliziter bezüglich dieser fehlenden Auf teilung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Rede ist, nämlich folgende. Als Platon seine zweite Rede hält (die dritte in der Reihe), die die wahre Rede über die wahre Liebe ist, gehen Phaidros, der so verliebt in die Rede des Lysias war, Augen und Ohren auf. Er versteht, daß die Rede des Lysias im Grunde keinen großen Wert hat, wenn man sie mit der Rede des Sokrates vergleicht. Phaidros sagt: Nun ja, die Rede des Ly sias ist wohl nicht viel wert, aber dafür gibt es einen Grund. Und der Grund, den Phaidros vorschlägt, ist folgender: Lysias ist nur ein Logograph, 5 d. h. einer, der seine Reden nur schreibt und seine Rede gewissermaßen nicht im Ausgang von seinem 412
eigenen Iogos hält, in der Gegenwart des Sprechens. Im Hin blick darauf ist er einer j ener berufsmäßigen Mietlinge, der Re den für andere schreibt. Da er ein Mann der Schrift ist, muß man sich also nicht wundern, daß seine Rede so flach und schlecht neben dem sei, der beim Gesang der Zikaden seine Rede improvisiert, nämlich Sokrates, denn er ist ein Mann der Schrift. Auf diese Vermutung, die Phaidros nahelegt (die Rede des Lysias sei deshalb nichts wert, weil es eine geschriebene Rede ist), antwortet Sokrates eindringlich, indem er folgendes sagt: Aber warum sollten die Redenschreiber so verachtet wer den ? Jene berüchtigten Politiker, die vorgeben, nicht die guten Dienste eines Redenschreibers in Anspruch zu nehmen und die vorgeben, aus sich heraus zu sprechen, du weißt sehr wohl, daß sie mehr als j eder andere an der Schrift hängen, weil sie keine dringlichere Sorge kennen, als ihre eigenen Reden schreiben zu lassen und mit ihnen aufzuschneiden. Verachten wir also nicht die Redenschreiber, denn der entscheidende Unterschied be steht nicht zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen. Es liegt an sich nichts Häßliches (aischron: Schändliches) darin, eine solche Rede zu schreiben. Die Sache beginnt erst häßlich zu werden, wenn man entweder schriftlich oder mündlich nicht schön, sondern häßlich spricht.6 Daher ist das Problem, das Sokrates oder Platon zu Beginn dieses vierten Teils des Phaidros stellt, ganz ausdrücklich fol gendes: Lassen wir diesen Gegensatz als unzutreffend beiseite, der zu j ener Zeit so klassisch war und so oft bemüht wurde, nämlich zwischen der schriftlichen Rede, der Rede der Reden schreiber, die als Ware von schlechter Qualität galt, und dem guten, lebendigen Iogos. Diese Unterscheidung ist weder für Platon noch für Sokrates wichtig, sondern etwas anderes, näm lich: Wie läßt sich feststellen, was die gute und was die schlech te Rede ist, gleichgültig, ob sie in schriftlicher oder mündlicher Form vorliegt ? Das heißt aber: Was ist die Qualität der Rede selbst ? Ist sie schön oder schlecht geschrieben oder gespro chen ? Worin besteht dieser Unterschied ? Er besteht jedenfalls nicht in der Trennung in schriftliche und mündliche Form. Was
führt zu der Trennung in schönes und schlechtes Reden oder Schreiben ? Phaidros beginnt, indem er eine Lösung vorschlägt, die unmit telbar einleuchtend erscheint, und zwar sagt er folgendes: Da mit eine schriftliche oder mündliche Rede wirklich gut ist, muß der Redner oder Schreiber bezüglich der Dinge, über die er redet, die Erkenntnis des Wahren haben (to alethes).7 Anschei nend ist das alles ganz einfach und ganz direkt. Alles ist nun ge sagt, und genau darum geht es, nämlich daß die Rhetorik der Wahrheit gegenüber gerade gleichgültig ist, weil sich die Rhe torik damit brüstet, diese oder j ene Behauptung verteidigen zu können und das Gerechte für das Ungerechte auszugeben. Der beste B eweis dafür ist, daß die Rhetorik imstande ist zu zeigen, daß ein Knabe seine Gunst eher demjenigen erweisen soll, der ihn nicht liebt, als dem, der ihn liebt. Also, sagt Phaidros, muß der Sprecher die Wahrheit kennen, und dann wird seine Rede gut sein. Nun ist Sokrates aber mit dieser Lösung nicht zufrie den, die darin besteht, daß man sagt: Verschaffen wir uns als er stes die Wahrheit, dann mag die Rhetorik hinzutreten, wenn die Wahrheit schon vom Sprecher erworben wurde. Sokrates macht folgendes geltend: Wenn die Wahrheit sich darauf be schränkt, bloß vom Sprecher gewußt zu werden, gewisserma ßen bevor er spricht, als Vorbedingung seiner Rede (was Phai dros vorschlägt), dann wird seine Rede keine wahre Rede s ein. Die Erkenntnis der Wahrheit ist für Sokrates keine Vorbedin gung für die gute Redepraxis. Denn wenn die Wahrheit schon vor der Redepraxis gegeben ist, was ist dann die Rhetorik, wenn nicht die Gesamtheit von Ausschmückungen, die Ge samtheit der Umwandlungen, die Gesamtheit der Konstruk tionen und Sprachspiele, durch die das Wahre vergessen, aus gelöscht, verborgen und versäumt wird ? Damit die Rede eine wahre Rede s ein kann, darf die Erkenntnis des Wahren nicht schon vorher dem Redner gegeben sein, son dern die Wahrheit muß eine stetige und beständige Funktion der Rede sein. Und Sokrates zitiert ein Apophtegma, das er als spartanisches, lakonisches Apophtegma bezeichnet -, über
dessen Ursprung weiß man nichts, denn es wurde nur noch ein weiteres Mal von Plutarch in den lakonischen Apophtegmata zitiert, aber in Anlehnung an den Text des Phaidros, so daß man sagen kann, daß es eigentlich nur ein Zitat dieses Textes gibt, nämlich das des Phaidros -; diese Textstelle besagt folgen des: Eine wahrhaftige Kunst (etymos techne: das heißt, eine Kunst, die so nahe wie möglich am Sein ist, das sie durch ihre eigene Kunst behandelt) existiert nicht und wird auch in Zu kunft nicht existieren können, ohne an die Wahrheit gebunden zu sein. 8 Die Rede, die etymos Kunst, die wahrhaftige Kunst des Redens ist nur unter der B edingung eine echte Kunst, daß die Wahrheit eine beständige Funktion des Diskurses ist. Dann stellt sich aber folgendes Problem: Wie kann dieses notwendige und kontinuierliche Verhältnis der Rede zur Wahrheit sicher gestellt werden und veranlassen, daß der Redner in seinem andauernden Verhältnis zur Wahrheit die etymos techne (die wahrhaftige Technik) besitzt und auch anwendet ? An dieser Stelle entwickelt Sokrates seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Diskurs und Wahrheit, indem er zeigt, wie die Wahrheit nicht die gewissermaßen psychologische Vor bedingung für die Praxis der Redekunst, sondern in jedem Augenblick das sein muß, worauf sich die Rede bezieht. Er zeigt das zunächst, indem er eine grobe Verallgemeinerung vornimmt, die während eines ganzen Teils der Diskussion in der Schwebe bleibt und von der wir später sehen werden, wie er sie wiederaufnimmt und wiederverwendet. Sokrates sagt: Was ist im Grunde diese Kunst der Rhetorik, die überreden will ? Nun, diese Kunst der Rhetorik ist nichts anderes als eine allgemeine Form von etwas, das er psychagogia dia ton logon (die Psychagogie durch die Reden) nennt,9 d . h. daß die Rheto rik nichts anderes als eine Weise ist, die Seelen mittels der Re den zu leiten. Daher wird er das Problem nicht im Rahmen der Rhetorik allein stellen, sondern im viel allgemeineren Rahmen j ener Kategorie, innerhalb welcher die Rhetorik ihren Platz hat oder haben sollte, nämlich der Psychagogie (der Seelenleitung) dia ton logon (durch die Reden).
Nachdem er nun dieses allgemeine Prinzip festgesetzt und anschließend gezeigt hat, daß das, worüber er sprechen wird, nicht so sehr die Rhetorik im besonderen als vielmehr die Psychagogie im allgemeinen ist, kommt er auf die Bestimmung zurück, die die Redner ihrer Kunst geben. Tatsächlich sagen die Redner, wenn sie die techne ihrer Rhetorik bestimmen wollen, daß sie eine Kunst sei, die ermöglicht, daß dieselbe Sache als ge recht oder ungerecht erscheinen kann oder daß dieselbe Ent scheidung bald als gut und bald als schlecht erscheinen kann. Damit nun aber, so Sokrates, dieselbe Sache manchmal als gut und manchmal als schlecht, manchmal als gerecht und manch mal als ungerecht erscheinen kann, muß man in der Lage sein, eine Illusion zu erzeugen, die die Person davon überzeugt, daß das, was gerecht ist, ungerecht ist oder umgekehrt. Wie läßt sich diese Illusion nun aber erzeugen ? Einfach dadurch, daß man das Ungerechte durch das Gerechte ersetzt, daß man von einem Extrem zum anderen geht oder vom Entgegengesetzten zu dem, was ihm am meisten ent g e g engesetzt ist ? Sicher nicht. Man muß vom Gerechten zum Ungerechten so übergehen, daß, so der Text, im Fortgang kleine Unterscheidungen vorge nommen werden.10 Wenn sie wirklich das Häßliche als schön, das Gerechte als ungerecht darstellen will, muß die wahre Kunst der Rhetorik vom einen zum anderen durch eine fortge setzte Bewegung kleiner Unterschiede übergehen, und nicht durch einen plötzlichen Sprung vom Gerechten zum Unge rechten, vom Schönen zum Häßlichen, vom Guten zum Schlechten, wodurch niemand sich täuschen ließe. Um nun aber in der Lage zu sein, diesen Ü bergang von einem Extrem zum anderen (vom Guten zum Schlechten, vom Gerechten zum Ungerechten) durch kleine Unterschiede zu bewerkstelli gen, und um sich selbst nicht zu verirren, d. h. damit der Red ner sich nicht selbst in dieser Bewegung der kleinen Unter schiede verliert, muß man diese Unterschiede auch feststellen können, und zwar so gut wie möglich. Aber wie kann man die kleinen Unterschiede so gut wie möglich feststellen und sie als das erkennen, was sie sind, damit man schließlich die ange-
strebte Wirkung der Ü berredung erreicht ? An dieser Stelle ha ben wir nun die berühmte Passage 2 6 5 d-2 6 5 e des Phaidros, wo er sagt, daß man, um einen Unterschied zu erkennen, zuerst in der Lage sein muß, das Verstreute und Auseinanderstrebende in einer Gesamtansicht zu vereinen. Wenn man erst einmal eine Ansicht des Ganzen hat, muß man diese Einheit nach Arten und in Arten (eide) unterteilen, indem man die natürlichen Gliederungen beachtet und so verfährt wie die Leute, die etwas gut in Teile zerlegen können und die den gegebenen Gliede rungen folgen, anstatt einfach brachial draufloszuschneiden. 1 1 Ich gehe darauf nicht ein, das ist ein solcher topos i n der Ge schichte der Philosophie, daß ich denke, daß ihn die meisten von Ihnen kennen. Interessant ist nun, daß Sokrates dadurch zeigt, daß, um das Ziel, das sich die Rhetorik selbst setzt, zu er reichen - nämlich ebensogut vom Gerechten wie vom Unge rechten zu überzeugen -, nicht eine techne retorike notwendig ist, sondern eine techne dialektike.12 Nur die Dialektik ermög licht es, dieses Erg ebnis zu erzielen. Man könnte dies, so fährt Sokrates fort, aber einräumen und sagen, daß die Rhetorik zwar wohl oder übel diese Dialektik wirklich braucht und daß es daher für das Ziel der Rhetorik nicht genügt, die Wahrheit im voraus zu kennen (was Phaidros vorschlug), sondern daß man diese ganze dialektische Erkenntnis braucht, die die Rede stützen und gewissermaßen ihre Ausführungen gliedern wird, daß aber dennoch bestehen bleibt - das könnten die Rhetoriker sagen, diesen Einwand macht Sokrates sich selbst -, daß man über diese Dialektik hinaus und um die dialektische Wahrheit zu ihrer Ü berzeugungswirkung zu bringen, eine Reihe von Verfahren anwenden muß, die gerade diej enigen der Rhetorik im eigentlichen Sinne sind. Die hier in den Blick genommene Vermutung, die Sokrates nun widerlegen wird, besteht schließlich in folgendem: Zugegeben, die beständige Funktion des Verhältnisses zur Wahrheit ist notwendig und wird in der Rede durch die Dialektik gewähr leistet, aber diese Dialektik muß durch eine Kunst der Rheto rik ergänzt werden, die sich ihr überlagert, die gewissermaßen
das Vehikel der Dialektik ist und die Wirkungen der Ü berzeu gung hervorbringt, die man anstrebt. Und er zählt die verschie denen Teile auf, die den Rhetorikern wohlbekannt sind und die sie als ihre eigene Kunst darstellen: die Kunst der Exposition, des Beibringens von Belegen, von Indizien, von Wahrschein lichkeiten, das ganze System der Beweise, die Widerlegung hier haben wir schließlich die ganze Passage, in der Sokrates die verschiedenen Teile der Kunst der Rhetorik seiner Zeit aufzählt. Nun wird Sokrates auf die Forderung nach zumin dest der Möglichkeit einer techne retorike über die dialektische Funktion hinaus antworten, daß alle diese Elemente tatsächlich nur Anfangsgründe der wirklichen Kunst und Tätigkeit des Ü berzeugens sind. Denn, wodurch wird eigentlich die Über zeugungsarbeit geleistet ? Nicht dadurch, daß man an den Be ginn seiner Rede eine Exposition stellt, dann B elege anführt, dann Indizien und Wahrscheinlichkeiten geltend macht, dann widerlegt usw. Was die wirkliche Ü berzeugungsarbeit leistet, ist das Wissen, wo, wann, wie und unter welchen Bedingungen man diese verschiedenen Verfahren anwendet. Und hier be zieht er sich natürlich auf die Medizin. Was dafür verantwort lich ist, daß die Medizin heilt, ist nicht die Tatsache, daß der Arzt die Liste von zu verabreichenden Medikamenten kennt, sondern daß er genau weiß, welchem Kranken zu welchem Zeitpunkt in der Entwicklung der Krankheit und in welcher Menge er ein Medikament verabreichen soll. Genauso wie der Arzt nur dann ein guter Arzt ist, wenn er nicht nur die dynamis (das Vermögen) der Medikamente kennt, sondern auch den Körper, die Konstitution der Körper, bei denen er sie anwen det - hier haben wir einen Bezug auf Hippokrates 13 und mög licherweise einen Bezug auf j enen ganz konkreten Text, in dem Hippakrates oder ein hippokratischer Arzt sich damit brüstet, den ganzen Diätplan geändert und die bloße Verordnung von Rezepten durch das Nachdenken über die Diät in Abhängig keit vom Zustand des Körpers ersetzt zu haben, welcher s elbst wieder Gegenstand einer Ü berlegung mit Blick auf den Zu stand des Klimas und der ganzen Welt ist. 14 Es gibt einen Be-
zug auf folgende hippokratische Themen: Hippakrates ist also derj enige, der den Gedanken aufgebracht, ergänzt oder zuge lassen hat, daß die Kunst der Medizin nicht einfach die Anwen dung eines Rezepts ist, sondern zweifellos eine Kunst des Hei lens durch die Erkenntnis des Körpers. Auf dieselbe Weise ist die Fähigkeit des Überzeugens, von der die Rhetorik sagt, daß sie ebenfalls ihre techne ist, auch wenn man zugestehen kann, daß die Dialektik für die Rede notwendig ist, in Gestalt der rhetorischen techne nichts weiter als eine Gesamtheit von Re zepten. Sie ist nur anwendbar und wird nur Wirkungen haben, wenn man die Seele kennt, so wie der Arzt den Körper kennen muß. Man muß dasj enige kennen, auf das sich diese rhetori schen Techniken oder Verfahren beziehen. Man muß die Seele selbst kennen, was in 270e gesagt wird. Um j emanden tech nisch mit der Redekunst auszustatten, muß man ihm die Natur (die physis) dessen, worauf sich die Rede b ezieht, nämlich die Seele, in ihrem Wesen (in ihrer ousia) zeigen. l5 In 2 7 r c sagt er: >>Da die Kraft der Rede [die Macht der Rede: logou dynamis; M. F.] eine Seelenleitung ist [wir kommen nun zu dem gestell ten Thema zurück; M. F.], so muß, wer ein Redner werden will, notwendig wissen, wie viel Arten die Seele hat.«16 Hier muß man, glaube ich, folgendes richtig verstehen: Wenn Sokrates und Platon geltend machen, daß die Funktion der Wahrheit eine b eständige Funktion während der ganzen Rede sein muß und nicht bloß eine Vorbedingung der Erkenntnis, dann meinen sie nicht, daß die Rede es nötig hat, mit der Wahr heit verbunden zu sein, nämlich zunächst durch die Erkenntnis dessen, worüber man spricht und dann durch die Erkenntnis oder die Einschätzung derer, zu denen man spricht. Es geht nicht darum, daß man zunächst die Wahrheit kennen und dann die Person berücksichtigen muß, an die man sich wendet, um eine wahre Rede zu halten. Das zweifache Erfordernis einer Dialektik und einer Psychagogie, einer techne dialektike und eines Wissens um die psychagogia, dieses zweifache Erforder nis muß, wie gesagt, nicht verstanden werden als ein Erforder nis seitens des Sprechers und ein Erfordernis im Hinblick auf
diej enigen, zu denen man spricht. Es handelt sich um eine doppelte Bedingung, um zwei Bedingungen, die vollkommen wechselseitig voneinander abhängig sind und die die eigentüm liche Seinsweise der philosophischen Rede konstituieren sol len. Die Erkenntnis des Seins durch die Dialektik und die Wir kung der Rede auf das Sein der Seele durch die Psychagogie sind miteinander verbunden. Sie sind innerlich miteinander verbunden, und zwar durch ein Wesens band, da die Seele durch ihre Bewegung Zugang zur Erkenntnis des Seins hat und da die Seele in der Erkenntnis des Seienden sich selbst und ihr Wesen erkennen kann, nämlich daß sie mit dem Sein selbst verwandt ist. An dieser Stelle versteht man, daß die große Rede, die So krates über die wahre Liebe gehalten hat (die dritte Rede, seine zweite, aber die dritte im Phaidros), diese Rede, die er über den Wahn, über das Gespann der Seele, über den Aufstieg zur Wirklichkeit, über die Rolle des eros, über die wachsenden Fe dern, über den Abflug der sich wiedererinnernden Seele gehal ten hat, daß all dies im Dialog nicht die alleinige Funktion hat te, ein Beispiel für eine wahre Rede über die wahre Liebe zu geben, die den Kunstgriffen der rhetorischen Reden entgegen gesetzt ist. Die Funktion bestand darin, schon den Inhalt vor wegzunehmen, der im vierten Teil angedeutet wird. Diese Rede zeigte im voraus die Verbindung, die zwischen dem Zugang zur Wahrheit und der Beziehung der Seele zu sich selbst be steht. Wer dem Weg der Dialektik folgen will, wer das Sein mit sich selbst in Beziehung bringen will, der kann nicht umhin, zu seiner eigenen Seele oder durch die Liebe zur Seele des an deren eine solche Beziehung zu haben, daß diese Seele da durch verändert und in die Lage versetzt wird, die Wahrheit zu schauen. Dialektik und Psychagogie sind zwei Gesichter ein und dessel ben Prozesses, ein und derselben Kunst, ein und derselben techne, die die techne des Logos ist. Wie der philosophische Lo gos ist auch die philosophische techne des Logos eine techne, die sowohl die Erkenntnis der Wahrheit als auch die Praxis oder Askese der Seele gegenüber sich selbst ermöglicht. Die Rede 4 20
der Rhetorik, die Seinsweise der rhetorischen Rede ist derart beschaffen, daß einerseits die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit durch die Möglichkeit gekennzeichnet ist, daß man für und wider das Gerechte sowie das Ungerechte sprechen kann. Andererseits ist die rhetorische Rede dadurch gekenn zeichnet, daß man sich ausschließlich um die Wirkung küm mert, die auf die Seele des Zuhörers ausgeübt wird. Dagegen ist die Seinsweise der philosophischen Rede einerseits durch die Tatsache charakterisiert, daß die Erkenntnis der Wahrheit da für nicht nur notwendig, nicht bloß eine Vorbedingung ist, sondern eine stetige Funktion. Und diese stetige Funktion der B eziehung zur Wahrheit in der dialektischen Rede kann nicht von der unmittelbaren Wirkung getrennt werden, die nicht bloß auf die Seele dessen ausgeübt wird, an den sich die Rede wendet, sondern auch auf die Seele dessen, der die Rede hält. Darin besteht die Psychagogie. Erkenntnis der Wahrheit und Seelenpraxis, das ist die grundle gende, wesentliche, unzertrennliche Gliederung der Dialektik und der Psychagogie, dadurch wird die der wahren Rede ei gentümliche techne charakterisiert, und darin, daß er zugleich Dialektiker und Psychagoge ist, wird der Philosoph wahrhaft Parrhesiast, und zwar der einzige Parrhesiast sein, was der Rhetoriker weder in der Lage ist zu sein noch zu tun. Die Rhe torik ist eine atechnia (ein Fehlen der techne) im Hinblick auf die RedeY Die Philosophie dagegen ist etymos techne (die wahrhaftige Technik) der wahren Rede. Es bliebe noch die Fra ge nach der Schrift zu stellen, wie sie aus diesen Ü berlegungen abgeleitet werden kann und wie sie am Ende der Rede er scheint. Nächstes Mal werde ich versuchen, Ihnen das in Kürze in Erinnerung zu bringen.'� [ . �-'�] .
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* Foucau!t wird auf dieses Problem in der Vorlesung vom 9· März nicht
zurückkommen. Glücklicherweise enthält das Ende des Manuskripts ei nen Hinweis auf das, was er bezüglich dieses Punktes hinzufügen woll te: »Von hier aus läßt sich die Problematik der Schrift verstehen, die den Dialog beschließt, wenn man sie auf diese Argumentation bezieht. Man muß richtig verstehen, daß diese Entwicklung symmetrisch ist zu den B emerkungen, die im Anschluß an die drei großen Reden gemacht wur-
Anmerkungen r Platon, Des Sokrates Verteidigung, 2 8b, a. a. 0., S. 20. 2 Ebd. 3 Ebd., 2 8 e-29b, S. 20-2 1 . 4 Ebd., 2 8 e, S. 2 1 . 5 Platon, Phaidros, 2 5 7c, a. a. O., S. 3 7 · 6 »Aber das, glaube ich, wird schon schlecht (aischron) sein, wenn j e mand nicht schön redet, sondern häßlich u n d schlecht (alt' aischros te kai kakos)« (ebd.). 7 »Muß nun nicht, wo gut und schön soll geredet werden, des Redenden Verstand die wahre Beschaffenheit (talethes) dessen erkennen, worüber er reden will ? << (ebd., 2 5 9e, S. 4o; tatsächlich ist es Sokrates, der diese Vermutung Phaidros gegenüber äußert). 8 >>Von der Rede, sagt der Lakonier, gibt es weder eine wahrhafte Kunst (etymos techne), wenn sie nicht an die Wahrheit gebunden ist (aneu tau aletheias), noch wird es j emals in Zukunft eine solche geben (Plutarch, »Apophtegmes laconiens«, 2 6oe, in: CEuvres morales, Bd. III, übers. v. F. Fuhrmann, Paris 1 9 8 8 , S. 62-63). 9 »Ist also nicht überhaupt die Redekunst eine Seelenleitung (:psychago gia) durch Reden (dia logon) ?« (Platon, Phaidros, 2 6 r a, a. a. 0., S. 4 1). r o »Kann also wohl diese Kunst, immer um ein weniges durch Ähnlich keiten (technikos estai metabibazein kata smikron dia ton omoioteton) von dem, was j edes Mal wahr ist, fortzuleiten und so zum Gegenteil hinzuführen oder sich selbst davor zu hüten, derjenige besitzen, der nicht erkannt hat, was j edes in Wahrheit ist ? « (ebd., 262b, S. 42).
den. Die Frage war: Ist nicht die Schrift für die schlechte Qualität der Rede des Lysias verantwortlich ? Das hat keinerlei Bedeutung, hatte Sokrates geantwortet. Die Fragen, die man stellen muß, betreffen das Sprechen, und zwar sowohl das mündliche als auch das schriftliche. Und j etzt, da sich die wahrhaftige techne der Rede als die Philosophie herausstellt, wie stellt sich nun die Frage nach der Schrift dar ? Der ge schriebene Text ist nicht lebendig; er kann sich nicht alleine verteidigen, er kann nur ein Mittel für das hypomnesai sein. [ . . .]. Es gibt keine Auf teilung zwischen dem Iogos und der Schrift, sondern zwischen zwei Seinsweisen des Iogos: einer rhetorischen Seinsweise, die das Problem des Seins, dem gegenüber sie gleichgültig ist, ebenso verfehlt wie das Sein der Seele, an das sie sich nur aus Schmeichelei wendet; einer philo sophischen Seinsweise, die mit der Wahrheit des Seins und mit der See lenpraxis verbunden ist und die die Verwandlung der Seele umfaßt. Eine logographische Seinsweise der rhetorischen Rede und eine Seins weise der Selbstaskese der philosophischen Rede.<< '' ". M. F.: Wollen Sie, daß wir ein kleines Treffen um Viertel vor zwölf ver einbaren, für diejenigen, die Interesse haben ? Ja, nein ? 42 2
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» Ebenso auch wieder nach Begriffen zerteilen zu können gliedermäßig, wie jedes gewachsen ist, ohne etwa, wie ein schlechter Koch verfah rend, irgendeinen Teil zu zerbrechen« (ebd., 2 6 5 e, S. 46). 12 Ebd., 276e, S. 5 7 · I J Ebd., 270C, s . 5 0 · 1 4 Z u r Schwierigkeit, diese Passage Platons auf eine konkrete hippokrati sche Lehre zu beziehen, vgl. R. Joly, »Platon, Phedre et Hippocrate: vingt ans apres «, in: Formes de pensee dans la Collection Hippocrati que. Actes du IV. Colloque International hippocratique, Genf 1 9 8 3, s. 407-2 2 . I 5 » . . . sondern offenbar ist, daß, wenn j emand kunstmäßig Reden mit teilt, er auch das Wesen (ten ousian) der Natur (tes physeos) dessen ge nau muß zeigen können, dem er seine Reden anbringen will; dieses aber wird doch die Seele sein<< (Platon, Phaidros, 27oe, a. a. 0., S. p). r6 Ebd. 2 7 1 c-d, S. 5 2 · 1 7 Ebd., 274b, S. 5 4 ·
Vorlesung r o (Sitzung vom 9 · März 1 9 8 3 , erste Stunde)
Das historische Schwanken der parrhesia: vom politischen zum philosophi schen Spiel. - Die Philosophie als Praxis der parrhesia: das Beispiel Ari stipps. - Das philosophische Leben als Manifestation der Wahrheit. - Die ständige Hinwendung zur Macht. Die Ermahnung aller. - Das Porträt des Kynikers bei Epiktet. - Perikles und Sokrates. - Moderne Philosophie und der Mut zur Wahrheit.
Heute haben wir die letzte Sitzung. Mein Vorhaben war er stens, das abzuschließen, was ich Ihnen über das Wesen des parrhesiastischen Philosophen bei Platon gesagt habe. Ich hat te versucht, einige Züge dieses parrhesiastischen Philosophen zunächst im VII. und VII I . Brief und dann im Phaidros zu erfas sen. Heute möchte ich dasselbe anhand des Gorgias tun, der, glaube ich, einen dritten Aspekt der parrhesiastischen Funk tion der Philosophie ans Licht bringt. Und dann rechnete ich natürlich und rechne immer noch damit, zu einer Schlußfolge rung zu kommen. Nur lief ich, Sie kennen mich j a, Gefahr, die Dinge unbestimmt in die Länge zu ziehen und keine Schluß folgerung zu erreichen. Ich mußte mich also fragen, ob man nicht mit der Schlußfolgerung b eginnen solle, bevor wir zu j e nem dritten Teil, j enem dritten Aspekt, j enem dritten Wesens zug des parrhesiastischen Philosophen übergehen. Ich war an diesem Punkt meines Zögerns angelangt, als ich vom Fotoko pierdienst erfuhr, daß es eine Panne gab und daß der Text, den ich Ihnen austeilen wollte (der Text des Gorgias), frühestens um zehn Uhr fertig sein würde, wenn Sie ihn überhaupt be kommen könnten. Der Gang der Dinge hat daher die Reihen folge meiner Ausführungen bestimmt. Ich werde also gezwun genermaßen mit der Schlußfolgerung anfangen. Behalten Sie das in einem kleinen Winkel Ihres Kopfes, und in der zweiten Stunde oder am Ende der ersten und in der zweiten Stunde werde ich dann, wie gesagt, auf einen bestimmten Aspekt der philosophischen parrhesia zurückkommen, den ich doch her-
vorheben möchte, weil er in dem Bild, das ich entwerfen möch te, seinen bestimmten Ort hat. Verzeihen Sie also diese Um kehrung der Chronologie und der Logik. Im ersten Teil meiner Vorlesung hatte ich, wie Sie sich erinnern, versucht, eine bestimmte Form der parrhesia zu analysieren, wie sie in einem Text von Euripides oder in einem Text von Thukydides erscheinen konnte. Diese Form der parrhesia läßt sich unter das Zeichen oder das Symbol des Perikles stellen. Nennen wir dies das perikleische Moment der parrhesia. An schließend habe ich versucht, etwas zu skizzieren, was man das sokratisch-platonische Moment der parrhesia nennen könnte. Während das perikleische Moment seinen Ort natürlich in der zweiten Hälfte des 5 . Jahrhunderts hat, wäre das sokratische und platonische Moment in der ersten Hälfte und sogar ganz zu Beginn des 4· Jahrhunderts anzusiedeln. Mir scheint, daß dieses platonische Moment der parrhesia sich für eine bestimm te Zeit, sogar für sehr lange, auf die philosophische Praxis auswirkt. [ . '�] Der erste Teil bestand also im perikleischen Moment der parrhesia. Der zweite war das platonische Mo ment, das sich zumindest auf die Geschichte der Philosophie auswirkt, b etrachtet als eine bestimmte Praxis der Veridik tion. Kurz zusammengefaßt, wollte ich Ihnen folgendes zeigen: Wir haben es mit einer Art Verschiebung der Orte und der Aus übungsformen der parrhesia zu tun. B ei diesem platonischen Moment, das ich zu bestimmen versuche, sieht man, daß die Philosophie hervortritt, wenn die Hauptsache der parrhesiasti schen Praxis nicht mehr in erster Linie auf der politischen Büh ne selbst stattfindet - zumindest auf der politischen Bühne im . .
,,. M. F. [ein brummendes Geräusch überlagert seine Stimme]: Hören Sie nicht ? Sie hören nicht, aber ich auch nicht. Nun, ich höre schon, aber nicht das, was ich sage [das Geräusch bricht ab]. Gut, also dieses platoni sche Moment der parrhesia scheint mir für lange Zeit Au swirku ngen auf die philosophische Praxis zu haben oder genauer [wieder dasselbe Geräusch]. Mir gefällt die Vorstellung, daß das unlogische Vorhaben, zu dem ich mich entschlossen hatte, sich nun in so drastischen technischen Strafmaßnahmen äußert . . . . . .
engeren, institutionellen Sinne mit der Ratsversammlung, den Gerichten, kurz, allen diesen Orten, an denen etwas entschie den wird. Ich meine keineswegs - und hier sollte völlige Klar heit herrschen -, daß die parrhesia, das Wahrsprechen im Bereich der Politik, verschwunden ist. Durch die ganze Ge schichte der politischen Institutionen hindurch, von der Anti ke bis einschließlich zum Römischen Reich, wird dieses Pro blem der Ausübung der parrhesia im Bereich der Politik immer wieder aufs neue gestellt werden. Schließlich wird die Frage nach dem Ratgeber des Kaisers, die Frage nach der Freiheit, die der Kaiser seiner Umgebung einräumt, ihm die Wahrheit zu sa gen oder nicht, nach seinem Bedürfnis, Schmeichlern zuzuhö ren, oder nach dem Mut, mit dem er akzeptiert, daß man ihm die Wahrheit sagt, auch weiterhin ein politisches Problem blei ben. Ich meine also keineswegs, daß die Frage nach der parrhe sia ein für allemal von der Philosophie in Beschlag genommen wird. Ich meine ebenfalls nicht, was ein ebenso großer histori scher Irrtum wäre, daß die Philosophie aus dieser Ü bertragung der politischen parrhesia an einen anderen Ort entstanden wäre. Die Philosophie existierte natürlich, bevor Sokrates seine parrhesia ausgeübt hat. Ich meine bloß, und ich denke, daß das doch nicht bedeutungslos ist, daß es eine Art von fortschrei tender Abwendung von der parrhesia gegeben hat, wobei zu mindest ein Teil und eine Reihe von Funktionen in die philoso phische Praxis umgeleitet wurden, und daß diese Umleitung der politischen parrhesia in den Bereich der philosophischen Praxis, wie gesagt, keineswegs die Geburt der Philosophie wie einen radikalen Ursprung eingeleitet hat, sondern eine gewisse Wendung des philosophischen Diskurses, der philosophischen Praxis, des philosophischen Lebens herbeiführte. Dieses Mo ment der Wendung des philosophischen Diskurses, der philo sophischen Praxis und des philosophischen Lebens durch die politische parrhesia wollte ich rekonstruieren. Zur gleichen Zeit, da die Philosophie zum Ort oder zu einem der Orte der parrhesia wird - der zumindest genauso wichtig wie der Ort der Politik ist und in einem beständigen Verhältnis der Kon-
frontation und der Widerrede zur politischen parrhesia steht -, erscheint ein anderer Akteur der parrhesia, ein anderer Parrhe siast. Es ist nicht mehr j ener berühmte Bürger, um den es bei spielsweise im Ion oder bei Thukydides ging, als dieser zeigte, wie Perikles seine politische Rolle in Athen spielte. Der Par rhesiast, der j etzt erscheint, ist nicht mehr der Mann, der als Bürger dieselben Rechte wie alle anderen Bürger innehat, d. h. das Recht zu sprechen, sondern der über etwas darüber hinaus verfügt, nämlich den Einfluß, in dessen Namen er das Wort ergreifen und versuchen kann, die anderen zu führen. Der Par rhesiast ist nun ein anderer, er hat ein anderes Profil und ist eine andere Persönlichkeit. Er ist nicht mehr einfach und aus schließlich nur j ener Bürger unter anderen, der den anderen et was voraus ist. Natürlich ist er wie die anderen - das haben wir bei Sokrates gesehen -, spricht wie die anderen, spricht die Sprache jedermanns, aber hält sich doch auf gewisse Weise von den anderen fern. Diese Ersetzung oder vielmehr Unterfütte rung des politischen Parrhesiasten, der als Bürger den anderen etwas voraus ist, durch den Philosophen, der ein Bürger wie alle anderen ist und die Sprache jedermanns spricht, der sich aber von den anderen fernhält, scheint mir ein weiterer Aspekt derselben Wandlung zu sein, die ich zu erfassen versucht habe. Die politische parrhesia verschwindet also nicht einfach mit all den Problemen, die sie aufwirft und, wie gesagt, bis zum Ende der Antike aufwerfen wird. Es gibt auch keine plötzliche, ur sprüngliche Geburt der Philosophie, sondern die Bildung eines anderen Brennpunkts der parrhesia um die Philosophie herum und in der Philosophie selbst. Ein anderer Brennpunkt der parrhesia wird also in der antiken, griechischen Kultur entzün det, ein Brennpunkt der parrhesia, der den ersten zwar nicht erreicht hat, der aber mehr und mehr an Bedeutung gewin nen wird, nämlich durch seine eigene Kraft, aber auch durch den Wandel der politischen Bedingungen, der institutionellen Strukturen, die die Rolle j ener politischen parrhesia, die ihre ganze Tragweite, ihre ganze Bedeutung, ihren ganzen Wert und
alle ihre Wirkungen im Feld der Demokratie entwickelt hatte, offensichtlich beträchtlich verringern werden. Das Verschwin den der demokratischen Strukturen bringt die Frage nach der politischen parrhesia nicht völlig zum Verschwinden, aber be schränkt doch offenbar sehr ihr Feld, ihre Wirkungen und ihre Problematik. Daher wird die philosophische parrhesia in ihrer komplexen Beziehung zur Politik nur noch mehr an Bedeu tung gewinnen. Insgesamt verschiebt sich die parrhesia, j ene Funktion, die darin besteht, frei und mutig die Wahrheit zu sagen, allmählich, verschiebt ihre Akzente und dringt immer mehr in den Bereich der Ausübung der Philosophie ein. Es soll te, wie gesagt, klar sein, daß nicht die ganze Philosophie� nicht die Philosophie seit ihren Anfängen, nicht die Philosophie in j eder Hinsicht die Tochter der parrhesia ist, sondern es ist die Philosophie, verstanden als freier Mut, die Wahrheit zu sagen und, indem man so mutig die Wahrheit sagt, einen Einfluß auf die anderen zu nehmen, um sie richtig zu führen, und zwar in einem Spiel, das vom Parrhesiasten verlangt, ein Risiko ein zugehen, das ihn in Lebensgefahr bringen kann. Die Philoso phie, auf diese Weise als freier Mut bestimmt, die Wahrheit zu sagen, um Einfluß auf die anderen zu nehmen, sie richtig zu führen unter dem Risiko der Lebensgefahr, das ist, glaube ich, die Tochter der parrhesia. Jedenfalls hat sich die philosophi sche Praxis die ganze Antike hindurch in dieser Form behaup tet. Als ein sehr frühes Beispiel werde ich einfach das nehmen, was einer von Sokrates' Zeitgenossen schon bekundete. Es handelt sich um Aristipp, wie er von Diogenes Laertius beschrieben wird und der selbst auch symmetrisch zu Sokrates und Platon als Parrhesiast auftritt, zwar auf andere Weise, aber doch als Parrhesiast, wie es zweifellos die meisten Philosophen der An tike sein werden. Aristipp war ein Philosoph, der ebenso wie Platon mit Dionysios dem Tyrannen in Beziehung stand. Dio nysios schätzte ihn übrigens sehr - eine relative Wertschät zung, wie Sie sehen werden. In ihrem stürmischen Umgang hat Aristipp seine parrhesia ausgeübt wie Platon, aber offensicht-
lieh auf eine etwas andere Weise, denn Diogenes Laertius erzählt folgende Anekdote: »Als Dionysios ihn einmal anspuckte, nahm er es ruhig hin: und als ihm einer diese Gleichgültigkeit vorrückte, erwiderte er: >Wie ? Sollen denn die Fischer es sich gefallen lassen, vom Meerwasser überspritzt zu werden, um ei nen Gründling zu fangen, und ich soll es nicht über mich erge hen lassen, mit Speichel bespritzt zu werden, um ein Fischge richt zu bekommen ?«< 1 Sie sehen hier diese andere Art von Spiel, diese andere Form der parrhesia, wo abermals ein Philo soph in Beziehung zum Tyrannen, zum Herrscher steht und ihm gegenüber ein bestimmtes Spiel der Wahrheit zu spielen hat. Aber während die Würde Platons ihm nicht erlaubte, Be leidigungen zu ertragen, akzeptiert Aristipp die Beleidigungen des Dionysios. Er akzeptiert die B eleidigungen des Dionysios, um sicherer zu sein, ihn so gut wie möglich zu leiten, so wie man einen Wal fängt. Wenn es darum geht, einen Wal zu fan gen, einen dicken Fisch, d. h. einen Tyrannen, kann man da nicht Spucke ertragen ? Aber - dies steht immer noch im allge meinen Rahmen dessen, was für Aristipp, was für Sokrates und Platon, was für die ganze antike Philosophie die allgemeine Funktion der Philosophie sein soll, nämlich die Möglichkeit, mutig und frei zu sprechen und mutig und frei seine Wahrheit zu sagen - als man Aristipp fragte, »welcher Vorteil ihm aus der Philosophie erwüchse«, antwortete dieser: »Ein sicheres Auf treten im Verkehr mit j edermann.«2 Mir scheint, daß die antike Philosophie tatsächlich unter ver schiedenen Aspekten als eine parrhesia auftritt. Erstens muß die Tatsache, daß die antike Philosophie eine Lebensform war, im allgemeinen Rahmen dieser parrhesiastischen Funktion ge deutet werden, von der sie durchzogen, durchdrungen und ge tragen wurde. Was ist ein philosophisches Leben ? Ein philoso phisches Leben ist offenbar eine bestimmte Wahl der Existenz, die den Verzicht auf eine Reihe von Dingen beinhaltet. Aber auch wenn das philosophische Leben einen Verzicht auf be stimmte Dinge bedeutet, dann doch nicht auf solche Weise und j edenfalls nicht nur, um eine Reinigung der Existenz zu bewir-
ken - was bei der christlichen Askese der Fall sein wird. Gewiß existiert diese Dimension der Reinigung der Existenz in den asketischen Formen des philosophischen Lebens, und sie ist übrigens in der alten pythagoreischen Tradition verwurzelt, die man nicht vernachlässigen und deren Bedeutung man nicht schmälern darf. Wenn man die Dinge langfristig betrachtet d. h. in der Geschichte der antiken Philosophie bis zum 2 . Jahr hundert nach Christi -, scheint mir aber, daß diese pythagorei sche Funktion der Reinigung, von der sich natürlich bei Platon Spuren finden lassen, nicht die beständigste und wichtigste war, und zwar weder für die Bestimmung der philosophischen Existenz noch für die Behauptung, daß die Philosophie nicht von einer bestimmten Lebensform getrennt werden könne. Das philosophische Leben ist eine Manifestation der Wahrheit. Sie ist ein Zeugnis. Durch die Art von Existenz, die man führt, durch die Gesamtheit von Entscheidungen, die man trifft, die Dinge, auf die man verzichtet, diej enigen, die man akzeptiert, die Art, wie man sich kleidet usw., muß das philosophische Leben durch und durch die Manifestation dieser Wahrheit sem. Zu diesem Thema könnte man das berühmte Leben und Mei nungen berühmter Philosophen betrachten, wie es vor allem von Diogenes Laertius erzählt wird, aber auch von Philostrat. Dieses Leben und Meinungen berühmter Philosophen - ich bin sicher, daß viele von Ihnen diesen Text kennen - ist sehr inter essant. Es ist interessant zu sehen, auf welche Weise, nämlich sehr systematisch, Bestandteile der Lehre, körperliche, mate rielle Beschreibungen des habitus, des ethos des Philosophen, und eine Reihe von Anekdoten, kleinen Erzählungen, kleinen Szenen, Dialogfragmenten, Repliken miteinander verbunden und verflochten sind. Ich glaube, daß diese drei Elemente (die Lehre; das physische Aussehen, das ethos; die kleine Szene) in Leben und Meinungen berühmter Philosophen die Art und Weise darstellen, durch die das philosophische Leben sich als Manifestation der Wahrheit ankündigt. Philosophisch zu le ben, das heißt, sich so zu verhalten - durch das ethos (die Le430
bensweise), die Art und Weise, wie man reagiert (auf diese oder jene Situation, in dieser oder jener Szene, wenn man mit dieser oder j ener Situation konfrontiert ist) und natürlich die Lehre, die man unterrichtet -, daß man durch diese drei Mittel (das ethos der Szene, den kairas der Situation und schließlich die Lehre) in allen Hinsichten zeigt, was die Wahrheit ist. Zweitens scheint mir, daß die Philosophie während ihrer gan zen Geschichte in der antiken Kultur nicht nur deshalb parrhe sia ist, weil sie sich im Leben manifestiert, sondern auch des halb, weil sie sich beständig an die Regierenden gerichtet hat. Die Weise, in der das geschah, war natürlich sehr unterschied lich. Man kann sich an die Regierenden in Form kynischer Unverfrorenheit richten, wofür ich Ihnen eine Reihe von Bei spielen gegeben habe. Es kann sich um die Anrufung der Mächtigen in Form einer Schmährede handeln, die direkt oder indirekt an diejenigen gerichtet ist, die die Macht ausüben, um die Art und Weise zu kritisieren, wie sie die Macht ausüben. Das Eingreifen, die Art und Weise, sich an die Regierenden zu richten, kann offensichtlich auch durch die Erziehung des Für sten geschehen. Das ist der Paradefall Senecas. Es kann auch um die Zugehörigkeit zu politischen Kreisen gehen, die oft, wenn nicht immer, Kreise politischer Opposition sind. Das war z. B . die Rolle der epikureischen Zirkel im Rom des I. Jahrhunderts vor und nach Christi. Das war vor allem auch die Rolle der großen stoischen Zirkel des 1 . und 2. Jahrhun derts, in denen man wichtige Figuren wie die des Musonius Rufus findet.3 Es können auch Ratschläge sein, die diesem oder jenem Herrscher unter ganz besonderen Umständen gegeben werden. Es gibt eine sehr interessante Passage, die man in Phi lostrats Das Leben des Appolonios von Tyana findet4 und die erzählt, wie beispielsweise in dem Moment, wo Vespasius sich auflehnt, die Legionen dazu bringt, sich zu erheben, und ver sucht, sich des Imperiums zu bemächtigen, er zwei Philoso phen konsultiert, von denen der eine Appolonius war, um sie zu fragen, was letztlich die beste Regierungsform sei, nach der er streben solle, wenn er die Macht übernommen habe. Soll es 43 1
eine autokratische und vor allem erbliche Monarchie sein ? Soll es eine Art von Prinzipat sein, das durch ein Triumvirat gemä ßigt wird ? Alles das sind Arten von Ratschlägen, die zu geben der Philosoph sich als berechtigt ansieht. Die Philosophie ist also eine Lebensform, aber auch eine Art von zugleich priva tem und öffentlichem Amt, eine Art von politischem Rat. Das scheint mir eine konstante Dimension der antiken Philosophie zu sem. Mir scheint auch, daß die antike Philosophie in einer dritten Hinsicht eine parrhesia ist: insofern sie eine ständige Anrufung ist und sich, sei es kollektiv o der individuell, an die Privatper sonen wendet, ob es nun in Form der großen Predigt vom ky nischen oder stoischen Typ sei, einer Predigt, die problemlos im Theater, in den Versammlungen, bei den Spielen stattfinden kann, die an den Straßenkreuzungen gehalten werden kann und in der Anrufung eines einzelnen oder einer Menge b este hen kann. Es gibt auch j ene ganz eigenartige Struktur der anti ken philosophischen Schulen, deren Funktionsweise sich doch sehr von dem unterscheidet, was die mittelalterliche Schule sein wird (die mittelalterlichen Mönchsschulen oder Univer sitäten), und offensichtlich auch von unseren Schulen ganz verschieden ist. Die Funktionsweise der Schule Epiktets ist in dieser Hinsicht sehr bezeichnend, insofern es eine flexible Struktur war, durch die der Unterricht oder die Rede sich alter nativ oder gleichzeitig entweder an Dauerschüler richtete, die dazu ausersehen waren, Berufsphilosophen zu werden, oder an Schüler, die übergangsweise dort waren, um gewissermaßen ihre Studien und ihre Ausbildung zu vervollständigen, Leute, die das Bedürfnis hatten, für eine gewisse Zeit eine Art von philosophischer Gesundheit zu erwerben, eine Art von philo sophischer Umschulung durchzumachen. Und dann gab es noch j ene, die dort im Verlauf einer Reise vorbeigekommen waren oder einfach deshalb, weil sie vom Unterricht und dem Wert dieses Unterrichts gehört hatten, und wegen einer Kon sultation dorthin kamen.5 Die Gespräche Epiktets sind so zu lesen, als richteten sie sich entweder an alle diese Kategorien 43 2
von Hörern zugleich oder, zumeist, an diese oder jene Katego rie von Hörern. Daher hat nicht jedes Gespräch denselben Wert und denselben Sinn, insofern nicht alle im selben pädago gischen Rahmen stattfinden. Dann müßte man auch noch selte nere, geschlossenere Gemeinschaften wie die der Epikuräer anführen, wo das Spiel des Wahrsprechens ebenfalls von gro ßer Bedeutung war. Mir scheint, daß man bei den Epikuräern sieht, wie sich die Praxis des Schuldbekenntnisses herausbildet, des gegenseitigen Geständnisses, der detaillierten Erzählung von Fehlern, die der eine macht und die er entweder seinem Leiter oder den anderen erzählt, um Ratschläge zu erhalten.6 Mir scheint, daß die antike Philosophie in diesen verschiede nen Hinsichten als eine Art großer Entwicklung dieser allge meinen Form, dieses allgemeinen Proj ekts erscheinen kann, das die parrhesia ist, der Mut, den anderen die Wahrheit zu sa gen, um sie in ihrem eigenen Verhalten zu lenken. Wenn man die antike Philosophie so betrachtet, d. h. als eine Art von parrhesiastischer Praxis, dann sehen Sie wohl, daß man sie nicht mit der Elle der späteren abendländischen Philosophie oder zumindest mit der Elle der Art und Weise messen kann, wie wir uns heute diese abendländische Philosophie vorstellen, etwa von Descartes bis Hegel über Kant und die anderen. Diese abendländische moderne Philosophie, zumindest wenn wir sie so verstehen, wie sie gegenwärtig als Gegenstand in der Schule oder an der Universität präsentiert wird, hat relativ wenig Ge meinsamkeiten mit dieser parrhesiastischen Philosophie, über die ich zu sprechen versuche. Diese antike Philosophie, diese parrhesiastische Philosophie darf man in ihren verschiedenen Lehren, ihren verschiedenen Sekten, ihren verschiedenen For men der Intervention und des Ausdrucks - auch hier müßte man die Briefe und die theoretischen Abhandlungen, die Rolle der Aphorismen und die Rolle der Vorlesungen und Predigten untersuchen - keineswegs als ein System verstehen, das sich als ein System von Wahrheiten in einem bestimmten Bereich oder als System von Wahrheiten ausgibt, die mit dem Sein selbst in Beziehung stehen. Die Philosophie ist und hat durch die ganze 43 3
Antike hindurch als freie Ermahnung des menschlichen Ver haltens der Menschen durch ein Wahrsprechen existiert, das das Risiko akzeptiert, sich Gefahren auszusetzen. Mir scheint auch, daß deshalb die typischste Form der antiken Philosophie j ene ist, deren Beschreibung man am Ende des goldenen Zeitalters dieser antiken Philosophie finden kann, nämlich bei Epiktet im berühmten Gespräch 22 des III. Buchs der Gespräche, wo er den Kyniker porträtiert. Ich meine kei nesfalls, daß dieses Porträt des Kynikers im Gespräch 22 des III. Buches die einzige Form der Philosophie sei, die man in der Antike findet. Ich meine nicht einmal, daß sie eine Zusammen fassung all dessen ist, was diese Philosophie charakterisieren könnte. Das Gespräch 22 und die Art und Weise, wie die Philo sophie darin zur Darstellung gelangt, stellt eine Art von Gren ze im Hinblick darauf dar, was die große Geschichte der anti ken Philosophie als parrhesia war. Eine Grenze in zweifachem Sinne, weil man hier eine bestimmte Grenze der antiken Philo sophie erreicht; aber auch eine Grenze, weil man spürt, wie sich schon in der Tiefe so etwas wie der Ort abzeichnet, an dem das christliche Denken, die christliche Askese, die christliche Predigt, das christliche Wahrsprechen sich absetzen können wird.7 Ich möchte Ihnen bloß einige Passagen aus diesem Ge spräch zitieren, die Ihnen zeigen, wie man darin die parrhesia stische Funktion, wie ich sie gerade schematisiert habe, am Werke sieht. Erstens, die Philosophie als Lebensweise, als manifeste Le bensweise, als ständige Manifestation der Wahrheit. Der Kyni ker, erklärt Epiktet, ist j emand, der sich von allen Kunstgriffen und allem Schmuck freimacht. Er ist j emand, der sich von allen seinen Begierden, von allen seinen Leidenschaften freimacht. Vor allem ist er j emand, der nicht versucht, seine Begierden, Leidenschaften, Abhängigkeiten usw. im Schutze von etwas zu verbergen, sondern sich nackt, sich in seiner Mittellosigkeit zeigt: »Denn das mußt du wissen, daß die anderen Menschen die Mauern ihrer Häuser und die Dunkelheit als Schutzwand haben, wenn sie so etwas tun [ d. h. Zorn, Neid, Groll, Mitleid; 434
M. F.], kurz, daß sie vielerlei Mittel haben, sich den anderen un sichtbar zu machen. Da hat einer seine Tür zugeschlossen und vor seinem Schlafzimmer einen Wächter aufgestellt: >Wenn je mand kommt, sagst du: Er ist ausgegangen oder er hat keine Zeit.< - Der Kyniker dagegen muß statt all solcher Vorkehrun gen die sittliche Reinheit als seinen Schild haben [das Wort, das mit >>sittliche Reinheit« übersetzt wird, ist aidos: Dabei handelt es sich um j ene Art von Selbstbeziehung, bei der die Person Achtung vor sich selbst hat, ohne etwas verbergen zu müssen, und somit ohne etwas vor sich selbst zu verbergen; aidos ist nicht als eine Zurückhaltung zu verstehen, die dem Bereich der Schamhaftigkeit angehörte, wie wir sie verstehen, und hat auch nichts mit einem Sich-Schämen zu tun; aidos ist jene Art von Durchsichtigkeit, durch die die Person, da sie nichts zu verber gen hat, auch tatsächlich nichts verbirgt, das ist die Bedeutung von aidos; der Kyniker soll also anstelle all dieser Schutzmaß nahmen - den Mauern, den Dienern, die die Aufdringlichen fernhalten - hinter seinem aidos Schutz suchen; M . F.] . Sonst wird er sich, unbedeckt, wie er ist, vor aller Augen blamieren. Denn allein j ene bedeutet für ihn Haus, verschlossene Tür, Wächter vor seiner Kammer und Dunkelheit. Darf er doch überhaupt nicht den Wunsch hegen, etwas von seinem Treiben zu verb ergen. Sonst ist er schon aus der Rolle gefallen, hat den Kyniker, den Mann, der nur Gottes Himmel über sich hat, den Apostel der wahren Freiheit, zuschanden gemacht; hat begon nen, etwas von den äußeren Dingen zu fürchten, hat nötig, was ihn verbirgt, und kann sich doch nicht verstecken, wenn er es möchte.«8 Sie s ehen also, daß der Kyniker derj enige ist, der un ter freiem Himmel lebt, und er lebt unter freiem Himmel, weil er ein freier Mann ist, ohne etwas von außen fürchten zu müs sen. In seinem Leben ist er die Wahrheit im manifesten Zu stand. Das zweite Merkmal des Kynikers, das sich mit dem bereits Gesagten überschneidet, besteht in der Tatsache, daß er, um die Wahrheit zu sagen, b ereit ist, sich selbst an die Mächtigen, selbst an j ene zu wenden, die zu fürchten sind, ohne daß er sei43 5
nerseits meint, daß es sich für ihn um eine katastrophale Gefahr handelt, sein Leben zu verlieren, wenn sein Wahrsprechen die ärgert, an die er sich gewandt hat. Indem er das Beispiel Dioge nes' erwähnt, der sich an Philipp mit der bekannten Ungeniert heit wandte, kommentiert Epiktet: In Wirklichkeit ist der Ky niker >>Kundschafter [ . . . ], dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelände scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahr heit berichten, ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von falschen Vorstellungen betört und verwirrt zu sein, so daß er nicht Feinde meldet, wo gar keine sind [was ihm je doch zustoßen kann; M. F.] .«9 Der Kyniker, der Philosoph ist also derj enige, für den das Ä ußern der Wahrheit niemals durch irgendeine Furcht zurückgehalten werden darf. Der dritte Aspekt dieses Philosophen, wie ihn Epiktet darstellt, besteht in der Tatsache, daß sich der Kyniker in der Rolle des Aufklä rers, der die Wahrheit verkündet, ohne die Gefahr zu fürch ten, s elbst rettet. Er rettet sich nicht nur selbst, sondern durch das Wohl, das er verschafft, und den Mut, mit dem er die Wahr heit sagt, ist er darüber hinaus in der Lage, der ganzen Mensch heit einen Dienst zu erweisen. »Wenn Du Lust hast, kannst du mich auch noch fragen, ob er sich am Staatsleben beteiligen wird. Du Schafskopf, suchst du nach einem Staat, der größer ist als der, an dem er sich beteiligt ? Oder soll der in der atheni schen Volksversammlung üb er Steuern und Zölle sprechen, der mit der ganzen Menschheit verhandeln muß, mit Athenern so gut wie mit Korinthern und Römern, nicht über Steuern und Zölle oder über Krieg und Frieden, sondern über Gottseligkeit und Verdammnis, Heil und Unheil, Knechtschaft und Frei heit ? Bei einem Mann, der in einem so herrlichen Reiche wirkt, da kannst du mich auch fragen, ob er regieren wird, und wieder werde ich dir antworten: du Narr, welches Reich wäre erhabe ner als das, worin er regiert ? « 1 0 Im Grunde wird kurze Zeit nach Epiktet, sechs oder sieben Jahrhunderte nach Sokrates, die christliche Lehre in ihren ver schiedenen Formen diese parrhesiastische Funktion ablösen
und allmählich die Philosophie von ihr abstreifen. Ein neues Verhältnis zur Heiligen Schrift und zur Offenbarung, neue Autoritätsstrukturen innerhalb der Kirche, eine neue Defini tion der Askese, die nicht mehr im Ausgang von der Selbstbe herrschung bestimmt wird, sondern vom Verzicht gegenüber der Welt, all dies wird, glaube ich, die Ö konomie des Wahr sprechens gründlich verändern. Es ist dann nicht mehr die Phi losophie, die für einige Jahrhunderte die Rolle der parrhesia zu spielen haben wird. Was ich nahelegen möchte, ist, daß diese bedeutsame parrhesiastische Funktion der Philosophie, nach dem sie von der Politik ins Zentrum der Philosophie gerückt wurde, ein zweites Mal vom Zentrum der Philosophie auf et was übertragen wurde, was man die christliche Seelsorge nen nen könnte. Die Frage, die ich stellen möchte, ist nun folgende: Könnte man nicht die moderne Philosophie, zumindest diej enige, die ab dem I 6. Jahrhundert wieder in Erscheinung tritt, als Neu verteilung der Hauptfunktionen der parrhesia innerhalb der Philosophie auffassen, als Wiedergewinnung der parrhesia, die in der christlichen Seelsorge institutionalisiert, organisiert wur de und dort eine sehr vielfältige, reichhaltige, dichte und übri gens sehr interessante Rolle spielte ? Ist es nicht dasj enige, was jetzt in der modernen europäischen Philosophie wiederge wonnen, wiederaufgenommen und mit anderen Spielregeln wieder ins Spiel gebracht wird ? Insofern sollte man die Ge schichte der europäischen Philosophie seit dem r 6. Jahrhun dert vielleicht nicht so sehr als eine Folge von Lehren auffassen, die versuchen, das Wahre oder das Falsche über die Politik, die Wissenschaft oder die Moral zu sagen. Vielleicht könnte man die Geschichte der modernen europäischen Philosophie als eine Geschichte der Veridiktionspraktiken, als eine Geschichte der Praktiken der parrhesia auffassen. Könnte man die moder ne Philosophie in zumindest einigen ihrer Aspekte und einigen ihrer wesentlichsten Inhalte nicht als ein parrhesiastisches Un ternehmen lesen ? Hat sich die europäische Philosophie nicht viel mehr als parrhesia denn als Lehre über die Welt, die Politik, 43 7
die Natur usw. in die Wirklichkeit und in die Geschichte oder vielmehr in die Wirklichkeit, die unsere Geschichte ist, einge schrieben ? Beginnt die Philosophie nicht unablässig als stets neu zu gewinnende parrhesia ? Und ist die Philosophie inso fern nicht ein einzigartiges Phänomen, das den abendländi schen Gesellschaften eigentümlich ist ? Wenn man in der Tat sieht, wie die moderne Philosophie sich im I 6. Jahrhundert von einer Reihe von Diskussionen gelöst hat, von denen die meisten sich um das Wesen der christlichen Seelsorge drehten, um ihre Wirkungen, ihre Autoritätsstruktu ren, wie sie sich von der Aussage gelöst hat, die sie dem Wort, dem Text, der Schrift auferlegte, wenn man berücksichtigt, daß die Philosophie im r 6. Jahrhundert sich als Kritik der seelsor gerliehen Praktiken entwickelt hat, scheint mir, daß man der Auffassung sein kann, daß sie erneut als parrhesia zur Geltung kam. Schließlich sind Descartes' Meditationen, wenn sie tat sächlich ein Unternehmen sind, um einen wissenschaftlichen Diskurs in der Wahrheit zu begründen, auch ein Unterneh men der parrhesia in dem Sinne, daß der Philosoph als solcher spricht, wenn er »ich« sagt und s eine parrhesia in gerade jener wissenschaftlich fundierten Form der Evidenz zur Geltung bringt, um vor allem gegenüber den Machtstrukturen der kirch lichen, wissenschaftlichen, politischen Autorität eine gewisse Rolle zu spielen, in deren Namen er das Verhalten der Men schen leiten kann. Das moralische Proj ekt, das s eit Beginn des cartesischen Unternehmens gegenwärtig ist, dieses Proj ekt der Moral ist nicht bloß ein Zusatz zu einem wichtigen Proj ekt, das in der Begründung einer Wissenschaft bestünde. Mir scheint, daß wir in der großen Bewegung, die von der Äußerung - in der ersten Person - dessen ausgeht, was Descartes in Form der Evidenz für wahr hält, und bis zum endgültigen Projekt reicht, die Menschen bis in ihr Leben hinein zu leiten und bis ins Le ben ihres Körpers, den großen Neubeginn dessen haben, was die parrhesiastische Funktion der Philosophie in der antiken Welt war. Und in diesem Sinne könnte man kaum etwas dazu Gleichwertiges in dem finden, was die Philosophie war, als sie,
der Theologie während des ganzen Mittelalters untergeordnet, der christlichen Seelsorge die parrhesiastische Funktion über ließ. Wenn ich j edenfalls die diesjährige Vorlesung mit Kant an gefangen habe, dann deshalb, weil mir scheint, daß dieser von Kant über die Aufklärung geschriebene Text eine gewisse Wei se der Philosophie darstellt, sich durch die Kritik der Aufklä rung der Probleme bewußt zu werden, die in der Antike tradi tionellerweise die Probleme der parrhesia waren, die im Laufe des r 6. und r 7. Jahrhunderts wieder auftauchen werden und die sich in der Aufklärung und insbesondere in diesem Text Kants ihrer selbst bewußt geworden sind. Jedenfalls [ . 'f] ging es darum, Ihnen eine Geschichte der Phi losophie vorzuschlagen, die sich keinem der beiden Schemata unterordnet, die gegenwärtig so häufig vorherrschen, nämlich das Schema einer Geschichte der Philosophie, die deren radi kalen Ursprung in so etwas wie dem Vergessen sucht, oder aber das andere Schema, das darin besteht, die Geschichte der Phi losophie als Fortschritt, Wandlung oder Entwicklung einer Rationalität zu verstehen. Ich glaube, daß man die Geschichte der Philosophie weder als Vergessen noch als Bewegung der Rationalität schreiben muß, sondern sie auch als eine Folge von Episoden und Formen - wiederkehrenden und sich wandeln den Formen - der Veridiktion auffassen kann. Die Geschichte der Philosophie also als Bewegung der parrhesia, als Neuver teilung der parrhes ia, als verschiedenartiges Spiel des Wahrspre chens, eine Philosophie, die auf diese Weise sozusagen in ihrer allokutorischen Kraft aufzufassen wäre. Das war, wenn Sie so wollen, das allgemeine Thema, das ich in der diesjährigen Vor lesung entwickeln oder unterbreiten wollte. Ich möchte nun etwas genauer auf das zurückkommen, was ich zu sagen versucht habe, indem ich Sie an die beiden Bilder erin nere, die ich festhalten wollte. Erstens das Bild des Perikles, das gewiß auf sehr indirekte Weise im Ion erscheint, sehr direkt da gegen bei Thukydides. Sie wissen, was dieses Bild war. In der . .
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Volksversammlung, wo j eder, wenn er an der Reihe war, frei seine Meinung äußern konnte, erhebt sich nun dieser Bürger und ergreift das Wort, und zwar mit der Autorität des ersten der Athener. Er ergreift das Wort in feierlichen und rituellen Formen, in kodierten Formen der Rhetorik. So wird er eine Meinung abgeben, eine Meinung, von der er b etont, daß sie sei ne eigene ist. Aber diese Meinung kann und soll die Meinung des Staats werden, und sie wird es auch tatsächlich. Und daher müssen der erste der Bürger und der Stadtstaat selbst aufgrund dieser künftig geteilten Meinung gemeinschaftlich ein Risiko eingehen, nämlich das Risiko des Erfolgs und das Risiko des Mißerfolgs. Das ist die Person des Perikles. Nun, einige Jahre später können wir die Person des Sokrates zeichnen, der in den Straßen Athens die Sprache aller und des Alltags spricht und sich systematisch weigert, zur Ratsversammlung zu gehen und sich an das Volk zu wenden. Warum verwendet er diese Spra che aller und des Alltags ? Er verwendet sie so, daß er sich um sich selbst kümmern kann, indem er deutlich sichtbar die Un gerechtigkeiten ablehnt, die man ihm gegenüber begehen mag, aber auch indem er die anderen durch ungeniertes Fragen er muntert - so daß er sich um die anderen kümmert, indem er ih nen zeigt, daß sie sich um sich selbst kümmern müßten, da er ja nichts weiß. Die andere Gefahr, die eine solche Tätigkeit mit sich bringt, akzeptiert er. Er akzeptiert sie bis zu seinem letzten Atemzug, er akzeptiert sie bis zum hingenommenen Tod. Das sind also die beiden Bilder, nach denen ich die Vorlesung ge gliedert hatte, und ich hatte versucht, Ihnen den Ü bergang vom einen zum anderen zu zeigen. Aber - und darin besteht die andere Gruppe von Schlußfolge rungen, die ich ziehen möchte - wenn man diesen Ü bergang, diesen Wandel von der einen Person zur anderen hervorhebt, scheint mir, daß man einige der drei Aspekte herausstellen kann, in denen die antike Philosophie die parrhesiastischen Funktionen manifestiert und ausgeübt hat. Der erste Aspekt ist derj enige, den ich versucht habe, anband des VI I . und VII I . Briefs herauszuarbeiten, nämlich die Beziehung der philoso44 0
phischen parrhesia zur Politik, eine Beziehung, von der ich versucht habe zu zeigen, daß sie zugleich eine B eziehung des Außenstehens, der Distanz, dann aber auch der Korrelation war. Die philosophische parrhesia war eine bestimmte nicht politische Weise, zu den Regierenden zu sprechen, und zwar darüber, wie sie die anderen und sich selbst regieren sollen. Diese indirekte Beziehung, diese Beziehung des Außenstehens und der Korrelation mit der Politik, stellt die Philosophie in eine Art von Gegenposition zur Politik, eine Gegenposition, die durch ihr Außenstehen, aber auch durch ihre Nichtredu zierbarkeit bestimmt ist. Eine Art von widerstrebendem und nachdrücklichem Außenstehen gegenüber der Politik. Hier ma nifestiert sich, wie mir scheint, sowohl der Mut, der der parrhe sia eigentümlich ist, als auch die Tatsache, daß die philosophi sche parrhesia in dieser Beziehung zur Politik, Sie erinnern sich, ihre eigene Wirklichkeit beweist. Der zweite Aspekt, den ich Ihnen zeigen wollte - das habe ich letztes Mal betont -, ist folgender: Die philosophische parrhe sia stellt sich in eine Beziehung, hier nun nicht mehr der Ge genposition oder des korrelativen Außenstehens gegenüber der Politik, sondern der des Gegensatzes und des Ausschlusses gegenüber der Rhetorik. Das trat deutlich im Text des Phaidros hervor. Diese Beziehung der Philosophie zur Rhetorik ist sehr verschieden von der Beziehung der Philosophie zur Politik. Es ist keine Beziehung des behaupteten Außenstehens und der aufrechterhaltenen Korrelation mehr, sondern ein Verhältnis des strengen Widerspruchs, ein Verhältnis konstanter Polemik, ein Verhältnis des Ausschlusses. Dort, wo die Philosophie ist, kann es keine Rhetorik geben. Die Philosophie bestimmt sich im Phaidros als Alternative und Gegensatz zur Rhetorik. Wenn der Politiker auf gewisse Weise ein anderer gegenüber dem Philosophen ist, dann doch ein anderer, zu dem der Philosoph spricht, und ein anderer, dem gegenüber der Philosoph die Wirklichkeit seiner philosophischen Praxis beweist. Dagegen ist der Rhetor gegenüber dem Philosophen ein anderer in dem Sinne, daß dort, wo es den Philosophen gibt, der Rhetor verjagt 44 1
werden muß. Es gibt keine Koexistenz, ihr Verhältnis ist das des Ausschlusses. Um diesen Preis des Bruchs mit der Rheto rik wird sich der philosophische Diskurs durch das Austreiben der Rhetorik selbst als konstante und dauerhafte Beziehung zur Wahrheit konstituieren und behaupten können. Sie erin nern sich, daß wir das im Phaidros gesehen hatten, als das, was mit der Austreibung der Rhetorik, mit ihrer Disqualifizierung erschien, keineswegs die Lobrede auf einen Logozentrismus war, der aus der Rede die eigentümliche Form der Philo sophie machen würde, sondern die Behauptung einer stetigen Verbindung - gleichgültig, ob in schriftlicher oder in mündli cher Form - des philosophischen Diskurses mit der Wahrheit in der zweifachen Form der Dialektik und der Pädagogik. Die Philosophie kann also nur um den Preis des Opfers der Rheto rik existieren. In diesem Opfer aber manifestiert, behauptet und konstituiert der Philosoph seine beständige Verbindung mit der Wahrheit. Schließlich ist der dritte Aspekt - diesen dritten Aspekt werde ich versuchen, Ihnen nachher zu erklären, und Sie bitten, ihn an seinen eigentlichen Ort zu stellen, d. h. vor alles, was ich Ih nen gerade gesagt habe - einer, den man in vielen anderen Dia logen Platons, aber insbesondere im Gorgias finden kann. Die Briefe würden also das Verhältnis der Philosophie zur Politik als parrhesia charakterisieren. Der Phaidros würde zeigen, was die Philosophie als parrhesia in ihrem Gegensatz zur Rhetorik ist. Der Gorgias, so scheint mir, zeigt nun das Verhältnis der Philosophie zur Einwirkung auf die Seelen, zur Regierung der anderen, zur Leitung und Führung der anderen: die Philoso phie als Psychagogie. Jedenfalls erscheint die parrhesiastische Philosophie in diesem Text in einem Verhältnis, das weder po litisch noch rhetorisch ist, sondern psychagogisch, nämlich zur Leitung und Führung der Seelen. Diese parrhesiastische Philo sophie wendet sich in ihrer psychagogischen Tätigkeit nicht mehr an den Politiker und an den Rhetor, sondern an den Schüler, an die andere Seele, an denjenigen, dessen Seele, und eventuell dessen Körper, sie nachstellt. Wir hätten es demnach 44 2
j etzt mit einer dritten Art von Beziehung zu tun. Es handelt sich nicht mehr um das Verhältnis einer Gegenüberstellung (die Philosophie gegenüber der Politik, wie es in den Briefen der Fall war) und auch nicht mehr um das Verhältnis des Aus schlusses wie bei der Rhetorik. Vielmehr ist es ein gewisses Verhältnis der Einbeziehung, der Gegenseitigkeit, der Koppe lung, ein pädagogisches und erotisches Verhältnis, das im Gor gias charakterisiert wird und das mir der dritte Aspekt, der drit te Wesenszug des Philosophen als Parrhesiast zu sein scheint. Man kann sagen, daß die Philosophie mit diesen drei Wesens zügen (Verhältnis zur Politik, Ausschluß der Rhetorik, Ver folgung der Seele der anderen) auf gewisse Weise die Haupt funktionen wieder aufgenommen hat, die wir in bezug auf die perikleische parrhesia, die politische parrhesia skizzieren konn ten. Schließlich hatte, wie Sie sich erinnern, auch der große Athener Perikles den freien Mut, die Wahrheit zu sagen, um auf die an deren einzuwirken. Aber Perikles übte seinen freien Mut im Bereich der Politik selbst aus. Sokrates, Platon und die antiken Philosophen werden ihren Mut gegenüber den politischen In stitutionen, aber nicht in den politischen Institutionen aus üben. Perikles sagte die Wahrheit unter der einzigen Bedin gung, daß das, was er sagte, auch das war, was er für wahr hielt. Sokrates, Platon und dann die ganze antike Philosophie wer den die Wahrheit nur unter aufwendigeren Bedingungen sagen können. Ihr Diskurs muß nach den Prinzipien der Dialektik gegliedert sein. Schließlich handelte es sich bei Perikles bloß darum, die Zuhörer zu überreden. Sokrates und auch Platon oder die anderen Philosophen müssen, um auf die Seele der an deren einzuwirken, ganz andere Verfahren einsetzen als die der schlichten Ü berredung. Wenn man deutlich sieht, wie die drei Funktionen der politi schen parrhesia von Perikles in die sokratische parrhesia und von da an in die philosophische parrhesia der Antike transfor miert werden, dann sieht man auch, daß sich in diesen drei Funktionen das abzeichnet, was mir die Elemente und die 44 3
grundlegendsten Merkmal e der modernen Philosophie in dem historischen Sein, das sie sich selbst bestimmt, zu sein schei nen. Was ist die moderne Philosophie, wenn man sie, wie ge sagt, als eine Geschichte der Veridiktion in ihrer parrhesia stischen Form lesen will ? Sie ist eine Praxis, die in ihrem Verhältnis zur Politik ihre Wirklichkeit beweist. Sie ist eine Praxis, die in der Kritik der Täuschung, der Verlockung, der Vorspiegelung, der Schmeichelei ihre Funktion der Wahrheit findet. Sie ist schließlich eine Praxis, die in der Transformation des Subjekts durch sich selbst und durch den anderen ihr Wir kungszieP findet. Die Philosophie als Exteriorität gegenüber einer Politik, die ihre Realitätsprüfung darstellt, die Philoso phie als Kritik im Hinblick auf einen Bereich der Täuschung, der sie herausfordert, sich als wahrer Diskurs zu konstituieren, die Philosophie als Askese, d. h. als Konstitution des Subj ekts durch sich selbst, das scheint mir das moderne Wesen der Phi losophie auszumachen oder vielleicht das zu sein, was im mo dernen Wesen der Philosophie das Wesen der antiken Philoso phie wiederaufnimmt. Jedenfalls, wenn sich diese Perspektive aufrechterhalten läßt, versteht man auch, warum die Philosophie, die moderne eben so wie die antike Philosophie, im Unrecht war oder wäre, wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Politik zu tun und wie zu regieren sei. Sie wäre im Unrecht, wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Wissenschaft das Wahre oder das Falsche sei. Sie wäre ebenfalls im Unrecht, wenn sie sich als Aufgabe die Befreiung oder Aufhebung der Entfremdung des Subjekts selbst vorgeben würde. Die Philosophie hat nicht zu sagen, was in der Politik geschehen soll. Sie muß in einer ständigen und widerstrebenden Exteriorität gegenüber der Politik sein, und darin besteht ihre Wirklichkeit. Zweitens hat die Philoso phie nicht das Wahre und das Falsche im Bereich der Wissen schaft aufzuteilen. Sie soll beständig ihre Kritik gegenüber den Verlockungen, Vorspiegelungen und Täuschungen ausüben, * M . F.: die Ausübung ihrer Praxis 444
und darin spielt sie das dialektische Spiel ihrer eigenen Wahr heit. Schließlich hat die Philosophie nicht die Entfremdung des Subjekts aufzuheben. Sie soll die Formen bestimmen, in denen sich das Verhältnis zu sich selbst eventuell transformieren kann. Die Philosophie als Askese, die Philosophie als Kritik, die Philosophie als widerstrebende Exteriorität gegenüber der Politik, das ist, glaube ich, die Seinsweise der modernen Philo sophie. Jedenfalls war das die Seinsweise der antiken Philoso phie. Das waren die Dinge, die ich aus der Geschichte der parrhesia und aus der Verlagerung von der politischen parrhesia zur phi losophischen parrhesia etwas herausarbeiten wollte. Sie sehen also, daß in diesem Schema eine Ausführung fehlt, daß es eine Leerstelle gibt, nämlich die, die dem Gorgias gewidmet s ein sollte, d. h. der Art und Weise, wie Platon die Philosophie be stimmt und beschreibt, und zwar weder in ihrer Beziehung zum Herrscher noch in ihrer B eziehung zum Rhetor, sondern zu dem, um den sie sich kümmert, d. h. zu diesem anderen, die sem jungen Mann oder diesem beliebigen Mann, für den sie sich interessiert, dem sie nachstellt und dessen Seele sie zu bil den versucht. Diese Art von Beziehung - die sich sehr von der Beziehung des Gegenüber unterscheidet, die wir bei der Poli tik gefunden haben und die auch von der Beziehung des Aus schlusses im Hinblick auf die Rhetorik sehr verschieden ist möchte ich anband von einem oder zwei Texten zu analysieren versuchen. Wenn Sie einverstanden sind, werden wir nun an dieser Stelle eine Pause machen. [ ''] . . .
,. M. F.: Ich werde versuchen, die Fotokopie des Textes, über den ich spre che, zu holen. 44 5
Anmerkungen r
Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, a. a. 0., Buch, II, § 67, S. 1 07. 2 Ebd., § 68 , S. r o7. 3 In Hermeneutik des Subjekts (passim) hatte Foucault häufig auf diesen Autor hingewiesen, allerdings von einem ethischen Gesichtspunkt aus. Eher politische Ausführungen über Musonius Rufus und Rubellius Plautus findet man j edoch im Manuskript der Vorlesung vom 27. Janu ar 1 9 8 2 . 4 Philostrat, Das Leben des Appolonios von Tyana, Buch V, Kap. 27-37, hg., übers. und er!. v. Vroni Mumprecht, München und Zürich 1 9 8 3 , S. 5 2 1 - 5 5 9 (diese p olitische Debatte schließt drei Philosophen ein: Ap polonius, Euphrates, Dion). 5 Vgl. zur Funktionsweise der Schule Epiktets die Vorlesung vom 27. Ja nuar 1 9 8 2, in: Hermenemik des Subjekts, a. a. 0 ., S. 1 80- 1 84. 6 Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen Foucaults in der Vorlesung vom 1 0. März 1 9 8 2 (ebd., S. 472-473), die sich wesentlich auf die Frag mente von Philodems Peri parrhesias stützt. 7 Zur christlichen parrhesia konsultiere man die letzte Vorlesung aus dem Jahre 1 9 84. 8 Epiktet, Epiktet, Teles und Musonius, übers. v. Wilhelm Capelle, Zürich I 948, S. I J O. 9 Ebd., 24-2 5 , s. I } ! . I O Ebd., 8 } - 84, s. 1 40.
Vorlesung I O (Sitzung vom 9· März 1 9 8 3 , zweite Stunde)
Studie des Gorgias. - Die Pflicht zum Geständnis bei Platon: der Kontext der Liquidierung der Rhetorik. - Die drei Eigenschaften des Kallikles: epi steme; parrhesia; eunoia. Agonistisches Spiel vs. egalitäres System. - Die so kratische Rede: basanos und homologia.
Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Dies ist also die letzte Vor lesung. Ich nehme an, daß Sie wissen, daß es die letzte Vorle sung ist, weil ich ja die Schlußfolgerungen schon gezogen habe. Ich möchte also im Sinne eines kleinen Zusatzes, und um eine Lücke zu füllen, auf zwei Texte aus dem Gorgias eingehen, vor allem auf einen, der mir ziemlich gut die Art von Beziehung zu erfassen oder vielmehr zu skizzieren scheint, die, wie gesagt, nicht zum Politiker und auch nicht zum Rhetor, sondern mit dem Schüler hergestellt werden soll. Das ist der dritte Aspekt, der dritte Wesenszug, der dritte Tätigkeitsbereich der parrhe sia. [ . ] Ich hatte also vor, nacheinander zwei Texte aus dem Gorgias zu studieren. Den einen werde ich knapper behandeln, weil es ein Text ist, der trotz der B edeutung, die man ihm beimißt, nicht eigentlich der philosophischen parrhesia zu ent sprechen scheint. Dann gibt es einen anderen Text, in dem Platon das Wort parrhesia verwendet. Dies ist die erste Ver wendung des Wortes parrhesia in einem B ereich, den man den B ereich der Praktiken zur Leitung des Gewissens nennen könnte. Verständlicherweise ist es dieser zweite Text, mit dem ich mich befassen möchte. Was ich Ihnen über den Gorgias sagen möchte, ist in Kürze fol gendes: Wie Sie wissen, wurde in der post- oder neoplatoni schen Klassifikation dem Gorgias der Untertitel Peri tes retori kes ( Über die Rhetorik) gegeben. Und tatsächlich handelt es sich auch um eine Befragung zur Rhetorik, aber eine Befra gung, die sich völlig von derjenigen unterscheidet, die man im Phaidros findet. Im Phaidros vollzieht sich die Kritik an der Rhetorik, wie Sie wissen, durch eine Nachahmung der Rheto. .
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rik - ein komplexes Spiel, insofern die Rhetorik selbst eine Kunst der Schmeichelei ist, wobei am Ende der Nachahmung in bezug auf die Liebe gezeigt wird, daß nicht der rhetorische Diskurs in der Lage ist, die wahre Lobrede auf die wahre Liebe zu halten, sondern eine andere Art von Diskurs, der sich dau ernd und kontinuierlich in Form der Dialektik nach der Wahr heit richten soll. Der Gorgias stellt nun die Frage nach der Rhe torik, aber er stellt sie anders, und zwar auf zweierlei Weise. Der Unterschied ist zweifach. Zunächst, weil der Gorgias die Frage stellt: »Was ist die Rheto rik ?« Hier müssen wir uns ganz zu Beginn des Textes auf eine Reihe von Ü berlegungen beziehen, die sich auf diese Frage konzentrieren. Während die aufeinanderfolgenden Gesprächs partner, vor allem Gorgias und Polos, eine Lobrede auf die Rhetorik halten wollen, antwortet Sokrates j edes Mal: Aber nicht doch, darum geht es nicht, was wir wissen wollen ist tis an eie techne tes retorikes (was ist die Kunst der Rhetorik, was ist das Wesen der rhetorischen Technik). 1 Am Ende einer er sten Diskussion, die zeigen wird, daß die Rhetorik nichts ist, da sie doch in der Kunst der Schmeichelei aufgeht, geschieht nun etwas, wodurch nicht definiert, sondern de facto aufge wiesen wird, was diese andere techne ist, die der Philosophie als Seelenführung. Es wird der Ü bergang von der Rhetorik zu j ener anderen Praxis sein, die in der Seelenführung besteht, und zwar im Ausgang von einer Befragung über das Wesen der Rhetorik und die kaum theoretisch durchdrungene Demon stration des Wesens der philosophischen Praxis. Ich sage >>kaum theoretisch durchdrungen«, weil es nämlich doch eine kleine Passage gibt, wo es darum geht und wo gerade das Wesen des philosophischen Diskurses an die Praxis der parrhesia ge knüpft wird. Das ist also die Architektur des Dialogs oder zu mindest die Perspektive, die ich für die Lektüre dieses Dialogs vorschlage. Der erste Teil, der von der Frage handelt »Was ist die Rhetorik, was ist das Wesen der Rhetorik ? « endet also mit folgender Schlußfolgerung: Das Wesen der Rhetorik ist nichts, wobei die
allgemeine Argumentation darin besteht zu zeigen, daß die Rhetorik nicht in der Lage ist, das zu erreichen, was sie vorgibt, nämlich das Gute. Im Gegenteil schlägt sie statt ihres eigenen Zieles etwas ganz anderes vor, was dessen Nachahmung, des sen falscher Schein und Täuschung ist, und ersetzt das Ziel des Guten durch das Vergnügen. Sie erreicht also ihr Ziel nicht, und das Ziel, das sie erreicht, ist nichts. Aus diesen beiden Gründen ist die Rhetorik nichts. Nachdem dieses Ergebnis des Nichtseins der Rhetorik zumindest als techne (die Tatsache, daß sie nicht das Wesen einer techne, einer wahrhaften Kunst hat) erzielt wurde, nachdem man an dem Punkt angelangt ist, daß die Rhetorik schon nichts mehr ist, folgt gewissermaßen als Zusatz dieser Text, den ich kopieren ließ (48 oa) und der ein hochberühmter Text ist, was mir jedoch ungerechtfertigt zu sein scheint. Lesen wir nun kurz diesen Text: »Wenn man aber gar selbst Unrecht tut oder ein anderer, den man von Herzen liebt, so muß man selbst freiwillig dahin gehen, wo er so rasch als möglich seine Strafe empfangen wird, nämlich zum Richter wie sonst zum Arzte, und muß eilen, daß die Krankheit der Ungerechtigkeit nicht durch die Länge der Zeit in die Seele sich einfresse und sie unheilbar mache.«2 Etwas weiter (ich möchte keine Zeit verlieren) sagt Sokrates: »Also zur Verteidigung für die Ungerechtigkeit, sei es die eigene oder die der Eltern oder Freunde oder Kinder oder das Unrecht des Vaterlandes, ist uns die Rhetorik nichts nütze, mein Polos, es sei denn, daß man im Gegenteil annähme, man müsse gerade sich zumeist anklagen, dann aber auch seine Verwandten und alle anderen Freunde, wer von ihnen gerade Unrecht tut, und dürfe das nicht bemän teln, sondern müsse das Unrecht an das Tageslicht bringen, da mit man Strafe erleide und gesund werde. Und man müsse auch sich selbst und die anderen nötigen, nicht verzagt zu sein, son dern mit geschlossenen Augen, wie zum Schneiden und Bren nen an den Arzt, tapfer sich hingeben im Streben nach dem sittlich Guten, ohne Rücksicht auf den Schmerz, und wenn man ein Unrecht begangen hat, das Schläge verdient, müsse man sich zum Schlagen darbieten; wenn Gefängnis, dazu; 449
wenn eine Geldstrafe, sie zahlen; wenn Verbannung, in Ver bannung gehen; wenn den Tod, sterben, indem man zuerst sein eigener Ankläger sei und der übrigen Verwandten und dazu die Rhetorik gebraucht, daß die ungerechten Handlungen offen bar werden und sie von dem Ü bel frei werden, nämlich von der Ungerechtigkeit. «3 Ich brauche Ihnen nicht die Gründe darzulegen, weshalb mich dieser Text interessiert, da einer der Aspekte, d. h. eine der Fra gen, die ich an die Geschichte der parrhesia stellen möchte, die Frage nach der langen und langsamen, sich über viele Jahrhun derte hinziehenden Entwicklung ist, die von einer Auffassung der politischen parrhesia als Recht, Privileg, zu den anderen zu sprechen, um sie zu leiten (die perikleische parrhesia), zu jener anderen, ich möchte fast sagen nachantiken parrhesia führt, die auf die antike Philosophie folgt und die man im Christentum finden wird, wo sie zu der Pflicht wird, von sich selbst zu spre chen, zur Pflicht, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, alles über sich selbst zu sagen, und zwar um geheilt zu werden.4 Diese Art einer großen Wandlung der parrhesia als »Privileg der freien Rede, um die anderen zu leiten« zur parrhesia als »Pflicht für denj enigen, der einen Fehler begangen hat, alles über sich selbst zu sagen, um gerettet zu werden«, diese gro ße Wandlung ist gewiß einer der wichtigsten Aspekte in der Geschichte der parrhesiastischen Praxis. In gewissem Sinne möchte ich genau das rekonstruieren. Nun ist es aber ganz of fensichtlich, daß wir hier, wie es auf den ersten Blick scheint, so etwas wie das erste Zeugnis dieser Wendung der parrhesia ha ben als »Recht, zu den anderen zu sprechen, um sie zu leiten« zur parrhesia als »Pflicht, über sich zu sprechen, um gerettet zu werden«. Diese lange Geschichte ist offenbar ganz wichtig, wenn man die Beziehungen zwischen Subjektivität und Wahr heit und die Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen analysieren will. Ich möchte nun folgende Frage stellen: Kann man diesen Text wirklich als die erste Formulierung dieser Wende, dieses Umschwungs le sen ? Es würde sich um einen paradoxen Text handeln, denn er
steht da etwas alleine, er ist fast der einzige - Sie werden sehen, daß er nicht ganz der einzige ist - und kündigt fünf oder sechs Jahrhunderte vorher das christliche Geständnis an, ohne es ausdrücklich vorwegzunehmen. Jedenfalls scheint er es zu ah nen. Denn ein Text wie dieser - die Formulierungen, die Gebo te, die gegeben werden, die Rechtfertigungen, die dafür gebo ten werden - steht dem sehr nahe, was man ab dem Zeitpunkt findet, nach dem die Praxis der Buße wirklich institutionali siert war - sagen wir nach dem 3 · Jahrhundert bzw. in dessen Verlauf - und wird dann ab dem 4· bis 5 . Jahrhundert zumin dest in der christlichen Askese zu einer ständigen Praxis oder zu einem wesentlichen Aspekt der christlichen Askese. Jeden falls sieht man z. B . schon in den Texten des heiligen Cyprian,5 daß man die Pflicht, sobald man einen Fehler gemacht hat, zu dem zu laufen, der einen zugleich als Richter bestrafen und als Arzt heilen kann, beinahe Wort für Wort wieder findet, ohne daß, soweit ich weiß - aber das nur unter Vorbehalt, - sich j e ein christlicher Autor auf diesen Text des Gorgias bezogen hät te, als ob sie tatsächlich gewußt hätten, daß es darin nicht ganz genau um dasselbe geht. Wie dem auch sei, hier setze ich jeden falls ein Fragezeichen. Vielleicht findet man Bezugnahmen auf den Gorgias, es steht j edoch außer Frage, daß die Analogie auf den ersten Blick sehr frappierend ist. Jedenfalls deutet man in den modernen Kommentaren des Textes diese Passage als ein ernsthaftes Vorbild des guten moralischen und staatsbürger lichen Verhaltens. Wir wissen wohl, daß, wenn man etwas Schlechtes getan hat, es schließlich am besten ist, zu j emandem zu gehen, der einen verurteilen und heilen kann, und dies [ . . . ''] . Sokrates kommt übrigens zweimal - es gibt zwei Absätze - auf diese Idee zu sprechen und scheint demnach eine gute Begrün dung dafür zu geben, daß die beste Weise der Psychagogie, wenn man sich ändern und von einem Ungerechten zu einem Gerechten werden will, darin bestünde, die Rhetorik zu ver"·
Unverständlich. 45 I
wenden, um auf der Ebene der Rechtsprechung, wo die Rhe torik tatsächlich ihren privilegierten (ich möchte fast sagen, natürlichen oder vielmehr institutionellen) Ort hat, sich anzu klagen und durch die darauf folgende Strafe seine Heilung zu erlangen. Ist das nicht die wahre Psychagogie ? Die Bestätigung dafür, daß die platonische Psychagogie also genau das sein soll, daß man hier die anerkannte Ahnung einer Praxis hätte, die von Platon selbst beglaubigt wurde und die dann jahrhunder telang und sogar j ahrtausendelang ausgeübt wird, finden die Kommentatoren z. B. in der Tatsache, daß dieses kleine Schema auf gewisse Weise ahnen zu lassen scheint, was Sokrates selbst tun sollte, als er nach seiner Anklage vor seinen Richtern nicht geflohen ist. Statt dessen hat er eine Reihe von Anklagepunk ten, die man gegen ihn hatte, anerkannt und die Bestrafung ak zeptiert. Es ist auch eine Tatsache, daß man bei Platon sehr häufig das Thema findet, daß das Fehlverhalten eine Krankheit sei, und das ist ein ursprünglich pythagoreisches Thema. Das Fehlverhalten ist eine Krankheit, d. h. man muß es unter der doppelten Perspektive der Unreinheit, die vertrieben werden soll, und der Krankheit, die geheilt werden soll, verstehen. Rei nigung und Heilung sind in der pythagoreischen Tradition miteinander vermischt, und es ist klar, daß man hier ein Echo findet. Schließlich begegnet man auch bei den griechischen Tragikern ziemlich häufig der Idee, daß das strafende Urteil, da das Fehlverhalten sowohl Krankheit als auch Unreinheit ist, die auferlegte Strafe sowohl Heilung als auch Reinigung dar stellen. Man kann also in der Tat annehmen, daß wir hier dieses Thema haben - was durch eine Reihe von weiteren Bestätigun gen gestützt wird und ein Echo einer Reihe anderer Ideen dar stellt -, daß die wahre Wandlung der Seele sich durch eine Rhe torik des Bekenntnisses vollziehen muß, und zwar auf einer gerichtlichen Bühne, wo das Wahrsprechen über sich selbst und das Bestraftwerden durch einen anderen die Wandlung vom Ungerechten zum Gerechten leisten werden. Wir hätten hier also eine Art von Kern, dessen Schicksal Jahrtausende dauern sollte. Nun glaube ich aber, daß, wenn man diesem Text 452
den Sinn beimißt, den ich gerade vorgeschlagen habe, einen so positiven und unmittelbaren Sinn, man sich natürlich von zwei anachronistischen Schemata verwirren läßt: das Schema des christlichen B ekenntnisses mit seiner beständigen doppelten Verweisung, einer gerichtlichen und einer medizinischen, und das Schema einer strafrechtlichen Praxis, die seit mindestens dem I 3· Jahrhundert die Strafe immer wieder durch ihre thera peutische Funktion gerechtfertigt hat. Ich glaube also nicht, daß es möglich ist, dem Text diesen Sinn zu geben. Und nichts scheint mir von der platonischen Psych agogie weiter entfernt zu sein als die Vorstellung, daß eine Rhe torik des Geständnisses auf der Bühne des Gerichts die Wand lung vom Ungerechten zum Gerechten bewirken könne. Wenn man in den tragischen Texten oder in anderen griechischen Texten viele Stellen findet, die die therapeutische Funktion des Gerichts betreffen, bezieht sich die vom Gericht verlangte Therapie meistens nicht auf die Seele dessen, der ein Fehlver halten gezeigt hat. Es handelt sich um eine Therapie, die auf den Staat angewendet werden soll. B etrachten wir das Beispiel des Ö dipus : Die Bestrafung des Verbrechers heilt ihn nicht. Sie vertreibt ein Ü bel aus dem Staat, das in der Tat zugleich als Un reinheit und als Krankheit wahrgenommen wird. Das ist keine Psychagogie, sondern eine Politik. Eine Politik der Reinigung, die durch jene Vorstellung ins Spiel kommt, daß das Gericht heilt, und keineswegs eine Psychagogie der einzelnen Seelen. Zweitens glaube ich auch nicht, daß man das B eispiel des So krates anführen kann, denn im Grunde tut Sokrates etwas ganz anderes, als sich selbst anzuklagen, als er vor Gericht gebracht wird. Sokrates eilt nicht überstürzt zum Richter, nachdem er einen Fehler begangen hat, er kommt ihm überhaupt nicht ent gegen; im Gegenteil sind es die Richter, die ihn verfolgt haben. Wenn er sich andererseits verurteilen läßt, dann keineswegs deshalb, weil er eine Ungerechtigkeit begangen hätte und weil er anerkennen würde, daß er eine solche begangen hätte. In den Texten, sei es nun die Apologie, der Phaidon oder in gewisser Hinsicht der Kriton, sei es auch ein Text, den man am Ende des 45 3
Gorgias findet, wo in einer Art von rückblickender Ahnung auf Sokrates' Prozeß - der gegenüber diesem Dialog in der Zu kunft lag - angespielt wird,6 erscheint Sokrates keineswegs als jemand, der sagt: Ich bin schuldig, und deshalb unterwerfe ich mich den Gesetzen. Sondern: Weil sich die Bürger der Gesetze bedienen, die zwar an sich gerecht sind, nur um mich unge rechterweise zu verurteilen, würde ich selbst eine Ungerechtig keit begehen, wenn ich versuchen würde, diesen Gesetzen zu entkommen. Die Anerkennung, die ich dem Staat schulde, die Achtung, die die Gesetze gebieten, all das ist dafür verantwort lich, daß, auch wenn ich ungerechterweise verfolgt werde, ich mich weder der Verfolgung noch deren Konsequenzen entzie hen werde; darin würde die Ungerechtigkeit bestehen. Das ist also in keiner Weise etwas, das von der Art eines Bekenntnisses wäre, sondern Sokrates spielt ein ganz anderes Spiel gegenüber seinen Richtern. Nicht das Eingeständnis eines begangenen Fehlverhaltens, sondern der Gehorsam gegenüber den Geset zen, um keine Ungerechtigkeit zu begehen, indem man sie nicht befolgt. B emühen wir also nicht das B eispiel des Sokrates, um die Bedeutung dieser vermeintlichen Szene des therapeuti schen und psychagogischen Geständnisses zu bestätigen. Warum bezieht sich nun Sokrates hier auf das Eingeständnis der Fehler, und welche Bedeutung muß man dieser Passage beimessen ? Mir scheint, daß man zunächst an den Kontext erinnern muß. Diese Passage bildet das Scharnier zur gewisser maßen vorbereitenden Diskussion mit Polos - wo man, wie ge sagt, zeigt, daß die Rhetorik nichts ist, wenn man von ihr zu mindest verlangt, daß sie eine techne sei -, das Scharnier also zur Liquidation der Rhetorik und dessen, was im zweiten Teil bei der Diskussion mit Kallikles die ErheBung der philosophi schen parrhesia selbst ist. Man muß diesen Text als eine Art von endgültigem Grenzstein der Debatte über die Rhetorik und, wie mir eher scheint, deren historische Wendung verstehen. Sokrates stellt hier einen geradezu possenhaften Gebrauch der Rhetorik vor. Nun, ich werde »possenhaft<< in Anführungsstri che setzen, man sollte vorsichtiger und besonnener sein. Ich 454
meine folgendes: Sokrates stellt fest - hat er doch gezeigt, daß die Rhetorik nichts ist -, daß es nicht darum geht, der Unge rechtigkeit der anderen zu entfliehen. Es geht vielmehr darum, daß man selbst keine Ungerechtigkeit begeht. Und wenn es darum geht, wozu dient dann die Rhetorik ? Er hat es schon ge sagt: Die Rhetorik kann zu nichts dienen. Denn, wenn es dar um geht, keine Ungerechtigkeit zu begehen, dann geht es doch darum, aus dem Ungerechten einen wirklich Gerechten zu ma chen, und nicht darum, daß der Ungerechte bloß als gerecht er scheint. Die Rhetorik dient also zu nichts. An diesem Punkt angekommen, sagt er: Wenn ihr euch wirklich der Rhetorik be dienen wollt, wenn ihr euch trotz ihrer wirklichen Untauglich keit der Rhetorik bedienen wollt, zu welchem Zweck könnt ihr euch ihrer bedienen ? Und dann stellt er sich j ene paradoxe Szene vor - eine Szene, die an sich unmöglich ist und für einen Griechen, glaube ich, keinen Sinn ergibt -, wo man j emanden vor ein Gericht eilen und - der Text sagt es ausdrücklich - seine ganze Kunst der Rhetorik aufbieten sieht, um zu sagen: Ich bin der Schuldige, bitte bestraft mich. Sokrates präsentiert diesen Gebrauch der Rhetorik als paradoxe, als unmögliche Szene, um damit zu zeigen, inwieweit die Rhetorik nichts auszurich ten vermag. Daß das j edenfalls der Sinn ist, in dem Sokrates die Szene vorstellt - nämlich eine p aradoxe und unmögliche Szene zu sein -, wird, glaube ich, durch die unmittelbar folgende Pas sage bestätigt, wo, nachdem er den bekennenden Gebrauch, den Gebrauch der Rhetorik bei einem Geständnis erklärt hat, Sokrates sagt: Es gäbe auch einen anderen Gebrauch der Rhe torik, wenn ihr euch ihrer wirklich bedienen wollt, nachdem ihr zugegeben habt, daß die Hauptsache ist, kein Unrecht zu tun. Wenn ihr das nämlich zugegeben habt, dann könnt ihr euch der Rhetorik bedienen, und zwar entweder, was völlig ab sonderlich und unvorstellbar ist, um euch selbst anzuklagen, oder aber: »Wenn man aber im Gegenteil umgekehrt jeman dem Schaden zufügen muß, sei es einem Feinde oder wem sonst, wofern man nur nicht selbst Unrecht erleidet von dem Feinde - denn davor muß man sich hüten -, wenn aber der 45 5
Feind einem anderen Unrecht tut, muß man auf j ede Weise, durch Wort und Tat, darauf hinarbeiten, daß er keine Strafe er leide und nicht vor den Richter komme. Kommt er aber vor Gericht, so muß man es dahin bringen, daß der Feind glücklich durchkommt und keine Strafe erhält, sondern wenn er viel Geld geraubt hat, daß er das nicht zurückgibt, vielmehr es be halte und für sich und die Seinigen widerrechtlich und gottlos verbrauche; und hat er todeswürdige Verbrechen begangen, daß er nicht den Tod finde, womöglich niemals, sondern un sterblich bleibe in seiner Schändlichkeit, - wo nicht, daß er möglichst lange in dieser Weise fortlebe.«7 Mir scheint, daß dieser Text die Bedeutung des unmittelbar vorangehenden, von dem ich Ihnen eine Kopie ausgeteilt habe, vollkommen erhellt. Die Situation ist also folgende: Da es wichtig ist, keine Unge rechtigkeit zu begehen, kann man folgern, daß die Rhetorik nichts ist. Sie ist an sich nichts, und nichtig ist ihr Gebrauch. Aber wenn ihr wirklich - aufgrund des Prinzips, daß es darauf ankommt, keine Ungerechtigkeit zu begehen - Gebrauch von der Rhetorik machen wollt, von dieser Sache, die nichts ist und zu nichts nützt, was könnt ihr dann tun ? Nun, ihr könnt in zweierlei Weise einen grotesken Gebrauch von ihr machen: Einmal könnt ihr zum Richter laufen und euer rhetorisches Ta lent entfalten, indem ihr euch selbst anklagt; zweitens, wenn ihr einen Feind hättet, den ihr absolut nicht leiden könnt, könntet ihr ihn vor Gericht verteidigen und euch bemühen, daß er nicht bestraft wird und daß er also in dieser Strafe nicht den Grund für seine Verwandlung von einem Ungerechten in einen Gerechten finden kann. Ihr werdet ihn in seiner Unge rechtigkeit halten, ihr würdet es bewirken, daß er keine Wie dergutmachung leistet, und auf diese Weise könntet ihr, die ihr sein Feind seid, ihm den schlechtesten Dienst erweisen. Das sind die beiden Widersinnigkeiteil der unmöglichen und lä cherlichen Verwendung der Rhetorik, sobald man die vorange henden Prinzipien zugegeben hat. Es gibt keine Psychagogie des Geständnisses, es gibt keine gerichtliche Psychagogie. Die Manifestation der Wahrheit über sich selbst vor einem strafen-
den Richter ist nicht das Mittel, um sich von einem Ungerech ten zu einem Gerechten zu wandeln. Mir scheint also, daß man diesen Sinn vor Augen haben muß, wenn man über diesen Text spricht.''· Dagegen - wir gehen nun zu dem anderen Text über, von dem ich sprechen wollte - gibt es eine Passage, wo man sieht, was die Seinsweise des Diskurses ist, der wirklich die in Frage ste hende Psychagogie realisieren kann. Es ist nicht die Rhetorik, nicht ein Vergehen im Sinne der Rechtsprechung, die Dinge vollziehen sich nicht in diesem Spiel des Vergehens, des Ein geständnisses und der Bestrafung. Die Passage, die ich zitiere [ . _ ,,_ ,,_] steht bei 486d: >>Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte, lieber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn ich einen von den Steinen fände, womit man das Gold prüft, und zwar den besten, an den ich sie nur zu bringen brauchte, um genau zu erfahren, daß es richtig mit mir steht und daß ich keines an deren Prüfsteins bedarf, wenn j ener mir versicherte, daß meine Seele richtig gebildet sei ? [ . . ] Denn ich denke, wer ordentlich prüfen soll, ob die Seele richtig lebt oder nicht, der muß dreier lei Vorzüge8 in sich vereinigen, die du alle hast: Einsicht (episte men), Wohlwollen (eunoian) und Freimut (parrhesian). Denn ich treffe auf viele, die nicht imstande sind, mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du. Andere sind wohl weise: aber sie wollen mir die Wahrheit nicht sagen, weil sie kein Interesse für mich haben, wie du. Diese beiden Fremden aber, Gorgias und Polos, sind weise und mir befreundet; es fehlt ihnen jedoch an parrhesia, und sie sind zu verschämt, mehr als sich gebührt; wie sollten sie auch nicht ? Haben sie doch das Schämen so weit getrieben, daß aus Scham jeder von ihnen in Gegenwart vieler Menschen sich selber geradezu zu widersprechen wagt [ .] . Du aber hast alles, was die anderen nicht haben.«9 Er zählt .
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'' Das Manuskript enthält hier eine sehr lange Ausführung über den Un terschied zwischen der Position des Sokrates zur Funktion der Strafe, die hier zum Ausdruck kommt, und der des Protagaras im gleichnami gen Dialog in 3 24a. ,,_ ,, Das steht auf der anderen Fotokopie. 457
dann die drei Vorzüge auf, die Kallikles besitzt: Er ist episte mon (er hat episteme); er empfindet Freundschaft und Zunei gung zu Sokrates;10 und >>daß du der Mann bist, freimütig zu reden ohne Scheu, sagst du selbst, und deine Rede, was du kurz vorher sprachst, stimmt dazu. So steht es jetzt offenbar hier mit. Wenn du nun in der Untersuchung in einem Punkte mit mir übereinstimmst, so wird der schon hinlänglich von dir und mir geprüft sein, und man braucht ihn nicht mehr an einen anderen Prüfstein heranzubringen.«1 1 Etwas weiter unten auf der Seite haben wir bezogen auf das, was man den parrhesiasti schen Pakt für die Bewährungsprobe der Seelen nennen könn te, den folgenden kurzen Absatz, j ene Zeilen, die sich in der Tat auf das Verhalten und die Leitung der Seelen beziehen: »Denn wenn ich in meiner Lebensweise etwas nicht recht mache, so wisse, daß ich nicht mit Absicht fehle, sondern aus Unwissen heit. Wie du nun anfängst mich zu warnen, so lasse nun nicht ab, sondern zeige mir ordentlich, was ich eigentlich treiben muß, und auf welche Weise ich es erlangen könne ! Wenn du nun findest, daß ich j etzt mit dir übereinstimme und in späterer Zeit nicht nach dem tue, was ich zugestanden habe, so halte mich nur für einen Tropf und warne mich nie mehr in der Zu kunft, als dessen unwürdig ! « 12 Dieser Text steht in einem wenn auch indirekten, so doch ziemlich deutlichen Gegensatz zu dem, den ich gerade vorgelesen habe. In beiden Fällen han delt es sich um die Frage: Was ist zu tun, wenn man einen Feh ler begangen hat ? Die skurrile, absurde Hypothese für j eman den, der an die Rhetorik glaubt, ist: zum Richter laufen und sich selbst anklagen. Und nun haben wir die andere Formel, die sich gerade auf die philosophische Tätigkeit hinsichtlich der Seele bezieht, wo man, wenn ein Fehler begangen wurde, zu geben muß, daß er nicht absichtlich begangen wurde und daß folglich der, der ihn begangen hat, noch weiteren Rat braucht. Wenn er j edoch, nach diesen Ratschlägen und nachdem er über die Natur des Vergehens aufgeklärt wurde, denselben Fehler erneut begeht, wird die einzige Strafe darin bestehen, von dem, der ihn leitet, verlassen zu werden. Sie sehen, daß wir uns hier
auf einer ganz anderen Bühne mit ganz anderen Vedahrens weisen und in einem ganz anderen Kontext bewegen und daß es um ein ganz anderes Spiel im Vergleich mit dem Spiel des Geständnisses auf der gerichtlichen Bühne geht. Ich möchte nun ein wenig auf die Elemente eingehen, die wir in dieser Pas sage vorfinden. Mir scheint, daß hier die Seinsweise des philosophischen Dis kurses und seine Weise, die Seele zugleich mit der Wahrheit, dem Sein (dem Seienden) und dem anderen zu verbinden, knapp und gewissermaßen rein methodelogisch (als Diskus sionsregeln) definiert wird. Diese Passage scheint mir deshalb interessant zu sein, weil sie zwar beiläufig, aber doch sehr deut lich das wieder aufnimmt und theoretisch betrachtet, worum es während des ganzen Dialogs ging, da j a Sokrates - diejenigen unter Ihnen, die ihn gelesen haben, werden sich daran erin nern - ständig zu seinem Gesprächspartner sagt: Ich will nicht, daß du mir große Reden hältst, ich will nicht, daß du mir eine Lobrede auf die Rhetorik hältst, ich will nur, daß du auf meine Fragen antwortest. Und ich will, daß du auf meine Fragen ant wortest, nicht - wie es im Menon heißt oder wie man es in an deren Dialogen findet - weil du die Wahrheit in der Tiefe dei ner selbst weißt. Oder vielmehr ist diese Aussage implizit darin enthalten, aber das Thema des >>ich will, daß du auf meine Fra gen antwortest«, das den ganzen Gorgias durchzieht, ist nicht auf diesen Punkt fokussiert. »Ich will, daß du auf meine Fragen antwortest« bedeutet im Gorgias: Ich will, daß du der Zeuge der Wahrheit bist. Wenn du auf die Fragen, die ich dir stellen werde, genau so antwortest, wie du denkst, genau so, wie es dir in den Sinn kommt, ohne etwas zu verbergen, weder aus Absicht noch durch rhetorische Ausschmückung, noch aus Scham - welche hierbei erneut eine große Rolle spielen wird -, wenn du also genau das sagst, was du denkst, dann haben wir darin eine wahrhafte Prüfung der Seele. Der Dialog wird hier nicht als Instrument zur Speicherung im Gedächtnis, nicht als dialektisches Spiel mit dem Gedächtnis gerechtfertigt. Er wird gerechtfertigt als ständige Prüfung der Seele, als basanos (eine
Prüfung) der Seele und ihrer Qualität durch das Spiel der Fra gen und Antworten. Dieser Text ist auch deshalb interessant, weil hier das Wort parrhesia erscheint, dieses Wort, das offenbar in seiner gängi gen Bedeutung außerhalb des konkreten politischen Bereichs, außerhalb des institutionellen B ereichs, von dem wir gespro chen haben, verwendet wird, während man auf diese Weise theoretisiert und eine Reihe von Themen zusammenfaßt, die den ganzen Dialog durchziehen und die eine Art von Pakt sind, an den Sokrates den ganzen Dialog hindurch erinnert. Das heißt, daß es sich hier um den schlichten Freimut im Reden handelt, darum, das zu sagen, was man im Kopf hat, um die Redefreiheit, genau das zu sagen, was man denkt, ohne Ein schränkung und ohne Scham. Aber wenn diese Bedeutung des Wortes parrhesia auch die herkömmliche ist, so wird das Wort hier doch in einer Reflexion auf die Frage gebraucht, was der philosophische Dialog sein soll und was folglich das Spiel der Wahrheit und das Spiel der Prüfung sein soll, das von dem Phi losophen und seinem Schüler gespielt wird - dem Fragesteller und dem Befragten, dem Verfolger und dem Verfolgten. Inso fern glaube ich, daß wir hier eine erste Verwendung - j edenfalls gibt es in der Literatur dieser Zeit und davor keine anderen des Wortes parrhesia im Kontext bzw. innerhalb j ener Praxis haben, die schon die Praxis der Gewissensleitung ist. Viel spä ter findet man dann Texte, die der Theorie der parrhesia im ganzen oder teilweise eine wichtige Rolle zuweisen werden. Wir haben beispielsweise eine Abhandlung von Plutarch, die der Unterscheidung der Schmeichler gewidmet ist: Wie läßt sich ein Schmeichler erkennen, wie kann man einen Schmeich ler entlarven ?13 In Wahrheit ist dieser Text eine sehr technische Diskussion darüber, was die Schmeichelei im Gegensatz zur parrhesia ist. Und hier haben wir eine wenn nicht theoretische, so doch zumindest technische, gewissermaßen technologische Reflexion auf die parrhesia. Hier wird zwar die Frage noch nicht gestellt, aber das Wort wird schon im Kontext dieser Pra xis der Seelenleitung, der philosophischen Leitung, der indivi-
duellen Seelenleitung verwendet, und zwar zum ersten Mal. Deshalb müssen wir etwas bei diesem Text verweilen. Der Kontext, in dem diese Passage steht, ist, wie Sie sich erin nern, sehr einfach. Sie kommt kurz nach der Stelle über das Geständnis und scheint mir geradezu in einem karikaturisti schen Gegensatz zu dieser zu stehen. Polos wurde also als Ge sprächspartner disqualifiziert, weil er sich gewissermaßen in der Diskussion verirrt hat. Er mußte zugeben, daß, wenn der Gerechte wirklich besser ist als der Ungerechte, die Rhetorik zu nichts dient. In diesem Moment ergreift Kallikles das Wort. Kallikles hat genau gesehen, wo der Schwachpunkt der Rede des Polos lag, nämlich daß er versuchte, zwei Aussagen gemein sam aufrechtzuerhalten. Erstens die Aussage, daß die Rhetorik nützlich ist, und zweitens die Aussage, daß der Gerechte besser als der Ungerechte ist. Sokrates hat gezeigt, daß die beiden Aussagen zusammen nicht haltbar waren, und da er dafürhielt, daß der Gerechte besser ist als der Ungerechte, hat er also ge zeigt, daß die Rhetorik nutzlos ist, nicht nur daß sie nutzlos ist, sondern daß sie nichts ist. Vor diesem Hintergrund läßt sich Kallikles' Taktik leicht ableiten. Kallikles wird die andere Posi tion einnehmen, die in folgendem besteht: Es ist nicht wahr, daß der Gerechte den Vorzug vor dem Ungerechten hat und folglich die Rhetorik existiert und sie daher nützlich ist. Das ist die berühmte Passage über die Tatsache, daß der Gerechte dem Ungerechten nicht vorzuziehen sei, die nicht nur als Skizze dessen, was Thrasymachos im Staat sagt, erläutert und gedeu tet wird, sondern auch als eine Art von Ahnung des nietzschea nischen Menschen, eine Art erster Behauptung des Willens zur Macht interpretiert wird. Diese Deutung scheint mir dagegen völlig abenteuerlich und ebenso anachronistisch zu sein wie diejenige, die aus der zuvor erläuterten Passage eine Vorah nung des Geständnisses machen wollte. Es handelt sich nicht um eine Moral des Geständnisses und der Bestrafung, die einer Moral des Willens zur Macht entgegengesetzt wäre, was im Dialog des Gorgias inszeniert wird. Aus offensichtlichen hi storischen Gründen wäre das sehr erstaunlich.
Wenn ich auf Kallikles insistiere, dann aus einem einfachen Grund, wie Sie sehen werden. Um den Dingen ihren Ort anzu weisen, weil wir uns beeilen müssen, möchte ich bloß sagen, daß Kallikles im Grunde ein tüchtiger, anständiger und insge samt völlig normaler junger Mann ist. Denn wenn Sie seine Rede über den Gerechten und den Ungerechten betrachten, als er sagt: Es ist nicht wahr, daß der Gerechte dem Ungerechten vorgezogen werden soll, wie und womit rechtfertigt er seine Behauptung ? Er rechtfertigt sie, indem er sagt: Man soll sich nicht verhalten wie ein Sklave, denn die Sklaven erleiden U nge rechtigkeit, ohne sich verteidigen zu können (in 4 8 3 b ). In 48 3 c heißt es: Man muß z u den Stärksten, zu den Fähigsten gehören, zu denen, die dynatoi pleon echein sind (die fähig sind, mehr als die anderen zu haben). Man muß versuchen, hoi polloi, die Vie len (48 3 d), zu übertreffen, man muß den dynatoteroi angehö ren (j enen, die mächtiger als die anderen sind). In 48 3 e wird ge sagt: Der Stärkere (kreitton) s oll über den Geringeren, den Schwächeren (hetton) herrschen, man soll den beltistoi, den Be sten, angehören. 14 Dies alles sind nun aber die banalsten For mulierungen, die man bei j edem Griechen finden kann, sobald er zur Kategorie der vollberechtigten Bürger und zu j ener Klasse von Leuten gehört, die durch ihren Status, ihre Geburt, ihr Vermögen den Anspruch haben, den Staat zu regieren. In Kallikles' Entwurf gibt es nichts Außergewöhnliches. Das ein zige, woran er sich stößt und was dafür verantwortlich ist, daß diese völlig normale Einstellung - unter den Besten sein zu wollen und als Bester jemand sein zu wollen, der über den Schwächeren und Schlechteren herrscht - einen Widerstand er fährt, ist die Tatsache, daß er sich mit einem nomos (einem Ge setz) konfrontiert sieht, das gerade das Gesetz der athenischen Demokratie ist, die danach strebt, allen denselben Status zu verleihen und vor allem zu verhindern, daß irgend jemand die anderen beherrscht. Gegenüber dem, was für ihn ein Skandal ist (dieses Gesetz der Gleichheit) - hier gibt es etwas, das die Person des Kallikles von einem jungen Aristokraten wie allen anderen unterscheidet -, gebraucht er eine Argumentation, die
bekanntlich direkt von den Sophisten, von Gorgias, von Prot agaras usw. stammt und die in der B ehauptung besteht, daß der nomos nur eine Sache der Konvention ist und daß kein Gesetz verpflichte, von der Natur abzugehen. Er deutet also die Situa tion um, die er nicht ertragen kann. Er, der das aristokratische Spiel des Besseren auf gewöhnliche Weise spielen will, der ei ner agonistischen Welt angehört, in der die Stärkeren über die Schwächeren herrschen sollen, verwendet diese Art von Rä sonnement. Man muß also verstehen, daß Sokrates in Kallikles keineswegs einem vorausgeahnten Vertreter einer gleichsam nietzscheanischen Aristokratie begegnet - der unfähig wäre, sich irgendeinem Gesetz zu b eugen, sofern dieses Gesetz sei nen Appetit nach Macht zügeln wollte. In Kallikles begegnet Sokrates einem jungen Mann, der in einem egalitär geworde nen System ein herkömmliches agonistisches Spiel spielt. Sein Vorteil an Vermögen und sein herkömmlicher Status können ihn nicht mehr unter die Besten einreihen, und die Tatsache, daß er zu den B esten gehört, verleiht ihm keine wirkliche Au torität. Wie kann er diese also erwerben ? Nun, ganz einfach durch die Rhetorik. Die Rhetorik wird also das Instrument sein, das ihm innerhalb des egalitären Systems erlauben wird, das alte herkömmliche Spiel des Vorrangs und des privilegier ten Status zu spielen. Die Rhetorik ist das Instrument, um eine Gesellschaft wieder inegalitär zu machen, der man durch de mokratische Gesetze eine egalitäre Struktur auferlegen wollte. Die Rhetorik sollte also nicht mehr an den Gesetzen ausge richtet sein, da sie ihr Spiel gegen diese Gesetze betreibt. Die Rhetorik muß also dem Gerechten und dem Ungerechten ge genüber gleichgültig sein und als reines agonistisches Spiel ge rechtfertigt werden. Das ist der Kontext, in dem die Passage steht, die ich erläutern möchte. Was wird nun Sokrates gegenüber diesem Gebrauch der Rhe torik ohne Ausrichtung am Gerechten und am Ungerechten Kallikles vorschlagen ? Nun, er wird ihm ein anderes Diskurs spiel vorschlagen, das gänzlich und Stück für Stück verschie den ist. Erstens ist die Rhetorik entweder in dieser herkömm-
liehen Situation oder in einer konfliktgeladenen Situation, in der die Leute, die zur Elite gehören oder das agonistische Spiel spielen wollen, es mit einer egalitären und demokratischen Struktur zu tun haben, ein Diskurs, der im Geiste Kallikles' so wie übrigens im Geiste der Rhetoren nur eine einzige Verwen dung hat: Es geht darum, über die Vielen (hoi polloi) zu herr schen und sich deshalb an sie zu wenden und sie zu überreden. Wenn man dann die Ü berredung erreicht und die Unterstüt zung der Vielen gewonnen hat, kann man die Rivalen übertref fen. Die Rhetorik ist sozusagen eine Diskurspraxis, die mit drei Kategorien von Personen zu tun hat: Es gibt die Vielen, die man überzeugen muß; es gibt die Rivalen, die man übertreffen muß; und dann gibt es noch den, der die Rhetorik einsetzt und der in den Rang des ersten aufsteigen will. Was nun Sokrates Kallikles vorschlägt, ist ein Diskurs, der in diesem Spiel auf drei Etagen oder in dem agonistischen Raum der Vielen, der Rivalen und dem, der Sieger sein will, keinen Ort hat. Es ist ein Diskurs, dessen man sich als basanos, 15 als Prüfung einer Seele durch eine andere bedient. Während der ganzen vorangehenden Diskussion mit Polos ging es um die Frage, ob man sich des Gesprächspartners wie eines Märtyrers, wie eines Zeugen bedienen solle. 1 6 Hier bedeutet das Wort ba sanos, daß der Diskurs von einer Seele zur anderen wie ein Prüfstein übergehe. In welchem Sinne wie ein Prüfstein ? Die Verwendung der Metapher des Prüfsteins ist interessant. Was zeigt denn der Prüfstein ? Was ist sein Wesen und seine Funk tion ? Sein Wesen besteht darin, daß er so etwas wie eine Affi nität zwischen sich und dem, was er prüft, aufweist, welche da für verantwortlich ist, daß das Wesen des von ihm Geprüften durch ihn offenbart wird. Zweitens spielt der Prüfstein auf zwei Registern: auf dem Register der Wirklichkeit und auf dem Re gister der Wahrheit. Der Prüfstein ermöglicht also ein Wissen darüber, was die Wirklichkeit der Sache ist, die man durch ihn prüfen will, und indem sich die Wirklichkeit der durch ihn ge prüften Sache manifestiert, zeigt man, ob diese Sache wirklich die ist, die sie zu sein vorgibt, und ob ihr Diskurs oder ihre Er-
scheinung mit ihrem Wesen übereinstimmt. Die Beziehung zwischen den Seelen ist also gar nicht mehr eine Beziehung agonistischer Art, wo es darum ginge, über die anderen zu herrschen. Die B eziehung zwischen den Seelen wird den Cha rakter einer Prüfung haben, sie wird die Beziehung des basanos (des Prüfsteins) sein, die sich durch eine Wesensverwandtschaft vollzieht und durch diese Wesensverwandtschaft zugleich ei nen Beweis der Wirklichkeit und der Wahrheit der Seele liefert, d. h. einen B eweis dafür, wie es um ihre Wahrhaftigkeit (ety mos) bestellt ist. Sie erinnern sich, wir sind dieser Vorstellung des Wahrhaftigen (des etymos) schon im Hinblick auf den Logos begegnetY Und insofern eine Seele sich in dem manifestiert, was sie sagt (durch ihren Logos, durch die Prüfung des Logos im Dialog: wissen, was sie in Wirklichkeit ist, ob sie wirklich mit der Wirklichkeit übereinstimmt und ob sie die Wahrheit sagt), gilt das, was auf den Logos zutrifft, auch für die Seele. Das Spiel ist also nicht mehr agonistisch (ein Spiel der Ü berlegenheit), sondern es ist ein Spiel der Prüfung zu zweit durch die Wesens verwandtschaft und die Manifestation der Wahrhaftigkeit, der Wirklichkeit-Wahrheit der Seele. Zweitens sieht man, daß bei dieser Prüfung der Wahrheit der Punkt, der mehrmals als kennzeichnendes Merkmal angegeben wird und der dafür verantwortlich ist, daß man diese Prüfung auch tatsächlich vollzieht und daß sie zu einer Entscheidung führt, in folgendem besteht. Es handelt sich um das, was im Text wiederholt homoLogia genannt wird. HomoLogia, dieser Ausdruck taucht mehrmals auf, bezeichnet die Identität des Diskurses des einen und des anderen. 1 8 Wenn es bei den beiden Seelen, die sich durch Wesensverwandtschaft prüfen, eine ho moLogia gibt, die darin besteht, daß das, was der eine sagt, vom anderen auch gesagt werden kann, dann haben wir ein Wahr heitskriterium. Das Wahrheitskriterium des philosophischen Diskurses ist also nicht, wie man sieht, in einer Art innerer Ver bindung zwischen dem Denkenden und der gedachten Sache zu suchen. Die Wahrheit des philosophischen Diskurses wird also keineswegs in der Form dessen erlangt, was später die Evi-
denz sein wird, sondern sie wird durch etwas erreicht, was ho mologia genannt wird, nämlich die Identität des Diskurses zwischen zwei Personen. Das gilt jedoch nur unter einer Be dingung, und hier begegnen wir den drei B egriffen, die ich er läutern möchte und unter denen sich auch der B egriff der »par rhesia« befindet. Damit diese homologia, d. h. diese Identität des Diskurses auch das ist, was man von ihr erwartet, nämlich eine Prüfung der Qualität der Seele, muß nicht nur der Diskurs, sondern auch die Person, die ihn hält - eigentlich fallen diese drei Dinge zusammen -, einer Reihe von Kriterien genügen. Die drei Kriterien sind: episteme, eunoia, parrhesia. 1 9 Man müßte auf weitere Textstellen eingehen (aber leider habe ich nicht die Zeit dazu), die etwas weiter unten folgen und sich auf die Schmeichelei beziehen.20 Was ist eigentlich die Schmeichelei ? Die Schmeichelei ist augenscheinlich ebenfalls eine homologia. Was bedeutet es zu schmeicheln ? Beim Schmeicheln nimmt man die Gedanken des Hörers, formuliert sie auf eigene Rech nung um, als ob es sich um meine eigene Rede handeln würde, und gibt sie an den Hörer zurück, der insofern viel leichter überredet und verführt wird, als es genau das ist, was er s elbst sagt. Wir haben hier anscheinend auch eine homologia. Aber dies wird nie homologia genannt, denn der Anschein von Identität ist eben nur ein Schein. Nicht der logos selbst ist identisch, sondern die Leidenschaften, die Begierden, die Lüste, die Mei nungen. Das aber ist alles trügerisch und falsch. Diese Dinge werden in der Schmeichelei wiedergegeben und wiederholt. Dagegen ist die homologia des Dialogs ein echtes Wahrheits kriterium. Die Tatsache, daß die beiden denselben logos inne haben, wird nur unter einer Bedingung keine Schmeichelei sein, nämlich daß die Gesprächspartner mit episteme, eunoia und parrhesia ausgestattet sind. Ich sage >>die Hörer sollen aus gestattet sein mit«. Wir werden für einen Augenblick darauf zurückkommen, aber lassen wir das nun beiseite. Episteme, d. h. sie müssen Wissen besitzen: >>Wissen« ist der Schmeichelei ent gegengesetzt, die hier suspendiert wird, da sie nur zur Meinung
dient. Hier bezieht sich episteme nicht so sehr auf das gelernte Wissen der Gesprächspartner, sondern auf die Tatsache, daß sie nur dann etwas sagen, wenn sie wissen, daß es wahr ist. Zweitens wird die homologia unter folgender Bedingung kei ne Schmeichelei sein: Wonach die Gesprächspartner suchen auch das steht im Gegensatz zu den Schmeichlern - soll nicht ihr eigenes Gut, ihr Gewinn, ihr guter Ruf bei den Hörern, ihr politischer Erfolg usw. sein. Damit die homologia w i rklich einen Wert als Ort der Formulierung und Prüfung der Wahr heit hat, ist es notwendig, daß beide Gesprächspartner ein Ge fühl des Wohlwollens haben, das sich auf die Freundschaft gründet (eunoia). Um sicher zu sein, daß die homologia nicht einfach analog zum Schmeicheln sein wird, ist es schließlich drittens notwendig, daß j eder der beiden Gebrauch von der parrhesia macht, d. h. daß nichts von der Art der Furcht oder Schüchternheit oder Scham die Formulierung dessen ein schränkt, was man für wahr hält. Der parrhesiastische Mut ist also notwendig. Die episteme, die bewirkt, daß man das sagt, was man für wahr hält, die eunoia, die bewirkt, daß man nur wohlwollend zum anderen spricht, die parrhesia, die den Mut gibt, alles zu sagen, was man denkt, und zwar trotz der Regeln, Gesetze, Gewohnheiten, das sind die drei Bedingungen, unter denen die homologia, d. h. die Identität des Logos beim einen wie beim anderen, die Rolle des in Frage stehenden basanos (der Prüfung, des Prüfsteins ) spielen kann. Episteme, eunoia, parrhesia, wenn Sie wirklich philosophische Vergleiche anstel len wollen, denken Sie daran, daß diese drei Kriterien in einer philosophischen Praxis, die durch den Dialog und die Einwir kung einer Seele auf eine andere charakterisiert ist, genau bzw. annähernd diejenige Stelle einnehmen, die die cartesianische Evidenz einnehmen wird, wenn sich der cartesianische Dis kurs als der Ort zeigen und behaupten wird, an dem sich die Wahrheit manifestiert. Man müßte die Dinge natürlich noch etwas, vielleicht gar viel komplizierter darstellen, leider habe ich dazu aber nicht die Zeit . . . Denn dieses Spiel vollzieht sich ja zu zweit, d. h. daß
weder die episteme noch die eunoia, noch die parrhesia des Kallikles dieselben sind wie die des Sokrates. Alles, was in dem Dialog von diesem Moment an geschieht, wird gerade durch die Art und Weise bestimmt sein, in der Kallikles, der wirklich episteme aufweist - was er weiß und was er als wahr weiß -, der seine Freundschaft einsetzt - die zwar etwas begrenzt ist, aber dennoch durch sein Wohlwollen gegenüber Sokrates bestimmt wird - und der dann seine parrhesia zur Geltung bringt, die sich als Fähigkeit auszeichnet, selbst skandalöse und beschä mende Dinge zu sagen, der also alle diese Dinge einsetzt und diese Regeln auf seinen eigenen Dialog anwendet, Schritt für Schritt dazu gebracht wird, die Rede von Sokrates siegen zu lassen. In diesem Augenblick behauptet sich nun im Schweigen des Kallikles, der darauf verzichtet zu sprechen, die episteme des Sokrates, die sich in der Formulierung der großen Prinzipi en bezüglich des Leibes und der Seele, des Lebens, des Todes und des Ü berlebens ausdrückt, die so etwas wie den Kern des philosophischen Wissens selbst bilden; die eunoia des Sokra tes, die in seiner Zuneigung zu Kallikles besteht; und die sokra tische parrhesia, jene parrhesia, die er durch den ganzen Dialog hindurch unter Beweis stellte, die jedoch am Ende angespro chen wird, als der Dialog durch eine rückblickende Vorweg nahme den bevorstehenden Prozeß des Sokrates, seinen Tod und den Mut anspricht, mit dem er vor seinen Richtern die Wahrheit sagt.21 So sind also episteme, eunoia und parrhesia die Schnittstelle der Wahrheit. Durch einen Pakt, zu dem Sokrates Kallikles in die sem Dialog ermuntert, wird die sich ereignende homologia, die den Rest des Dialogs bestimmt, der Beweis der Wahrheit des sen sein, was gesagt wird, und somit auch der Qualität der See len, die es sagen. Sie sehen, daß wir in dieser Vorstellung des Prüfsteins, der homologia und ihrer wesentlichen Bedingung, die in der parrhesia gipfelt, die Definition j ener Verbindung ha ben, durch die der Logos des einen auf die Seele des anderen ein wirken und ihn zur Wahrheit führen kann. Auf diese Weise wird nun die parrhesia - die in ihrem politischen Gebrauch,
d. h. nach dem perikleischen Modell, die Möglichkeit hatte, um den Befehlshaber herum die Vielheit der anderen in der Einheit des Staats zu binden - den einen mit dem anderen verbinden, den Lehrer mit dem Schüler. Indem sie beide miteinander ver bindet, wird sie sie zusammen mit jener Einheit verbinden, die nicht mehr die Einheit des Staats, sondern die Einheit des Wis sens, die Einheit der Idee, die Einheit des Seins selbst ist. Die philosophische parrhesia des Sokrates bindet den anderen, bin det die beiden anderen, bindet den Lehrer und den Schüler in die Einheit des Seins, im Unterschied zur parrhesia des peri kleischen Typs, die die Vielheit der im Staat versammelten Bür ger zur Einheit der Befehlsgewalt dessen verbindet, der einen Einfluß auf sie ausübt. Sie verstehen, warum die perikleische parrhesia notwendig zu so etwas wie der Rhetorik führen muß te, d. h. zu j enem Gebrauch der Sprache, der es ermöglicht, die anderen zu übertreffen und sie durch Ü berredung zur Einheit der Befehlsgewalt in Form j ener behaupteten Ü berlegenheit zu vereinen. Im Gegensatz dazu führt die philosophische parrhe sia, die in diesem Dialog zwischen Lehrer und Schüler spielt, nicht zu einer Rhetorik, sondern zu einer Erotik. Das war's, danke schön. Anmerkungen I 2 3 4 5 6
» Tis eie he Gorgiou techne« (Platon, Gorgias, 448e, übers. v. Julius Deuschle, Heidelberg I 9 8 2, S. 3 0 5 ) . E b d . , 48oa, S. 348-349. Ebd., 48ob-d, S. 349· Diese Dimensionen der christlichen parrhesia werden in der Vorlesung vom 7· März I 9 84 untersucht. V gl. vor allem die Briefe (Thascius Caecilius Cyprianus, Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe, übers. v. Julius Baer, Mün chen I 928). >>Wie sicher scheinst du dich doch zu fühlen, lieber Sokrates, daß dir gar nichts der Art widerfahren könne, als wohntest du aus dem Wege und könntest nicht vor Gericht gezogen werden, vielleicht gar von einem ganz verworfenen und schlechten Menschen ! << (Platon, Gorgias, p i c, a. a. 0 ., S. 40 I und die ganze Ausführung, die in 5 2 I d- p 2e folgt (S. 40 I 403 ) .
7 Ebd. 48oe-48 r b, S. 349-3 5 0.
8 »[ . . . ] der muß dreierlei Vorzüge in sich vereinigen, die du alle hast: Ein sicht (epistemen), Wohlwollen (eunoian) und Freimut (parrhesian)« (ebd., 48 7a, S. 3 5 6). 9 Ebd. , 486d-48 7b, S. 3 5 6-3 5 7. 10 »Denn du besitzt hinlängliche Bildung (pepaideusai te gar hikanos), wie viele Athener sagen würden, und bist wohlwollend gegen mich ge sinnt (emoi ei eunous) « (ebd., 4 8 7b, S. 3 5 7) . 1 I Ebd. 12 Ebd., 4 8 8a-b, S. 3 5 7-3 5 8 . 1 3 »Les moyens de distinguer le flatteur d'avec l'ami (Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet) «, in: Plutarch, CEuvres mora les, a. a. 0., S. 84- 1 4 1 . 1 4 >>Die Gesetzgeber aber sind, denke ich, die schwächlichen Menschen und die große Masse (hoi polloi) ! In Rücksicht auf sich und ihren eige nen Vorteil geben sie Gesetze, sprechen sie Lob und Tadel aus. Sie wol len die stärkeren Menschen, welche die Kraft haben, sich Vorteil anzu maßen (ekphobountes te tous erromenesterous ton anthropon kai dynatous ontas pleon echein), einschüchtern [ . . . ] . Die Natur selbst aber beweist, daß es gerecht ist, daß der Stärkere mehr habe als der Schwä chere und der Fähige mehr als der Unfähige (pleon echein kai ton dyna toteron tou adynatoterou) [ ], daß das anerkanntes Recht ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe als j ener (ton kreitto tou hettonos archein) [ ]. Die B esten (tous beltistous) und Stärksten aus unserer Mitte nehmen wir von Jugend an her . . (Platon, Gorgias, 4 8 3 b-e, a. a. O., S. 3 5 3 ). 1 5 »Wenn ich etwa eine goldne Seele hätte, lieber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn ich einen von den Steinen fände, womit man das Gold prüft (tina ton lithon he basanizousin ton chryson) . . . « (ebd., 486d, S. 3 5 6; basanos bedeutet im Griechischen »der Prüfstein«). r 6 »Wenn ich aber nicht dich selbst als Zeugen aufstelle (an me se auton hena onta martyra), der meiner Behauptung zustimmt, so will ich nicht glauben, irgend etwas der Rede Wertes in der Untersuchung, die wir führen, vor mich gebracht zu haben<< (ebd., 472b, S. 3 3 6). r 7 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesung vom 2 . März und das Zitat aus dem Phaidros in 243 a, oben s. 4 1 4 f. r 8 »Homologeseien<< (Gorgias, 4 8 6d), »homologeses<< (486e und 487e). 1 9 Ebd., 4 8 7a, S. 3 5 6. 20 Ebd., 5 02d-e, S. 3 77 und 5 22d, S. 403 . 2 1 Vgl. oben, Anm. 6. . . .
. . .
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Frederic Gros '' Situierun g der Vorlesun g en
1.
Buchprojekte und Neubeginn
Die von Michel Foucault 1 9 8 3 am College de France gehaltene Vorlesung trägt den Titel >>Die Regierung des Selbst und der anderen« . Diesen Titel hatte Foucault zugleich für ein Buch vorgesehen, dessen Veröffentlichung er bei Seuil in der neuen Reihe >>Des travaux« plante.1 In diesem Jahr unternimmt Fou cault also Forschungen, die ebenso viele Kapitel j enes nie er schienenen Werkes hätten einnehmen sollen und die die Unter suchungen des Vorj ahres ergänzen sollten, welche ebenfalls in diesem Band hätten aufgenommen werden sollen. Parallel zu seiner Geschichte der Sexualität2 beabsichtigte Foucault in der Tat die Veröffentlichung einer Reihe von Studien zur antiken Gouvernementalität in ihren ethischen und politischen Di mensionen. Die Vorlesung ist also eine Fortsetzung der Vorle sung von 1 9 8 2 . Ü brigens nimmt er auf diese häufig B ezug und erinnert hier und da an frühere Untersuchungen.3 1 9 8 2 hatte Foucault als allgemeinen Rahmen für seine Arbeit die histori sche Untersuchung der Beziehungen zwischen Subjektivität ". Frederic Gros ist Professor für politische Philosophie an der Universität Paris- XII. Er unterrichtet ebenfalls am Pariser Institut d'etudes politi ques (Master-Studiengang »Histoire et Theorie du politique«). Letzte Buchveröffentlichung: E tats de violence. Essai sur la fin de la guerre, Pa ris, Gallimard, 2006. r Die Reihe wurde im Februar 1 9 8 3 gestartet und von M. Foucault, F. Wahl und P. Veyne herausgegeben. Vgl. zu diesem Punkt die »Zeittafel« von D. Defert, in: Dits et E crits: Schriften, I9J4- rg88, Bd. I, S. 99· 2 Histoire de la sexualite, Bd. I! (L'Usage des plaisirs) und III (Le Souci de soi), Paris 1 984; dt. Der Gebrauch der Lüste: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt 1 9 8 6, Die Sorge um sich: Sexualität und Wahrheit, Bd. 3 , Frankfurt 1 9 8 6 . 3 Vgl. oben d i e Vorlesungen vom r 2. januar (erste Stunde), vom r6. Fe bruar (erste Stunde), vom 2 3 . Februar (erste Stunde) und vom 3 · März (erste Stunde). 47 !
und Wahrheit gewählt.4 Im Ausgang von einer Untersuchung des Begriffs der »Sorge um sich« (epimeleia heautou, cura sui) ging es ihm darum, die historisch situierten »Techniken« zu be schreiben, durch die ein Subj ekt eine bestimmte Beziehung zu sich selbst herstellt, seiner eigenen Existenz Gestalt verleiht und seine B eziehung zur Welt und zu den anderen auf geregelte Weise begründet. Es stellte sich dann sehr bald heraus, daß die se Sorge um sich, außer in ihren Verfallsformen (Egoismus, Narzißmus, Hedonismus), keine spontane Einstellung bzw. keine natürliche Bewegung der Subj ektivität sein konnte. Viel mehr mußte man durch einen anderen zu dieser richtigen Sor ge um sich veranlaßt werden.5 Dadurch wurde die Figur des antiken Lehrmeisters auf den Plan gerufen, die zumindest s eit der Vorlesung am College de France aus dem Jahre 1 9 806 eine große historische Alternative zum christlichen Leiter des Ge wissens darstellte.7 Denn dieser Lehrmeister spricht eher, als daß er zuhört, unterrichtet eher, als daß er ein Bekenntnis ab le gt, ermuntert eher zu einer positiven Gestaltung anstatt zum aufopfernden Verzicht. Die Frage nach dem, was diese lebhaf te, an den Geführten gerichtete Rede notwendig strukturiert, zieht 1 9 8 2 eine erste Untersuchung über das Thema der par rhesia als Freimut und Mut zur Wahrheit im Rahmen der anti ken Lebensführung nach sich. 8 Der Ü bergang von der Regierung des Selbst (epimeleia heau tou im Jahre 1 9 8 2) zur Regierung der anderen (parrhesia im Jahre 1 9 8 3 ) war also folgerichtig. Dennoch scheint Foucault 1 9 8 3 darauf zu bestehen, einen Neubeginn markieren zu wol len. Er beginnt seine Vorlesung mit einem Kommentar zu Kants Text über die Aufklärung, dem eine ambitionierte me4 Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004, S. r 5 . 5 Hermeneutik des Subjekts, a . a . 0 . , S . I 7 5 · 6 Vgl. z u diesem Punkt die letzte Vorlesung des Jahres r 9 8 o (26. März). 7 Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 496-497. 8 Vgl. in Hermeneutik des Subjekts das Ende der Vorlesung vom 3· März und die beiden Stunden der Vorlesung vom I O . März (a. a. O., s. 4 3 3 bis 501). 472
thodologische Einleitung vorangeht. 9 Die ersten Sätze der Vor lesung nehmen schnell die Gestalt einer umfassenden N eube wertung s einer Arbeiten seit Wahnsinn und Gesellschaft und einer methodologischen Bilanz an, wobei Foucault Wert dar auf legt, die Gesamtheit seines Werkes in drei Momente zu gliedern (Veridiktion/Gouvernementalität/Subjektivierung), die dabei j eweils auftretenden, großen begrifflichen Verschie bungen zu präzisieren und Mißverständniss e abzuwehren. Der Hauptteil der ersten Vorlesung bezieht sich j edoch auf Kants Text. Das kleine Werk über die Aufklärung10 war schon am 2 7 . Mai 1 9 7 8 Gegenstand einer Mitteilung an die französi sche Gesellschaft für Philosophie (»Was ist Kritik ?«). 1 1 Von einem Kommentar zum anderen und unter den Wiederholun gen an der Oberfläche ist der Unterschied doch deutlich. 1 9 78 wurde Kants Text in der Perspektive einer »kritischen Einstel lung« behandelt, die Foucault auf die Anfänge der Moderne datiert und die im Gegensatz zu den Erfordernissen einer seel sorgerliehen Gouvernementalität steht (das Verhalten der Men schen durch die Wahrheit zu leiten). Die Frage der Aufklärung zu stellen bedeutete, die Frage wieder aufzugreifen: Wie ist es möglich, nicht zu sehr regiert zu werden ? Das Problem war als Aufhebung der Unterwerfung (»desassuj ettissement«) im Rahmen einer »Politik der Wahrheit« gestellt.U Die Moderne wurde in diesem Zusammenhang als historisch privilegierte Periode bestimmt, um die Dispositive des unterwerfenden 9 Vgl. oben, S. 1 4-20, den Beginn der Vorlesung vom 5 . januar, erste Stunde. r o Zur Erinnerung sei erwähnt, daß die Texte von Kant und Mendelssohn Antworten auf die Frage sind »Was ist Aufklärung ?<< , die zuerst von Pastor Zöllner im Dezember 1 78 3 als Anmerkung zu einem Aufsatz gestellt wurde, der in derselben Berlinischen Monatsschrift veröffent licht wurde und sich auf die Frage nach der Ehe in ihrer bürgerlichen oder religiösen Dimension bezog (zu genaueren Ausführungen vgl. das Buch von J. Mondot, Qu 'est-ce que les Lumieres ?, Saint- E tienne 1 99 1 ). 1 I Veröffentlicht im Bulletin de la Societefranfaise de philosophie vom 27. Mai 1 978. 1 2 Ebd., S. 39. 47 3
Wissens und Könnens zu studieren.1 3 I 98 3 wird die Frage nach der Aufklärung als Wiederaufnahme eines Erfordernisses des Wahrsprechens, eines mutigen Ergreifens der wahren Rede ge dacht, das bei den Griechen in Erscheinung trat und Anlaß zu einer anderen Fragestellung gibt: Welche Regierung des Selbst muß man einerseits als Grundlage und andererseits als Grenze der Regierung der anderen fordern ? Die »Moderne« ändert ebenfalls ihren Sinn: Sie wird zu einer metahistorischen Ein stellung des Denkens selbst. 14 Dafür bleibt hier und da der Ge gensatz zwischen zwei möglichen Erbschaften Kants bestehen: ein transzendentales Erbe, das Foucault ablehnt (universelle Regeln der Wahrheit zu bestimmen, um der Irreführung einer herrschsüchtigen Vernunft zuvorzukommen); ein »kritisches« Erbe, in dem er sich selbst erkennt (die Gegenwart auf der Grundlage einer Diagnose dessen, »was wir sind<<, zu provo zieren). Von der ersten Vorlesung an will Foucault also seinen eigenen Ort innerhalb eines philosophischen Erbes bestim men, als ob er ankündigen wollte, daß er durch diese Studien zur parrhesia den Status seiner eigenen Rede und die Definiti on ihrer Rolle problematisierte. Im übrigen war Foucault nie mals so mit sich im Lot wie in dieser Vorlesung. 1 5
I 3 Ebd., s . 46. I 4 Vgl. oben, Vorlesung vom 9· März, erste Stunde. I 5 Diese Arbeit über die Aufklärung kann auch als eine Art und Weise ge
lesen werden, seine eigene Schuld gegenüber Kant zu situieren, und zwar auf eine and ere Weise als die von J . Habermas, der im selben Jahr von P. Veyne ans College de France eingeladen wurde, um dort Vorle sungen zu halten (vom 7· bis zum 22. März, vgl. die »Zeittafel« von D. Defert, a. a. O, S. I oo ) . Erinnern wir uns, daß Habermas I 9 8 I , als die Universität Berkeley die Veranstaltung eines Seminars Foucault-Ha bermas beabsichtigte, welches zu einer ständigen Einrichtung hätte werden können, als Thema »die Moderne« vorgeschlagen hatte (vgl., was Foucault darüber sagt i n Dits et Ecrits: Schriften, Bd. IV, a. a. 0., S. 5 3 I - 5 3 3). 474
2.
Ethik und Politik der parrhesia 1 6
Foucault wird sich der historischen Problematisierung des Be griffs der parrhesia das ganze Jahr I 98 3 hindurch widmen. Be vor er diese Untersuchung in Angriff nimmt und sich auf eine beispielhafte parrhesiastische Szene stützt, die von Plutarch berichtet wird (Platon macht von seinem Freimut gegenüber dem Tyrannen Dionysios Gebrauch und riskiert sein Leben), beginnt Foucault damit, sie anhand eines Gegensatzes zur Sprechakttheorie der englischen Pragmatisten zu formalisieren (die hauptsächlichen Referenzen scheinen hier Austin und Searle zu s ein1 7) . Man begegnet wieder dem Dialog mit der analytischen angelsächsischen Tradition, der schon in der Ar chäologie des Wissens18 begonnen wurde. 1 969 ging es jedoch darum, zwei Bestimmungen der »Aussage (enonce)<< einander entgegenzusetzen: zum einen die Aussage im Sinne der analyti schen Philosophie als Folge einer möglichen Kombination von Lauten, deren Produktionsregeln man definiert; zum anderen die Aussage im Sinne der Archäologie als Folge, die wirklich ins Archiv der Kultur eingeschrieben ist, deren Wirklichkeits bedingungen man angibt. 1 9 8 3 ist es die ontologische Ver pflichtung des Subjekts im Akt der Äußerung (enonciation), was den Unterschied zu den Sprechakten ausmacht, wobei sich die parrhesia als öffentlicher und riskanter Ausdruck der eige nen Ü berzeugung auszeichnet. Dieses Wahr-Sprechen, das ein Risiko für den Sprecher bedeutet, kann j edoch in sehr ver schiedenen Situationen auftreten: der öffentliche Redner auf der Tribüne vor dem versammelten Volk, der Philosoph in der Stellung des Fürstenberaters usw. 1 9 8 2 ging es bei den ersten Analysen einfach darum, mit der r6 In Ermangelung einer >>Zusammenfassung der Vorlesung« - Foucault
hatte alle vorangegangenen Jahre für die Verwaltung des College de France eine solche verfaßt - geben wir hier eine Beschreibung der Vor lesung des Jahres in ihren Grundzügen. I7 Vgl. die verwendeten Beispiele (»die Sitzung ist eröffnet«, » ich ent schuldige mich« etc.) in der Vorlesung vom r 2. ]anuar, zweite Stunde. r 8 Archäologie des Wissens, Frankfurt 1 9 7 3 , vgl. z. B . S. r 5 5 f. und passim. 47 5
parrhesia den Freimut des Lehrmeisters zu beschreiben, der bereit ist, seinen Schüler zu erschüttern und seinen Zorn zu provozieren, indem er ohne Umwege seine Mängel, seine La ster und seine schlechten Leidenschaften anprangert. Foucault hatte damals insbesondere Galens Abhandlung Traite des pas sions de l'ame et de ses erreurs studiert und einige Briefe von Seneca an Lucilius, wo der stoische Meister die durchsichtige Rede lobte.19 Er hatte auch die Besonderheit einer epikurei schen parrhesia im Rahmen der Lebensführung hervorgeho ben, die anstelle des Gegenübers von Lehrer und Schüler eine Gemeinschaft von Freunden beinhaltete, die sich einander frei anvertrauen, um sich gegenseitig zu korrigieren.20 Die Vorle sungen von 1 9 8 4 werden über die Vorlesung von 1 9 8 3 hinaus diese Problematisierung einer eigentlich ethischen parrhesia fortsetzen, indem sie die Untersuchung der Seelenprüfung bei Sokrates und den Kynikern wiederaufnehmen und weiterfüh ren.21 Aber wenn auch von Sokrates bis Seneca das Ziel gleich bleibt (das ethos dessen, an den man sich wendet, umzuwan deln), so ist doch die Art und Weise nicht mehr dieselbe. Die parrhesia, die den Gegenstand der Vorlesungen von 1 9 8 4 bil det, wird nicht mehr innerhalb einer individuellen B eziehung der Leitung ausgeübt, sondern stellt vielmehr eine Ansprache auf dem öffentlichen Platz dar, die die Form der ironischen, maieutischen Rede bei Sokrates oder auch der rüden und gro b en Standpauke des Kynikers annimmt. Dennoch bleiben alle diese Formen der parrhesia (die sokratische, kynische, stoische oder epikureische) relativ selbständig gegenüber der Bezie hung zur Politik. Nun untersucht Foucault 1 9 8 3 aber von Euripides bis Platon im wesentlichen eine politische parrhesia, auch wenn die letz ten Vorlesungen vom März über den Gegensatz von Philoso1 9 Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom r o . März, zweite Stunde, a. a. O., S. 4 8 2 - 5 o r . 2 0 Ebd., S. 473 -47 5 · 2 1 Vorlesungen vom Februar und März 1 9 84.
phie und Rhetorik anderen Wegen verpflichtet sind.ZZ Diese politische parrhesia umfaßt zwei große geschichtliche Formen: einerseits die Rede, die von einer Person, die darauf bedacht ist, ihre Auffassung vom allgemeinen Interesse durchzusetzen, an die Ratsversammlung, an die Gesamtheit der Bürger gerichtet ist (die demokratische parrhesia ) ; andererseits die private Rede, die der Philosoph an die Seele eines Fürsten richtet, um ihn an zustacheln, sich selbst gut zu führen, und ihn verstehen zu las sen, was ihm die Schmeichler verbergen (die autokratische par rhesia). Die Untersuchung der demokratischen parrhesia geht von zwei Gruppen von Texten aus: den Tragödien von Euripides und den Reden des Perikles, die von Thukydides in seiner Ge schichte des Peloponnesischen Krieges »berichtet« werden. Ein großer Teil des Januars ist der sehr eingehenden Analyse des Ion von Euripides gewidmet.23 Die Tragödie erzählt, wie Ion (der legendäre Vorfahr des ionischen Volkes), geheimgehalte ner Sohn einer Liebschaft von Apollon und Kreusa, hinter das Geheimnis seiner Geburt kommt und schließlich, da er eine athenische Mutter gefunden hat, in Athen das demokratische Recht begründet. In diesem Stück wird die parrhesia weder als Grundrecht des Bürgers noch als den politischen Führern eige ne technische Kompetenz gedacht. Sie ist die freie Ausübung der Rede, die sich vor dem Hintergrund einer Rivalität zwi schen Gleichen ereignet und den am besten zum Regieren Ge eigneten auszeichnet. Sie ist in der Dimension der Politik eher als » Erfahrung« (die Foucault im Unterschied zur politeia vor läufig als dynasteia bezeichnet24) verwurzelt denn als eine Re gel zur Organisation von Vielheiten: Es wird gefragt, was das 22 Vgl. oben, Vorlesungen vom 2. und 9 · März. 2 3 In der Vorlesung vom 2. Februar, erste Stunde (vgl. oben) untersucht
Foucau!t das Vorkommen des Begriffs parrhesia in anderen Tragödi en von Euripides: Die Phoinikerinnen, Hippolytos, Die Bakchen und Orest. In den Vorlesungen, die Foucault in Berkeley hielt, fügte er eine Studie über Elektra hinzu (vgl. M. Foucau!t, Fearless Speech, Los Ange les 200 1 , S. 3 3 -3 6). 24 Vgl. oben, Vorlesung vom 2 . Februar, erste Stunde. 4 77
politische Engagement erfordert, und zwar im Hinblick auf die Herstellung einer Selbstbeziehung durch das Subj ekt. Es geht also darum, Euripides' Tragödie als j enen legendären Augenblick des Wahrsprechens in der athenischen Demokratie zu lesen, in dem ein Bürger seine freie Rede einsetzt, um in die Angelegenheiten des Staates einzugreifen, insofern dieses Wahrsprechen nicht auf das bloße Recht aller reduziert werden kann, das Wort zu ergreifen (isegoria). Foucault macht j edoch auch in der Studie der beiden Reden Kreusas die Anfänge zweier parrhesiastischer Modalitäten sichtbar, die dazu beru fen sind, sich gegenseitig zu verstärken und sich zu entwickeln: die fluchende Rede eines Untergebenen, der sich vor seinem Vorgesetzten erhebt, um dessen Ungerechtigkeit anzupran gern, was zum mutigen Ergreifen des Wortes durch den Philo sophen gegenüber dem Fürsten wird; das Eingeständnis eines Fehlverhaltens gegenüber einem Vertrauten, was sich in der christlichen parrhesia wieder findet, die als durchsichtige Ö ff nung des Herzens gegenüber dem Leiter des Gewissens neu definiert wird.25 Die erste Modalität wird den ganzen Februar r 9 8 3 hindurch untersucht. Die zweite wird erst r 9 8 4 zum Ge genstand einer Standortbestimmung, die unter dem Zeitdruck der letzten Vorlesung vorgenommen wird.26 r 9 8 o hatte Fou cault zwar das akademische Jahr der Analyse der Verfassung des christlichen Bekenntnisses im Ausgang von Bußritualen27 gewidmet, es war aber nicht die Rede von der parrhesia gewe sen. Die demokratische parrhesia war in Euripides' Ion Gegen stand einer legendären Gründung. Die von Thukydides wie dergegebenen Reden des Perikles ermöglichen es nun, sie in ihrer konkreten Ausübung zu beobachten. Die genaue Unter suchung dieser Rede, ein Zeugnis dessen, was Foucault das >>goldene Zeitalter« der demokratischen parrhesia nennt, er laubt ihm, den Unterschied zwischen dem egalitären Ergreifen 25 Vgl. oben, Vorlesung vom 26. Februar, zweite Stunde. 26 Vorlesung vom 24. März 1 9 84, zweite Stunde. 27 Vgl. die Vorlesungen vom Februar und März 1 9 80.
des Wortes (der isegoria) einerseits und dem mutigen und sin gulären Ergreifen des Wortes andererseits herauszustellen, wo durch der Unterschied eines Wahrsprechens in die Debatte eingeführt wird. Es ist diese Spannung zwischen einer verfas sungsmäßigen Gleichheit und einer Ungleichheit, die mit der effektiven Ausübung der demokratischen Macht zu tun hat, was Foucault interessiert. In der Tat soll diese Ungleichheit, die von der parrhesia eingeführt wird (Ausübung eines Einflusses) und die weit davon entfernt ist, das demokratische Fundament in Frage zu stellen, seine konkrete Ausübung garantieren. Dennoch ist dieses Gleichgewicht empfindlich. Der formale Egalitarismus kann in jedem Moment auf diesen Unterschied zurückwirken, der durch den wahren Diskurs dessen einge führt wurde, der mutig seine Rede einsetzt, um seine Auffas sung des allgemeinen Interesses zu verteidigen. Das ist dann der demagogische Augenblick als Ü berschneidung der parrhe sia durch die isegoria, der von Isokrates und Platon kritisiert wurde. Der Parrhesiast wird dann von einem wankelmütigen Pöbel, dem die Demagogen nach Belieben schmeicheln, abge lehnt und in Verruf gebracht. Die demokratische parrhesia än dert und wandelt sich: Sie wird zum öffentlich anerkannten Recht, j edem alles auf beliebige Weise zu sagen. Die parrhesia wird dann wieder in ihrem positiven Aspekt auf tauchen, aber innerhalb eines anderen Rahmens, nämlich dem der Konfrontation zwischen dem Philosophen und dem Für sten. Um dieses neue Wahrsprechen zu untersuchen, stürzt sich Foucault in die zweite große Lektüreübung des Jahres 1 9 8 3 : auf Euripides' Ion folgt der VII . Brief Platons. Auch hier wird der enge Rahmen einer historischen Beschreibung der Modali täten der parrhesia bald verlassen, um anhand einer erstaun lichen Platoninterpretation das Wesen des philosophischen Un ternehmens selbst zu bestimmen. 1 9 8 1 (in der Vorlesung vom 1 8 . März) hatte Foucault schon das Problem der Beziehung zwischen philosophischem Diskurs und Wirklichkeit gestellt. Er erinnerte daran, daß man traditionellerweise meint, die Phi losophie spiegele das Wirkliche wider, maskiere oder rationali479
siere es. Das konkrete Beispiel der großen philosophischen Texte aus der hellenistischen Periode über die Ehe ermögliche es nach Foucault, diese B eziehung neu zu betrachten: Die Phi losophie kann tatsächlich als ein Unternehmen des theoreti schen Vorschlags und der Ausarbeitung von subjektiven Hal tungen bestimmt werden, die sich zur Stilisierung bestimmter sozialer Praktiken eignen. 1 9 8 3 wird Foucault das Problem der »Wirklichkeit« der Philosophie anders stellen. Mit diesem Be griff meint er keinen außersprachlichen Bezugsgegenstand, sondern das, womit sich eine Tätigkeit auseinandersetzen muß, um ihre eigene Wahrheit zu beweisen. Der VII . Brief gestattet Foucault, diese Wirklichkeit zu bestimmen, wenn Platon seine Gründe für seine Reise nach Sizilien erläutert. Man erfährt dort, daß die philosophische Tätigkeit sich nicht auf die Rede allein beschränken darf, sondern sich der Prüfung durch die Praxis, durch Konflikte und Tatsachen stellen muß. Die Wirk lichkeit der Philosophie ist in dieser aktiven Auseinanderset zung mit der Macht zu finden. Die Philosophie findet eine zweite Wirklichkeit in einer kontinuierlichen Seelenpraxis. Sie kann nach dem VII. Brief nämlich nicht als ein fertiges System von Wissensinhalten (mathemata) verstanden werden, son dern ist eine Selbstpraxis, eine ständige Ü bung der Seele. Fou cault findet hier wieder zu Wegen zurück, die er schon 1 9 8 2 erkundet hatte. Zugleich kann er aber dadurch auf die berühm ten Interpretationen Derridas antworten, die Platons »Logo zentrismus« anprangern. Nach Foucault findet man bei Pla ton in der Tat keine platonische Ablehnung der Schrift, die sich im Namen des reinen Iogos vollziehen würde, sondern eine schweigsame Arbeit des Selbst an sich selbst, die die Ge samtheit des Iogos für ungeeignet erklärt, sei er nun schriftlich oder mündlich. Diese Kritik der großen Thesen Derridas setzt sich im März mit der Analyse des Phaidros fort, in der Foucault zeigt, daß auch hier die wesentliche Trennungslinie nicht zwi schen dem Schriftlichen und dem Mündlichen verläuft, son dern, um die Begriffe des Manuskripts aufzunehmen, zwischen »einer logographischen Seinsweise der rhetorischen Rede und
einer Seinsweise der Selbstaskese der philosophischen Rede. «28 Schließlich ermöglicht es die eingehende Untersuchung der aus führlichen politischen >>Ratschläge«, die Platon Dions Freun den gibt, daß Foucault die platonische Figur des »Philosophen königs« neu betrachten kann. Er lehnt es ab, darin das Thema einer Legitimiertheit durch Wissen zu sehen, als ob die philo sophische Wissenschaft durch ihre spekulative Überlegenheit das politische Handeln aufklären könnte. Zusammenkommen muß vielmehr eine Seinsweise, eine Beziehung des Selbst zu sich selbst: Der Philosoph hat nicht politische Ansprüche im Lichte seiner spekulativen Kompetenz zu analysieren; es geht vielmehr darum, den Modus der philosophischen Subjektivie rung bei der Ausübung der Macht spielen zu lassen. In einem Gespräch vom April 1 9 8 3 an der Universität Berkeley führt Foucault diese Analysen fort, indem er es ablehnt, die » Theo rien« der Intellektuellen mit der Elle ihrer >>politischen Praxis« zu messen: >>D en Schlüssel zur persönlichen politischen Hal tung eines Philosophen wird man nicht seinen Ideen abgewin nen können, so als ließe er sich daraus ableiten, sondern seine Philosophie als Leben, das heißt seinem philosophischen Le ben, seinem ethos.«2 9 Die beiden letzten Sitzungen von 1 9 8 3 am College de France deuten schon auf das Jahr 1 9 84 voraus. Foucault untersucht darin nacheinander die Apologie, den Phaidros und den Gor gias Platons. Die Analyse der Apologie wird 1 9 8 4 wieder auf genommen und durch die des Phaidon und des Laches gestützt (in geringerem Ausmaß auch durch die des Kriton ). Aber wenn auch erneut derselbe Text betrachtet wird, so ist doch die Per spektive eine andere: 1 9 84 wird Foucault die sokratische par rhesia als ethische B ewährungsprobe des eigenen Lebens und des Lebens des anderen durch eine wahre Rede beschreiben. Es wird also darum gehen, das Problem des >>wahren Lebens« zu stellen. 2 8 Manuskript der Vorlesung vom 2 . März 1 9 8 3 . 29 »Politik und Ethik: ein Interview«, in: Dits e t E crits: B d . IV, Nr. 34 1 , a. a. O . , S. 7 1 7.
1 9 8 3 b emüht sich Foucault jedoch vor allem, den Gegensatz zwischen Philosophie und Rhetorik im Rahmen dessen zu kon struieren, was er eine »Ontologie der Diskurse« nennt. 30 Das philosophische Wahrsprechen in der Apologie steht durch sei nen direkten und unumwundenen Charakter im Gegensatz zur gerichtlichen Rhetorik. Im Phaidros wird der Nachdruck auf die Implikationen eines vollständigen philosophischen Wahr sprechens (eine wahrhafte ontologische Initiation, eine Meta physik der Verbindung zwischen Seele und Sein) gelegt, das im voraus die B etrügereien der Rhetorik anprangern würde. Der Gorgias schließlich präsentiert auf traditionellere Weise die Scheidung zwischen einer sokratischen parrhesia als Seelen prüfung (Psychagogie) und, mit Kallikles, einer rhetorischen Kunst, die von politischem Ehrgeiz genährt wird.
3·
Methoden
Die Analyse der griechischen Texte ist immer streng und sehr analytisch. Das Manuskript des Jahres 1 9 8 3 enthält am Rand griechische, neu übersetzte Passagen, was die Wichtigkeit und die Gewissenhaftigkeit dieser Arbeit zeigt, die sich so nahe wie möglich an den ursprünglichen Text hält. Foucault folgt mei stens seinem geschriebenen Text, wenn er seine Vorlesung hält, und improvisiert sehr wenig. Nur die Manuskripte der letzten Sitzungen über den Phaidros und vor allem über den Gorgias Platons enthalten lange Ausführungen, die aus Zeitmangel nicht vorgetragen wurden. Mehr als zuvor spürt man 1 9 8 3 , daß Fou cault laufende Arbeiten vorstellt: Manchmal ist seine B ewe gung tastend und auf der Stelle tretend, dann wieder skizziert und versucht er Synthesen. Der Eindruck, an der Geburtsvor bereitung einer Forschung teilzunehmen, ist oft sehr stark, und der Ton ist niemals dogmatisch (Foucault streut vielfach Wen dungen wie »ich glaube«, »man könnte sagen«, »es scheint«, 3 0 Vgl. oben, Vorlesung vom 2 . März, erste Stunde.
>>vielleicht« . . . ein). Diese Dimension des Gedankenlabors, der theoretischen Versuchsballons, der skizzierten Wege vertrug sich schließlich ziemlich schlecht mit den Bedingungen, die Foucault am College de France vorfand: ein riesiges, schwei gendes, gefesseltes Publikum, das darauf eingestellt war, in An dacht und reiner Bewunderung eine dozierende Rede zu emp fangen. Kein Austausch, keine Diskussion. Sehr oft beklagt sich Foucault über diese Umgebung und über die Haltung, die sie ihm auferlegt. Wie er selbst sagt, ist er zum »Theater« verur teilt. Er muß die Rolle des großen Professors spielen, der von seinem Lehrstuhl aus alleine seines Amtes waltet. Wiederholt bringt er sein Bedauern und seinen Willen zum Ausdruck, sich mit Studenten und Professoren zu treffen, die über ähnliche Themen arbeiten, um Perspektiven austauschen zu können. Er organisiert Treffen und reserviert Räume, um zu versuchen, eine kleine Arbeitsgruppe zu bilden. Diese Sehnsucht nach der Arbeit in einer Gruppe ist noch 1 9 8 4 spürbar. Foucault gibt die wenigen kritischen Quellen an, denen er sich hier und da bedienen konnte, um die parrhesia zu pro blematisieren: Er zitiert Scarpats31 Buch und vor allem die Artikel großer Enzyklopädien oder theologischer Wörterbü cher.32 Foucault wird jedoch in dieser Sekundärliteratur nie mals Thesen oder gar einen Rahmen für die Interpretation suchen, sondern ausschließlich Referenzen, die im ursprüng lichen Text sehr schnell überarbeitet und in den Rahmen der ei gentliehen Problemstellung einbezogen werden. Die Kom mentare zu Euripides, Thukydides und Platon sind gänzlich originell. Die Art und Weise des Vorgehens ist dieselbe wie 1 98 2 : sehr genaue Textkommentare, wobei dem griechischen Text große Aufmerksamkeit geschenkt wird (wiederholt korri giert er die vorhandene Ü bersetzung), plötzlich unterfüttert 3 1 G. Scarpat, Parrhesia. Storie del termine et delle sue traduzioni in Lati no, Brescia 1 9 64 . 3 2 Zum Beispiel H. Schlier, »Parrhesia, parrhesiazomai «, in: G. Kittel
(Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1 9 4 9 - 1 979·
von sehr weitreichenden Gesichtspunkten. Aber Foucault hat te uns schon an diesen betonten Kontrast zwischen akribischen Analysen einiger Zeilen des griechischen Texts und der plötz lichen Erweiterung der Perspektive, der Ö ffnung auf eine j ahr hundertelange Geschichte der Subjektivität gewöhnt. Wie er während der zweiten Vorlesung vom r 9· Januar sagt: >>Die Tat sache, daß das Wesentliche, das Grundsätzliche der Geschichte durch den feinen und zarten Faden der Ereignisse läuft, ist et was, wozu man sich, glaube ich, entweder entschließ en oder womit man sich mutig auseinandersetzen muß. Die Geschichte und das Wesentliche der Geschichte gehen durch ein Nadel öhr. « Insgesamt bleibt die Methode diejenige, deren er sich im vorangehenden Jahr im Hinblick auf die Sorge um sich bedient hat: Schlüsseltexte im Ausgang von einem Begriff (hier: die par rhesia) zu bestimmen, Strategien des Gebrauchs zu beschrei ben und Entwicklungs- oder Bruchlinien zu skizzieren. Die Untersuchung von Euripides' Ion weist j edoch bemer kenswerte Besonderheiten auf: Foucault entfaltet hier eine strukturale Analyse des Werkes, die weit über den ersten Rah men der Studie hinausgeht (den Begriff der parrhesia ) . Er prüft dann eine Reihe von Lektürerastern, die erstmals bei der Lek türe von Sophokles' König Ödipus (einer Tragödie, die er mehrmals kommentiert hat: 1 9 7 1 , 1 9 72, 1 9 7 3 , 1 9 8 0 und 1 9 8 r 33) entwickelt wurden. Die Entwicklung des Dramas läßt sich als Folge der Verschachtdung von Bruchstücken der Wahrheit be schreiben, die j eweils paarweise zusammenpassen (die Struktur des symbolon ). Die tragische Szene selbst wird als Ort des Auf3 3 197 1 stellt er eine Studie der Tragödie am College de France vor (in der
Vorlesung >>Der Wille zum Wissen«), 1 972 in den Vereinigten Staaten (Seminar in Buffalo über »Der Wille zur Wahrheit im antiken Grie chenland<<, das eine Analyse von Sophokles' Tragödie enthielt, und die Vorlesung über »Das Wissen Ödipus'<< an der Cornell-Universität), 1973 (die erste im Mai gehaltene Vorlesung in Rio de Janeiro über »Die Wahrheit und die juristischen Formen<<), r 98o (Vorlesungsreihe am College de France, Vorlesungen vom r 6. und 2 3 . }anuar) und r 98 r (die erste von sechs Vorlesungen im Mai in Leuven » Übles tun, die Wahr heit sagen. Funktionen des Geständnisses «).
einanderstoßens von konkurrierenden Formen der Veridikti on34 aufgefaßt (das Wahrsprechen der Götter, das der Men schen usw.), des Auftauchens neuer Strukturen der Veridiktion (die gerichtliche Zeugenaussage im Ödipus, der Fluch und das Geständnis im Ion) und schließlich der Disqualifikation (das Wissen des Tyrannen im Ödipus) oder der Legitimation (das demokratische Wahrsprechen im Ion) einer politischen Rede. Im übrigen folgt Foucault nun im Rahmen der Analyse der großen mythologischen Themen ausdrücklich den Spuren Du mezils, um die Figur Apollons, des Gottes der Stimme, des Gol des und der Fruchtbarkeit, zu untersuchen. 1 9 8 4 wird Fou cault dann mit Bezug auf Platons Phaidon in seiner Vorlesung weiterhin die Studien Dumezils in Anschlag bringen.35
4·
Herausforderungen
Die 1 9 8 3 gehaltene Vorlesung ist besonders wertvoll, da die darin enthaltenen Studien zu Lebzeiten Foucaults nicht veröf fentlicht wurden (die sechs im Oktober 1 9 8 3 in Berkeley ge haltenen Vorlesungen, die ohne Genehmigung nach seinem Tod veröffentlicht wurden, umreißen in ganz knapper Weise, was von Januar bis März ausführlich entwickelt wurde).36 Schon die Vorlesung von 1 9 8 2 am College de France (Herme neutik des Subjekts) zeigte, wie die antike Problematisierung der Sexualität immer nur ein Kapitel einer großen Geschichte jener Praktiken bilden dürfte, durch die ein Subjekt sich in und aufgrund der Beziehung zur Wahrheit konstituiert (die Techni34 Hier ist zu beachten, daß es in der ersten Vorlesung, die Foucault 1 970 am College de France gehalten hat, die Praktiken der Rechtsprechung im weiteren Sinne sind, die als Matrizen der Veridiktion erscheinen. 3 5 Die Interpretation der letzten Worte des Sokrates (»0 Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig«, in: Platon: Sämtliche Werke, Phaidon, I I 8a, übers v. Friedrich Schleiermacher, Beideiberg 1 9 8 2) im Ausgang v on G. Dumezils Moyne noir en gris dedans Varennes, Paris 1 9 84. 3 6 M. Foucau!t, Fearless Speech, a. a. 0.
ken des Selbst). Die Vorlesung von 1 9 8 3 gibt ihrerseits zu ver stehen, inwiefern die historische Untersuchung der Praktiken der ethischen Subj ektivierung Foucault nicht vom Thema des Politischen ablenkt.37 Im Zentrum der Vorlesung findet man in der Tat die B ehauptung einer wesentlichen und strukturel len Beziehung zwischen Philosophie und Politik. Diese Be ziehung wird jedoch auf vollkommen originelle Weise reflek tiert. Traditionellerweise nahm diese B eziehung die Form der >>politischen Philosophie« an: entweder die B eschreibung eines idealen Staats, der durch eine Gruppe vollkommener Gesetze regiert wird (das Problem der b esten Regierungsform), oder aber die vernunftgemäße B egründung, die metaphysische Ab leitung oder, bescheidener, die begriffliche Analyse der politi schen Beziehung. Wir haben schon gesagt, wie sehr Foucaults Lektüre von Platons VII . Brief ihn dazu veranlaßt hat, diese Be ziehung neu zu bewerten. Die Philosophie begegnet mit der Politik ihrer >>Wirklichkeit« : Sie kann ihre Wahrheit nur in der Auseinandersetzung mit der Politik beweisen. Das bedeutet, daß die Philosophie nicht die Wahrheit der Politik auszuspre chen hat, sondern sich mit dem Politischen auseinandersetzen muß, um ihre eigene Wahrheit zu beweisen. Ihre »Wirklichkeit« zu finden bedeutet für die Philosophie, entweder im Feld der Politik die Eigenart ihrer Rede zum Ein satz zu bringen (das Beispiel der parrhesia des Perikles bei Thukydides) oder aber den >>politischen Willen«38, zu beleh ren, d. h. strukturierende Elemente einer Selbstbeziehung vor zuschlagen, die geeignet ist, das politische Engagement, die politische Anhängerschaft oder das politische Handeln her vorzurufen. 37 Durch die erneute Zentrierung auf die Untersuchung des griechischen
politischen Denkens erinnert die Vorlesung von 1 9 8 3 an die erste Vor lesung von 1 9 7 1 (»Der Wille zum Wissen«), die den gerichtlichen Prak tiken im archaischen Griechenland gewidmet war, und stellt schon eine Analyse wesentlicher Begriffe der athenischen Demokratie bereit, wie z. B. den der isonomia. 3 8 Vorlesung vom 16. Februar, erste Stunde (dabei dient die platonische Figur des Philosophen als Berater des Fürsten zur Illustration).
In dieser Hinsicht tut die Vorlesung von r 9 8 3 etwas ganz ande res, als das Problem der »Sorge um die anderen« zu stellen, nachdem das Problem der »Sorge um sich« im Vorjahr gestellt wurde. Es geht vielmehr darum, wie der philosophische Dis kurs im Abendland einen grundlegenden Anteil seiner Identi tät in dieser Falte der Regierung des Selbst und der anderen ausbildet: Welche Beziehung zu sich selbst muß bei demjeni gen ausgebildet werden, der die anderen führen will, und bei denen, die ihm gehorchen werden ? Diese Falte stand schon im Zentrum von Kants Frage nach der Aufklärung, wie Foucault sie verstanden hatte. Die politischen Herausforderungen der Vorlesung gehen weit über ihren Äußerungskontext hinaus, auch wenn man im Rück blick nicht versäumen kann, Koinzidenzen zwischen dem Ge halt der damaligen Debatten und den von Foucault vertretenen theoretischen Positionen im Hinblick auf die Beziehung zwi schen Philosophie und Politik hervorzuheben.39 Es ist j edoch 3 9 Seit Mai 1 9 8 1 ist in Frankreich die Linke an der Macht und F. Mitterand
an der Spitze des Landes. Von der liberalen Wende der Mitterandsehen Politik an wird man bald beklagen, daß es den » Linksintellektuellen«, die einst so aktiv in ihrem Protest waren, heute an Energie mangelt, um konkrete Vorschläge zu machen oder neue Reformen zu verteidigen. In Le Monde vom 26. Juli 1 9 8 3 veröffentlicht Max Galle, der damals eine Debatte über diese Verwerfungen hervorrufen wollte, einen Aufsatz über »das Schweigen der Intellektuellen«, in dem er über der Feststel lung des >>Wiedererstehens von Ideen der Rechten« bedauert, daß ein » großer Anteil« der neuen intellektuellen Generation sich in dem Au genblick » auf den Aventin >zurückgezogen< << habe, wo man über die er sten Schritte des Landes auf dem Weg einer aktiven »Modernisierung« nachdenken müsse. Einige Tage später setzt Philippe Boggio die De batte fort (unter demselben Titel. »Das Schweigen der Intellektuellen«) und bemerkt: »Seitens des College de France, der Verlage oder des CNRS beeilt man sich kaum, seinen eigenen Baustein zum Gebäude der die Macht innehabenden Linken beizusteuern, besonders wenn der Wind der Polemik mit der Opposition weht.« Da er sie an »ihre Bezie hungen zum Staat« erinnern wollte, stellt er fest, daß »manche, wie Si mone de Beauvoir und Michel Foucault, sich geweigert haben, an die ser Ermittlung teilzunehmen<< (Foucault sah sich aufgrund seines häufigen konkreten Engagements von dieser Kritik nicht betroffen) . Diese Aufsätze erscheinen im Juli (der Vollständigkeit halber müßte
nicht dieser Kontext, der Foucaults Positionen erhellt: Viel mehr hilft ihm die Lektüre der Alten dabei, ein politisches ethos zu problematisieren, das er in j enen] ahren erlebt. Wenn die Phi losophie ihre Wirklichkeit tatsächlich in einer Beziehung zum Politischen finden soll, dann soll diese Beziehung die eines »wi derstrebenden Außenstehens « sein.40 Die Aktion, die von Fou cault seit Dezember 1 9 8 1 an der Seite der CFDT4 1 durchgeführt wird, oder auch sein Eingreifen in die damalige französische Debatte (z. B. im Zusammenhang mit der Affäre der Iren von Vincennes42 im August 1 9 8 2 oder des Problems der Sozialver sicherung43) kann sehr gut als Illustration dieser ethischen Hal tung dienen. Diese neue Art und Weise, Politik zu betreiben, indem man problematisiert, anstatt Dogmen aufstellt, indem man auf die ethischen Fähigkeiten der Menschen anstatt auf ihre blinde Anhänglichkeit an bestimmte Lehren abzielt, war auch im Juli 1 9 8 3 der Ursprung der »Academie Tarnier<<, einer Gruppe von befreundeten Persönlichkeiten, die sich trafen, um über die internationale politische Lage nachzudenken.44 In einem allgemeineren Sinne stellt diese Vorlesung einen wich tigen Beitrag zu den großen theoretischen Debatten über die
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man J.-M. Helvigs Antwort auf Max Gallo zitieren, die in Liberation erschien, und die Antwort von P. Guilbert im Quotidien de Paris etc.), also längere Zeit nachdem Foucault seine Vorlesungen am College de France über die politische parrhesia gehalten hatte. Einige der Vorle sungen könnten jedoch als eine vorweggenommene Antwort auf diese Kritik klingen. Foucault hat in der Tat ständig geltend gemacht, daß die Funktion des Philosophen nicht darin besteht, den Politikern zu sagen, was sie zu tun hätten. Er hat weder Gesetze an ihrer Stelle zu machen noch sich als intellektuelle Rückendeckung ihres Handeins darzustel len, als ob er die Begründung ihrer Entscheidungen durch sein Wissen stützen sollte. V gl. oben, Vorlesung vom 9 · März, erste Stunde. Vgl . dazu die »Zeittafel« von D. Defert, a. a. 0., S. 9 7 (CFDT ist die Ab kürzung von Confederation fran"aise du travail). Vgl. dazu »Terrorismus hier und dort«, in: Dits et Ecrits: Schriften, Bd. IV, Nr. 3 1 6, a. a. O ., S. 3 80- 3 8 2 . Vgl. dazu » E i n endliches System angesichts einer unendlichen Nach frage«, ebd., Nr. 3 2 5 , S. 440-46o. Vgl. dazu die »Zeittafel<< von D . Defert, a. a. 0., S. r a r .
Demokratie dar und, noch allgemeiner, einen B eitrag zum We sen des Politischen selbst. Im Ausgang vom Beispiel der Grie chen (von Thukydides bis Platon) stellt Foucault auf originelle Weise die j eder Demokratie innewohnende Spannung heraus: Auf dem Boden einer verfassungsmäßigen Gleichheit wird die Demokratie durch einen Dissens vollzogen, der durch das Wahrsprechen eingeführt wird; umgekehrt stellt sie aber im mer eine wiederkehrende Bedrohung für dieses Wahrsprechen dar. Man sieht es in dieser Vorlesung: Foucault gehört ebenso wenig dem Lager der zynischen Verleumder der Demokratie an wie dem ihrer blinden Befürworter. Er problematisiert sie bloß. Eine der erstaunlichsten Dimensionen dieser Vorlesung hat vielleicht mit der Art und Weise zu tun, wie Foucault darin mit großer Deutlichkeit und Abgeklärtheit seine Beziehung zur Philosophie als freiem und mutigem Diskurs der Wahrheit aus drückt. Wir können hier den allgemeinen Gang der Vorlesung noch einmal betrachten. Foucault war mit Kant von einer neu en Bestimmung der modernen Philosophie ausgegangen: Die jenige Philosophie ist modern, die bereit ist, nicht auf der Basis einer Reflexion über ihre eigene Geschichte, sondern aufgrund eines Aufrufs durch die Gegenwart zu denken. Wie steht es mit diesem Heute, das uns zum Denken auffordert ? Diese Frage, was in der Gegenwart reflektiert werden soll, insofern sie uns zum Denken auffordert und insofern diese Aufforderung Teil eines Prozesses ist, zu dem der Denker gehört und den er mit vollzieht, war von Foucault als Anfangspunkt einer eigentlich modernen Philosophie bestimmt worden, in deren Tradition er sich selbst stellen wollte. Die Untersuchung der antikenparrhesia führt Foucault zur ge duldigen Beschreibung eines philosophischen Wahrsprechens, einer lebhaften Rede von Perikles bis Platon, die das mutige Sich-an-die-Macht-Wenden mit der ethischen Provokation verbindet. Am Ende des Weges45 stellt er fest, daß das Eigen4 5 Es handelt sich um die erste Stunde der Vorlesung vom 9· März.
tümliche der modernen Ph il o s op hi e s eit dem cartesianischen cogito, das die Autoritäten des Wissens ablehnt, bis zum Kam sehen »Sapere aude « in einer Re ak tivi erung dieser parrhesiasti schen Struktur besteht. Diese Brücke, die zum ersten Mal zwi schen der antiken und der modernen Philosophie geschlagen wurde, ist schließlich imstande, bei Foucault den Ausblick auf eine metahistorische Bestimmung der philosophischen Tätig keit zu öffnen: die der Ausübung einer mutigen und freien Rede, die im Spiel der Politik beharrlich den Dissens und die Entschiedenheit eines Wahrsprechens geltend macht und dar auf abzielt, die Seinsweise der Subj ekte zu beunruhigen und zu verwandeln. Mein Dank geht an Daniel Defert für seine beständige Groß zügigkeit und an J orge Davila für seine Seelengröße.
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Demosthenes [3 84-3 22] 70, 2 3 r Derrida, Jacques 3 26, 480, 49 1 Descartes, Rene 27, 4 3 3 , 4 3 8 Dionysios der Ältere [-430- 3 67 v. Chr.], Tyrann von Syrakus 273, 278 , 3 3 2, 3 3 4. 340, 3 4 8 Dionysios d e r Jüngere [ - 3 67-3 44 v. Chr], Tyrann von Syrakus 72-83, 8 8 f., 9 3 · 9 5 I 04, 244, 247 f., 273 f., 278 f., 284, 2 8 7 f., 302, 3 I I f., 3 1 4, 3 r 6, 3 2 1 , 3 273 3 6, 3 3 9-34 5 > 348, 3 5 1 > 3 5 6 f., 3 6 5 . 368, 428 f., 475; s . Dion, Platon, Plutarch Diogenes Laertius [3- Jh. n. Chr.] 3 6 1 , 3 6 8 , 3 74> 428, 430, 44 5 , 49 I Diogenes der Kyniker [ -404-3 2 3 v. Chr.] 3 60, 3 6 I , J 68 . 3 69, 4 3 5 ; s. Diogenes Laertius, Epiktet Diomedes 2 I 3 - 2 I 5 ; s. Euripides, Orest Dion Cassius [Cassius Dio Coc ceianus, - 1 5 5 -23 5] 3 3 0, 3 5 5 , 3 74. 49 1 Dion Chrysostomos [30- 1 1 7 n. Chr.] 3 66, 3 74 Dion von Syrakus [ -408-3 5 4 v. Chr.], Dion s . Dionysios der Jüngere, Platon, Plutarch Doros, Vorfahr der Dorer r o8, I I 7, I 29, I 9o; s. Euripides Dorotheus von Gaza 70 Dumezil, Georges I 49, 1 6 1 - I 6 5 , 1 72
Bourel, Dominique 4 1 , 49 1 , 493
Elektra, Elektra 2 I 2-2 1 4, 477; s. Euripides, Sophokles Epiktet [ca. 50- I 3 0 n. Chr.] 404, 406, 424, 43 2, 434 . 4 3 6, 446, 49 1 Erechtheus, legendärer König von
Charmides 2 7 5 . 2 8 r ; s. Platon Defert, Daniel 1 2, 40, 4 7 I , 474, 4 8 8 , 490, 492, 49 5 4 97
Athen, Erechtheus; (Dynastie von -) s. u o f . , u 8 , I 27, 1 3 3 , I 4 5 f., I 5 5 f., I 8 8, I 97, 2 I 5 ; s . Euripides Eteokles/Polyneikes, Dynastie von Ö dipus 208, 2 30 s. Euripi des [Die Phoinikerinnen} Euphraios 268; s. Platon [V. Brief] Euripides [480-406 v. Chr.] 70, 87, I o i , I 0 3 - I o 5 , I 07, Io8 - I I I , I I 3 f., u 8 - I 30, I 3 3 f., q i - 1 4 3 , I47 f., I 50, I 6 I , I 6 5 , I 72, I 76, ! 8 3 , 1 9 2 - 1 94, 200, 203, 208, 2 1 7, 2 1 9 f., 222, 226, 2 3 1 , 246, 277, 3 76 ff., 4o0, 4o6, 42 5 , 476479, 48 3 f., 49 I Ewald, Fran�ois 4, 7, 8, 1 2, 40, 492, 49 5 Fichte, Johann Gottlieb 32, 4 1 , 492 Fomana, Alessandro 4, 8, I 2 Friedrich II. von Preußen, I 7 I 2I 7 8 6 59, 6o; s. Kam Galen, Claudius [Claudius Galea nus, 1 3 I -2o i n. Chr.] 63, 6668, 8 5, 476, 492 Galilei [Galileo Galilei, I 5 64I 642] 79, 89 Gantz, Timothy I 29, 492 Gelon [- 5 3 0-478 v. Chr.], Tyrann von Gela, später von Syrakus 63, 72, 7 3 , 74, 7 5 , 78, 80, 93 ' 342 Gigante, Marcello 69, 85, 492 Gleim, Johann Wilhelm 24 Gregoire, Henri Io5, I o 8 , 1 2 8 f., ! 47, 49 I Hege!, Georg Wilhelm Friedrich 40, 62, 4 3 3 , 493 Hekuba, Gattin des Priamos I I I; s. Euripides
Heraklit von Ephesos [5 5o-48o v. Chr.] I I 2, 1 20 Herd er, J ohann Gottfried von 2 I , 4 I , 493; s. Kam Hermes I o6- I I I, I I 7, I I 9, I 54; s. Euripides Herodot [484-420 v. Chr.] I o6, 1 29, 493 Hippolytos, Hippolytos I o4, I 8 2, I 8 3 , I 9 � I 94 ' 2 I O, 2 I 9, 477; S. Euripides Homer 2 1 3 , 2 1 5 [vgl. die Ilias] Hyppolite, Jean 40 Ion, mythischer Held, namenge bender Vorfahr der Ionier, Ion I O I , I03 - 1 08, I r o f., I 1 3 - 1 3 5 , 1 3 8 , I 42 - 1 54, I 63 f., 1 72, 1 74, 1 7 8 , I 84, 1 8 7- 1 89, 1 9 1 - 1 94, I 96, 1 99-202, 2o8 f., 3 7 6 f., 3 8 o f., 406, 427, 439; s. Aristote les, Euripides; s . auch Sopho kles (König Ö dipus} Isokrates [43 6- 3 3 8 v. Chr.] 70, 82, 2 2 1 , 2 3 I -2 ) 3 , 2 3 7, 2 3 8, 242, 243 , 2 4 5 , 248, 246, 277, 3 77, 3 7 8 , 3 80, 3 92, 3 9 8 , 479, 493 J ohannes Chrysostomos [- 3 44407 n. Chr.] 70, 8 5 Jakaste I 54, 208, 209; s. Euripi des [Die Phoinikerinnen} Joly, Roben 423 , 493 Kant, Immanuel 2 I -2 3 , 2 5 -2 8 , 30-36, 3 8 -4 1 , 43, 4 5 - 5 I , 5 3 -62, 94, 3 69, 4 3 3 , 43 8, 4) 9, 472, 47 5 , 478 -490, 493 Kleon [ 5 . jh. v. Chr.] I 3 I , 1 4 2 Kleophontes 2 I 5 , 2 3 4; s . Euripi des, Orest Klytaimnestra 2 I 2, 2 1 7; s. Euripi des Kreon, Tyrann von Theben 77, I 5 2; s . Sophokles Kreusa, Tochter von Erechtheus
I 0 7 f., I I O - I I 2, I I 7- I 2 I , I 2 3 I 27, I 30 f., I 3 7 f., I 44- I 46, I 49> I p , I 5 3 - I 60, I 64, I 70 f ., I 7 3 I 7 5 > I 7 7 f., 1 80- 1 8 5 , 1 8 7 - 1 90, I 9 2 f., I 9 8 -2oo, 2 I 2, 477 f.; s. Euripides, Sophokles Kritias [ -45 0-403 v. Chr.] 27 5 > 2 8 1 ; s. Platon Kyros II. der Große [ - 5 5 9- 5 29 v. Chr.] 2 5 8 - 260, 26 5 , 3 3 7 f., 378; s. Platon [Gesetze}, Xeno phon [Kyropädie]
Musonius Rufus [ r . Jh. n. Chr.] 43 I , 44 5 > 446, 49 1 Nikias [-470-4 1 3 v. Chr.] 1 04, I 09, 1 3 1 , 1 42, 392; s. Thukydi des Nikokles [gest. - 3 5 3 v. Chr.] 378; s. Isokrates Nietzsche, Friedrich 9 f., 40, 94 Ödipus, Oidipus 63, 77, 8 8 , I o4, 1 1 4- 1 1 7, 1 2 3 , 1 26, 1 29, 1 44, 1 49, I 5 0, I p- 1 5 4, I 84, I 9 8 , 208, 4 5 3 , 484 f., 49 5 ; s. Sopho kles [König Oidipus, Ö dipus auf Kolonos]; s. auch Ion, LaYos
Lagrange, Jacques 7, 1 0, 40, 492 Lai"os I I 4 f., I 29; s. Sophokles [König Ö dipus] Las Cases, Emmanuel de 3 5 5 , 393 Lefort, Claude 2 I 9, 493 Leibniz, Gottfried Wilhelm 27 Leon von Salamis 399; s. Platon, [Apologie] Lessing, Gotthold Ephraim 24, 41 Leto 1 5 9- I 6 1 , 1 67- 1 69, 1 7 1 , 1 7 3 , I 74 ; s. Dumezil Levinas, Emmanuel 4 1 , 494 Lukian von Samosata [ - I 2 5 - I92 n. Chr.] 70, 3 7 5 , 3 8 5 -3 8 8, 40 5 > 493 Lysias 4 1 0-4 1 3 , 422; s. Platon (Phaidros)
Orest, Orest I 94, 2 1 2-2 1 4, 2 1 7 f., 220, 222, 2 3 I , 477, 492; s. Euri pides, Sophokles Pelli, Moshe 4 1 , 494 Pentheus 2 I 1 f.; s. Euripides [Die Bakchen] Perdikkas II., König von Makedo nien [4 5 0- 4 1 3 v. Chr.] 268, 270-272, 297; s. Platon [V. Brief] Perikles [ -49 5 -429 v. Chr.] 1 42, 1 47 > 220-22 5 > 227-2 ) 1 , 2 3 3 f., 242, 24 5 , 2 87, 3 3 0, 3 76-3 7 8 , 3 8o f., 424 f., 427, 439 f., 443, 477 f., 486, 489; s. Thukydides [der Peloponnesische Krieg] Philippson, Robert 69, 8 5 , 494 Philodern [- u o-28 v. Chr.] 6870, 8 5 , 446, 494 Philostrat [- 1 7 5 - 249 n. Chr.] 4 3 0 f., 446, 494 Phoibos 1 2o f., I 3 o, 1 6 1 , 1 63 , 1 89; s. Apollon; Dumezil, Euri pides Platon 44, 63 , 66, 70, 72-7 5 , 77, 79-84, 86, 93, 9 5 , 1 04, 1 76, 1 9 5 > 2 3 8 , 244> 247-249, 2 5 ! - 2 5 6,
Machiavelli [Niccolo Machiavelli, 1 469- 1 5 27] 3 29 Mark Aurel [Marcus Aurelius An toninus, 1 2 1 - 1 8o n. Chr.] 70, 373 Maximus v o n Tyra [2. }h. n. Chr.] 70 Maecenas [Caius Cilinius Maece nas, -69-8 v. Chr.] 3 3 0, 3 66; s . Dion Cassius Mendelssohn, Moses 23-2 5 , 27, 3 8 , 4 1 , 473 , 49 1 , 49 3 499
2 5 8 , 26o, 262, 264- 2 8 r , 2 8 3 29 I , 294-29 8 , 3 00-3 03, 3 093 7 1 , 3 73 f., 3 7 7-3 80, 3 90, 3 9 3 3 9 5 > 400 f., 40 5 , 406, 4 1 0, 4 1 2, 4 1 3 , 4 1 9, 422-42 5 , 42 8 -430, 442 f., 445 > 447, 4 5 2> 469 f., 475 f., 479-4 8 3 , 4 8 5 f. , 489, 493 f. Plutarch [- 5 0- 1 2 5 n. Chr.] 70, 72-74> 77-79> 8 8 , 9 1 , 9 5 , 1 00, 1 04, 2 3 8 , 244 f., 247 f., 267, 273> 280, 3 66, 3 79, 40 5 , 4 1 5 , 422, 460, 470, 47 5 , 494 Pollis siehe Plutarch Polybios [- 200- 1 20 v. Chr.] 70, 8 7, r oo, r o r , r o 3 , 1 94, 1 96, 202, 204 f., 2 1 9, 239, 494 Popper, Kar! 3 2 3 , 3 26, 494 Priamos, mythischer König von Troj a 1 r r; s. Euripides Pythia (die) r r o, r 8 8 ; s. Euripi des, Ion Quintilian [Marcus Fabius Quin tilianus, - 3 o- r oo n. Chr.] 70, 79, 8 6, 494 Richelieu, Armand Jean du Plessis de 3 29, 3 5 5 , 494 Scarpat, Giuseppe 69, 8 5 , 4 8 3 , 49 5 Schlier, Heinrich 1 76, 1 77, 1 92, 4 8 3 , 49 5 Scholem, Gershorn G. 4 1 , 49 5 Searle, John Rogers 1 0 3 , 47 5 , 4 9 5 Seneca [Lucius Annaeus Seneca, - 1 -60 n.Chr.] 70, 86, 43 1 , 476, 49 5 Sokrates 275 -277, 2 8 3 , 2 8 6-289,
3 0 1 , 303, 3 06, 3 1 3 , 3 5 0, 3 60, 3 7 5 > 378, 3 90-400, 402 f., 40 5 420, 422, 424, 426-429, 4 3 6, 440, 443, 448, 449, 4 5 1 -4 5 5 > 45 7-46 1 , 463 , 464, 468 f., 476, 479, 48 5, 4% siehe Alkibiades, Kallikles, Lysias, Platon, [Apo logie], [Phaidros] Sophokles [ -496-406 v. Chr.] 86, 1 07, r r 3 f., 1 29, r p , 1 72, 484, 49 5 Talthybios 2 1 3 -2 1 5 ; siehe Euripi des, Orest; Homer Theramenes [4 5 0-404 v. Chr.] 2 1 8 , 220 Theseus 1 4 8 Thukydides [ -460- 3 9 5 ] 2 2 1 -224, 226, 228, 2 3 0, 2 3 6, 2 3 8 , 241 f., 24 5 , 248, 3 3 0, 3 5 5 , 3 5 9, 3 64, 3 66, 3 76- 378, 4 2 5 , 427, 439, 477> 478, 48 3 , 4 8 6, 489, 49 5 ; S. Perikles, [Der Peloponnesische Krieg] Vico, Giambattista/Giovanni B at tista 44, 45> 62, 49 5 Weber, Max 40 Xenophon [-430-3 5 5 v. Chr.] 1 3 6, 1 4 8 , 2 5 8, 3 3 7> 3 5 6, 3 7 7 f., 3 80, 49 5 ; Pseudo-Xenophon 136 Xuthos 1 06, ro8, r r o f., r 1 4 , r I 7I 2o, 1 2 3 - 1 3 2 , 1 34, 1 3 7- 1 39, 1 44- 1 46, 1 49, 1 5 1 , 1 5 4- 1 5 8 , 1 64, 1 8 5 f., ! 89- 1 9 1 , 1 9 8 f.; S . Kreusa, Euripides, Ion
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Vorwort Vorlesung I (Sitzung vom 5 - Januar
7
I983,
erste Stunde)
I3
Methodische Bemerkungen. - Studium des Kanttextes: » Was ist Aufklärung ?« - Veröffentlichungsbedingungen: die Zeitschriften. Die Begegnung zwischen der christlichen Aufklärung und der jüdi schen Haskala: die Gewissensfreiheit. - Philosophie und Gegen wart. - Das Problem der Revolution. - Die beiden kritischen Nach kommenschaften.
Vorlesung I (Sitzung vom 5 - Januar
1 983,
zweite Stunde)
Die Idee der Unmündigkeit: weder natürliche Ohnmacht noch Be raubung von Rechten durch eine Autorität. - Der Ausgang aus dem Zustand der Unmündigkeit und die Ausübung kritischer Tätig keit. - Der Schatten der drei Kritiken. Die Schwierigkeit der Emanzipation: Faulheit und Feigheit; angekündigtes Scheitern der Befreier. - Die Triebfedern des Zustands der Unmündigkeit: Über lagerung von Ausübung und Abwesenheit vernünftigen Denkens; Verwechslung von privatem und öffentlichem Gebrauch der Ver nunft. - Die problematischen Wendungen am Ende von Kants Text. -
Vorlesung 2 (Sitzung vom u. Januar
1983,
erste Stunde)
Methodische Rückbesinnung. - Bestimmung des Untersuchungsge genstands des Jahres. - Parrhesia und Kultur des Selbst. - Galens Traktat über die Leidenschaften. Die parrhesia: Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung; bibliographische Anhaltspunkte. - Ein dauerhafter, vielschichtiger, mehrdeutiger Begriff - Platon vor dem Tyrannen von Syrakus: eine beispielhafte Szene der parrhesia. Ö dipus ' Echo. - Parrhesia versus Beweis/Unterricht/Diskussion. Das Element des Risikos. -
43
Vorlesung 2 (Sitzung vom 1 2. Januar 1 9 8 3 , zweite Stunde) Irreduzible Momente der parrhesiastischen Aussage gegenüber der performativen Aussage: Eröffnung eines unbestimmten Risikos/öf fentlicher Ausdruck einer persönlichen Überzeugung/Einsatz des freien Mutes. - Diskurspragmatik und -dramatik. - Die klassische VerciJendung des Begriffs der parrhesia: Demokratie (Polybios) und Staatsbürgerschaft (Euripides).
Vorlesung 3 (Sitzung vom 1 9 . Januar 1 9 8 3 , erste Stunde)
1 04
Die Person Ions in der Mythologie und Geschichte Athens. - Der politische Kontext von Euripides ' Tragödie: der Friede des Nikias. Geschichte der Geburt Ions. - Alethurgisches Schema der Tragö die. - Strukturvergleich zwischen Ion und König Ö dipus. - Die Abenteuer des Wahrsprechens in Ion: die doppelte Halb lüge.
Vorlesung 3 (Sitzung vom 1 9 . Januar 1 9 8 3 , zweite Stunde)
131
Ion: Nichts, Sohn des Nichts. - Drei Kategorien von Staatsbür gern. - Folgen des politischen Eindringens von Ion: privater Haß und öffentliche Tyrannei. - Auf der Suche nach einer Mutter. - Die parrhesia, nicht zurückführbar auf die effektive Ausübung der Macht und auf die Statussituation des Staatsbürgers. - Das agonisti sche Spiel des Wahrsprechens: frei und riskant. - Historischer Kon text: die Auseinandersetzung zwischen Kleon und Nikias. - Kreusas Zorn.
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1 9 8 3 , erste Stunde) Fortsetzung und Schluß des Vergleichs zwischen Ion und Ödipus: Die Wahrheit geht nicht aus einer Untersuchung hervor, sondern aus dem Aufeinanderprallen der Leidenschaften. - Die Herrschaft von Trugbildern und der Leidenschaft. - Der Aufschrei des Einge ständnisses und der Anklage. - G. Dumezils Analysen zu Apollon. Erneute Betrachtung der auf Ion angewandterz Kategorien Dume zils. - Tragische Modulation des Themas der Stimme. - Tragische Modulation des Themas des Goldes.
1 49
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. }anuar
1983,
zweite Stunde)
173
Tragische Modulation des Themas der Fruchtbarkeit. - Die parrhe sia als Verwünschung: das öffentliche Anprangern der Ungerech tigkeit des Mächtigen durch den Schwachen. - Kreusas zweites Eingeständnis: die Stimme des Bekenntnisses. - Letzte Schick salswendungen: vom Mordplan zum Erscheinen Athenes.
Vorlesung 5 (Sitzung vom
2.
Februar
1 983,
erste Stunde)
1 94
Erinnerung an Polybios ' Text. - Rückkehr zu Ion: göttliches und menschliches Wahrsprechen. - Die drei Formen der parrhesia: poli tisch-statusbezogen; gerichtlich; moralisch. - Die politische parrhe sia: ihre Beziehung zur Demokratie; ihre Verankerung in einer ago nistischen Struktur. - Rückkehr zu Polybios' Text: das Verhältnis isegoria/parrhesia. - Politeia und dynasteia: die Auffassung der Po litik als Erfahrung. - Die parrhesia bei Euripides: Die Phoinikerin nen; Hippolytos; die Bakchen; Orestes. - Orestes ' Prozeß.
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2 . Februar
1983,
zweite Stunde)
Das Rechteck der parrhesia: formale Bedingung!faktische Bedin gung! Bedingung der Wahrheit/ moralische Bedingung. - Beispiel für das korrekte Funktionieren der demokratischen parrhesia bei Thukydides: drei Reden von Perikles. - Die falsche parrhesia bei lsokrates.
Vorlesung 6 (Sitzung vom
9·
Februar
1 98 3,
erste Stunde)
Parrhesia: die übliche Verwendung des Begriffs; die politische Ver wendung des Begriffs. Erinnerung an drei beispielhafte Szenen: Thukydides; Isokrates; Plutarch. - Entwicklungslinien der parrhe sia. - Die vier großen Probleme der antiken politischen Philosophie: der ideale Staat; die geteilten Verdienste der Demokratie und der Autokratie; die Wendung an die Seele des Fürsten; die Beziehung zwischen Philosophie und Rhetorik. - Studie dreier Texte Platons.
221
Vorlesung 6 (Sitzung vom
9·
Februar
1983,
zweite Stunde)
266
Platons Briefe: Einordnung. - Studie des V. Briefs: die phone der Verfassungen; Gründe für die Nicht-Beteiligung. - Studie des Vll. Briefs. - Geschichte Dions. - Platons politische Autobiographie. Die Reise nach Sizilien. - Warum Platon den kairos, die philia und das ergon annimmt.
Vorlesung 7 (Sitzung vom
r 6.
Februar
1983,
erste Stunde)
Das philosophische ergon. - Vergleich mit dem Alkibiades. Die Wirklichkeit der Philosophie: die furchtlose Ansprache an die Macht. - Erste Bedingung der Wirklichkeit: die Anhörung, der erste ZirkeL - Das philosophische Werk: eine Wahl; ein Fortgang; eine Anwendung. - Die Wirklichkeit der Philosophie als Arbeit an sich selbst (zweiter Zirkel). -
Vorlesung 7 (Sitzung vom
r 6.
Februar
1983,
zweite Stunde)
JII
Das Scheitern des Dionysios. - Die platonische Ablehnung der Schrift. - Mathemata versus synousia. - Die Philosophie als Praxis der Seele. - Die philosophische A bschweifung des Vll. Briefs: die fünf Elemente der Erkenntnis. - Der dritte Zirkel: der Zirkel der Erkenntnis. - Der Philosoph und der Gesetzgeber. - Abschließende Bemerkungen über die zeitgenössischen Platoninterpretationen.
Vorlesung 8 (Sitzung vom
23.
Februar
1983,
erste Stunde)
Die rätselhafte Schalheit von Platons politischen Ratschlägen. - Die Ratschläge an Dionysios. - Die Diagnostik, die Ausübung des Über redens, der Vorschlag einer Herrschaftsform. - Die Ratschläge an Dions Freunde. - Studie des VIII. Briefs. - Die parrhesia am Ur sprung des politischen Ratschlags.
327
Vorlesung 8 (Sitzung vom
23.
Februar
1983,
zweite Stunde)
3 59
Philosophie und Politik: eine notwendige Beziehung, aber eine un mögliche Kongruenz. - Das kynische und das platonische Spiel der Beziehung zur Politik. - Die neue historische Lage: der Gedanke ei ner neuen politischen Einheit jenseits des Staates. - Vom öffentli chen Ort zur Seele des Fürsten. - Das platonische Thema des Philo sophenkönigs.
Vorlesung 9 (Sitzung vom
2.
März
1983,
erste Stunde)
Wiederholende Bemerkungen zur politischen parrhesia. - Entwick lungspunkte der politischen parrhesia. - Die großen Fragen der al ten Philosophie. - Studie eines Textes von Lukian. - Die Ontologie der Veridiktionsdiskurse. - Die Rede des Sokrates in der Apolo gie. - Das Paradox der politischen Nichteinmischung des Sokrates.
Vorlesung 9 (Sitzung vom
2.
März
1983,
zweite Stunde)
Abschluß der Studie von Sokrates ' Apolo gie: der Gegensatz par rhesia!Rhetorik. - Studie des Phaidros: allgemeine Gliederung des Dialogs. - Die Bedingungen des richtigen Iogos. - Die Wahrheit als beständige Funktion des Diskurses. - Dialektik und Psychagogie. Die philosophische parrhesia.
Vorlesung 1 0 (Sitzung vom 9 · März
1983,
erste Stunde)
Das historische Schwanken der parrhesia.· vom politischen zum phi losophischen Spiel. - Die Philosophie als Praxis der parrhesia.· das Beispiel A ristipps. - Das philosophische Leben als Manifestation der Wahrheit. - Die ständige Hinwendung zur Macht. Die Ermahnung aller. - Das Porträt des Kynikers bei Epiktet. - Perikles und Sokra tes. - Moderne Philosophie und der Mut zur Wahrheit.
375
Vorlesung r o (Sitzung vom 9 · März
r983,
zweite Stunde)
44 7
Studie des Gorgias. - Die Pflicht zum Geständnis bei Platon: der Kontext der Liquidierung der Rhetorik. - Die drei Eigenschaften des Kallikles: episteme; parrhesia; eunoia. Agonistisches Spiel vs. egalitäres System. - Die sokratische Rede: basanos und homologia.
Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen
47 I
Literaturverzeichnis
49 I
Namenregister
49 7
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .